Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt
Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten
0131
2001
978-3-8233-3017-2
978-3-8233-5130-6
Gunter Narr Verlag
Franc Wagner
Die Arbeit handelt von sprachlicher Implizitheit und sprachlichen Diskriminierungen. Anhand der Sprechakttheorie und anderer pragmatischer Ansätze werden lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung zusammengestellt und empirisch an einem Zeitungskorpus überprüft. Die Erkenntnisse und Analysemethoden der Arbeit ermöglichen das Auffinden impliziter Diskriminierungen in umfangreichen Medienkorpora wie z.B. Zeitungen und Zeitschriften im Internet.
<?page no="0"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Franc Wagner Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten glfy Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 20 <?page no="2"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Schmidt Band 20 • 2001 <?page no="3"?> Franc Wagner Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten gnw Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufmhme Wagner, Franc: Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt / Lexikahsche Indikatoren imphziter Diskriminierung in Medientexten / Franc Wagner. - Tübingen: Narr, 2001 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 20) ISBN 3-8233-5130-3 © 2001 ■ Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 ■ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das güt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Satz: Volz, Mannheim Druck: Laupp&Göbel, Nehren Verarbeitung: Nadele, Nehren Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5130-3 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort 9 0. Einleitung 11 1. Was ist eine ‘sprachliche Diskriminierung’? 13 1.1 Arbeits-Definitionen 13 1.2 Ergebnisse des Projekts B2 ‘Sprachliche Diskriminierung’ 15 1.3 Zielsetzung der vorliegenden Arbeit 23 1.4 Van Dijk: Rassismus im Diskurs 24 1.5 Semin/ Fiedler: Die kognitiven Funktionen 28 sprachlicher Kategorien 2. Was ist ein ‘Sprechakt’? 31 2.1 Die Genese des Sprechakt-Begriffs 31 2.2 Wann ist ein Sprechakt ein Sprechakt? 39 2.3 Weshalb die Sprechakttheorie? 41 3. Was ist ‘sprachliche Implizitheit’ in der SAT? 45 3.1 Das Problem der Definition von ‘sprachlicher Implizitheit’ 45 3.2 Gottlob Frege 47 3.3. John Langshaw Austin 56 3.4. John Rogers Searle 66 3.4.1 Speech acts (1969; 1971/ 79) 67 3.4.2 Indirect speech acts (1975b) 72 3.4.3 The background of meaning (1980) 75 3.4.4 Zusammenfassung und Fazit 79 3.5 Herbert Paul Grice 82 3.6 Die verschiedenen Auffassungen von ‘Implizitheit’ 91 in der SAT 4. Was sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? 99 4.1 Welche Indikatoren für Implizitheit nennt die SAT? 101 4.2 Welche Indikatoren für Implizitheit gibt es in ISDn? 113 4.3 Die Rolle des Kontextes in ISDn 121 4.4 Geteiltes Wissen und Kontextualisierung 124 4.5 Weitere lexikalische Implizitheitsindikatoren in ISDn 127 <?page no="6"?> 6 Lexikalische Indikatoren sprachlicher Implizitheil 5. Können mit Implizitheitsindikatoren 143 ISDn gefunden werden? 5.1 Eine computergestützte Recherche 143 im Wendekorpus des IDS 5.1.1 Das Wendekorpus des IDS 143 5.1.2 Die Auswahl des Arbeitskorpus 144 5.1.3 Auswahl der Modalwörter 145 5.1.4 Auswahl der Partikeln 146 5.1.5 Antidiskriminierungen, negative und 146 positive Diskriminierungen 5.2 Ein mehrstufiges computergestütztes 146 Korpusanalyse-Verfahren 5.2.1 Die Problematik der Analyse großer Textkorpora 147 5.2.2 Die Vorteile eines mehrstufigen Verfahrens 147 5.2.3 Die einzelnen Analysestufen 148 5.3 Die Ergebnisse der Recherche 149 5.4 Einige exemplarische ISDn aus dem Wendekorpus 158 6. Was bedeuten die Ergebnisse der Arbeit 163 für die Analyse von ISDn? 7. Literatur 167 8. Anhang: Die 60 potentiellen ISDn aus dem Wendekorpus... 173 <?page no="7"?> Language as such and in its primitive stages is not precise, and it is also not, in our sense, explicit [...]. (Austin 1962, S. 73) „Das Wesentliche“, sagt Monforti, „ist implizit“. (Fruttero/ Lucentini 1993, S. 385) <?page no="9"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen. Sie ist aus meiner Beschäftigung mit sprachlichen Diskriminierungen von Ausländem im Sonderforschungsbereich 245 ‘Sprache und Situation’ (1989-1996) in Heidelberg entstanden. Die in Projekt B2 ‘Sprachliche Diskriminierung’ (Prof. Graumann) erhobenen Betroffenen-Interviews enthielten sowohl explizite als auch implizite Diskriminierungen. Als Ergänzung dazu wollten wir sprachliche Diskriminierungen in Printmedien erheben. Hierzu war eine computergestützte Recherche in Zeitungsartikeln des Bonner Zeitungskorpus am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim geplant, die aber wider Erwarten erfolglos verlief Da in einer computergestützten Recherche damals lediglich Schlüsselwörter abgefragt werden konnten, beschränkten wir uns auf die Suche nach expliziten Diskriminierungen, d.h., nach Bezeichnungen für Ausländerkategorien in Verbindung mit offensichtlich abwertenden Ausdrücken. Es konnten zwar viele Artikel über Ausländer gefunden werden, die darin enthaltenen Diskriminierungen waren aber ausschließlich impliziter Natur: Entweder wurde die gemeinte Ausländerkategorie nicht genannt, sondern nur umschrieben, oder die Bewertung wurde nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet. Anscheinend war es damals wie heute gesellschaftlich unerwünscht, offen einzelne Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren, zumal dies gegen den Pressekodex verstößt, an dem sich zumindest die seriösen Printmedien orientieren. Dieser erste Kontakt mit impliziten sprachlichen Diskriminierungen in Printmedien warf die Frage auf, was implizite sprachliche Diskriminierungen (ISDn) genau sind und wie diese in Pressetexten erkannt werden können. Implizite Diskriminierungen hatten wir komplementär zu den expliziten so definiert, dass die Kategorienbezeichnung und/ oder die damit verbundene Bewertung nicht lexikalisiert sind. Wenn aber Kategorisierungen und Bewertungen stattfmden, ohne dass diese lexikalisiert werden, so drängte sich die Frage auf, mit welchen sprachlichen Mitteln Kategorisierung und Bewertung alternativ dazu realisiert werden können. Anscheinend handelte es sich um Äußerungen, die zusätzlich zur lexikalisch realisierten Bedeutung eine weitere implizite - Bedeutung enthalten. Vor ein ähnliches Problem sahen sich die Autoren der Sprechakttheorie (SAT) gestellt: Wie war es möglich, dass mit gewöhnlichen Sätzen mit gewöhnlichen lexikalischen Bedeutungen beim Äußern zugleich eine Handlung vollzogen werden kann? Überzeugt davon, dass es sich bei beiden Problemen um ein und dasselbe um das Phänomen ‘Implizitheif handle, begann ich mit der Sichtung der SAT Wenn im Folgenden von ‘Ausländern’, 'Sprechern' usw. die Rede ist, ist immer die generische Form gemeint. <?page no="10"?> 10 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt bezüglich geeigneter Beschreibungen und Definitionen von Implizitheit und bezüglich potentieller sprachlicher Mittel zu deren Realisierung. Implizite Diskriminierungen sind gemäß oben stehender Definition nicht unmittelbar an der Satzoberfläche erkennbar und es ist daher unmöglich, sie mit einer einfachen Schlüsselwortsuche aufzufinden, wie dies bei expliziten Diskriminierungen möglich ist. Dennoch erscheint es mir wichtig, implizite Diskriminierungen in Pressetexten identifizieren zu können, da diese bei der Lektüre möglicherweise nicht als Diskriminierung erkannt werden, eine große Verbreitung erlangen und ähnlich einem Trojanischen Pferd unerkannt die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen. Hier stellt sich erneut und verschärft die Frage, was implizite Diskriminierungen sind und wie sie erkannt werden können. Mit der zunehmenden Verbreitung von Zeitungs- und Zeitschriftentiteln auf CD-ROM und im Internet nimmt darüber hinaus die Zahl der allgemein verfügbaren Medientexte sprunghaft zu. Diese stehen allerdings nicht nur für ein lesendes Publikum zur Verfügung, sondern auch für eine linguistische Analyse. Aufgrund des Umfangs dieser Textkorpora können diese aber nur noch unter Zuhilfenahme computerbasierter Recherche-Verfahren analysiert werden. Für die erfolgreiche Durchführung einer computerbasierten Korpus-Recherche ist die Wahl von geeigneten Suchwörtem von besonderer Bedeutung. Hierbei kann die Untersuchung der sprachlichen Mittel zur Realisierung von Implizitheit besonders hilfreich sein. Sollte es gelingen, lexikalische Indikatoren sprachlicher Implizitheit zu isolieren, so könnten diese als Suchwörter eingesetzt werden. Dies würde es erlauben, auch große Korpora von Medientexten mit vertretbarem Aufwand bezüglich ISDn zu analysieren und so einen bewussteren Umgang mit ISDn herbeizuführen. Ich hoffe, mit der vorliegenden Arbeit hierzu einen Beitrag leisten zu können. Mein Dank für anregende Diskussionen und manche Ermutigung gilt den Betreuern meiner Arbeit Dr. phil. habil. Mark Galliker und Prof. Dr. Rainer Wimmer. Für die kritische Lektüre und den Hinweis auf missverständliche Formulierungen gilt mein Dank den Herausgebern der Reihe „Studien zur Deutschen Sprache“ Dr. phil. habil. Reinhard Fiehler, Prof. Dr. Hartmut Schmidt und Prof. Dr. Bruno Strecker. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Lebensgefährtin und den früheren Kolleginnen und Kollegen von B2 für unzählige gemeinsame Diskussionen und Entwürfe zum leider immerwährend aktuellen Thema der sprachlichen Diskriminierung. <?page no="11"?> 0. Einleitung In der vorliegenden Arbeit sollen erstmals implizite sprachliche Diskriminierungen (ISDn) systematisch dargestellt und analysiert werden. Es soll gezeigt werden, was ISDn sind, wie sie funktionieren und mit welchen sprachlichen Mitteln sie realisiert werden. Als theoretische Basis soll die Behandlung von Implizitheit in der Sprechakttheorie (SAT) zu Grunde gelegt werden. Das Ziel dieser Analyse ist es, lexikalische Indikatoren zu benennen, mittels derer ISDn in Medientexten aufgefunden werden können. Das Vorhaben, ISDn als eine spezielle Form von Sprechakten zu charakterisieren, wirft drei grundsätzliche Fragen auf: (a) Was sind sprachliche Diskriminierungen? (b) Was ist ein Sprechakt? (c) Was ist sprachliche Implizitheit in der SAT? Die drei Fragen sollen je in einem eigenen Kapitel geklärt werden. Zur Klärung der Frage (a) sollen ‘Arbeitsdefmitionen’ erstellt und die bisherigen Ansätze zur Analyse von sprachlicher Diskriminierung diskutiert werden. Die Frage (b) soll mittels der Abklärung der Entstehungsgeschichte des Sprechakt-Begriffs und mittels eines Überblicks über die verschiedenen Sprechakt- Konzeptionen beantwortet werden. Die Frage (c) ist am schwierigsten zu beantworten, da bislang in der Literatur weder eine einheitliche Konzeption von ‘Implizitheit’ noch ein Überblick über die Verwendung von ‘Implizitheit’ in der Literatur existiert. Die für diese Frage erforderliche Abklärung der unterschiedlichen Implizitheits-Auffassungen der Autoren der SAT muss daher in dieser Arbeit erstmals geleistet werden. Der Beantwortung der oben genannten Fragen legen wir zwei unterschiedliche Hypothesen zugrunde: eine semantische Hypothese (SH) und eine empirische Hypothese (EH). Die semantische Hypothese umreißt den theoretischen Ausgangspunkt der Arbeit und erklärt die Wahl der Sprechakttheorie (SAT) als theoretische Ausgangsbasis (vgl. hierzu Kap. 2.3): (SH) Die SAT ist der Versuch, sprachliche Implizitheit in semantische Termini zu fassen. Die empirische Hypothese (EH) leitet auch die theoretische Analyse und soll im empirischen Teil der Arbeit (Kap. 5) erläutert und überprüft werden. Die Überprüfung der empirischen Hypothese soll mittels der in der SAT und in <?page no="12"?> 12 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt den daran anknüpfenden Ansätzen gefundenen Indikatoren für Implizitheit anhand eines Korpus von Printmedientexten erfolgen. Die empirische Hypothese besteht aus zwei Teilen: (EH) (a) Bestimmte lexikalische Einheiten fungieren als Indikatoren sprachlicher Implizitheit und (b) mit diesen Indikatoren können iSDn in Medientexten aufgefunden werden. Das Verhältnis der beiden Hypothesen zueinander ist so, dass die semantische Hypothese der empirischen systematisch vorgelagert ist, diese aber nicht determiniert. Die Überprüfung der semantischen Hypothese (Kap. 3) soll es erlauben, zumindest den ersten Teil der empirischen Hypothese (EHa) aus der Sprechakttheorie abzuleiten. Der zweite Teil der empirischen Hypothese (EHb) stellt hingegen ein Novum dar und soll im konkreten Anwendungszusammenhang des Auffmdens von impliziten sprachlichen Diskriminierungen (ISDn) begründet und überprüft werden (Kap. 5). Die Strukturierung der Arbeit wurde entsprechend der systematischen Durchdringung des Gegenstandsbereichs mittels der drei Fragen (a), (b), (c) und der Überprüfung der beiden Hypothesen (SH) und (EH) angelegt. Die Arbeit beginnt mit der Klärung der beiden Grundkonzepte sprachliche Diskriminierung (Kap. 1) und Sprechakt (Kap. 2). Im nächsten Kapitel (Kap. 3) soll zugleich die Beantwortung der Frage (c) und die Überprüfung der semantischen Hypothese (SH) erfolgen. Die Überprüfung der SAT und daran anschließender Ansätze bezüglich lexikalischer Indikatoren für Implizitheit (Kap. 4) soll Hinweise auf als Indikatoren geeignete sprachliche Mittel geben, mit welchen die empirische Hypothese (EH) überprüft werden kann. Anschließend (Kap. 5) soll die empirische Hypothese (EH) anhand des Auffmdens von impliziten sprachlichen Diskriminierungen (ISDn) exemplarisch an einem Korpus von Printmedientexten überprüft werden. Den Abschluss der Arbeit (Kap. 6) bildet die kritische Bewertung der Ergebnisse für die Analyse von impliziten sprachlichen Diskriminierungen, sowie ein Ausblick auf mögliche Anwendungen der Ergebnisse dieser Arbeit. <?page no="13"?> 1. Was ist eine ‘sprachliche Diskriminierung’? Zur Klärung des Gegenstandsbereichs dieser Arbeit soll zu Beginn festgehalten werden, was unter einer sprachlichen Diskriminierung zu verstehen ist. Die dabei eingeführten Definitionen wollen nicht normativ sein, sondern dem speziellen Zwecke dieser Arbeit dienen und werden daher Arbeits-Definitionen genannt. Die angeführten Definitionen sowie die Beispiele sprachlicher Diskriminierungen stammen aus dem Projekt B2 ‘Sprachliche Diskriminierung’ des Sonderforschungsbereichs 245 ‘Sprache und Situation’ in Heidelberg und Mannheim (1989-1996). Die von mir in B2 erarbeiteten sprachlichen Grundlagen der Diskriminierung sollen auch die Ausgangsbasis der vorliegenden Arbeit bilden. Zunächst sollen einige theoretische Ansätze von B2 vorgestellt und anschließend daraus die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit entwickelt werden, gefolgt von der Diskussion der beiden thematisch verwandten Ansätze von Teun van Dijk und von Gün Semin und Klaus Fiedler. 1.1 Arbeits-Definitionen Unter sprachlicher Diskriminierung soll eine soziale Diskriminierung verstanden werden, die sprachlich realisiert wurde. Unter einer sozialen Diskriminierung soll die kategoriale Behandlung einer Person verbunden mit einer Bewertung verstanden werden. Die kategoriale Behandlung besteht in der sprachlichen Bezugnahme auf eine Person mittels einer sozialen Kategorie (z.B. ‘Jude’, ‘Türke’, ‘Zigeuner’, usw.). Die bezeichnete Person wird dabei nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Vertreterin dieser sozialen Kategorie. Die explizite Bezugnahme kann entweder direkt erfolgen, durch die Verwendung einer gebräuchlichen Bezeichnung für die soziale Kategorie („Was hat ein Türke hier zu suchen? “), oder aber indirekt durch die Verwendung einer geographischen Bezeichnung für die (vermutete) Herkunft der angesprochenen Person {„Korea ist ein unterentwickeltes Land“). Zusätzlich zur Kategorisierung enthält jede Diskriminierung als zweiten semantischen Minimalbestandteil eine Bewertung. Dieser kann in Form einer pejorativen Kategorienbezeichnung (‘Scheinasylanten’, ‘Wirtschaftsflüchtlinge’) oder mittels Zuordnung negativ konnotierter Eigenschaften („Die sind faul“) resp. Verhaltensweisen („Die arbeiten nicht gerne“) realisiert sein. Eine positive Diskriminierung liegt vor, wenn eine Eigenschaft oder Verhaltensweise übertrieben positiv herausgestrichen wird und so darauf hinweist, wie negativ die zugeordnete soziale Kategorie grundsätzlich beurteilt wird („Dass <?page no="14"?> 14 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt du als Ausländer das kannst“, „Er ist ein fleißiger Ausländer“). Die Bewertung kann sich auf die soziale Kategorie als Ganzes („Alle Ausländer sind faul“) oder auf die bezeichnete Person als Vertreterin dieser Kategorie („Er ist so faul wie alle Ausländer“) beziehen. Bezieht sich die Bewertung hingegen auf ein individuelles Merkmal der betreffenden Person, das in keinem Zusammenhang mit einer sozialen Kategorie steht, handelt es sich nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine Beleidigung. Weiter kann eine soziale Diskriminierung in expliziter oder in impliziter Weise sprachlich manifest werden. Wenn sowohl die angesprochene soziale Kategorie (z.B. ‘Ausländer’) als auch die damit verbundene Bewertung (z.B. ‘sind faul’) lexikalisiert ist, soll von einer expliziten, ansonsten von einer impliziten Diskriminierung gesprochen werden (vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1993). Bei einer Diskriminierung muss gemäß unserer Definition sowohl eine kategoriale Behandlung, als auch eine Bewertung vorliegen und die Bewertung muss sich auf die angesprochene soziale Kategorie beziehen. Die kategoriale Behandlung einer Person verweigert dieser die Behandlung als gleichberechtigtes Individuum. Dabei wird eine Trennung etabliert zwischen den Mitgliedern der Eigengruppe und denjenigen einer Fremdgruppe, die mit der angesprochenen Kategorie bestimmt wird. Dies allein ist aber in der Regel noch keine Diskriminierung, da Kategorisierung die Grundlage unseres sozialen Handelns bildet. Eine kategoriale Behandlung wird erst dann zu einer Diskriminierung, wenn die zugeschriebene Kategorie mit so geringem sozialem Prestige verbunden ist, dass eine Gleichbehandlung zum vornherein ausgeschlossen ist. Dies kann bei sozialen Randgruppen („Zigeuner“, „Drogenabhängige“, usw.) der Fall sein, aber auch bei Mitgliedern einer konkurrierenden Gruppe (z.B. ein fremder Fußballverein, eine andere Religion, usw.). In diesen Beispielen enthält die zugesprochene soziale Kategorie bereits eine Bewertung, die allerdings sprachlich nicht expliziter, sondern impliziter Natur ist. Auch bei sprachlich expliziten Bewertungen steht nicht im Vordergrund, ob diese an der sprachlichen Oberfläche in positiver oder negativer Form realisiert sind. Vielmehr zählt, welche soziale Funktion eine Bewertung in Verbindung mit der angesprochenen sozialen Kategorie im jeweiligen Kontext realisiert. In Projekt B2 wurden die Funktionen TRENNEN, FIXIEREN und DE- VALUATION (vgl. Kap. 1.2) unterschieden. Die Abwertung mittels pejorativer Ausdrücke ist eine Realisierungsform der Funktion DEVALUATION; diese ist aber nur eine der drei untersuchten sozialen Funktionen sprachlicher Diskriminierung. Die Äußerung „Er macht immer fleißig seine Hausaufgaben“ enthält z.B. an der Oberfläche nur positive resp. neutrale Ausdrücke. Wird sie von einem Schüler mit Bezug auf einen Mitschüler geäußert, kann die Äußerung dazu benutzt werden, eine Trennung zwischen dem Sprecher und dem <?page no="15"?> (Vas ist eine ‘sprachliche Diskriminierung' ? 15 Mitschüler zu etablieren, indem der Mitschüler der Gruppe der ‘strebsamen Musterschüler’ zugeordnet und somit aus der eigenen Gruppe der ‘normalen Schüler’ ausgeschlossen wird (TRENNEN). Der Sprecher kann so den Mitschüler auf eine Verhaltensweise festlegen (FIXIEREN), die in der Meinung der Mehrheit der Klasse sehr negativ bewertet wird. Die negative Bewertung des Mitschülers (DEVALUATION) wäre in diesem Fall bereits in der zugeschriebenen sozialen Kategorie implizit enthalten und müsste nicht mehr explizit formuliert werden. Das Beispiel zeigt auch, in welchem Maße kontextabhängig die Interpretation einer potentiellen sprachlichen Diskriminierung ist. Dieselbe Äußerung aus dem Munde eines Lehrers wäre wohl als Lob zu verstehen. Das Problem der Lexikalisierung der Bewertung kann kurz so zusammengefasst werden, dass für die Beurteilung einer Äußerung als sprachliche Diskriminierung nicht allein negativ konnotierte Lexeme an der Sprachoberfläche entscheidend sind, sondern die trennende, fixierende und devaluierende Funktion der Äußerung im jeweiligen Kontext. 1.2 Ergebnisse des Projekts B2 ‘Sprachliche Diskriminierung’ Das Projekt B2 hatte sich zum Ziel gesetzt, ein empirisch valides Modell sprachlicher Diskriminierung zu erarbeiten. Hierzu wurde das von Graumann und Wintermantel (1989) erarbeitete Modell der Facetten sozialer Diskriminierung erweitert und in systematisch variierten Ausschnitten empirisch validiert (vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1990; Huerkamp/ Jockisch/ Wagner/ Graumann 1993 sowie Galliker/ Huerkamp/ Wagner 1994). Die empirische Grundlage des Projekts bildeten vom Projekt selbst erhobene Betroffenen-Interviews und Diskriminierungen enthaltende Medientexte. Untersucht wurden sprachlich realisierte sozialen Diskriminierungen gegenüber Ausländern in der BRD. Das Ziel war es, zu erfassen und zu beschreiben, was sprachliche Diskriminierung ist und welche funktionalen Komponenten sie enthält. Die Frage nach dem Wesen und der Wirkung einer sozialen Diskriminierung ist eine sozialpsychologische; diejenige nach der Art der sprachlichen Realisierung eine linguistische. Da die beiden Fragen zwei unterschiedlichen Disziplinen mit jeweils spezifischen Eigenarten angehören, bedürfen sie einer eigenständigen Betrachtung. Hieraus ergaben sich zwei gleichberechtigte Fragestellungen: (1) Welche diskriminierenden Funktionen können mit einer bestimmten Art von sprachlichen Mitteln realisiert werden? <?page no="16"?> 16 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt (2) Mit welchen sprachlichen Mitteln kann eine bestimmte diskriminierende Funktion realisiert werden? Das Facetten-Modell sprachlicher Diskriminierung: Graumann und Wintermantel (1989) haben ein Modell der sprachlichen Diskriminierung entworfen, das im Projekt modifiziert und operationalisiert wurde. Die einzelnen Bestandteile des Modells werden, infolge der Verwendung eines speziellen methodischen Ansatzes, als Facetten bezeichnet. Jede Facette kann verschiedene Ausprägungen annehmen, so genannte Strukte (vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1990). Zur empirischen Überprüfung wurden die Strukte operationalisiert. Die Facette EXPLIZITHEIT umfasst die beiden Strukte explizit und implizit. Die Operationalisierung der beiden Strukte entspricht der Definition von Explizitheit in Kap. 1.1. Den Kern des Facettenmodells bilden die drei Funktionsfacetten DEVALUA- TION, FIXIEREN und TRENNEN. Sie umfassen jeweils zwei Strukte, die wie folgt operationalisiert wurden: DEVALUATION: Devaluation 1: Verwendung neutraler Ausdrücke Devaluation 2: Verwendung pejorativer Ausdrücke FIXIEREN: Typisieren: Eine Person wird rein kategorial behandelt Beeigenschaften: Einer Person werden bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zugeschrieben TRENNEN: Trennen 1: Eine Person wird aus der Eigengruppe ausgeschlossen, ohne dass eine Fremdgruppe näher bestimmt wird. Trennen 2: Eine Person wird einer Fremdgruppe zugeordnet oder mit den Attributen einer Fremdgruppe belegt. Die drei Funktionsfacetten repräsentieren die (kognitiven) Funktionen einer sprachlichen Diskriminierung. Wie bereits erwähnt, ist die Beziehung zwischen den diskriminierenden Funktionen und den sprachlichen Mitteln einer Äußerung die zentrale Fragestellung des Projekts. Weder lassen sich die Funktionen eindeutig auf bestimmte sprachliche Mittel projizieren, noch aus <?page no="17"?> fVas ist eine 'sprachliche Diskriminierung' 17 sprachlichen Mitteln eindeutig bestimmte Funktionen ableiten (vgl. hierzu die Diskussion in Kap. 1.5). Das Verhältnis zwischen Funktionsfacetten und sprachlichen Mitteln entzieht sich einer derartigen Vereinfachung und kann letztlich wohl nur empirisch ermittelt werden. Selbst für die am ‘einfachsten’ erscheinende Facette DEVALUATION ist es nicht möglich, alle sprachlichen Mittel zu nennen, mit denen sie realisiert werden kann. Diese reichen von der Verwendung lexikalischer Einheiten mit eindeutiger Konnotation (‘Scheißausländer’) über die Verwendung von Metaprädikationen („Die können das halt einfach nicht“) bis zur Verwendung von rhetorischen Mitteln („Wer will von denen denn schon was arbeiten“). Die Funktionsfacetten wurden dazu konstruiert, um die kognitiven Funktionen von Diskriminierungen zu differenzieren und zu kategorisieren (vgl. hierzu Galliker/ Wagner 1995). Sie können nicht direkt auf sprachliche Mittel abgebildet werden und sind auch nicht nach sprachlichen Kriterien angelegt worden. Da sie aus diesen Gründen für die Analyse der sprachlichen Mittel zur Realisierung von iSDn wenig hilfreich sind, sollen sie in dieser Arbeit nicht weiter verwendet werden. Stattdessen wollen wir uns mit den in sprachlichen Diskriminierungen realisierten semantischen Funktionen befassen (vgl. ‘Semantische Strategien zur Realisierung expliziter Diskriminierungen’). Die linguistische Fragestellung des Projekts: Die Frage nach der sprachlichen Realisierung von Diskriminierungen erschöpft sich nicht in der Aufzählung diskriminierender Wörter. Gerade im Falle impliziter Diskriminierungen sind im Extremfall weder die angesprochene Kategorie noch die Bewertung lexikalisiert („Die werden noch lernen, was arbeiten heißt“). Die linguistische Fragestellung des Projekts ist eingebettet in die umfassendere Frage nach der Beziehung zwischen Semantik und Pragmatik. (3) Welche Beziehungen bestehen zwischen der syntaktisch-semantischen Struktur und der pragmatischen Funktion einer Äußerung? Die getrennte Betrachtung der syntaktisch-semantischen Struktur und der pragmatischen Funktion einer Äußerung sowie der Beziehungen zwischen beiden hebt die in der linguistischen Pragmatik lange Zeit postulierte Determinierung der Pragmatik durch die Semantik auf. Sie entspricht der von Manfred Bierwisch geforderten Unterscheidung in eine Theorie der Sprache und in eine Theorie der Kommunikation. Die Theorie der Sprache umfasst dabei die lautliche, morphosyntaktische und die logische Struktur, die Theorie der Kommunikation hingegen die Alltagskenntnis und die soziale Interaktion (Bierwisch 1979, S. 120f.). Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die beiden Bereiche getrennt und mit einer je eigenen Begrifflichkeit analysiert werden. <?page no="18"?> 18 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Semantische Strategien zur Realisierung expliziter Diskriminierungen: Die empirische Basis des Projekts B2 bildeten, wie bereits erwähnt, vom Projekt erhobene Interviews mit betroffenen Ausländern, resp. mit deren Ehepartnern, sowie Diskriminierungen aus Medientexten. Auf dieser Grundlage wurden die Operationalisierungen für die Modell-Facetten und ein Inventar von semantischen Strategien zur Realisierung expliziter Diskriminierungen erarbeitet (vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1990). Die in Kap. 1.1 referierten Definitionen machen deutlich, dass für eine sprachliche Diskriminierung zumindest zwei semantische Bestandteile notwendig sind: DISKRIMINIERUNG = KATEGORISIERUNG + BEWERTUNG Diese beiden semantischen Minimalbestandteile können mit Hilfe unterschiedlicher Strategien realisiert werden: a) Sprachliche Kategorisierung Eine Kategorisierung ist entsprechend unserer Definition (s.o.) die Bezugnahme auf eine Person mittels einer sozialen Kategorie. Die sprachlichen Mittel zur Bezeichnung der Kategorie können je nach Art der Bezugnahme verschiedenster Art sein und auch bereits eine Bewertung enthalten (s.u.). Dabei ist aber zu beachten, „dass nicht die Zeichen selbst, sondern die Sprecher referieren“ (Wimmer 1973). Die verwendeten Mittel dienen dazu, die bezeichnete soziale Kategorie in einem ‘bestimmten Licht’ zu präsentieren. Folgende Strategien der Bezugnahme lassen sich unterscheiden: Direkte Bezugnahme: Durch die Verwendung einer Bezeichnung für die wahrgenommene soziale Kategorie („Was hat ein Türke hier zu suchen? “) kann in direkter Weise auf die diskriminierte Person Bezug genommen werden. Indirekte Bezugnahme: Durch die Verwendung einer geographischen Bezeichnung für die vermutete Herkunft der angesprochenen Person („Korea ist ein unterentwickeltes Land“). Definite Kennzeichnung: Bei der definiten Kennzeichnung ist weder die soziale Kategorie noch die Herkunft lexikalisiert. Die Bezugnahme enthält ein Demonstrativum und nutzt zusätzlich Kontextwissen zur eindeutigen Bestimmung der bezeichneten sozialen Kategorie („Da wo ihr herkommt“). Direkte Anrede: Eine weitere Möglichkeit besteht in der direkten Anrede der betroffenen Person/ en mittels ‘Du’ oder ‘Ihr’, sofern aus der Äußerung selbst <?page no="19"?> IVas ist eine 'sprachliche Diskriminierung' 19 oder aus ihrem Kontext hervorgeht, dass die angesprochene/ n Person/ en als Vertreter/ in einer bestimmten sozialen Kategorie wahrgenommen wird/ werden {„Du gehörst auch zu denen, die nie Deutsch lernen werden“, „Ihr lernt das nie“). Selbstreferentielle Bezugnahme: Die Hervorhebung der Eigengruppe mittels ‘wir’ ermöglicht eine Abgrenzung gegenüber der wahrgenommenen Fremdkategorie, ohne diese näher zu bestimmen {„Wir Deutschen sollten uns nicht für dumm verkaufen lassen“). Anaphorische Bezugnahme: Die anaphorische Bezugnahme mittels definiter Personalpronomina erweckt den Anschein, dass dem Hörer bekannt ist, von welcher Person oder Personengruppe die Rede ist. {„Die lassen es sich gut gehen“). Wurde im vorausgehenden Text oder Gespräch geklärt, von wem die Rede ist, handelt es sich bei der anaphorischen Bezugnahme um eine gebräuchliche und damit ‘unverdächtige’ Erscheinung. Ist diese Klärung aber unterblieben, wird in dieser Weise stark an das gemeinsame Wissen der Dialogpartner appelliert und so deren Gemeinsamkeit betont. Entpersonalisierte Bezugnahme: Die diskriminierten Personen werden nicht als Person, sondern als Sache behandelt {„Das sind Faulpelze“, .Alles, was von drüben kommt, ist arbeitsscheu“). Distanzdemonstrativa: Diskriminierte Personen werden mittels Distanzdemonstrativa nicht nur aus der Eigengruppe ausgegrenzt, sondern in weite Ferne zu derselben gerückt {„Die dort sind ganz anders“, „Der hier ist auch so einer“). b) Explizite sprachliche Bewertung Neben der Kategorisierung enthält jede Diskriminierung eine Bewertung. In expliziten Diskriminierungen ist die Bewertung lexikalisiert. Die Bewertung erfolgt in der Regel durch die Verwendung von Ausdrücken mit negativer Konnotation. Folgende Strategien konnten identifiziert werden: Negative Kategorienbezeichnung: Die negative Konnotation ist bereits in der Kategorienbezeichnung enthalten („Überall dieses Ausländergesindel“)- Negative Handlungsbeschreibung: Eine Handlung der diskriminierten Person wird mittels negativ konnotierter Verbkomplexe beschrieben („Ausländer bummeln bei der Arbeit“). <?page no="20"?> 20 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Negative Beeigenschaftung: Eine negative Evaluation kann realisiert werden, indem der betreffenden Person mittels Adjektiv eine negativ bewertete Eigenschaft zugeordnet wird. („Ausländer sind faul“). Verstärkung durch Reihung: Eine Beeigenschaftung kann dadurch verstärkt werden, dass statt einem einzigen Adjektiv eine Reihung von Adjektiven zugeordnet wird („Bei mir arbeitet ein Ausländer: klein, stark und dumm“). Subsumtion: Die diskriminierte Person oder deren wahrgenommene soziale Kategorie wird einem negativ konnotierten Begriff untergeordnet („Das sind Faulpelze“, „Er ist ein Müßiggänger“). Generalisierung: Eine Evaluation kann dadurch fixiert werden, dass bei der Zuordnung einer Bewertung über die soziale Kategorie generalisiert wird. {,Mle Ausländer sind faul“, „Ausländer sind alles Faulpelze“, „Ausländer bummeln immer bei der Arbeit“). Expliziter Vergleich: Die komplexeste Form einer expliziten Bewertung ist der explizite Vergleich („Ausländer machen ihre Arbeit nicht gleich gut wie Deutsche“). Sie ist nur dann explizit, wenn alle drei Elemente des Vergleichs lexikalisiert sind: Die beiden verglichenen sozialen Kategorien und das Vergleichskriterium. Ist eines der drei Bestandteile nicht lexikalisiert, handelt es sich um einen impliziten Vergleich und somit um eine implizite Bewertung. Positive Darstellung: Eine Handlungsbeschreibung, Beeigenschaftung oder Subsumtion kann auch betont positiv realisiert sein und so darauf hinweisen, wie negativ die zugeordnete soziale Kategorie grundsätzlich beurteilt wird („Er ist Ausländer und arbeitet gut“, „Er ist fleißig“, „Er ist ein fleißiger Ausländer“). Die Wirkung von Personalpronomina und Prädikationsarten: Als Beispiel der empirischen Umsetzung einer linguistischen Fragestellung soll hier die Untersuchung der Modellfacette TRENNEN anhand expliziter Diskriminierungen erläutert werden. Bei dieser Untersuchung wurde die diskriminierende Funktion vorgegeben und die sprachlichen Mittel zu ihrer Realisierung variiert. Überprüft wurde die Hypothese, dass bestimmte sprachliche Mittel eine größere Distanz zwischen Diskriminator und Adressat etablieren. Den Probanden wurden 12 Äußerungen mit distanzierender Funktion in unterschiedlichen sprachlichen Realisationen präsentiert. Die Aufgabenstellung lautete: Wie sehr distanziert sich die sprechende Person in den folgenden Äußerungen von der diskriminierten Person? <?page no="21"?> IVas ist eine "sprachliche Diskriminierung' ? 21 Die Konstruktion der Untersuchung: Die Einschätzungen der Probanden wurden auf einer fünfstufigen Skala mit den beiden Endankern 1 = ‘gering’ und 5 = ‘stark’ erhoben. Als Auswertung wurde eine Rangreihe der Sätze über die Mittelwerte der Einschätzungen errechnet. Die Untersuchung wurde im Rahmen einer größeren Erhebung mit zwei unterschiedlichen Stichproben durchgeführt: mit je 53 Deutschen und als Replikation mit 53 Ausländern. Bei der Konstruktion des präsentierten Sprachmaterials wurden zwei semantische Dimensionen zugleich variiert: die Subjektbenennung und die Prädikationsart der Bewertung. Bei der Subjektbenennung wurden die Pronomina zur Benennung der Adressaten (du, ihr, er, die, das) variiert: ‘du’: (S10) Du willst nur unser Geld (57) Du bist bloß ein Schmarotzer ‘ihr’: (SW) Ihr wollt nur unser Geld (58) Ihr seid bloß Schmarotzer ‘die’, ‘das’: (S12) Die wollen nur unser Geld (59) Das sind bloß Schmarotzer er (S6) Er ist ein Finsterling (S5) Er istfinster (S4) Er blicktfinster (S3) Er ist ein Fremder (S2) Er istfremd (S1) Er wirktfremd Über die Wirkung von Pronomina zur Bezeichnung der Adressaten einer Äußerung finden sich in der sprachpsychologischen Literatur unterschiedliche Auffassungen. Wiener/ Mehrabian (1968) beschreiben in ihrem Immediacy- Modell die Nähe resp. Distanz vermittelnde Wirkung bestimmter Personalpronomina. Sie betonen, dass innerhalb bestimmter Grenzbedingungen die Variation von Personalpronomina sprachpsychologisch bedeutsam sei. Über diese Grenzbedingungen hinaus sei weiter auch die Verwendung unangemessener Pronomina sprachpsychologisch interpretierbar (ebd., S. 21). Van Dijk (1984) verweist besonders auf die distanzierende Wirkung bestimmter Pronomina (these, those, such), die er demonstratives of distance nennt. Er stellt fest, dass diese Pronomina zusammen mit der unspezifischen dritten Person Plural (sie) am häufigsten verwendet werden, um auf Minoritäten Bezug zu <?page no="22"?> 22 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt nehmen (ebd., S. 137). Die Variation umfasste sowohl Nähe (du, ihr) als auch Distanz demonstrierende Pronomina (er, die, das). Die zweite Konstruktionsdimension betraf die Art und Weise, wie die Bewertung prädiziert wird. Variiert wurde die Realisierung des Prädikats als Verb, prädikatives Adjektiv und als Prädikatsnomen Verb: (S10) (511) (512) (S4) (51) Adjektiv: (S5) (52) Prädikatsnomen: (S9) (S8) (S7) (S6) (53) Du willst nur unser Geld Ihr wollt nur unser Geld Die wollen nur unser Geld Er blicktfinster Er wirktfremd Er istfinster Er istfremd Das sind bloß Schmarotzer Ihr seid bloß Schmarotzer Du bist bloß ein Schmarotzer Er ist ein Finsterling Er ist ein Fremder Graumann und Wintermantel (1989) vermuten, dass die Adressaten einer Diskriminierung in Abhängigkeit von der Verwendung eines Verbs (Beschreiben eines Vorgangs), eines Adjektivs (Beeigenschaftung) oder eines Prädikatsnomens (Typisierung) unterschiedlich stark auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt werden. Sie stellen die These auf, dass die Prädikation mittels Substantiven stärkere Labels erzeugt, als diejenige mittels Adjektiven oder Verben (ebd., S. 192f). In dieser Untersuchung sollte überprüft werden, ob sich diese Variation auf die Distanzierung des Diskriminators von den Adressaten auswirkt. Ergebnisse und Interpretation: Die Ergebnisse der Stichprobe der Deutschen zeigte eine klare Unterscheidung der zwei Konstruktionsdimensionen. Innerhalb der beiden Dimensionen traten die weiteren Differenzierungen nicht klar hervor (für eine detaillierte Darstellung vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1993). Die Äußerungen, deren Subjekt mit der eher neutralen dritten Person (er) besetzt waren, wurden als weniger distanzierend eingeschätzt, als die Äußerungen, deren Subjekt mit Demonstrativpronomina (die, das) oder gar mit der <?page no="23"?> IVas ist eine ‘sprachliche Diskriminierung' ? 23 zweiten Person (du, ihr) besetzt waren. Berücksichtigt man die Zusatzannahme, dass die vom Diskriminator etablierte Nähe auch als unangemessen aufgefasst werden kann, ergibt sich eine hypothesenkonforme Erklärung: Personalpronomina, die isoliert betrachtet eher Nähe signalisieren, wirken im Kontext einer Diskriminierung sehr stark distanzierend. Das Ergebnis für die Stichprobe der Ausländer fiel sehr ähnlich aus: Es zeigte sich ebenfalls eine klare Unterscheidung der beiden Konstruktionsdimensionen. Die distanzierende Wirkung der Subjektbenennung mittels du und ihr wurde von den ausländischen Probanden als noch stärker beurteilt. Insgesamt ergab sich konform zu unseren Hypothesen eine klare Gliederung des Ergebnisses entlang der Konstruktionsdimension Subjektbenennung. Für beide Stichproben lässt sich festhalten, dass die sprachliche Feinstruktur leicht durch die Semantik der verwendeten Lexeme überlagert wird (Themaeffekt). An prominenter Stelle im Satz (z.B. in der Subjektposition) können kleine sprachliche Variationen aber durchaus große Veränderungen in der Wirkung der Äußerung zur Folge haben. Das Ergebnis der Subjektbenennung mittels Pronomina zeigt weiter, dass bei der Vorhersage der Wirkung sprachlicher Mittel große Vorsicht geboten ist. Die sprachlichen Mittel sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern stets im Kontext ihrer Äußerung. Wir betrachten dies auch als Bestätigung dafür, dass die pragmatische Wirkung einer Äußerung nicht von deren Semantik determiniert wird. Erst die Berücksichtigung des Äußerungs-Kontextes erlaubt empirisch validierbare Vorhersagen über die Wirkung einer Äußerung. 1.3 Zielsetzung der vorliegenden Arbeit Auf der Basis der in Kap. 1.1 dargelegten Arbeitsdefmitionen und den in 1.2 diskutierten Ergebnissen für explizite Diskriminierungen soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, mit welchen Mitteln implizite sprachliche Diskriminierungen (ISDn) realisiert werden können und ob sich diese sprachlichen Mittel auch dazu eignen, ISDn in Texten aufzufinden. Hierzu sollen in einem ersten Schritt die verschiedenen Implizitheits-Konzeptionen in der SAT aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt sollen die in den diskutierten Texten genannten sprachlichen Mittel zur Realisierung sprachlicher Implizitheit zusammengestellt werden. In einem dritten Schritt sollen die zusammengestellten sprachlichen Mittel in ihrer Funktion als Implizitheitsimplikatoren anhand eines Korpus von Printmedientexten empirisch überprüft werden. <?page no="24"?> 24 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Das dabei angestrebte Ziel ist es, mit Hilfe eines Inventars sprachlicher Mittel zur Realisierung von ISDn in Medientexten potentielle Diskriminierungen ausfindig machen zu können. Unter ‘potentiellen Diskriminierungen’ verstehen wir sprachliche Ausdrücke, die aufgrund ihrer sprachlichen Struktur dazu geeignet sind, diskriminierende Funktionen zu realisieren. Es ist nicht das Ziel der Arbeit, entsprechende Passagen als definitiv diskriminierend beurteilen zu können. Hierzu bedarf es einer genauen Kenntnis des jeweiligen Kontextes, in dem eine solche Passage steht und nicht lediglich eines lexikalischen Inventars. Selbst für Personen, die sich in einer Diskriminierungssituation befinden, ist es nicht möglich, eindeutig festzulegen, ob eine Äußerung eine Diskriminierung ist, oder nicht (vgl. Kap. 2.1 u. 2.2). Für eine nichtbeteiligte Drittperson in zeitlicher und räumlicher Distanz zur Äußerungssituation ist es u.E. nicht möglich, eine solche Feststellung zu treffen. Ohne größere Interpretationskünste lässt sich hingegen feststellen, welche Passagen auf Grund ihrer sprachlichen Mittel das Potential einer ISD in sich tragen und bei entsprechender Intention als ISD gemeint, resp. bei entsprechender Interpretation als ISD aufgefasst werden können. 1.4 Van Dijk: Rassismus im Diskurs Teun van Dijk kommt meines Wissens das Verdienst zu, als erster Diskriminierung und Sprache in einem interdisziplinären Zusammenhang systematisch untersucht zu haben. Er untersuchte erst Vorurteile und später allgemeiner Rassismus im Diskurs. Van Dijk verwendet einen relativ weiten Rassismus- Begriff (vgl. z.B. van Dijk 1991). Dieser umfasst sowohl strukturelle Ungleichheiten wie bei politischer Macht und beim Zugang zu den Medien als auch institutioneile Ungleichheiten wie bei der Konsensbildung in der öffentlichen Meinung und bei der Definition von kulturellen Unterschieden zwischen der Eigengruppe und ethnischen Fremdgruppen. Im Diskurs werden die verschiedenen Formen von Rassismus reproduziert. In van Dijks Terminologie ist die von uns untersuchte sprachliche Diskriminierung eine Form der sprachlichen Reproduktion von Rassismus. Kritische Diskursanalyse: Van Dijks Analysegegenstand ist der Diskurs. In seinem Aufsatz Principles of critical discourse analysis (1993b) erläutert van Dijk die Grundzüge seiner kritische Diskursanalyse genannten Methode. Als Hauptinteresse seiner Methode nennt er das bessere Verständnis aktueller sozialer Themen: It is primarily interested and motivated by pressing social issues, which it hopes to better understand through discourse analysis, (ebd., S. 252) <?page no="25"?> IVas ist eine 'sprachliche Diskriminierung'? 25 Van Dijk versteht seine Arbeit als admittedly and ultimately political (ebd.): Der Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung sind die Machteliten, welche bei der Reproduktion von Rassismus eine wichtige Rolle spielen (vgl. van Dijk 1993a). Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Verhältnis von Diskursstrukturen und Machtstrukturen. Untersucht werden Stil, Rhetorik und Bedeutung von Texten bezüglich Strategien zur Erhaltung von Macht und sozialer Ungleichheit, wie z.B. playing down oder leaving implicit (van Dijk 1993b, S. 250). Van Dijk versucht Diskurs und Gesellschaft aufeinander zu beziehen, indem er den Diskurs nicht isoliert, sondern stets in Bezug auf den ihn umgebenden sozialen Kontext analysiert. Sozialer Kontext: Van Dijk beginnt die Analyse eines Diskurses immer mit der Untersuchung der Eigenschaften des kognitiven und sozialen Kontextes. Unter kognitivem und sozialem Kontext versteht er die Einbettung des Diskurses in die soziale Situation der ingroup communication sowie die Einbettung in den allgemeinen soziokulturellen Kontext der Intergruppen- Beziehungen und -Konflikte. Beschreibungselemente sind access patterns, setting und participants (ebd., S. 270). Der Fokus liegt dabei nicht auf dem individuellen Ausdruck einer bestimmten Kognition, sondern darauf, wie Sprecher als Mitglieder einer sozialen Gruppe diese kognitiven Prozesse des Ausdrückens oder Formulierens gestalten. Untersuchungsgegenstand sind entsprechend Eigenschaften von Beziehungen zwischen sozialen Gruppen, nicht zwischen Individuen: That is, while focusing on social power, we ignore purely personal power, unless enacted as an individual realization of group power, that is, by individuals as group members, (ebd., S. 254) Die Betrachtung des Individuums als Vertreter einer sozialen Kategorie oder (large scale) Gruppe entspricht der in den Arbeitsdefmitionen (Kap. 2.1) als eine Grundvoraussetzung einer Diskriminierung definierten kategorialen Behandlung mit dem Unterschied, dass sie bei Van Dijk seitens der Analysanden, bei uns hingegen seitens der diskriminierenden Person erfolgt. Van Dijks Interesse bedingt entsprechend seiner oben genannten Ziele einen höheren Abstraktionsgrad als es dem Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit dienlich ist: Van Dijk strebt nach general insights (van Dijk 1993b, S. 253) einzelne Äußerungen interessieren lediglich als typische Vertreter einer bestimmten strukturellen Eigenart, nicht aber als individuelle Ausprägungen. Van Dijk vertritt hier eher einen soziologischen denn einen sozialpsychologischer Ansatz: Das Individuum interessiert nicht, dessen Kognitionen nur insofern sie durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bestimmt sind. Unser Interesse gilt dagegen auch und gerade individuellen Ausprägungen von Äußerungen, da erst die Summe aller möglichen sprachlichen Spielarten das Inventar der sprachlichen Mittel zur Realisierung einer poten- <?page no="26"?> 26 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt tiellen ISD ergibt. Jede potentielle Diskriminierung hat ihre individuelle Gestalt und wird von uns als solche analysiert. Sie ist nach unserem Verständnis ein Beleg der allgemeinen Kompetenz im Umgang mit sprachlichen Mitteln und deren (kognitiven) Funktionen. Sprachliche Mittel des Diskurses: Van Dijks zweiter Analysegegenstand ist der Diskurs selbst. Er unterscheidet (1) die übergeordneten pragmatischen und konversationalen Strukturen, (2) die globale Struktur (Themen, Geschichten und Argumentationen) und (3) die lokale Struktur (semantische Strategien, Stil und Rhetorik) eines Diskurses resp. eines Textes. (1) Als übergeordnete pragmatische und konversationale Strukturen untersucht van Dijk das Verhältnis von kommunikativen Akten und sozialer Bedeutung (die Art der sozialen Interaktion, die Art der Anrede, Grad der Höflichkeit, etc.), die Positionen und Rollen der Beteiligten (institutionelle Macht) sowie die Art der verwendeten Sprechakte (bspw. Behauptungen, indirekte Akte, etc.). (2) An globalen Strukturen unterscheidet van Dijk die Makrosemantik und die Superstrukturen eines Textes. Unter Makrosemantik versteht er, welche Themen für den Diskurs relevant sind und welche Diskursteilnehmer diese Themen bestimmen. Mit Superstrukturen meint er hauptsächlich die Argumentationsstruktur eines Textes. (3) Die lokale Struktur eines Diskurses, auch Mikroebene genannt, umfasst die semantischen Strategien, den Stil und die Rhetorik des Textkörpers. Während die beiden Analysebereiche (1) und (2) sehr abstrakt und stark am jeweiligen Diskursthema orientiert sind, enthält die Mikroebene die konkreten sprachlichen Mittel, die auch Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind. Van Dijk (1984, S. 130ff.) unterscheidet folgende semantische Strategien: (a) Generalisierung: Zeigt an, dass eine vermittelte (negative) Information nicht den Charakter des Zufälligen oder Außergewöhnlichen besitzt. (b) Beispiel: Zeigt an, dass eine Information nicht erfunden ist, sondern auf Fakten beruht. (c) Selbstkorrektur: Zeigt an, dass eine eigene Äußerung falsch oder missverständlich ist. (d) Emphase: Lenkt die Aufmerksamkeit des Hörers und strukturiert und hebt relevante Information hervor. <?page no="27"?> IVas ist eine 'sprachliche Diskriminierung'? 27 (e) Offensichtliche Konzession: Ermöglicht eine zumindest teilweise gültige Generalisierung, obwohl Gegenbeispiele vorgebracht werden können. Zeigt echte oder vorgetäuschte Toleranz an. (f) Repetition: Wirkt wie die Emphase. (g) Kontrast: Hebt Evaluationen von Personen hervor, indem beispielsweise "wir' und "die' gegenübergestellt wird. (h) Zugeständnis (mitigation): Zeigt Verständnis und Toleranz an, indem eine Evaluation oder Generalisierung, die nicht gehalten werden kann, zurückgenommen wird. (i) Verlagerung: Verlagert die Urheberschaft einer eigenen Meinung auf andere („Ich bin nicht so sehr dieser Meinung, aber die Leute auf der Straße ärgern sich darüber“). (j) Vermeidung: Zu einem Thema wird nichts ausgesagt, um es beispielsweise zu vermeiden, schlecht über andere zu reden. (k) Präsupposition, Implikation, Vermutung, Indirektheit: Semantischer und pragmatischer Zug, der es erlaubt, die Formulierung bestimmter Propositionen zu vermeiden, oder auf allgemeines, geteiltes Wissen oder auf Ansichten Bezug zu nehmen, für die der Sprecher nicht verantwortlich ist. Als typische Indikatoren nennt van Dijk: übliche Präsuppositionsmarker (z.B. Pronomina, definite Artikel, dass-Sätze bei bestimmten Verben, bestimmte Partikeln und Adverbien wie "even', 'also', etc.), die Verwendung von Personalpronomina in der zweiten Person für eine distanzierte oder generalisierte Bezugnahme („you see it all the time“), vage Ausdrücke („things like that“), unvollständige Sätze oder Geschichten, usw. Van Dijks Aufzählung umfasst einige semantische Strategien, die unseren expliziten Strategien sehr ähnlich sind (a, f, g,), einige Strategien, die die Rhetorik und Argumentationsweise betreffen und damit für unsere Fragestellung zu abstrakt sind (b, c, d, e, h, i, j) und eine Strategie, die ziemlich genau unserer provisorischen Definition von Implizitheit entspricht (k). Diese letzte semantische Strategie ist sehr groß geraten und nennt die wichtigsten Begriffe, die mit sprachlicher Implizitheit in Verbindung gebracht werden, allerdings ohne diese näher zu differenzieren oder anhand von Beispielen systematisch zu belegen. Zugleich weist van Dijk immer wieder darauf hin, dass die Mittel der Mikroebene weniger automatisiert sind, weniger bewusst kontrolliert werden und somit gerade auf dieser Ebene subtle and unintentio- <?page no="28"?> 28 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt nal manifestations of dominance (1993b, S. 261) festgestellt werden können. Van Dijks Einschätzung der Bedeutung von impliziten semantischen Strategien lässt die weitere Erforschung von Implizitheit resp. von ISDn zugleich wünschenswert und aussichtsreich erscheinen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass van Dijk einen ähnlichen interdisziplinären Ansatz verfolgt wie das Projekt B2 (vgl. Kap. 1.2). Insbesondere reflektiert er die Bedeutung und die Auswirkung des sozialen Kontexts auf die Produktion und die Rezeption von Diskriminierungen. Weiter analysiert van Dijk teilweise ähnliche sprachliche Mittel, wenn diesen auch in seiner Analyse nicht dieselbe Bedeutung zukommt. Sein Interesse ist allgemeinerer Natur: Der Schwerpunkt liegt auf den Makrostrukturen und auf der politischen Gesamtbewertung eines Textes. Dabei bilden die sprachlichen Mittel, insbesondere diejenigen der ‘mikrosemantischen Ebene’ eine untergeordnete Rolle. Entsprechend sind sie nicht in dem Maße ausgearbeitet, wie es für unsere Fragestellung notwendig wäre: Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, die Erfassung konkreter sprachlicher Mittel zur Realisierung von ISDn, ist gerade auf der Ebene lokalisiert, die van Dijk als ‘mikrosemantische Ebene’ bezeichnet. Insbesondere interessieren uns die impliziten sprachlichen Mittel, die bei van Dijk lediglich eine Erwähnung, aber leider keinerlei Ausarbeitung oder gar empirische Überprüfung finden. Einen ähnlichen diskursanalytischen Ansatz wie van Dijk verfolgt auch Sigfried Jäger mit seinem ‘Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS)’. In vielen Publikationen hat er sich eingehend mit der Problematik des ‘Rassismus’ auseinander gesetzt (vgl. Jäger 1992; Jäger/ Link 1993; Jäger 1994). Da sich Jägers Ansatz aber nicht stark von van Dijks Ansatz unterscheidet, soll hier auf eine gesonderte Darstellung verzichtet werden. 