Reformulierungen
Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs
0304
1997
978-3-8233-3025-7
978-3-8233-5137-5
Gunter Narr Verlag
Kathrin Steyer
Der vorliegende Band diskutiert die Konzepte 'Reformulierung' und 'Redewiedergabe' aus intertextuell-diskursiver Sicht und beschreibt zugleich einen Teil jüngster deutscher Sprachgeschichte. Untersucht werden grammatisch-strukturelle, propositionale und funktionale Eigenschaften von Reformulierungen unter besonderer Berücksichtigung der argumentativen Einbettungen. Anhand einer Fallstudie aus dem deutsch-deutschen Diskurs zwischen 'Wende' und 'Vereinigung' im Frühjahr 1990 werden Wiederaufnahmen eines relevanten Originaltextes in Folgetexten beschrieben. Dabei geht es vor allem um sprachliche Indikatoren für sprecher-, kontext- bzw. diskursabhängige Modifikationen, Interpretationen und Bewertungen von Bezugsentitäten. Die Detailanalyse erlaubt schließlich die Rekonstruktion von komplexen Reformulierungsmustern, die das kommunikative Verhalten der Deutschen in der Folgezeit nicht unwesentlich prägten und als typisch für öffentliche Diskurse überhaupt gelten können.
<?page no="0"?> Studien zur deutschen Sprache i'okscih Nci'N i)i: s institi ts ri R diu tsciii: sprachi: Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs gllW Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE <?page no="2"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Günther Band 7 • 1997 <?page no="3"?> Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs gnw Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Steyer, Kathrin: Reformulierungen: sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffenthchen Diskurs / Kathrin Steyer. - Tübingen : Narr, 1997 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 7) Zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-8233-5137-0 NE: GT © 1997 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Druck: Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5137-0 <?page no="5"?> INHALT Vorbemerkung 9 0. Einleitung 11 1. Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 19 1.1 Die Diskurswelt der‘Wende’ 19 1.2 Die ausgewählten Texte 25 2. Bezugs- und Wiedergabetexte (Tl-n) als Diskurskonstituenten — eine erste globale Einordnung 29 2.1 Text und Diskurs 29 2.2 Reformulierungen im öffentlichen Diskurs - ‘Bezugsäußerung’ und ‘Bezugstext’ 33 2.3 Diskurskonstitution über den Bezugstext und seine Folgetexte 37 3. Das Reformulierungskonzept 44 3.1 Strukturelle Aspekte von Reformulierungen 44 3.1.1 Die elementaren Kategorien ‘Bezugsausdruck’, ‘Reformulierungsausdruck’ und ‘Reformulierungsindikator’ 44 3.1.2 Sequentielle und satzinterne Einbettungsstrukturen 49 3.2 Reformulierungen als Referenzspezialfall 54 3.3 Funktionale Aspekte von Reformulierungen 64 <?page no="6"?> 6 Reformulienmgen 3.4 Zur Identifizierbarkeit von Reformulierungen 72 3.5 Redewiedergaben und freie Wiedergaben die zwei Grundtypen von Reformulierungen 78 4. Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen auf der Satz-, Sequenz- und (Inter-)Textebene 86 4.1 Äußerungsvernetzungen über Redewiedergaben 90 4.1.1 Indirekte Wiedergaben 90 4.1.1.1 Indirekte Wiedergaben mit expliziter Redekennzeichnung 91 4.1.1.2 Indirekte konjunktivische Wiedergaben ohne explizite Redekennzeichnung 102 4.1.2 Direkte Wiedergaben (wörtliches Zitieren) 123 4.1.2.1 Satzförmige direkte Wiedergaben 123 4.1.2.2 Nicht-satzförmige direkte Wiedergaben 145 4.2 Äußerungsvernetzungen durch freie Wiedergaben 158 4.2.1 Berichtende Wiedergaben 158 4.2.2 Komprimierende Wiedergaben 163 4.3 Redewiedergaben und freie Reformulierungen im Diskurs eine Zusammenfassung 164 4.3.1 Indirekte Wiedergabe im Diskurs 166 4.3.2 Direkte Wiedergabe im Diskurs 167 4.3.3 Freie Wiedergabe im Diskurs 172 <?page no="7"?> Inhalt 1 5. Globale Reformulierungsrelationen im Wende-und Einheitsdiskurs 174 5.1 Typische Rezeptionsmuster im „De-Maiziere-Diskurs“ 175 5.1.1 Allgemeine Bemerkungen zu Reformulierungstrends 175 5.1.2 Reformulierungsvarianten in parallelen Texten des „De-Maiziere-Diskurses“ ein Quervergleich 181 5.2 Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden - Zur Weiterverarbeitung eines Schlüsselsatzes in anderen Text- und Diskurszusammenhängen 207 5.2.1 Reformulierungen aus dem direkten Rezeptionskontext „Regierungserklärung“ (20 / 21. April 1990) 209 5.2.2 Spätere Wiederaufnahmen des Schlüsselsatzes (Mai 1990 - Dezember 1992) 215 6. Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee 226 6.1 Reformulierungen als spezifische Sp2-Perspektivierungen 226 6.1.1 Neuinterpretation und Neubewertung 227 6.1.2 Disambiguierung und Vagheitsauflösung 228 6.2 Maximen für faires Reformulieren - Plädoyer für eine Kultur der Redewiedergabe 231 6.3 Fazit und Ausblick 235 7. Verzeichnis der Abkürzungen 237 8. Literatur 239 9. Textanhang 249 <?page no="9"?> Vorbemerkung In der vorliegenden Studie wird versucht, die Diskussion theoretischer Probleme der Reformulierungs- und Redewiedergabeforschung mit einer analytischen Beschreibung eines besonders aufschlußreichen Ausschnitts der jüngsten deutschen Sprachgeschichte zu verbinden. Hinsichtlich relationaler Beziehungen zwischen Original- und Wiedergabeausdrücken kann über den bisherigen Stand der Forschung hinausgehend gezeigt werden, wie sich verschiedene sequentielle und textuelle Einbettungen auf den Charakter sprachlicher Bezugnahmen auswirken. Die Analyse erhellt auch sprachliche Vorgänge, über die sich von den Sprachteilnehmem nicht immer bewußt wahrgenommen ganz bestimmte Standardthematisierungen, -argumentationen und -bewertungen im öffentlichen Diskurs konstituieren, die unter Umständen zu kommunikativen Mißverständnissen fuhren können. Das Buch ist eine überarbeitete und stark erweiterte Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 1994 an der Universität Mannheim eingereicht wurde. Seine Entstehungsgeschichte hat gleichsam selbst etwas Historisches. Die konzeptionellen Gedanken entwickelte ich noch am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Berliner Akademie. Im wissenschaftlichen Umkreis von Prof. Dr. Dieter Viehweger erhielt ich wesentliche Impulse vor allem auf den Gebieten der Text- und der Sprechakttheorie. Sein früher Tod im Jahre 1991 hinterließ eine schmerzliche Lücke. Nach der Auflösung des Berliner Instituts konnte ich die Untersuchungen am Institut für deutsche Sprache, Mannheim fortführen und sie in einem erweiterten Rahmen in das Projekt zur linguistischen Auswertung des IDS-Korpus zur „Sprache der Wende“ integrieren. Im Mittelpunkt dieses Vorhabens standen lexikologisch-lexikographische, begriffsgeschichtliche und textlinguistische Analysen zu sprachlichen Vorgängen im Zusammenhang mit der Wende in der DDR und der deutschen Vereinigung. Neben dem vorliegenden Band wurden drei weitere Publikationen erarbeitet: der Beitrag von Claudia Fraas zu Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen, das Wörterbuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989-1990 von Dieter Herberg, Doris Steffens und Elke Tellenbach und das Alphabetische Wörterverzeichnis zum „Wendekorpus“ des IDS von Manfred W. Hellmann (vgl. Literatur). (Vgl. auch Fraas 1995, Herberg/ Steffens/ Tellenbach 1995). Für die Betreuung meiner Arbeit habe ich Prof. Dr. Gerhard Stickel in besonderer Weise zu danken. Er hat mir in der entscheidenden Phase der Arbeit die notwendige inhaltliche und moralische Unterstützung gegeben. Das Zweit- <?page no="10"?