1.5 Semin/ Fiedler: Die kognitiven Funktionen sprachlicher Kategorien Semin und Fiedler haben sich ebenfalls mit den kognitiven Funktionen sprachlicher Mittel beschäftigt (1988) und das Linguistic Category Model (LCM) entwickelt. Sie untersuchten die kognitiven Implikationen von sprachlichen Kategorien im interpersonalen Bereich mit dem Ziel, eine general taxonomy (ebd., S. 558) der sprachlichen Personenbeschreibungen zu erlangen. Die Autoren weisen darauf hin, dass eine Person mittels eines Verbs entweder neutral („A is talking to B“) oder aber interpretierend („A is helping B“) beschrieben werden kann. Daraus entwickeln sie die Unterscheidung in descriptive action verbs {DAVs) und in interpretive action verbs (/ Ays). Weiter kann eine Beschreibung aus einer abstrakten Aussage bestehen, die auf den psychischen Zustand einer Person referiert („A likes B“). Semin/ Fiedler sprechen hier von state verbs (St's). Als vierte Möglichkeit kann eine Person mit- <?page no="29"?> IVas ist eine 'sprachliche Diskriminierung' ? 29 tels eines adjectives (Adjs) in Relation zu anderen Personen klassifiziert werden („B is an extroverted person“). Die so motivierten vier Beschreibungsklassen bezeichnen die Autoren als linguistic categories (ebd., S. 560). Die drei Verbklassen definieren sie wie folgt: State verbs (SVs): beziehen sich auf mentale oder emotionale Zustände; definieren Anfang und Ende nicht genau; stehen selten in der ‘progressive form’ oder im Imperativ. Beispiele; like, hate, notice, envy. Interpretive action verbs (lAVs): Beziehen sich auf eine allgemeine Klasse von Verhaltensweisen; enthalten eine definierte Handlung mit Anfang und Ende; haben positive oder negative semantische Konnotationen. Beispiele: help, cheat, inhibit, imitate. Descriptive action verbs {DAVs): Beziehen sich auf eine einzige Aktivität und auf zumindest ein physikalisch invariantes Merkmal der Handlung; die Handlung hat einen klaren Anfang und ein klares Ende; haben üblicherweise keine positiven oder negativen Konnotationen. Semin und Fiedler spezifizieren die vier Kategorien in hauptsächlich drei Dimensionen weiter. Erstens sind SVs mehr personenspezifisch und lAVs mehr situationsspezifisch. Adjs sind allerdings noch personenspezifischer als SVs, und DAVs noch kontextspezifischer als lAVs, so dass die vier Kategorien auf einer Konkret-Abstrakt-Skala angeordnet werden können. Diese Hypothese wurde in einem Experiment bestätigt (ebd.). Zweitens induzieren lAVs eine Beobachterperspektive, SVs eine Teilnehmerperspektive und legen so die Attribution auf die Situation nahe. Ähnliche Attributionsunterschiede lassen sich auch für die beiden extremeren Kategorien DAVs und Adjs feststellen. Diese Subspezifikation der vier Kategorien erlaubt Hypothesen über mögliche Auswirkungen der Kategorien auf Attributionspräferenzen bei Rezipienten (vgl. Semin/ Fiedler 1989). Drittens ist den vier Klassen unterschiedliche kausale Information implizit. Semin/ Rubini/ Fiedler (unveröff.) argumentieren, dass Verben unterschiedliche kausale Information enthalten, und dass diese bei der Formulierung einer Frage die in der Antwort enthaltene Attribution beeinflussen. Die im LCM unterschiedenen vier Kategorien sind m.E. ein interessanter Ansatz, in Personenbeschreibungen implizite semantische Information zu klassifizieren. Dies zeigt auch die Anwendung des LCM in Intergruppenkontexten (Maass/ Arcuri/ Salvi/ Semin 1989). In der vorliegenden Form können diese Klassen aber nicht den Status von linguistischen resp. grammatikalischen Kategorien beanspruchen. Die Definition basiert hauptsächlich auf den kognitiven Funktionen der Kategorien. Ein ‘Interface’ zwischen Sprache und <?page no="30"?> 30 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Kognitionen zu modellieren ist auch das Ziel der vorliegenden Arbeit, jedoch sollten m.E., wie in Kap. 1.2 dargestellt, die beiden Bereiche klar getrennt werden und nicht Einheiten der einen Ebene mit solchen der anderen Ebene gleichgesetzt werden. Die Beziehung zwischen einer kognitiven Funktion und einer grammatikalischen Kategorie kann nicht als umkehrbar eindeutig vorausgesetzt werden. So kann etwa ein Adjektiv in Abhängigkeit von seiner Position im Satz unterschiedliche kognitive Funktionen realisieren: {\) Ausländer sindfaul. (2) Ausländer sindfaule Zeitgenossen. In (1) realisiert das prädikative Adjektiv eine Beeigenschaftung; (2) nimmt mittels eines attributiven Adjektivs eine Typisierung vor (zur Definition von Beeigenschaftung und Typisierung vgl. Kap. 1.2). Die Abbildung einer Kategorie auf eine Funktion ist somit nicht eindeutig. Weiter stellt sich die Frage nach der umgekehrten Abbildung: Kann eine bestimmte Funktion ausschließlich mit einer Kategorie realisiert werden? (3) Diese faulen Ausländer! (4) Ausländer arbeiten wenig. (5) Ausländer bummeln bei der Arbeit. (3)-(5) realisieren mit unterschiedlichen Kategorien (attributives Adjektiv, Verb + Adverb, Verb + Adverbiale) alle eine Beeigenschaftung. Die Abbildung Funktion ^ Kategorie ist also auch nicht eindeutig. Damit ist die Relation ‘sprachliche Kategorie kognitive Funktion’ weder linksnoch rechtseindeutig und schon gar nicht umkehrbar eindeutig. Diese Relation sollte vermehrt thematisiert werden und Ihre Erforschung bedarf u.E. verstärkter interdisziplinärer Anstrengung. <?page no="31"?> 2. Was ist ein ‘Sprechakt’? Der Sprechakt wird in der Regel als theoretischer Basisbegriff der Sprechakttheorie (SAT) verstanden. Als Sprechakttheorie werden dabei oft nur die von Austin und von Searle vertretenen Positionen bezeichnet. Diese Positionen werden in der Folge ‘Sprechakttheorie im engeren Sinne’ genannt. In der vorliegenden Arbeit soll hingegen ein erweiterter Sprechakt-Begriff zur Anwendung kommen: Die Analyse des Begriffs ‘Sprechakt’ bleibt nicht auf die ‘klassischen’ Sprechakttheorien von Austin und Searle beschränkt, sondern berücksichtigt auch darüber hinausgehende Ansätze der linguistischen Pragmatik. Austin und Searle waren weder die ersten noch die letzten Theoretiker, die sich über Sprechakte Gedanken gemacht haben: Es gab sowohl Vorgänger, als auch Nachfolger. Implizitheit ist einer der wichtigsten Grundbegriffe der SAT, wenn auch die verschiedenen Auffassungen und die dafür verwendeten Bezeichnungen stark variieren. Die Analyse des Sprechakt-Begriffs ist der Analyse des Implizitheits-Begriffs vorgelagert: Der Implizitheits-Begriff des einzelnen Autors ist eng mit seinem Sprechakt-Begriff verzahnt; erst wenn seine Sprechakt- Auffassung hinlänglich geklärt ist, wird sein Implizitheits-Begriff erkennbar. Andererseits ist die Implizitheit notwendige Voraussetzung für den Sprechakt-Begriff. Der Ansatz, den Handlungsaspekt von sprachlichen Äußerungen zu erfassen, ist gleich bedeutend mit der Abkehr von der reinen Satzsemantik. Da die Satzsemantik seit Freges Kompositionsprinzip auf der Semantik der im Satz enthaltenen Wörter basiert, bedeutet dies zugleich eine Abkehr von einer lexikonbasierten Semantik. Die von jedem sprechaktbasierten Ansatz analysierte ‘pragmatische Bedeutung’ geht programmatisch weit über die lexikalisierte Bedeutung hinaus und erfüllt somit die Kriterien unserer Arbeitsdefmition von Implizitheit (vgl. Kap. 1.1). Die Diskussion der verschiedenen Ansätze in diesem Kapitel soll einen Überblick über die u.E. wichtigsten Sprechakt-Konzeptionen geben. Eine detaillierte Analyse der verschiedenen Implizitheits-Konzeptionen erfolgt in Kapitel 3. 2.1 Die Genese des Sprechakt-Begriffs Der Beginn der SAT wird in der Regel auf John L. Austins ab 1952 in Oxford und 1955 in Harvard gehaltene Vorlesung datiert, deren Manuskript 1962 von J. O. Urmson unter dem Titel How to do things with words herausgegeben wurde. Austin wird oft das Verdienst zugesprochen, er habe als Erster ent- <?page no="32"?> 32 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt deckt, dass mit Hilfe sprachlicher Äußerungen Handlungen vollzogen werden können. Der in Stegmüller (1975, S. 64) erhobene Vorwurf, dass dies vor Austin keinem Sprachforscher aufgefallen sei, trifft aber nicht zu. Der Logiker und Sprachphilosoph Gottlob Frege kann zugleich als Vorfahre der SAT und als Wegbereiter der Sprechaktidee betrachtet werden. Der Rechtsphilosoph Adolf Reinach und der Sprachpsychologe Karl Bühler haben ihrerseits eine je eigene Sprechaktidee konzipiert, wurden aber von den späteren Sprechakttheoretikern nicht rezipiert. Austin bleibt das Verdienst, eine eigene Terminologie geprägt und die linguistische Pragmatik begründet zu haben. Lewandowski (1990, S. 1082) geht davon aus, dass es sich bei der SAT um „eine von der Philosophie der Alltagssprache ausgehende Anregung, dass beim Sprechen bzw. mit dem Sprechen kommunikative Handlungen ausgeführt, d. h. daß nicht Sätze gesprochen, sondern Äußerungen gemacht werden“ handelt und verweist auf deren Ursprung in der ordinary language philosophy und in der sprachanalytischen Philosophie. Austin gilt als einer der Begründer der ‘ordinary language philosophy’, Grice als ein entschiedener Vertreter derselben, und Searle wurde durch sein Studium in Oxford von ihr beeinflusst, wenn er sich auch später davon distanzierte. Die ‘ordinary language philosophy’ war ihrerseits stark von der sprachanalytischen Philosophie, insbesondere von der logischen Semantik beeinflusst, an deren Anfang die Werke von Frege stehen. Freges Ideen beeinflussten nebst Russell, Wittgenstein und Carnap auch Austin und Searle. Eine Darstellung der Genese des Sprechakt-Begriffs sollte daher mit Frege als dem Begründer der logischen Semantik und damit der analytischen Philosophie beginnen. Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848-1925) Frege ist für die SAT in zweierlei Hinsicht von großer Bedeutung: Einerseits ist er als Begründer der logischen Semantik ein Vorfahre der SAT, andererseits finden sich bei Frege erste Ansätze zu einer pragmatischen Semantik. Frege markiert mit der Erfindung der Prädikatenlogik und mit deren Anwendung auf natürliche Sprache den Beginn der sprachanalytischen Philosophie. Unter Rückgriff auf Leibniz entwickelte Frege eine logisch begründete Satzsemantik. Diese Satzsemantik, insbesondere das damit verbundene Kompositionsprinzip, bildete die Grundlage der philosophischen Tradition der logischen Semantik von Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, Rudolf Carnap und vielen anderen. Die Tradition der Logischen Semantik baute unmittelbar auf Freges Semantik auf und übernahm diese weitgehend unverändert. So behielt sie auch Freges Beschränkung der Analyse auf Aussagesätze bei. Austin entwickelte seine Sprechakttheorie anhand einer Kritik genau dieser Idealisierung der logischen Semantik, indem er daran erinnerte, dass es in der natürlichen Sprache mehr als nur Aussagesätze gibt. Die Auseinandersetzung <?page no="33"?> Was ist ein 'Sprechakt' ? 33 mit Freges semantischen Ideen bildete in diesem Sinne den Ausgangspunkt der Sprechakttheorie. Frege nahm aber auch einige Ideen der SAT vorweg. So sprach er etwa von der Kraft eines Aussagesatzes, die Wahrheit des dargestellten Sachverhaltes zu behaupten. Freges Analyse der Semantik von Satzverbindungen wies ebenfalls weit über sein eigenes Semantikmodell hinaus und zeigte auf, wie Implizitheit realisiert werden kann. Freges semantische Ideen verfolgten allerdings nicht den Zweck, eine pragmatischen Semantik zu begründen. Sie dienten vielmehr dazu, den Gültigkeitsbereich seines eigenen Semantikmodells abzustecken. Er machte deutlich, dass es auch sprachliche Erscheinungen gibt, die keine Berücksichtigung in seiner Satzsemantik fanden, da diese für die Formulierung einer ‘Formelsprache des reinen Denkens’ (Frege 1879/ 1977, S. X) nicht notwendig waren. Adolf Reinach (1883-1914, lt. Brockhaus) Burkhardt (1986) bezeichnet den Rechtsphilosophen Adolf Reinach als „den eigentlichen Ahnherrn der Sprechakttheorie" (S. 194). Reinach fiel im ersten Weltkrieg 31-jährig. Seine Schüler gaben 1921 seine Gesammelten Schriften heraus (Reinach 1921/ 89). Er entwarf eine Theorie der sozialen Akte verbunden mit einer Handlungstypologie. Er bezweckte damit eine phänomenologische Analyse von sozialen Handlungen, die prinzipiell Ansprüche und Verbindlichkeiten hervorbringen (Burkhardt 1987, Kap. 1). Reinachs Leistung bestand in der Subsumtion von Äußerungsvorkommen unter verfügbare Handlungskategorien (ebd.). Burkhardt bemerkt dazu, dass es sich dabei eher um einen semantischen als um einen pragmatischen Vorgang handelt, da Reinach letztlich die semantischen Regeln der Sprache beschreibt. Reinach ging ähnlich wie Austin von einer semantischen Analyse der Bedeutung von Sprechaktverben aus. Er nahm dessen Begriff primär performative Äußerung voraus, wenn auch mit anderer Bezeichnung, und machte auf das Phänomen des indirekten Sprechhandelns aufmerksam. Reinachs Werk ist bis zu dessen Wiederentdeckung in Burkhardt (1986) kaum rezipiert worden und somit für die spätere Entwicklung der SAT praktisch bedeutungslos geblieben. Karl Buhler (1879-1963) Der Sprachpsychologe Karl Bühler verarbeitete in seinen sprachtheoretischen Schriften Einflüsse aus mehreren Disziplinen. Von philosophischer Seite reichte der Einfluss von Plato und Aristoteles über die Scholastik, Kant und Mül bis hin zu Edmund Husserl (1859-1938) und Ernst Cassirer (1874-1945). Von linguistischer Seite sind insbesondere Wilhelm von Humboldt (1767- 1835) und Ferdinand de Saussure (1857-1913) zu nennen. Von psychologi- <?page no="34"?> 34 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt scher Seite beeinflusste ihn die Würzburger Schule und die Gestalttheorie der Wahrnehmung, insbesondere Philipp Wegener (1848-1916). Bühler entwarf im Rahmen seiner Sprachtheorie (1934/ 82) ein Vierfelderschema, in welchem er erstmals die Begriffe ‘Sprechhandlung’ und ‘Sprechakt’ verwendete: FELDER 1 2 I Handlung Akt II Werk Gebilde Tab. i: Bühlers Vierfelderschema Bühlers Vierfelderschema beinhaltet zwei Dimensionen ä zwei Ebenen. Die eine Dimension (1/ 11) unterscheidet energetisch-dynamische von statischen Erscheinungen der Sprache und orientiert sich am Begriffspaar ‘energeia/ ergon’ von Humboldt, die andere Dimension (1/ 2) unterscheidet Einheiten des Sprachsystems von Einheiten der tatsächlich gesprochenen Sprache ähnlich der Unterscheidung ‘parole/ langue’ von de Saussure (vgl. hierzu Wunderlich 1969a, S. 58). Auf der Dimension l/ II bezeichnet er Sprechhandlung und Sprechakt als Subjektshezogene Sprachphänomene (Ebene I) im Gegensatz zu ‘Sprachwerk’ und ‘Sprachgebilde’ als subjektsentbundene, abstrakte Sprachphänomene (Ebene II). Damit definiert Bühler ‘Sprechhandlung’ und ‘Sprechakt’ als sprachliche Einheiten mit Bezug zu einem konkreten Individuum und zu einer bestimmten Äußerungssituation, d.h. als soziale Phänomene. Auf der Dimension 1/ 2 unterscheidet er den Begriff Sprechhandlung von dem Begriff Sprechakt. Während sich die Sprechhandlung auf das Hervorbringen von Sprache, d.h. auf den Prozess der Produktion (resp. Rezeption), bezieht, steht der Sprechakt für das Produkt des Sprechens. Der Sprechakt ist somit die abstraktere Einheit, die die sprachliche Handlung der jeweiligen Situation enthebt und deren Klassifizierung in Sprechakt-Typen ermöglicht. Die Unterscheidung Sprechhandlung/ Sprechakt ist u.E. sehr sinnvoll. Die Sprechhandlung’ wird von konkreten Sprechern und Hörem in einer realen Äußerungssituation vollzogen; der ‘Sprechakt’ ist eine linguistische Abstraktion und als solche ein Konstrukt. Austin hat diese Unterscheidung nicht vollzogen: Er spricht in beiden Fällen von ‘speech act’. Sein wissenschaftliches Interesse gilt eindeutig der abstrakten Einheit, die Bühler als ‘Sprechakt’ bezeichnen würde; zur Argumentation zieht er aber (konstmierte) Beispiele <?page no="35"?> IVas ist ein 'Sprechakt'? 35 bei, die seine Thesen belegen sollen. Eine differenziertere Terminologie hätte sicherlich Klarheit geschaffen. Die Sprechhandlung ist für Bühler mehr als die reine Aktualisierung von Sprache im Sinne des chomskyschen Performanz-Begriffes: Sie ist eine soziale Handlung. Entsprechend betont Bühler, dass für die Analyse der Sprechhandlungen eine Bestimmung ihrer Kontexte, d.h. ihrer Umfelder notwendig sei. Bühler unterscheidet drei Arten von Umfeldern: 1. Sympraktische Umfelder-, Da eine Äußerung immer nur Teil einer Gesamtsituation ist, ermöglicht erst die Kenntnis der Äußerungssituation das Verstehen von deiktischen Ausdrücken, wie ‘hier’ oder ‘geradeaus’. 2. Symphysische Umfelder sind Gegenstände, denen ihr Name (bspw. die Herstellerbezeichnung) direkt oder indirekt (bspw. über Wegweiser) beigefügt ist. 3. Synsemantische Umfelder umfassen den verbalen Kontext sowie begleitende Zeichen verschiedenster Art, wie etwa Bilder und Gesten. Den Begriff des ‘sinnverleihenden Akts’ hat Bühler wohl von Husserl übernommen (vgl. hierzu Wunderlich 1969a, S. 58). Wunderlich interpretiert diesen als ‘Kompetenz’ im Sinne Chomskys, d.h. als die sprechereigenen Verfahren, gesellschaftlich standardisierte Sprachformen hervorzubringen und zu verstehen. Bühlers Begriff‘Sprechakt’ kann nicht dem Austinschen Begriff gleichgesetzt werden. Einerseits stammt dieser aus einer anderen philosophischen Tradition (der hermeneutischen), andererseits bezeichnet dieser, wie bereits erwähnt, nur die abstrahierte Handlung im Sinne eines Typus, nicht aber die konkrete sprachliche Handlung in der jeweiligen Situation. Bühlers Ideen beeinflussten die Prager Schule, insbesondere Roman Jakobson, aber auch den Phänomenologen Roman Ingarden (1893-1970) sowie seinen Studienkollegen Karl Raimund Popper (*1902). Ein Einfluss auf die englischen Sprechakttheoretiker ist nicht sehr wahrscheinlich, da er 1938 in die USA emigrieren musste, wo er keine angemessene Lehrposition fand und nicht mehr wissenschaftlich publizierte. Innis (1992, S. 551) weist zwar darauf hin, dass Bühler viele wichtige Schlüsselthemen von Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ (1953/ 84) antizipiert. Bühler lehrte zwar 1922-38 in Wien, es ist aber kein Hinweis auf einen direkten Einfluss Bühlers auf Wittgenstein bekannt. Obwohl Bühlers sprachtheoretische Schriften in Europa seit den Sechziger Jahren als ‘klassisch’ gelten (vgl. hierzu Wunderlich 1969a, S. 529), scheinen seine Ideen zum Sprechaktbegriff keine Aufnahme durch spätere Sprechakttheoretiker gefunden zu haben. <?page no="36"?> 36 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt John Langshaw Austin (1911-1960) Austin (1962) geht von der Feststellung aus, dass sich die Philosophie im Allgemeinen und die logische Semantik im Besonderen ausschließlich mit Aussagen befasst hat. Aber nicht alle Sätze sind Aussagen: Es gibt auch Frage-, Ausrufe-, Befehls-, Wunsch-, Konzessivsätze, usw., die im logischen Sinne weder wahr noch falsch sind. Austin entwickelt aus dieser Feststellung die Unterscheidung von konstativen Äußerungen (Aussagen) und performativen Äußerungen (Äußerungen, die zugleich eine Flandlung vollziehen). Diese Terminologie erlaubt es Austin, in Abhebung von der logischen Semantik, eine erste Theorie der Sprechakte zu begründen: Die Theorie der Performativität. Austins Suche nach eindeutigen grammatikalischen Indikatoren für performative Äußerungen verläuft allerdings ergebnislos; seine Terminologie gerät ins Wanken. Dies nimmt Austin zum Anlass, eine zweite, allgemeinere Theorie der Sprechakte aufzustellen, in welche er die erste integriert: Die Theorie der illokutionären Kraft. Austin ist es mit seinen Ideen und seiner Terminologie gelungen, sich von einigen Idealisierungen der logischen Semantik zu lösen und die Grundlage einer neuen Theorie der Bedeutung von Sprechakten zu schaffen. Das Äußern von Sätzen wird dabei als Vollzug sprachlicher Handlungen betrachtet. Aussagen kommt dabei keine Sonderstellung zu es handelt sich um ganz normale Sprechakte, wenn auch mit einer besonderen Relation zu Fakten. Austin war zwar nicht der Erfinder der Sprechaktidee, hat aber mit seinen Vorlesungen den Anstoß zur Entwicklung der Sprechakttheorie im engeren Sinne gegeben. Austins Werk ist insofern als ‘grundlegend’ zu bezeichnen, als es weit mehr Ideen enthält, als die von späteren Theoretikern übernommenen Grundbegriffe. Eine Beschäftigung mit sprachlicher Pragmatik ohne die Auseinandersetzung mit Austins Ideen ist daher kaum denkbar. John Rogers Searle (* 1932) Searle, ein Schülerentwickelte dessen Sprechakttheorie systematisch weiter und verband sie mit Konzepten von Frege zu einem eigenen Ansatz. Searles grundlegendes Werk zur Sprechakttheorie speech acts (1969) entstand aus seiner Dissertation mit dem Titel sense and reference (1959). Er diskutiert darin u.a. Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung und vertritt explizit dessen Referenztheorie. Seine Terminologie übernimmt er weitgehend von Austin, führt aber eine andere Strukturierung des Sprechakts ein: An die Stelle des lokutionären Aktes setzt er den Äußerungsakt und den propositionalen Akt. <?page no="37"?> IVas ist ein ‘Sprechakt’ ? 37 Searle geht davon aus, „daß eine Sprache sprechen eine regelgeleitete Form des Verhaltens darstellt“ (1971/ 79, S. 38) und dass folglich jede Sprachtheorie als Teil einer Handlungstheorie aufzufassen ist. Er vertritt somit im Unterschied zu Austin einen stark erweiterten Sprechakthegriff. „Eine Sprache sprechen bedeutet, Sprechakte auszuführen [...]“ (Searle 1971/ 79, S. 30). Seine Motivation für die Beschäftigung mit Sprechakten besteht darin, „daß zu jeder sprachlichen Kommunikation sprachliche Akte gehören“ (ebd.). Sprechakte sind für Searle „die grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen Kommunikation“ (ebd.). Versuchte Austin die Klasse der konstativen Äußerungen anhand der konstativen Verben einzugrenzen, so versucht Searle generell Klassen verwandter Sprechakte zu finden. In Searle (1975a) formuliert er einen Klassifikationsvorschlag für illokutionäre Akte. Wichtige Unterscheidungskriterien sind für Searle u.a. (a) der ‘illokutionäre Zweck’ einer Äußerung, (b) das ‘Verhältnis zwischen Wort und Welf sowie (c) die jeweils ausgedrückten ‘psychischen Zustände’. An Arbeiten von Grice anknüpfend untersucht Searle (1975b) die Rolle des Situationskontextes für die Bestimmung des illokutionären Aktes. Ist bei explizit performativen Äußerungen die Bedeutung des Kontextes relativ gering, so kommt diesem bei implizit performativen Äußerungen eine entscheidende Bedeutung zu. Searle betrachtet insbesondere den Spezialfall des indirekten Sprechaktes, in welchem mit einer Äußerung mehre Illokutionen kommuniziert und somit mehrere illokutionäre Akte zugleich vollzogen werden. Unter Rückgriff auf die von Grice (1975/ 89) formulierten konversationeilen Kooperationsprinzipien erklärt Searle die Möglichkeit der Rekonstruktion des primären (indirekten) illokutionären Aktes aus dem geäußerten (direkten) Akt. Searle (1978; 1980) befasst sich mit der Bedeutung von Wörtern und Sätzen sowie mit deren Abhängigkeit vom Äußerungskontext. Mit Hilfe der Begriffe wörtliche Bedeutung und Nullkontext versucht Searle Freges (kontextfreie) Konzeption von Satzbedeutung als Spezialfall in eine allgemeinere Theorie der Äußerungsbedeutung zu integrieren. Das Phänomen, dass dieselben Worte in verschiedenen Kontexten verschiedene Äußerungsbedeutungen hervorbringen können, erklärt Searle damit, dass beim Verstehen zur ‘wörtlichen Äußerung’ ein zugehöriger Hintergrund an Informationen und Verfahren hinzutritt, der die Interpretation entsprechend beeinflusst. Die Äußerungsbedeutung wird für Searle nicht von der wörtlichen Bedeutung determiniert. Die wörtliche Bedeutung fügt lediglich vor einem bestimmten Hintergrund spezifische Wahrheitsbedingungen hinzu. Mit dem Austausch von Hintergrundelementen verändern sich auch die Wahrheitsbedingungen: Die Äußerungsbedeutung ist entsprechend kontextabhängig. Searle argumen- <?page no="38"?> 38 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt tiert, dass Bedeutung eine abgeleitete Form von Intentionalität und somit wie diese prinzipiell kontextabhängig ist. Searles Einfluss auf die SAT ist sehr groß. Obwohl er keinen grundlegend neuen Ansatz einbrachte, sondern Austins Ansatz mit wenigen Änderungen übernahm und diesen erweiterte, hat er sich mit seiner Fassung der Grundbegriffe der SAT weitestgehend durchgesetzt. Sein Verdienst ist es, die SAT systematisiert und deren Grundbegriffe neu definiert zu haben. Searle gelingt auch die Anbindung der Pragmatik an die Semantik, allerdings um den Preis einer Determinierung ersterer durch letztere. Herbert Paul Grice (1913-1988) Grice unterrichtete bis 1967 in Oxford und anschließend in Berkeley Philosophie. Sein Schwerpunkt war die Sprachphilosophie, insbesondere die Bedeutungstheorie. Mit Austin, Ryle und Strawson gehörte er zu den bedeutendsten Vertretern der Oxford-Philosophie. Grice war nie ein typischer Vertreter der ordinary language philosophy, vertrat aber deren Kernthese, dass die begriffliche Analyse alltagssprachlicher Ausdrücke wichtiger Bestandteil der philosophischen Arbeit sei. Grice versuchte in seinem Werk den Begriff der Bedeutung zu klären und diesen in eine allgemeine Theorie der rationalen Verständigung einzubetten. So bestritt er etwa, dass zwischen dem Schließen in der formalen Logik und dem Schließen in der Alltagssprache wesentliche Unterschiede bestehen würden. Unterschiedlich seien lediglich die Bedingungen der jeweiligen Konversation. Seine Aufgabe sah er darin, die allgemeinen Bedingungen von Konversation an undfür sich (Grice 1975/ 89, S. 43) zu untersuchen. Konversation versteht Grice ähnlich einem Spiel als eine Abfolge von Zügen (moves). Der einzelne Zug stellt den Versuch dar, auf die Überzeugungen und somit indirekt auf die Handlungen einer anderen Person Einfluss zu nehmen. Grice verlagert wesentliche Teile der Semantik in den Bereich der Sprachpsychologie. Er sieht den Zweck einer Äußerung darin, eine andere Person auf die eigenen Überzeugungen und Absichten aufmerksam zu machen. Das Erkennen der Gründe für eine bestimmte Äußerung veranlasst die andere Person, sich eine Überzeugung davon zu bilden, was mit der Äußerung beabsichtigt wird. Dass die andere Person sich eine solche Überzeugung bildet, ist aber gerade das eigentliche Ziel des Sprechers. Sprechen und Verstehen hängen somit sehr stark von gegenseitig geteilten Vorannahmen über die Beweggründe der jeweils anderen Person ab. Dieser reziproke Prozess der Verständigung basiert weniger auf sprachlichen Inhalten denn auf dem Erkennen von Einstellungen. Rationalität und auf gegenseitigem Vertäuen. Für Grice sind <?page no="39"?> IVas ist ein 'Sprechakt'? 39 dies wichtige Bestandteile sprachlicher Bedeutung, denn eine isoliert betrachtete Äußerung veranlasst niemanden, sich eine Überzeugung zu bilden. Grice sucht nicht wie Austin nach sprachlichen Indikatoren für Performativität. Er fasst Sprechen als prinzipiell performativen Akt auf und widmet sich der Untersuchung der Bedingungen des Sprechens und des Verstandenwerdens. Die Konventionalität sprachlicher Bedeutung spielt für ihn lediglich eine untergeordnete Rolle im Vergleich zur Rationalität und zur Kooperativität. Als kommunikationstheoretisches Fundament formuliert Grice das Kooperationsprinzip: Gestalte deinen Gesprächsbeitrag so, wie es zum Äußerungszeitpunkt der akzeptierte Zweck oder der Gesprächsverlauf erfordert (ebd., S. 45). Auf dieser Grundlage führt er mehrere Verhaltensmaximen ein, die unter eine der vier Kategorien der Quantität, der Qualität, der Relation und der Art und Weise fallen. Die Konversationsmaximen und die damit verbundenen Konversations-Implikaturen stehen immer in Zusammenhang mit dem jeweiligen Zweck, der mit einer Konversation verfolgt wird. Entsprechend ist es Grices erklärtes Ziel, die Konversation als Spezialfall oder als Varietät zweckorientierten, rationalen Verhaltens zu beschreiben. 2.2 Wann ist ein Sprechakt ein Sprechakt? Hier sollen verschiedene Auffassungen darüber, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein Sprechakt ‘Sprechakt’ genannt werden kann, diskutiert werden Dabei soll aufgezeigt werden, in welcher Hinsicht die jeweiligen Autoren die reale Kommunikationssituation idealisieren. Austin: Austin geht davon aus, dass „etwas sagen etwas tun heißen kann“, aber nur unter bestimmten Bedingungen, die er ‘felicity conditions’ nennt. Diese umfassen u.a. die Bedingung, dass der Kontext, in dem der Sprechakt erfolgt, stimmen muss und dass der Sprecher seine Äußerung ernst und aufrichtig äußern muss, damit diese als Sprechakt gelingen kann. Austin hätte also wohl nicht zugestimmt, dass das Verstehen der Intention des Sprechers durch die Hörer einziges Kriterium für das Gelingen eines Sprechaktes sein kann. Searle: Für Searle gehört es zum Sprechakt dazu, dass der Sprecher eine bestimmte Intention hat. Der Sprechakt ist für ihn erst dann vollzogen, wenn der Hörer die Intention des Sprechers erkannt hat. Möglich wird dies nach Searle aber erst dadurch, dass die (in einer Sprachgemeinschaft) gültigen Regeln für die Semantik der darin enthaltenen Ausdrücke eingehalten werden: Unsere Analyse illokutionärer Akte muß sowohl die intentionalen als auch die konventionellen Aspekte, und insbesondere die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen erfassen. Ein Sprecher, der mittels der wörtlichen (literal) Äußerung ei- <?page no="40"?> 40 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt nes Satzes einen illokutionären Akt vollzieht, hat die Absicht, beim Zuhörer eine bestimmte Wirkung dadurch zu erzeugen, daß er ihn dazu bringt zu erkennen, daß er jene Wirkung hervorzurufen beabsichtigt; und wenn er die Wörter wörtlich (literal) verwendet, intendiert er darüber hinaus, daß das Erkennen seiner Absicht auf Grund der Tatsache geschieht, daß die Regeln für den Gebrauch der von ihm geäußerten Ausdrücke den Ausdruck mit der Hervorbringung jener Wirkung verknüpfen. (Searle 1971/ 79, S. 72) Sowohl Austin als auch Searle betrachten Sprecher und Hörer wohl eher als Rollen in einem abstrakten ‘setting’, denn als reale Interaktanten in einer realen Äußerungssituation. Bei Austin erscheint die Äußerungssituation nur als konventionalisiertes Handlungsschema, bei Searle (1971/ 79), wie oben stehendes Zitat zeigt, ist sie anscheinend vollkommen überflüssig, da der Sprecher seine Wirkung allein durch Anwendung der korrekten Gebrauchsregeln erzielt. Bei beiden Autoren sind sowohl der Sprecher als auch der Hörer allwissende Figuren, die nicht auf gegenseitig geteiltes Wissen angewiesen sind. Erst Searle (1980) revidiert diese Idealisierung (vgl. Kap. 3.4). Lenk: Eine weitere Kritik an der intentionalen Sprechakt-Auffassung Searles besteht darin, dass es nicht nur intentionale Handlungen gibt. Hans Lenk (1978) weist daraufhin, dass nicht jede Handlung intentional ist. Gegenbeispiele sind (a) Handlungen, die darin bestehen, eine Handlung absichtsvoll zu unterlassen oder (b) Unfälle, d.h. Handlungen, die man vollzieht, ohne es zu intendieren. Lenk folgert daraus: , dass wir unseren Handlungsbegriff revidieren müssen: Absichtliches Handeln sollte als wenn auch besonders typischer - Spezialfall des Handelns allgemein aufgefaßt werden, (ebd., S. 285) Auf die Diskriminierung angewendet bedeutet das, dass auch diskriminiert werden kann, ohne dass dieses beabsichtigt wird. Somit ist es eine Frage der jeweiligen Interpretation, ob eine Äußerung als Diskriminierung betrachtet wird oder nicht. Lenk (1978) prägte für diese Relativität in der Wahrnehmung sozialer Fakten den Begriff des Interpretationskonstrukts. Wenn Sprechakte als ein Interpretationsprodukt aufgefasst werden, so liegt die Entscheidung darüber, was ein Sprechakt ist und was nicht bei den jeweiligen in der Äußerungssituation anwesenden Interagierenden. Das wäre vermutlich sowohl für Austin als auch für Searle eine unhaltbare Vorstellung, da dann alle Regeln für das Gelingen eines bestimmten Sprechakttyps hinfällig würden. Auf die Problematik der sprachlichen Diskriminierung übertragen bedeuten die diskutierten Schlussfolgerungen, dass die Klassifizierung einer Äußerung als Diskriminierung letztlich nicht möglich ist. Weder dem Hörer noch dem Analysanden ist die Sprecher-Intention bekannt. Selbst wenn sie es wäre, kann sich dennoch jede weitere Person eine eigene Interpretation bilden, die <?page no="41"?> 41 fVas ist ein 'Sprechakt' ? nicht notwendigerweise mit der Intention des Sprechers übereinstimmen muss. Unter diesen Voraussetzungen kann u.E. nur von ‘potentiellen’ Diskriminierungen gesprochen werden, da es sich bei jeder Klassifizierung von Sprechakten um die interpretative Einschätzung der jeweils analysierenden Person handelt. Diese muss weder mit derjenigen des Sprechers noch mit derjenigen der in der Situation anwesenden Hörer übereinstimmen. Aus diesen Gründen sollen in der vorliegenden Arbeit sprachliche Mittel aufgezeigt werden, die auf sprachlich implizite Bedeutung hinweisen so genannte Implizitheitsindikatoren. Diese sollen es ermöglichen, eine sprachliche Äußerung aufgrund ihrer lexikalischen und syntaktischen Struktur als implizite Äußerung zu identifizieren. Enthält diese Äußerung zusätzlich eine Kategorienbezeichnung, so kann ein Verdacht auf eine potentielle Diskriminierung intersubjektiv nachvollziehbar begründet werden. Die letztendliche Entscheidung, ob es sich tatsächlich um eine Diskriminierung handelt, bleibt aber wiederum der jeweiligen Interpretation überlassen. 2.3 Weshalb die Sprechakttheorie? Nachdem wir gezeigt haben, was wir mit ‘sprachlicher Diskriminierung’ (Kap. 1), was wir mit ‘Sprechakttheorie’ (Kap. 2.1) und was wir mit ‘Sprechakt’ (Kap. 2.2) meinen und bevor wir untersuchen werden, was die SAT unter ‘Implizitheit’ versteht (Kap. 3), soll an dieser Stelle geklärt werden, wieso in dieser Arbeit gerade die Sprechakttheorie verwendet wird. Die Begründung erfolgt dabei unter zwei verschiedenen Aspekten: a) ausgehend vom Untersuchungsgegenstand und b) ausgehend von einer These bezüglich innerem Zusammenhang zwischen Implizitheit und SAT. a) Der Untersuchungsgegenstand Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind implizite sprachliche Diskriminierungen (ISDn) in Medientexten, wie sie z.B. in Tageszeitungen zu finden sind. Der Untersuchungsgegenstand lässt sich durch folgende drei Merkmale charakterisieren: (1) Es handelt sich um geschriebene Sprache. Passagen, die ursprünglich aus der gesprochenen Sprache stammten (Zitate, Interviews, usw.), wurden ‘verschriftet’. (2) Es handelt sich um monologische Sequenzen, wie prinzipbedingt bei allen Texten in Printmedien. <?page no="42"?> 42 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt (3) ISDn sind sowohl in einen textuellen Kontext (auch ‘Kotext’ genannt), als auch in einen sozialen Kontext (Weltwissen, soziales Wissen, Wissen zu einem bestimmten Thema, usw.) eingebettet. Aus den genannten Merkmalen des Untersuchungsgegenstands ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Wahl der Analysemethode: Ad (/ ). Da unser Material ausschließlich geschriebene Sprache umfasst verschriftete Zitate u.Ä. erscheinen lediglich in literarischer Transkription stehen auch sämtliche Informationen gesprochener Sprache wie die Intonation nicht zur Verfügung. Dadurch sind wichtige sprachliche Signale, auf die sich an gesprochener Sprache orientierte Methoden wie die Konversationsanalyse stützen, nicht verfügbar. Ad (2). Die Beschränkung auf nicht-interaktive Distributionsmedien wie Zeitungen und Zeitschriften reduziert das sprachliche Material auf monologische Texte. Die Texte haben nur insofern implizit dialogischen Charakter, als der Hörer und seine Erwartungen an den Text von dem Autor im Sinne von Wolfgang Iser (1972; 1974) und Rainer Warning (1975) bereits mitgedacht wird. Ad (3). ISDn stehen in Medientexten nicht isoliert da: Ihnen geht einerseits Text voraus, der die Diskriminierung vorbereitet und in einen bestimmten Zusammenhang stellt. Andererseits greift der Autor bei der Realisierung einer ISD auf vermutetes Vorwissen des Lesers zurück. In jeder Gesellschaft gibt es einen Diskurs über die Akzeptanz, resp. Nichtakzeptanz bestimmter Ausländergruppen. Dieser Diskurs wird in der Regel nicht öffentlich geführt; trotzdem ist er den meisten bekannt und bildet so eine Basis für implizite Bezugnahmen. So gelten Mitglieder der Kategorie ‘Italiener’ als besonders musisch begabt, obwohl darüber wohl kaum je explizit ein Zeitungsartikel geschrieben wurde. Die doppelte Einbettung in den textuellen und in den sozialen Kontext erfordert eine Analysemethode, die sowohl auf innertextuelle, als auch auf außertextuelle Bezüge achtet. Die Kritische Diskursanalyse van Dijks (vgl. Kap. 1.4) berücksichtigt insbesondere den sozialen Kontext einer Diskriminierung, schenkt aber der sprachlichen Form ihrer Realisierung u.E. nicht die für die Zwecke der vorliegenden Arbeit erforderliche Aufmerksamkeit. Zur Verfeinerung der sprachlichen, insbesondere der lexikalischen Analyse impliziter Bedeutung verspricht die SAT darüber hinausgehende Impulse zu geben. <?page no="43"?> fVas ist ein "Sprechakt' ? 43 b) Die SAT und die Implizitheit Zusätzlich zu der geschilderten, aus den Merkmalen des Untersuchungsgegenstandes abgeleiteten Begründung, spricht u.E. auch eine theoretische Nähe der SAT zum Thema ‘Implizitheit’ für die SAT als theoretischen Hintergrund. Wir haben bereits erwähnt, dass wir Frege als theoretischen Vorläufer der SAT betrachten und dass Austin seine Sprechakttheorie in Abhebung der von Frege begründeten Tradition der logischen Semantik entwickelt hat (Kap 2.1). Während Frege mit dem Entwurf einer formalen Sprache versuchte, sprachliche Inhalte möglichst explizit zu repräsentieren, baute Austin seine Theorie auf der Beobachtung auf, dass die von Frege und seinen Nachfolgern betrachteten expliziten sprachlichen Formen nur einen Teil der sprachlichen Erscheinungen abdecken. Austin bezieht sich dabei auf Äußerungen, die nicht primär dazu dienen, Information zu übermitteln, sondern bspw. auf die Situation, in der sie geäußert werden, hinweisen eine klassische Form von sprachlicher Implizitheit. Den Zusammenhang von SAT und Implizitheit werden wir bei der Analyse der Auffassung von ‘sprachlicher Implizitheit’ in der SAT in Kap. 3 aufzuzeigen versuchen. Den Leitfaden für die Analyse bildet dabei eine theoretische Position, die als die semantische Hypothese (SH) dieser Arbeit bezeichnet werden kann (vgl. Kap. 0): (SH) Die SAT ist der Versuch, sprachliche Implizitheit in semantische Termini zu fassen. <?page no="45"?> 3. Was ist ‘sprachliche Implizitheit’ in der SAT? In diesem Kapitel sollen die in der SAT vorhandenen Auffassungen von ‘Implizitheit’ zusammengestellt werden. Dies ist kein leichtes Unterfangen, da in der Literatur weder eine allgemein verbindliche Definition von Implizitheit noch ein Überblick über die verschiedenen Implizitheitsauffassungen in der SAT zu finden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die SAT selbst den Terminus ‘Implizitheit’ nicht verwendet, sondern diversen anderen Termini wie z.B. ‘Performativität’ oder Tllokution’ den Vorzug gibt. 3.1 Das Problem der Definition von ‘sprachlicher Implizitheit’ Die Frage der sprachlichen Implizitheit wurde in der Literatur bisher nicht systematisch behandelt. Die Definition des für die vorliegende Arbeit zentralen Begriffs der Implizitheit birgt einige Probleme. In den Arbeitsdefmitionen in Kap. 1.1 wurde ‘Implizitheit’ negativ definiert über das Fehlen einer Lexikalisierung der Bewertung. Dies ist dadurch bedingt, dass allgemein eine klare Vorstellung davon existiert, was es bedeutet, wenn etwas ‘explizit’ geäußert wird. ‘Implizitheit’ wird hingegen immer in Abhängigkeit von ‘Explizitheit’ definiert. Eine Äußerung wird etwa dann als ‘implizit’ bezeichnet, wenn beim Lesen oder Hören der Eindruck entsteht, dass es ihr an Explizitheit mangelt. Das bedeutet nicht, dass etwas verschwiegen wird. Vielmehr wird ‘mehr gemeint, als gesagt wird’, resp. es wird etwas angedeutet, was nicht offen ausgesprochen wird. Diese alltagssprachlichen Umschreibungen sind nicht bloß ein vorwissenschaftlicher Notbehelf; sie sind zurzeit die einzig verfügbaren Definitionen. Eine allgemein akzeptierte linguistische Definition von Implizitheit existiert zum Zeitpunkt dieser Arbeit nicht. Um mit dem Konzept ‘Implizitheit’ arbeiten zu können, muss dieses erst näher bestimmt werden. Dies soll anhand der Behandlung des Konzepts in der Sprechakttheorie geschehen. Nebst einer allgemeinen Verunsicherung bezüglich des Konzepts Tmplizitheit’, ist die Definition sprachlicher Implizitheit ein besonders schwieriges Unterfangen. Hier müsste erklärt werden, (II) wie mittels Sprache etwas ausgedrückt wird, was nicht zur Sprache kommt. Dieser Defmitionsversuch erscheint paradox, da er zwei scheinbar konträre Bestandteile enthält. Der Widerspruch zwischen den beiden Defmitionsbestandteilen lässt sich m. E. nur auflösen, wenn akzeptiert wird, dass <?page no="46"?> 46 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt (12) (a) etwas mittels Sprache ausdrücken nicht gleich bedeutend ist mit (12) (b) für etwas einen sprachlichen Ausdruck verwenden. Obwohl (a) und (b) sich sehr ähnlich anhören, steht (a) für die allgemeine Möglichkeit, mittels Sprache Inhalte zu vermitteln; (b) steht dagegen für die spezielle Möglichkeit, diese Inhalte in korrespondierende Worte zu kleiden — sie zu lexikalisieren. Akzeptieren wir aber, dass es sich bei (b) um einen Spezialfall von (a) handelt, so bedeutet dies, dass es sich bei (b), obwohl wir uns daran gewöhnt haben, es als das Paradigma für die sprachliche Vermittlung von Inhalten schlechthin zu betrachten, nicht um die einzige Möglichkeit dieser Art handelt. Vielmehr stellt dann das Lexikalisieren von Bedeutung lediglich eine Möglichkeit unter vielen dar, Inhalte sprachlich zu vermitteln. Unter dieser Prämisse müssen wir aber versuchen zu erklären, (13) wie mittels lexikalischer Elemente nicht-lexikalische Bedeutung vermittelt werden kann. (13) ist zwar eine präzisere Fassung des Problems als (II), erscheint aber nicht weniger paradox. Befinden wir uns damit wieder im selben Dilemma wie zuvor? In (12) wird Implizitheit zwar immer noch negativ definiert ähnlich wie in den Arbeitsdefinitionen aber mit Hilfe einer besser operationalisierbaren Terminologie als in (II). Auf der Grundlage von (13) soll daher die Fragestellung dieses Kapitels wie folgt formuliert werden: (Fl) Wie kann nicht-lexikalisierte Bedeutung mit lexikalischen Mitteln realisiert werden? Die zentrale Fragestellung dieses Kapitels (Fl) bildet zugleich den Ausgangspunkt der Sprechakttheorie (SAT). Im oben genannten Sinne enthält die Idee, dass ‘etwas sagen’ ‘etwas tun’ bedeuten kann, alle Anzeichen von Implizitheit: Über die (propositionale) Satzbedeutung hinaus soll die Äußerung einen nichtlexikalisierten Bedeutungsanteil enthalten, der es ermöglicht, mit einem Satz eine Handlung zu vollziehen. Diese Auffassung von Bedeutung steht in (scheinbarem) Widerspruch zur Auffassung der logischen Semantik, die sich auf das von Frege formulierte Kompositionsprinzip stützte: Der Satz ist die Summe seiner Teile. Nach dieser Auffassung dürfte die Bedeutung eines Satzes nicht über die Summe der Bedeutungen seiner lexikalischen Bestandteile hinausgehen. Gerade dies postuliert aber die SAT und kann so auch als Suche nach einer Alternative zu (12) (b) aufgefasst werden. <?page no="47"?> fVas ist 'sprachliche Imphzitheit' in der SAT? 47 Zur Klärung der Frage nach sprachlicher Imphzitheit soll in diesem Kapitel analysiert werden, mit welchen Termini die SAT das genannte Phänomen zu fassen versucht hat. Hierzu sollen die Autoren betrachtet werden, die einen wichtigen Beitrag zur Genese des Sprechaktbegriffs geleistet haben (vgl. Kap. 2.1) und sich darüber hinaus über implizite Formen von Sprechakten Gedanken gemacht haben. 3.2 Gottlob Frege Um Freges Beitrag zur SAT gerecht zu werden, sollen sowohl seine Formulierung des Kompositionsprinzips, als auch seine darüber hinausgehenden semantischen Konzepte dargelegt werden. Begrifflicher Inhalt: Frege (1879/ 1977) setzt sich mit der logischen Analysierbarkeit von Sprache auseinander und entwirft eine Begriffsschrift zur Repräsentation des logischen Gehalts sprachlicher Urteile (vgl. Wagner 1987). Die Begriffsschrift ist ein grafisches Repräsentationssystem, das insbesondere die logische Verknüpfung der Bestandteile eines Urteils (Aussagesatzes) sehr detailliert abbildet. Ziel Freges ist es, eine „Formelsprache des reinen Denkens“ (Frege 1879/ 1977, S. X) zu entwerfen, die den „begrifflichen Inhalt“ (ebd., S. 3) sprachlicher Urteile (Aussagen) ohne „Täuschung“ (ebd., S. 12) repräsentiert. Die „Bündigkeit“ (ebd., S. X) der in Urteilen enthaltenen Schlussketten sollte damit objektiv überprüfbar werden. Frege hat beim Entwurf seiner Begriffsschrift konsequenterweise auf alles verzichtet, „was für die Schlußfolge im Wesentlichen ohne Bedeutung ist“ (ebd.). Beim Entwurf seiner Semantik blieben infolgedessen einige semantische Erscheinungen der natürlichen Sprache unberücksichtigt eine Idealisierung, auf die später Austin hingewiesen hat. Begriff und Gegenstand: Freges Satzsemantik ist im Wesentlichen durch zwei semantische Repräsentationseinheiten charakterisiert: Begriff und Gegenstand. Das Repräsentationselement ‘Begriff verwendet Frege für Gattungsnamen wie ‘Mensch’, ‘Stern’ oder ‘Pferd’. Die semantische Wirkungsweise eines Begriffs vergleicht Frege mit derjenigen einer mathematischen Funktion: wie diese betrachtet er den Begriff als „unvollständig, ergänzungsbedürftig oder ungesättigt“ (Frege 1891/ 1980, S. 22). Wie die Funktion zur Komplettierung eines oder mehrerer Argumente bedarf, so benötigt der Begriff nach Frege einen oder mehrere Gegenstände von dem/ denen er prädiziert wird. Der Gegenstand ist für Frege das Repräsentationselement für Individuen wie ‘Hans’, ‘Lotte’ oder ‘Maria’. <?page no="48"?> 48 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Die Aussage „Lotte ist ein Pferd“ besteht z.B. aus dem Begriff ‘Pferd’, und aus dem Gegenstand ‘Lotte’, wobei der Begriff‘Pferd’ über ‘Lotte’ prädiziert wird. Heutige Prädikatenlogik würde dies in Funktionsschreibweise notieren als ‘Pferd(Lotte)’. Analoges gilt für Relationen wie z.B. „Maria ist die Schwester von Hans“. Der Begriff ‘Schwester von’ wird von den beiden Gegenständen ‘Maria’ und ‘Hans’ prädiziert: ‘Schwester-von(Maria,Hans)’. Das Kompositionsprinzip: Mit den beiden Repräsentationselementen ‘Begriff und ‘Gegenstand’ hat Frege im Wesentlichen sein semantisches Kompositionsprinzip definiert: Die beiden Repräsentationselemente beinhalten klare Regeln, wie sie zusammengesetzt werden können. Die Zusammensetzung mehrerer sich ergänzender Repräsentationselemente die Komposition ergibt die Repräsentation des vollständigen Satzes. Umgekehrt betrachtet, setzt sich in Freges Begriffsschrift die Bedeutung des ganzen Satzes immer aus den Bedeutungen seiner Teile zusammen, was zur Konsequenz hat, dass die Satzbedeutung auf der lexikalischen Bedeutung seiner Teile basiert unddurch diese vollständig bestimmt wird. Beim Kompositionsprinzip handelt es sich entsprechend um ein kontextunabhängiges Semantikmodell, d.h. um ein Modell, in dem die Semantik des Satzes durch das Zusammenspiel der Repräsentationselemente bestimmt wird und von keinerlei zusätzlichen Faktoren beeinflusst wird. Diese Semantik-Auffassung bildet die unerschütterliche Grundlage der gesamten logischen Semantik. Erst deren Infragestellung durch Austin ermöglichte eine Beschäftigung mit den kontextabhängigen Bedeutungsphänomenen der sprachlichen Pragmatik. Sinn und Bedeutung: Freges Ziel beim Entwurf seiner Begriffsschrift war eine eindeutige Zuordnung zwischen sprachlichem Ausdruck und damit bezeichnetem Objekt. Die Wahrheit von Aussagesätzen kann nur überprüft werden, wenn diese eindeutige Referenzen aufweisen. In der natürlichen Sprache ist es aber immer möglich, ein und dasselbe Objekt mit verschiedenen Ausdrücken zu belegen. Z.B. kann derselbe Stern (die Venus) je nach Tageszeit als ‘Morgenstern’ oder als ‘Abendstern' bezeichnet werden. Um dieses Phänomen in sein Modell integrieren zu können, unterteilte Frege die Bedeutung eines Ausdrucks in dessen Sinn (‘Morgenstern’, ‘Abendstem’, ‘Venus’) und in dessen Bedeutung (Der ‘Venus’ genannte Planet). Der ‘Sinn eines Ausdrucks’ bezeichnet die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“ (Frege 1892a/ 1980, S. 41), die ‘Bedeutung eines Ausdrucks’ bezeichnet das referenzierte Objekt, resp. die referenzielle Person selbst. Den ‘Sinn’ eines Ausdrucks erfasst jeder, „der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört“ (ebd., S. 42). Der ‘Sinn’ entspricht somit einer konzeptuellen Grundbedeutung, die implizite Regeln enthält, welche Art von Objekten oder Personen mit einem Ausdruck bezeichnet werden können. Der ‘Sinn’ eines Ausdrucks gibt nicht die situationsunabhängigen <?page no="49"?> fVas ist ‘‘sprachliche Implizitheif in der SAT? 49 immanenten Merkmale des Referenzobjekts wieder, sondern dessen ‘Art des Gegebenseins’. Der ‘Sinn’ eines Ausdrucks ist abhängig von der Situation, oder allgemeiner vom Kontext, in welchem der Ausdruck verwendet wird. So wäre es sinnfrei, die Venus am Abendhimmel als ‘Morgenstern’ zu bezeichnen; am Morgenhimmel ist diese Bezeichnung aber durchaus angebracht. Die ‘Bedeutung’ eines Ausdrucks ist die Konkretisierung von dessen ‘Sinn’ in einem bestimmten Kontext und steht für die direkte Referenzbeziehung zwischen Bezeichner und Bezeichnetem. Die Zweiteilung der Bedeutung eines Ausdrucks in ‘Sinn’ und ‘Bedeutung’ ermöglichte es Frege, sowohl den Freiheiten der natürlichen Sprache gerecht zu werden, als auch die Konstruktion einer modelltheoretischen Semantik, in der jedem referentiellen Ausdruck genau ein Objekt aus der Modellwelt zugeordnet wird. Bezogen auf unsere Fragestellung ist an dieser Zweiteilung interessant, dass Frege eine sowohl vage als auch implizite Art von Bedeutung den ‘Sinn’ einer expliziten Art von Bedeutung der ‘Bedeutung’ gegenüberstellt. Damit führt Frege die Unterscheidung von expliziten und impliziten Bedeutungsarten in die semantische Theorie ein. Freges Unterscheidung wurde in der Tradition der logischen Semantik zunächst nicht übernommen, später aber von Rudolf Carnap unter der Bezeichnung extensional und intensional aufgegriffen und in die logische Semantik integriert (Carnap 1947/ 58). Das Substitutionsprinzip: Wie bereits erwähnt, war es Freges Ziel, die logische Korrektheit sprachlich formulierter Schlussketten objektiv überprüfbar zu machen. Nach Freges Auffassung ergibt die korrekte Schlussfolgerung aus wahren Prämissen notwendigerweise eine wahre Aussage. Entsprechend betrachtet Frege als ‘Bedeutung’ eines Satzes dessen Wahrheitswert, d.h. die Beurteilung, ob der Satz wahr oder falsch ist. Als ‘Sinn’ eines Satzes betrachtet er den damit ausgedrückten Gedanken. Wenn das Satzganze aber nur in Bezug auf dessen Wahrheitswert interessiert, so gilt dasselbe auch von den einzelnen Satzteilen. Frege formuliert in Anlehnung an Leibniz folgendes Substitutionsprinzip für Satzteile: Ersetzen wir nun in ihm [dem Satz] ein Wort durch ein anderes von derselben Bedeutung, so kann dies auf die Bedeutung des Satzes keinen Einfluß haben. (Frege 1892a/ 1980, S. 47) Mit dem Substitutionsprinzip hatte Frege zugleich ein Testverfahren für kontextunabhängige Bedeutung zur Verfügung: Wenn die Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen die ‘Bedeutung’ des Satzes nicht verändert, sind die ausgetauschten Ausdrücke logisch äquivalent; zugleich ist auch die ‘Bedeutung’ des entsprechenden Satzteils von ihrem Kontext unabhängig. In <?page no="50"?