> 10 gutachten übernahm Prof. Dr. Beate Henn-Memmesheimer. Prof. Dr. Elisabeth Gülich ermöglichte es mir, im Bielefelder Diskurskreis mein Konzept vorzustellen und zu diskutieren. Ihre Hinweise brachten meine Arbeit wesentlich voran. Wichtige Denkanstöße und viel Ermutigung erhielt ich auch von Prof. Dr. Josef Klein. Doris al Wadi hat sich beim Korrekturlesen zuverlässig und akribisch meines Textes angenommen. Meiner Familie danke ich für alles. Mannheim, im Juli 1996 Kathrin Steyer <?page no="11"?> 0. Einleitung Die Entwicklung menschlicher Kultur basiert ganz wesentlich auf der Erinnerung an Vergangenes und auf der Verarbeitung von bereits Dagewesenem. Sei es in der Wissenschaft oder Politik, in der Musik, Malerei, Architektur oder Literatur, überall findet sich im Neuen Altes, „Aufgehobenes“ im Sinne Hegels. Immer, so Posner, gehe es dabei um Zeichenkomplexe, die ohne Einbeziehung anderer Zeichenkomplexe nicht angemessen interpretiert werden können. „Erweitert man den Textbegriff von den wortsprachlichen Zeichenkomplexen auf Zeichenkomplexe in beliebigen Künsten, Kodes und Medien [...], so stellt sich allgemein die Frage, welcher semantische Mehrwert jeweils durch die Einbeziehung anderer Texte in die Rezeption eines gegebenen Textes entsteht.“ (Posner 1992, S. 2f.) Das wissenschaftliche Problem: Die Bezugnahme auf bereits Gesagtes oder Geschriebenes ist vor allem ein zentrales kommunikatives Phänomen. In alltäglichen Kommunikationssituationen (ein Gespräch, ein Vortrag, eine Rede, die Produktion oder Rezeption einer Zeitungsseite) gibt es wohl kaum einen Redebeitrag, der nicht implizit oder explizit auf einen oder mehrere andere referiert. Ganz wenige Äußerungen sind wirklich ‘neu’, die meisten variieren bereits Gesagtes, Geschriebenes, Gehörtes. Thematisiert und kommentiert wird dieses Phänomen (z.B. in intuitiven alltagsweltlichen ‘Sprecherurteilen’ über Sprache) zumeist nur dann, wenn es als kommunikativer Mangel erscheint, wenn Sprecher variiertes Wiederholen von Äußerungen als ‘störend’ oder ‘langweilig’ empfinden: Jemand wiederholt sich, Politiker reden immer dasselbe usw. Diese alltagsweltliche Beurteilung verstellt nicht selten den Blick dafür, daß es sich hierbei um notwendige sprachliche Verfahren handelt, die eine Verständigung über den Einzeltext oder die aktuelle Situation hinaus im Diskurs erst möglich machen. Selbst Face-to-face-Kommunikation kommt nicht ohne einen Vorrat an kommunikativen Akten aus, die von den Partnern in analoger Weise dekodiert und angewendet werden können, weil sie bereits ‘Äußerungserbe’ der Sprachgemeinschaft sind. Viele dieser ursprünglich komplex formulierten Äußerungen sind inzwischen als eine Art ‘geronnenes Wissen’ in den kognitiven Bestand der Sprachgemeinschaft übergegangen. Die Genese solcher Äußerungen kann vom Sprachbenutzer oft gar nicht mehr rekonstruiert werden. So läßt sich die Entstehungsgeschichte von Sprichwörtern meistens nur noch mit Hilfe von in Lexika zur Verfügung gestelltem Expertenwissen ermitteln. Aber auch Redewendungen wurden irgendwann zum ersten Mal produziert und dann weitergesagt, bis sie sich immer mehr von ihrem Ursprung entfernten und auch ohne Kenntnis des ersten Äußerungsanlasses verstehbzw. anwendbar wurden. Auf den sprachphilosophischen und sprachtheoretischen Aspekt dieses Phänomens weist u.a. bereits Wunderlich hin, der in seinen noch immer aktuellen Ausführungen zur Redeerwähnung die Fähigkeit, <?page no="12"?