> 50 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt heutigen Grammatiktheorien werden ähnliche Verfahren eingesetzt, um funktionell geschlossene Syntagmen zu bestimmen. Das Substitutionsprinzip gilt nur für die ‘Bedeutung’ eines Ausdrucks, nicht für dessen ‘Sinn’. Im Satz „Der Abendstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“ (ebd.) kann der Ausdruck ‘Abendstern’ nicht durch den Ausdruck ‘Morgenstern’ ersetzt werden, ohne dass sich der ‘Sinn’ des Satzes ändert. ‘Abendstern’ und ‘Morgenstern’ haben zwar dieselbe ‘Bedeutung’, aber nicht denselben ‘Sinn’. Vermutlich gibt es nach Freges Auffassung auch keine zwei Ausdrücke mit demselben ‘Sinn’, da sonst beide dieselbe ‘Art des Gegebenseins’ ein und desselben Objekts darstellen müssten und damit logisch gesehen identisch wären. Wenn das Substitutionsprinzip für den ‘Sinn’ eines Satzes nicht gilt, dann gilt dafür auch das Kompositionsprinzip nicht. Darm ist der ‘Sinn’ eines Ausdrucks auch nicht kontextunabhängig und wir haben es in Freges semantischer Theorie mit zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungsarten zu tun: mit der ‘Bedeutung’ einer kontextunabhängigen Art - und mit dem ‘Sinn’ einer kontextabhängigen Art. Die Grenzen des Kompositionsprinzips: Neben der Einschränkung, dass das Kompositionsprinzip nur für eine von zwei Bedeutungsarten gilt, musste Frege bei der Erweiterung seines semantischen Modells weitere Grenzen des Kompositionsprinzips eingestehen. Sein Versuch, das Substitutionsprinzip für Satzverbindungen zu erweitern, schlug teilweise fehl. Frege wehrte sich gegen die Auffassung der „Grammatiker“ (ebd.), Nebensätze würden Satzglieder vertreten, da er auch den Nebensätzen einen eigenständigen ‘Sinn’ und als ‘Bedeutung’ einen Wahrheitswert zuordnen wollte. Die semantische Integration der Nebensätze gestaltete sich aber schwieriger als erwartet. Frege musste einsehen, dass es Nebensätze gibt, die nur zusammen mit dem Hauptsatz einen vollständigen ‘Sinn’ ergeben. Seine Bemerkung, dass diese Art von Nebensätzen auch durch eine andere grammatikalische Kategorie realisiert werden kann, kommt dem Eingeständnis gleich, dass zumindest für diese Art von Nebensätzen die bekämpfte Auffassung der „Grammatiker“ doch richtig ist. Viel schwer wiegender ist allerdings Freges Eingeständnis, „daß die Bedeutung des Satzes nicht immer sein Wahrheitswert ist“ (ebd., S. 52). Das bedeutet, dass Frege sein Kompositionsprinzip modifizieren musste, um zumindest einen Teil der Nebensätze in sein semantisches Modell integrieren zu können. Damit ist das Kompositionsprinzips aber nicht mehr das allgemein gültige Prinzip für die ‘Bedeutung’ von Ausdrücken schlechthin. Für bestimmte Arten von Satzverbindungen hat es gar überhaupt keine Gültigkeit. Frege sieht darin aber keine Beschränkung seines semantischen Modells, sondern betrachtet die genannten Problemfälle eher als Sonderfälle, die nicht in den Gültigkeitsbereich seines Modells fallen (vgl. hierzu Kap. 4.1). Das Kontextprinzip: Die lexikalische Bedeutung ist in Freges Sicht trotz des Kompositionsprinzips nicht kontextunabhängig. Frege betrachtet den Satz <?page no="51"?> Was ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 51 zwar als aus seinen Teilen zusammengesetzt; den einzelnen Teilen kommen aber, entsprechend ihrer Position in der syntaktisch-semantischen Struktur des Satzes, unterschiedliche semantische Funktionen zu. Somit bestimmen nicht nur die Bedeutungen der Satzteile die Bedeutung des Satzes, sondern auch der Satz bestimmt die Bedeutung seiner Teile: Man muß aber immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung [...] Es genügt, wenn der Satz als Ganzes einen Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Theile ihren Inhalt. (Frege 1884/ 1986, S. 71). (Austins Übersetzung: „But we ought always to keep before our eyes a complete proposition. Only in a proposition have the words really a meaning. [...] It is enough if the proposition taken as a whole has a sense; it is this that confers on its parts also their content.“). (Frege 1950) Diese Passage bildete den Ausgangspunkt fur Haaparantas Artikel „Frege's context principle“ von 1985, in welchem sie diese und ähnliche Passagen in Freges Werk als Formulierung eines semantischen Prinzips interpretiert. Die Bedeutung der Satzbestandteile konkretisiert sich gemäß diesem Prinzip erst im Satzzusammenhang. Haaparanta belegt, dass dies nur scheinbar im Widerspruch zum Kontextprinzip steht: Das Kompositionsprinzip geht davon aus, dass die einzelnen Satzteile bereits eine ‘Bedeutung’ haben, erklärt aber nicht, wie sie dazu kommen. Hier setzt das Kontextprinzip ein. Einem Ausdruck kann eine Bedeutung erst dann zugeordnet werden, wenn dessen Sinn erfasst ist: Die regelmäßige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen Sinn und dessen Bedeutung ist derart, daß dem Zeichen ein bestimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung entspricht [...]. (Frege 1892a/ 1980, S.42) So bezieht sich der Eigenname durch Vermittlung des Sinnes und nur durch diese auf den Gegenstand. (Frege 1895/ 1978, S. 34) Die beiden Zitate zeigen das Zusammenspiel der beiden Bedeutungsarten ‘Sinn’ und ‘Bedeutung’ im Satz und bestimmen zugleich das Verhältnis des Kompositions- und des Kontextprinzips: Die ‘Bedeutung’ unterliegt dem Kompositionsprinzip; der ‘Sinn’ dem Kontextprinzip. Das Kompositionsprinzip regelt, wie bereits erläutert, das kontextunabhängige Zusammensetzen der ‘Bedeutungen’ der Satzteile zur ‘Bedeutung’ des Satzes. Das Kontextprinzip ist diesem systematisch vorgelagert und regelt die Zuordnung der ‘Bedeutung’ zu den einzelnen Ausdrücken, indem es angibt, wie aus dem ‘Sinn’ des ganzen Satzes auf den ‘Sinn’ von dessen Teilen geschlossen wird: Wie der Eigenname Teil des Satzes ist, ist sein Sinn Teil des Gedankens [= ‘Sinn’ des Satzes], (Frege 1906/ 78, S. 84) Die Tradition der logischen Semantik hat, wie bereits erwähnt, von Frege nur die ‘Bedeutung’ von Ausdrücken und das zugehörige Kompositionsprinzip <?page no="52"?> 52 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt übernommen. Erst Carnap (1947/ 58) hat Freges ‘Sinn’ von Ausdrücken aufgegriffen; das zugehörige Kontextprinzip hingegen nicht. Die Grundlegung der Sprechaktidee: Frege hat das Kompositionsprinzip in die Semantik eingeführt; er erkannte aber auch klar dessen Grenzen. Er hat es im Dienste seiner Zielsetzung in sein semantisches Modell integriert, aber nicht zum alleinigen Prinzip erhoben, wie dies Anhänger der logischen Semantik nach ihm getan haben. Sein semantisches Modell umfasste ebenfalls eine kontextabhängige Bedeutungsart. Seine Analysen semantischer Phänomene der natürlichen Sprache reichen weit über das hinaus, was er in sein Modell integriert hat. So entwickelt er bereits bei der Konstruktion seiner Begriffsschrift grafische Repräsentationselemente, die den Sprechakttyp ‘Urteil’ markieren. Seine Analysen über die semantische Funktionsweise der natürlichen Sprache enthalten weitere Vorüberlegungen zu einer eigentlichen Sprechakt-Konzeption. Vorstellungsverbindung und Urteil: Freges Begriffsschrift enthält zwei Arten von grafischen Zeichen: Zusätzlich zu den verschiedenen Zeichen zur Repräsentation des Inhalts eines Urteils, auch ein Zeichen für die Behauptung der Wahrheit des Urteils, den „Urtheilsstrich“: Wenn man den [Urtheilsstrich] fortlässt, so soll dies das Unheil in eine blosse Vorstellungsverbindung verwandeln, von welcher der Schreibende nicht ausdrückt, ob er ihr Wahrheit zuerkenne oder nicht. (Frege 1879/ 1977, S. 2) In diesem Zitat unterscheidet Frege die Darstellung des Inhalts eines ‘Urtheils’ von der Behauptung der Wahrheit desselben. Während erstes lediglich die Wiedergabe einer Verbindung von ‘Vorstellungen’ ist, bekräftigt letztes, dass die sprechende, resp. schreibende Person, diese ‘Vorstellungsverbindung’ für wahr hält und, indem sie diese äußert, resp. aufschreibt, deren Wahrheit behauptet. Freges Unterscheidung zwischen ‘Vorstellungsverbindung’ und ‘Urtheil’ entspricht der heutigen Unterscheidung von Satz und Äußerung (resp. verschriftlichter Äußerung): Im Satz wird eine Tatsache probeweise zusammengestellt; in der Äußerung wird sie behauptet. Form und Kraft: Frege interessiert am ‘Urtheil’ nicht nur der bloße Akt des Äußerns, sondern auch die Situiertheit der Äußerung. Ein ‘Urtheil’ kann seiner Ansicht nach in Abhängigkeit davon, wo und von wem es geäußert wird, unterschiedliche Wirkungen erzielen. Frege nimmt an, dass das Äußern eines Aussagesatzes in einer alltäglichen Situation der Behauptung der Wahrheit dieser Aussage gleichkommt. Dies ist aber nicht der Fall, wenn dieselbe Aussage auf der Bühne geäußert wird, da ein Schauspieler beim Äußern einer Aussage nicht wirklich deren Wahrheit behauptet. Frege begründet die Tatsa- <?page no="53"?> IVas ist 'sprachliche Implizitheit'’ in der SAT? 53 che, dass das Äußern einer Aussage in einem alltäglichen Kontext und im Bühnenkontext unterschiedliche Wirkungen erzielt, wie folgt: Die Behauptung der Wahrheit liegt in beiden Fällen in der Form des Behauptungssatzes, und da, wo diese nicht ihre gewöhnliche Kraft hat, z.B. im Munde eines Schauspielers auf der Bühne, enthält der Satz [...] eben auch nur einen Gedanken (Frege 1892a/ 1980, S. 49) Freges Überlegungen haben große Ähnlichkeit mit Austins Bedingungen für das Gelingen eines Sprechaktes (vgl. Austins ‘felicity conditions’ in Kap. 3.3): Die Situiertheit einer Äußerung und die Abhängigkeit der Wirkung einer Äußerung von Situation und Sprecher sind für Austin wichtige Kennzeichen eines Sprechakts. Das oben stehende Zitat enthält noch eine zweite Parallele zu Austins Sprechakttheorie. Die Tatsache, dass mit einem Aussagesatz eine ‘Wahrheit’ ausgedrückt werden kann, liegt für Frege an der ‘Form des Behauptungssatzes’. Mit Form meint er das, was Wittgenstein (1921/ 1982, S. 18ff.) als logische Form bezeichnet und was wir heute Prädikationsstruktur des Satzes nennen würden. ‘Form’ bezeichnet das semantische Zusammenwirken der Satzteile gesteuert von der syntaktisch-semantischen Struktur des Satzes. Dieser Form entspricht eine Kraft, die in Abhängigkeit von Situation und Sprecher die Funktion der Äußerung dieses Satzes bestimmt: In einer alltäglichen Äußerungssituation hat die Form eines Aussagesatzes die Kraft, die Wahrheit des in ihr repräsentierten Sachverhaltes zu behaupten. Mit der Bezeichnung Kraft nimmt Frege Austins Terminus {illocutionary) force vorweg, den dieser ca. 60 Jahre später einführt, um der Bedeutung {meaning) eines Satzes einen Terminus für die Funktion der zugehörigen Äußerung in einem bestimmten Kontext an die Seite zu stellen. Es ist sogar möglich, dass Austin diesen Begriff von Frege übernommen hat, denn Austin übersetzte 1950 Freges Die Grundlagen der Arithmetik (Frege 1884/ 1986) ins Englische und verfügte somit zur Zeit der Ausarbeitung seiner berühmten Vorlesung von 1952/ 55 bereits über eine profunde Kenntnis von Freges Werk. Denn Frege übersetzen heißt, ihn zu interpretieren (vgl. Austins Übersetzung in Kap. 3.2). Wechselwirkung, des Sprechenden und des Hörenden: Frege war ferner bereits klar, dass die Kommunikationspartner in der Kommunikationssituation in einer ‘Wechselwirkung’ stehen, in der sie bei der Formulierung ihrer Äußerungen bereits auf die Erwartungen ihres Gegenübers Rücksicht nehmen. Diese und alle anderen Vorüberlegungen zu einer potentiellen Sprechakt- Konzeption haben allerdings in Freges semantisches Modell keinen Eingang gefunden, da es ihm bei der Erstellung seines Modells ausschließlich auf die Repräsentation der logischen Struktur von Aussagesätzen ankam: <?page no="54"?> 54 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Alle Erscheinungen nun in der Sprache, die nur aus der Wechselwirkung des Sprechenden und des Hörenden hervorgehen, indem der Sprechende z. B. auf die Erwartungen des Hörenden Rücksicht nimmt und diese schon vor dem Aussprechen eines Satzes auf die richtige Fährte zu bringen sucht, haben in meiner Formelsprache nichts Entsprechendes, weil im Urtheile hier nur das in Betracht kommt, was auf die möglichen Folgerungen Einfluß hat. (Frege 1879/ 1977, S. 3) Fazit: Frege entwickelt mit dem Kompositionsprinzip die Grundlagen der propositionalen Semantik. Zugleich entwickelt er mit der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung sowie mit dem Kontextprinzip die Grundlagen für eine damit verbundene kontextabhängige Wort- und Satz-Semantik, die alle Züge von Implizitheit trägt. Da er sein semantisches Programm ausschließlich auf Aussagesätze und deren logische Verknüpfung zuschneidet, finden seine weit darüber hinausgehenden Gedanken zur Semantik der natürlichen Sprache in seinem Modell keine Berücksichtigung. Mit der Unterscheidung von Vorstellungsverbindung und Unheil vollzieht er aber bereits die Trennung von Satz und Äußerung und mit der Unterscheidung von Form und Kraft nimmt er die Trennung von propositionaler und pragmatischer Semantik vorweg. Mit dem Terminus ‘Kraft’ beeinflusst er möglicherweise Austin bei der Benennung seines zentralen Konzepts der illocutionary force. In seinen Überlegungen zur Wechselwirkung des Sprechenden und des Hörenden reflektiert Frege erstmals die gegenseitige Bezugnahme auf die jeweiligen Erwartungen des Kommunikationspartners. Er nimmt damit zwei wichtige pragmatische Konzepte vorweg: Die wechselseitige Bezogenheit auf den Kommunikationspartner (mutuality) und die damit verbundenen Erwartungen, die Partnerhypothesen. <?page no="55"?> fVas ist "sprachliche Implizitheif in der SAT? 55 Begrifflicher Inhalt Reduzierung der Formulierungsvielfalt auf das Wesentliche Formulierung der propositionalen Semantik Begriff & Gegenstand Analogie zu ‘Funktion’ und ‘Argument’ in der Semantik Repräsentationselemente der ersten kompositioneilen Satzsemantik Kompositionsprinzip Berechnung der Wahrheit einer Aussage aus ihren Teilen Kontextunabhängige Satzsemantik Kontextprinzip Konstitution von Bedeutung im Kontext Kontextabhängige Satzsemantik Sinn & Bedeutung Untersch. von ‘Art des Gegebenseins' und ‘begrifflichem Inhalt’ Unterscheidung von impliziter und expliziter Bedeutung Substitutionsprinzip Kriterium für die logische Äquivalenz von ‘Bedeutung’ Test für die Kontextfreiheit eines Ausdrucks ähnlich der ‘Distribution’ Vorstellungsverbindung & Urtheil Unterscheidung der Bekräftigung der Wahrheit einer Aussage von deren bloßer Erwähnung Vorwegnahme der Unterscheidung von Satz und Äußerung Form & Kraft Untersch. der Verwendung einer Aussage in versch. Kontexten. Unterscheidung von propositionaler und pragmatischer Bedeutung Wechselwirkung des Sprechenden und des Hörenden Abgrenzung der semantischen Prinzipien der ‘Begriffsschrift' von denjenigen der natürlichen Sprache Einführung der gegenseitigen Bezugnahme auf die jeweiligen Erwartungen des Kommunikationspartners: Partnerhypothesen. * Diese Bezeichnung stammt nicht von Frege selbst, sondern aus der Frege-Literatur Tab. 2: Freges Terminologie <?page no="56"?> 56 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 3.3 John Langshaw Austin Descriptive fallacy: Austin (1962) beginnt mit der Feststellung, dass sich die Analysen der logischen Semantik ausschließlich mit Aussagen befasst haben, obwohl längst nicht alle Sätze Aussagen sind. Grammatiker haben darauf hingewiesen, dass es auch Frage-, Ausrufe-, Befehls-, Wunsch-, Konzessivsätze, usw. gibt. Austin bezeichnet die ausschließliche Beschäftigung mit Aussagesätzen als descriptive fallacy (S. 3), denn er geht davon aus, dass selbst viele Äußerungen, die wie Aussagen aussehen, gar keine Aussagen sind. Diese Äußerungen dienen nicht primär der Übermittlung von Information, sondern weisen auf die Äußerungssituation hin, oder deuten an, wie die Äußerung aufzufassen ist. Constative vs. performative: Austins Entdeckung macht die Unterscheidung von zwei Arten von Äußerungen notwendig. Äußerungen, die Sachverhalte beschreiben also Aussagen im herkömmlichen Sinne nennt Austin konstative Äußerungen. Davon unterscheidet er Äußerungen, die (a) nichts beschreiben noch bekräftigen und entsprechend weder wahr noch falsch sind und (b) Teil einer Handlung sind, und bezeichnet diese als performative Äußerungen. Die mit performativen Äußerungen vollzogene Handlung ist dabei eine konkrete Handlung, welche über das bloße Äußern der Worte, aus der sie besteht, hinausgeht. Als Beispiele nennt Austin das ‘Jawort’ in der Kirche und die Formulierung „hiermit taufe ich dich auf den Namen ...“ bei Schiffstaufen. Austins Unterscheidung konstativ performativ bildet (obwohl er sie am Ende seines Buches relativiert) die Basis seiner Sprechaktkonzeption. Der bis dahin vorherrschenden Auffassung der logischen Semantik von ‘Sprache’ als einem Instrument zur Beschreibung von wahren und falschen Sachverhalten stellt Austin seine eigene Sprachauffassung entgegen: etwas ‘sagen’ kann etwas ‘tun’ bedeuten. Felicity conditions: Austin weist darauf hin, dass nicht jede Äußerung automatisch eine Handlung vollzieht. Seine Standardbeispiele für Sprechakte sind in der Öffentlichkeit vollzogene rituelle Handlungen wie Schiffstaufen, Heiraten, usw., die in der Tat in mehrfacher Hinsicht misslingen können. Austin nennt performative Äußerungen, die gelingen, happy performatives (S. 12) und entwickelt so genannte felicity conditions: Es muss eine akzeptierte konventionalisierte Prozedur existieren, die einen bestimmten Effekt hervorruft und das Äußern bestimmter Worte durch bestimmte Personen unter bestimmten Umständen miteinschließt. Die Umstände (circumstances) und die Personen müssen für die jeweilige Prozedur geeignet sein und alle Teilnehmer müssen die Prozedur korrekt und vollständig vollziehen. In der Regel muss der Sprecher zugleich noch weitere Handlungen vollziehen. Wichtigste Bedingung ist aber, dass der Sprecher das, was er sagt, ernst meint und auch <?page no="57"?> IVas ist "sprachliche Implizitheif in der SAT? 57 so äußert, dass die Äußerung ernst genommen wird. Weiter ist es auch angemessen, dass die Person, die bspw. ein Versprechen abgibt, zugleich eine bestimmte Intention hat, wie z.B. diejenige, Wort zu halten, und sich in der Folge auch entsprechend verhält. Äußerungen, für die die genannten Bedingungen nicht erfüllt sind, bezeichnet Austin als unhappy und entwickelt anhand der genannten Bedingungen eine doctrine of the infelicities (S. 14). Austin betrachtet die felicity conditions auch als Kriterium der Performativität: Die Möglichkeit zu gelingen oder zu misslingen ist eine Eigenschaft von performativen Äußerungen; konstative Äußerungen dagegen sind entweder wahr oder falsch. Kritik der felicity conditions': Bei näherer Betrachtung der Austin'schen felicity conditions wird klar, dass diese ganz auf seine bereits erwähnten Standardbeispiele zugeschnitten sind: rituelle Handlungen in der Öffentlichkeit. Diese mögen als prototypische Situationen, in denen mit einer Äußerung eine Handlung vollzogen wird, durchaus sinnfällig erscheinen; sie können aber nicht den Anspruch erheben, repräsentativ zu sein. Diese Tatsache haben spätere Autoren der SAT (Searle u.a.) kritisiert und verbessert. Was bei Austins conditions besonders auffallt, ist die Vorstellung, bei einer solchen Handlung müssten alle Beteiligten bestimmte Gefühle, Gedanken oder Intentionen haben und sich in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten, damit ein bestimmter Sprechakt zustande kommt. Aus dieser konventionalistischen Sicht könnte nur das ein Sprechakt sein, was in einem allen Beteiligten gleichermaßen bekannten Procedere festgelegt ist. Sprecher und Hörer sind dabei kaum unterscheidbar: sie spielen lediglich zwei verschiedene Rollen im selben Procedere. Alles für Produktion und Rezeption notwendige Wissen ist für alle Beteiligten gleichermaßen zugänglich aufgrund ihrer Kenntnis des Procedere. Misslingen kann ein Sprechakt nur, wenn das Procedere nicht richtig angewandt wird oder eben die (innere) Einstellung nicht mit dem Procedere übereinstimmt. Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher Interpretationen oder unterschiedlichen Wissens sind in diesem Kommunikationsmodell nicht vorgesehen. Austins diesbezügliche Idealisierungen lassen auch keinen Platz für Alltagskommunikation, die oft sehr spontan erfolgt: Nur Sprechakte, für die ein allgemein akzeptiertes Procedere vorliegt, können gelingen. Explicit performatives: Austins Standardbeispiele für typische performative Äußerungen enthalten meistens Ausdrücke wie ‘ich wette", ‘ich verspreche", ‘ich befehle", usw., die den vollzogenen Akt benennen. Austin nennt diese Äußerungen, die solche Ausdrücke enthalten, explizit performative Äußerungen. Im Unterschied dazu nennt er Äußerungen, die keine Bezeichnung für den vollzogenen Akt enthalten, wie z.B. „Fünf gewinnt“, „Ich werde morgen kommen“, „Geh nach Hause“, usw., implizit performative Äußerungen. Bei <?page no="58"?> 58 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt einer implizit performativen Äußerungen ist bei Betrachtung der isolierten Äußerung oft nicht klar, ob diese nur einen Sachverhalt beschreibt, oder ob sie eine Handlung vollzieht. Die Umstände (circumstances) der Äußerung können Anhaltspunkte dafür enthalten, dass diese performativ ist. Sind keine eindeutigen Anhaltspunkte vorhanden, kann die Äußerung sowohl performativ als auch konstativ sein. Die Funktion einer implizit performativen Äußerung ist somit im Gegensatz zur explizit performativen nicht determiniert. Implicit performatives: Für die vorliegende Arbeit ist Austins Definition der Implizitheit von Bedeutung: Wird ein Sprechakt mittels einer Äußerung vollzogen, die keine lexikalische Kennzeichnung der damit vollzogenen Handlung durch ein explizit performatives Verb enthält, nennt Austin diese primary performative im Sinne von implicit performative (S. 69). Diese Auffassung von Implizitheit entspricht ziemlich genau unserer Arbeitsdefinition von Implizitheit in Kapitel 1.1 und zeigt, wie eng der zentrale Begriff der SAT (die Performativität) mit dem Problem der Implizitheit verbunden ist. Weiter ist ersichtlich, dass die Fragestellung dieses Kapitels (F3) wohl auch Austin beschäftigt hat: Wegen des Problems der Implizitheit konnte er kein eindeutiges Kriterium der Performativität finden und hatte zusätzlich das Problem, wie implizit performative auf explizit performative Äußerungen zurückführbar sind. Austin behilft sich damit, die expliziten performativen Äußerungen lediglich als Spezialfall der impliziten zu betrachten. Wie bereits erwähnt, bezeichnet er die impliziten Äußerungen als primär und begründet das mit seiner Auffassung der Entwicklung der Sprache von einem primitiven zu einem elaborierten Zustand: Language as such and in its primitive stages is not precise, and it is also not, in our sense, explicit: precision in language makes it clearer what is being said its meaning-, explicitness, in our sense, makes clearer the force of the utterances, or how [...] it is to be taken. (Austin 1962, S. 73; Hervorhebungen im Original) Kritik der ‘implicit performativesAustin beschränkt seine Analyse von Implizitheit auf die Frage der Performativität. Diese ist aber das Entscheidungskriterium dafür, ob eine Äußerung eine Handlung vollziehen kann und somit die zentrale Frage der SAT. Austins Analyse von Implizitheit ist u.E. eine Schlüsselstelle in seinem Werk, die auch Auswirkungen auf seine Unterscheidung von 'konstativ’ und ‘performativ’ und somit auf seine ganze Sprechakt-Konzeption hat. Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist besonders die funktionale Offenheit von implizit performativen Äußerungen interessant: Ob eine solche Äußerung konstativ oder performativ verwendet wird, ist nicht an ihrer (lexikalischen) Form zu erkennen, sondern kann oft nur anhand der Umstände, unter denen sie geäußert wurde, bestimmt werden. Dies ist ein klarer Hinweis auf die Situiertheit von impliziten sprachlichen Äußerungen: Zur Interpretation einer impliziten sprachlichen Äußerung ist in <?page no="59"?> fVas ist "sprachliche Implizitheif in der SAT? 59 besonderem Maße die Kenntnis der Begleitumstände notwendig, um die Äußerung richtig einschätzen zu können. Austin verwendet ferner ebenfalls das Kriterium der Lexikalisierung von Bedeutung zur Bestimmung von ‘Explizitheit’ und konzipiert ‘implizit’ komplementär zu ‘explizit’. Situation: Gemäß Austins Analyse der möglichen Fehlschläge von Äußerungen (infelicities) genügt es nicht, nur die Propositionen zu betrachten; die Äußerungssituation muss gleichfalls berücksichtigt werden: We must consider the total situation in which the utterance is issued the total speech act if we are to see the parallel between statements and performative utterances, and how each can go wrong, (ebd., S. 52) Unter situation versteht Austin aber nicht die jeweils konkrete Situation, in der ein Satz geäußert wird, sondern offensichtlich die logischen Abhängigkeiten zwischen den Äußerungen. Diese logischen Abhängigkeiten gelten aber nicht nur für konstative, sondern auch für performative Äußerungen, was die Notwendigkeit ihrer Unterscheidung relativiert: So the total speech-act in the total speech-situation is emerging from logic piecemeal as important in special cases: and thus we are assimilating the supposed constative utterance to the performative, (ebd.) Das, was wir heute unter ‘Situation’ verstehen, bezeichnet Austin als die Umstände {circumstances) einer Äußerung. Diese betrachtet er als wichtigen Bestandteil des Sprechakts. Die Diskussion der ‘felicity conditions’ zeigt deutlich, dass ein Sprechakt nur gelingen kann, wenn den ‘Umständen’ der Äußerung Rechnung getragen wird. Explicit performative verbs: Austin ist weiter der Ansicht, dass jede implizit performative Äußerung in eine explizit performative überführt werden kann, indem diese in einen Matrixsatz eingebettet wird, der aus einem explizit performativen Ausdruck besteht: Aus der Äußerung „A“ wird bspw. die Äußerung „Ich behaupte, dass A“. Das Verb, das den jeweiligen Sprechakt explizit macht, nennt Austin explicit performative verb. Zu Beginn seiner Vorlesung hat Austin die Verwendung eines explizit performativen Verbs als ein Kriterium von Performativität betrachtet. Mit der Unterscheidung von explizit/ implizit performativen Äußerungen ist dies nicht mehr möglich: 1. kommen implizit performative Äußerungen ohne explizit performatives Verb aus und sind trotzdem performativ; 2. ist mit der Einführung der Unterscheidung die Verwendung eines explizit performativen Verbs als Kriterium der Explizitheit hinfällig. Den explizit performativen Verben ordnet Austin nun die Funktion zu, die jeweilige Art von Performativität anzuzeigen: Wenn jede implizit performative Äußerung auf eine entsprechende explizit performative zurückgeführt werden kann, genügt es, die explizit performativen Äußerun- <?page no="60"?> 60 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt gen zu klassifizieren, um eine Klassifizierung aller möglichen Sprechakte zu erreichen. Als Klassifikationskriterium verwendet Austin das jeweilige explizit performative Verb und ordnet diesem eine Bezeichnung zu, die die damit vollzogene Sprechhandlung charakterisiert. Locution, illocution, perlocution: Nachdem es Austin nicht gelingen wollte, klare Kriterien der Performativität zu finden und er somit die Unterscheidung ‘konstativ7‘performativ’ nicht eindeutig definieren konnte, wandte er sich erneut seiner Ausgangsfrage zu: Was heißt es, dass etwas ‘sagen’, etwas ‘tun’ bedeuten kann? Er unterscheidet drei verschiedene Arten der Verwendung von Sprache, um etwas zu tun: (1) den lokutionären, (2) den illokutionären und (3) den perlokutionären Akt. (1) Der lokutionäre Akt umfasst die Verwendung bestimmter Worte mit einem bestimmten Sinn und einer bestimmten Bedeutung, etwa der Intonation eines Satzes wie „das kannst du nicht tun“ vergleichbar. (2) Mit einem lokutionären Akt vollziehen wir immer auch einen illokutionären Akt. Solche Akte sind z.B.: eine Frage stellen oder beantworten, eine Information, Versicherung oder Warnung geben, ein Urteil oder eine Absicht verkünden, eine Verabredung treffen, etwas beschreiben, etc. Die Illokution zum Beispiel in (1) ist: „Er protestierte gegen mein Tun“. (3) Der perlokutionäre Akt bezieht sich auf die Konsequenzen einer Äußerung, auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen von Sprecher und/ oder Hörer. Das Gesagte kann dabei mit dem Ziel, mit der Intention oder zum Zweck der Hervorbringung dieser Konsequenzen geäußert werden. Die Perlokution zum Beispiel in (1) wäre entweder (a) „Er hielt mich zurück“ oder (b) „Er störte mich“. Die Unterscheidung der verschiedenen sprachlichen Akte erlaubte es Austin, sich auch ohne Rückgriff auf die Unterscheidung von ‘konstativ’ und ‘performativ’ von der logischen Semantik abzusetzen: Die ‘descriptive fallacy’ bestand darin, alle Probleme als Probleme des „locutionary usage“ (S. 100) zu betrachten. Austin betont dagegen, dass Umstände der Äußerung eines Satzes sehr wichtig sind, und dass der Kontext eine wichtige Rolle spielt: [...] for some years we have been realizing more and more clearly that the occasion of an utterance matters seriously, and that the words used are to some extent to be ‘explained’ by the ‘context’ in which they are designed to be or have actually been spoken in a linguistic interchange, (ebd., Anführungszeichen im Original) <?page no="61"?> IVas ist ‘sprachliche Implizitheif in der SAT? 61 Meaning and force: Die drei von Austin unterschiedenen Akte bezeichnen drei verschiedene Arten, Sprache zu verwenden, um etwas zu tun. Die den drei Akten korrespondierenden sprachlichen Einheiten (Lokution, Illokution und Perlokution) realisieren jeweils eine eigene Art von ‘Bedeutung’. Wie bereits erwähnt, schreibt Austin der Lokution ‘Bedeutung’ im herkömmlichen Sinne zu und expliziert diese als aus jenen zwei Komponenten bestehend, die Frege als Sinn und Bedeutung eingeführt und die Russell als sense und reference in die angelsächsische Philosophie übernommen hat. Austin bezeichnet die Bedeutung einer Lokution als meaning und unterscheidet davon jene andere Art von Bedeutung, die einer Illokution zukommt, als Kraft (force). Die Kraft ist diejenige Art von Bedeutung oder Funktion einer Äußerung, die über die reine Satzbedeutung hinausgeht. Bestimmten Worten oder einer Lokution kommt bspw. die Kraft einer Frage zu, wenn sie anzeigt, dass die Äußerung als Frage zu verstehen ist. Das, was Austin als ‘force’ bezeichnet, ist dabei dem sehr ähnlich, was Frege ‘Kraft’ nennt (vgl. Kap. 3.2). Es fällt auf, dass Austin die Bezeichnung ‘force’ in seiner Vorlesung immer wieder verwendet, ohne sie aber je zu definieren. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass er ‘force’ als vorwissenschaftliche Bezeichnung aus der Umgangssprache versteht, oder aber als allseits bekannten Terminus. Da der Terminus ‘force’ für Austins Ansatz von ähnlicher Bedeutung ist, wie die Termini ‘performativ’ und ‘Illokution’, halte ich es für unwahrscheinlich, dass Austin nicht einmal den Versuch unternimmt, ihn zu definieren; es sei denn, er hält ihn für bereits hinreichend bestimmt. In diesem Falle wäre die von Hermanns (1985) angeregte Debatte, ob ‘Kraft’ die richtige Übersetzung von ‘force’ sei (vgl. hierzu auch die Stellungnahme in Burkhardt 1987, S. 195 unten), allerdings überflüssig: Entweder war ‘force’ umgangssprachlich determiniert, oder es handelte sich um eine direkte Übersetzung des Fregeschen Terminus ‘Kraft’. Illocutionary force: Austin bezeichnet seine „Lehre von den verschiedenen Typen von Funktionen von Sprache“ als the doctrine of ‘ illocutionaryforces' (S. 100). Er geht davon aus, dass es verschiedene Arten des Gebrauchs von Sprache {uses of language) gibt. In der logischen Semantik sind lediglich diejenigen Arten untersucht worden, die mit dem lokutionären Akt Zusammenhängen: die Verwendungsmöglichkeiten von Worten und Sätzen aufgrund ihrer Syntax und Semantik. Beim Äußern eines Satzes vollziehen wir aber neben dem lokutionären Akt auch einen illokutionären Akt, dem ebenfalls eine Art von Bedeutung zukommt die illocutionary force. Die illokutionäre Kraft einer Äußerung ist dabei deren Funktion in einer bestimmten Situation, unter bestimmten Voraussetzungen und bei einer bestimmten Sprecher-Hörer-Konstellation. Das Äußern eines Satzes (etwas sagen) umfasst somit zwei Arten, Sprache zu gebrauchen (etwas tun): die ‘Bedeutung’ {meaning) der Lokution und die ‘Kraft’ force) der Illokution. Für die zentrale Fragestellung dieses Kapitels (F3) bietet diese Erkenntnis Austins einen ers- <?page no="62"?> 62 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt ten Lösungsansatz: Durch die Äußerung eines konkreten Satzes in einer konkreten Äußerungssituation tritt zur (lexikalisierten) Bedeutung des Satzes (und seiner Teile) eine weitere (nichtlexikalisierte) Art von Bedeutung hinzu: die illokutionäre Kraft. Statements andfacts: Betrachtete Austin zu Beginn Aussagen als paradigmatische Fälle von konstativen Äußerungen, so gesteht er nach der Erweiterung seiner Theorie zu, dass Aussagen nicht nur wahr oder falsch sein können, sondern denselben ‘infelicities’ unterliegen wie performative Äußerungen - Aussagen sind somit auch performativ: Once we realize that what we have to study is not the sentence but the issuing of an utterance in a speech-situation, there can hardly be any longer a possibility of not seeing that stating is performing an act. (S. 139) Austin geht noch einen Schritt weiter und stellt die Begriffe ‘wahr’ und ‘falsch’ selbst in Frage. Er kritisiert, dass Wahrheit und Falschheit einer Aussage traditionellerweise dadurch bestimmt wird, ob diese mit den Fakten korrespondiert oder nicht. Im richtigen Leben ist es im Gegensatz zu den Minimalkontexten der Logik nicht immer einfach zu sagen, ob eine Äußerung wahr oder falsch ist. Austin greift so die Wahrheitsauffassung der logischen Semantik an und bringt als Argument gegen sie vor, dass Aussagen immer selektiv sind und zu einem bestimmten Zweck mit einer bestimmten Intention geäußert werden. Die Wahrheit einer Aussage ist dann aber nicht allgemein gültig, sondern dadurch beeinträchtigt, welche Aspekte sie auslässt, welche sie hervorhebt, etc. ‘Wahrheit’ und ‘Falschheit’ stehen dann aber nicht mehr für etwas Einfaches, sondern für eine ganze Dimension von Richtigkeit oder Falschheit unter bestimmten Bedingungen, für bestimmte Hörer, für einen bestimmten Zweck und eine bestimmte Intention. Die Bedeutung der einzelnen Worte der Äußerung determiniert deren Wahrheit nicht mehr allein, wie es Frege in seinem Kompositionsprinzip formulierte. Konsequenzen: Austins Entscheidung, seine Theorie mit Hilfe der ‘illokutionären Kraft’ abstrakter zu fassen, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die ursprüngliche Unterscheidung ‘konstativ’ vs. ‘performativ’. Austin gibt die ursprüngliche Begrifflichkeit aber nicht auf, sondern integriert sie in die neue: Konstativ abstrahiert von den illokutionären Aspekten des Sprechakts und konzentriert sich auf den lokutionären. Dabei wird das übervereinfachte Konzept der Korrespondenz einer Äußerung mit den Fakten zugrunde gelegt. Performativ kümmert sich um die illokutionäre Kraft einer Äußerung und abstrahiert dabei von deren Korrespondenz mit Fakten. ‘Konstativ’ und ‘performativ’ sind damit nicht mehr zwei Pole, sondern lediglich zwei abstrahierende Aspekte einer Äußerung. Dasselbe gilt aber auch für den ‘lokutionären’ und den ‘illokutionären Akt’. Beide stellen lediglich eine Abstraktion dar. <?page no="63"?> Was ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 63 denn jeder Sprechakt enthält beides: einen lokutionären und einen illokutionären Akt. Das Verhältnis der beiden Abstraktionspaare bestimmt Austin dabei so, dass sich konstativ/ performativ zu lokutionär/ illokutionär verhält, wie eine spezielle Theorie zur umfassenden allgemeineren Theorie. Dadurch, dass Austin seine Theorie verallgemeinern möchte, schwindet sein Interesse an einer Liste explizit performativer Verben zugunsten einer Liste illokutionärer Kräfte einer Äußerung. Die Unterscheidung primär vs. explizit behält ihre Gültigkeit, da die für die explizit performativen Verben vorgeschlagenen Tests sogar besser zur Erkennung von Verben geeignet sind, die die illokutionäre Kraft einer Äußerung explizit machen, resp. um was für einen illokutionären Akt es sich handelt. Was die Generalisierung nicht überlebt, ist die Konzeption der Reinheit (purity) der performativen Äußerung. Diese basierte auf der Dichotomie von performativen und konstativen Äußerungen, die aufgegeben werden muss zugunsten von allgemeineren Familien (families) von miteinander verbundenen und sich überlappenden Sprechakten. Diese klassifiziert Austin grob in 5 Klassen: (1) Verdiktive, (2) Exercitive, (3) Kommissive, (4) Behabitive, (5) Expositive. To sum up, we may say that the verdictive is an exercise ofjudgement, the exercitive is an assertion of influence or exercising of power, the commissive is an assuming of an obligation or declaring of an intention, the behabitive is the adopting of an attitude, and the expositive is the clarifying of reasons, arguments, and communications. (S. 163) Fazit: Bezüglich der Fragestellung dieses Kapitels (F3) lässt sich Austins Sprechaktkonzeption in folgenden fünf Punkten zusammenfassen: 1. Austin konzipierte die SAT als eine Art illokutionäre Erweiterung der von ihm zwar kritisierten, aber trotzdem zugrunde gelegten logischen Semantik. 2. Austins Analyseeinheit ist in Abhebung von der logischen Semantik nicht der geäußerte Satz, sondern „the total speech-act in the total speech-situation“ (ebd., S. 148) 3. Obwohl Austin zusätzlich zur propositionalen Satzbedeutung eine illokutive Bedeutung einführt, bleiben beide nicht unverbunden: Die illokutive Kraft einer Äußerung wird maßgeblich durch das performative Verb des geäußerten Satzes bestimmt. <?page no="64"?> 64 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 4. Austins ‘illokutive Bedeutung’ ist in der explizit illokutiven Äußerung am explizit illokutiven Verb erkennbar und durch dieses hinreichend bestimmt. Die implizit illokutive Äußerung kann auf die explizit illokutive zurückgeführt werden, resp. fallt in die durch das korrespondierende performative Verb bezeichnete Kategorie und ist dadurch ebenfalls bestimmt. 5. ‘Implizitheit’ bedeutet bei Austin, dass die pragmatische Funktion (die illokutionäre Kraft) einer Äußerung nicht lexikalisiert ist, sondern durch Interpretation erschlossen werden muss. Implizitheit ist für Austin der (primäre) Normalfall; Explizitheit die Ausnahme. Kritik an Austins Konzeption: Austin (1962) prägte die Grundbegriffe der Sprechakttheorie, auf die alle späteren Autoren Bezug nahmen. Die meisten kritischen Würdigungen fand Austins Unterscheidung von ‘konstativ’ und ‘performativ’. Sie ist Austins wohl bedeutendster Beitrag zur Genese der Sprechaktidee; ermöglichte sie es doch, die Aufmerksamkeit von der Proposition von Sätzen auf die pragmatische Funktion von Äußerungen zu verlagern. Aus den zahlreichen Würdigungen und Kritiken dieser Unterscheidung sollen lediglich zwei herausgegriffen und durch eine eigene ergänzt werden. Warnock (1973) führt gegen die Unterscheidung von ‘konstativ’ und ‘performativ’ zwei Argumente an. Erstens sind in gewissem Sinne alle Äußerungen performativ: [...] whenever anyone speaks there are things many things of many sorts that he could be said to therein to do [...]. (ebd., S. 87) Daraus, dass alle Äußerungen in einem bestimmten Sinn performativ sind, folgert Warnock aber nicht, dass es keine Subklasse von Äußerungen gibt, die ‘performativ’ in einem engeren Sinne genannt werden können. Sein zweites Argument ist vielmehr, dass es nicht nur eine, sondern zwei solcher Klassen gibt: 1. Diejenigen Äußerungen, die per Konvention Akte sind, weil sie bestimmte vorgeschriebene Worte enthalten und 2. diejenigen Äußerungen, die aufgrund ihrer grammatikalischen Form (1. Person Präsens Indikativ Aktiv eines nach Austin explizit performativen Verbs) performativ sind. In Äußerungen der zweiten Art sagt der Sprecher, dass er etwas ‘tut’ und tut damit genau das, von dem er sagt, dass er es ‘tut’. Es gibt ferner einige Spezialfalle, die beiden Subklassen angehören, wie z.B. „Ich entschuldige mich“. Warnocks Argument gegen Austin ist, dass dieser (1) Äußerungen aus beiden Subklassen ohne Unterscheidung verwendete und (2) beim Übergang der Verwendung der Bezeichnung ‘performativ’ für Spezialfälle zur Verwendung für alle Äußerungen den Eindruck erweckte, als wäre die erste Verwendung <?page no="65"?> IVas ist 'sprachliche Implizitheit’ in der SAT? 65 illusorisch und unhaltbar. Wamock zieht aus seiner Kritik die Folgerung, dass es einer neuen Terminologie bedürfe, die ‘performativ’ ersetzt; schlägt selbst aber keine neue Bezeichnung vor. Falkenberg (1989a) ist wie Warnock der Ansicht, dass Austin mehrere verschiedene Phänomene unter den Begriff ‘performativ’ subsumiert hat. Falkenberg kritisiert, dass Austin der Begriff ‘performativ’ bei der Verallgemeinerung zu umfassend geriet, so dass er synonym mit illokutionär wurde. Austin leitete auch seine fünf Illokutionsklassen von einer Klassifizierung entsprechender Verben ab. Falkenberg kritisiert Austins unmittelbare Ableitung des Illokutionstyps einer Äußerung aus dem Illokutionspotential des geäußerten Satzes. Er betrachtet die performativen Verben lediglich als Indikatoren der Illokution (ebd., S. 27) und schlägt eine schärfere Unterscheidung von Satz und Äußerung vor: Nur diejenigen Aspekte, die die Äußerung betreffen, sollen illokutionär genannt werden; diejenigen Aspekte, „die im syntaktisch-lexikalischen System grammatikalisiert sind“ (ebd., S. 23) sollen hingegen illokutiv genannt werden. Falkenberg plädiert weiter dafür, den Begriff ‘performativ’ auf die explizit performativen Formeln zu beschränken. Die implizit (primär) performativen Äußerungen sollten nicht mit demselben Begriff belegt werden, da es sich um „zwei logisch und empirisch voneinander unabhängige Phänomene“ (ebd., S. 25) handelt. Eigene Kritik: Ein dritter Ansatz von Kritik an Austins Verallgemeinerung des Begriffs ‘performativ’ mein eigener lässt sich wie folgt formulieren: Aus der Perspektive der Einbindung einer Äußerung in die konkrete Äußerungssituation bleibt fraglich, ob der Übergang von der konstativen Äußerung zur explizit performativen Äußerung so problemlos vollzogen werden kann, wie Austin das darstellt. Austin scheint in seiner Argumentation bedenkenlos die konstative Äußerung „A“ mit der performativen Äußerung „Ich behaupte, dass A“ gleichzusetzen. In einer konkreten Äußerungssituation können aber eine bestimmte konstative Äußerung und eine korrespondierende explizit performative Äußerung ganz unterschiedlich wirken. Es macht z.B. einen großen Unterschied, ob ein Sprecher (a) oder (b) äußert: (a) Ich werde um 12 Uhr zurück sein. (b) Ich gelobe, ich werde um 12 Uhr zurück sein. In einer offiziellen Situation wie etwa im Gerichtssaal mag (b) eine angemessene Äußerung sein. In einer Alltagssituation dagegen ist (b) völlig unangebracht und läuft, da sie einem offiziellen Sprachregister zugeordnet wird, Gefahr, als Ironie interpretiert zu werden. Von der pragmatischen Wirkung sind somit (a) und (b) nicht äquivalent, obwohl Austin (b) als die explizit <?page no="66"?> 66 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt performative Variante von (a) betrachten würde. Hier zeigt sich u.E., wie sehr sich Austin an der logischen Semantik orientierte: (a) und (b) sind zwar logisch äquivalent, nicht aber pragmatisch. descriptive fallacy Beschränkung der Analyse auf Aussagen wird aufgehoben Sprachliches Handeln wird analysierbar constative / performative Unterscheidung von berichten (to report) und anzeigen (to indicate) Das Äußern eines Satzes kann (zumindest teilweise) das Vollziehen einer Handlung bedeuten conditions for happy performatives (felicity conditions) Eine Äußerung ist nicht nur wahr oder falsch, sondern kann auch gelingen oder missglücken Der situationale Kontext ist eine wichtige Bedingung für das Gelingen eines Sprechakts explicit / implicit performatives Der implizite Sprechakt ist primär; der explizite Sprechakt ist der lexikalisch markierte Spezialfall Analyse der Implizitheit ist die wichtigste Grundlage der SAT; Unterscheidung constative / performative wird aufgeweicht explicit performative verb Eine explizit performative Äußerung wird durch das Verb des Matrixsatzes bestimmt Klassifikation der Sprechakte wird anhand der explizit performativen Verben vorgenommen locution / illocution / perlocution Unterscheidung der beim Sprechen vollzogenen Akte Verschiedene Arten von Wissen als Bedingung für die Produktion / Rezeption eines Sprechakts meaning / force Unterscheidung von Satz- (meaning) und Außerungsbedeutung (force) Satzbedeutung determiniert (zumindest teilweise) die Äußerungsbedeutung illocutionary force Bestimmen des Sprechakt-Typs Semantik determiniert Sprechakt- IlE circumstances Berücksichtigung des nonverbalen Kontextes Äußerungsumstände sind wichtiger Bestandteil des Sprechakts Tab. 3: Austins Terminologie 3.4 John Rogers Searle Für die Fragestellung dieses Kapitels sind von Searles Werken drei von besonderem Interesse: Sein aus seiner Dissertation entstandenes Buch „Speech acts“ (1969), resp. dessen deutsche Übersetzung (1971/ 79), sein Aufsatz „Indirect speech acts“ (1975b) sowie sein Aufsatz „The background of knowledge“ (1980). <?page no="67"?> fVas ist 'sprachliche Implizitheif in der SAT? 67 3.4.1 Speech acts (1969; 1971 / 79) In „Speech acts“ formuliert Searle seine Sprechakttheorie. Er teilt darin die Sprechakte in „vier Arten von Akten“ (Searle 1971/ 79, S. 40) („four kinds of speech acts“) ein und meint damit vier verschiedene Analyseebenen. Von Austins Aufteilung in Analyseebenen übernimmt er den illokutionären und den perlokutionären Akt. Den austinschen lokutionären Akt unterteilt er in einen Äußerungsakt und in einen propositionalen Akt (vgl. ebd., S. 40). Der Äußerungsakt umfasst das Äußern von aneinander gereihten Wörtern; der propositionale Akt beinhaltet das sinnvolle Zusammenwirken der Wörter in der Satzbedeutung. Den propositionalen Akt unterteilt Searle in den Referenzakt und den Prädikationsakt. Der Referenzakt steht für die Bezugnahme auf Personen und Dinge, der Prädikationsakt für das Realisieren einer Aussage über diese. Searle bringt damit Freges semantisches Kompositionsprinzip in die Sprechakttheorie ein und zitiert die Ausführungen über das Verhältnis von Wort- und Satzbedeutung in Frege (1884/ 1986): „Nur im Zusammenhang eines Satzes bedeuten die Wörter etwas“ (zitiert in Searle 1971/ 79, S. 43). Das Verhältnis von Semantik und Pragmatik: Die Tatsache, dass semantische Regeln darüber bestimmen, welche Art eines Sprechakts vorliegt, wirft die Frage nach dem Verhältnis von Semantik und Pragmatik auf. Searles Einführung eines eigenen propositionalen Aktes deutet bereits auf eine im Vergleich zu Austin stärkere Gewichtung der Semantik, insbesondere der Satzsemantik, hin. Die Einführung des Fregeschen Kompositionsprinzips in seine Sprechakttheorie erlaubt Searle eine enge Anbindung pragmatischer an syntaktisch/ semantische Einheiten: Propositionale und illokutionäre Akte sind eng mit bestimmten Arten von Ausdrücken verbunden, die bei ihrem Vollzug geäußert werden. Die charakteristische grammatische Form des illokutionären Aktes ist der vollständige Satz [...]; die charakteristische grammatische Form des propositionalen Aktes bilden Teile von Sätzen [...]. (Searle 1971/ 79, S. 42) Die Formulierung „charakteristische grammatische Form“ weist darauf hin, dass Searle nicht bei einer Parallelisierung von pragmatischen und syntaktisch/ semantischen Einheiten stehen bleibt, sondern weiter die Ableitung der Pragmatik aus der Semantik anstrebt: „Der Sprechakt oder die Sprechakte, die mit der Äußerung eines Satzes vollzogen werden, bilden allgemein eine Funktion der Bedeutung des Satzes“ (ebd. S. 32). In Abhängigkeit von der Interpretation des Terminus ‘Funktion’ ergibt sich aus dieser Einschätzung Searles eine mehr oder minder starke Determinierung der Pragmatik durch die Semantik. Searle relativiert dies lediglich dahingehend, dass ein Sprecher bestimmte Inhalte auch implizit äußern kann: <?page no="68"?> 68 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Es ist nicht immer die Bedeutung eines Satzes allein, die bestimmt, welcher Sprechakt mit einer bestimmten Äußerung dieses Satzes vollzogen wird, denn ein Sprecher kann mehr meinen, als er wirklich sagt. (Searle 1971/ 79, S. 32) Abgesehen von diesem Spezialfall, dass der Sprecher sich nicht explizit genug ausdrückt, gibt es aber keinen Grund, wieso ein Sprechakt nicht anhand des geäußerten Satzes identifizierbar sein sollte: Deshalb ist im Prinzip jeder Sprechakt, den man vollzieht oder vollziehen könnte, durch einen gegebenen Satz (oder durch eine gegebene Reihe von Sätzen) eindeutig bestimmbar, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, daß der Sprecher aufrichtig spricht und daß der Zusammenhang passend ist. (Searle 1971/ 79, S. 32f.) Die von Searle genannten Voraussetzungen erinnern stark an Austins Gelingensbedingungen. Die Eindeutigkeit, mit der ein Sprechakt durch einen Satz bestimmt wird, findet sich bei Austin aber nur für die explizit performativen Verben. Wo Austin keine eindeutigen sprachlichen Merkmale zur Bestimmung der Performativität finden konnte, steht bei Searle eine prinzipielle Determinierung des Sprechakts durch den Satz. Searle ist ferner der Ansicht, dass es sich bei der Untersuchung der Bedeutung von Sätzen und derjenigen von Sprechakten „nicht um zwei voneinander unabhängige Untersuchungen, sondern um eine Untersuchung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten“ (ebd., S. 33) handelt. Searle meint dabei nicht zwei beliebige Gesichtspunkte, die kontingenterweise gemeinsam betrachtet werden. Seiner Meinung nach, „sind beide Fragen notwendig aufeinander bezogen“ (ebd., S. 34). Illocutionary force: Als Bindeglied zwischen Syntax und Semantik einerseits und Pragmatik andererseits führt Searle die illokutionäre Rolle (illocutionary force) ein. Diese zeigt an, „welchen illokutionären Akt der Sprecher vollzieht, indem er den Satz äußert“ (ebd., S. 49). Die illokutionäre Rolle kann von bestimmten syntaktisch/ semantischen Merkmalen angezeigt werden. So kann die Art des vollzogenen illokutionären Aktes bspw. mit Hilfe eines einleitenden performativen Verbs explizit gemacht werden: ‘Ich entschuldige’, ‘Ich warne’, ‘Ich behaupte’, usw. Dem performativen Verb kommt dabei die Rolle eines expliziten Indikators der illokutionären Rolle zu. Searle betont, dass in konkreten Äußerungssituationen in der Regel aus dem Zusammenhang hervorgeht, welche illokutionäre Rolle einer Äußerung zukommt. Das würde bedeuten, dass auf die Verwendung eines expliziten Indikators verzichtet werden kann, weil bereits mindestens ein impliziter Indikator vorhanden ist. Searle betont dabei, dass ein Satz nicht nur einen einzigen Indikator der illokutionären Rolle enthalten kann: Im Gegenteil, ich glaube, daß es in den natürlichen Sprachen eine Vielfalt von Mitteln gibt, von denen einige syntaktisch ziemlich kompliziert sind, die als Indikatoren der illokutionären Rolle dienen, (ebd., S. 51) <?page no="69"?> Was ist 'sprachliche Implizitheif in der SAT? 69 Proposition und illokutionäre Rolle: Trotz der Relativierung, dass nicht nur ein einziger Indikator die illokutionäre Rolle bestimmen kann, bleibt eine Determinierung der Äußerungsbedeutung durch die Satzbedeutung bestehen. Der Indikator der illokutionären Rolle {illocutionary force indicator) hängt nämlich eng mit der Proposition des Satzes zusammen. Searle betont zwar, dass der Indikator der illokutionären Rolle von dem propositionalen Indikator unterschieden werden müsse. Zugleich definiert er aber: „Der Indikator der illokutionären Rolle zeigt an, wie die Proposition aufzufassen ist [...]