> 12 ReformuUenmgen selbsterfahrene Redesituationen sprachlich zu rekonstruieren und mit anderen darüber zu sprechen, als offensichtlich zentralen Bestandteil der menschlichen Sprachkompetenz ansieht (Wunderlich 1972, S. 185). „Für den Prozeß einer arbeitsteiligen Kooperation in einer Gesellschaft und für Prozesse gesellschaftlicher Entscheidungen ist diese Fähigkeit fundamental wichtig, denn es ist ausgeschlossen, daß jemand zugleich mit allen Mitgliedern einer Gesellschaft kommuniziert, jedoch kann er in einer einzelnen Kommunikation auf viele andere Kommunikationen Rücksicht nehmen und sie über das Mittel der Redeerwähnung sozusagen einblenden. [...] Schließlich kann sich Sprachwissenschaft ein ganzes Stück weit entfalten, wenn sie systematisch untersucht, wie Sprecher sich auf zurückliegende und zukünftige Redesituationen beziehen, welche Art von Verben sie dabei verwenden, wie sie dabei die Intentionen von Sprechern charakterisieren usw.“(Wunderlich 1972, S. 185) Geradezu signifikant ist diese interaktive Konstellation des Sich-Beziehens auf bereits produzierte Äußerungen in der öffentlichen Kommunikation, wobei auch den Medienbenutzern diese Vorgänge zumeist nur dann wirklich bewußt werden, wenn z.B. mißverstandene Äußerungen und ihre entsprechenden Wiedergaben Dementi oder gar ‘handfeste’ politische Konsequenzen zur Folge haben. Erinnert sei hier an den „Fall Jenninger“ 1988, bei dem eine Gedenkrede nicht zuletzt aufgrund der Diskussionen über diese Rede einen Bundestagspräsidenten zum Rücktritt zwang (vgl. Heringer 1990, S. 163ff.). Reformulierungsphänomene werden auch noch besonders wahrgenommen und ‘besprochen’, wenn einzelne Äußerungen durch häufige Wiederholung in den Medien an Bedeutsamkeit gewinnen. Der Satz des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy Jch bin ein Berliner* 1 vom Jahre 1963 ist eine bis in die unmittelbare Gegenwart verwendete Metapher für die Situation des ehemals geteilten Deutschlands, und insbesondere für die der Berliner geworden. Er war u.a. prädestiniert dafür, häufig zitiert zu werden, weil er im Gegensatz zu Bill Clintons ,ßerlin istfret' des Jahres 1994 in einer besonderen historischen Situation geäußert wurde. Neben diesen sehr augenfälligen Beispielen sind jedoch Bezugnahmen auf Äußerungen tägliche Praxis in der öffentlichen Kommunikation. Die Textproduktion und -rezeption erfolgt hier im wesentlichen über verschiedene Stufen in Form von Bezugnahmen zwischen Texten; ein Großteil der Kommunikation in den Medien besteht aus Reden darüber, was andere gesagt haben. Politiker und andere Vertreter der Öffentlichkeit äußern sich und nutzen dafür die Medien; diese wiederum greifen solche Äußerungen auf und verarbeiten sie. Politiker antworten auf Politiker vermittels Medien usw. Das alles erfolgt mit einem großen Anteil an gleichen lexikalischen Einheiten und Formulierungen in unendlich vielen Variationen. Kommunikation in der Öffentlichkeit konstituiert sich also vorrangig über ein sehr vielgestaltiges Gefüge von Relationen zwischen Äußerungen, die in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Sprechern produziert und rezipiert werden. Das Wiederaufnehmen und Weiterverarbeiten von bereits Geäußertem ist das relevante <?page no="13"?> Einleitung 13 Mittel des Informationstransfers und der Interpretation in diesem Kommunikationsbereich überhaupt, ist tägliche journalistische Praxis. Journalisten kommen mit ihnen in der Tat in erster Linie ihrer Informationspflicht nach. Diese Wiederaufnahmen stellen keine vordergründig intentionalen Prozesse dar. Darüber hinaus bilden Reformulierungen auch ein wichtiges sprachliches Mittel der Textgestaltung. Viele Variationen zum Original sind dementsprechend auch stilistischen Bedürfnissen geschuldet. In der vorliegenden Arbeit werden solche Reformulierungsverfahren detailliert untersucht und beschrieben, um dann die Frage zu erörtern, warum Bezugnahmen auf Äußerungen und ihre Wiedergaben ein so häufig verwendetes sprachliches Verfahren darstellen und warum einzelne Äußerungen und Texte prädestinierter sind als andere, reformuliert und weitergegeben zu werden. Die Vielschichtigkeit dieses Phänomens beschreibt schon Hoppenkamps: „Wenn ich jemandem das, was ein anderer mir gesagt hat, berichte, so scheint dies zunächst ein völlig unproblematischer Vorfall zu sein. Wenn jedoch mehrere Berichterstatter verschiedene Adressaten darüber informieren, was jemand oder gar mehrere Sprecher gesagt haben, dann ist dies kein so unproblematischer Vorfall mehr. Denn gleich stellt sich die Frage, ob denn wohl die unterschiedlichen Formulierungen [...] alle angemessene Interpretationen des Gesagten sind.“ (Hoppenkamps 1977, S. 1) Die Beantwortung der Frage nach der Angemessenheit der Interpretation von Gesagtem wird sich angesichts des Vernetzungsgrades von Äußerungen verschiedener Sprecher in diesem Kommunikationsbereich als äußerst kompliziert erweisen. Für die linguistische Interpretation von Äußerungen und Texten in der öffentlichen Kommunikation ergibt sich damit notwendig, die zu analysierenden Äußerungen und Texte auch im Zusammenhang mit anderen, früher, parallel und nachfolgend produzierten Äußerungen und Texten zu sehen. Es geht also um eine die ‘Einzeltextgrenze’ überschreitende intertextuelle Sicht, bei der immer auch der Äußerungskontext und die ‘Äußerungsgeschichte’ einbezogen werden. Die Notwendigkeit einer intertextuellen Sicht auf eine Textmenge wird in einer Reihe von linguistischen Einzeluntersuchungen unterstrichen (vgl. die exemplarische Analyse der Sprache im Dritten Reich von Maas 1984). In der Text- und Kommunikationslinguistik ist jedoch immer noch eine gewisse Zurückhaltung bezüglich der konkreten Erfassung von sprachlichen Erscheinungen, die über den einzelnen Text hinausgehen, zu konstatieren. Diese Zurückhaltung resultiert aus der nicht unbegründeten Gefahr, sich bei einer intertextuellen Interpretation von der sprachlichen Struktur des Einzelsatzes/ -textes zu entfernen und somit zu Schlußfolgerungen zu gelangen, die sich linguistisch nicht mehr begründen lassen. Das Problem erkennt auch Posner, denn er vertritt die Auffassung, daß die Brauchbarkeit des Begriffs ‘Inter- <?page no="14"?> 14 ReformuHerungen textualität’ nur gesichert werden könne, wenn er für die empirische Analyse operationalisierbar sei (Posner 1992, S. 3). Für die konkrete Fragestellung der Wiederaufnahmen und Weitergaben von sprachlichen Äußerungen in der öffentlichen Kommunikation kann dies zunächst nur bedeuten, nach sprachlichen Spuren zu suchen, die die Beziehungen zwischen einem Text TI, einem Text T2 und dann möglicherweise T3-n indizieren. Wenn solche sprachlichen Indikatoren isolierbar sind, kann die intertextuelle Qualität von Texten in einem nächsten Schritt nur erfaßt werden, wenn mehrere zusammenhängende Äußerungen und Texte quasi nebeneinander gelegt und verglichen werden. Ein elementarer Zusammenhang zwischen zwei Texten wird sichtbar, wenn der eine Text T2 sich explizit auf den anderen Text TI bezieht und Elemente von TI wiederaufnimmt, wenn T2 somit reformulierte Ausdrücke enthält. Das Verfahren der ‘Reformulierung’, also die Wiederaufnahme bereits produzierter Äußerungen, stellt ein solches explizites Textverknüpfungsverfahren dar. Reformulierte Sequenzen sind explizite Hinweise dafür, daß sich der entsprechende Text auf andere bezieht. Derartige Spuren weisen auch bei der Rezeption von nur T2, nur T3 usw. auf relationale Beziehungen zu TI und/ oder Tn hin. Über Wiederaufnahmen und Weiterverarbeitungen von Äußerungen und ganzen Texten konstituieren sich ganz wesentlich thematische Ketten, argumentative Muster, Standardfiguren und Topoi im öffentlichen Diskurs (zur Begriffsbestimmung