“ (ebd., S. 49). Damit ist die illokutionäre Rolle in mindestens vierfacher Hinsicht vom hervorbringenden Satz abhängig: 1. muss die syntaktisch/ semantische Struktur des Satzes einen expliziten oder impliziten Indikator der illokutionären Rolle enthalten, 2. muss ein Hörer die Proposition des Satzes (richtig) erfasst haben, bevor er dessen illokutionäre Rolle erfassen kann, 3. muss die Proposition die Möglichkeit enthalten, verschieden aufgefasst zu werden und 4. besteht die illokutionäre Rolle lediglich in einer bestimmten Auffassung der Proposition. Dies bedeutet, dass die Illokution einer Äußerung in mehrfacher Hinsicht von der Proposition des geäußerten Satzes abhängig und somit durch diese determiniert ist. Semantic rules: Searle fasst, wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 2.1), Sprechen als regelgeleitetes Verhalten auf. Seinem Ansatz liegt die Hypothese zugrunde, „daß eine Sprache sprechen bedeutet, Sprechakte auszuführen [...], und daß die Möglichkeit dieser Akte allgemein auf bestimmten Regeln für den Gebrauch sprachlicher Elemente beruht und der Vollzug dieser Akte diesen Regeln folgt“ (Searle 1971/ 79, S. 30). Entsprechend will er „einige Regeln angeben, denen wir beim Sprechen folgen“ (ebd., S. 38). Hierzu sucht er nach Bedingungen, die sowohl notwendig als auch hinreichend sind für den Vollzug einer bestimmten Art von Sprechakten. Aus einer solchen Gruppe von Bedingungen will Searle „eine Gruppe von Regeln für die Verwendung der Mittel, die die illokutionäre Rolle anzeigen, gewinnen“ (ebd., S. 85). Er ist sich dabei bewusst, dass es außer für Fachausdrücke in der natürlichen Sprache „keine genauen Regeln“ gibt. Er beschließt daher, „nur einen einfachen und idealisierten Fall“ (ebd., S. 87) zu behandeln. Die Konstruktion idealisierter Modelle rechtfertigt er dabei als notwendiges Verfahren zur Theoriebildung. Dies erinnert daran, dass Searle zwar linguistische Methoden verwendet, dabei aber keine Linguistik im engeren Sinne betreiben will, sondern die Konstruktion einer philosophischen Theorie bezweckt. Entsprechend gesteht er ein, dass seine Untersuchung „eher semantischer als syntaktischer Art ist“ (ebd., S. 88) und dass er „einfach die Existenz grammatisch gut gebildeter Sätze“ voraussetzt (ebd.). Hypothesen über illokutionäre Akte: Searle verallgemeinert die Ergebnisse seiner Untersuchung einiger exemplarischer Sprechakte in der Formulierung <?page no="70"?> 70 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt von allgemeinen Hypothesen über illokutionäre Akte. Eine dieser Hypothesen beinhaltet, dass ein illokutionärer Akt auch ohne die Verwendung eines expliziten Indikators der illokutionären Rolle vollzogen werden kann, „wenn der Kontext und die Äußerung deutlich machen, daß die wesentliche Bedingung erfüllt ist“ (ebd., S. 108). Unter der wesentlichen Bedingung versteht Searle diejenige Bedingung, die die mit dem jeweiligen Akt vollzogene Handlung beschreibt und entsprechend für jeden illokutionären Akt anders ausfällt. Als Beispiel führt Searle die Äußerung „Ich will es für dich tun“ an, die als Versprechen gilt, wenn aus dem Zusammenhang hervorgeht, dass der Sprecher damit eine Verpflichtung anerkennt. Dann ist die wesentliche Bedingung für ein Versprechen erfüllt und eine explizite Einleitung mit „Ich verspreche“ nicht mehr notwendig. Searle nennt hier erstmals eine Alternative zur expliziten Form, die illokutionäre Rolle anzuzeigen. Diese nichtexplizite Form kann aber nur funktionieren, wenn der Kontext die illokutionäre Rolle eindeutig vorgibt. Das Bindeglied zwischen Äußerung und Kontext ist dabei für Searle die wesentliche Bedingung, deren Erfüllung, wenn nicht durch die Äußerung selbst, dann zumindest durch den Kontext eindeutig angezeigt werden muss. Leider bleibt Searle die Antwort auf die Frage, mit welchen Mitteln der Kontext die Erfüllung der wesentlichen Bedingung anzeigen kann, schuldig. Eine weitere Hypothese Searles lautet: „Die nicht-explizite illokutionäre Rolle einer Äußerung kann stets explizit gemacht werden“ (ebd., S. 109). Searle begründet dies mit seinem Prinzip der Ausdrückbarkeit, das im nächsten Paragraphen erläutert wird. Auf die Implizitheit angewandt, bedeutet es, „dass alles, was implizit unterstellt werden kann, auch gesagt werden kann [...]“ (ebd.). Das Explizieren birgt aber die Gefahr eines infiniten Regresses, da es „nicht gesagt werden kann, ohne daß wieder andere Dinge impliziert sind“ (ebd.). Principle of expressibility: Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit besagt, „daß man alles, was man meinen, auch sagen kann“ (ebd., S. 34). Es ist der Versuch, implizite Bedeutung auf explizite zurückzuführen und bildet somit eine wichtige Stütze seiner Argumentation. Searle greift dabei Austins Unterscheidung von ‘explicit’ und ‘implicit performatives’ auf. War für Austin der implizite Fall der primäre und der explizite der Ausnahmefall, so dreht Searle dieses Verhältnis um. Er erhebt die prinzipielle Möglichkeit, jede implizite Äußerung auch explizit zu formulieren, zum Prinzip. Nicht immer ist es aber möglich, sich explizit auszudrücken, „weil der Sprache die Wörter oder sonstigen Mittel fehlen, um in ihr das sagen zu können, was ich meine“ (ebd., S. 35). Mit dieser Formulierung knüpft Searle an das alte Ideal einer logisch vollkommenen Sprache an, das sich bei Leibniz in der Postulierung einer lingua <?page no="71"?> Was ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 71 characteristica äußerte und das Frege beim Entwurf seiner Begriffsschrift anstrebte (vgl. Kap. 3.1). Wie seine Vorgänger ist Searle der Ansicht, dass die natürlichen Sprachen von jenem Ideal ziemlich weit entfernt sind. Aber auch dann, wenn es aktual (in fact) nicht möglich ist, genau zu sagen, was ich meine, glaubt Searle, ist es dennoch „grundsätzlich (in principle) möglich, dahin zu gelangen, daß ich genau sagen kann, was ich meine“ (Searle 1971/ 79, S. 35). Searle denkt dabei an eine Erweiterung der Sprache. Er ist aber nicht an der Untersuchung konkreter Einzelsprachen interessiert, sondern an der prinzipiellen Möglichkeit der sprachlichen Ausdrückbarkeit: [...] bei jeder Grenze, die eine Sprache der Ausdrückbarkeit setzt, bei jeder Unmöglichkeit, einen Gedanken sprachlich auszudrücken, handelt es sich um eine kontingente Tatsache und nicht um eine Notwendigkeit, (ebd.) Mit der Abkoppelung des Prinzips der Ausdrückbarkeit von einer konkreten Einzelsprache geht auch dessen empirische Überprüfbarkeit und damit dessen Relevanz für eine linguistische Analyse verloren. Hatte Austin konkrete Äußerungssituationen mit bestimmten einzelsprachlichen Äußerungen vor Augen, so geht es Searle um eine sprachphilosophische Analyse des Sprechakts als prinzipiellem Mittel der Ausdrückbarkeit von Intentionen. Entsprechend stellt er klar, dass das Prinzip der Ausdrückbarkeit nicht impliziert, „daß es immer möglich ist, einen Ausdruck zu finden oder zu erfinden, der beim Zuhörer alle die Wirkungen hervorruft, die man hervorzurufen beabsichtigt“, noch, „daß alles, was gesagt werden kann, auch von anderen verstanden werden kann“ (ebd.). Beide Aspekte betreffen die Hörerseite der Äußerungssituation. Searles Sprechaktkonzeption ist aber offensichtlich aus der Perspektive des Sprechers konstruiert: Sie ist vorwiegend monologisch und kaum dialogisch konzipiert. Als eine Konsequenz aus dem Prinzip der Ausdrückbarkeit schließt Searle die Analyse von impliziten Äußerungen aus seinen Untersuchungen aus: Er sagt, „daß Fälle, in denen der Sprecher nicht genau sagt, was er meint [...], für die sprachliche Kommunikation theoretisch unwichtig sind“ (ebd., S. 36). Als Beispiele solcher Fälle führt er ‘Vagheit’ und ‘Unvollständigkeif aufzwei wichtige Merkmale sprachlicher Implizitheit. Literal meaning: Bei der Analyse von Searles Sprechakt-Konzeption sind wir bis zu dessen zentralem Punkt, dem Prinzip der Ausdrückbarkeit vorgestoßen. Wie bereits diskutiert, zeigt sich in diesem zentralen Konzept deutlich seine Auffassung von ‘Bedeutung’. Searle macht seine diesbezügliche Auffassung bei der Diskussion des Konzepts der wörtlichen Bedeutung (literal meaning) explizit. Er geht davon aus, dass es eine einfachste Art von ‘Bedeutung’ gibt, bei der ein Sprecher einen Satz äußert und genau und wörtlich das meint, was er sagt. Der Hörer benötigt in diesem Fall zum Verstehen lediglich Kenntnisse über die Regeln, die das Äußern eines Satzes steuern. Diese Auffassung entspricht der Bedeutungsauffassung der logischen Semantik, <?page no="72"?> 72 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt die von verschiedenen Seiten als starke Idealisierung der natürlichen Sprache kritisiert worden ist (vgl. hierzu auch Wagner 1987). Searle erkennt selbst, dass nicht alle Arten von Bedeutung so einfach funktionieren. Als Gegenbeispiele zählt er auf: Andeutungen, Anspielungen, Ironie und Metaphern. In all diesen Fällen bewegen sich die Äußerungsbedeutung und die Satzbedeutung in unterschiedlicher Weise voneinander weg (vgl. Searle 1975b, S. 171). Das wiederum bedeutet, dass für Searle im Idealfall Äußerungsbedeutung und Satzbedeutung zusammenfallen, oder zumindest sehr nahe beieinander liegen. Dann fallen idealerweise die propositionale Rolle und die illokutionäre Rolle zusammen, oder der Satz enthält einen expliziten Indikator der illokutionären Rolle. Beides kann aber nur bei expliziten Äußerungen auftreten. Diese stellen aber, wie bereits erwähnt, in Searles Sicht den Idealfall einer Äußerung dar. Bei impliziten Äußerungen ist es hingegen alles andere als einfach, die Illokution zu bestimmen. Hier greift auch das Prinzip der Ausdrückbarkeit nicht mehr. Schuld daran trägt nicht der Umstand, dass die Illokution mit den Mitteln unserer Sprache nicht ausdrückbar wäre. Vielmehr enthält eine implizite Äußerung per Definition keinerlei explizite Indikatoren, sodass beim Hörer zusätzliches Wissen erforderlich ist, um die Illokution zu erfassen. 3.4.2 Indirect speech acts (1975b) Searle unternimmt zwei Versuche, auch implizite Äußerungen in seine Theorie zu integrieren. Sein Aufsatz „Indirekt speech acts“ (1975b) ist der erste Versuch, „The background of meaning“ (1980) der zweite. Im ersten Versuch diskutiert Searle zwei Fälle von Implizitheit. Der erste Typ von Fällen verhält sich analog zum expliziten Fall, mit der Ausnahme, dass der Sprecher zusätzlich zu dem, was er sagt, noch etwas weiteres meint: One important class of such cases is that in which the speaker utters a sentence, means what he says, but also means something more, (ebd., S. 171) So ist bspw. die Äußerung „Ich möchte, dass du es tust“ nicht nur eine Feststellung, sondern zugleich auch eine Aufforderung. Sie enthält Indikatoren der illokutionären Rolle ‘Feststellung’ und realisiert diese Illokution auch mit Hilfe der Proposition. Zusätzlich realisiert sie aber noch die weitere Illokution ‘Aufforderung’, für welche sie keinerlei Indikatoren enthält. Die zweite Illokution widerspricht der Proposition des Satzes nicht, sondern kann als deren erweiterte Lesart interpretiert werden. Im zweiten von Searle diskutierten Typ von Beispielen enthält die zusätzliche Illokution im Gegensatz zum ersten Typ eine andere Proposition: <?page no="73"?> fVas ist'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 73 There are also cases in which the speaker may utter a sentence and mean what he says and also mean another illocution with a different propositional content, (ebd.) Ein Beispiel hierfür ist die Äußerung „Kannst du mir den Zucker reichen? “, die nicht als Frage, sondern als Aufforderung gemeint ist. Diese Äußerung enthält zwei unterschiedliche illokutionäre Rollen, wobei, nach Ansicht Searles, die eine mit Hilfe der anderen vollzogen wird. Er nennt solche Fälle indirekte Sprechakte und definiert diese wie folgt: The cases we will be discussing are indirect speech acts, cases in which one illocutionary act is performed indirectly by way of performing another, (ebd.) Indirect speech acts: Indirekte Sprechakte bereiten Searle das Problem, wie der Hörer den indirekt formulierten Sprechakt versteht, wenn der Satz, den er hört und versteht, etwas anderes bedeutet. Mit anderen Worten gesagt: Wie kann eine Illokution ohne Indikatoren der entsprechenden illokutionären Rolle realisiert und verstanden werden? Dies entspricht ziemlich genau der Fragestellung dieses Kapitels (F3), wenn auch die von Searle betrachteten Beispiele nur einen speziellen Typ von impliziten Äußerungen abdecken und weit davon entfernt sind, das Phänomen ‘implizite Sprechakte’ als Ganzes zu erfassen. In „Speech acts“ (1969) versuchte Searle das Problem der indirekten Sprechakte mittels verschiedener Zusatzbedingungen für den Vollzug des Sprechakts zu lösen. In „Indirect speech acts“ (1975b) erkennt er, dass diese Lösung unvollständig ist und versucht sie weiterzuentwickeln. Seine Idee ist dabei, dass der Sprecher dem Hörer mehr kommuniziert, als er sagt, indem er sich auf gegenseitig geteilte Hintergrundinformation sowie auf einige kognitive Fähigkeiten des Hörers verlässt: The hypothesis 1 wish to defend is simply this: In indirect speech acts the speaker communicates to the hearer more than he actually says by way of relying on their mutually shared background information, both linguistic and nonlinguistic, together with the general powers of rationality and inference on the part of the hearer, (ebd., S. 172) Zur Erklärung des indirekt realisierten Teils eines Indirekten Sprechakts setzt Searle vier Dinge voraus: eine Theorie der Sprechakte, bestimmte allgemeine Prinzipien der kooperativen Konversation (in Anlehnung an Grice), gegenseitig geteilte faktische Hintergrundinformation und die Fähigkeit des Hörers, Inferenzen abzuleiten. Er betont, dass es nicht notwendig sei, die Existenz von Konversationspostulaten anzunehmen, wenngleich Konventionen in seinem Lösungsansatz eine wichtige Rolle spielen. <?page no="74"?> 74 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Literal utterance: Searle (1975b) führt für die Analyse von indirekten Sprechakten den Begriff der wörtlichen Äußerung (literal utterance) ein. Dies ist derjenige illokutionäre Akt, der aufgrund der wörtlichen Bedeutung des zugrunde liegenden Satzes vollzogen wird, wann immer dieser Satz geäußert wird. Wie bei der wörtlichen Bedeutung handelt es sich bei der ‘wörtlichen Äußerung’ um eine Bedeutung, die vom Kontext und vom Sprecher völlig unabhängig ist. Dann bleibt allerdings unklar, worin ihre Leistung besteht. Wenn die ‘wörtliche Äußerung’ ausschließlich von der ‘wörtlichen Bedeutung’ des Satzes abhängt, aber auch keine weiteren Faktoren berücksichtigt, ist sie mit dieser identisch und bläht lediglich den begrifflichen Apparat auf. Primary illocutionary act: Im Zusammenhang mit der Einführung der ‘wörtlichen Äußerung’ spaltet Searle (1975b) den indirekten Sprechakt in zwei Illokutionen auf: der primäre illokutionäre Akt (primary illocutionary act) umfasst den eigentlichen Zweck der Äußerung (im Beispiel mit dem Zucker ist dies die Aufforderung); der sekundäre illokutionäre Akt (secondary illocutionary act) ist die wörtliche Äußerung im oben diskutierten Sinne (im genannten Beispiel ist dies die Frage). Mit dieser Terminologie versucht Searle die offensichtliche Diskrepanz zwischen der semantischen und der pragmatischen Bedeutung auf der Ebene der Illokutionen zu fassen. Er hat das Problem damit aber weder gelöst noch vereinfacht. Seine Terminologie verwirrt vielmehr dadurch, dass der primäre illokutionäre Akt auf dem sekundären aufbaut: In Searles Sichtweise kann den primären Akt nur erfassen, wer den sekundären verstanden hat. Searle (1975b) führt an einem Beispiel vor, wie er mit Hilfe von zehn Inferenzschritten vom sekundären zum primären illokutionären Akt gelangt. Er betont selbst, dass seine gezogenen Konklusionen wahrscheinlicher und nicht notwendiger Natur sind. Er lässt unerwähnt, dass jemand mit einem anderen Wissenshintergrund zu ganz anderen Konklusionen kommen könnte. Weiter stellt er aber die These auf, dass der bei der Diskussion des Beispiels gewonnene theoretische Apparat ausreicht, um das allgemeine Phänomen der indirekten illokutionären Akte zu erklären. Additional speaker meaning: Searle (1975b) lehnt die These ab, ein indirekter illokutionärer Akt sei ambig oder auch nur „ambig im Kontext 11 (ebd., S. 176). Das würde seines Erachtens zu einer unnötigen Vermehrung von Bedeutungen führen. Das Problem der indirekten Akte sieht er einfach darin, dass man nicht immer aus der Satzbedeutung ableiten kann, was der Sprecher damit meint. Searle hält daran fest, dass solche Sätze, auch wenn sie als Aufforderung geäußert werden, trotzdem ihre wörtliche Bedeutung beibehalten und mit derselben und durch dieselbe geäußert werden (ebd., S. 177). Er wendet sich entschieden gegen die Vorstellung, solche Sätze hätten im Kon- <?page no="75"?> IVas ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 75 text verschiedene Bedeutungen, wenn sie als Aufforderungen geäußert werden. Wer bspw. sagt „Ich möchte, dass du es tust“ meint nach Searle wörtlich, dass er will, dass du es tust. Hinzu kommt aber wie immer bei Indirektheit, dass er nicht nur das meint, was er sagt, sondern auch noch etwas Zusätzliches. Dieses Zusätzliche schreibt Searle weder der Äußerung selbst noch dem Kontext zu, sondern dem Sprecher: What is added in the indirect cases is not any additional or different sentence meaning, but additional speaker meaning, (ebd., S. 177; Hervorhebungen im Original) Searles Einführung einer zusätzlichen ‘Sprecherbedeutung’ macht u.E. zweierlei deutlich: einerseits betrachtet Searle die Äußerungsbedeutung als von Kontext und Sprecher unabhängig, sonst würde er sie nicht so deutlich davon abgrenzen; dies impliziert andererseits, dass er auch die Sprecherbedeutung als vom Kontext unabhängig betrachtet. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich beim primären illokutionären Akt nicht um eine zusätzliche Bedeutung des Sprechers, sondern um eine zusätzliche Intention des Sprechers handelt. Eine Intention ist ausschließlich sprecherbezogen; eine Äußerungsbedeutung hingegen ist kontextabhängig und in unserem Verständnis auch adressatenbezogen. 3.4.3 The background of meaning (1980) In seinem Aufsatz „The background of meaning“ (1980) formuliert Searle seinen zweiten Versuch, implizite Sprechakte in seine Theorie zu integrieren, ohne diese allerdings so zu benennen. Er greift vielmehr einige in seinem Aufsatz „Literal meaning“ (Searle 1978) formulierte Ideen zur Beziehung zwischen der Bedeutung von Sätzen und Wörtern und dem Kontext, in welchem diese geäußert werden, auf. Er wendet sich gegen die Ansicht, dass die Satzbedeutung unabhängig vom Kontext sei und vertritt die These, dass eine Satzbedeutung nur vor dem Hintergrund von zusätzlichen Annahmen (assumptions) und Praktiken (practices), die selbst nicht Teil der Bedeutung sind, zur Anwendung gelangt. Kontextfreie Bedeutung: Searle diskutiert Bedeutungsvarianten eines Lexems anhand des Beispiels ‘schneiden’: ‘Gras schneiden’ bezeichnet eine andere Tätigkeit als ‘einen Kuchen schneiden'. Den semantischen Unterschied zwischen den beiden ‘schneiden’ verwendet er als Argument gegen Freges Kompositionsprinzip (vgl. Kap. 3.2), da dieses angeblich diese BedeutungsVarianten nicht erklären könne. Searle interpretiert das Kompositionsprinzip dabei wie folgt: <?page no="76"?> 76 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt According to the tradition since Frege, the literal meaning of a sentence is entirely determined by the meanings of its parts and their syntactical combinations. (Searle 1980,8.223) Searle leitet daraus ab, dass für Frege und seine Nachfolger die wörtliche Bedeutung eines Satzes immer eine kontextfreie Bedeutung war. Diese Auslegung des Kompositionsprinzips wirft aber einige Fragen auf: Frege selbst hat den Begriff ‘wörtliche Bedeutung’ nie verwendet, sodass zumindest eine Begründung für dessen Ableitung aus seinem Werk angegeben werden müsste. Ferner haben wir in Kap. 3.2 gezeigt, dass Frege auch ein sog. Kontextprinzip entwickelt hat. Dieses entkräftet Searles Argumente gegen Frege, der eine innerhalb der Satzgrenze kontextsensitive Semantik begründet. ‘Kontext’ bezieht sich dabei allerdings auf die Binnenstruktur des Satzes und nicht, wie Searle den Begriff meistens verwendet, auf die nonverbale Umgebung des Satzes. Searles argumentative Nichtbeachtung von Freges Kontextprinzip überrascht umso mehr, als er selbst es bei der Erläuterung der sprachlichen Indikatoren für die illokutionäre Rolle zitiert hat (Searle 1971/ 79, S. 43). Aus den genannten Gründen erscheint Searles Argumentation gegen Frege nicht überzeugend, obwohl sie, nur auf die Tradition nach Frege bezogen, durchaus ihre Berechtigung hat. Äußerungsbedeutung des Sprechers: Searle möchte sich mit seiner Argumentation gegen das Kompositionsprinzip von der von ihm als „traditional semantic theory“ bezeichneten Tradition der logischen Semantik offensichtlich abheben, aber nicht vollständig davon distanzieren. Er hält weiterhin an der Gültigkeit der Theorie der Wahrheitsbedingungen (truth conditions) fest, möchte aber das Kompositionsprinzip aufgeben. Er behauptet, dass für die von ihm angeführten Beispiele von ‘schneiden’ nicht beide semantischen Ansätze zugleich Gültigkeit haben könnten. Flierzu diskutiert er verschiedene Einwände, die Anhänger der logischen Semantik Vorbringen könnten. Er negiert so die Thesen, bei seinen Beispielen handle es sich um Ambiguität, um eine Bedeutungskonkretisierung im Satzkontext im oben erwähnten Sinne Freges oder um Vagheit. Die Diskussion der Vagheits-These ist besonders aufschlussreich für Searles Sprechaktauffassung. Er formuliert die These so, dass die wörtliche Bedeutung von ‘schneiden’ vage sei und dass der Kontext des Restsatzes dem Hörer ermöglichen würde, zu inferieren, was der Sprecher meint. Das würde bedeuten, die wörtliche Bedeutung wäre weniger präzise als die Äußerungsbedeutung des Sprechers (speaker's utterance meaning). Von dieser These wäre eigentlich zu erwarten, dass sie Searles Auffassung von Sprechakt entspricht. Er bescheinigt dieser These auch große Plausibilität und auch einigen Wahrheitsgehalt, verwirft sie aber erstaunlicherweise dennoch aus zwei Gründen: erstens argumentiert Searle, dass sich leicht ungewöhnliche Verwendungs- <?page no="77"?> Was ist ‘'sprachliche Implizitheit’ in der SAT? 77 weisen von ‘schneiden’ finden lassen, die nicht aus dem Satz heraus verstanden werden können, da die Wahrheitsbedingungen nicht klar sind. Diese Argumentation überrascht insofern, als zu erwarten wäre, dass zur Äußerungsbedeutung mehr gehört als der Satz selbst, da sich ansonsten Satz und Äußerung nicht unterscheiden würden. Dies würde die bereits im Abschnitt zu ‘literal meaning’ geäußerte Vermutung bestätigen, dass für Searle die Satzbedeutung die Äußerungsbedeutung determiniert. Zweitens verwirft Searle die These, weil ihre Annahmen bedeuten würde, dass „all kind of crazy misunderstandings would be literally correct interpretations“ (Searle 1980, S. 226). Hier scheint Searle dem Sprecher das Primat über die Richtigkeit der Interpretation seiner Äußerungen bewahren zu wollen: Er allein kann nach Searle entscheiden, welches die richtige Interpretation seiner Äußerung ist (vgl. Problematisierung in Kap. 2.2). Background: Searle hält daran fest, dass die Bedeutungsvarianten von ‘schneiden’ unterschiedliche Mengen von Wahrheitsbedingungen determinieren. Dieses Faktum ist s.E. nicht mit irgendeiner Form von semantischer Ambiguität zu begründen, sondern damit, dass alle Angehörigen unserer Kultur über einen ganzen Hintergrund an Information darüber verfügen, wie Natur und Kultur funktionieren. Diese Information beeinflusst sowohl die Sprachproduktion als auch die Sprachrezeption: A background of practices, institutions, facts of nature, regularities, and ways of doing things are assumed by speakers and hearers when one of these sentences is uttered or understood. (Searle 1980, S. 227) Das genannte Wissen bezieht sich auf viele Dinge des täglichen Lebens, so auch darauf, wie Gras und wie ein Kuchen geschnitten wird. Das Wissen, dass es sich dabei um zwei verschiedene Tätigkeiten handelt, ist nach Searle ebenfalls Bestandteil eines größeren Systems von Wissen, in welchem manche Bestandteile zentraler sind als andere. Searle sagt zwar, dass die von ihm genannten Zusatzannahmen {assumptions) die Interpretation eines Satzes determinieren, betont aber zugleich, dass diese nicht Teil des semantischen Gehalts {semantic content) des Satzes sind (ebd.). Diese Restriktion ist besonders interessant: (a) entspricht sie einer Variante der in der Fragestellung dieses Kapitels (Fl) formulierten Ausgangssituation: Wie kann Information, die nicht im Satz selbst enthalten ist, im Satz selbst semantisch genutzt werden? (b) macht sie eine Modifizierung des Ausdrückbarkeitsprinzips notwendig. <?page no="78"?> 78 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Searle wehrt sich gegen die These, dass die Hintergrundannahmen als Teil des semantischen Gehalts vollständig explizit gemacht werden müssten, obwohl dies seinem Prinzip der Ausdrückbarkeit entspräche. Searle wendet sich auch dagegen, dass die Hintergrundannahmen in die Semantik integriert werden müssten, sei es als implizite Teile des semantischen Gehalts, als Präsuppositionen oder als Regieanweisungen (stage directions) für das Äußern der Worte. Er wendet sich damit dagegen, irgendeine Form von Implizitheit anzunehmen, was für seine speziellen Beispiele sicherlich richtig ist, für die Beziehung zwischen Satz und Hintergrund im Allgemeinen aber ebenso falsch ist. Searles Vorliebe, Prinzipien immer an konkreten Beispielen zu diskutieren, ermöglicht im vorliegenden Fall aber keine klare Unterscheidung des speziellen Falls vom allgemeinen. Repräsentationen: Searles Argumentation gegen das Explizitmachen der Hintergrundannahmen gibt Einblick in seine Semantikauffassung. Er stellt u.a. in Frage, ob die Bezeichnung Annahmen (assumptions) überhaupt richtig sei, da diese impliziere, all diese Annahmen hätten einen propositionalen Gehalt und wären alle Repräsentationen. An der These, es handle sich um Repräsentationen, missfällt Searle die Implikation, diese wären bereits vor dem Akt des Äußems existent. Er entkräftet diese These so: Aus der Tatsache, dass jedes Element des Hintergrunds als Repräsentation formuliert werden kann, folgt nicht, dass dieses bereits vor dieser Formulierung als Repräsentation existiert und funktioniert hat. Die Tatsache, dass etwas explizit gemacht werden kann, bedeutet dann auch nicht, dass es zuvor bereits explizit war und lediglich wieder in die explizite Form zurückgeführt werden muss. Dies eröffnet eine neue Sichtweise des Prinzips der Ausdrückbarkeit. Es handelt sich dabei offensichtlich nicht um ein Grundprinzip der Sprache: die explizite Formulierung ist nicht vor der impliziten existent, sondern sie ist lediglich eine stilistische Variante. Weiter sind Repräsentationen nach Searle nicht durch sich selbst begründet. Dies kann auch nicht durch das Begründen von Repräsentationen durch Prinzipien gelöst werden. Prinzipien sind selbst wieder Repräsentationen, die ihrerseits von Praktiken und Annahmen abhängen. Das bedeutet, dass letztlich keinerlei Repräsentationen, aber auch keinerlei Prinzipien begründbar sind: Any set of such principles is grounded in practices which are themselves ungrounded. (ebd., S. 230) Intentionaliät: Searle revidiert in diesem Artikel letztlich seine Auffassung von wörtlicher Bedeutung: Die wörtliche Bedeutung bestimmt nicht mehr allein über die Wahrheitsbedingungen eines Satzes. Sie determiniert diese nur noch vor dem Hintergrund einiger Annahmen und Praktiken. Der Wissens- <?page no="79"?> Was ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 79 kontext in Form des Hintergrunds tritt somit als zweites Bestimmungsstück von sprachlicher Bedeutung auf den Plan. Searle formuliert damit m.E. erstmals eine pragmatische Semantik, in der die Äußerung weder durch den hervorbringenden Satz, noch durch Konventionen vollständig determiniert ist. Dadurch, dass Searle keinerlei Integration des Hintergrunds in die Satzsemantik zulässt, bleiben Satz und Hintergrund zunächst völlig unverbunden. Searle sieht diese Verbindung in der Intentionalität des Sprechers begründet: Dieser bezieht den Satz in der Äußerung auf einen bestimmten Hintergrund und verankert ihn so in der ‘Welt’. Die Analyse von sprachlichen Äußerungen wird damit aber zum Spezialfall der Analyse von Intentionalität: The phenomena that we uncovered in the case of sentence meaning appear to be general features of intentionality [...]. (ebd., S. 232) 3.4.4 Zusammenfassung und Fazit Searle baut seine Sprechakttheorie ausschließlich auf expliziten Äußerungen auf. Er legt dabei mit der Verwendung der Konzepte ‘Referenz’, ‘Proposition’ und ‘Wahrheitsbedingungen’ dieselbe Bedeutungsauffassung zugrunde wie die Autoren der logischen Semantik (Frege, Russell, Wittgenstein im „Tractatus“, Carnap, Quine, etc.). Sein Konzept ‘wörtliche Bedeutung’ sichert das Verständnis eines jeden Satzes: Es genügt, die semantischen Regeln einer Sprache zu beherrschen, um die wörtliche Bedeutung eines Satzes zu verstehen. Das Konzept ‘wörtliche Äußerungsbedeutung’ leistet dasselbe für die Äußerungsbedeutung: Eine Äußerung hat aufgrund der wörtlichen Bedeutung des Satzes immer auch eine wörtliche Äußerungsbedeutung, die allein aufgrund des Verstehens des Satzes erfasst werden kann. Das Verstehen der pragmatischen Bedeutung eines geäußerten Satzes ist somit durch die Bedeutung des Satzes gesichert. Zugleich ist damit aber auch die Äußerungsbedeutung durch die Satzbedeutung determiniert. Searle glaubt zunächst auf die Analyse impliziter Sprechakte verzichten zu können. Das ‘Prinzip der Ausdrückbarkeit’ ermöglicht es ihm, implizite Sprechakte ohne Veränderung des logischen Gehalts durch explizite zu ersetzen. Als Satzbedeutung betrachtet er lediglich die Aspekte ‘Proposition’ und ‘Wahrheitsbedingungen’, nicht aber die semantische Struktur der konkreten Formulierung. Eine Analyse impliziter Sprechakte schien daher überflüssig zu sein. Erst in seinen zwei Erweiterungsversuchen geht Searle auf implizite Äußerungen ein. Die Verdoppelung der Illokution durch die Unterscheidung von primärem und sekundärem illokutionärem Akt ist m.E. fragwürdig, zumal Searle hauptsächlich Fälle betrachtet, von denen er selbst sagt, dass der primäre nicht auf der Proposition des sekundären aufbaut. Die Zweiteilung <?page no="80"?> 80 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt scheint eher die Folge seines Festhaltens am Konzept der wörtlichen Bedeutung zu sein. Obwohl indirekte Sprechakte nur einen Spezialfall von impliziten Sprechakten darstellen, hat sich Searle dabei in Auseinandersetzung mit Grice erstmals expressis verbis mit sprachlicher Implizitheit befasst. Mit der Einführung des Konzepts ‘Hintergrund’ wendet sich Searle von einer kontextfreien Auffassung von Satzbedeutung ab und bettet diese in den kulturellen Wissenshintergrund ein. Dieses Wissen wird allerdings als allgemein verfügbar und abrufbar idealisiert, sodass ein hörerseitiger Selektionsprozess zu entfallen scheint. Durch die von Searle postulierte Omnipräsenz dieses Wissens befasst er sich auch nicht mit der Frage, ob dieses sprecherspezifisch oder adressatenbezogen eingesetzt wird. Die Äußerungsbedeutung darf für Searle nicht Gegenstand von Interpretationsprozessen oder gar von Missverständnissen werden. Der Sprecher hat darum das Primat über die Richtigkeit der Interpretation der von ihm geäußerten Sätze. Er kodiert die Äußerungsbedeutung in Sätze, und erwartet, dass der Hörer diese in exakt derselben Weise dekodiert eine Auffassung, die sehr an das alte Kommunikationsmodell von Shannon/ Weaver (1949) erinnert. Neu ist in Searles Erweiterung seines Ansatzes auch, dass er dem Sprecher eine „Sprecher-Äußerungsbedeutung“ zugesteht. Er erweitert damit die Determinanten der Äußerungsbedeutung um zwei wesentliche Faktoren: um den kulturellen Wissenskontext und um die Intention des Sprechers. Searle geht allerdings in seiner Abstraktion m.E. einen Schritt zu weit. Indem er das Problem der Äußerungsbedeutung als Spezialfall des Problems der Intentionalität darstellt, löst er das Problem nicht, sondern verlagert es lediglich auf eine abstraktere Ebene. Damit entfällt aber der Bezug zu konkreten Äußerungen in konkreten Äußerungssituationen und das Problem wird vollends unlösbar. <?page no="81"?> Was ist ‘sprachliche Implizitheit' in der SAT? 81 proposition Von Russell übernommene Bezeichnung für die Satzbedeutung Satzbedeutung ist auf Referenz und Prädikation festgelegt propositional indicator Unterscheidet semantischen Gehalt eines Satzes von dessen Illokution Zwei Sätze können bei gleicher Proposition versch. Illokutionen realisieren illocutionary force Art des Sprechakts ist im zugrunde liegenden Satz bereits angelegt Illokution ist durch Semantik und Struktur des Satzes determiniert illocutionary force indicator Zeigt an, wie die Proposition aufzufassen ist Proposition bestimmt, welche Illokution mit einem Satz vollzogen wird semantic rules Sprechakte folgen Regeln für den Gebrauch sprachlicher Einheiten Grammatizität der Sätze wird nicht untersucht, sondern vorausgesetzt principle of expressibility Alles, was man meinen kann, kann man auch sagen Alle Arten von impliziten Sprechakten können auf explizite reduziert werden literal meaning Einfachste Art von Bedeutung: Sprecher meint alles wörtlich Zum Verstehen einer Äußerung genügt es, die semantischen Regeln zu kennen literal utterance Illokutionärer Akt, der aufgrund der wörtlichen Bedeutung des realisierenden Satzes vollzogen wird Es existiert immer eine Äußerungsbedeutung, die völlig unabhängig von Sprecher und Kontext ist indirect speech acts Ein Satz kann zugleich mehr als eine Illokution realisieren Implizite Sprechakte erfordern eine spezielle semantische Behandlung primary and secondary illocutionary act ‘Wörtliche Bedeutung’ bedingt eine Zweiteilung der Sprechakte in einen direkten und in einen indirekten Implizite Sprechakte kommen nur als Zusatz zu expliziten zustande; Implizitheit ist kein eigenständiges Prinzip speaker's utterance meaning Indirekter Sprechakt beruht nicht auf zusätzlicher Satz-, sondern auf zusätzlicher Sprecher-Bedeutung Äußerungsbedeutung ist zwar nicht vom Kontext abhängig, aber u. U. von der Sprecher-Intention background of meaning Satzbedeutung nicht kontextfrei, sondern vom Hintergrund abhängig Bedeutung ist in kulturellen Wissens-Hintergrund eingebettet representations Wissen ist nicht notwendigerweise vor seiner sprachlichen Formulierung existent Prinzip der Ausdrückbarkeit sagt nichts über die Präexistenz expliziter Sprechakte gegenüber impliziten aus intentionality Satzbedeutung weist Merkmale von Intentionalität auf S. betrachtet SAT nicht als Linguistik, sondern als Erforschung von Intentionalität Tab. 4: Searles Terminologie <?page no="82"?> 82 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 3.5 Herbert Paul Grice Als Sprachphilosoph der Oxford-Schule beschäftigte sich Grice mit dem Unterschied zwischen der natürlichen Sprache und den logischen Sprachen, wie sie Frege mit seiner Begriffsschrift begründet hatte. In Grice (1968/ 89) wird natürliche Sprache wie symbolische Logik notiert. In Grice (1975/ 89) werden zwei konträre Positionen von Sprachauffassung aufgebaut: die des Formalisten und die des Informalisten. Der Formalist geht von der formalen Logik aus und betrachtet die natürliche Sprache als unvollkommen und verbesserungsbedürftig, da ihren Ausdrücken keine eindeutigen Wahrheitswerte zugeordnet werden können. Der Informalist hält die natürliche Sprache ebenfalls für verbesserungswürdig, wenn auch aus philosophischen Gründen der erleichterten Wahrheitsfindung. Grice vertritt weder die eine noch die andere Position. Vielmehr verwirft er die Idee, die natürliche Sprache zu verbessern. Er hält die Annahme der Unvereinbarkeit der formalistischen mit der informalistischen Sicht, d.h. die Annahme von zwei verschiedenen Arten von Sprache, prinzipiell für falsch. Bei Verwendung von Sprache im Alltag ist nach Grice klar, was ein Ausdruck bedeutet, ohne dass dieser analysiert werden müsste. In Alltagsgesprächen von Grice Konversationen genannt werden ähnlich wie in einer Logiksprache Argumente vorgebracht und Schlüsse gezogen. Die Verfechter eines Unterschieds zwischen natürlicher und logischer Sprache verkennen nach Grices Meinung die Natur und die Wichtigkeit der Bedingungen, die die Konversation regieren. Grice will daher die allgemeinen Bedingungen von Konversation an undfür sich {„the general conditions that [...] apply to conversation as such“-, ebd., S. 43) untersuchen. Conversation: Grice gibt als Untersuchungsgegenstand gesprochene Alltagssprache an, genauer Alltagsgespräche, die er Konversationen {conversations) nennt. Diese versteht er als dialogische Konstellation, bei der sich zwei Personen in einer alternierenden Abfolge von Zügen sprachlich austauschen. Grice betrachtet dabei in Abwendung von der Fregeschen Idee - Sprechen nicht primär als Mittel, Inhalte mitzuteilen. Vielmehr geht er davon aus, dass in einer Konversation ein Sprecher einen Hörer dazu bringen will, sich bestimmte Annahmen zu bilden. Dazu gehören Vermutungen über die Absichten des Sprechers und über die Motivation für eine bestimmte Äußerung, sowie allgemeine Annahmen über die Person des Sprechers. Die Kommunikation basiert in Grices Auffassung auf einem reziproken Prozess der Verständigung, basierend auf Vermutungen, auf Erkennen und Vortäuschen von Absichten sowie auf gegenseitigem Vertrauen. Allgemein betrachtet Grice Sprechen als Spezialfall rationalen Verhaltens. <?page no="83"?> fVas ist 'sprachliche Implizitheit’ in der SAT? 83 Cooperative principle: Die Rationalität des Sprechens zeigt sich darin, dass ein sprachlicher Austausch (talk exchange) aus einer Abfolge von Bemerkungen (remarks) besteht, die sich aufeinander beziehen. Diese Tatsache bewertet Grice als Hinweis darauf, dass einem solchen Austausch gemeinsame Anstrengungen (cooperative efforts) zugrunde liegen, ein gemeinsames Ziel (a mutually accepted direction) zu erreichen. Dieses gemeinsame Ziel kann bereits zu Beginn des Gesprächs feststehen, oder sich erst im Verlaufe des Gesprächs herauskristallisieren; es kann definit oder indefinit sein. Zu jedem Zeitpunkt des Gesprächs wird dieses gemeinsame Ziel einige mögliche konversationeile Züge (possible conversational moves) als konversationeil unpassend (conversationally unsuitable) ausschließen. Die Determinierung der möglichen Züge eines Gesprächs formuliert Grice als allgemeines Prinzip, cooperative principle genannt, das gleichsam die kommunikationstheoretische Begründung seiner Theorie der Konversation darstellt: Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged. (Grice 1975/ 89, S. 45) Conversational maxims: Das Kooperationsprinzip konkretisiert Grice in Form von mehreren Maximen, die er in der Tradition Kants in folgende vier Kategorien unterteilt: (1) Die Maximen der Quantität betreffen den Umfang der Information, die mitzuteilen ist: Ein Beitrag soll so viel Information enthalten als nötig, aber nicht mehr. (2) Die Maximen der Qualität betreffen den Wahrheitsgehalt: Sage nichts Falsches und nichts, wofür du über keine Evidenz verfügst. (3) Die Maximen der Relation besagen: „be relevant“ (ebd., S. 46). (4) Die Maximen der Art und Weise (manner) betreffen nicht das ‘Was’, sondern das ‘Wie’ des Sagens: Vermeide Unklarheit und Mehrdeutigkeiten; sprich kurz und geordnet. Obwohl diese Maximen wie Gemeinplätze wirken, betrachtet sie Grice als die Grundregeln kommunikativen Verhaltens. Grice glaubt, dass sie jeder Konversation zugrunde liegen, auch wenn sie selten jemand bewusst befolgt. Die Maximen haben den Status von Postulaten, d.h., von Sätzen, die, obwohl sie nicht beweisbar sind, dennoch unterstellt werden. Das Befolgen der Maximen garantiert das Gelingen von Konversationen ähnlich den Gelingensbedingungen von Austin. Die Maximen sind dabei nicht als Anweisungen für moralisches Handeln misszuverstehen. Sie sollen lediglich die der Konversa- <?page no="84"?> 84 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt tion zugrundeliegenden rationalen Normen beschreiben. Ansonsten würde Grice genau das tun, was er vermeiden wollte: Vorschläge für die Verbesserung der natürlichen Sprache unterbreiten. Implicatures: Neben den Voraussetzungen von Äußerungen, betrachtet Grice auch deren Folgen. Mit sprachlichen Äußerungen kann, wie bereits gesagt, mehr transportiert werden, als nur sprachliche Inhalte. Neben dem, was die geäußerten Sätze bedeuten, können noch zusätzliche und auch ganz andere Dinge gemeint sein. Dies entspricht im Prinzip der Fragestellung dieses Kapitels (F3); Grice interessiert sich jedoch nicht für die lexikalische Realisierung von Implizitheit, sondern für die kommunikativen Bedingungen des Zustandekommens von Implizitheit. Eine Ausnahme bilden lediglich die auch lexikalischen Niederschlag findenden sprachlichen Mittel der Ironie und der Metapher, bei denen der Sprecher gar nicht das meint, was seine geäußerten Worte wörtlich genommen bedeuten, sondern etwas ganz anderes. Eine Theorie der sprachlichen Bedeutung muss dann aber erklären können, weshalb sprachliche Kommunikation nicht an dieser Divergenz von Gesagtem und Gemeintem scheitert. Grice versucht dies mit seiner Lehre von den Implikaturen (implicatures) zu leisten. Er unterscheidet dabei das in einer Äußerung Gesagte von dem in einer Äußerung zusätzlich Gemeinten, dem Implikat (implicatum). Den Terminus ‘Implikat’ leitet Grice vom Verb implizieren (to implicate) ab und stellt ihm das Substantiv Implikatur (implicature) an die Seite, das die Tatsache des Implizierens bezeichnet. Conversational implicatures: Zur besseren Abgrenzung von Gesagtem und Gemeintem unterscheidet Grice verschiedene Typen von Implikaturen: Konventionelle Implikaturen, die auf der von Grice „konventionell“ genannten lexikalischen Bedeutung der geäußerten Worte basieren und nicht-konventionelle Implikaturen, die von der lexikalischen Bedeutung unabhängig sind. Grice beschränkt seine Analyse auf nicht-konventionelle Implikaturen und hauptsächlich auf eine Untergruppe davon, die er konversationelle Implikaturen (conversational implicatures) nennt und wie folgt definiert: A man who, by (in, when) saying (or making as if to say) that p has implicated that q, may be said to have conversationally implicated that q, provided that (1) he is to be presumed to be observing the conversational maxims, or at least the cooperative principle; (2) the supposition that he is aware that, or thinks that q is re quired in order to make his saying or making as if to say p (or doing so in THOSE terms) consistent with this presumption; and (3) the speaker thinks that it is within the competence of the hearer to work out, or grasp intuitively, that the supposition mentioned in (2) IS required. (Grice 1975/ 89, S. 49f.; Hervorhebungen im Original) <?page no="85"?> Was ist'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 85 Die Definition der konversationeilen Implikaturen enthält nebst der Forderung nach der Einhaltung der konversationellen Maximen oder zumindest des Kooperationsprinzips eine interessante Verknüpfung des Gesagten (p) und des Mitgemeinten (q). Das Gesagte (p) wird erst durch die Vermittlung des Mitgemeinten (q) konsistent mit der Annahme, die Maximen würden befolgt. Das setzt voraus, dass a) das Gesagte (p) allein noch nicht konsistent ist zu dieser Annahme, dass b) logische Konsistenz ein wichtiges Kriterium für eine konversationelle Implikatur ist und dass c) das Mitgemeinte (q) dazu geeignet sein muss, die rationale Evidenz zu erzeugen, das Gesagte (p) sei konsistent zur Annahme, die Maximen würden eingehalten. Bei der Betrachtung der impliziten Vorannahmen dieser Definition wird klar, dass die konversationellen Implikaturen einen relativ eng umgrenzten Spezialfall von Implizitheit darstellen. Weiter ist ersichtlich, dass Grice seine Theorie sehr stark an der formalen Logik orientiert. Working out conversational implicatures: Kann das mit einer Äußerung Gesagte aus der Satzbedeutung selbst verstanden werden, muss hingegen für das Verstehen des Implikats die Äußerungssituation in die Interpretation mit einbezogen werden. Dies gilt insbesondere für die konversationeilen Implikaturen, deren Definition die Bedingung (Bedingung 3, s.o.) enthält, dass der Sprecher es dem Hörer zutraut, sowohl das Mitgemeinte (q) als auch dessen Funktion in Bezug auf die Maximen erfassen zu können. Das Vorhandensein einer Konversationellen Implikatur muss dann aber herausgearbeitet, d.h. explizit gemacht werden können: The presence of a conversational implicature must be capable of being worked out; for even if it can in fact be intuitively grasped, unless the intuition is replaceable by an argument, the implicature (if present at all) will not count as a CONVERSA- TIONAL implicature; it will be a conventional implicature. (Grice 1975/ 89, S. 50; Hervorhebungen im Original) Grices Forderung nach Ersetzbarkeit einer konversationeilen Implikatur durch etwas anderes erinnert an Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit. Wird bei Searle das Implizite durch eine explizite Verbalisierung ersetzt, so wird bei Grice das Implizite durch ein Argument ersetzt: Wenn eine Implikatur nicht durch ein logisches Argument ersetzbar ist, zählt sie nicht als konversationelle Implikatur. Aufgrund dieser starken Bedingung ist der Terminus Tmplikatur’ fest mit der prinzipiellen Möglichkeit verbunden, das Implizite explizit machen zu können. Das Explizitmachen des Mitgemeinten erfolgt bei Grice in Form der Rekonstruktion einer logischen Schlusskette, die mit Hilfe mehrerer logischer Argumente das Gemeinte aus dem Gesagten deduziert. Dabei können folgende Informationen genutzt werden: <?page no="86"?> 86 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt (1) Die konventionelle Wortbedeutung inklusive eventueller referentieller Identitäten (2) Das Kooperationsprinzip und seine Maximen (3) Der sprachliche und nicht-sprachliche Kontext (4) Andere Einheiten von Hintergrundwissen (5) Die (angenommene) Tatsache, dass alle relevanten Informationen in (1) bis (4) für alle Beteiligten verfügbar sind und dass diese dies wissen oder zumindest annehmen. General conversational implicatures: Implikaturen, die alle fünf genannten Arten von Zusatzinformation nutzen und entsprechend auf eine bestimmte Situation und auf einen bestimmten Kontext zugeschnitten sind, nennt Grice partikularisierte konversationelle Implikaturen. In Abhebung davon nennt er Implikaturen, die hauptsächlich gestützt auf allgemein verbreitetes soziales Wissen und Weltwissen erkannt und interpretiert werden können, generelle konversationelle Implikaturen. Diese Art von Implikaturen sind das, was normalerweise („NORMALLY“, ebd., S. 56) mit dem verbunden ist, was gesagt wird, ohne dass dazu bestimmte Umstände erforderlich sind. Grice betont aber, dass es sich bei dieser Art von Implikatur nicht um konventionelle Implikaturen handelt. Als Beispiele nennt er allerdings Transaktionen, wie z.B. ‘etwas bezahlen’, die zwar wie Grice betont sehr wohl einen hohen Grad an Unbestimmtheit aufweisen, was u.E. aber nur daraus zu erklären ist, dass diese Handlungen in hohem Maße konventionalisiert sind. Um die Klasse der generellen konversationellen Implikaturen von den konventionellen Implikaturen abzugrenzen, stellt Grice folgende fünf Merkmale zusammen: (1) Eine generalisierte konversationelle Implikatur kann unter bestimmten Umständen gelöscht werden, wenn klar ist, dass der Sprecher das Kooperationsprinzip oder eine bestimmte Maxime nicht beachtet. (2) ‘Nondetachability’: Es kann keine Art u. Weise geben, dasselbe zu sagen, die lediglich die Implikatur nicht enthält; es sei denn, einige spezielle Merkmale der substituierten Version determinieren alleine schon eine Implikatur (gemäß der Maxime der Art und Weise). (3) Eine generalisierte konversationelle Implikatur ist eine Bedingung, die in der ursprünglichen Spezifikation der konventionalen Kraft {conventionalforce) des Ausdrucks (zumindest zu Beginn) nicht enthalten ist. Sie kann allerdings mit der Zeit konventionalisiert werden. (4) Die generalisierte konversationelle Implikatur ist nicht abhängig von der Wahrheit dessen, was gesagt wird. Sie wird nicht von dem getra- <?page no="87"?> Was ist 'sprachliche Implizitheit' in der SAT? 87 gen, was gesagt wird, sondern lediglich durch das Sagen dessen, was gesagt wird, oder durch „putting it that way“ (ebd., S. 58). (5) Eine generalisierte konversationeile Implikatur ist immer in einer bestimmten Art und Weise indeterminiert. / Generalisierte konversationelle Implikaturen sind offensichtlich fest mit einer Äußerung verbunden (2.) und können nur unter bestimmten Umständen außer Kraft gesetzt werden (1.). Sie sind ursprünglich nicht in der Bedeutung des Gesagten enthalten, können aber konventionalisiert werden (3.). Das erinnert sehr an Austins Standardbeispiele (Taufe, Trauung, Versprechen, usw.), die allerdings in hohem Maße konventionalisiert waren. Grice scheint dabei eine Art Mehrwortausdrücke vorzuschweben, die dabei sind, zur festen Wendung zu werden. Weshalb ihm dann eine so starke Abgrenzung der generalisierten konversationeilen Implikaturen gegenüber den konventionalisierten Implikaturen wichtig ist, wird allerdings nicht klar. The basis of the cooperative principle: Die fundamentale Frage, was die Basis für die Annahme bildet, ein Sprecher würde sich gemäß der Maximen verhalten, beantwortete Grice zunächst einfach damit, dieser hätte es in seiner Kindheit so gelernt. Da ihn diese Erklärung wohl selbst nicht ganz zufrieden stellte, suchte er zusätzlich nach einer rein rationalen Erklärung für das Kooperationsprinzip. Er versuchte erst, die Kommunikationssituation als Quasi- Vertragsverhältnis (quasi-contractual basis, S. 48) zu beschreiben, gab dieses Vorhaben dann aber auf, da zu viele Arten von Austausch, wie etwa Streiten, oder einen Brief schreiben, nicht in dieses Schema passten. Stattdessen argumentierte Grice, dass alle an einem sprachlichen Austausch Beteiligten ein lebhaftes Interesse daran hätten, dass der Austausch im Einklang mit dem Konversationsprinzip erfolge, da nur dann ein erfolgreicher Verlauf möglich sei: [...] that any one who cares about the goals that are central to conversation/ communication (e.g., giving and receiving information, influencing and being influenced by others) must be expected to have an interest, given suitable circumstances, in participation in talk exchanges that will be profitable only on the assumption that they are conducted in general accordance with the CP and the maxims. (Grice 1975/ 89, S. 49) How to fail to fulfill a maxim : Grice betrachtet die Konversationsmaximen als uneingeschränkt gültig. Wird eine der Maximen nicht erfüllt, so wertet er dies ähnlich wie Austin in den einfacheren Fällen als Fehlschlag, in den schwer wiegenderen Fällen allerdings als klaren Verstoß gegen die Regeln rationalen Verhaltens. Er unterscheidet vier verschiedene Arten von einfachen Fällen, in <?page no="88"?