vgl. 2.1). Die durch ReformuHerungen mögliche Konstitution thematisch-argumentativer Zusammenhänge über den einzelnen Text hinaus erweist sich dabei nicht allein für die öffentliche Kommunikation als konstitutiv, sondern ist auch in anderen Bereichen, wie in der Wissenschaft und in der Rechtspraxis (z.B. in einer Gerichtsverhandlung), von einiger Relevanz. Ziele der Arbeit: Der in dieser Arbeit entwickelte Ansatz zur Beschreibung von Äußerungsvernetzungen über ReformuHerungen baut auf sehr unterschiedlichen Konzepten der Kommunikations- und Textlinguistik sowie auf Forschungsarbeiten zur Medienkommunikation auf, um der Komplexität des zu beschreibenden Phänomens gerecht werden zu können. Es werden die einschlägigen Forschungen zur Redewiedergabe und zu (Re-)Formulierungen ebenso berücksichtigt wie textanalytische und texttheoretische Untersuchungen. So wird vor allem der Reformulierungsansatz, wie er von Gülich und Kotschi (u.a. 1987) entwickelt wurde, diskutiert, angewendet und für die Beschreibung von ReformuHerungen zwischen Texten weiterentwickelt. Darüber hinaus spielen Ansätze eine Rolle, die zum Teil aus anderen Wissenschaftskontexten stammen, z.B. aus der Massenkommunikationsforschung und der an der Sprache orientierten Medienanalyse. An dieser Stelle sei nur auf die sich ausführlich mit textübergreifenden Phänomenen in der Presseberichterstattung befassende Arbeit von Bucher (1986) verwiesen. Die vorliegende Studie ist also in gewisser Weise integrativ, was durch den vielgestaltigen Charakter des sprachlichen Phänomens ‘Reformulierung’ zwingend <?page no="15"?> Einleitung 15 geboten erscheint. Basierend auf einem dynamischen Textverständnis im Sinne von Heinemann und Viehweger (1991), berücksichtigt die Arbeit mehrere Perspektiven: a) Strukturen, Funktionen und argumentative Einbettungen von Reformulierungen in Texten Detailliert analysiert werden Strukturen und Funktionen von Reformulierungen unterschiedlicher Komplexität (von der Relation zwischen zwei elementaren Ausdrücken bis zu Relationen zwischen Ausdruckssequenzen). Einzelne sprachliche Veränderungen bei der Wiedergabe des Originals werden dabei hinsichtlich der sprachlichen Ausdrucksform, der propositionalen Strukturen und der kommunikativen Funktionen erfaßt, um dann die jeweiligen argumentativen Einbettungen einzelner wiedergegebener Ausdrücke in den Texten miteinander zu vergleichen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie verschiedene Verkettungen und Einbettungen von Reformulierungsausdrücken analoge und/ oder unterschiedliche Interpretationen und Bewertungen im Vergleich zu ihren Bezugsausdrücken (Begriffsbestimmung vgl. 3.1.1) und deren Einbettungen mit sich bringen. Mit dieser Detailanalyse wird auch der Versuch unternommen, Redewiedergabeformen in die komplexere sprachliche Erscheinung ‘Reformulierung’ einzuordnen und entsprechend als Reformulierungstyp zu definieren. Dabei ist es von besonderem Interesse, welche sprachlichen Mittel typischerweise zu welchen Reformulierungseffekten fuhren und welche Funktionen bestimmte Wiedergabeformen in bestimmten Kontexten haben können. Damit möchte diese Arbeit auch einen Beitrag zur Redewiedergabeforschung und zur Texttheorie/ Textanalyse leisten. b) Strukturen des öffentlichen Diskurses Reformulierungen werden außerdem als beziehungsstiftende Verfahren zwischen Texten im öffentlichen Diskurs beschrieben. Auf diese Weise erfaßt die Untersuchung sprachliche Regularitäten im speziellen Bereich der öffentlichen Kommunikation, wobei Schlußfolgerungen sowohl hinsichtlich möglicher konventionalisierter Verfahren der Textgestaltung in diesem Bereich als auch für generelle Text- und Diskursbildungsmechanismen gezogen werden. c) Spezifika des deutsch-deutschen Wende- und Vereinigungsdiskurses Die Arbeit beschreibt sprachlich-kommunikative Besonderheiten der historischen Ereignisse seit dem Herbst 1989, insbesondere des Jahres 1990, die als prototypisch für die Konstitution von Argumentationen und Bewertungen im öffentlichen Diskurs im Deutschland der 90er Jahre gelten können. <?page no="16"?> 16 Reforniulierungen Zur Methode: Die Untersuchung geht problemorientiert vor, d.h., die Erörterung der empirischen Daten und Befunde erfolgt im Rahmen einzelner theoretischer Schwerpunkte. Die Analyse und die Beschreibungen berücksichtigen dabei stets zwei Sichtweisen: eine globale und eine lokale (oder im Sinne von van Dijk: eine makrostrukturelle und mikrostrukturelle Analyse; vgl. van Dijk 1980, S. 41). Es liegt im Anspruch der Arbeit begründet, sowohl einzelne strukturelle und funktionale Aspekte von Reformulierungen auf der Satz- und Textebene zu analysieren und zu erklären als auch diese in einen globalen textübergreifenden Zusammenhang zu stellen. Es wird sich dabei zeigen, daß diese Trennung hinsichtlich der analytischen Vorgehensweise in dieser Absolutheit nicht zu verwirklichen ist. Sie muß dahingehend relativiert werden, daß die lokale Komponente durch eine globale Einordnung selbst in einem neuen Licht erscheint, daß aber ebenso die globale Sicht nur aufgrund der Betrachtung ihrer einzelnen Teile möglich ist. Klein/ Stutterheim unterstreichen diese wechselseitige Bedingtheit: Globale Beschränkungen eines Textes würden sich daraus ergeben, daß die Äußerungen in ihrer Gesamtheit Ausdruck einer komplexen Informationsstruktur, einer Gesamtvorstellung seien, „die in einer bestimmten Kommunikationssituation für eine bestimmte Zuhörerschaft sprachlich vermittelt werden soll.“ (Klein/ Stutterheim 1992, S. 67) Neben diesen globalen Aspekten gäbe es lokale Beschränkungen für die Informationsentfaltung von Äußerung zu Äußerung. „Wir sprechen hier von verschiedenen Typen der referentiellen Bewegung [...]. Die Muster der referentiellen Bewegung zeigen sich in der Wald der jeweiligen sprachlichen Mittel [...]. In jeder Äußerung wird ein Segment der Gesamtvorstellung aufgerufen und in Sprache umgesetzt.“ (ebd., S. 68) Die Autoren formulieren dann folgendes Desiderat: Viele textlinguistische Untersuchungen betrachteten immer noch lokale und globale Textstrukturen isoliert. So fänden sich entweder viele Untersuchungen zu globalen Beschränkungen (z.B. frame, script und Makrostrukturen) oder zu lokalen (z.B. Kohärenz, Kohäsion und thematische Progression). Noch zu wenig werde die Frage berücksichtigt, wie globale und lokale Beschränkungen in einem Text aufeinander bezogen sind, genauer gesagt, wie sich lokale aus globalen Beschränkungen ergeben (ebd., S. 68). Es wird sich an bestimmten Stellen dieser Untersuchung als schwierig erweisen, mikrostrukturelle Beschreibungen auf der Satz- und Sequenzebene von makrostrukturellen auf der Text- und Intertextebene zu trennen. Globale Sicht kann nämlich in manchen Fällen heißen, bei der Analyse eine schrittweise sequentielle Erweiterung des Beschreibungsgegenstandes vorzunehmen, in anderen Fällen von vornherein die Makrostruktur an sich zu betrachten (vgl. auch Heinemann/ Viehweger 1991), in wieder anderen Analysefällen den Status eines Textes als Teil einer Relation zu einem anderen Text in den Fokus zu rükken. Ob eine sprachliche Erscheinung also als globales oder lokales Phänomen betrachtet wird, entscheidet sich nicht an dem Ausdruck selbst, sondern <?page no="17"?