> 88 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt welchen es einem Sprecher misslingen kann, eine Maxime zu erfüllen („may fail to fulfill a maxim“, ebd., S. 49): (1) Der Sprecher kann eine Maxime unauffällig verletzen (VIOLATE) und sich somit einer Irreführung des Hörers schuldig machen (2) Er kann sich bewusst dagegen entscheiden (OPT OUT), eine Maxime oder das Kooperationsprinzip insgesamt zu befolgen und es anzeigen, resp. klar machen, dass er nicht bereit ist, in der Art und Weise zu kooperieren, wie die betreffende Maxime es erfordern würde. (3) Er kann in einen Konflikt (CLASH) geraten und z.B. eine Maxime nur erfüllen, indem er eine andere gleichzeitig verletzt. (4) Er kann eine Maxime missachten (FLOUT), indem er es offen vernachlässigt, sie zu erfüllen. Bei diesen vier Arten, eine Maxime nicht zu erfüllen, bewegt sich der Sprecher immer noch auf der Grundlage des Kooperationsprinzips: nur wenn er dieses grundsätzlich akzeptiert, kann er eine Maxime ‘verletzen’. Liegt bei Nichtbeachten einer Maxime aber keine der vier genannten Arten vor, führt dies nach Grice bei dem Hörer zur Frage, wie das Gesagte mit der Annahme in Einklang gebracht werden kann, der Sprecher halte sich an das Kooperationsprinzip. Das nicht Gesagte kann nach Grice nur darauf hinweisen, dass der Sprecher mittels eines scheinbaren Verstoßes gegen die Regeln darauf aufmerksam machen will, dass er mehr meint als er sagt. Diese Situation betrachtet Grice als charakteristisch für die Entstehung von konversationeilen Implikaturen. Er bezeichnet das, was in dieser Situation geschieht, als Ausnutzen einer Maxime {EXPLOIT). Einen bewussten Verstoß gegen eine Maxime betrachtet Grice somit keineswegs als Argument gegen die uneingeschränkte Gültigkeit des Kooperationsprinzips, sondern als eine kommunikative Signalisierung von Implizitheit. Fazit: Grice beschäftigte sich als Erster ausschließlich mit der Problematik der Implizitheit. Auch Searles Beschäftigung mit indirekten Sprechakten geht, wie Searle selbst bemerkt, auf die Auseinandersetzung mit dem griceschen Ansatz zurück. Grice verwendet im Unterschied etwa zu Austin nicht die Bezeichnung ‘Implizitheit’, sondern die ähnlich klingende ‘Implikatur’. Die Haupttermini ‘implicature’ und ‘implicatum’ leitet Grice allerdings vom Verb ‘to imply’ ab, das sowohl die Bedeutungskomponente ‘etwas stillschweigend beinhalten’, als auch diejenige ‘auf etwas hinauslaufen’ im Sinne von ‘daraus ergibt sich etwas’ umfasst. Grice konzentriert sich bei seiner Beschäftigung mit Implizitheit in Abweichung von den bisher diskutierten Theoretikern der SAT auf die Zweite der genannten Bedeutungskomponenten. Er unterstellt, eine Konversation sei eine Abfolge von Argumenten und im- <?page no="89"?> Was ist "sprachliche Implizitheif in der SAT? 89 plizite Information so etwas wie ein verborgenes Argument. So definiert er konversational implizieren als stillschweigende Annahme des zweiten Teils einer logischen Implikation. Damit konzentriert sich Grice auf einen Teilaspekt des Phänomens Tmplizitheit’ und legt sich selbst auf eine logische Herangehensweise fest. Dies erstaunt allerdings nicht, wenn seine eingangs erwähnte These, natürliche und formale Sprachen seien nicht prinzipiell verschieden, berücksichtigt wird. Grice führt viele neue Termini in die Diskussion über Sprechakte ein (vgl. Tab. 5). Grice verdeutlicht damit, dass zr Alltagsgespräche (conversation) als dialogischen Austausch (talk exchange) betrachtet, der aus einer Abfolge von Beiträgen (conversational moves) besteht. Die meisten Termini hängen mit seiner Auffassung von Konversation als quasivertraglichem Handeln (quasicontractual basis) zum Erreichen eines gemeinsamen kommunikativen Ziels (mutally accepted purpose) zusammen. Erst der erklärte Wille, ein gemeinsames Ziel zu erreichen, legt die Konversationsteilnehmer auf ein bestimmtes Verhalten fest und etabliert Normen, gemäß derer bestimmte Beiträge unangemessen (conversationally unsuitable moves) erscheinen. Auf dieser interaktionstheoretischen Basis konstruiert Grice den Grundpfeiler seiner Kommunikationstheorie: das Kooperationsprinzip. Auf diesem beruhen sowohl die Maximen als auch die konversationellen Implikaturen im Unterschied etwa zu den konventionalen Implikaturen, die auf der konventionalen Bedeutung der Wörter und auf deren konventionaler Kraft beruhen oder den generellen Implikaturen, die üblicherweise mit einem bestimmten sprachlichen Ausdruck verbunden sind. Die Allgemeingültigkeit der Maximen betrachtet Grice als so stark, dass sogar ein bewusster Verstoß gegen eine Maxime (maxim is being exploited) zur Signalisierung von Implizitheit verwendet werden kann. Bei einem so stark interaktional begründeten Kommunikationsmodell verwundert es nicht, dass Grice Implizitheit wenig bis gar nicht mit sprachlichen Mitteln in Verbindung bringt. Außer Ironie und Metaphern betrachtet Grice keine weiteren sprachlichen Mittel zur Realisierung von Implizitheit. Das Implizite versteht er als etwas zusätzlich Gemeintes, das von der lexikalischen Realisierung weitgehend unabhängig ist eine Ausnahme bilden die konventionalen Implikaturen. Bei dieser Sicht kann die implizite kommunikative Funktion einer Äußerung aber nicht mit deren sprachlicher Form in Verbindung gebracht werden: Grammatikalische, lexikalische sowie satzsemantische Indikatoren bleiben unberücksichtigt. <?page no="90"?> 90 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt conversation Wählt Alltagsgespräche als Analysegegenstand Abwendung von der Analyse des Wahrheitswertes von Äußerungen talk exchange Etabliert ein dialogisches Setting Überwindung des Monologismus conversational moves Konversation als Abfolge von wechselseitig aufeinander bezogenen Beiträgen Die wechselseitige Bezogenheit von Äußerungen führt interaktionale Aspekte in die Analyse ein cooperative efforts Konversation als sich selbst koordinierendes Zusammenwirken von einzelnen Beiträgen Etabliert Kooperation als den natürlichen Zweck sprachlicher Kommunikation quasi-contractual basis Erster Versuch einer rationalen Erklärung für das Einhalten von Normen in der Konversation Konversationsteilnehmer legen sich gegenseitig auf ein bestimmtes Verhalten fest mutually accepted purpose or direction Ein gemeinsames Ziel verleiht der Konversation Sinn und Zweck Ein gemeinsamen Ziel verpflichtet zum Einhalten von sozialen Normen conversationally unsuitable moves Soll unpassende, d.h. von der Norm abweichende Beiträge verhindern Etabliert eine stark normative Auffassung von Kommunikation cooperative principle Formuliert das Grundprinzip der sprachlichen Kommunikation Legt Kooperation als oberstes Ziel sprachlicher Kommunikation fest conversational maxims Beschreiben der einzelnen Bedingungen der Konversation Etablieren einklagbarer Regeln des kommunikativen Verhaltens implicatures Implizit kommunizierte Bedeutung ist etwas Mitgemeintes, das die konventionelle Bedeutung nicht zu realisieren vermag Rekonstruktion von Implizitheit als fehlendes Argument einer Schlusskette: Implizitheit als logische Einheit ohne sprachliche Indikatoren conventional / conversational implicatures Unterscheidung von lexikalischer (konventioneller) vs. kommunikativ realisierter Implizitheit Völlige Ablösung der sprachlichen Realisierung von Implizitheit von der lexikalischen Bedeutung particular / general implicatures Unterscheidung von situationsgebundenen vs. allgemein gültigen Implikaturen Etabliert soziales und situationales Wissen neben sprachlichem Wissen als weitere Bedeutungsquellen conventional meaning Lexikalische Bedeutung ist Bedeutung per Konvention Legt lexikalische Bedeutung auf sprachliche Konvention fest conventional force Kommunikative Funktion lexikalischer Bedeutung Reduziert die kommunikative Funktion lexikalischer Einheiten auf Konvention maxim is being exploited Maximen können bewusst verletzt werden, um Implizitheit zu signalisieren Maximen behalten auch dann ihre Gültigkeit, wenn gegen sie verstoßen wird Tab. 5: Grices Terminologie <?page no="91"?> Was ist ‘sprachliche hnplizitheit' in der SAT? 91 Ein Verdienst des Ansatzes von Grice ist es, zum Explizitmachen impliziter sprachlicher Information sprachlichen und nicht-sprachlichen Kontext sowie allgemeines Hintergrundwissen heranzuziehen. Zur Sicherung der Kommunikation macht Grice es zusätzlich zur Bedingung, dass a) alle relevanten Informationen für alle an der Konversation Beteiligten verfügbar sind und dass b) alle Beteiligten sich dieser Tatsache bewusst sind. Mit dieser prästabilierten Harmonie will Grice offensichtlich ausschließen, dass es zu Missverständnissen kommt. Die Tatsache, dass Missverständnisse zur alltäglichen Kommunikation dazugehören, wirft allerdings die Frage auf, ob Grice dies übersehen hat, ob er letztlich an der Untersuchung alltäglicher Kommunikation gar nicht interessiert ist, oder ob er nicht doch die Kommunikation in natürlicher Sprache verbessern wollte. Allgemein bewegt sich Grices Behandlung von hnplizitheit auf einer sehr abstrakten Ebene, die die Vermutung nahe legt, ihm gehe es nicht um das Analysieren von hnplizitheit in einer Einzelsprache, sondern um ein allgemeines Modell von hnplizitheit, das von der konkreten sprachlichen Realisierung gänzlich unabhängig ist. Insofern vermag Grices Ansatz nur sehr wenig zur Aufklärung unserer Fragestellung (F3) beizutragen. 3.6 Die verschiedenen Auffassungen von Tmplizitheit’ in der SAT Die hier analysierten Ansätze der SAT haben zweifellos gemeinsame Wurzeln. Dennoch vertreten diese Ansätze verschiedene Auffassungen von Implizitheit. Die jeweilige Auffassung wirkt sich direkt auf das angenommene Verhältnis von Implizitheit und Explizitheit und auf das Verhältnis von Semantik und Pragmatik aus. Daraus resultiert wiederum eine jeweils verschiedene Rolle der sprachlichen Mittel und, damit einher gehend, eine unterschiedliche Rolle des Kontextes bei der Realisierung von Implizitheit. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine allgemeine Kritik an der Auffassung von Sprache in der SA T. Gemeinsame Wurzeln: Die SAT ist von der logischen Semantik beeinflusst, und baut weitgehend auf deren Begrifflichkeit und Satzsemantik auf. Frege hat mit seiner Satzsemantik nicht nur die begrifflichen Grundlagen für die semantische Analyse von Sätzen, resp. von Äußerungen gelegt, sondern selbst auch erste Ideen zu einer sprachlichen Pragmatik formuliert. Die starke Orientierung seines Entwurfs einer Prädikatenlogik an der Semantik der natürlichen Sprache begründete ferner die Tradition der logischen Semantik. Für Austin waren die Beschränkungen der logischen Semantik Anlass, die SAT (im engeren Sinne) zu begründen. Er wollte damit die logische Semantik aber nicht abschaffen, sondern ergänzen. Searle baut seine Theorie wiederum direkt auf der Begrifflichkeit der logischen Semantik (Referenz, Proposition, Wahrheitsbedingungen, wörtliche Bedeutung, usw.) auf. Sein Ausdrückbar- <?page no="92"?> 92 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt keitsprinzip etwa begründet er auf dem Prinzip der logischen Äquivalenz: Bei der Reduktion einer impliziten Äußerung auf eine entsprechende explizite, darf sich der logische Gehalt nicht ändern. Searle weicht von der Grundlage der logischen Semantik erst bei der Behandlung der indirekten Sprechakte und bei der Analyse der Rolle des Hintergrundwissens ab. Grice löst sich bei der Analyse der Konversation vollständig vom Satzmodell der logischen Semantik. Grice geht aber wie Frege davon aus, dass natürliche Sprache und Logik nicht grundsätzlich verschieden sind. Beim Entwurf eines Verfahrens zur Rekonstruktion von Implikaturen greift er entsprechend auf das logische Postulat der Vollständigkeit einer Schlusskette zurück, indem er Implikaturen als fehlende Argumente rekonstruiert. Verhältnis von Implizitheit und Explizitheit: Jeder der referierten Autoren hat eine eigene Auffassung von Implizitheit. Dies tritt am deutlichsten bei der jeweiligen Unterscheidung von Explizitheit und Implizitheit zutage. Frege spricht nicht von expliziten und impliziten sprachlichen Äußerungen, obwohl dies ein zentrales Thema seiner Sprachanalysen ist: Er will mit seiner Begriffsschrift den logischen Gehalt (den ‘begrifflichen Inhalt’) einer natürlichsprachlichen Äußerung freilegen, d.h., explizit machen. Er trifft als Erster eine Unterscheidung von expliziten und impliziten Bedeutungsanteilen. Den expliziten Anteil nennt er ‘Bedeutung’ und den impliziten Anteil ‘Sinn’. Bei Frege entsteht der explizite Bedeutungsanteil eines Ausdrucks (die ‘Bedeutung’) aus dem impliziten Anteil (dem ‘Sinn’). Das Verhältnis der beiden Bedeutungsanteile zueinander formuliert Frege wie folgt: Die regelmäßige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen Sinn und dessen Bedeutung ist derart, dass dem Zeichen ein bestimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung entspricht [...]. (Frege 1892a/ 1980, S.42) Freges Auffassung, die explizite Bedeutungsanteil entstehe aus dem impliziten, teilt auch Austin, indem er Sprache als generell implizit betrachtet: Language as such and in its primitive stages is not precise, and it is also not, in our sense, explicit [...]. (Austin 1962, S. 73) Austin beschränkt sich auf die Betrachtung von expliziter Performativität. Er glaubt, dass jede implizit performative Äußerung in eine explizit performative umgewandelt werden kann. Dazu muss die implizit performative Äußerung in einen Satz mit einem explizit performativen Verb, das deren illokutionäre Kraft explizit macht, eingebettet werden. Implizitheit bedeutet bei Austin somit, dass die illokutionäre Kraft einer Äußerung nicht lexikalisiert ist, aber durch ein entsprechendes explizit performatives Verb präzisiert werden kann. Searle beschränkt sich zunächst ebenfalls auf die Untersuchung von expliziter Performativität. In ähnlicher Weise wie Austin postuliert Searle in seinem <?page no="93"?> Was ist 'sprachliche ImplizitheiC in der SAT? 93 ‘principle of expressibility’, dass jede implizit performative Äußerung auf eine entsprechende explizite zurückführbar ist, insofern sich dabei der logische Gehalt nicht ändert. Die ‘wörtliche Bedeutung’ der Äußerung determiniert dabei allerdings die ‘illokutionäre Rolle’ der implizit performativen Äußerung. Bei der Analyse von ‘indirekten Sprechakten’ gesteht er ein, dass eine Äußerung auch zwei Illokutionen haben kann, von der die primäre nicht notwendigerweise auf der Proposition der realisierenden Äußerung beruhen muss. Somit sind auch implizite Sprechakte möglich, die nicht durch die ‘wörtliche Bedeutung’ der zugrundeliegenden Äußerung determiniert sind. Grice widmet seine Analysen ganz dem Phänomen der Implizitheit in der Konversation. Aus der Beschränkung seiner Analysen auf die kognitiven und situationalen Bedingungen der Konversation resultiert die zentrale Rolle der Implizitheit in seinem Ansatz. In einer Konversation werden fortlaufend unausgesprochene Präsuppositionen, Einschätzungen und Absichten mitkommuniziert: Allein die Maxime der Quantität verbietet es schon, alles, was gedacht wird, auch auszusprechen. Somit ist Implizitheit ein fester Bestandteil von Konversationen. Implizite Information macht Grice explizit, indem er einem idealisierten Hörer unterstellte Schlussfolgerungen rekonstruiert. Dies geschieht ohne Bezug auf die sprachliche Form einer Äußerung. Verhältnis von Semantik und Pragmatik: Frege versucht mit seinem Kompositionsprinzip, Syntax, Semantik und Pragmatik eines Satzes regelhaft zu parallelisieren, sodass sich sowohl die Semantik als auch die Pragmatik einer Äußerung aus deren sprachlicher Form ableiten ließe. Austin weist darauf hin, dass dies wenn überhaupt nur für Aussagesätze möglich sei, nicht aber für Sätze, die sich darauf beziehen, wie eine Äußerung in einer bestimmten Situation aufzufassen sei. Austin versucht eine Art performative Erweiterung der logischen Semantik zu konstruieren, indem er die ‘Illokution’ als zusätzliche Bedeutung einer Äußerung einführt. Die performative Bedeutung baut dabei auf der konstativen auf: Die illokutive Kraft einer Äußerung wird maßgeblich durch das performative Verb des geäußerten Satzes bestimmt. Entsprechend kann eine implizit performative Äußerung explizit gemacht werden, indem sie in einen MatrixSatz mit einem entsprechenden expliziten Verb eingebettet wird. Die Semantik des explizit performativen Verbs expliziert dann den Sprechakt-Typ der Äußerung. Searle versucht erst sämtliche impliziten Sprechakte mit Hilfe des ‘Ausdrückbarkeitsprinzips’ durch entsprechende explizite zu ersetzen. Die expliziten Sprechakte können aufgrund der ‘wörtlichen Äußerungsbedeutung’ von allen verstanden werden, da alle, die der Regeln einer Sprache mächtig sind, auch die ‘wörtliche Bedeutung’ des zugehörigen Satzes verstehen. Die Semantik des Satzes determiniert also dessen pragmatische Funktion vollständig. Erst bei der Beschäftigung mit indirekten Sprechakten nennt Searle Illo- <?page no="94"?> 94 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt kutionen, die nicht durch die Semantik des realisierenden Satzes determiniert sind. Es handelt sich dabei aber immer um zusätzliche Illokutionen, die nur in bestimmten Situationen auftreten können. Grice nennt nur Beispiele für Implizitheit, ohne deren semantische Struktur näher zu untersuchen. Infolgedessen macht er so gut wie keine Aussagen über das Verhältnis von Semantik und Pragmatik. Eine Ausnahme bilden nur die im nächsten Paragraphen genannten vier sprachlichen Mittel. Ansonsten sieht Grice die pragmatische Funktion einer Äußerung wohl weniger durch sprachliche Mittel bestimmt, als durch die oben genannten kognitiven und situationalen Bedingungen der Konversation. Rolle der sprachlichen Mittel: Frege entwirft mit dem Kompositionsprinzip erstmals eine Satzsemantik, die sich aus den jeweiligen semantischen Funktionen der Satzbestandteile zusammensetzt. Entsprechend ist seine Semantik sehr eng an die jeweiligen sprachlichen Mittel gebunden. Beispielhaft ist etwa seine semantische Analyse von ‘ist’ (Frege 1892b/ 1980, S. 68ff.). In ähnlicher Weise analysierte er auch die Nebensätze und die darin auftretenden Konjunktionen (ebd., S. 5Iff.). Austin führt als typischen Indikator für Performativität die Formel ‘Fliermit mache Ich X ! ein. Auf der Suche nach Alternativen zu dieser ‘performativen Formel’ analysiert er u.a. folgende sprachliche Mittel (speech devices, Austin 1962, S. 74): Satzmodus, Tonfall, Kadenz, Betonung, Adverbien, Adverbiale, und Konjunktionen. Er zögert aber, diesen Mitteln den Status von Indikatoren zuzuerkennen, da mit der Vagheit ihrer Bedeutung eine große Ungewissheit bezüglich der richtigen Interpretation einhergeht. Als Indikatoren anerkennt er letztlich nur die explizit performativen Verben, deren Bedeutung den vollzogenen Sprechakt-Typ bezeichnet. Searle schließt sich explizit Austins Auffassung an, dass die Illokution regelgeleitet auf die verwendeten sprachlichen Mittel zurückführbar ist, da diese ansonsten einzig und allein von Konventionen abhängig wäre (Searle 1971/ 79, S. 113). Er ist aber skeptisch gegenüber der Annahme, dass Regeln für illokutionäre Akte an bestimmte sprachliche Mittel gebunden werden können. Die sprachlichen Mittel bestimmen zwar die illokutionäre Rolle einer Äußerung, aber nur indirekt über die von ihnen konstituierte Proposition. Searle zählt dennoch ein paar sprachliche Charakterisierungen auf, die im Englischen die illokutionäre Rolle anzeigen können: Wortfolge, Betonung, Intonation, Interpunktion sowie der Modus des Verbs. Als einziges lexikalisches Mittel nennt er, wie auch Austin, die ‘performativen Verben’. Grice rekonstruiert, wie erwähnt, implizite Information als fehlende Argumente einer unterstellten logischen Schlusskette. Dabei spielt es keine Rolle, ob und wie die implizite Information versprachlicht wurde. Grice macht sofVas <?page no="95"?> ist "sprachliche Implizitheit'' in der SAT? 95 mit implizite Information explizit, ohne lexikalische oder grammatikalische Information zu Hilfe zu nehmen. Er nennt lediglich Beispiele zu vier sprachlichen Mitteln mittels derer die Maxime der Qualität missachtet wird. Es handelt sich dabei um Ironie, Metapher, Untertreibung (meiosis) und Übertreibung (hyperbole). Eine detaillierte Analyse der Rolle der sprachlichen Mittel findet sich in Kap. 4.1. Rolle des Kontextes: Frege formulierte mit dem ‘Kompositionsprinzip’ für die ‘Bedeutung’ von Ausdrücken eine kontextunabhängige Semantik; mit dem ‘Kontextprinzip’ hingegen für den ‘Sinn’ von Ausdrücken eine kontextabhängige Semantik. Unter ‘Kontext’ versteht Frege allerdings hauptsächlich den Satzkontext, wenn er sagt, dass die Wörter nur im vollständigen Satz eigentlich eine Bedeutung haben. Mit der ‘Form’ eines Behauptungssatzes sieht Frege üblicherweise die ‘Kraft’ der „Behauptung der Wahrheit“ (Frege 1892a/ 1980, S. 49). Wird dieser Satz hingegen in bestimmten Situationen geäußert, wie z.B. auf der Bühne, kommt ihm eine andere ‘Kraft’ zu. Damit ist die pragmatische Funktion einer Äußerung abhängig von der Äußerungssituation. Weiter stellt Frege auch Überlegungen über die ‘Wechselwirkung des Sprechenden und des Hörenden’ an und reflektiert damit erstmals die wechselseitige Bezogenheit der Kommunikationspartner aufeinander. Austin erwähnt bei seiner Suche nach Alternativen zur ‘performativen Formel’ auch folgende zwei Faktoren: Nonverbale Begleiterscheinungen (z.B. Gesten) und Äußerungsumstände (situationaler Kontext). Seine Analyseeinheit ist entsprechend nicht der isolierte Satz, sondern der ganze Sprechakt in der vollständigen Situation. Unter ‘Situation’ versteht Austin aber nicht die jeweils konkrete Äußerungssituation, sondern vielmehr die logische Abhängigkeit der Äußerung von dem bereits Geäußerten. Bei Austin ist ‘Situation’ somit kein natürlicher, sondern ein logischer Kontext. Den nonverbalen Äußerungskontext reflektiert Austin aber auch. Er bezeichnet ihn als ‘circumstances’ und betrachtet ihn als wichtigen Bestandteil des Sprechakts. Austins ‘felicity conditions’ machen dies deutlich: Ein Sprechakt kann nur gelingen, wenn es eine entsprechende konventionalisierte Prozedur gibt und zugleich die Personen und die Umstände für diese Prozedur geeignet sind. Bei der Analyse von expliziten Versprechen zählt Searle (1971/ 79) exemplarisch neun Bedingungen auf, von deren Erfüllung das Gelingen eines Versprechens abhängt. Diese Bedingungen betreffen allesamt die Kommunikationssituation, oder besser: die Kommunikationskonstellation, da es sich um abstrakte Merkmale wie Kommunikationshindernisse und um Sprecherintentionen handelt. Die Illokution ist von diesen sprachexternen Bedingungen aber nicht beeinflusst. Bei den indirekten Sprechakten in Searle (1975b) ist allerdings die ‘primäre Illokution’ nicht mehr von der Proposition des geäußerten Satzes abhängig. Searle macht aber auch diese Art von Bedeutung nicht vom Kontext, sondern von Sprecher abhängig, indem er von einer ‘ad- <?page no="96"?> 96 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt ditional speaker meaning’ (ebd., S. 177) spricht. Erst in Searle (1980) findet sich eine explizite Abkehr von Freges Kompositionsprinzip. Searle gesteht ein, dass es verschiedene Interpretationen eines Satzes geben kann, schreibt dies aber unterschiedlichen Vorannahmen zu, die ihrerseits auf unterschiedlichem Hintergrundwissen basieren. In Searles Sicht beeinflusst der Kontext nicht die Bedeutung eines Satzes, sondern dessen Interpretation. Die richtige Interpretation ist dabei diejenige des Sprechers, die Searle ‘speaker's utterance meaning’ nennt. Grice schenkt, wie bereits gesagt, den sprachlichen Mitteln wenig Aufmerksamkeit und konzentriert sich ganz auf die Bedingungen der Konversation. Diese Bedingungen lassen sich am ehesten als ‘kognitiver Situationskontext’ umschreiben, da sie nicht nur die Vorannahmen der Beteiligten umfassen, sondern auch deren während der Konstellation aufgebaute Partnerhypothesen. Grice ist somit der einzige Theoretiker der SAT, der konsequent den Kontext als bestimmenden Faktor für die sprachliche Kommunikation berücksichtigt. Allgemeine Kritik an der SAT: Die SAT hat trotz teilweise sehr ähnlicher Ideen keine einheitliche Terminologie hervorgebracht. So findet sich z.B. sowohl bei Austin als auch bei Searle das Konzept von Verben, die den Illokutionstyp anzeigen. Obwohl Searle das Konzept von Austin übernommen hat und beide Konzepte praktisch identisch sind, spricht Austin von ‘performativen Verben’, Searle hingegen von ‘illokutiven Verben’. Was allgemein für die Terminologie der SAT gilt, betrifft insbesondere die Terminologie im Umgang mit der Implizitheit: Das Fehlen einer einheitlichen Begrifflichkeit verunmöglicht eine einheitliche Beschreibung des Phänomens ‘Implizitheit’. Obwohl die Grundidee der SAT sehr eng mit dem Konzept der Implizitheit verknüpft ist, wie sich in den Analysen dieses Kapitels bestätigt hat, wird in der SAT die Implizitheit selten explizit thematisiert. Eine eingehende Beschäftigung mit den sprachlichen Mitteln von Implizitheit wird durch eine Reduktion impliziter Äußerungen auf explizite ersetzt, da diese leichter zu handhaben sind. Grice stellt insofern eine Ausnahme dar, als er mittels des Terminus Tmplikatur’ versucht, das, was nicht ausgesprochen wird, begrifflich zu fassen. Leider beschäftigt sich Grice aber nicht mit den sprachlichen Mitteln zur Realisierung von Implizitheit. Allgemein kann festgestellt werden, dass sich das Interesse der SAT an der natürlichen Sprache auf einer sehr abstrakten Ebene bewegt. Von Interesse ist die Sprache an und für sich, keine Einzelsprache. So betont etwa Searle (1971/ 79), dass er einen sprachphilosophischen und keinen linguistischen Essay schreiben wollte. Konkrete sprachliche Äußerungen werden in der Regel nur als Beispiele zur Untermauerung der eigenen Thesen analysiert. Ausnahmen hiervon sind Freges Analysen von ‘ist’ und den Nebensätzen, Austins Analyse der performativen Formel und Searles Analyse des ‘Ver- <?page no="97"?> IVas ist "sprachliche Implizitheif in der SAT? 97 Sprechens'. Entsprechend finden sich in der SAT relativ wenige Hinweise auf sprachliche Mittel (vgl. hierzu Kap. 4.1). Auch konkrete Sprecher und Hörer scheinen die SAT kaum zu interessieren: Sie werden in der SAT so stark idealisiert, dass sie lediglich eine bestimmte Rolle in einem idealisierten Kommunikationsmodell einnehmen. Die Perspektive des Hörers wird in der SAT etwa völlig vernachlässigt. Ihm kommt lediglich die Aufgabe zu, die Äußerungen genau so zu dekodieren, wie sie der Sprecher enkodiert hat. Als Beispiel sei Searles Auffassung genannt, dass die Kenntnis der Regeln einer Sprache genügten, um aus einem geäußerten Satz dessen Illokution korrekt abzuleiten. Selbst als Searle diese Auffassung dahingehend korrigiert, dass es auch von der Sprechermeinung abweichende Interpretationen geben kann, gesteht er dennoch dem Sprecher das Primat über die Interpretation seiner Äußerung zu: Die abweichenden Interpretationen erfolgen lediglich aufgrund eines abweichenden Hintergrundwissens des Hörers. Dabei erscheint der Hörer zumindest als eigenständige Person, die einem gewissen Kontexteinfluss unterliegt und somit die von Mudersbach (1983, S. 344ff.) „Theta-Kommunikant“ genannte Rolle der Allwissenden überwindet. Eine empirische Überprüfung der Thesen an konkreten sprachlichen Äußerungen realer Kommunikationspartner unter realen Kommunikationsbedingungen wurde von der SAT nicht erbracht und war wohl auch nicht vorgesehen. Dies verwundert besonders angesichts der Tatsache, dass die SAT den Anspruch erhoben hat, zu zeigen, wie mit Sprache Handlungen vollzogen werden. Fazit: Zusätzlich zur Zusammenstellung der in der SAT vorhandenen Implizitheitskonzeptionen sollte dieses Kapitel auch Evidenzen für die semantische Hypothese (SH) dieser Arbeit liefern (vgl. Kap. 0). Die Analyse des Implizitheits-Konzepts in der SAT hat ergeben, dass sich die Fragestellung der SAT aus Austins Kritik an der Tradition der logischen Semantik heraus entwickelt hat und insbesondere bei Searle aus einer Weiterentwicklung aus der kritisierten Tradition besteht. Mit Ausnahme von Grice argumentieren alle Autoren mit semantischen Begriffen (z.B. ‘Proposition’) wie sie die Tradition der logischen Semantik eingeführt hat. Der wesentlich neue Aspekt, den Austin einbringt, ist das Konzept der ‘Performativität’. Austins Auffassung von ‘Performativität’ weist dabei große Ähnlichkeit zu unserer Definition von ‘sprachlicher Implizitheif in (II) auf. Austins Festlegung des Gegenstandsbereichs der SAT dass ‘etwas sagen’ ‘etwas tun’ bedeuten kann ist von den anderen Autoren der SAT übernommen worden. In diesem Sinne kann die in Kap. 0 formulierte semantische Hypothese (SH) als bestätigt betrachtet werden. <?page no="99"?> 4. Was sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? Aufgrund der prinzipiellen Verwandtschaft der Fragestellung der SAT mit derjenigen der vorliegenden Arbeit (vgl. Kap. 3.1) eignet sich die SAT als Quelle für die Suche nach allgemeinen Indikatoren sprachlicher Implizitheit. Nachdem in Kapitel 3 untersucht wurde, wie die Implizitheit in der SAT behandelt und terminologisch gefasst wird, sollen nun die Ergebnisse auf ihren Nutzen für die Analyse von ISDn hin überprüft werden. Die dabei leitende Fragestellung lautet: (F2) Welche lexikalischen Indikatoren für sprachliche Implizitheit finden sich in ISDn? Flierzu sollen erst die in der SAT erwähnten Indikatoren für Implizitheit zusammengestellt werden. Da in der SAT verschiedene Konzeptionen von Implizitheit nebeneinander existieren, finden sich dort auch unterschiedliche Bezeichnungen für solche Indikatoren: Indikatoren der ‘Performativität’, der ‘Illokution’, der ‘illokutionären Rolle’ oder auch ‘Implikaturen’ sind die wichtigsten Bezeichnungen. Im Sinne der Fragestellung dieses Kapitels (F4) sollen die im vorhergehenden Kapitel herausgearbeiteten theoretischen Feinheiten dieser Unterscheidungen hier nicht beachtet werden. Da es hier lediglich um die Frage nach den lexikalischen Mitteln zur Realisierung von Indikatoren geht, werden die verschiedenen Beschreibungs- und Erklärungsansätze der SAT zusammengenommen und unter dem Konzept der Implizitheit subsumiert. Die zusammengestellten Implizitheitsindikatoren der SAT sollen dann nach ihrer Art der sprachlichen Mittel differenziert werden. Als nächster Schritt sollen diese auf ihre ‘ökologische Validität’ hin überprüft werden, indem versucht werden soll, aus einem bestehenden Korpus authentischer sprachlicher Diskriminierungen jeden der genannten Implizitheitsindikatoren mit mindestens einem Beispiel zu belegen. Im Anschluss daran sollen aufgrund zusätzlicher theoretischer Überlegungen zur Rolle des Kontextes in ISDn weitere mögliche Indikatoren für sprachliche Implizitheit besprochen werden. Zuvor soll aber die Verwendung des Terminus ‘Indikator’ in Zusammenhang mit natürlicher Sprache erläutert werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Natürliche Sprachen sind keine logischen Sprachen, insofern sie, wie auch Frege schon feststellte, in der Regel keine umkehrbar eindeutige Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt etablieren. Die Universalität der natürlichen Sprachen beruht gerade darauf, dass deren Ausdrücke in der Regel <?page no="100"?> 100 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt funktional offen sind: Ein Wort kann mehrere Dinge oder Sachverhalte bezeichnen; ein Ding, resp. ein Sachverhalt, kann mit verschiedenen Wörtern bezeichnet werden. Eine Ausnahme hiervon bilden lediglich die Fachsprachen, in welchen die Eindeutigkeit der Bezeichnungen per Definition erreicht wird. Da wir uns hier mit natürlichsprachlichen Phänomenen befassen, soll auch ‘Indikator’ keine eindeutige oder gar umkehrbar eindeutige Relation zwischen Ausdruck und Inhalt etablieren. Der Terminus ‘Indikator’ soll hier im Sinne von ‘Hinweis’ und nicht im Sinne von ‘eindeutigem Merkmal’ verstanden werden. Sei z.B. das sprachliche Mittel ‘M’ Indikator für A, dann schließt dies nicht aus, dass es unter anderen Umständen auch Indikator für B, C, D, usw. sein kann. Umgekehrt kann A aber auch immer mit zu M alternativen sprachlichen Mitteln realisiert werden. Der Verbmodus ‘Imperativ’ kann z.B. ein Indikator dafür sein, dass eine Äußerung wie „Steht auf! “ als Befehl gemeint ist. Mit derselben Äußerung kann aber auch eine Aufforderung oder ein starker Wunsch formuliert werden. Umgekehrt kann ein Befehl auch ohne imperativen Verbmodus formuliert werden („Ihr müsst jetzt aufstehen! “), oder gar ganz ohne Verb („Alle aus den Betten! “). Die Beziehung zwischen Indikator und Phänomen ist also weder eindeutig noch umkehrbar eindeutig. Bei lexikalischen Indikatoren für implizite sprachliche Phänomene kommt erschwerend hinzu, dass implizite Bedeutung auch mit Hilfe des Kontrastes zwischen Äußerung und Äußerungssituation etabliert werden kann und dann keinerlei spezifischer lexikalischer Mittel bedarf. Die funktionale Offenheit natürlichsprachlicher Ausdrücke sollte aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Sprache ist zwar ein soziales Phänomen und entsprechend in stetem Wandel begriffen. Dennoch sind zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten sozialen Gruppe, in einer bestimmten Situation und in einer bestimmten Gesprächs- oder Textsorte bestimmte sprachliche Mittel besser geeignet, bestimmte Arten von Äußerungen zu realisieren, als andere. Diese sollen hier Indikatoren genannt werden. Darüber, welche sprachlichen Mittel dies jeweils sind, können aufgrund der semantischen Funktion und der üblichen Verwendungskontexte der betreffenden sprachlichen Mittel zwar theoretische Hypothesen aufgestellt werden; letztlich kann diese Frage aber nur empirisch entschieden werden. <?page no="101"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 101 4.1 Welche Indikatoren für Implizitheit nennt die SAT? Auf der Grundlage der Kenntnis der zentralen Konzepte der SAT soll nun zusammengestellt werden, welche Indikatoren für Implizitheit die Theoretiker der SAT nennen. Gottlob Frege: Die Motivation für den Entwurf seiner Begriffsschrift war es, alle Mehrdeutigkeit, Vagheit und somit auch Implizitheit aus der Sprache zu verbannen, um zu einer rein logischen Sprache zu gelangen (vgl. Wagner 1987). Diese soll dabei helfen, Schlüsse auf ihre Vollständigkeit hin überprüfen zu können: Sie soll zunächst dazu dienen, die Bündigkeit einer Schlußkette auf die sicherste Weise zu prüfen und jede Voraussetzung, die sich unbemerkt einschleichen will, anzuzeigen, damit letztere auf ihren Ursprung untersucht werden könne. (Frege 1879/ 1977, S.X) Dies liest sich wie ein Gegenprogramm zu Grice, der eine Implikatur explizit machen will, indem er die fehlenden Argumente einer Schlusskette rekonstruiert. Implizitheit verträgt sich zwar schlecht mit Freges Zielsetzung, spielt aber dennoch eine gewisse Rolle bei der Umsetzung seines semantischen Programms. Bei seinem Versuch, die Nebensätze semantisch in die Satzbedeutung zu integrieren, stößt Frege auf mehrere Arten von Implizitheit. Er ist gewissenhaft genug, diese Fälle nicht zu übergehen und sie einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Frege unterscheidet Nebensätze, deren ‘Sinn’ ein vollständiger ‘Gedanke’ ist, von solchen, die nur in Verbindung mit einem übergeordneten Satz einen vollständigen ‘Gedanken’ ergeben. Während erstere bestens in sein Semantikmodell passen, in welchem der ‘Sinn’ eines Satzes ein vollständiger ‘Gedanke’ ist, muss Frege für letztere sein Modell modifizieren. Als Beispiele nennt er Nebensätze, die mit den Konjunktionen ‘obgleich’, ‘aber’ oder ‘doch’ eingeleitet werden. Diese könnten zwar auch durch einen anderen Nebensatz mit demselben Wahrheitswert ersetzt werden, ohne dass sich die Wahrheit der gesamten Satzverbindung verändern würde; aber das Ganze erhielte dabei eine andere ‘Beleuchtung’: „[...] die Beleuchtung würde dann leicht unpassend erscheinen, wie wenn man ein Lied traurigen Inhalts nach einer lustigen Weise singen wollte“ (Frege 1892a/ 1980, S. 60). Mit dem, was Frege als ‘Beleuchtung’ bezeichnet, scheint er eine Art Metaprädikation zu meinen. Es erinnert auch an das, was Searle später ‘Indikator der illokutionären Rolle’ genannt hat: „Der Indikator der illokutionären Rolle zeigt an, wie die Proposition aufzufassen ist [...]“ (Searle 1971/ 79, S. 49). Durch eine solche Satzverbindung entsteht jedenfalls eine zusätzliche Art von <?page no="102"?> 102 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Bedeutung, die verloren geht, wenn einzelne Teile der Verbindung durch andere ausgetauscht werden. Frege diskutiert u.a. folgendes Beispiel: „wenn jetzt die Sonne schon aufgegangen ist, ist der Himmel stark bewölkt“. (Frege 1892a/ 1980, S.60) Dieses Beispiel verweist auf einen konkreten Ort und auf einen konkreten Zeitpunkt in der Gegenwart: auf das ‘Hier und Jetzt’ des Sprechers. Nach Frege wird darin eine Beziehung zwischen den Wahrheitswerten des Bedingungs- und des Folgesatzes etabliert: Es wird ausgeschlossen, dass zugleich der Nachsatz falsch, der Bedingungssatz aber wahr sei. Wird lediglich der Wahrheitswert betrachtet, so kann jeder der Teilsätze durch einen anderen desselben Wahrheitswertes ersetzt werden; dabei würde sich aber die ‘Beleuchtung’ verändern. Frege erklärt sich das Phänomen der zusätzlich entstandenen Bedeutungsart damit, „[...] daß Nebengedanken mit anklingen, die aber nicht eigentlich ausgedrückt sind [...]“ (ebd.). Diese Formulierung erinnert stark an unsere in Kap. 3.1 vorgenommene vorläufige Bestimmung des Phänomens der Implizitheit (II). Frege untersucht weitere Satzverbindungen, in denen ‘Nebengedanken’ anklingen. Dabei stößt er auch auf Verbindungen, die semantisch auf einer Ebene stehen: So könnte man vielleicht finden, daß in dem Satze „Napoleon, der die Gefahr für seine rechte Flanke erkannte, führte selbst seine Garden gegen die feindliche Stellung“ nicht nur die beiden oben angegebenen Gedanken ausgedrückt wären, sondern auch der, daß die Erkenntnis der Gefahr der Grund war, weshalb er die Garden gegen die feindliche Stellung führte. (Frege 1892a/ 1980, S. 61f.) In diesem Beispiel entsteht der dritte ‘Gedanke’ durch das Zusammenspiel des Matrixsatzes „Napoleon führte selbst seine Garden gegen die feindliche Stellung“ und des eingeschobenen Nebensatzes „der die Gefahr für seine rechte Flanke erkannte“. Es handelt sich dabei um eine nicht-lexikalisierte Begründung für die vordergründig neutral beschriebene Handlung des Protagonisten. Das Zusammenspiel der beiden Äußerungen konstituiert aber eine implizite Argumentation, insofern als der eingebettete Relativsatz zur Begründung für die im Matrixsatz beschriebene Handlung wird. Sie ist nicht mittels einer Konjunktion wie z.B. ‘weil’ lexikalisiert und lässt sich nur unter Berücksichtigung von Zusatzannahmen interpretativ erfassen. Wir haben es hier mit einer Art von Bedeutung zu tun, die sich zwar nicht auf den propositionalen Gehalt der hervorbringenden Teilsätze reduzieren lässt, von diesen aber trotzdem abhängig ist: obwohl der ‘dritte Gedanke’ nicht mit dem propositionalen Gehalt der geäußerten Teilsätze übereinstimmt, ist er dennoch an diesen gebunden. Der ‘dritte Gedanke’ wäre nicht zustande gekommen, wären die beiden Teilsätze nicht in dieser Form geäußert, resp. geschrieben worden. Das Ersetzen des Matrixsatzes durch einen anderen desselben Wahr- <?page no="103"?> IVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDnI' 103 heitswertes, wie etwa „Napoleon war schon über 45 Jahre alt“ (ebd., S. 62), würde den ‘dritten Gedanken’ verändern. Frege betrachtet auch Fälle, in welchen die Konstituierung eines ‘dritten Gedankens’ regelmäßig vorkommt und als semantisches Mittel eingesetzt wird. So ist es auch mittels subordinierter Teilsätze, die nach Freges Analyse keinen eigenständigen ‘Gedanken’ ausdrücken können, möglich, implizite ‘Gedanken’ zu realisieren. Im folgenden Beispiel wird mit einer subordinativen Satzverbindung sowohl ein Sachverhalt dargestellt, als auch eine implizite Bewertung desselben vorgenommen: In dem Satze „Bebel wähnt, daß durch die Rückgabe Elsaß-Lothringens Frankreichs Rachegelüste beschwichtigt werden können“ sind zwei Gedanken ausgedrückt, [...] nämlich 1. Bebel glaubt, daß durch die Rückgabe Elsaß-Lothringens Frankreichs Rachegelüste beschwichtigt werden können; 2. durch die Rückgabe Elsaß-Lothringens können Frankreichs Rachegelüste nicht beschwichtigt werden, (ebd., S. 62) In diesem Beispiel wird die Bewertung mittels des Verbs ‘wähnen’ realisiert, das die Illusionshaftigkeit eines Glaubens beschreibt und somit die geplante Flandlung als im Vornherein zum Scheitern verurteilt darstellt. Ersetzen wir ‘wähnt’ durch einen anderen „epistemischen Ausdruck“ (vgl. Falkenberg 1980, S. 193) wie z.B. ‘weiß’, so weicht in der Darstellung die Irrealität der Realität. Eine subtilere Variante würde darin bestehen, ‘glaubt’ einzusetzen, das es ziemlich offen lässt, ob der Glaube berechtigt war, oder nicht. Frege selbst nennt folgende weiteren epistemischen Ausdrücke: ‘wissen’, ‘erkennen’ und ‘es ist bekannt’. Nutzen für ISDn: Frege zeigt erstmals wichtige Realisationsarten von Implizitheit auf. Seine Beschreibung von Implizitheit als ‘Nebengedanken’ ist einerseits sehr nah an unserer vorläufigen Definition in Kap. 3.1., entspricht andererseits aber auch beinahe vollständig Searles Definition eines ‘Indikators der illokutionären Rolle’. Freges genaue Einzelfallanalysen verfolgen das semantische Phänomen zurück bis auf die Wortebene. Entsprechend können aus Freges Analysen folgende lexikalische und grammatikalische Indikatoren für Implizitheit gewonnen werden: Konjunktion in Nebensatz* Anklingenlassen eines Nebengedankens Relativpronomen in Relativsatz* Implizite Argumentation Epistemischer Ausdruck* Bewertung des dargestellten Sachverhalts * Diese Bezeichnung stammt nicht von Frege selbst Tab. 6: Lexikalische Implizitheits-Indikatoren bei Frege <?page no="104"?> 104 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt John Langshaw Austin: Er suchte nach Kriterien der Performativität. Die dabei analysierten sprachlichen Mittel sind wegen der engen Verknüpfung von Performativität und Implizitheit (vgl. Kap. 3.2) auch potentielle Indikatoren für Implizitheit. Passende Umstände: Austin hat immer wieder betont, dass die Umstände einer Äußerung sehr wichtig sind und dass die Worte in demjenigen Kontext, in dem sie aktuell geäußert wurden, interpretiert werden müssen. Ein Sprechakt kann nur gelingen, wenn die Umstände, in denen er vollzogen wird, passend sind. Austins felicity conditions zeigen auf, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Sprechakt gelingt. Mit dem Einhalten aller Bedingungen ist allerdings noch nicht geklärt, welcher Sprechakt konkret vollzogen wird. Diese Bestimmung gelingt nur auf der Grundlage einer Konvention. So vollzieht bspw. das Wort ‘ja’ den Akt der Heirat nur deswegen, weil ihm in der rituellen Handlung ‘Heiraten’ diese Funktion zugedacht ist. Die Verbindung zwischen Äußerung und Sprechakt vermittelt eine Art Rolleninventar, das Austin als Bestandteil der illokutionären Kraft der Äußerung betrachtet: Den Sprechakt selbst, die Illokution, versteht er als Referenz auf die conventions of illocutionary force (Austin 1962, S. 115), die die speziellen Umstände der Verwendung einer Äußerung enthalten. Kriterien der Performativität: Um die Unterscheidung ‘konstativ’ vs. ‘performativ’ untermauern zu können, sucht Austin nach möglichst exakten Kriterien der Performativität. Seine Standardbeispiele weisen alle das grammatikalische Kriterium ‘Verb in der 1. Person Singular Präsens Aktiv’ auf, oft in Kombination mit dem Modaladverb ‘hiermit’. Trotz großem Bemühen findet Austin kein geeigneteres Kriterium. Dies verleitet zu der Hypothese, dass dieses Kriterium eine Art performative Grundform darstellt, auf die alle performativen Strukturen reduzierbar sind. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass dieses grammatikalische Merkmal nur ein Spezialfall eines allgemeineren Kriteriums ist: Im Allgemeinen besteht eine systematische Asymmetrie zwischen der 1. Person Präsens und den anderen Personen und Zeiten desselben Verbs. Diese Asymmetrie kennzeichnet das performative Verb und kommt damit einem grammatikalischen Merkmal am nächsten. Austin illustriert die Asymmetrie anhand des Verbs ‘wetten’: „Er wettet“ ist nicht performativ, sondern beschreibt das Äußern des performativen „Ich wette“ durch eine Drittperson. Es handelt sich nicht um den Vollzug der Handlung des Wettens, sondern nur um eine Beschreibung des Vollzugs einer solchen Handlung. Das Äußern von „Ich wette“ bekräftigt dagegen nicht, dass ich die Worte „Ich wette“ äußere, sondern, dass ich die Handlung des Wettens vollziehe. Diese Asymmetrie ist semantischer Natur und besteht nur bei explizit performativen Verben. Sie besteht bspw. nicht zwischen „Ich renne“ und „Er rennt“. <?page no="105"?> IVas sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? 105 Explicit performatives: Das Kriterium der Asymmetrie ist das einzige harte Kriterium der Performativität. Aber es ist fraglich, ob es sich wirklich um ein grammatikalisches Kriterium handelt, da sich die Asymmetrie nur auf die Semantik und somit auf die Verwendungsmöglichkeiten der entsprechenden Äußerungen auswirkt, aber keine weiteren grammatikalischen Konsequenzen feststellbar sind. Zudem ist es kein exaktes Kriterium: Einerseits können einige Äußerungen, die das Kriterium erfüllen, zugleich auch konstativ verwendet werden, wie etwa „Ich nenne“ und nicht alle Äußerungen, die das Kriterium erfüllen, sind performative Formeln, wie etwa „Ich stelle fest, dass“. Andererseits kann man auch einen Sprechakt vollziehen, ohne eine performative Formel zu verwenden. Ich kann jemanden beleidigen, ohne den Ausdruck „Ich beleidige dich“ zu äußern. Dieser zweite Einwand wiegt schwerer als der erste, da er auch bei Aufhebung der sich gegenseitig ausschließenden Konzeption von ‘konstativ’ und ‘performativ’ bestehen bleibt und Austin letztlich dazu bewegt, seine Suche nach eindeutigen Kriterien der Performativität aufzugeben. Implicit performatives: Da Austin kein eindeutiges lexikalisch-grammatisches Kriterium der Performativität findet, das für alle performativen Äußerungen gültig ist, sieht er sich gezwungen, explizit und implizit performative Äußerungen zu unterscheiden (vgl. Kap. 3.2). Damit stellt sich aber das Problem des Verhältnisses von implizit zu explizit performativen Äußerungen. Weil Austin die expliziten Ausdrücke als eine höher entwickelte Form der impliziten betrachtet, nimmt er an, die implizit performativen Äußerungen seien auf die expliziten zurückführbar und beschränkt sich in der Folge hauptsächlich auf die Analyse von explizit performativen Äußerungen: The suggestion is, then, that we might (1) make a list of all verbs with this peculiarity; (2) suppose that all performative utterances which are not in fact in this preferred form beginning T x that’, T x to’, or T x’ could be ‘reduced’ to this form and so rendered what we may call explicit performatives. (Austin 1962, S. 68) Making explicit: Mit der Reduktion der implizit performativen Äußerungen auf entsprechende explizit performative muss Austin ein Verfahren angeben, wie diese Reduktion vorzunehmen sei. Er hält lediglich fest, dass ‘explizit machen’ nicht dasselbe ist wie ‘beschreiben oder feststellen, was man tut’. So ist z.B. der Ausdruck „Ich verspreche, dass“ keine Beschreibung, da er (a) weder wahr noch falsch sein kann und (b) bei Erfüllen aller felicity conditions unmissverständlich ein Versprechen vollzieht. Weiter muss die Frage geklärt werden, um welchen impliziten Sprechakt es sich handelt, der explizit gemacht werden soll. Wie er sich die Lösung dieser Frage vorstellt, schildert Austin anhand einer nonverbalen Handlung, die Ähnlichkeit mit einer performativen Äußerung besitzt, da sie eine konventionelle Handlung (ein Ritual oder eine Zeremonie) vollzieht: Wenn sich jemand niederbeugt, ist zunächst <?page no="106"?> 106 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt nicht eindeutig klar, ob das als Akt der Huldigung, oder als Versuch, Bauchschmerzen zu lindern, interpretiert werden soll. Erst das Hinzutreten einer weiteren zur selben Konvention gehörigen Handlung, wie z.B. das Äußern des Wortes ‘Salaam’, macht die intendierte Handlung eindeutig identifizierbar. Dabei ist das Äußern von ‘Salaam’ natürlich keine Beschreibung des vollzogenen Aktes, sondern eher so etwas wie ein Indikator für die intendierte rituelle Handlung. So bestechend die Idee eines Handlungsindikators sein mag, sie hat zwei gravierende Nachteile: (1) Die Interpretation ist abhängig vom Wissen der Interpreten um das Repertoire der rituellen Handlungen eines bestimmten Kulturkreises und (2) diese Methode funktioniert nur für stark konventionalisierte Handlungen wie z.B. ‘Heiraten’, die allen Angehörigen eines Kulturkreises gleichermaßen bekannt sind. Beide Nachteile hält Austin nicht für gravierend: Ad (1): Er geht davon aus, dass die Konventionen so stark sind, dass es keine Missverständnisse geben kann, wenn nur alle felicity conditions erfüllt sind. Ad (2): Der Vorwurf der eingeschränkten Gültigkeit trifft Austin nicht, da er ausschließlich konventionelle Akte behandelt und die Anwendung seiner Ideen auf andere Bereiche wie etwa auf die Philosophie dem Leser überlässt (Austin 1962, S. 164). Für unsere Zwecke drängt sich aber die umgekehrte Frage auf, ob Austins Theorien überhaupt noch Gültigkeit besitzen, wenn man den eingeschränkten Bereich der rituellen Handlungen verlässt. Alternative sprachliche Mittel zur performativen Formel: Mit der Idee der Reduzierbarkeit jeder implizit performativen Äußerung auf eine entsprechende explizit performative erhebt Austin die performative Formel zum Standardkriterium der Performativität. Trotzdem betrachtet er die performative Formel nicht als das einzige, wohl aber als das erfolgreichste sprachliche Mittel (speech-device), um einen Sprechakt zu realisieren. Austin betrachtet sechs alternative, wenn auch in seiner sprachgenetischen Sichtweise primitivere sprachliche Mittel, einen Sprechakt zu realisieren: (1) Modus: Der imperative Modus macht eine Äußerung zu einem Befehl, ohne aber damit den Sprechakt zu bestimmen. So entspricht bspw. ‘Shut it, do’ dem expliziten Befehl T order you to shut it’, ‘Shut it, if you like’ aber eher der Erlaubnis T permit you to shut it’. Die Verwendung von Hilfsverben ‘may’, ‘must’ und ‘ought’ ermöglicht es, unter Zuhilfenahme des imperativen Modus, Sprechakte zu realisieren, die kein Befehl sind. (2) Tonfall, Kadenz, Betonung sind Merkmale der gesprochenen Sprache und können in der geschriebenen Sprache nicht ohne weiteres reproduziert werden. (3) Adverbien, Adverbiale können verwendet werden, um die illokutionäre Kraft zu qualifizieren, wie etwa bei der Ergänzung von T shall’ <?page no="107"?> Was sind Indikatoren für hnplizitheit in ISDn 7 107 durch ‘probably’. Austin weist daraufhin, dass sich in Abhängigkeit vom ergänzenden Ausdruck viele verschiedene Variationen ergeben. (4) Konjunktionen, Konjunktionaladverbien: Unter der Bezeichnung „connecting particles“ (S. 75) diskutiert Austin das Potential von Konjunktionen und Konjunktionaladverbien, eine bestimmte illokutionäre Kraft auszudrücken. So korrespondiert etwa ‘still’ mit ‘I insist that’, ‘therefore’ mit ‘I conclude that’ und ‘although’ mit ‘I concede that’. (5) Begleiterscheinungen-, Gesten und zeremonielle Handlungen können als nonverbale Begleiterscheinungen von Sprechakten auftreten. Diese sind wichtig für die Deutung eines Aktes, der im Sinne Austins immer ein konventionaler Akt ist und daher bestimmten Zeremonien unterliegt. (6) Äußerungsumstände-. Austin nennt die Umstände (circumstances) einer Äußerung, die er auch als „context“ (S. 76) bezeichnet, eine äußerst wichtige Interpretationshilfe. Als Beispiel nennt er die Äußerung „coming from him, I took it as an order, not as a request“. Hier entscheidet die Kenntnis des situationalen Kontextes über die Interpretation der Äußerung. Austin identifiziert als Problem der aufgeführten sechs zur explizit performativen Formel alternativen sprachlichen Mittel deren Vagheit verbunden mit der Ungewissheit, welches die jeweils richtige Interpretation ist. Zugleich anerkennt er aber, dass in dieser Vagheit wohl gerade das Potential begründet ist, mit all den komplexen Handlungen, die wir mit Worten vollziehen, zurecht zu kommen. Austin gibt hier seiner Ahnung Ausdruck, dass Sprache vielleicht doch von Natur aus vage ist, wie er bereits eingestanden hat, dass Sprache primär implizit ist (vgl. das Motto der vorliegenden Arbeit). Da diese Einsicht seinem Ziel, eindeutige Sprechakte zu isolieren und zu klassifizieren, wenig dienlich ist, konzentriert sich Austin weiterhin auf die explizit performativen Formeln. Nutzen für tSDn: Trotz seines Postulats, implizit performative Äußerungen seien auf explizit performative zurückführbar, sucht er nach alternativen sprachlichen Mitteln zur performativen Formel. Einige davon sind auch für den Zweck dieser Arbeit sehr interessant, da sie nicht nur als Indikatoren implizit performativer, sondern allgemein impliziter Äußerungen fungieren können. Tonfall, Kadenz, Betonung sowie nonverbale Begleiterscheinungen finden wegen der Beschränkung auf schriftliche Sprache (vgl. Kap. 1.3) keinen Eingang in unsere Analyse. Der Satzmodus schlägt sich syntaktisch als Stellungsmerkmal nieder und dient so hauptsächlich dazu, Fragen, Ausrufe und Befehle zu erkennen. Für ISDn könnte der Satzmodus Hinweise auf rheto- <?page no="108"?> 108 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt rische Fragen mit entsprechend diskriminierendem Potential liefern. Die semantische Funktion der Hilfsverben, die Bedeutung von Äußerungen zu modifizieren und so die Sprecher-Meinung zum Ausdruck zu bringen, ist auch für ISDn von Nutzen. Adverbien, Adverbiale und Modalwörter enthalten wichtige semantische Zusatzinformationen und können die Interpretation von ISDn entscheidend beeinflussen. Konjunktionen und Konjunktionaladverbien können die argumentative Haltung des Sprechers zum Ausdruck bringen und somit eine implizite Bewertung andeuten. Die Äußerungsumstände schließlich sind zwar nicht-lexikalische Indikatoren, bilden aber den Interpretationsrahmen einer Äußerung und sind daher, wie auch Austin meint, äußerst wichtig für deren Interpretation. Die Tatsache, dass Austin zur explizit performativen Formel alternative sprachliche Mittel angeben kann, bestätigt die Grundannahme der vorliegenden Arbeit, dass solche Indikatoren existieren. Die von Austin genannten sprachlichen Mittel sind zugleich wichtige potentielle Indikatoren für ISDn: Satzmodus Markiert Fragen, Ausrufe, Befehle Hilfs- und Modalverben Verändern den Modus einer Äußerung Adverbien. Adverbiale Qualifizieren die illokutionäre Kraft Konjunktionen, Konjunktionaladverbien Drücken eine illokutionäre Kraft aus Tab. 7.- ImpUzitheits-Indikatoren bei Austin John Rogers Searle: Er fügt der SAT wichtige Erweiterungen gegenüber der Konzeption von Austin hinzu; er ist aber kein eigentlicher Vertreter der ‘ordinary language philosophy’ (vgl. Kap. 2.1). Sein Hauptinteresse gilt nicht der Alltagssprache, sondern der Erforschung der Intentionalität. In der Einleitung zu „Speech Acts“ erklärt er, dass es sich um einen „sprachphilosophischen Essay“ und nicht um einen „linguistischen Essay“ (1971/ 79, S. 12) handle. Ihn interessiert nicht eine Einzelsprache, etwa das Englische, sondern Sprache schlechthin. Er räumt zwar ein, dass seine „Daten“ aus „den natürlichen menschlichen Sprachen stammen“ (ebd., S. 13), glaubt aber, dass viele der daraus gezogenen Schlüsse für jede Sprache gelten müssten, die gewisse Minimalstandards erfüllt. Searle formuliert seine Theorie anhand einer Einzelsprache, gesteht dieser aber lediglich exemplarischen Charakter zu. Die Frage, ob und wie sich bspw. Indikatoren in verschiedenen Einzelsprachen realisieren lassen, ist für ihn nicht von Bedeutung. Searle erklärt einfach die im Englischen vorhandenen Sprachphänomene als universal für alle Sprachen gültig, ohne dies je überprüft zu haben. Diese Idealisierung der natürlichen <?page no="109"?> IVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn 9 109 Sprache als universales semantisches System gilt es bei der Frage nach den von Searle benannten (einzelsprachlichen) Mitteln der Implizitheit im Auge zu behalten. Indikatoren der illokutionären Rolle: Searle postuliert in seinem ‘principle of expressibility’ in Anlehnung an Austin die Reduzierbarkeit von implizit performativen auf explizit performative Äußerungen. Bedingung ist, dass sich der logische Gehalt nicht ändert. Die Abbildung implizit performativer auf explizit performative Äußerungen betrachtet er als durch semantische Regeln vermittelt. Wie diese Vermittlung aussehen soll, verschweigt Searle allerdings. Er weist lediglich auf die Rolle der semantischen Regeln bei der umgekehrten Abbildung hin: Die Bedeutung eines Satzes betrachtet er als durch semantische Regeln festgelegt, die „sowohl die Bedingungen seiner Äußerung bestimmen, wie auch, als was die Äußerung gilt“ (ebd., S. 77). Da ‘semantische Regeln’ den Umgang mit sprachlichen Mitteln beschreiben, bestimmen in letzter Konsequenz sprachliche Mittel, um welchen Sprechakt es sich handelt, resp. welche illokutionäre Rolle einer Äußerung zukommt. Dennoch können semantische Regeln nicht einfach auf sprachliche Mittel reduziert werden. Searle glaubt zwar auch, dass es sprachliche Mittel gibt, die die illokutionäre Rolle einer Äußerung anzeigen, ist aber skeptisch gegenüber der Annahme, dass Regeln für illokutionäre Akte an bestimmte sprachliche Mittel gebunden werden können: Dann scheint es mir äußerst unwahrscheinlich, daß sich Regeln für illokutionäre Akte unmittelbar Elementen (Formativen, Morphemen) zuordnen ließen, die von der syntaktischen Komponente erzeugt werden, es sei denn in einigen wenigen Fällen, wie zum Beispiel beim Imperativ. (Searle 1971/ 79, S. 98) Mit ‘sprachliche Mittel’ meint Searle allerdings nicht einzelne Worte oder Wortarten, sondern bestimmte „Arten von Ausdrücken“: Die charakteristische grammatische Form des illokutionären Aktes ist der vollständige Satz [...]; die charakteristische grammatische Form des propositionalen Aktes bilden Teile von Sätzen [...]. (ebd., S. 42) Damit macht Searle klar, dass die Proposition als Ganzes die illokutionäre Rolle anzeigt. Dieser Auffassung entspricht Freges ‘Kontextprinzip’, das Searle in diesem Zusammenhang als Vorbild nennt und zitiert (ebd., S. 43). Die einzelnen Satzbestandteile untersucht er nur bei der Analyse der Proposition, bringt sie aber in keine direkte Verbindung zur Illokution. Die sprachlichen Mittel bestimmen zwar die illokutionäre Rolle, aber nur indirekt über die von ihnen konstituierte Proposition. Searle nennt trotz seiner Skepsis einige sprachliche Charakterisierungen („linguistic characterizations“), die im Englischen die illokutionäre Rolle anzeigen: Wortfolge, Betonung, Intonation, Interpunktion, der Modus des Verbs und die so genannten performativen Verben (Searle 1971/ 79, S. 50). Er belässt es bei der Aufzählung dieser Mit- <?page no="110"?> 110 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt tel, ohne Beispiele zu nennen, und stellt die Frage nach einer syntaktischen Repräsentation der illokutionären Rolle. Seine Meinung ist, dass an der Satzoberfläche im Gegensatz zur Tiefenstruktur keine eindeutige Zuordnung eines Indikators der illokutionären Rolle zu einem Indikator der propositionalen Rolle möglich ist. Dennoch glaubt er fest daran, dass sprachliche Indikatoren der illokutionären Rolle auffindbar sind, wenn auch in etwas komplexerer Gestalt: Das heißt natürlich nicht, daß es in dem phrase marker eines jeden Satzes stets ein einzelnes Element gibt, das die illokutionäre Rolle des Satzes anzeigt. Im Gegenteil, ich glaube, daß es in den natürlichen Sprachen eine Vielfalt von Mitteln gibt, von denen einige syntaktisch ziemlich kompliziert sind, die als Indikatoren der illokutionären Rolle dienen. (Searle 1971/ 79, S. 50f.) Rolle der sprachlichen Mittelfür die Illokution: Searle betont die Wichtigkeit des Kontextes für die Interpretation einer impliziten Äußerung. Der Kontext kann sogar die Verwendung eines Indikators der illokutionären Rolle überflüssig machen: In konkreten Sprechsituationen geht oft aus dem Zusammenhang hervor, welche illokutionäre Rolle der Äußerung zukommt, ohne daß es notwendig wäre, sich eines expliziten Indikators der illokutionären Rolle zu bedienen, (ebd., S. 50) Obwohl Indikatoren der illokutionären Rolle nicht in jedem Fall notwendig sind, ist Searle davon überzeugt, dass ein Sprechakt stark an sprachliche Mittel gebunden ist. Wäre es z.B. möglich, alle illokutionären Akte unter dem Gesichtspunkt ihrer perlokutionären Wirkung zu analysieren, so könnten illokutionäre Akte unter Umständen auch ohne Bezug auf Regeln analysiert werden. Dann wäre Sprache aber bloß ein konventionelles Mittel, um bestimmte Wirkungen zu erreichen. Diese Überzeugung vertritt vor allem Grice. Searle bestreitet dies entschieden und kritisiert den Ansatz, die Illokution auf perlokutionäre Effekte zu reduzieren, mit folgenden Worten: Nach dieser Theorie könnte man den jeweiligen Akt genausogut innerhalb wie auch außerhalb einer Sprache vollziehen, und ihn im Medium der Sprache zu vollziehen würde bloß bedeuten, daß man mit Hilfe eines konventionellen Mittels tut, was man auch ohne ein solches könnte, (ebd., S. 113) Verwendungsregeln für sprachliche Mittel: Searle führt am Beispiel des ‘Versprechens’ vor, wie er sich eine Analyse der Struktur illokutionärer Akte vorstellt. Er unterscheidet dabei die Bedingungen für den Vollzug des Aktes von den „Regeln für den Gebrauch des Mittels, das die illokutionäre Rolle anzeigt“ (ebd., S. 96). Die Bedingungen sind, wie Searle selbst bemerkt, eng verwandt mit den ‘Gelingensbedingungen’ Austins. Aus einer Gruppe solcher Bedingungen glaubt Searle, „eine Gruppe von Regeln für die Verwendung der Mittel, die die illokutionäre Rolle anzeigen“ (ebd., S. 85) gewinnen zu <?page no="111"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 111 können. Am Beispiel des Versprechens zeigt er dann fünf verschiedene Arten von Regeln auf, mittels derer alle Arten von Sprechakten charakterisiert werden können sollen: Eine Regel des propositionalen Gehalts, eine Einleitungsregel, eine Aufrichtigkeitsregel, eine wesentliche Regel und eine Zusatzregel (ebd., S. 97). Searle betont, dass er sich bei seiner Analyse des ‘Versprechens’ auf explizite Versprechen beschränkt. In Abhebung davon lässt er diejenigen Versprechen unberücksichtigt, „die mittels elliptischer Ausdrücke, Andeutungen, Metaphern, usw. gemacht werden“ (ebd., S. 86). Leider belässt es Searle bei diesen beiläufigen Hinweisen auf sprachliche Mittel zur Realisierung von impliziten Sprechakten. Die Beschränkung auf explizite Versprechen bedeutet dann wohl auch, dass die genannten Regeln nur für explizite Sprechakte Gültigkeit haben. Nutzen für ISDn: Searle glaubt an die Existenz sprachlicher Indikatoren für Implizitheit, aber nur an sehr komplexe. Weiter zeigt er auf, dass solche Indikatoren nicht notwendigerweise lexikalisiert sein müssen. Er nennt das Beispiel eines Sprechakts, der an der sprachlichen Oberfläche keinen expliziten Indikator aufweist. Dennoch nennt Searle einige wenige sprachliche Mittel zur Realisierung von Implizitheit: Wortfolge (word order)* Indikator für illokutionäre Rolle Elliptische Ausdrücke (elliptical turns of phrase) z.B. implizites Versprechen Verbmodus wie z.B. Imperativ (mood of the verb) Indikator für Illokutionstyp (z.B. ‘Befehl’) Interpunktion (punctuation) Indikator für illokutionäre Rolle Betonung, Intonation (stress, intonation contour) Indikator für illokutionäre Rolle Andeutungen (hints) z.B. implizites Versprechen Metaphern (metaphors) z.B. implizites Versprechen * Die deutschen Bezeichnungen stammen aus der deutschen Übersetzung: Searle (1971/ 79). Tab. 8: Implizitheits-Indikatoren bei Searle Herbert Paul Grice: Wie bereits gesagt, kommt Grice bei der Rekonstruktion impliziter Information als fehlendes Argument einer Schlusskette ohne die Zuhilfenahme sprachlicher Mittel aus. Entsprechend ist sein Ansatz für die Suche nach sprachlichen Mitteln ziemlich unergiebig. Als einzige konkrete sprachliche Mittel erwähnt er Ironie, Metapher, Untertreibung und Übertreibung. Diese spielen eine Rolle bei der Missachtung der ersten Maxime der Qualität „Sage nichts Falsches“. Grice entwirft folgende Beispielsszenarien: <?page no="112"?> 112 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt (1) Ironie'. X, ein Vertrauter von A, hat dessen Geschäftsgeheimnis an die Konkurrenz verraten. Wenn A, der dies weiß, nun zu jemandem, der dies ebenfalls weiß, sagt: „X ist ein feiner Freund“, so muss er etwas anderes meinen als er sagt, da das Gesagte sinnlos ist. Die gemeinte Proposition muss dabei in engem Verhältnis zu der geäußerten stehen, wie dies für die gegenteilige Proposition „X ist kein feiner Freund“ der Fall ist. (2) Metapher: Grice erwähnt Metaphern als Hinweise auf Implikaturen, da sie einen logischen Kategorienfehler provozieren können. Die Äußerung „Du bist die Sahne in meinem Kaffee“ enthält nach Grice einen Kategorienfehler, da hier eine Person (‘Du’) mit einem Ding (‘Sahne’) gleichgesetzt wird. Da die Gleichsetzung einer Person mit einem Ding logisch unsinnig ist, kann nach Grice angenommen werden, dass der Sprecher dem Adressaten eine Eigenschaft zuschreiben will, bezüglich derer der Adressat der genannten Substanz gleicht. (3) Untertreibung: Von einer Person, die ihr gesamtes Mobiliar zertrümmert hat zu sagen: „Sie war leicht erregt“. (4) Übertreibung: „Jedes nette Mädchen ist in einen Matrosen verliebt“. Die von Grice entworfenen Szenarien wirken ziemlich holzschnittartig und sind nicht unbedingt prototypisch für das jeweilige sprachliche Mittel. Mit Ironie wird nicht immer das Gegenteil des Gesagten gemeint. Wenn z.B. A über B, der sich den Kopf an einer Lampe gestoßen hat, sagt: „Er ist halt einfach zu groß“, so meint A damit wohl nicht das Gegenteil des Gesagten. Eine Metapher muss auch nicht immer einen Kategorienfehler enthalten, um Implizitheitsindikator zu sein: „X macht gute Geschäfte, kämpft aber mit harten Bandagen“ kann von jedem menschlichen Wesen ausgesagt werden, ohne dass ein Kategorienfehler vorliegt. Es findet wie bei allen Metaphern eine Übertragung aus einem Bereich in einen anderen statt; hier aus dem Bereich des Boxsports in den des Alltags. Lediglich die ebenfalls mitübertragene Rolle des ‘Boxers’ passt besser zu einer Person, als diejenige, ‘die Sahne zu sein’ (zur kognitiven Metapherntheorie vgl. Liebert 1992). Untertreibung und Übertreibung können schließlich auch als Spielarten von Ironie betrachtet werden. Die Suche nach konkreten sprachlichen Mitteln als Indikatoren für Implizitheit bei Grice fördert letztlich nur folgende vier Hinweise zutage: <?page no="113"?> Was sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? 113 Ironie (irony) Indikator für Implikatur Metapher (metaphor) Indikator für Implikatur Untertreibung (meiosis) Indikator für Implikatur Übertreibung (hyperbole) Indikator für Implikatur Tab. 9: Lexikalische Implizitheits-Indikatoren bei Grice Fazit: Die Autoren der SAT nennen insgesamt 18 (ohne Doppelnennungen: 16) potentielle Indikatoren für Implizitheit. Obwohl die Anzahl der Nennungen absolut gesehen eher gering erscheint, stützt sie doch die Hypothese der vorliegenden Arbeit, dass es Implizitheitsindikatoren gibt. Mit Ausnahme von Grice betonen alle Autoren, dass es sprachliche Indikatoren für die implizite Bedeutung einer Äußerung gibt. Searle weist darauf hin, dass die Indikatoren auch komplex sein können und dann nicht lexikalisiert sein müssen, wenn die Art des Sprechakts aus dem Kontext klar hervorgeht. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Beispiele für Ironie und Metapher von Grice. Der Kontextbezug einer Äußerung entscheidet darüber, welche Interpretationen sinnvoll und welche sprachlichen Mittel zur Realisierung notwendig sind. Die SAT enthält erste Anhaltspunkte, welche sprachlichen Mittel potentielle Implizitheitsindikatoren sind. Sie ist allerdings nicht in der Lage, verlässliche Kriterien oder eine theoretische Begründung zu liefern. Eine empirische Überprüfung ihrer Hypothesen ist in der SAT aufgrund des sehr abstrakten Interesses an Sprache nicht vorgesehen. Da die SAT unsere Fragen nach lexikalischen Indikatoren für Implizitheit nur ansatzweise beantworten konnte, werden wir die Ergebnisse auf die ISDn übertragen und auf der von der SAT gelegten Spur weitersuchen. 4.2 Welche Indikatoren für Implizitheit gibt es in ISDn? Mit der Zusammenstellung, welche Indikatoren für Implizitheit in der SAT genannt wurden, soll der allgemeine theoretische Rahmen der Implizitheit verlassen werden, und der eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit, die sprachliche Diskriminierung, fokussiert werden. Auf eine kurze Bewertung der Relevanz der Ergebnisse der Theoriediskussion folgt die Übertragung der Ergebnisse auf die ISDn anhand authentischer Diskriminierungen. Die zusammengestellten sprachlichen Mittel wurden von der SAT als Mittel zur Realisierung von Implizitheit genannt, wenn auch sprachlich implizite Bedeutung <?page no="114"?> 114 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt bei den verschiedenen Autoren unter verschiedenen Bezeichnungen zu finden ist. Sie sollen hier entsprechend als Indikatoren für sprachliche Implizitheit in ISDn diskutiert werden. Es handelt sich dabei aber nicht um Indikatoren für Diskriminierung, sondern um Indikatoren für sprachlich implizit realisierte Äußerungen, von denen die ISDn eine Teilmenge darstellen. Für jeden der genannten Implikatoren soll deshalb möglichst ein passendes Beispiel gefunden werden, um so zu beurteilen, ob dieser lediglich einer theoretischen Überlegung entsprungen ist, oder ob er tatsächlich in der einen oder anderen Form in ISDn gefunden werden kann. Das Belegen mit Beispielen hat dabei aber keinerlei Beweischarakter, sondern ist lediglich als die Suche nach Belegstellen in einem authentischen Korpus zu verstehen. Die dabei verwendeten Beispiele stammen aus dem in Projekt B2 erhobenen Korpus von Diskriminierungen gegenüber Ausländern. Sie wurden in Form von Betroffenen- Interviews erhoben und anschließend transkribiert, (vgl. Wagner/ Huerkamp/ Jockisch/ Graumann 1990). Bei den in der SAT genannten sprachlichen Mitteln lassen sich vier verschiedene Arten unterscheiden: intonatorische, rhetorische, morpho-syntaktische und lexikalische Mittel. Die intonatorischen Mittel sollen nicht dargestellt werden, da unser Untersuchungsgegenstand schriftlich vorliegende ISDn sind (vgl. Kap. 0). Die Verteilung der von den Autoren der SAT genannten Indikatoren für Implizitheit auf die vier Arten sprachlicher Mittel fällt sehr unterschiedlich aus (vgl. Tab. 10). Frege und Austin, die sich eingehend mit sprachlichen Beispielsätzen beschäftigt haben, nennen je drei lexikalische Indikatoren. Searle, der u.a. die illokutionäre Rolle aus der propositionalen ableiten will, konzentriert sich auf morpho-syntaktische Mittel (4 von 7 Nennungen). Grice, der an den Bedingungen der Konversation interessiert ist, erwähnt fast nur pragmatische Mittel (3 von 4 Nennungen). Von den Autoren wurden insgesamt mit Abstand am meisten rein lexikalische Mittel genannt (8), etwa gleichviel morpho-syntaktische (5) und pragmatische (4). Lediglich eine Nennung von Searle bezog sich auf ein intonatorisches Mittel. Dies stützt nicht nur unsere Hypothese, dass es lexikalische Indikatoren für Implizitheit gibt, sondern würde auch die erweiterte Fassung stützen, dass die lexikalischen Indikatoren die wichtigsten, vielleicht sogar die häufigsten Indikatoren für Implizitheit sind. <?page no="115"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 115 Tab. 10: Verteilung der genannten sprachlichen Mittel aufdie vier Arten von Mitteln Rhetorische Mittel: An rhetorischen Mitteln ohne konkrete Lexikalisierungen nennt Searle die Andeutungen und Grice Ironie, Untertreibung und Übertreibung. Wenn wir uns an das in Kap. 4.1 Gesagte halten und ‘Untertreibung’ sowie ‘Übertreibung’ als Spielarten von 'Ironie’ betrachten, bleiben zwei rhetorische Mittel übrig. In beiden Fällen ist allerdings nicht klar, ob sie als Mittel für ISDn eingesetzt werden können, da es in ihrem Wesen liegt, so vage zu sein, dass damit keine eindeutige Stellung bezogen werden kann. Zwar sind sowohl in Anspielungen als auch in ironischen Äußerungen Bewertungen enthalten, aber diese sind so ambivalent formuliert, dass der Sprecher nicht auf eine positive oder negative Bewertung festgelegt werden kann. (6) Andeutung-, Bei mir kommen Deutsche immer zuerst. (7) Ironie-, So viele Ausländer hier. Ich kann nicht glauben, dass das Deutschland ist. In (6) ist an der Satzoberfläche lediglich eine Präferenz formuliert. Die Äußerungssituation - (6) wird in Anwesenheit eines ausländischen Kunden geäußert ruft eine Intergruppensituation mit einer entsprechend unterstellten Konkurrenz hervor. Mit der Erklärung einer Bevorzugung von Deutschen geht dann die Andeutung einer Benachteiligung von Ausländem einher. In (7) weiß der Sprecher natürlich ganz genau, dass er sich in Deutschland befindet. Die Verwunderung ist nur ironischer Natur. Die Tatsache, dass (7) ebenfalls öffentlich auch in Anwesenheit von Ausländern geäußert wird, macht (7) zu einer Diskriminierung. Die hier belegten rein rhetorischen Mittel finden sich bestimmt in vielen impliziten Äußerungen. Für unsere Zwecke problematisch ist aber ihre unscharfe Definition und die Tatsache, dass sie auf keine konkreten lexikalischen Mittel zurückgeführt werden können. <?page no="116"?> 116 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Morpho-syntaktische Mittel (ohne lexikalische Indikatoren): Unter ‘morphosyntaktischen Mitteln’ sollen hier grammatikalische Mittel verstanden werden, die sich morphologisch und/ oder syntaktisch niederschlagen. An rein morpho-syntaktischen Mitteln, ohne Berücksichtigung lexikalischer Indikatoren, nennt Austin den Satzmodus und Searle die Wortfolge, die Ellipse und den Verbmodus. Die ebenfalls von Searle genannte Interpunktion soll hier nicht besprochen werden, da in Searles Ausführungen völlig unklar bleibt, was er damit genau meint. (8) Satzmodus: Wieso bist du denn nicht in Korea geblieben, wenn dort alles viel besser war? (9) Wortfolge: Guck. Musst das machen so. (10) Ellipse: Deutschsein ist aber nicht nur die Sprache, sondern doch etwas anderes. (11) Verbmodus: Dabei könnte er froh sein, dass er hier leben kann. In (8) zeigt die Position des finiten Verbs vor dem grammatischen Subjekt hier das Personalpronomen ‘Du’ den Satzmodus der Frage an. Die Legitimität der Frage wird durch den angehängten Konditionalsatz scheinbar begründet. Der Sprecher unterstellt diese Begründung aber der angesprochenen Person und ist selbst vermutlich der gegenteiligen Meinung. Die Frage ist rein rhetorischer Natur: Der angesprochenen Person soll unterstellt werden, dass sie nur nach Deutschland gekommen sei, weil hier „alles viel besser ist“. Der Satzmodus als nichtlexikalischer sprachlicher Indikator ist allgemein schwierig zu handhaben einen Überblick über die Problematik gibt Meibauer (1987). Als Beispiel für die semantische Funktion der Wortfolge kann neben (8) auch (9) betrachtet werden. In (9) weisen die infinitive Verbform, das Fehlen einer Anrede mittels Personalpronomen sowie die ungewöhnliche Wortfolge - Adverb folgt nach dem Verb daraufhin, dass hier so genanntes „Ausländerdeutsch“ vorliegt. Dabei handelt es sich um die Imitation einer Deutschvariante, von der Einheimische fälschlicherweise glauben, sie würde von Ausländern gesprochen oder zumindest gut verstanden. In (10) sind im Nebensatz das finite Verb ‘ist’ und das Personalpronomen ‘es’ getilgt. Der Satz wirkt dadurch wie abgebrochen, was darauf hinweisen könnte, dass der Sprecher nicht genau spezifizieren kann oder will, worin ‘Deutschsein’ genau besteht. Der Sprecher scheint sich sicher zu sein, sich auf gemeinsames Wissen über die Kategorie ‘Deutsche’ und über deren Unterschiede gegenüber der Kategorie ‘Ausländer’ stützen zu können, denn implizit wird hier eine deutliche Abgrenzung zwischen den beiden Kategorien vorgenommen. Worin die Bewertung des Unterschieds besteht, wird zwar <?page no="117"?> fVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 117 nicht sehr deutlich, zumindest wird aber klar, dass sich der Unterschied nicht nur auf die Verschiedenheit der Sprache erstreckt, sondern auch auf wesentliche Bestandteile der eigenen Identität. In (11) zeigt der Verbmodus ‘Konjunktiv’ an, dass es sich um eine rein hypothetische Möglichkeit handelt, die, wie der Sprecher überzeugt ist, ganz und gar nicht zutrifft. Mit dem Ausdruck ‘hier leben’ wird die erwähnte Person implizit als Ausländer bezeichnet, in der vor Augen gestellten hypothetischen Möglichkeit schwingt der Vorwurf der Undankbarkeit mit. Die hier belegten morpho-syntaktischen Indikatoren sind für unsere Zwecke viel zu allgemein formuliert. Jede Kategorie müsste unterklassifiziert werden. So ist z.B. nicht jeder Satzmodus ein Implizitheitsindikator sonst wären alle Äußerungen per defmitionem implizit. Bestimmte Realisierungen des Satzmodus ‘Frage’ können unter bestimmten Bedingungen aber durchaus auf sprachlich implizit realisierte Information hinweisen. Ähnliche Einschränkungen bzgl. ihrer Anwendbarkeit gelten auch für die anderen morphosyntaktischen Indikatoren. Lexikalische Indikatoren: An lexikalischen Indikatoren nennt Frege Konjunktionen, Relativpronomina und epistemische Ausdrücke, Austin Hilfs- und Modalverben, Adverbien und Adverbiale sowie Konjunktionen und Konjunktionaladverbien, Searle und Grice Metaphern. In den nachfolgenden Beispielsätzen aus dem Projekt B2 (vgl. Kap. 1) ist die Ausländerkategorie oft nicht genannt, aus der Äußerungssituation ging jedoch jeweils klar hervor, dass Ausländer gemeint waren. (12) Konjunktion: Ich hab nichts gegen solche Leute, aber man weiß ja nie. (13) Relativpronomen'. Sie kriegen Sozialhilfe von unserem Staat, die wir von unseren Steuern bezahlen. (14) Epistemischer Ausdruck'. Die denken, dass sie hier gleich Arbeit kriegen. (15) Modalverb-, Die können sich einfach nicht anpassen. (16) Adverb'. In meiner Firma arbeiten noch immer viele Türken; sie arbeiten alle ordentlich. (17) Adverbiale-, Die kommen dort unten deshalb auch zu nichts. (18) Konjunktionaladverb: Außerdem verwöhnen die Schwarzen weiße Frauen, weil das für sie dort super ist. (19) Metaphern-, Die Ausländer überfluten unser Land. Das Boot ist voll. Die adversative Konjunktion ‘aber’ besagt in (12), dass trotz der vermeintlich vorurteilslosen Einstellung des Sprechers gegenüber Ausländern Vorsicht im <?page no="118"?> 118 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Umgang mit jenem Personenkreis geboten ist, der mittels ‘mit solchen Leuten’ klar von der Eigengruppe abgegrenzt und distanziert wird. Der mit dem Relativpronomen ‘die’ eingeleitete attributive Relativsatz in (13) geht weit über die bloße Feststellung eines Sachverhalts hinaus, indem er die Sozialhilfe der im Matrixsatz angesprochenen Personen mit den eigenen Aufwendungen für Steuern verknüpft und so den Vorwurf des Schmarotzertums erhebt. In (14) bringt der epistemische Ausdruck ‘denken’ zum Ausdruck, dass der im darauf folgenden dass-Satz geschilderte Sachverhalt nicht den Tatsachen entspricht, sondern eine Fehleinschätzung der realen Verhältnisse durch den beschriebenen Personenkreis darstellt. Das Modalverb 'können’ in (15) drückt eine unterstellte Disposition aus, die der betroffenen Personengruppe durch das ‘nicht’ abgesprochen wird. Diese vermeintliche Tatsache wird durch die Wahl des positiv konnotierten ‘anpassen’ negativ bewertet. Dabei wird aber implizit unterstellt, dass von den entsprechenden Personen erwartet werden müsste, dass sie sich ‘anpassen’. Das Adverb ‘ordentlich’ besagt in (16), dass die bezeichnete Ausländerkategorie gute Arbeit leistet. Das ist zwar eine positive Bewertung, das ‘aber’ signalisiert allerdings, dass dies nicht üblich ist. Das Hervorheben der guten Leistungen der genannten Personen zeigt deutlich die Erwartung, dass dem üblicherweise nicht so sei. Dies entspricht einer impliziten Abwertung der angesprochenen Kategorie, weshalb es sich hier um eine positive Diskriminierung handelt (vgl. Kap. 1.1) Das Adverbiale ‘dort unten' in (17) bezeichnet die Herkunft der fokussierten Personen in leicht abschätziger Weise und transportiert daher zugleich eine Bewertung. Das Konj unktionaladverb ‘außerdem’ in (18) weist daraufhin, dass die folgende Behauptung ein zusätzliches Argument für eine zuvor geäußerte Einschätzung darstellt. Der im Matrixsatz formulierte positive Sachverhalt (‘verwöhnen’) wird im Nebensatz dahingehend abgeschwächt, dass die angesprochene Kategorie nicht aus altruistischen Motiven handelt, sondern nur aus Statusgründen (‘weil das für sie dort super ist’) was einer impliziten Abwertung gleichkommt. Die zwei Äußerungen in (19) evozieren in Zusammenhang mit Ausländern ein Flut- und Katastrophen-Szenario. In der ersten Äußerung werden diese mit dem Hereinbrechen einer Katastrophe verglichen. Aufgrund des eindeutig negativ konnotierten Ausdrucks ‘überfluten' handelt es sich dabei allerdings um eine explizite Diskriminierung. In der zweiten Äußerung ist die Katastro- <?page no="119"?> 119 IVas sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? phe bildlich gesprochen bereits hereingebrochen und der Kampf um die äußerst beschränkten Ressourcen entbrannt. Beide Szenarien suggerieren die Legitimität von Notstandsgesetzen und die Notwendigkeit, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die hier belegten lexikalischen Indikatoren sind ihrer Natur gemäß greifbarer und schärfer abgrenzbar als die zuvor besprochenen Arten von Indikatoren. Sie sind für unsere Zwecke eindeutig am besten geeignet. Dennoch gilt auch hier, dass die einzelnen Wortklassen noch unterklassifiziert werden müssten. Längst nicht alle Konjunktionen oder gar Relativpronomina sind Implizitheitsindikatoren. Hier fehlt eine genauere Untersuchung der semantischen und pragmatischen Funktion der einzelnen Lexeme sowie der notwendigen Kontextbedingungen, unter denen sie die jeweilige Funktion entfalten können. In den bisher diskutierten Beispielen wird deutlich, dass oft mehre Mittel zugleich verwendet werden. So enthält etwa (8) auch eine Abtönungspartikel und ein Adverbiale, (9) eine imperative Verbform, (10) eine Konjunktion und ein Adverbiale, usw. Werden mehrere sprachliche Mittel geschickt kombiniert, so erhöht sich deren Wirkung im Satzzusammenhang. Hierzu soll ein Zeitungszitat betrachtet werden, das zwar nicht eine Diskriminierung enthält, sondern da es sich auf eine Person und nicht auf eine Kategorie bezieht eine Beleidigung: (20) Von Bucaram weiss man, dass er täglich joggt, daneben auch leidlich singen und tanzen kann wie aber sein Regierungsprogramm aussieht, bleibt bis heute ein Buch mit sieben Siegeln. (Neue Zürcher Zeitung, 9.7.1996) Das Zeitungszitat (20) handelt von Bucaram, dem am 8.7.1996 frisch gewählten Präsidenten Ecuadors. Mittels 'weiss man’ wird verdeutlicht, was allgemein über ihn bekannt ist: Für das Amt eines Staatspräsidenten eher belanglose, wenn nicht gar abträgliche Freizeitaktivitäten wie ‘joggen’, ‘singen’ und ‘tanzen’. Die kopulative Konjunktion ‘daneben’ verstärkt den Eindruck der Belanglosigkeit. Das Gradpartikel ‘leidlich’ wertet zusätzlich seine diesbezüglichen Fähigkeiten ab. Das adversative Konjunktionaladverb ‘aber’ stellt den zweiten Teil des Satzes in einen Gegensatz zum ersten. Im zweiten Teil wird das für einen Präsidenten relevante Regierungsprogramm angesprochen, und zugleich mit einer Metapher der Unergründlichkeit belegt. Mit Hilfe einer ganzen Kaskade von Implizitheitsindikatoren hat der Autor seine Meinung über Bucaram durch konsequentes Nutzen von Hintergrundwissen seiner Leserschaft deutlich zum Ausdruck gebracht, ohne ihn oder eine seiner Handlungen aber explizit abzuwerten. Kontextbedingungen: Über die genannten vier Arten von sprachlichen Mitteln hinaus haben sich Austin und Grice auch mit weiteren Faktoren zur Rea- <?page no="120"?> 120 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt lisierung von Implizitheit beschäftigt: mit den Kontextbedingungen. Austin schenkte den „Umständen“ einer Äußerung besondere Beachtung und nahm einige davon in seine „Gelingensbedingungen“ für Sprechakte auf (vgl. Kap. 3.3). So muss etwa eine bestimmte Handlung eine Äußerung begleiten, damit diese z.B. den Akt der Schiffstaufe vollziehen kann. Die Äußerung ,ja“ muss in einen bestimmten konventionellen Rahmen eingebettet sein, damit sie eine Trauung vollzieht. Der Sprecher muss nach Austin auch einen bestimmten kognitiven Zustand einnehmen, indem er die Äußerung ernst meint. Ähnlich hat Frege gefordert, dass eine Äußerung die „Kraft“ haben müsse, die Wahrheit der darin enthaltenen Aussage zu behaupten im Unterschied etwa zu Äußerungen eines Schauspielers, der lediglich vorgibt, einen wahren Satz zu äußern. Weiter fordert Austin, dass der Sprecher eine bestimmte Intention hat, z.B. die, ein gegebenes Versprechen auch zu halten. Austins Kontextbedingungen beschränken sich nicht nur auf die Äußerungssituation und die Kognition des Sprechers, sondern reichen auch weit in den Bereich des Faktischen hinein. So erhebt er etwa zur Bedingung, dass die Äußerung auch von allen Beteiligten ernst genommen werden müsse. Absurderweise richtet Au-, stin diese Forderung an den Sprechakt selbst, sodass der Akt der Äußerung dafür verantwortlich wird, wie er aufgefasst wird. In Grices Konversationsmaximen finden sich ähnliche Forderungen an den Akt der Äußerung. Auch hier wird der Akt des Verstehens nicht als eigenständiger Akt analysiert, sondern durch den Akt der Äußerung determiniert und mit Hilfe der Maximen quasi in diesen hineinverlegt. Die Autoren der SAT erkannten, dass eine Äußerung in einen sozialen und situationalen Kontext eingebettet ist, und dass dieser bestimmte Bedingungen erfüllen muss, damit mit einer Äußerung eine Handlung vollzogen werden kann. Diese Bedingungen formulierten sie aber einseitig für den Akt des Äußerns und ließen den Akt des Verstehens außer Acht. Ihr Kommunikationsmodell modelliert nur den Sprecher, nicht aber den Hörer. Sie analysieren den Sprechakt als einen monologischen und nicht als einen dialogischen Akt. Ähnlich wie in der logischen Semantik wird hier Sprache als Medium zum gezielten Gestalten von Botschaften und Akten und nicht als Medium zur wechselseitigen Kommunikation zwischen Individuen begriffen. Der Sprachauffassung der SAT soll in den folgenden Unterkapiteln ein Kommunikationsmodell entgegengehalten werden, das jede Äußerung als in einen sozialen und situationalen Kontext eingebettet versteht. Dieser Kontext ist von großer Bedeutung für die Interpretation der Äußerung, da er viele Bezüge aufzulösen vermag, die in der Äußerung selbst nicht expliziert, sondern nur angedeutet sind. Zu diesem Kontext gehört auch ein konkreter Hörer oder, wenn es sich um schriftlich fixierte Äußerungen handelt, ein mitgedachter Adressat (vgl. Iser 1972; 1974). Eine Äußerung ist m.E. immer als situierte Äußerung zu betrachten, auch wenn wir uns nicht stets aller Kontexte bewusst sind, in denen wir eine Äußerung realisieren. <?page no="121"?> IVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 121 Die reduzierte Sprachauffassung der SAT soll in den folgenden Unterkapiteln erweitert werden, indem wir die Rolle des Kontextes (Kap. 4.3) sowie des geteilten Wissens und der Kontextualisierung (Kap. 4.4) anhand von Beispielen diskutieren. Im Rahmen dieses erweiterten Kontextmodells lassen sich dann Implizitheitsindikatoren isolieren, die es mit lexikalischen Mitteln ermöglichen, auf Kontexteinheiten wie z.B. Wissensbestände zu verweisen, die an der Sprachoberfläche nicht explizit erwähnt sind (Kap. 4.5). Fazit: Für alle von den Autoren der SAT genannten sprachlichen Mittel zur Realisierung von Implizitheit konnten Belegstellen in authentischen ISDn gefunden werden. Dies zeigt, dass diese Mittel tatsächlich in ISDn verwendet werden, um implizite Bedeutung zu realisieren. Die in der SAT genannten sprachlichen Mittel scheinen somit auch außerhalb der in der SAT analysierten und entsprechend konstruierten Beispiele vorzukommen. Die hier erfolgte Abklärung hat aber keinerlei Beweischarakter, sondern muss vielmehr als ein vorläufiger Test eingestuft werden. Um den sprachlichen Mitteln den Status allgemeiner Implizitheitsindikatoren zuerkennen zu können, müsste deren Verwendung aber erst anhand eines größeren Korpus authentischer Sprache empirisch überprüft werden. Dies gilt insbesondere auch für die von der SAT am zahlreichsten genannten lexikalischen Mittel, die für den Zweck der vorliegenden Arbeit und insbesondere für die Fragestellung dieses Kapitels (F4) am interessantesten sind. Die anderen genannten sprachlichen Mittel können zwar eine Analyse von ISDn unterstützen, sind aber weniger zu deren Auffinden geeignet, da sie an der Sprachoberfläche nicht unmittelbar hervortreten, sondern selbst erst durch eine kurze grammatische Analyse erkannt werden können. Für den menschlichen Leser ist diese kurze grammatische Analyse kein besonderer Aufwand, für eine computergestützte Textrecherche ist der Aufwand hingegen beträchtlich. 4.3 Die Rolle des Kontextes in ISDn Obwohl die SAT einige Implizitheitsindikatoren genannt hat und diese auch mit authentischen ISDn belegt werden konnten, sind damit noch längst nicht alle sprachlichen Mittel zur Realisierung von ISDn gefunden. Um eine Grundlage für die Suche nach weiteren lexikalischen Indikatoren für ISDn zu legen, sollen hier einige über die SAT hinausweisenden Überlegungen aufgegriffen werden. In Kap. 3 konnte gezeigt werden, dass die Autoren der SAT in zunehmendem Maße das Zusammenspiel von Äußerung und Kontext als wichtigen Faktor für die Entstehung von Implizitheit erkannt haben. Um besser zu verstehen, wie eine ISD funktioniert, soll daher betrachtet werden, welche Rolle der Kontext bei der Realisierung einer ISD spielt. <?page no="122"?> 122 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Gemäß (13) enthält eine implizite Äußerung nichtlexikalisierte Bestandteile, die in der Äußerung selbst nur angedeutet sind. Der Hörer resp. der Leser muss die nichtlexikalisierte Bedeutung aus der impliziten Äußerung erschließen. Anhaltspunkte dafür, wie die Äußerung gemeint ist, sind oft in der Äußerung selbst in Form von Hinweisen und Andeutungen vorhanden. Diese allein reichen in der Regel aber nicht aus, um eine implizite Äußerung vollständig zu interpretieren. Hierzu bedarf es zusätzlicher Information, die im Kontext der Äußerung enthalten ist. Mit ‘Kontext’ ist dabei z.B. der soziale oder der situationale Kontext gemeint, nicht der textuelle Kontext (auch Kotext genannt). Welchen Einfluss Kontextinformation auf die Interpretation einer impliziten Äußerung hat, illustriert folgendes Beispiel: (21) Ein Saarländer ist genug. Dieser Satz enthält zunächst nur eine Kategorienbezeichnung und eine damit verbundene Feststellung, die eine implizite Bewertung erahnen lässt. Wer mit dieser Kategorie bezeichnet wird und welche Bewertung enthalten ist, geht aus (21) selbst nicht hervor. Hierzu bedarf es zusätzlicher Kontextinformation. Der Satz (21) wurde im Herbst 1990 kurz vor den Bundestagswahlen in Deutschland, in einem der so genannten „fünf neuen Länder“, geäußert. Weiter ist die Kenntnis der historischen Tatsache der deutschen Wiedervereinigung und etwas Wissen über die politischen Führungsgremien der ehemaligen DDR notwendig. Die Referenz von (21) kann mit Hilfe von Wissen um die damalige politische Situation aufgelöst werden: Der Kanzlerkandidat der SPD war Oskar Lafontaine, amtierender Ministerpräsident des Saarlandes. Die Bewertung lässt sich über weiteres historisches Wissen erschließen: Der letzte langjährige Staatsratsvorsitzende der DDR war Erich Honecker, der ebenfalls aus dem Saarland stammte. (21) bringt Lafontaine in direkte Verbindung mit dem unbeliebten, zum Symbol der ehemaligen DDR gewordenen Honecker, und konstituiert so vor dem Hintergrund der damaligen historischen Situation eine Abwertung von Lafontaine. Der Satz (21) wurde vom Parteivorsitzenden Waigel beim Aschermittwochstreffen der CSU (am 28.2.1990) zitiert, der diese nach eigenen Angaben auf einem Transparent bei einer Wahlveranstaltung einer ostdeutschen Partei gelesen hat. Die Äußerung war somit eindeutig für die Öffentlichkeit bestimmt und hatte das Ziel, den Kandidaten der SPD - Lafontaine zu diskreditieren. Bei (21) handelt es sich deshalb um eine Diskriminierung, da Lafontaine sich zwar mit Recht beleidigt fühlen konnte, er aber als Vertreter der Kategorie der Saarländer angesprochen und mitsamt der ganzen Kategorie pauschal abgewertet wurde. Das Beispiel zeigt, wie viel unterschiedliches Kontextwissen notwendig sein kann, um eine ISD erkennen und interpretieren zu können. Die meisten alltagssprachlichen Äußerungen haben allerdings keinen historisch eindeutig identifizierbaren Kontext wie (21). Ihre Interpretation ist aber in ähnlicher Weise von Kontextinformation abhängig. Der Kontext kann als Komplement <?page no="123"?> IVas sind Indikatoren für Implizitheil in ISDn? 123 zur ISD betrachtet werden, das alle Information enthält, die in der Äußerung selbst nicht explizit realisiert, aber dennoch angesprochen wird. In dieser Betrachtungsweise ist der Kontext eine Quelle von zusätzlichem Wissen, auf das in einer Äußerung Bezug genommen werden kann, ohne dass es in der Äußerung selbst expliziert werden muss. Bei einer Operationalisierung von Kontext als Wissen können verschiedene Kontextarten als unterschiedliche Wissensquellen betrachtet werden: Allgemeiner Wissenskontext: Der allgemeine Wissenskontext kann als die Gesamtheit des in einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft allgemein verfügbaren Wissens betrachtet werden. Dazu gehören z.B. Weltwissen (‘Die Erde ist rund und kreist um die Sonne’, ‘der Apfel fällt zu Boden’, usw.), Bildungswissen (Historische Tatsachen, Arithmetik, usw.) und Sprachwissen (Grammatik, Intonationsregeln, usw.). Das meiste Wissen, das in (21) stillschweigend vorausgesetzt wurde, gehört in diesen Bereich (s.o.). Ein weiteres Beispiel ist die Äußerung „Die Veranstaltung geriet außer Kontrolle“. Dank dem Allgemeinwissen, dass eine Veranstaltung keine handelnde Person ist, wird klar, dass diese auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, dass sie ‘außer Kontrolle’ gerät. Implizit wird aber die Verantwortung für diese Entwicklung den Veranstaltern gegeben, obwohl diese in der Äußerung selbst gar nicht genannt werden. Sozialer Kontext: Der soziale Kontext umfasst Wissen über die verschiedenen sozialen Gruppen einer Gesellschaft, sowie Wissen über Verhaltensweisen und Strategien im Umgang mit Mitgliedern der verschiedenen sozialen Gruppen. Hierzu zählt auch Sprachverwendungswissen („Wen spreche ich wie an? “, „Was sage ich auf einer Hochzeit? “, usw.). Soziales Wissen unterliegt wie die Gesellschaft selbst einem starken Wandel. So ist z.B. die Bezeichnung ‘Fräulein’, die früher die korrekte Bezeichnung für eine unverheiratete Frau war, heute nicht mehr angebracht. Situationskontext: Eine Äußerung findet immer in einer konkreten Kommunikationssituation statt. Das Wissen darum, um welche Art von Situation es sich handelt und was deren Eigentümlichkeiten sind, aber auch inwiefern die konkrete Situation von einer typischen Situation abweicht, ist Teil des situationalen Wissens. Dazu gehören auch Hypothesen über die Voraussetzungen der Kommunikationssituation, über die Kommunikationskonstellation und die Verteilung der Rollen auf die Kommunikationspartner, sowie sämtliche Partner-Hypothesen. Wissen über soziale Kategorien ist von großer sozialer Relevanz, da es in der Regel ein Rolleninventar für diese Kategorie beinhaltet und so bestimmte Rollenerwartungen verfügbar macht (vgl. Kruse/ Weimer/ Wagner 1988). Ein Angestellter wird sich z.B. im Gespräch mit seinem Vorgesetzten viel vorsichtiger äußern, als im Kreise seiner Vereinskollegen, und u.a. darauf achten, diesen nicht zu unterbrechen. <?page no="124"?> 124 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Interaktionskontext: Jedes Gespräch ist eine Interaktion zwischen Kommunikationspartnern. Im Verlauf der Interaktion konkretisieren sich die Rollen der Kommunikationspartner und es werden Positionen eingenommen, die die Beteiligten ohne Gesichtsverlust nicht mehr aufgeben können. Das Interaktionswissen ist für die weitere Planung und Organisation des Gesprächs besonders bedeutsam. So wird z.B. ein Angestellter, der eben eine Gehaltserhöhung gefordert hat, im selben Gespräch eher geneigt sein zu versuchen, Kompetenz zu demonstrieren, als Fehler einzugestehen. 4.4 Geteiltes Wissen und Kontextualisierung Bezugnahme auf Kontextwissen: Zusätzlich zu den verschiedenen Arten von Wissenskontexten muss auch die Verfügbarkeit derselben betrachtet werden. Die Bezugnahme auf Kontextwissen kann nur dann erfolgreich sein, wenn das entsprechende Wissen nicht nur für den Sprecher, sondern auch für den Hörer verfügbar ist. Allgemein in einer Gesellschaft oder Kultur verfügbar ist aber lediglich das Allgemeinwissen, das Schütz (1962) common stock of knowledge genannt hat. Alle anderen Wissenskontexte sind in der Regel sehr unterschiedlich verteilt. Soziales Wissen wird oft in einer bestimmten sozialen Gruppe erarbeitet und ist zunächst nur innerhalb dieser Gruppe verfügbar. Solche Wissensbestände bezeichnet Serge Moscovici als gruppenspezifisches Wissen (vgl. hierzu Wagner/ Theobald/ Heß/ Schwarz/ Kruse 1989). Für die Mitglieder dieser Gruppe sind bestimmte Sachverhalte fraglos gegeben (vgl. Schütz/ Luckmann 1979, S. 30ff.) und müssen nicht mehr explizit thematisiert werden. Die verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft stehen zueinander in Kontakt und tauschen in öffentlichen Diskursen ihr soziales Wissen aus. Auch über die Medien wird spezifisches Wissen verbreitet und kann so in den allgemeinen Wissensbestand einer Gesellschaft Eingang finden. In der Regel kann sich der Sprecher aber nicht darauf verlassen, dass der Hörer das vorausgesetzte Wissen auch tatsächlich mit ihm teilt im Sinne von ‘daran teil haf. Das Wissen darüber, dass der Hörer über ein bestimmtes Wissen ebenfalls verfügt, wird wechselseitig geteiltes Wissen {mutual knowledge) (als Übersicht vgl. die Beiträge in Smith 1982) genannt. Dieser Terminus wurde von Lewis (1969) eingeführt, von Schiffer (1972) für sprachliche Bedeutung genutzt und von Sperber/ Wilson (1986) in die linguistische Pragmatik- Diskussion übernommen. ISDn sind wie implizite Äußerungen im Allgemeinen sehr stark davon abhängig, dass die Kommunikationspartner erkennen, worauf sich der implizite Anteil einer Äußerung bezieht. Zur Sicherung der Kommunikation muss der Sprecher also darauf achten, dass der Hörerin erfasst, (a) dass er Kontextwissen als geteiltes Wissen voraussetzt und (b) um welches Wissen es sich dabei handelt. Entsprechend enthalten implizite Äußerungen sehr oft Hinweise da- <?page no="125"?> Was sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? 125 rauf, (a) dass Kontextwissen abgerufen wird, resp. (b) um welches Wissen es sich handelt. Folgende zwei Beispiele mögen dies erläutern: (22) Bekanntlich sind die ganz anders (23) Das warja klar, dass das so kommen musste In (22) wird mittels des Demonstrativpronomens ‘die’ auf eine nicht näher bezeichnete Gruppe von Personen hingewiesen und diese Gruppe zugleich von der Eigengruppe abgegrenzt. Von dieser Gruppe wird mittels des prädikativen Adjektivs ‘anders’ ausgesagt, dass diese von der Eigengruppe weit entfernt ist, da sie über völlig andere Merkmale verfügt. Das Modalwort ‘bekanntlich’ fungiert als Implizitheitsindikator, der die Andersartigkeit als allgemein bekannte Tatsache hinstellt, die sowohl dem Sprecher, als auch dem Hörer bekannt sein muss. Zugleich wird mit dem ‘bekanntlich’ von dem Hörer eine mit der eigenen übereinstimmende Beurteilung eingefordert. Worin die Andersartigkeit besteht, wird in (22) allerdings nicht explizit gesagt. In (23) ist von einem Ereignis die Rede, auf das im Dass-Satz eindeutig Bezug genommen wird, welches aber nicht näher bezeichnet wird. Aufgrund des vorausgegangenen Textes resp. Diskurses oder aufgrund der Situation, in der (23) geäußert wird, muss der Hörer in der Lage sein, zu erkennen, welches Ereignis gemeint ist. Der Matrixsatz „Das war klar“ zeigt an, dass das Eintreten des Ereignisses vom Sprecher erwartet wurde. Durch die Abtönungspartikel ‘ja’ weist der Sprecher implizit darauf hin, dass er bei dem Hörer eine ähnliche Erwartung bezüglich des zur Diskussion stehenden Ereignisses voraussetzt. Kontextualisierungshinweise: Cook-Gumperz und Gumperz haben sich speziell mit der Rolle des Kontextes für die Verständigung auseinander gesetzt. In Cook-Gumperz/ Gumperz (1976) prägten sie den Begriff Kontextualisierung für den Vorgang, sprachliche Äußerungen interpretierbar zu machen, indem ein entsprechender Kontext konstruiert wird. Sie vertreten allerdings einen dynamischen Kontextbegriff, indem sie Kontextualisierung als Interaktion zwischen Sprecher und Hörer verstehen. Nach Auer, der diesen Ansatz ebenfalls vertritt, unterscheidet sich die dynamische von der statischen Kontext-Auffassung folgendermaßen: „Kontext wird nicht als material gegeben betrachtet, sondern als interaktiv produziert angesehen“ (Auer 1986, S. 23). Auer betrachtet dabei Kontexte ebenso wie wir als schematische Wissensbestände, die „Informationen verschiedenen Typs in unterschiedlicher Stärke aneinanderknüpfen und so die Verarbeitung und Produktion sprachlicher und anderer Handlungen erleichtern [...]“ (ebd., S. 41). Für eine erfolgreiche Kontextualisierung ist es wichtig, dass Sprecher und Hörer auf dieselbe Kontextinformation zurückgreifen, d.h., „ob ein objektiv <?page no="126"?> 126 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt vorliegendes Kontextmerkmal (nicht nur individuell, sondern wechselseitig) wahrgenommen, d.h. zu einem Teil der Interaktion gemacht wird“ (ebd., S. 23). Um die geeigneten Schemata aus dem Hintergrundwissen verfügbar zu machen, werden in Kontextualisierungsverfahren mit Hilfe von Kontextualisierungshinweisen die korrespondierenden Schemata als Kontext indiziert. Das Ergebnis ist eine situierte Interpretation, die eine Äußerung nicht isoliert, sondern eingebettet in einen eigens dafür konstituierten Kontext interpretiert. Das Verfahren der Kontextualisierung mit allen beteiligten Komponenten definiert Auer wie folgt: Unter Kontextualisierung wollen wir all jene Verfahren verstehen, mittels derer die Teilnehmer an einer Interaktion für Äußerungen Kontext konstituieren. Solche Verfahren stellen zwischen zwei essentiellen Bestandteilen eine Verbindung her: einem empirisch gegebenen (beobachtbaren) Datum, das der kontextualisierende Teilnehmer aus einem Zeichenvorrat sprachlicher und nicht-sprachlicher Art auswählt dem Kontextualisierungshinweis („contextualization cue“) und einer Komponente des Hintergrundwissens. (Auer 1986, S. 24) Die Kontextualisierungshinweise können gemäß dieser Definition sowohl ‘sprachlicher’ als auch ‘nicht-sprachlicher’ Art sein. Die hier von Auer verwendete Terminologie scheint mir eine etwas unglückliche Übertragung des englischen ‘verbal’ und ‘nonverbal’ zu sein. Kann das englische ‘verbal’ in etwa mit ‘wortgebunden’ übersetzt werden, so ist die Bedeutung des deutschen ‘sprachlich’ viel allgemeiner. Wo ‘Blickverhalten’ problemlos als ‘nicht-sprachliches’ Mittel akzeptiert wird, ist es m.E. nicht möglich, bei Prosodie von ‘nicht-sprachlich’ zu sprechen: Der Einsatz prosodischer Mittel in der Kommunikation ist an das Äußern von sprachlichen Ausdrücken gebunden und verleiht diesen einen bestimmten Sinn und eine bestimmte Funktion. Da die prosodischen Mittel beim Akt des Äußerns auftreten, ist der Ausdruck ‘paraverbal’ hingegen angemessen. Aus diesem Grund ist die Übersetzung ‘verbal’ vs. ‘nonverbal’ resp. ‘paraverbal’ m.E. zu bevorzugen. In der Konversationsanalyse (vgl. u.a. Kallmeyer/ Schütze 1976), in ethnomethodologischen Ansätzen (vgl. z.B. Spiegel 1995) sowie in sozialpsychologischen Ansätzen (vgl. z.B. Kendon 1973) sind allerdings hauptsächlich non- und paraverbale Kontextualisierungshinweise untersucht worden: Blickverhalten (Goodwin 1977/ 1981; Kendon 1967), Code-Switching (Auer 1984), prosodische Veränderung von Tempo und Tonhöhe (Gumperz 1982), usw. Auer (1986) wendet sich zwar gegen die Reduktion des Kontextualisierungsbegriffs auf den nonverbal-prosodischen Bereich, weil diese „zu dem verhängnisvollen Irrtum Anlass geben könnte, die Konstitution von Kontexten sei eine Aufgabe, die die Teilnehmer mit anderen Mitteln lösen als jenen, die sie zur Herstellung ‘referentieller Bedeutungen’ einsetzen“ (ebd., S. 41). Dennoch nennt er selbst kaum verbale Kontextualisierungshinweise, sondern <?page no="127"?> fVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 127 verweist auf die Arbeiten der Konversationsanalyse, insbesondere auf Kallmeyer (1978) und auf Kallmeyer/ Schütze (1977). Der Terminus ‘Kontextualisierungshinweis' weist bei ISDn große Ähnlichkeit mit dem in der vorliegenden Arbeit verwendeten Terminus Tmplizitheitsindikator' auf. Im Gegensatz zu jenem ist er aber theoretisch an den Kontextualisierungsbegriff von Gumperz gebunden. Die Verfahren der Kontextualisierung setzten eine verbale Interaktion und Teilnehmer voraus, die diese Verfahren aktiv nutzen. Da wir uns hier auf schriftliche Texte, wie sie in Printmedien verkommen (vgl. Kap. 1.3), beschränken, ist diese Voraussetzung nicht erfüllt. Texte in Printmedien sind das Ergebnis eines Produktionsprozesses, der höchstens als virtuell interaktiv bezeichnet werden könnte, insofern der Rezipient bei der Produktion mitberücksichtigt wird (vgl. Iser 1972), resp. insofern dabei authentische Interaktionen beschrieben werden. Für den Zweck der vorliegenden Arbeit kann der Kontextualisierungsbegriff daher nicht verwendet werden. 4.5 Weitere lexikalische Implizitheitsindikatoren in ISDn Die Operationalisierung des Kontextes einer ISD als geteiltes Wissen (Kap. 4.3) sowie die kurze Diskussion der Idee, dass geteiltes Wissen mit Hilfe sprachlicher Hinweise als Kontext verfügbar gemacht werden kann (Kap. 4.4) ,eröffnen neue Perspektiven für die Suche nach lexikalischen Implizitheitsindikatoren. Wenn Kontext als kognitives Schema abgerufen werden kann, sind keine expliziten Indikatoren, wie z.B. 'hiermit verspreche ich’ oder ‘folgende Aussage halte ich für falsch’ notwendig, um eine Sprecher- Einstellung zu realisieren. Es genügen eher vage Ausdrücke, wie ‘ich denke, dass’ oder ‘vermutlich’, um auf als wechselseitig geteilt vorausgesetzte kognitive Schemata im Wissenskontext zu verweisen. Durch den Verweis auf kognitive Schemata eröffnen sich ganz neue Kommunikationsebenen. Die SAT hat bereits gezeigt, dass die propositionale Sachverhaltsdarstellung nicht die einzige Funktion einer sprachlichen Äußerung ist. Allerdings ist die von der SAT analysierte Ebene der Performativität nur eine unter mehreren. Zur Ebene der Sachverhaltsdarstellung treten bspw. die Ebene der sozialen Identitäten und Beziehungen, auf welcher die Rollen und Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern konstituiert werden, und die Ebene der Interaktionsmodalitäten, auf der Modalitäten, wie Ernst, Scherz, Ironie, usw. geregelt werden, hinzu (vgl. hierzu Kallmeyer 1977; 1985). Implizitheitsindikatoren verweisen auf im Kontext enthaltenes Wissen und rufen so kognitive Schemata auf verschiedenen Ebenen ab. Auf der Suche nach weiteren lexikalischen Indikatoren sollen in diesem Kapitel kognitive <?page no="128"?> 128 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Ausdrücke, Partikeln und Modalwörter vorgestellt und auf ihre Eignung als lexikalische Implizitheitsindikatoren hin überprüft werden. Kognitive Ausdrücke: Wenn Kommunikation als ein sich auf mehrere Ebenen erstreckender kognitiver Prozess betrachtet wird, verliert die Sachverhaltsebene ihr Primat über die sprachliche Bedeutung. Die Proposition ist nicht mehr die idealtypische Bedeutung einer Äußerung, wie dies in der Tradition der logischen Semantik der Fall war. Eine Äußerung wie „Die Erde ist rund“ kann dann als implizite Variante der Äußerung „Ich glaube, die Erde ist rund“ betrachtet werden. Ähnliches gilt für die Beziehung zwischen den Äußerungen „Ich werde hier sein“ und „Ich verspreche, ich werde hier sein“, wie sie die Autoren der SAT zum Anlass für ihre Unterscheidung von ‘implizit performativ’ und ‘explizit performativ’ genommen hatten. Wenn die Beziehung zwischen expliziter und impliziter Äußerung der Beziehung zwischen Einheiten verschiedener Ebenen entspricht, wird deutlich, dass die gegenseitige Zuordnung von expliziten und impliziten Äußerungen nicht so einfach sein kann, wie dies die Autoren der SAT glaubten. Die Äußerung „Ich werde hier sein“ kann je nach Situation auch mit der Äußerung „Ich warne dich: Ich werde hier sein“ korrespondieren. In der Folge sollen nun kurz einige Ansätze vorgestellt werden, die aufzeigen, wie mittels kognitiver Ausdrücke auf andere Gesprächsebenen als auf die Sachverhaltsebene zugegriffen werden kann. Russell beschäftigte sich seit seinem Aufsatz „Meinong's Theory of Complexes and Assumptions“ (1904) mit Einstellungen gegenüber dem Inhalt von ganzen Sätzen und prägte in seinem Aufsatz „An Inquiry into Meaning and Truth“ (1940) dafür den Terminus propositionale Einstellung, resp. propositional attitude. Solche Einstellungen sind u.a. ‘etwas glauben’, ‘etwas wissen’, ‘etwas sehen’, ‘etwas denken’ und ‘sich erinnern’ (als Übersicht vgl. Hintikka 1975). Ob es sich dabei um Einstellungen gegenüber Sätzen, Propositionen oder Sachverhalten handelt, wird seither immer wieder diskutiert. Der Terminus ‘Einstellung’ wird in der Psychologie seit Mitte 19. Jh. mit verschiedenen Bedeutungen benutzt. In der heutigen Sozialpsychologie wird er u.a. bei der Untersuchung von Vorurteilen verwendet (als Übersicht vgl. Schäfer/ Petermann 1988). Verben wie ‘etwas wissen’, ‘etwas erkennen’, usw., werden epistemische Ausdrücke genannt, da sie sich auf die Art und Weise des Erkennens von Sachverhalten beziehen. Der Terminus ‘epistemisch’ wurde vom Logiker W. E. Johnson (1921) in die sprachanalytische Philosophie eingeführt. Im engeren Sinne bezeichnete ‘epistemisch’ ursprünglich nur ‘Wissen’, ohne ‘Glauben’. In dem heute gebräuchlichen weiteren Sinne umfasst ‘epistemisch’ aber „alle für die Erkenntnis relevanten Phänomene einschließlich Glauben, Wahrnehmen, usw.“ (Falkenberg 1989b, S. 2). In diesem weiten Sinne ist ‘epistemisch’ quasi synonym zu kognitiv, wie es in der neueren, kognitiv orientierten Psychologie verwendet wird. Da die vorliegende Arbeit sich mit dem Phänomen der ISO sowohl aus linguistischer als auch aus sozial- und sprachpsychologischer Sicht beschäftigt, soll <?page no="129"?> IVas sind Indikatorenfür ImpUzitheit in ISDn? 129 hier der Terminus ‘kognitiv’ den Vorzug erhalten. Weiter soll statt von ‘Einstellung’ von kognitiver Bezugnahme die Rede sein, insofern eine ‘Einstellung’ immer auf etwas bezogen ist und folglich eine ‘Bezugnahme’ enthält. Dieser Terminus ist viel weiter gefasst als ‘Einstellung’ und beinhaltet auch vage Einschätzungen wie bspw. ‘wohl’ oder ‘vielleicht’. Mehrere Autoren haben sich mit der Semantik einzelner Arten von kognitiven Ausdrücken beschäftigt, insbesondere mit der Semantik verschiedener Verbgruppen. Wunderlich (1969b) analysiert die verba dicendi und ihre Funktion als Redeeinleitung. Seine Charakterisierung der Redewiedergabe ließe sich ohne große Änderungen auf die Gesamtheit der kognitiven Ausdrücke anwenden: Bei jeder Redewiedergabe, auch der wörtlichen, wird der situative Kontext der Rede kurz beschrieben oder gekennzeichnet. [...] Weiter kann markiert werden, an welcher Stelle innerhalb eines Gesprächs die Äußerung fällt, die Funktion und Stellung des Sprechers zum Angesprochenen kann bezeichnet, die Ausführlichkeit, Lautstärke, Intonation der Äußerung charakterisiert, die Intention des Sprechers angedeutet werden, schließlich können begleitende Gesten, Reaktionen, Handlungen angegeben werden. (Wunderlich 1969b, S. 101) Falkenberg (1989c) untersucht perzeptive Verben und stellt die Frage, „ob die Gemeinsamkeiten von perzeptiven und kognitiven Verben es rechtfertigen, beide semantisch gleich zu behandeln“ (ebd., S. 29). Er untersucht z.B. verschiedene syntaktische Komplemente zum Verb ‘sehen’ und deren semantischen Beziehungen untereinander. In Bezug auf die Ausgangsfrage sieht Falkenberg „als einzig gangbaren Weg“ (ebd., S. 43) die Reduktion der propositionalen Konstruktion der perzeptiven Verben auf diejenige von anderen kognitiven Ausdrücken, wie z.B. ‘glauben’. Darin folgt er zwar der Tradition der logischen Semantik: Sie habe „beispielhaft bei Flintikka die propositionale Konstruktion für grundlegend erklärt“ (ebd.). Gleichzeitig warnt er aber davor, „daß auch die propositionale Perspektive zum Dogma werden kann, das manche Fakten unerklärt läßt oder nur auf sehr künstliche Weise erfaßt“ (ebd.). Während die kognitiven Verben die Art der kognitiven Bezugnahme ähnlich wie die explizit performativen Verben die Art der Illokution explizit machen, gibt es auch sprachliche Mittel, die eine kognitive Bezugnahme implizit realisieren. Dies sind u.a. Partikeln wie in (22) und Modalwörter wie in (23), die in den folgenden Abschnitten eingehend besprochen werden sollen. Doherty (1985) untersucht z.B. unter dem Titel Epistemische Bedeutung die Funktion einiger Abtönungspartikeln, die sie Einstellungspartikeln nennt. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dabei den grammatischen Kontexten dieser Partikeln. Zu diesen gehören „Satzadverbien, Modalverben, die Satzmodi [...], die Satznegation, bedeutungsmäßig verwandte Prädikate und der Kontrastak- <?page no="130"?> 130 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt zent [...]“ (ebd., S. 7). Sie wendet sich dagegen, diese Partikeln rein kommunikativ-handlungsbezogen zu interpretieren und versucht, die verschiedenen Funktionen einer Partikel in verschiedenen grammatischen Kontexten auf eine gemeinsame lexikalische Grundbedeutung zurückzuführen: Nicht zufällig sind Einstellungspartikeln wie „doch“, ,ja“, „etwa“, etc. lange Zeit als unselbständige Wörter der deutschen Sprache, als „Füllwörter“, denen keine eigene Bedeutung zukommt, abgewertet worden. Ihre extreme semantische Wandelbarkeit, die Vielfalt der ihnen zugeordneten Bedeutungsvarianten ist aber nur Ausdruck ihrer starken Kontextabhängigkeit. Auf Grund einer mangelhaften Differenzierung zwischen den Bedeutungsanteilen der Partikeln und denen ihres jeweiligen Kontextes wurden den Partikeln immer wieder fälschlicherweise semantische Elemente ihres Kontextes zugeschrieben. Wie die systematische Betrachtung der einschlägigen Kontextklasse im folgenden beweisen helfen soll, haben die Einstellungspartikeln jedoch eine invariante Bedeutung, die den verschiedenen kontextuell bedingten Varianten zugrunde liegt. (Doherty 1985, S. 7) Doherty erarbeitet ihr Bedeutungs-Konzept auf der Grundlage der von Bierwisch (1979; 1983) vorgeschlagenen Unterscheidung in sprachliche Bedeutung, Äußerungsbedeutung und Interaktionsbedeutung {kommunikativer Sinn). Entsprechend ist es ihr Ziel, die Äußerungs- und die Interaktions- Bedeutung nicht unabhängig, sondern als an die sprachliche Bedeutung angebunden zu betrachten. Sie diskutiert auch die Unterscheidung von propositionaler und nicht-propositionaler Bedeutung, lehnt dabei aber die Unterscheidung der SAT zwischen propositionalen und illokutiven Akten ab. Dies begründet sie damit, dass die Performativität einer Bedeutung dann auf die „Ich- und Jetzt-Bezogenheit nicht-propositionaler Bedeutungen“ beschränkt wäre, womit Einstellungen und Urteile, die sich nicht auf einen Sprecher, sondern auf einen Gegenstand oder auf einen Sachverhalt beziehen, nicht performativ wären. Doherty (1985) leistet insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Abtönungspartikeln als einheitliches semantisches Phänomen mit einer eigenständigen lexikalischen Bedeutung. Partikeln: Nachdem die Partikeln bereits mehrfach erwähnt wurden, z.B. in (23) und auch schon einige ihrer semantischen Merkmale diskutiert wurden (vgl. den Ansatz von Doherty), sollen die Partikeln nun als eigene Wortklasse eingeführt werden. Da es bislang keine umfassende Theorie der Partikeln gibt, wird der Terminus ‘Partikel’ in Grammatiken und in linguistischen Arbeiten sehr uneinheitlich verwendet. Zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen treten dabei auf: (1) eine synsemantische Wortart ohne Formveränderungen und (2) die Klasse aller unflektierbaren Wörter. In unserem Ansatz soll von ‘Partikel’ im Sinne von (1) als einer eigenständigen Wortklasse die Rede sein. <?page no="131"?> Was sind Indikatoren für Implizitheit in ISDn? 131 In den letzten Jahren sind zwei umfassende Werke zu den Partikeln erschienen: Wolski (1986), der sein Werk als einen „Beitrag zur praktischen Lexikologie“ versteht und Helbig (1988), der mit seinem „Lexikon deutscher Partikeln“ einerseits einem breiten Benutzerkreis ein „genaueres Bild dieser Wortklasse vermitteln“, zugleich aber auch „über die praktische Nutzung des Lexikons hinaus über die gleichermaßen interessanten wie schwierigen Fragen der Partikeln unter theoretischem Aspekt informieren will“ (ebd., S. 6). Wir schließen uns in der Folge dem Ansatz von Helbig (1988) an, der ‘Partikel’ wie folgt definiert: In einem noch engeren Sinne werden unter Partikeln nach syntaktischen Kriterien nur solche unflektierbaren Wörter verstanden, die eine eigene Wortklasse darstellen und sich von den Adverbien und Modalwörtern, erst recht von den Präpositionen und Konjunktionen unterscheiden. (Helbig 1988, S. 20) Syntaktische Merkmale: Aus dieser Interpretation des Terminus ‘Partikel’ lassen sich nach Helbig (ebd., S. 21f.) folgende Merkmale ableiten, die die Partikeln von anderen Wortklassen abgrenzen: (1) Partikeln können keine selbstständigen Satzglieder bilden, sondern nur Teile von Satzgliedern sein. Dies unterscheidet sie von Adverbien und Modalwörtern. (2) Partikeln können in der Regel nicht allein die erste Stelle im Satz vor dem finiten Verb einnehmen. Bsp.: „Er hat die Prüfung ziemlich gut bestanden“; aber nicht: *„Ziemlich hat er die Prüfung gut bestanden“. Bei Adverbien ist dies hingegen möglich: „Er hat die Prüfung diesmal gut bestanden“ -> „Diesmal hat er die Prüfung gut bestanden“. Dasselbe gilt für Modalwörter: „Er hat die Prüfung sicher gut bestanden“ - ► „Sicher hat er die Prüfung gut bestanden“. (3) Partikeln können im Unterschied zu den Adverbien und Modalwörtern nicht als selbstständige Antwort auf eine Frage verwendet werden: „Wie gut hat er die Prüfung bestanden? “ - “"„Ziemlich“. (4) Partikeln tragen nichts zu den Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen bei und können daher gemäß der logischen Semantik ohne Informationsverlust eliminiert werden. Dies erklärt auch, weshalb Frege die Partikeln bei der Konstruktion seiner Begriffsschrift (1879/ 1977) nicht berücksichtigt hat. (5) Partikeln modifizieren die Äußerung in semantischer oder pragmatischer Weise. Die Art der Modifikation bestimmt über ihre Zuordnung zu einer Subklasse. <?page no="132"?> 132 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Zu Merkmal 2) muss folgende Einschränkung gemacht werden: Es gibt eine Gruppe von Abtönungspartikeln (allerdings, immerhin, jedenfalls, ohnehin, schließlich, sowieso, überhaupt), die durchaus erststellenfähig ist. Diese Gruppe hat auch keine Homonyme in anderen Wortklassen. Bsp.: „Er hat immerhin gut gefrühstückt“ — ► „Immerhin hat er gut gefrühstückt“. Die Abgrenzung der Partikeln gegenüber anderen Wortklassen wird dadurch erschwert, dass außer der oben genannten Gruppe die meisten als Partikeln verwendeten Lexeme auch anderen Wortklassen zugehören können. Das Phänomen der klassenübergreifenden Homonymie oder besser Homographie wäre leichter zu erklären, wenn die Wortklassen mit homographen Lexemen (Adverbien und Konjunktionen) semantisch verwandte Funktionen erfüllen würden wie die Partikeln. Zwar modifizieren Adverbien wie Partikeln die Satzglieder semantisch, deren Bestandteil sie sind. Im Unterschied zu den Partikeln modifizieren die Adverbien aber immer das Satzprädikat und können auch selbstständige Satzglieder bilden. Die Konjunktionen sind im Unterschied zu den Partikeln nicht Bestandteile von Satzgliedern, sondern verbinden Satzglieder miteinander und beziehen diese semantisch aufeinander. Semantisch lassen sich die betroffenen Wortklassen somit relativ gut abgrenzen, das Phänomen der homographen Lexeme in anderen Wortklassen lässt sich damit aber nicht erklären. Semantische Subklassen: Die Subklassifizierung der Partikeln ist ebenfalls schwierig und umstritten. Helbig (1988, S. 31) schlägt folgende sechs Subklassen vor: (1) Abtönungspartikeln: Drücken die Stellung des Sprechers zum Gesagten aus. Bsp.: „Peter geht halt nicht gerne zur Schule“. (2) Gradpartikeln: Fügen dem Satz eine quantifizierende und/ oder eine skalierende Interpretation hinzu und markieren bestimmte Präsuppositionen bzw. Implikationen. Bsp.: „Sogar ich habe Peter zum Geburtstag gratuliert“. (3) Steigerungspartikeln: Ordnen die durch die Adjektive bezeichneten Eigenschaften einer impliziten Wertbzw. Gradskala zu, indem sie den Grad dieser Eigenschaften angeben oder modifizieren. Bsp.: „Der Schüler ist außerordentlich faul“. (4) Antwortpartikeln: Partikeln können isoliert stehend die Antwort auf eine Frage bilden. Bsp.: „Ja“, „Nein“, „Doch“, usw. (5) Negationspartikel: Die nicht flektierbare Partikel ‘nicht’. (6) Infinitivpartikel: Die nicht flektierbare Partikel ‘zu’ beim Infinitiv. <?page no="133"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 133 Für unsere Fragestellung sind besonders die Abtönungspartikeln und die Gradpartikeln interessant, da sie eine zusätzliche Einstellung oder Interpretation andeuten. Die semantisch besonders heterogene Subklasse der Abtönungspartikeln soll in der Folge näher erläutert werden. Abtönungspartikeln: Den Terminus ‘Abtönungspartikeln’ hat Weydt (1969) geprägt. Allerdings weist der Untertitel „Die deutschen Modalwörter und ihre französischen Entsprechungen“ darauf hin, dass Weydt von einer anderen Subklassifizierung der Partikeln ausging als Helbig (1988) und nicht in ‘Partikeln' und ‘Modalwörter' unterschied. Wir wollen uns auch hier an die Klassifizierung von Helbig halten, da diese die aktuellste ist, und alle früheren Ansätze kritisch reflektiert hat. Helbig charakterisiert als Einziger die Funktionen der Abtönungspartikeln eingehender. Hierbei nennt er die folgenden sechs Funktionen: (1) Einstellungsregulierende Ausdrucksmittel: Abtönungspartikeln drücken nicht einfach Einstellungen aus, sondern modifizieren Einstellungen, die mit anderen sprachlichen Mitteln realisiert worden sind. (2) Situationsdefinierende Mittel. Sie enthalten auch Hinweise auf die Wahrnehmung und Beurteilung der konkreten und aktuellen Sprechsituation als Folge der vorangegangenen Interaktion. (3) Illokutionsindizierend und modifizierend'. Abtönungspartikeln nehmen auf Sprechhandlungen Bezug und fungieren als Illokutionsindikatoren (vgl. Wunderlich 1972, S. 18f.). Bsp.: „Du kannst ja das Fenster schließen“ als Formulierung einer Aufforderung. (4) Konversationssteuernde Funktion: Die illokutive Funktion ist nur eine von mehreren Funktionen. Die Abtönungspartikeln verankern auch die Äußerung im konversationeilen Kontext, indem sie die Position innerhalb des Gesprächsverlaufs indizieren und Einfluss auf den weiteren Verlauf des Gesprächs nehmen. Sie dienen ferner der Rückmeldung und Bestätigung des Hörers. Bsp.: ‘ja’, ‘genau’, ‘eben’. (5) Interaktionsstrategische Funktionen: Sie ordnen die jeweilige Äußerung in den Interaktionszusammenhang ein. Sie dienen dazu, die Funktion des Sprechaktes unter den gegebenen Bedingungen der Interaktion zu verdeutlichen. Sie drücken auch Annahmen, Bewertungen oder Erwartungen in Hinblick auf die Reaktion des Gesprächspartners aus. (6) Konnektierende Funktion: Sie verbinden aufeinander folgende Äußerungen auch über einen Sprecherwechsel hinweg. Sie verbinden weiter den Inhalt einer Äußerung mit Inhalten, die entweder zuvor geäu- <?page no="134"?> 134 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Bert wurden, oder die sich nur aus dem Vorwissen ergeben. Diese Textverknüpfungsfunktion teilen sie mit den Konjunktionen. Über diese Funktionen sind die Abtönungspartikeln einigermaßen vollständig, aber keineswegs trennscharf charakterisiert. Bei der Abgrenzung gegenüber anderen Partikel-Subklassen treten oft Unklarheiten zutage. Dasselbe gilt für die Abgrenzung der Abtönungspartikeln von anderen Wortklassen, insbesondere von der ihnen semantisch sehr nahe stehenden Klasse der Modalwörter (vgl. hierzu auch Kohrt 1988, S. 104). Modalwörter: Austin fuhrt bei der Aufzählung alternativer sprachlicher Mittel zur performativen Formel (vgl. Kap. 4.1) auch die adverbs and adverbial phrases (S. 74) an. Als Standardbeispiel für diese Kategorie verwendet er ‘probably’, was mit ‘wahrscheinlich’ übersetzt werden kann und in heutiger Terminologie als Modalwort bezeichnet werden würde. Helbig/ Helbig (1990/ 93) bezeichnen ‘wahrscheinlich/ wahrscheinlicherweise’ als Hypothesenindikator, mit welchem der „Sprecher signalisiert, daß er p für möglich hält“ (ebd., S. 278). Ein Modalwort wurde auch bereits in (22) eingeführt. Dfe Modalwörter sollen hier nun systematisch betrachtet und von den Partikeln abgegrenzt werden. In der Literatur erscheinen sie sowohl unter der Bezeichnung ‘Modalwort’, so etwa in Kratzer (1978), als auch unter der Bezeichnung ‘Modalpartikel’, so etwa bei Brandt/ Rosengren/ Zimmermann (1989, S. 20- 28) und bei Pasch (1990, S. 98). Wir wollen uns in der Folge aber der Bezeichnungsweise und den Definitionen des „Lexikon deutscher Partikeln“ von Helbig/ Helbig (1990/ 93) anschließen. Syntaktische Merkmale: Die deutschen Modalwörter bilden eine relativ geschlossene Klasse, die nach Helbig/ Helbig (1990/ 93) anhand ihrer Deklinierbarkeit in zwei morpho-syntaktische Subklassen differenziert werden können: (1) Modalwörter, die nicht attributiv verwendet werden können und entsprechend weder deklinierbar noch komparierbar sind: anscheinend, freilich, kaum, keineswegs, leider, vielleicht, wohl, usw. (2) Modalwörter, die auch attributiv verwendet werden können und in dieser Verwendung dann auch deklinierbar sind: angeblich, bestimmt, natürlich, offenbar, offensichtlich, sicher, wirklich, usw. Zur Klasse 1) zählen auch die meistens von Adjektiven und Partizipien abgeleiteten Konstruktionen mit ‘-weise’ wie z.B. erfreulicherweise, glücklicherweise, usw. Die Modalwörter der Klasse 2) sind bei attributivem Gebrauch Adjektive. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Abgrenzung der Modalwörter gegenüber Partizipien und Adjektiven und kann nur unter Hinzunahme des grammatischen Satzkontextes geleistet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die ganze Klasse der Modalwörter in Hinblick auf ihre Satzglied- <?page no="135"?> IVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 135 Funktion als Satzadverbialien bezeichnet wird und daher in traditionellen Grammatiken pauschal der Klasse der Adverbien zugeschlagen wird. Aufgrund der syntaktischen und semantischen Besonderheiten der Modalwörter bekräftigen Helbig/ Helbig die Notwendigkeit, diese als eigene Klasse zu etablieren: Aus dem bisher Gesagten muß man die Schlußfolgerung ziehen, daß die Modalwörter zwar in morphologischer Hinsicht und unter oberflächensyntaktischem Aspekt weitgehend mit den Adverbien übereinstimmen, daß sie sich aber in einer zugrunde liegenden syntaktischen Struktur und semantisch von den Adverbien unterscheiden. Deshalb ist es möglich und notwendig, auch im Deutschen von einer selbständigen Klasse der Modalwörter auszugehen. Anderenfalls würde man grundsätzliche Unterschiede vernachlässigen: (a) Er kommt pünktlich zur Schule (= Adverb) (b) Er kommt vermutlich zur Schule (= Modalwort) (Helbig/ Helbig 1990/ 93, S. 16f.) Helbig/ Helbig argumentieren, dass (a) etwas „über die (objektive) Art und Weise des Geschehens“ aussagt, (b) hingegen etwas „über die (subjektive) Einstellung des Sprechers zum Geschehen“ (ebd.). Für die Bildung einer eigenen Klasse ist dabei entscheidend, dass die semantischen Unterschiede zwischen Adverbien und Modalwörtern auch syntaktischen Niederschlag finden. Abgrenzung gegenüber den Adverbien: Auf der Basis der genannten syntaktischen Eigenschaften entwickeln Helbig/ Helbig zur Abgrenzung der Modalwörter gegenüber den Adverbien eine Reihe von Operationellen Tests: (1) Die Modalwörter lassen sich im Unterschied zu den Adverbien in einen übergeordneten Matrixsatz transformieren: „Er kommt vermutlich 1 " <r- „Ich vermute, dass er kommt“. (2) In einer Paraphrase wird der propositionale Gehalt des Modalworts mittels eines dass-Satzes formuliert; derjenige des modalen Adverbs hingegen mittels eines wie-Satzes. Diese Eigenschaft kann auch dazu verwendet werden, Mehrdeutigkeiten aufzulösen: „Das Flugzeug ist sicher gelandet“ <- „Es ist sicher, wie das Flugzeug gelandet ist“ (Adverb); oder: <- „Es ist sicher, dass das Flugzeug gelandet ist“ (Modalwort). (3) Die Modalwörter können anders als die modalen Adverbien mittels eines Schaltsatzes paraphrasiert werden: „Er hat den Zug vermutlich nicht erreicht“ <- „Er hat den Zug das vermute ich nicht erreicht“. (4) Eine Entscheidungsfrage kann durch ein einziges Modalwort beantwortet werden: nicht aber durch ein modales Adverb: „Kommt der <?page no="136"?> 136 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Zug? “ „Vermutlich'’ 1 , „Wahrscheinlich“, usw.; nicht aber: *„SchneU“, * „Pünktlich“, usw. (5) Die modalen Adverbien können hingegen durch Fragewörter einer Ergänzungsfrage erfragt werden; nicht aber die Modalwörter: „Wie kommt er? “ „Schnell“, „Pünktlich“, usw.; nicht aber: * „Vermutlich“. (6) Die Modalwörter können weder durch eine Entscheidungsnoch durch eine Ergänzungsfrage direkt erfragt werden. (7) Manche Modalwörter sind in Fragesätzen, in Imperativsätzen und in irrealen Wunschsätzen nicht möglich. Bsp.: „Komm schnell! “’, aber nicht: *„Komm vermutlich! “. (8) Die Negationspartikel nicht steht immer vor dem modalen Adverb, aber nach dem Modalwort: „Er kommt nicht pünktlich“; „Er kommt vermutlich nicht“. (9) Das modale Adverb kann im Unterschied zum Modalwort durch ein Prowort substituiert werden: „Er kommt schnell.“ „Er kommt so“; nicht aber: „Er kommt vermutlich“ <- *„Er kommt so“. (10) Im Unterschied zu den modalen Adverbien können die meisten Modalwörter nicht grammatisch kompariert werden: „Er kommt pünktlicher“’, aber nicht: *„Er kommt vermutlicher“. (11) Modalwörter können im Unterschied zu den modalen Adverbien kaum koordinativ verknüpft, wohl aber miteinander kombiniert werden: „Er kommt pünktlich und schnell“’, nicht aber: *„Er kommt vermutlich und leider“-, hingegen: „Er kommt leider vermutlich zu spät“. (12) Modalwörter können im Unterschied zu modalen Adverbien nicht in explizit performativen Äußerungen Vorkommen: „Ich frage dich hiermit nachdrücklich, wann du kommst“; aber nicht: *„Ich frage dich hiermit vermutlich, ob du kommst“. Abgrenzung gegenüber den Partikeln: Die Abgrenzung der Modalwörter gegenüber den Partikeln im engeren Sinne gestaltet sich schwieriger als diejenige gegenüber den Adverbien. In den meisten Grammatiken wird auf eine Abgrenzung verzichtet und von den Partikeln und Modalwörtern zusammen als von ‘Partikeln im weitesten Sinne’ gesprochen. Einen Vergleich mehrerer Klassifizierungen von Partikeln und Modalwörtern in der Literatur hat Rudolph (1979) vorgenommen, ohne allerdings Kriterien für die Abgrenzung beider Klassen anzugeben. Obwohl wir nicht von der systematischen Notwendigkeit einer Unterscheidung von Modalwörtern und Partikeln überzeugt sind, verwenden wir in der Folge eine Unterscheidung im Sinne von Helbig/ Helbig, die eine Subklassifizierung der potentiellen Implizitheitsindikatoren ermöglicht, und so die geplante Analyse schärft. Der Ansatz von Helbig/ Helbig verwendet zudem zur Interpretation der Funktion der Modalwörter <?page no="137"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 137 und Partikeln für unsere Arbeit interessante semantische und pragmatische Kriterien. Eine erste Möglichkeit der Abgrenzung bilden nach Helbig/ Helbig die unterschiedlichen Arten, wie mit Wörtern aus den verschiedenen Klassen auf Fragen geantwortet werden kann. Wie bei der Abgrenzung gegenüber den Adverbien dargestellt, kann mittels Modalwörtern auf Entscheidungsfragen (vgl. 4. )und mit Adverbien auf Ergänzungsfragen (vgl. 5.) geantwortet werden. Mittels Partikeln kann dagegen überhaupt nicht auf Fragen geantwortet werden: „Spricht er heute? “ (Entscheidungsfrage) - „Vermutlich“-, aber nicht: * „Eindringlich“, *„Nur“. „Wie spricht er heute? “ - „Eindringlich“-, aber nicht: * „Vermutlich“, *„Nur“. Ein zweites Unterscheidungskriterium bietet der unterschiedliche Satzgliedcharakter: Adverbien sind Satzglieder. Modalwörter sind mehr als Satzglieder, nämlich „Einstellungsoperatoren über Sätzen“ (Helbig/ Helbig 1990/ 93, 5. 31). Partikeln sind weniger als Satzglieder, da sie nicht allein im Satz verschiebbar und im deutschen Aussagesatz nicht allein erststellenfähig sind. Entsprechend lassen sich die Modalwörter aus dem Satz herauslösen; die Partikeln fügen sich hingegen völlig in den Satz ein und sind nicht herauslösbar. Eine dritte Unterscheidungsmöglichkeit bieten die unterschiedlichen semantischen und pragmatischen Funktionen. Die Modalwörter sind „(semantisch) Einstellungsoperatoren und (pragmatisch) Kommentare“ (ebd., S. 32). Partikeln haben je nach Subklasse verschiedene Funktionen. Die Modalwörter drücken eine Einstellung aus. Die Abtönungspartikeln sind den Modalwörtern am ähnlichsten und werden deshalb auch Modalpartikeln genannt. Sie sind nicht einfach Einstellungsausdrücke, wie Wolski (1986) gezeigt hat, sondern eher einstellungsregulierende Ausdrücke. Die Abgrenzung der Modalwörter gegenüber den Partikeln ist Helbig/ Helbig längst nicht so eindeutig und operationalisierbar gelungen, wie diejenige gegenüber den Adverbien. So sehr die drei genannten Unterscheidungskriterien einleuchtend begründet werden, bleiben dennoch bei der Analyse der Einzelfälle viele Fragen offen. Die Frage etwa, zu welcher der beiden Klassen ‘wohl’ gehört, können Helbig/ Helbig offensichtlich selbst nicht beantworten. Zu ‘wohl’ findet sich sowohl ein Eintrag in Helbig (1988) als auch in Helbig/ Helbig (1990/ 93). In beiden Einträgen findet sich ein Verweis auf die jeweils andere Wortart, gefolgt von dem in beiden Fällen beinahe wortgleichen, leicht resignierenden Kommentar: „auf jeden Fall ist eine Grenze zwischen Abtönungspartikel und Modalwort in diesem Falle schwer zu ziehen“ (Helbig 1988, S. 239; Helbig/ Helbig 1990/ 93, S. 284). <?page no="138"?> 138 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Semantischer und pragmatischer Status: Da die bei der Abgrenzung der Modalwörter von den Adverbien vorgestellten Operationellen Tests nichts über den semantischen und pragmatischen Status der Modalwörter aussagen, diskutieren Helbig/ Helbig diesen unabhängig davon. Sie charakterisieren Modalwörter — wie alle Adverbialen als „kondensierte Varianten zu expliziteren Strukturen, die weniger kondensiert sind [...]“ (ebd., S. 21). Die ‘Kondensiertheit’ wird mittels Paraphrasierung nachgewiesen, wie dies in der Abgrenzung gegenüber den Adverbien in den Punkten 1.-3. gezeigt wurde. Bei der Paraphrasierung werden Sätze mit Modalwörtern auf solche ohne Modalwörter zurückgeführt und dabei „die den kondensierten Formen mit Modalwörtern eigenen impliziten Merkmale explizit gemacht“ (ebd.). Die zentrale Frage bei diesem Verfahren ist allerdings, welche explizitere Konstruktion das jeweilige Modalwort adäquat paraphrasiert. Helbig/ Helbig wenden sich gegen die These, Modalwörter seien Prädikate über Prädikate (ebd., S. 22), d.h., semantische Einstellungsprädikate, die die Proposition des Satzes, in dem sie stehen, einschätzen und bewerten. Ein Einwand besteht darin, dass Adverbien, die ebenfalls „Kondensate von Prädikaten, also latente Prädikate sind“ (ebd.), auf derselben propositionalen Ebene operieren wie die Proposition, auf die sie sich beziehen: „Er kommt pünktlich zur Schule“ <- „Er kommt zur Schule. Sein Kommen ist pünktlich.^-, nicht aber: „Er kommt vermutlich zur Schule“ <- „Er kommt zur Schule. *Sein Kommen ist vermutlich.“. Als weitere Argumente werden angeführt, dass die Modalwörter auf verschiedene Arten von Matrixsätzen zurückgeführt werden müssen und dass es zwischen den Konstruktionen mit Modalwörtern und deren Paraphrasen z.T. erhebliche Unterschiede gibt. Helbig/ Helbig wenden sich ebenfalls gegen die in Bartsch (1972) erhobene Performativitätshypothese, die die Modalwörter nicht als objektsprachliche Prädikate, sondern als performative Ausdrücke interpretiert. In den entsprechenden Sprechakten würde gemäß dieser Hypothese eine Hoffnung oder Vermutung nicht konstatiert, sondern ausgedrückt und vollzogen. Gegen diese Hypothese bringen Helbig/ Helbig u.a. vor, dass im Unterschied zu tatsächlich performativen Ausdrücken in Paraphrasen zu Modalwörtern keine Indikatoren für Performativität auftreten können: „Ich ordne hiermit an, dass der Unterricht morgen stattfmdet“ (= performativ); nicht aber: ♦ „Ich vermute hiermit, dass der Unterricht morgen stattfmdet“. Weiter argumentieren Helbig/ Helbig gegen die Performativitätshypothese, dass „das Äußern von Konstruktionen wie ‘Ich vermute, dass p’ (p=Proposition) auch pragmatisch nicht einfach als Vollzug der entsprechenden Handlung verstanden werden“ (ebd., S. 25) kann. So sind z.B. einige Paraphrasen zu Modalwörtern wie „Ich bedaure, dass er kommt“ oder „Ich bin sicher, dass er dir morgen das Buch zurückgibt konstativ und nicht performativ, da sie Einstellungen nur beschreiben, nicht aber vollziehen. <?page no="139"?> Was sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 139 Helbig/ Helbig interpretieren Modalwörter weder als ‘Prädikate über Prädikate’ noch als performative Ausdrücke, sondern in Übereinstimmung mit Lang (1979) als Einstellungsoperatoren, d.h. als Satzoperatoren, die eine Sprechereinstellung ausdrücken und so Propositionen in bewertete Äußerungen überführen. Die Modalwörter sind gemäß dieser Interpretation nicht Teil der propositionalen Bedeutung und treffen auch keine Aussage über dieselbe. Sie sind nicht-propositionale Repräsentationen von Einstellungen, insofern sie nichts behaupten, sondern eine Einstellung zeigen, mit der ein Sprecher etwas behauptet. Ihre pragmatisch-kommunikative Funktion ist nicht die einer Behauptung, sondern die eines Sprecher-Kommentars. Entsprechend muss die Suche nach adäquaten Paraphrasen, die das, was in Modalwörtern kondensiert ist, explizit machen, auf verwandte Kommentarformen wie Parenthesen bzw. Schaltsätze konzentriert werden. Semantische Subklassen: Wenn etwas noch umstrittener ist als die Definition und Abgrenzung der Modalwörter, dann ist es deren Subklassifizierung. Es gibt in der Literatur mehrere Versuche, eine Subklassifizierung syntaktisch oder semantisch zu begründen. Die einzelnen Versuche zeigen aber immer nur in Teilbereichen Übereinstimmung mit anderen Versuchen. Helbig/ Helbig haben sich mit vielen dieser Versuche auseinander gesetzt und einen eigenen Ansatz entwickelt, der auf der Art der Sprechereinstellung (ebd., S. 56) aufbaut und folgende fünf Subklassen umfasst: (1) Gewissheitsindikatoren-. Tragen als Kennzeichen eine Sprechereinstellung des Wissens gegenüber dem Gesagten. Bsp.: augenscheinlich, freilich, keineswegs, natürlich, wirklich, usw. (2) Hypotheseindikatoren-. Tragen das Merkmal einer Sprechereinstellung des Glaubens gegenüber dem Gesagten. Die unterschiedlichen Grade der Wahrscheinlichkeit ergeben weitere Abstufungen innerhalb der Subklasse. Bsp.: anscheinend, bestimmt, kaum, offenbar, offensichtlich, sicher, vielleicht, wohl, usw. (3) Distanzierungsindikatoren-. Mit dem Merkmal einer Sprechereinstellung der Distanz verweist der Sprecher darauf, dass er eine Äußerung wiedergibt, für die er sich nicht verbürgt, oder an deren Wahrheitsgehalt er sogar zweifelt. Bsp.: angeblich, vermeintlich, vorgeblich. (4) Emotiva: Tragen das Merkmal einer emotionalen Sprechereinstellung gegenüber dem Gesagten. Bsp.: erfreulicherweise, leider, unglücklicherweise, usw. (5) Bewertungsindikatoren-. Tragen das Merkmal einer bewertenden Sprechereinstellung gegenüber dem Gesagten. Die Grenze zwischen Emotiva und Bewertungsindikatoren ist dabei nicht so trennscharf wie zwischen anderen Subklassen, da eine emotionale Einstellung immer auch eine Bewertung enthält. Die meisten Bewertungsindikatoren sind <?page no="140"?> 140 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt dabei so eindeutig konnotiert, dass eine damit realisierte Diskriminierung als explizit eingestuft werden würde. Bsp.: anständigerweise, besser, boshafterweise, lieber, logischerweise, schlichtweg, überraschenderweise, verbotenerweise, usw. Fazit: Die eingehende Diskussion von Partikeln und Modalwörtern hat neben der Abgrenzung zu anderen Wortklassen auch deren semantische und pragmatische Funktionen aufgezeigt. Dabei hat sich unsere Hypothese, dass sowohl Partikeln als auch Modalwörter die Funktion von Implizitheitsindikatoren übernehmen können und daher zum Auffinden von ISDn geeignet sind, erhärtet. Partikeln sind semantische und pragmatische Operatoren. Insbesondere die Abtönungspartikeln können eine ganze Palette von pragmatischen Funktionen erfüllen, die allesamt dazu geeignet sind, sich auf jeweils eine bestimmte Art von Äußerungskontext zu beziehen (vgl. Kap. 4.3). Modalwörter sind im Unterschied zu kognitiven Ausdrücken keine ‘Prädikate über Prädikate’, sondern realisieren als Einstellungsoperatoren einen Sprecher- Kommentar zu dem Gesagten. Beide Wortklassen können in ihrer pragmatischen Funktion somit als eine Art implizite Variante zu kognitiven Ausdrücken betrachtet werden. Wie diese drücken sie ebenfalls eine modifizierende oder kommentierende Einstellung aus, wenn auch nicht explizit und nicht mit Bezug auf eine konkrete Proposition. Dieser Status als nicht-propositionale Operatoren lässt die beiden Wortklassen als viel geeigneter erscheinen als die kognitiven Ausdrücke, um einen außer-propositionalen Kontextbezug zu realisieren. Von theoretischem Interesse ist auch die Verwerfung der Performativitätshypothese für die Funktion der Modalwörter. Die Begründung von Helbig/ Helbig spricht dafür, dass zwar eine gewisse semantische Nähe zwischen den Indikatoren für Performativität und denjenigen für Implizitheit besteht, dass aber zugleich die Funktion der Implizitheitsindikatoren allgemeinerer Natur ist, dass Performativität also ein Spezialfall von Implizitheit ist. In Bezug auf die Fragestellung dieses Kapitels (F4) haben wir gezeigt, dass die in der SAT erwähnten Indikatoren für Implizitheit zumindest eine gewisse 'ökologische Validität’ besitzen, insofern sie in authentischen ISDn auftreten. Für eine weitergehende Überprüfung ihrer Rolle für ISDn, etwa der Frage, ob mit ihnen ISDn aufgefunden werden können, müssten aber alle genannten Wortklassen unterklassifiziert werden. Eine Wortklasse eröffnet zwar ein bestimmtes Potential von semantischen und pragmatischen Funktionen, für die Beurteilung der Eignung einer Klasse als Implizitheitsindikatoren müssen aber alle Lexeme der Klasse und ihre Funktionen einzeln überprüft werden. Nicht alle Lexeme einer Klasse können in denselben Kontexten verwendet werden; alle Lexeme haben ihre spezifischen lexikalischen Bedeutungen und entsprechend unterschiedliche Funktionen. <?page no="141"?> IVas sind Indikatorenfür Implizitheit in ISDn? 141 In dieser Hinsicht weit besser spezifiziert sind die von uns zusätzlich vorgeschlagenen Indikatoren für sprachliche Implizitheit: Die kognitiven Ausdrücke bestehen im Kern aus einer relativ eng eingrenzbaren Klasse von Verben des Wissens, Glaubens, Wahrnehmens, usw. Die Partikeln bilden im Deutschen eine geschlossene, die Modalwörter eine zumindest relativ geschlossene Klasse von Wörtern. Partikeln und Modalwörter eignen sich daher besonders für eine lexikalische Analyse von Texten bezüglich des Vorhandenseins von ISDn. Beim jetzigen Stand der Erkenntnis können erst Hypothesen gebildet werden. Diese Hypothesen sind zwar qualifiziert und z.T. theoretisch gut fundiert, ihre systematische empirische Überprüfung an einem größerem Textkorpus wäre aber zur Abklärung des Status der herausgearbeiteten sprachlichen Mittel dringend notwendig und für die weitere Diskussion der pragmatischen Funktion der Implizitheitsindikatoren äußerst sinnvoll. Eine Untersuchung der Eignung von Partikeln und Modalwörtern als Implizitheitsindikatoren für ISDn erscheint aus den oben angeführten Gründen besonders geeignet. <?page no="143"?> 5. Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? In Kap. 4 haben wir die in der SAT erwähnten Implizitheitsindikatoren zusammengestellt, mit Beispielen belegt und um eigene Indikatoren ergänzt. Die Ergebnisse versetzen uns in die Lage, qualifizierte und z.T. theoretisch gut fundierte Hypothesen für einige sprachliche Mittel bzgl. ihres Indikatorenstatus für Implizitheit zu formulieren. Der Beweis, dass die genannten sprachlichen Mittel (a) tatsächlich Indikatorenstatus haben und (b) dazu geeignet sind, auf sprachliche Implizitheit in ISDn hinzuweisen, ist aber noch zu erbringen. Dies soll mit der in diesem Kapitel vorgestellten Untersuchung zumindest teilweise geleistet werden. Die dabei zu überprüfende untersuchungsleitende Hypothese (UH) ist eine qualifizierte und reduzierte Variante der in Kap. 0 vorgestellten empirischen Hypothese (EH) der vorliegenden Arbeit. Sie reflektiert die bisherigen Ergebnisse und reduziert den Untersuchungsumfang auf ein handhabbares Maß. Sie lautet: (UH) Partikeln und Modalwörter, die eine kognitive Bezugnahme realisieren, sind Implizitheitsindikatoren und eignen sich dazu, ISDn in Printmedientexten aufzufmden. 5.1 Eine computergestützte Recherche im Wendekorpus des IDS Die untersuchungsleitende Hypothese (UH) kann am besten anhand eines größeren Korpus von Zeitungs- und Zeitschriftentexten überprüft werden und soll daher als spezielle Form einer computergestützten Korpusrecherche (vgl. Kap. 5.2) durchgeführt werden. 5.1.1 Das Wendekorpus des IDS Die Grundlage der Korpusrecherche bildet das Wendekorpus des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. Dieses entstand im Rahmen des Projekts „Gesamtdeutsche Korpusinitiative“ (OKI) in Zusammenarbeit des IDS mit dem damaligen Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften. Es umfasst Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften der BRD und der DDR, Flugblätter, Handzettel, verschriftlichte Volkskammertagungen, Bundestagsprotokolle, Reden, Erklärungen, Programme, usw. Sie stammen alle aus der Zeit von Mitte 1989 bis Ende 1990 und dokumentieren die so genannte ‘Wende’, die zur Wiedervereinigung führte. Das Korpus umfasst 3.387 Texte, 204.002 Sätze und ca. 3,3 Mio. Wortformen. <?page no="144"?> 144 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Eine Analyse des Wendekorpus bietet sich aus mehreren Gründen an: - Die Zeit der Wende brachte große gesellschaftliche Veränderungen und große Flüchtlingsbewegungen in Richtung Westdeutschland. Als unmittelbare Folge daraus entstanden im wiedervereinigten Deutschland öffentlich ausgetragene Kontroversen über die Asylpolitik, die in die Änderung des Asylrechts mündeten. Es ist anzunehmen, dass bereits in den Texten zur Zeit der Wende, die negative Stimmung gegenüber Ausländern aufzufinden ist. Entsprechend sind in den Medienberichten zur Zeit der Wende relativ viele Diskriminierungen zu vermuten. - Das Wendekorpus enthält überwiegend Texte aus Printmedien. Diese bilden eine repräsentative Auswahl deutscher Tages- und Wochenzeitungen. Von besonderem Interesse sind darüber hinaus die Protokolle der Bundestagsdebatten und Volkskammertagungen, in denen über die Folgen des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs debattiert wurde. Durch die Breite der Materialauswahl sind im Wendekorpus verschiedenste Textsorten unterschiedlichster Stilarten enthalten. Das erlaubt eine empirische Überprüfung unabhängig von bestimmten Textsorten und Zeitungsstilen. Das Wendekorpus wurde bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert (vgl. Fraas/ Steyer 1992; Herberg 1993), nicht aber bezüglich impliziter sprachlicher Diskriminierungen gegenüber Ausländern. - Das Wendekorpus liegt am IDS in computerlesbarer Form vor und kann mit dem Rechercheprogramm COSMAS (vgl. al-Wadi 1995) analysiert werden. Dieses Programm generiert automatisch die zu einem Suchwort möglichen Vollformen und erlaubt die Suche innerhalb bestimmter Wort- und Satzabstände. Diese Eigenschaft von COSMAS ermöglichte den Entwurf und die empirische Überprüfung eines computergestützten Analyseverfahrens für große Textkorpora (vgl. hierzu Kap. 5.2). 5.1.2 Die Auswahl des Arbeitskorpus Um eine realistische Basis für die Analyse von ISDn zu erhalten, wurde mittels einer Stichwortsuche ein Subkorpus zum Thema ‘Ausländer’ eingegrenzt. Die verwendeten Suchworte waren: Asyl, Asylant, Ausland, Ausländer, Ausländerin, ausländisch, aussiedeln, Fremder, Gastarbeiter, übersiedeln, Italiener, italienisch, Türke, türkisch. Das tatsächliche Vorkommen jedes der genannten Suchworte war zuvor in einem eigenen Arbeitsgang überprüft worden. Bei dieser Überprüfung fielen <?page no="145"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 145 Suchworte wie z.B. ‘Fremdarbeiter’ weg, die im Korpus gar nicht oder nur vereinzelt vorkamen. Die resultierende Untermenge umfasste 673 Texte. Die Texte dieser Untermenge wurden anschließend einzeln daraufhin gesichtet, ob sie sich mit dem Thema soziale Integration von Ausländem, Übersiedlern oder Aussiedlern befassen. Die thematisch selektierten Texte wurden zu einem Arbeitskorpus zusammengestellt und bildeten die Grundlage für alle weiteren Recherchen. Das Arbeitskorpus enthält 154 Texte mit insgesamt ca. 28.000 Sätzen und ca. 576.000 Wörtern. 5.1.3 Auswahl der Modalwörter Aus der Menge aller Modalwörter wurden 36 Lexeme ausgewählt, die besonders deutlich eine kognitive Bezugnahme realisieren. Davon waren 16 Lexeme aus der Subklasse der Modalwörter, die nicht attributiv verwendet werden können und 20 Lexeme aus der Subklasse der Modalwörter, die auch attributiv verwendet werden können dann aber der Klasse der Adverbien zugeordnet werden (vgl. Kap. 4.5). Wie bei der Auswahl der Kategorienbezeichner wurde auch bei den Modalwörtern erst das tatsächliche Vorkommen der ausgewählten Lexeme im Arbeitskorpus überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass 23 der gewählten Modalwörter in der Lexemliste nicht vorhanden waren. Die relativ große Differenz von 23 Lexemen scheint darauf hinzuweisen, dass nicht alle Modalwörter mit derselben Häufigkeit verwendet werden. Aufgrund der jeweils sehr spezifischen Bedeutung ist auch nicht jedes Modalwort in jedem Kontext einsetzbar. Die verbleibenden 13 Modalwörter verteilen sich wie folgt über die zwei syntaktischen Subklassen: 6 Lexeme gehören der Subklasse der Modalwörter an, die nicht attributiv verwendet werden können (freilich, kaum, keineswegs, leider, vielleicht, wohl) und 7 Lexeme der Subklasse der Modalwörter, die auch attributiv verwendet werden können {angeblich, bestimmt, natürlich, offenbar, offensichtlich, sicher, wirklich). Semantisch gliedern sich die 13 Modalwörter in folgende vier Subklassen: 7 Hypotheseindikatoren {bestimmt, kaum, offenbar, offensichtlich, sicher, vielleicht, wohl), 4 Gewissheitsindikatoren {freilich, keineswegs, natürlich, wirklich), 1 Distanzindikator {angeblich) und 1 Emotivum {leider). Somit sind alle semantischen Subklassen vertreten, mit Ausnahme der Klasse der Bewertungsindikatoren, die wie bereits gesagt zum größten Teil über so deutliche Konnotationen verfügen, dass sie nur in expliziten Diskriminierungen auftreten können. <?page no="146"?> 146 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 5.1.4 Auswahl der Partikeln Auch die Vorauswahl der 20 Partikeln wurde anhand der Lexemliste des Korpus überprüft. Dabei entfielen zwei Lexeme. Die verbleibenden 18 Partikeln gehören alle der Subklassen der Abtönungspartikeln und der Gradpartikeln an (vgl. Kap. 4.5). Eine disjunkte Aufteilung auf die Subklassen ist aber nicht möglich, da die meisten Lexeme zugleich mehreren Subklassen angehören können. Das Lexem ‘ja’ kann z.B. Abtönungs-, Grad- und Antwortpartikel sein. 5.1.5 Antidiskriminierungen, negative und positive Diskriminierungen Bei der Kodierung der selektierten Textstellen bezüglich ihres diskriminierenden Gehalts wurden drei Subklassen von Diskriminierungen unterschieden: (1) Negative Diskriminierung: eine negative Diskriminierung ist der klassische Fall einer Diskriminierung, der in Kap. 1.1 als eine ‘kategoriale Behandlung verbunden mit einer negativen Bewertung’ definiert wurde. (2) Positive Diskriminierung: eine positive Diskriminierung wurde ebenfalls in Kap. 1.1 als eine kategoriale Behandlung definiert, die mit einer übertrieben positiven Bewertung verbunden ist. (3) Antidiskriminierung: unter einer Antidiskriminierung soll eine Äußerung verstanden werden, die dieselbe Struktur aufweist wie eine negative Diskriminierung, die sich aber zugleich von der kategorialen Behandlung und/ oder von der negativen Bewertung verbal distanziert. Alle drei genannten Subklassen wurden bei der Auswertung teilweise getrennt unter den jeweiligen Subklassenbezeichnungen, teilweise aber auch zusammen unter der Bezeichnung ‘Diskriminierungen’ ausgewiesen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass es sich jeweils nur der Struktur nach um Diskriminierungen handelt. Ob in der konkreten Realisierungssituation der Sprecher diese als Diskriminierung gemeint und/ oder der Hörer diese als Diskriminierung aufgefasst hat, kann und soll damit nicht beurteilt werden (vgl. hierzu Kap. 2.2). 5.2 Ein mehrstufiges computergestütztes Korpusanalyse-Verfahren Der Umfang des Korpus (3,3 Mio. Wortformen), an dem unsere Hypothese (UH) überprüft werden soll, macht eine ausgefeilte Analysestrategie erforder- <?page no="147"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 147 lieh. Hier soll kurz die Problematik der Analyse großer Textkorpora angeschnitten werden. Dann sollen die Vorteile eines mehrstufigen Analyseverfahrens erläutert und das konkrete mehrstufige Verfahren vorgestellt werden, das wir verwendet haben, um unsere Hypothese zu überprüfen. 5.2.1 Die Problematik der Analyse großer Textkorpora Seit der allgemeinen Verfügbarkeit von computerbasierten Textdatenbanken und von CD-ROM als Datenträger für Jahrgangskorpora von Printmedien stehen für die linguistische Analyse immer mehr Textkorpora in computerlesbarer Form zur Verfügung (vgl. hierzu Wagner 1996). Die computergestützte Analyse großer Textkorpora bedarf allerdings der Entwicklung neuer Analysestrategien. Die Sichtung jedes einzelnen Belegs ‘von Hand’ ist bei großen Textmengen nicht mehr sinnvoll: Der Einsatz von Recherchesoftware ist unumgänglich. Die Verwendung von Rechercheprogrammen ermöglicht einerseits mit Hilfe von Suchwörtern den raschen Zugriff auf einzelne Belege. Andererseits sind die Möglichkeiten der ‘maschinellen’ Suchverfahren sehr begrenzt und die Suchmöglichkeiten entsprechend grobkörnig. In der Regel können nur Zeichenketten gesucht werden, was bedeutet, dass sämtliche syntaktischen, semantischen und pragmatischen Analysekriterien auf lexikalische Suchwortlisten reduziert werden müssten. Da dies in vielen Fällen nicht möglich und in den wenigsten sinnvoll ist, soll hier exemplarisch ein mehrstufiges Analyseverfahren vorgestellt werden, das ‘maschinelle’ Suchverfahren mit ‘manuellen’ Analyseschritten verbindet. Unter einem ‘manuellen Analyseschritt’ verstehen wir dabei das Sichten aller Einzelbelege am Bildschirm oder auch in ausgedruckten Beleglisten. 5.2.2 Die Vorteile eines mehrstufigen Verfahrens Das Ziel beim Entwurf unseres Analyseverfahrens bestand darin, mit vertretbarem Aufwand mittels einer Recherche nach Implizitheitsindikatoren möglichst viele Belegstellen mit impliziten sprachlichen Diskriminierungen zu erhalten. Das Verfahren sollte möglichst effizient sein und sowohl quantitativen Anforderungen (möglichst viele Belegstellen) als auch anspruchsvollen qualitativen Anforderungen (möglichst nur ISDn) gerecht werden. Wegen der qualitativen Anforderungen scheidet eine rein maschinelle Bearbeitung des Textkorpus aus; wegen der quantitativen Anforderungen scheidet eine rein manuelle Bearbeitung aus. Die Besonderheit des Verfahrens muss somit in einer geeigneten Kombination von maschineller und manueller Bearbeitung liegen. Nur durch eine geschickte Kombination der beiden Bearbeitungsarten lassen sich die beiden gegenläufigen Anforderungsarten ‘qualitativ’ und ‘quantitativ’ zugleich zufrieden stellen. Das hier vorgeschlagene Analysever- <?page no="148"?> 148 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt fahren besteht aus vier aufeinander aufbauenden Analysestufen, wobei sich maschinelle und manuelle Bearbeitungsschritte abwechseln und dabei möglichst ideal ergänzen sollen. Die Ergebnisse jeder Analysestufe werden in einem Ergebniskorpus festgehalten und bilden so die Grundlage für die nachfolgende Analysestufe. 5.2.3 Die einzelnen Analysestufen Die einzelnen Analysestufen unserer Untersuchung gestalteten sich wie folgt: Als erste Stufe wurde im gesamten Wendekorpus nach Ausländerbezeichnungen wie ‘Ausländer’, ‘Asylant’, ‘Flüchtling’, usw. gesucht. Die Recherchesoftware COSMAS erlaubte dabei nicht nur die automatische Generierung aller Komposita, sondern auch aller Vollformen eines Suchwortes. Das Ergebnis (Korpus I) waren 673 Texte mit expliziter Nennung mindestens einer Ausländerkategorie. In der zweiten Stufe wurden diese Texte einer manuellen Inhaltsanalyse unterzogen. Selektiert wurden diejenigen Texte, die sich mit dem Thema ‘Ausländerintegration’ befassten; aussortiert wurden Texte zu anderen Themen, die z.B. lediglich das Stichwort ‘ausländische Währungen’ enthielten. Das Ergebnis (Korpus II) umfasste 154 Texte mit immigrationsbezogenen Themen. Die dritte Stufe bestand in der maschinellen Suche nach Implizitheitsindikatoren in Form von Partikeln und Modalwörtern. Damit diese Hinweise als Hinweise auf implizite Diskriminierungen gewertet werden konnten, mussten diese zusätzlich im selben Satz stehen, wie die in der ersten Stufe selektierte Kategorienbezeichnung. Erst die Kombination der Bedingungen ‘Ausländerkategorie’ (Stufe 1), ‘immigrationsbezogenes Thema’ (Stufe 2), Tmplizitheitsindikator’ (Stufe 3) in ein und demselben Satz erschien uns als ausreichender Hinweis auf eine potentielle implizite Diskriminierung. Die Kombination der ersten drei Bedingungen erforderte ein Vorgehen in drei aufeinander aufbauenden Stufen, die vierte Bedingung ‘im selben Satz stehend’ konnte nur realisiert werden, weil COSMAS den Satzabstand zwischen zwei Suchwörtern erkennt. Das Ergebnis (Korpus III) bestand in 84 Texten mit Indikatoren für sprachliche Implizitheit und möglicherweise für implizit diskriminierende Passagen. Als vierte Stufe folgte eine manuelle Analyse dieser Passagen bezüglich ihres diskriminierenden Gehalts. Das Ergebnis (Korpus IV) sind 42 Texte mit insgesamt 60 potentiellen sprachlichen Diskriminierungen gegenüber Ausländem. Die Einschränkung ‘potentiell’ bezieht sich darauf, dass wir einerseits Diskriminierungen als Interpretationskonstrukte betrachten (vgl. Kap 2.2) und dass wir andererseits aus den resultierenden Diskurs-Ausschnitten, die <?page no="149"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 149 zudem kontextualisierte Information enthalten, keine definitive Beurteilung der Diskriminierungsabsicht des Sprechers ableiten können. Was wir hingegen feststellen können, ist, dass die Sätze im Ergebniskorpus IV eine diskriminierende sprachliche Struktur aufweisen. Abschließend die vier aufeinander aufbauenden Analysestufen im Überblick: Maschinelle Suche nach Kategorienbezeichnern: Reduktion auf Textpassagen zum Thema ‘Ausländer’ Manuelle Inhaltsanalyse zum Thema ‘Ausländerintegration’: Reduktion auf Texte mit immigrationsbezogenen Themen Maschinelle Suche nach Implizitheitsindikatoren: Reduktion auf Textpassagen zum Thema ‘Ausländer’ mit immigrationsbezogenen Themen und mit Implizitheitsindikatoren III Manuelle Analyse des diskriminierenden Gehalts: Reduktion auf Textpassagen mit potentiellen ISDn VI Tab. 11: Die vier aufeinander aufbauenden Analysestufen 5.3 Die Ergebnisse der Recherche Nach der Erläuterung der vier Stufen des Analyseverfahrens sollen nun die Ergebnisse der Analysestufen 3 und 4 dargestellt und kurz diskutiert werden, da nur in diesen Stufen die Implizitheitsindikatoren zur Anwendung kommen. Analysestufe 3: Die Suche nach Implizitheitsindikatoren beschränkte sich, wie oben erwähnt, auf die Suche nach Partikeln und Modalwörtern. Da Rechercheprogramme immer nur die Suche nach Lexemen erlauben, trat dabei das Problem der Homographie auf: Neben den gesuchten grammatikalischen Kategorien ‘Partikel’ und ‘Modalwort’ wurden bei der maschinellen Lexemsuche vom Rechercheprogramm auch Vertreter homographer Kategorien wie z.B. ‘Adverb’ oder ‘Adjektiv’ selektiert. Modalwörter: Mit 13 verschiedenen Modalwörtern wurden insgesamt 54 Belegstellen selektiert: 39 Belege mit Modalwörtern und 15 Belege der ho- <?page no="150"?> 150 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt mographen Kategorien ‘Partikel’, ‘Adverb’ und ‘Adjektiv’ (vgl. Tab. 12). Das bedeutet relativ wenig Belegstellen pro Suchwort (4,15). Das Verhältnis von Belegen mit der gesuchten Kategorie zu Belegen mit homographen Kategorien (2,6) ist dagegen als gut zu bewerten. angeblich bestimmt freilich kaum keineswegs leider natürlich offenbar offensichtlich sicher vielleicht 17 17 wirklich wohl SUMMEN 39 54 Prozentwerte 72,22% 5,56% 9,26% 12,96% 100% Tab. 12: Verteilung der Belegstellenfür Modalwörter aufdie grammatikal. Kategorien Partikeln: Mit 18 verschiedenen Partikeln wurden 406 Belegstellen gefunden. Die Belegstellen umfassen 297 Belege mit Partikeln und 109 Belege mit den homographen Kategorien ‘Adverb’ und ‘Konjunktion’ (vgl. Tab. 13). Das ergibt zwar eine deutlich höhere Zahl von Belegstellen pro gesuchtem Wort (22,56) als bei den Modalwörtern, aber ein sehr ähnliches Verhältnis von Belegen mit der gesuchten Kategorie zu Belegen mit homographen Kategorien (2,72) wie bei den Modalwörtern. Die Suche nach Partikeln war somit nicht nur bezüglich der absoluten Anzahl an Belegstellen, sondern auch bezüglich der Anzahl der Belegstellen pro Suchwort deutlich ertragreicher. <?page no="151"?> 151 Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? also auch denn doch durchaus 78 11 25 10 10 107 14 27 eben gerade noch 53 55 54 55 schon 22 31 selbst 12 so 33 11 48 sogar überhaupt wohl zumal 10 10 SUMMEN 297 77 32 406 Prozentwerte 73,15% 18,97% 7,88% 100% Tab. 13: Verteilung der Belegstellenfür Partikeln aufdie grammatikalischen Kategorien Analysestufe 4: In der vierten Analysestufe wurde der diskriminierende Gehalt der Belege eingeschätzt. Dabei wurden die in Kap. 5.1.5 definierten Diskriminierungs-Subklassen ‘negative Diskriminierung’, ‘positive Diskriminierung’ und ‘Antidiskriminierung’ zur Ergebniskategorie ‘Diskriminierungen’ zusammengefasst. Davon unterschieden wurden Belege, die sich des sprachlichen Mittels ‘Ironie’ bedienen. In ironischen Äußerungen realisiert der Sprecher zwar ebenfalls Bewertungen, kann sich aber jederzeit auf den Standpunkt zurückziehen, alles nicht so gemeint zu haben. Ironische Äußerungen stehen daher ISDn sehr nahe, können aber nicht als Diskriminierungen gezählt werden, obwohl viele der mit ‘Ironie’ kategorisierten Belegstellen abwertende implizite Stellungnahmen gegenüber Ausländern enthalten. Die dritte Kategorie ‘keine Diskriminierung’ ist die Restkategorie. <?page no="152"?> 152 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Modalwörter: Von den 39 Belegstellen mit Modalwörtern enthalten 14 eine potentielle Diskriminierung, 10 Ironie und 15 keine Anzeichen von Diskriminierung. Das Verhältnis von ‘Diskriminierungen’ zu ‘keine Diskriminierung’ ist somit ausgeglichen. Die 39 Modalwort-Belege enthalten folgende Diskriminierungen: Modalwörter Neg. Diskriminierung Pos. Diskriminierung Anlidiskriminierung Ironie Keine Diskrim. Summe angeblich 1 bestimmt freilich kaum keineswegs leider natürlich offenbar offensichtlich vielleicht 17 wirklich wohl SUMMEN 10 15 39 Prozentwerte 23,08 5,13% 7,69% 25,64% 38,46% 35,90% 25,64% 38,46% 100% 100% Tab. 14: Diskriminierender Gehalt der Modalwort-Belege Über ein Drittel der Belegstellen mit Modalwörtern enthalten eine potentielle Diskriminierung. Der Anteil der Kategorie ‘Ironie’ an der Gesamtanzahl der Belege liegt bei etwa einem Viertel (vgl. Abb. 1). <?page no="153"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden"? 153 Abb. 1: Diskriminierender Gehalt der Modalwort-Belegstellen auch denn doch durchaus eben gerade Jä noch nur schon selbst sogar überhaupt wohl SUMMEN Prozentwerte 29 9,76% 1,35% 18,18% 21 7,07% 34 11,45% 11,45% 56 40 44 21 209 70,37% 70,37% 78 11 53 54 33 10 297 100% 100% Tab. 15: Diskriminierender Gehalt der Partikeln-Belege Partikeln: Von den 297 Belegen mit Partikeln enthalten 54 Belege potentielle Diskriminierungen, 34 Belege Ironie und 209 Belege keine Anzeichen von Diskriminierung (vgl. Tab. 15). Im Vergleich zu den Modalwörtern gibt es bei den Partikeln wesentlich größere Absolutwerte für die einzelnen Ergebniskategorien. Das Verhältnis von potentiell diskriminierenden Belegen zu <?page no="154"?> 154 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt solchen ohne Anzeichen von Diskriminierung hat sich aber deutlich zugunsten letzterer verschoben. Der Anteil von Belegen mit Ironie liegt unter einem Achtel (vgl. Abb. 2). Keine Diskriminierung 70,37% 11,45% Abb. 2: Diskriminierender Gehalt der Partikeln-Belegstellen Adverbien und Konjunktionen: Bei der Darstellung der Ergebnisse der dritten Analysestufe für die Partikeln hatte sich eine relativ große Anzahl (109) Belege mit homographen Lexemen anderer Wortklassen ergeben. Diese Belegstellen wurden daraufhin aussortiert, da die homographen Kategorien nicht dieselbe semantische Funktion wie die Partikeln erfüllen. Für die aussortierten Belege, die in der oben stehenden Auswertung für Partikeln nicht enthalten sind, wurde eine getrennte Bewertung des diskriminierenden Gehalts durchgeführt (vgl. Tab. 16). Diese sollte Antwort auf die Frage geben, ob diese anderen Kategorien (Adverbien und Konjunktionen) ebenso geeignet sein können, auf sprachliche Implizitheit und somit auch auf iSDn hinzuweisen, wie die eigentlich gesuchten Kategorien. Abb. 3: Diskriminierender Gehalt der Nicht-Partikeln-Belegstellen <?page no="155"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 155 auch (Adv.) auch (Konj.) denn (Konj.) doch (Adv.) doch (Konj.) eben (Adv.) gerade (Adv.) noch (Adv.) noch (Konj.) nur (Konj.) schon (Adv.) 16 16 25 10 10 22 selbst (Adv.) so (Adv.) 10 11 so (Konj.) wohl (Adv.) zumal (Konj.) SUMMEN 17 78 109 Prozentwerte 8,26% 0% 4,59% 15,59% 71,56% 12,85% 15,59% 71,56% 100% 100% Tab. 16: Diskriminierender Gehalt der Nicht-Partikeln-Belege Bei den Belegstellen, die über zu den Partikeln homographe Lexeme selektiert wurden, ergab sich insgesamt eine recht ähnlich Verteilung wie bei den über Partikeln selektierten Belegstellen (vgl. Abb. 2 und 3). Bei den homographen Lexemen finden sich etwas weniger Diskriminierungen (12,85% vs. 18,8 %), dafür etwas mehr Ironie (15,59% vs. 11,45%). Der prozentuale Anteil an Nicht-Diskriminierungen ist in beiden Fällen sehr ähnlich (71,56% gegenüber 70,37%). Die Differenzen bewegen sich allerdings in Größenordnungen, die vermutlich nicht signifikant sind. Die Ähnlichkeit der prozentualen Verteilung legt den Schluss nahe, dass die homographen Lexeme trotz unterschiedlicher Wortklasse ähnlich zu funktionieren scheinen. Die zu Partikeln homographen Lexeme realisieren ähnliche semantische und pragmatische Funktionen wie die Partikeln, obwohl deren <?page no="156"?> 156 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Wortklasse semantisch verschieden definiert ist. Wortklassen sind letzlich wohl doch Hilfskonstruktionen, die die semantische Funktion der zugehörigen Lexeme nur unzureichend zu beschreiben vermögen. Zumindest scheinen sich die untersuchten homographen Lexeme ebenso gut dafür zu eignen, auf Implizitheit, resp. auf ISDn hinzuweisen, wie die Partikeln selbst. In künftigen Analysen könnte somit auf die mühsame und Zeit raubende Arbeit verzichtet werden, die Partikeln von homographen Lexemen anderer Wortklassen zu unterscheiden und getrennt auszuwerten. Diskussion: Bei der Betrachtung der absoluten Anzahl der selektierten Belegstellen und des Verhältnisses von Belegstellen zu Suchwörtern ist die Suche nach Partikeln ertragreicher. Bei der Betrachtung des diskriminierenden Gehalts fallt hingegen auf, dass die Belege, die mittels Modalwörtern selektiert wurden, deutlich mehr potentielle Diskriminierungen enthalten. Die Modalwörter scheinen inhaltlich die präziseren Implizitheitsindikatoren zu sein. Dieser Befund lässt sich wohl dadurch erklären, dass die Modalwörter bereits als Klasse so definiert sind, dass sie sich kommentierend auf das Gesagte beziehen (vgl. Kap. 4.5). Bei Partikeln ist hingegen die Abtönung nur eine Funktion unter mehreren. Die meisten Lexeme können zugleich auch Gradpartikeln oder Steigerungspartikeln sein und sind semantisch vielseitiger als die Modalwörter. Die Ergebnisse zeigen, dass sich eine semantische Feinabstimmung der Suchwortliste äußerst günstig auf das Suchergebnis niederschlägt. Bei einer semantisch optimierten Suchanfrage wie im Falle der Modalwörter werden zwar weniger Belege selektiert, diese enthalten aber inhaltlich relevantere Belege. Weniger aber relevantere Belege beschleunigen die Untersuchung, da die inhaltliche Analyse nur manuell erfolgen kann und umso mehr Zeit in Anspruch nimmt, je mehr irrelevante Belege gesichtet und aussortiert werden müssen. Diese Optimierung entspricht der erwähnten Forderung nach einem effizienten Verfahren: Eine große Datenreduktion führt zu einer effizienten Analyse großer Datenbestände. Zur Beurteilung der Effizienz des hier verwendeten mehrstufigen Analysemodells ist besonders die Reduktion der Textmenge im Analyse-Verlauf von Interesse: Legende: Die Korpora I-IV enthalten die Ergebnisse der entsprechenden Analysestufen 1-4. Tab. 17: Reduktion der Textmenge im Verlaufder Analyse <?page no="157"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 157 In der ersten Analysestufe verringerte die maschinelle Bearbeitung die Anzahl der Texte auf etwas weniger als ein Fünftel. Die große Reduktion war sehr dazu geeignet, den Aufwand der darauf folgenden manuellen Bearbeitung in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Die zweite Stufe erforderte das manuelle Sichten aller Texte und reduzierte diese auf etwas weniger als ein Viertel. Nach den ersten zwei Stufen war die Textmenge somit auf etwa ein Zwanzigstel des ursprünglichen Korpus gesunken, ohne dass auf relevante Textpassagen verzichtet werden musste. Die nachfolgenden zwei Analysestufen galten nicht mehr der Textsondern der Beleg-Selektion. Die maschinelle dritte Stufe halbierte die Textmenge auf etwa ein Viertel des Ergebnisses von Stufe 1 (in Stufe 2 wurden keine Belege, sondern nur Texte selektiert). Der 4. Stufe verblieben somit lediglich 449 Belege zur manuellen Sichtung. Diese Textmenge erlaubte es, die einzelnen Belege mit vertretbarem Aufwand einer inhaltlichen Analyse zu unterziehen. Die Beurteilung des diskriminierenden Gehalts der Belege und die Reduktion von Mehrfachselektierungen erbrachte eine weitere Halbierung der Texte auf 42 und eine Reduktion der Belege auf weniger als ein Siebtel. Die resultierenden 60 Belege können aufgrund der inhaltlichen Analyse der 4. Stufe als potentielle Diskriminierungen gelten. Wegen des heuristischen Charakters der 3. Stufe kann allerdings nicht entschieden werden, ob es sich dabei um alle potentiellen Diskriminierungen des Wendekorpus handelt. Wenn es weitere Diskriminierungen gäbe, müssten diese aber in den 154 Texten des Korpus II zu finden sein, sofern die Ausländerkategorie darin explizit genannt ist. Die gesamte Analyse hat aus 3.387 Texten 42 selektiert, was einer Reduktion auf ein Achtzigstel entspricht. Noch extremer ist die Reduktion der Anzahl der Wörter (auf 0,036%) und der Anzahl der Sätze (auf 0,029%) ausgefallen. Die Reduktion der Textmenge durch das Analyseverfahren ist somit enorm groß. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass manuelle Analyseverfahren mit kalkulierbarem Zeitaufwand eingesetzt werden können Fazit: In der dargestellten Untersuchung konnte Folgendes gezeigt werden: (1) Die von uns zusätzlich eingebrachten sprachlichen Mittel ‘Modalwörter’ und ‘Partikeln’ finden sich in authentischen ISDn in Printmedientexten. (2) Die untersuchten Modalwörter und Partikeln haben in vielen der selektierten Belege die Funktion von Implizitheitsindikatoren. (3) Die über die Modalwörter selektierten Belege enthalten ca. zu einem Drittel, die über die Partikeln selektierten Belege ca. zu einem Sechstel potentielle Diskriminierungen. <?page no="158"?> 158 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Die beiden Kategorien ‘Modalwörter’ und ‘Partikeln’ eignen sich somit, wenn auch in unterschiedlichem Maße, dazu, in Printmedientexten ISDn aufzufmden, womit unsere untersuchungsleitende Hypothese (UH) für diese Auswahl von Lexemen und dieses Textkorpus als bestätigt gelten kann. Über die konkrete Untersuchung hinaus hat sich auch das speziell für diese Untersuchung entworfene mehrstufige Analysemodell bestens bewährt und könnte Modellcharakter für ähnliche Analysen haben. 5.4 Einige exemplarische ISDn aus dem Wendekorpus Diese Arbeit handelt von potentiellen sprachlichen Diskriminierungen, d.h. von sprachlichen Ausdrücken, die syntaktische und semantische Merkmale tragen, die sie dazu geeignet erscheinen lassen, eine diskriminierende Funktion zu übernehmen. Sie handelt davon, welche Bestandteile diese Strukturen aufweisen und wie wir sie erkennen können. Die Frage, wer wen wann diskriminiert hat, liegt außerhalb dieses strukturellen Ansatzes (vgl. auch Kap. 1.3) und bedarf der eingehenden Analyse des historischen und publizistischen Hintergrunds eines Textes. Das ist nur im Rahmen einer thematischen Analyse zu leisten. Die Betroffenen-Interviews in unserem Projekt haben zudem gezeigt, dass sich längst nicht alle Befragten von Äußerungen diskriminiert fühlten, die wir als eindeutig diskriminierend eingestuft hatten. Aus den genannten Gründen sollen hier nur ein paar exemplarischen Interpretationen erfolgen, um aufzuzeigen, wie mit Implizitheitsindikatoren auf Information aus dem Kontext zugegriffen werden kann. Die in unserer Analyse aufgefundenen potentiellen Diskriminierungen (vgl. Anhang) wurden differenziert nach ‘negativer Diskriminierung’, ‘positiver Diskriminierung’ und ‘Antidiskriminierung’ (vgl. Kap. 5.1.5). Dabei haben die verschiedenen Indikatoren teilweise dieselben Belegstellen selektiert, resp. es kamen in einem Beleg mehrere Indikatoren vor. Beim Fokussieren der resultierenden Textpassagen mit potentiellen Diskriminierungen mussten somit die Ergebnisse der Analyse um die Mehrfachnennungen reduziert werden. Alle Indikatoren zusammen haben 60 solche Textpassagen selektiert, die aus 42 unterschiedlichen Texten stammten (vgl. Tab. 17). Dabei traten als ‘negative Diskriminierung’ klassifizierte Textpassagen (31) etwas häufiger auf denn als ‘Antidiskriminierung’ klassifizierte (24). Die als ‘positive Diskriminierung’ klassifizierten Textpassagen (5) waren in Verhältnis dazu eher selten vertreten. Negative Diskriminierungen: Von den insgesamt 31 als ‘negative Diskriminierung’ klassifizierten Belegen sollen hier stellvertretend folgende drei Beispiele kurz besprochen werden: <?page no="159"?> Können mit Implizitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 159 (24) Selbst die Türken stehen mittlerweile, so scheint es, auf der Sozialskala noch vor den Ostbürgern. (25) Bis zur letzten Kammer sind bundesweit die Unterkünfte für Fremde ausgebucht. Die Deutschen drängen sich auch nicht anders als Asylbewerber schon in Turnhallen, Containerdörfern und umgewidmeten Eros-Centern. (26) Sächsischen Akzent darf der Boy ruhig sprechen (viel schlechter versteht man Türken auch nicht), denn nicht jeder kann sich einen akzentfreien DDR-Diener leisten. In (24) werden sowohl die ‘Türken’ als auch die ‘Ostbürger’ diskriminiert: Die Einstufung der ‘Türken’ vor den ‘Ostbürgern’ auf der ‘Sozialskala’ wird mittels der Partikel ‘selbst’ als kaum fassbare Tatsache hingestellt. Dies macht klar, wo der Autor von (24) selbst die ‘Türken’ einstufen würde. Die ‘Ostbürger’ werden diskriminiert, weil sie als in der Werteskala des Autors ganz unten rangierend dargestellt werden. Die schlechte Einstufung der einen Bevölkerungsgruppe wird also in einem expliziten Vergleich dazu verwendet, die andere abzuwerten. In (25) ist ähnlich wie in (24) ein Vergleich enthalten: die ‘Deutschen’ werden mittels des die Partikeln ‘auch’ und ‘nicht’ enthaltenden Ausdrucks ‘auch nicht anders als’ mit den ‘Asylbewerbern’ verglichen. Dabei wird die im Falle der ‘Asylbewerber’ nicht kommentierte Art der Unterbringung im Falle der ‘Deutschen’ mittels der Partikel ‘schon’ deutlich als unannehmbar beschrieben. Durch diesen Vergleich wird die Kategorie der ‘Asylbewerber’ implizit herabgestuft. In (26) wird die nicht genannte - Kategorie der ‘Ostdeutschen’ dadurch abgewertet, dass der Ausdruck ‘sächsischer Akzent’ in Verbindung mit ‘boy’ einer Bezeichnung aus den Tagen der europäischen Kolonialherrschaft - und in Verbindung mit ‘DDR-Diener’ gebracht wird, und so eine soziale Klassifizierung der ‘Ostdeutschen’ vorgenommen wird. Die Klammerbemerkung realisiert zusätzlich ähnlich wie in (24) einen Vergleich mit der Kategorie der ‘Türken’ mit Hilfe der Partikel-Reihung ‘auch nicht’. Hierbei werden die ‘Türken’ wiederum als Negativpol einer Vergleichsskala genannt und damit diskriminiert. Positive Diskriminierungen: Von den insgesamt fünf Belegen für ‘positive Diskriminierung’ seien hier folgende drei Beispiele kurz analysiert: (27) Selbst unter den 260 BRD-Teilnehmem des deutsch-deutschen Physikertreffens [...] könnten nach Ansicht von Dr. G. „ganz bestimmt ein <?page no="160"?> 160 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Drittel ehemaliger Flüchtlinge oder deren Nachkommen“ gewesen sein. (28) Ich finde, die Türken in den Geschäften in Kreuzberg sind sogar sehr freundlich. (29) Die Flüchtlinge und Umsiedler erwiesen sich sogar als die eigentlichen Motoren aller gesellschaftlichen Veränderung in der DDR. In (27) wird mittels der Partikel ‘selbst’ hervorgehoben, dass auch bei einem Physiker-Treffen viele ehemalige Flüchtlinge anwesend waren. Wäre diese Tatsache für den Autor eine Selbstverständlichkeit, würde er sie nicht so sehr betonen. Offensichtlich geht der Autor aber davon aus, dass dies niemand erwarten würde und dass diese Tatsache daher Erstaunen hervorruft. Hiermit lässt die positiv formulierte Meldung eine eher negative Einschätzung von ‘ehemaligen Flüchtlingen’ bezüglich ihrer intellektuellen und gesellschaftlichen Fähigkeiten durchblicken und wurde daher als ‘positive Diskriminierung’ klassifiziert. In (28) wird die Freundlichkeit der ‘Türken’ mittels der Partikel ‘sogar’ herausgestrichen. Dies deutet ebenfalls auf eine eher negative Erwartung bezüglich dieser Eigenschaft und dieser Kategorie hin. Diese Erwartung muss dabei nicht die Erwartung des Autors sein, sondern es kann auch eine allgemein verbreitete Erwartung sein, die ihm bekannt ist und die er diskutiert, die er aber nicht teilt. Auch in diesem Fall ist die Struktur von (28) diejenige einer ‘positiven Diskriminierung’. In (29) wird mittels der Partikel ‘so’ betont, dass die ‘Flüchtlinge’ und ‘Umsiedler’ eine Veränderung bewirkt haben. Die implizit enthaltene Erwartung des Gegenteils muss hier ebenfalls nicht vom Autor geteilt werden. Vielmehr wirkt (29) wie eine Widerlegung dieser Erwartung und rückt dadurch in die Nähe einer Antidiskriminierung. Um eine solche würde es sich aber erst handeln, wenn diese Erwartung deutlich negiert würde. Antidiskriminierungen: Von den insgesamt 24 Belegen für ‘Antidiskriminierung’ sollen folgende drei Beispiele kurz vorgestellt werden: (30) Gerade Ausländer haben es besonders schwer, mit der neuen Situation zurechtzukommen. (31) Die Flüchtlinge werden herabgestuft zu Kriminellen und Asozialen, die im Pelz zwar ein bisschen jucken, die man aber abschütteln und rausschütteln kann. <?page no="161"?> Können mit ImpHzitheitsindikatoren ISDn gefunden werden? 161 (32) In einen freiheitlichen Rechtsstaat gehört auch ein vernünftiges Miteinander zwischen Deutschen und Ausländern. In (30) wird mittels der Partikel ‘gerade’ auf die besondere Situation der ‘Ausländer’ hingewiesen und um Verständnis geworben. Die Struktur ist dieselbe wie bei einer negativen Diskriminierung: Über eine Kategorie wird pauschalisierend eine Aussage getroffen, die eine Bewertung der Kategorie enthält. Diese Bewertung fällt in (30) zwar nicht eindeutig negativ aus, beschreibt aber immerhin ein Unvermögen der genannten Kategorie und könnte mit leicht veränderter Wortwahl durchaus negativ formuliert werden. Die Verwendung der Ausdrücke ‘haben es besonders schwer’ und ‘zurechtzukommen’ wirbt aber um Verständnis und macht (30) zu einer Antidiskriminierung. In (31) werden die ‘Flüchtlinge’ auf eine Stufe mit ‘Kriminellen’ und mit ‘Asozialen’ gestellt und mit einer Ungeziefer-Metapher belegt. Diese äußerst negative Bewertung der Kategorie ‘Flüchtlinge’ wird aber dadurch relativiert, dass der Ausdruck ‘werden herabgestuft’ eine deutliche Distanzierung von dieser Bewertung enthält und deren Urheberschaft Drittpersonen zuweist. Deshalb handelt es sich bei (31) um einer ‘Antidiskriminierung’. In (32) wird inhaltlich das Gegenteil einer Diskriminierung gefordert: Die ‘Deutschen’ und die ‘Ausländer’ sollten ‘in einem vernünftigen Miteinander’, d.h. ohne Bewertung der kategorialen Unterschiede, Zusammenleben. Die Partikel ‘auch’ macht deutlich, dass dies ein Bestandteil eines ‘freiheitlichen Rechtsstaates’ ist, der leider oft vergessen wird. Zitierte explizite Diskriminierung: Unter den aus der Recherche als potentielle ISDn resultierenden Belegen fand sich lediglich eine explizite Diskriminierung. Diese sei wegen ihres beispielhaften Charakter hier kurz besprochen: (33) Tagsüber will hier niemand mit den „Fidschis“ (DDR-Jargon) zu tun haben. Afrikanische Arbeiter werden als „Briketts“ angepöbelt. „Ausländer raus! “ brüllte die Menge auch bei den letzten Leipziger Montagsdemos. Die explizite Diskriminierung in (33) zitiert stark abwertende Bezeichnungen für Ausländer wie ‘Fidschis’ und ‘Briketts’, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Diese Bezeichnungen sind in (33) nicht als die Meinung des Autors wiedergeben, sondern deutlich als lediglich berichtete Zitate gekennzeichnet. Obwohl es sich in (33) ‘nur’ um eine zitierte explizite Diskriminierung handelt, wird diese gerade durch das Zitieren öffentlich gemacht und weiterverbreitet auch dies erhöht ihren Wirkungsgrad. Wir haben es hier mit der schwierigen Frage zu tun, inwieweit die in einem Zitat enthaltene Meinungsäußerung von der zitierenden Person mitgetragen oder nur neutral <?page no="162"?> 162 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt weitergegeben wird einer Frage, die im ‘Fall Jenninger’ bereits einmal zum Rücktritt eines Bundestagspräsidenten geführt hat. Dem Autor von (33) ging es wohl eher darum, die ausländerfeindliche Stimmung in Ostdeutschland kurz vor der Wiedervereinigung zu schildern. Dies macht der zweite Satz mit dem zitierten Slogan „Ausländer raus! “ deutlich: Die Partikel ‘auch’ bezogen auf die ‘letzten Leipziger Montagsdemos’ macht deutlich, dass zeitgleich zum öffentlichen Bekenntnis zur Demokratie auch Manifestationen von Ausländerfeindlichkeit zu hören waren. Da es sich hierbei um eine vom Autor als negativ bewertete Tatsache handelt, die in (33) mittels ‘hier’ und ‘niemand’ pauschal mit der Bevölkerung in Ostdeutschland in Verbindung gebracht wird, sind unsere Bedingungen für eine negative Diskriminierung erfüllt. <?page no="163"?> 6. Was bedeuten die Ergebnisse der Arbeit für die Analyse von tSDn? Diese Arbeit hatte sich zwei Ziele gesetzt: ein theoretisches und ein empirisches. Wie in Kap. 0 beschrieben, wurde entsprechend eine semantische Hypothese (SH) und eine empirische Hypothese (EH) formuliert. Beide Hypothesen leiteten die analytische Arbeit: Die semantische Hypothese ermöglichte es, die sprechakttheoretische Literatur unter der Quästio der Implizitheit zu sichten und nach Hinweisen auf Implizitheitsindikatoren zu durchsuchen; die empirische Hypothese hatte zum Ziel, die über Implizitheit gewonnenen theoretischen Erkenntnisse auf die spezielle Fragestellung der impliziten Diskriminierung zu übertragen und deren praktische Relevanz anhand von Medientexten zu validieren. Die Analyse des Implizitheits-Konzepts in der SAT hat ergeben, dass die Fragestellung der SAT unmittelbar an die Tradition der logischen Semantik anknüpft. Mit Ausnahme von Grice argumentieren alle Autoren mit semantischen Begriffen, wie sie die Tradition der logischen Semantik eingeführt hat. Die Analyse hat weiter gezeigt, wie zentral der Begriff der Implizitheit für die SAT ist. Das von Austin Performativität resp. illlokutionäre Kraft genannte Potential einer Äußerung, bestimmte Handlungen zu vollziehen, ist nahezu identisch mit dem, was wir als die pragmatische Funktion einer Äußerung bezeichnen. Dieses Potential wird in der Regel in der Äußerung selbst nicht explizit gemacht sondern bleibt implizit. Die SAT kann als Versuch begriffen werden, die Grenzen der propositionalen Bedeutung zu überwinden, und implizite, d.h nichtlexikalisierte, Bedeutungsanteile der Analyse zugänglich zu machen. Die SAT will das Fregesche Kompositionsprinzip auflösen, paradoxerweise aber mit Hilfe der von Frege eingeführten Termini der logischen Semantik. Das entspricht unserer semantischen Hypothese (SH), die damit als bestätigt betrachtet werden kann. Die im theoretischen Teil dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse sind viel allgemeiner ausgefallen, als dies die viel enger gefasste Problematik der impliziten sprachlichen Diskriminierung erfordert hätte. Dies lag einerseits in der m. E. großen Relevanz des Themas begründet, andererseits darin, dass keine einheitliche Definition von Implizitheit vorlag und so zur Klärung des Gegenstandsbereichs erst Pionierarbeit geleistet werden musste. Bei der anschließenden Fokussierung auf die ISDn konnten die Implizitheitsindikatoren als sprachliche Mittel zur Realisierung von Implizitheit auf authentische sprachliche Diskriminierungen übertragen werden. Die starke Kontextverankerung der ISDn machte es nötig, weitere über die SAT hinausgehende theoretische Ansätze hinzuzunehmen, um eine ausreichend große Menge an Impliztheitsindikatoren zu erhalten. <?page no="164"?> 164 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Im empirischen Teil der Arbeit wurde eine Teilmenge der im theoretischen Teil isolierten Implizitheitsindikatoren als Indikatoren für ISDn validiert. Die empirische Überprüfung dieser Teilmenge anhand eines größeren Korpus von Medientexten hat ergeben, dass Implizitheitsindikatoren in Printmedientexten tatsächlich verwendet werden. Viele der über diese Indikatoren selektierten Belege können tatsächlich als ISDn interpretiert werden. Damit eignen sich die von mir ausgewählten allgemeinen Implizitheitsindikatoren auch für den Spezialfall der ISDn und können für diese eine Indikatorfunktion ausüben. Die empirische Hypothese {EH) dieser Arbeit konnte zumindest für die untersuchten Lexeme und das verwendete Korpus bestätigt werden. Somit haben sich beide Hypothesen dieser Arbeit bestätigt. Der Wert dieser Arbeit liegt nicht nur in der formalen Bestätigung der Hypothesen, sondern auch in den dabei als ‘Nebeneffekten’ gewonnenen Erkenntnissen über den Analysegegenstand. Im theoretischen Teil wurden, wie bereits erwähnt, auch Erkenntnisse darüber gewonnen, was sprachliche Implizitheit ist und wie sich nichtlexikalisierte Bedeutung konstituiert. Im empirischen Teil wurden Erkenntnisse über die linguistische Analyse großer Textkorpora gewonnen. Das speziell für diese Untersuchung entworfene mehrstufige Analysemodell hat sich bestens bewährt und könnte Modellcharakter für ähnliche Analysen haben. Alle inhaltlichen Analysen großer Textkorpora stehen vor demselben Dilemma: Eine möglichst große Textmenge ist zwar gut für die ökologische Validität einer Analyse, aber schlecht für deren Durchführbarkeit. Je präziser eine qualitative Analyse ist, desto mehr Zeit benötigt sie und desto kleiner ist die analysierbare Textmenge. Ein mehrstufiges Analyseverfahren kann helfen, dieses Dilemma zu lösen. Die Suchwort listen der mechanischen und die Operationalisierungen der manuellen Bearbeitungsschritte müssen natürlich dem jeweiligen Untersuchungsziel angepasst werden. Das Prinzip, dass sich mechanische und manuelle Schritte abwechseln und aufeinander aufbauen, kann aber beibehalten werden. Die Anwendung unseres Verfahrens auf andere computerlesbare Textkorpora würde es erlauben abzuschätzen, inwieweit die Ergebnisse unserer Untersuchung von der Beschaffenheit des verwendeten Korpus abhängig sind. Ein Vergleich mehrerer Analysen würde zeigen, inwiefern unsere Ergebnisse verallgemeinerbar sind. Für die künftige Analyse von ISDn in Medientexten wecken die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit die Hoffnung, linguistische Analyseverfahren entwickeln zu können, die vollständige Jahrgangskorpora von Zeitungen auf diskriminierungsverdächtige Textstellen überprüfen. Eine Weiterentwicklung dieses Verfahrens könnte es erlauben, die Analyseergebnisse von verschiedenen Jahrgängen und von verschiedenen Zeitungs- und Zeitschriftentiteln miteinander zu vergleichen und so aufzuzeigen, zu welchen Zeitpunkten, in welchen Medien und in welchen Regionen sprachliche Diskriminierungen von sozialen Gruppen eine gesellschaftliche Realität darstellen. <?page no="165"?> Was bedeuten die Ergebnisse der Arbeitfür die Analyse von tSDn? 165 Als letzten und vielleicht wichtigsten ‘Nebeneffekt’ erhoffe ich, dass diese Arbeit Interesse an der sozialen Dimension von Sprache wecken und die Aufmerksamkeit für sprachliche Diskriminierungen erhöhen konnte. <?page no="167"?> 7. Literatur al-Wadi, Doris (1995): Cosmas Benutzerhandbuch. Mannheim. Auer, Peter (1984): Conversational code-switching, ln: Auer, Peter/ Di Luzio, Aldo (Hg.): Interpretative Sociolinguistics. Tübingen. S. 87-112. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47. 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Von den Notstandsübungen für die Aufnahme angeblich Zehntausender von „Flüchtlingen“ ganz zu schweigen, erklärte Botschafter Meyer weiter. 1020 Schließlich und endlich halte ich es für mit dem Rechtsfrieden kaum vereinbar, die Probleme der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern damit zu verquicken, daß das Recht auf politisches Asyl in Frage gestellt wird. 1023 Natürlich wollen wir ein gutes Miteinander zwischen Deutschen und Ausländern in diesem Land, wobei klar ist, daß jeder Ausländer hier nach seinen eigenen kulturellen und religiösen Vorstellungen leben kann. 142 Bei ihrem Eintreffen in den Auffanglagern war den „Flüchtlingen“ auch ein Sonderdruck der „Passauer Neuen Presse“ mit Angeboten des Arbeitsamtes für angeblich offene Stellen in der BRD übergeben worden. 147,333 Vergessen wird auch, daß Ausländer nicht nur bei uns lernen oder studieren, sondern auch unsere jungen Leute im Ausland Bildung erwerben. Vergessen wird manchmal, daß persönliches Glück, die Liebe, nicht vor Ländergrenzen halt macht. <?page no="174"?> 174 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 158 Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländem in unserem Land kann ein Betrag zu einer neuen Qualität des Miteinanders verschiedener Völker sein. 161, 162 Ich bitte gleichzeitig - und das ist eine wichtige Frage, auch die sollten wir hier bei uns bedenken um gegenseitige Rücksicht und Besonnenheit insbesondere im Umgang mit Fremden, seien es Gäste, Durchreisende, Ausländer oder auch die sowjetischen Soldaten [...]. 181,284 Denn weder Ausländerhaß noch Inländerhaß will ich dulden. 1019 Wovon die Bürger bisher jedoch kaum Kenntnis genommen haben, sind die miserablen - und an sich schon wieder ausländerfeindlichen Bedingungen, unter denen Vietnamesen und Kubaner, Angolaner, Chinesen und Mosambikaner in der DDR leben müssen. 197 (Über Biermann) Der erste Oberlehrer der Nation! O Gott, endlich ist es raus, der Oberlehrer der Nation, der sich wieder einmal anschickt, ein Stückchen weit das Leben zu erklären: „Ich weiß, warum die Leute abhauen! Es ist nicht das Fressen, nicht der Wohlstand! Das sind doch keine Wirtschaftsflüchtlinge! “. Und er schließt auch die ein, die heute noch gehen. Ja natürlich, ich weiß auch, die Repressionen, die Unmündigkeit, das Mißtrauen. 217 Nun könnte man sagen, warum protestieren denn die Ausländer nicht. Aber die haben in dieser Gesellschaft keine Stimme und kein Recht, weil sie eben Ausländer sind. 223 Das ist der unersetzliche Beitrag gerade der Flüchtlinge und Vertriebenen zur Demokratie und zur Friedensfähigkeit des deutschen Volkes. 228 Gerade Ausländer haben es besonders schwer, mit der neuen Situation zurechtzukommen. 293, 69 Bloß: dieses Menschenrecht gilt nicht nur für deutsche Flüchtlinge, sondern es gilt auch für diejenigen aus anderen Ländern. <?page no="175"?> Anhang 175 308 Die Ausländerfeindlichkeit hüben wie drüben kennt nur ihr „die“ und „wir“. 334 Und letztlich: Ausländer kann jeder von uns werden, er muß nur die Grenze passieren. 409 Und was die Flüchtlinge betrifft, so wurden die oft durch direkte Mitschuld der Deutschen erst dazu gemacht. Wenn ich an die Kurden denke, die auf Grund von Giftgaseinsätzen in die Flucht getrieben worden sind. Dieses Giftgas ist mit deutscher Flilfe hergestellt worden. Das wird in den Medien kaum erwähnt. 458 Die Flüchtlinge werden herabgestuft zu Kriminellen und Asozialen, die im Pelz zwar ein bißchen jucken, die man aber abschütteln und rausschütteln kann. 60, 89, 257, 90 Darum fordern wir: [...] Wiedergutmachung für jene, die auch in der DDR wegen ihrer Liebe zum eigenen Geschlecht verfolgt wurden [...] den Abbau noch bestehender gesetzlicher Benachteiligungen [...] ein einklagbares Asylrecht für all jene, die aus politischen oder geschlechtsspezifischen Gründen in ihrer Heimat verfolgt werden, also auch für die Schwulen und Lesben Rumäniens, Irans und anderer Staaten [...]. 1061 Wer anders ist als andere der bei uns lebende Ausländer oder der sich anders verhaltende Jugendliche -, sie sollen in der Gesellschaft, die wir gestalten wollen, in ihrer Menschenwürde anerkannt sein, sich wohl und zu Hause fühlen und wissen, daß wir sie als Bereicherung unseres Lebens erfahren. 68 Es gilt für die Menschen, die aus Polen in die BRD kommen und es gilt in gleichem Maße auch für die Flüchtlinge aus der sogenannten Dritten Welt. 72 Was die Frage angeht, ob neben der Einreise von Flüchtlingen auch Einwanderung stattfmden kann, so stimme ich unserem Kanzler in der Einschätzung zu, daß die Verbesserung der Wohlfahrt und des privaten Wohlstands ein Menschenrecht ist in welchem Umfang und zu welchen Bedingungen, darüber müssen wir uns auseinandersetzen, und wir müssen auch für diese Menschen die soziale Absicherung bereitstellen. <?page no="176"?> 176 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 14 In einen freiheitlichen Rechtsstaat gehört auch ein vernünftiges Miteinander zwischen Deutschen und Ausländern. Negative Diskriminierungen 1024,214, 73,457 Wir dürfen nicht darüber hinwegtäuschen oder verwischen, daß natürlich alle Menschen gleich sind und daß wir uns auch allen Menschen verpflichtet fühlen, aber daß eben Frankreich für die Franzosen zuständig ist, Polen für die Polen, Italien für die Italiener und die Bundesrepublik Deutschland für die Deutschen, und zwar für alle Deutschen. 103 Dabei können Aktien an Mitarbeiter, aber auch an Ausländer vergeben werden. 1038,298 Und vielleicht die erfreulichste Feststellung: Von etwa 1500 in Trostberg eingetroffenen Flüchtlingen waren nur noch einige hundert dort. 1042 Auf der Spur eines euphorischen Augenblicks, der vielleicht ein historischer ist: an den freudetrunkenen Gesichtern aus dem Fernsehen kommen wir nicht vorbei, an den braungebrannten Flüchtlingen, die die Gunst der Stunde nutzten und die ungarisch-österreichische Grenze fast wie auf einem Spaziergang überschritten. 1043,300 Wer Flüchtling ist, läßt sich nur am Vierundzwanzig-Stunden-Bart erkennen, am Gepäck, vielleicht an der Jeans-Marke, in den meisten Fällen am Alter. 1048 Das wäre vielleicht die Lösung vieler Probleme; wenn man die Ausländer weiter draußen unterbringen könnte; dann bliebe ihm mancher Ärger mit den Nachbarn erspart. Wir dachten, Grünau wäre die Isolierstation. 1054 Vielleicht denkt die Betriebsleitung: Deutsche werden in Scharen arbeitslos, da können wir nicht alle Ausländer weiter beschäftigen. 131 Tagsüber will hier niemand mit den „Fidschis“ (DDR-Jargon) zu tun haben. <?page no="177"?> Anhang 177 Afrikanische Arbeiter werden als „Briketts“ angepöbelt. „Ausländer raus! “ brüllte die Menge auch bei den letzten Leipziger Montagsdemos. 173 der stellvertretende SPD-Vorsitzende sei „ausländerfreundlich“, aber „deutschenfeindlich“, denn er trete für die „Scheinasylanten aus aller Welt“ ein, wolle gleichzeitig aber die Landsleute aus der DDR ausgrenzen und das Tor für die Aussiedler aus Rumänien zumachen. 174,107 Sächsischen Akzent darf der Boy ruhig sprechen (viel schlechter versteht man Türken auch nicht), denn nicht jeder kann sich einen akzentfreien DDR- Diener leisten. 178 Denn „geerbt“ hat der DAAD seit dem 4. Oktober etwa 10000 Stipendiaten mehr als 3000 Deutsche aus Ostdeutschland, die im Ausland studieren, zwei Drittel davon in der Sowjetunion, und 7000 Ausländer, die an Hochschulen der ehemaligen DDR eingeschrieben sind. 187 Da muß man doch ganz offen und nüchtern feststellen, daß jeder Deutsche, der einen Verwaltungsgerichtsprozeß führt und verliert, die Konsequenzen tragen muß, daß aber bei Ausländern, die als Asylbewerber hierherkommen und nicht als politisch Verfolgte anerkannt werden, die Konsequenz ausbleibt. 188 Meine Damen, meine Herren, es ist doch ein Bild des Jammers: während der rot-grüne Berliner Senat auf der einen Seite die Tore für Ausländer aufmacht, unternimmt ausgerechnet derselbe Berliner Senat alle Anstrengungen, um die deutschen Aussiedler und Übersiedler den anderen Bundesländern zuzulasten. 203 Immer mehr Ausländer überschwemmen Deutschland, vergewaltigen deutsche Frauen, doch das wird in den Medien totgeschwiegen. 251 Daß sie nun Wähler sind und umworben werden, geht den Flüchtlingen noch nicht auf. <?page no="178"?> 178 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt 253, 171 „Sind dies alles denn noch Flüchtlinge“ fragen Briefschreiber die Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), meinen DDR-Bürger, „die hier unsere Steuergelder kassieren“. 283 Der Abkauf von Waren durch Ausländer, vor allem Polen, hat eine Dimension erreicht, die derzeit weder die Volkswirtschaft materiell, noch unsere Bevölkerung seelisch verkraften kann. Dutzende Anrufer fordern täglich von uns, öffentlich Druck auszuüben auf all jene Stellen, die dem Einhalt gebieten können: auf die Regierung, die Grenzer, den Zoll, die Bahn usw. 301 Nur ihr für Fernreisende ungewöhnlich kleines Gepäck - Umhängetasche, Plastiktüten, Tagesrucksäcke deutet daraufhin, daß sie nicht von einer Urlaubsreise zurückkehren, sondern Flüchtlinge sind. 307 Die Mauer ist durchlässig geworden und ganz Berlin freut sich. Ganz Berlin? Auf einem Bahnsteig im U-Bahnhof Zoo steht eine Gruppe junger Deutscher, so um die 30 Jahre alt - Ostberliner und Westberliner zum Gruppenfoto. Fünf junge Türken bahnen sich einen Weg durch die Menge, einer von ihnen pfeift verlegen. „Die sehen, daß sie hier jetzt nichts mehr zu sagen haben. Die sollen bloß still bleiben“ - „Kanaken raus! “ - „Türken werden jetzt drüben gebraucht zum Kohlenschippen“. Anderswo in der U-Bahn: „Lieber gebe ich 100 Mark an meine Landsleute als nach Mombasa“ - „der Italiener und der Spanier will nur unser Geld“. Diese Sprüche sind nicht die Regel, aber sie sind zu hören inmitten des allgemeinen Staunens über türkische Kebab- Drehspieße und griechische Kalamaris-Künste. 353,88 Bis zur letzten Kammer sind bundesweit die Unterkünfte für Fremde ausgebucht. Die Deutschen drängen sich auch nicht anders als Asylbewerber schon in Turnhallen, Containerdörfern und umgewidmeten Eros-Centern. 364,450, 116, 1060 „Die medizinische Versorgung ist noch nicht zusammengebrochen, dennoch würden wir gerne arbeitslose Ärzte aus der BRD zu unseren Bedingungen einstellen“, sagt er. „An die fünfzig Ärzte haben sich schon beworben, viele von ihnen sind Ausländer, die wohl auch in der BRD nichts finden“, meint er. 371, 180, 149 Darauf sei hier mit Nachdruck verwiesen, denn Kündigungen von alleinstehenden Müttern, Behinderten, Schwerbeschädigten, Absolventen und auch von Ausländern belaufen sich mittlerweile schon auf rund 1000. <?page no="179"?> Anhang 179 381,421 Selbst die Türken stehen mittlerweile, so scheint es, auf der Sozialskala noch vor den Ostbürgern. 396 „Sprengstoff 1 , so entdeckte die Marienfelder Flüchtlingsverwalterin, trage ihre Klientel unter Berlins Bürger. 416 (Brief an „literarische Emigranten“) Die Flüchtlinge, heißt es in Benns „Antwort an die literarischen Emigranten“, „haben nämlich die Gelegenheit versäumt, den ihnen so fremden Begriff des Volkes nicht gedanklich, sondern erlebsmäßig, nicht abstrakt, sondern in gedrungener Natur in sich wachsen zu fühlen“. 446 Vielleicht muß der Spieß einmal umgedreht werden: Nicht Gastredner aus der Bundesrepublik sagen bei uns, wo es lang gehen soll, sondern wir treten als Gastdemonstranten in Bonn auf. Und protestieren gegen unsere beabsichtigte Verwandlung in deutsche Türken. Womit nichts gegen türkische Gastarbeiter und gegen Türken überhaupt gesagt werden soll. Im Gegenteil. 463,1029 Der Bundestag muß für zwei Gruppen unserer ostdeutschen Bevölkerung deutliche Zeichen setzen, sie müssen vorrangig mit Mitteln und Programmen bedacht werden, und zwar sind es die Jugendlichen und die Rentner sowie die Randgruppen unserer Gesellschaft, Behinderte, Kranke, Suchtgefährdete und natürlich die Ausländer. 82 In das nachsichtige Mitgefühl mit dem reinen Glück der Flüchtlinge scheint sich auch die Sorge zu mischen, daß die, die aus der Kälte kommen, die Bundesrepublik auch wieder in den Strudel der Geschichte hineinreißen könnten. 97, 98 Herr Bundesminister, es wird auch berichtet, daß sich sozusagen Besucher unter den Flüchtlingen befinden, die aussagen, sie wollten sich einmal umgucken, hätten auch ein bißchen eingekauft und führen jetzt zurück. 1049 (Über die DDR) Ein Volk, das sich nicht den Luxus erlauben konnte, von exotischen Dingen wie einer „multikulturellen Gesellschaft“ zu träumen, das hingegen mit polnischen und vietnamesischen Arbeitsimmigranten Vormacht, <?page no="180"?> 180 Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt wie ein ordentliches Volk mit Ausländern verfährt. In der Gesellschaft mögen Ausländer vielleicht Platz finden, nicht aber in einem Volk. 322 In Hoyerswerda in der Lausitz, wo 230 Mozambikaner im Braunkohletagebau malochen, marschierten am 1. Mai Jugendliche von einer Fete auf den Rummelplatz, um ihn „negerfrei“ zu machen. Sie attackierten einen Mann aus Mosambik, der mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Rund 50 aufgebrachte Schwarze zogen daraufhin mit Stöcken ausgerüstet vom nahegelegenen Ausländer-Wohnheim zum Rummelplatz und lieferten sich mit etwa 200 Deutschen beileibe nicht nur Skinheads eine heftige Schlägerei. Positive Diskriminierungen 105 Obwohl seit Bestehen der BRD rund 165000 Bundesverdienstkreuze verliehen wurden in der Mehrzahl an Bundesbürger, aber auch an zahlreiche Ausländer, ging bisher die DDR leer aus. 1055 Vor allem aber das wirklich vor allem die Freude der Flüchtlinge, bei uns zu sein, in der Freiheit, in einem Lande, das ihnen nicht Perspektivpläne, sondern Perspektiven, das ihnen Zukunft bietet. 385,1010 Selbst unter den 260 BRD-Teilnehmern des deutsch-deutschen Physikertreffens [...] könnten nach Ansicht von Dr. G. „ganz bestimmt ein Drittel ehemaliger Flüchtlinge oder deren Nachkommen“ gewesen sein. 437 Die Flüchtlinge und Umsiedler erwiesen sich sogar als die eigentlichen Motoren aller gesellschaftlichen Veränderung in der DDR. 442 Ich finde, die Türken in den Geschäften in Kreuzberg sind sogar sehr freundlich. <?page no="182"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Isolde Nortmeyer Die Präfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehn-Wortbildung Band 19, 2000, X, 456 Seiten, DM 158,-/ ÖS 1153,-/ SFr 142,- ISBN 3-8233-5149-4 Die Studie befaßt sich im Sinne des oben Ausgeführten mit den Präfixen inter- und trans- und beleuchtet dabei auch einen weiteren Verwendungsbereich: Die heutige Werbesprache bedient sich insbesondere für die Waren- und Firmennamengebung zunehmend aus diesem Steinbruch des klassischen Sprachmaterials. Micliael Kinne Die Präfixe post-, prä- und neo- Beiträge zur Lehn-Wortbildung Band 18, 2000, XIV, 391 Seiten, DM 148,-/ ÖS 1080,-/ SFr 133,- ISBN 3-8233-5148-6 Wortbildung mit entlehnten Einheiten ist als Folgeerscheinung von Sprachkontakt alt jedoch nicht altbekannt und bisher wenig erforscht. Die Untersuchungen zu den Lehnpräfixen post-, prä- und neobefassen sich innovativ und exemplarisch mit dem Phänomen der Lehn-Wortbildung im Deutschen. Ziel der Monographie ist es, auf der Grundlage einer umfangreichen Datenbasis die Strukturen der Lehn-Wortbildung im Deutschen detailliert darzustellen. Damit wird eine wichtige Komponente besonders im bildungs- und wissenschaftssprachlichen Wortschatz des Deutschen ins Blickfeld gerückt. Jarochna Dabrowska Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse Band 17, 1999, 346 Seiten, DM 138,-/ ÖS 1007,-/ SFr 124,- ISBN 3-8233-5147-8 Gegenstand des Buches sind konkrete sprachliche Realisierungen von Stereotypen im öffentlichen Diskurs in Deutschland über Polen, die eine Rekonstruktion von Ausschnitten des deutsch-polnischen Dialogs darstellen. gHW Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="183"?> Language Development Heike Tappe Der Spracherwerb bei Corpus-Callosum- Agenesie Eine explorative Studie LD 25, 1999, Xil, 290 Seiten, DM 128,-/ ÖS 934,-/ SFr 115,- ISBN 3-8233-4722-5 Mit dieser Langzeitstudie wird zum ersten Mal der Erstspracherwerb eines Kindes dokumentiert, das ohne Corpus Callosum geboren wurde. Beim Corpus Callosum (dem sogenannten Balken) handelt es sich um das Nervenfaserbündel, das die beiden Großhirnhemisphären verbindet. Sein Fehlen beeinträchtigt folglich den Informationsaustausch zwischen den beiden Hirnhälften. Das Buch bietet eine Einführung in Grundlagen der Spracherwerbsforschung sowie in die relevanten Aspekte der Neurowissenschaften. Dabei wird auch diskutiert, warum die Corpus-Callosum-Agenesie nur bedingt als "natürliches Split- Brain" betrachtet werden kann. Die Ergebnisse weisen darauf hin, daß der Erwerb von Substantiven bzw. Objektbezeichnungen einerseits und der Erwerb von Verben (Ereignis- und Handlungsbezeichnungen) andererseits auf klar unterscheidbaren Kenntnis- und Verarbeitungskomponenten beruht. Peter Broeder/ Jaap Murre (eds.) Language and Thought in Development Cross-Linguistic Studies LD 26, 1999, VIII, 178 Seiten, zahlr. Tab. DM 86,-/ ÖS 628,-/ SFr 77,- ISBN 3-8233-4723-3 This book addresses the fundamental problem of how language and thought are interrelated, comparing linguistic and psychological functioning among different languages or language domains. The contributors present theoretical arguments that broaden existing views on what constitutes language. Many of these arguments are complemented with previously unpublished empirical data and experiments investigating these issues more directly. The contributions present a computational model or comment on the possibilities created by new approaches to modeling. One of the most direct tests of the influence of language on thought in development compares the cognitive development of children in the process of acquiring a first language. New empirical and theoretical work is pesented that compares development across languages, including Russian, Icelandic, Danish, English, and Japanese. Gunter Narr Verlag Tübingen Postfach 2567 ■ D-72015 Tübingen ■ Fax (07071)75288 <?page no="184"?> Die Arbeit handelt von sprachlicher Implizitheit und sprachlichen Diskriminierungen. Anhand der Sprechakttheorie und anderer pragmatischer Ansätze werden lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung zusammengestellt und empirisch an einem Zeitungskorpus überprüft. Die Erkenntnisse und Analysemethoden der Arbeit ermöglichen das Auffinden impliziter Diskriminierungen in umfangreichen Medienkorpora wie z.B. Zeitungen und Zeitschriften im Internet. ISBN 3-8233-5130-3