> Einleitung 17 durch die Berücksichtigung der je spezifischen Produktionsbzw. Rezeptionssituation. Analog zu solchen Texteigenschaften wie Kohärenz sind auch ‘Global-Sein’ und/ oder ‘Lokal-Sein’, Eigenschaften, die den Ausdrücken und Texten nicht inhärent sind, sondern ihnen pragmatisch-funktional und kontextabhängig zugeschrieben werden müssen. Diese variablen Zuschreibungen spielen bei der Analyse von Reformulierungsrelationen eine wesentliche Rolle. Von Interesse können dabei sowohl atomare Einheiten sein, z.B. eine lexikalische Einheit und deren Paraphrase, als auch der ganze Textabschnitt als Sequenz selbständiger Einheiten, in dem die lexikalische Einheit vorkommt, und/ oder der entsprechende wiedergegebene Textabschnitt, zu dem dann z.B. auch die Paraphrase der lexikalischen Einheit gehört (zu Ausdrücken verschiedener Größenordnungen vgl. u.a. Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer 1989, S. 6f). Es sei abschließend noch einmal auf eine terminologische Unterscheidung verwiesen: Von Verknüpfungen wird im folgenden immer dann gesprochen, wenn es um die elementare Beziehung zwischen einzelnen Ausdrücken im Text geht. Vernetzung bedeutet, die sequentiellen und (inter-)textuellen Beziehungen komplexer Äußerungen in den Mittelpunkt zu stellen. Zum Aufbau der Arbeit: Sie gliedert sich in sechs Kapitel, die Reformulierungsrelationen zwischen Texten aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Das erste Kapitel beschreibt für die Untersuchung relevante Besonderheiten der Diskurswelt der Wende sowie die analysierten Texte, die in diese Diskurswelt eingebettet sind. Das zweite Kapitel legt dar, wie man sich prinzipiell eine Vernetzung von Äußerungen über mehrere Texte mittels Reformulierungen vorzustellen hat. Dieser Abschnitt dient zugleich der terminologischen Festlegung von Begriffen wie ‘Text’, ‘Diskurs’ (2.1), ‘Bezugstext’, ‘Wiedergabetext’, ‘Reformulierungstext’ (2.2) usw. In 2.3 wird die entwickelte Grundidee einer Diskurskonstitution über ein Gefüge von Bezugstext, Reformulierungstexten und anderen wiedergebenden Texten anhand eines konkreten Falles von Äußerungsvernetzung dargestellt. Das dritte Kapitel dient vorrangig der Entwicklung erster Annahmen zu strukturellen und funktionalen Eigenschaften von Reformulierungsrelationen zwischen Texten. Es geht u.a. auch darum, die grundlegenden Analysekategorien ‘Bezugsausdruck’, ‘Reformulierungsausdruck’, ‘Kontextausdruck’, ‘Neu produzierter Ausdruck’, ihre entsprechenden nicht-satzförmigen Einheiten und die einbettenden Entitäten zu spezifizieren bzw. neu einzufuhren. Dabei wird das Reformulierungskonzept von Gülich und Kotschi (u.a. 1987) im Kontext eigener Überlegungen hinsichtlich vorhandener Gemeinsamkeiten, möglicher Unterschiede und notwendiger Erweiterungen diskutiert. Diese Diskussion erfolgt hinsichtlich struktureller Aspekte (3.1), spezifischer referen- <?page no="18"?> 18 Refoniiulierungen tieller Relationen (3.2), funktionaler Besonderheiten (3.3) und verschieden ausgeprägter Identifizierbarkeit (3.4). Schließlich werden in 3.5 zwei Grundtypen von Reformulierungen vorgeschlagen: die Redewiedergabe (mit ihren beiden Formen: direkte und indirekte Wiedergabe) als Kembereich der Reformulierung zum einen und die freie Wiedergabe (mit ihren beiden Formen: berichtende und komprimierende Wiedergabe) zum anderen. Im vierten Kapitel werden Reformulierungsausdrücke und -Sequenzen in ihren verschiedenen Wiedergabestrukturen beschrieben und mit ihren entsprechenden Bezugsausdrücken bzw. anderen Reformulierungsvarianten verglichen. Die zwei Reformulierungstypen bilden dabei den Hintergrund für die Beschreibung. Es wird im Detail untersucht, inwieweit die reformulierte Entität dem Original entspricht oder in welcher Art und Weise sich relevante durch den Reformulierer beeinflußte - Veränderungen ergeben. Anhand von ausgewählten Beispielen, die als prototypisch gelten können, wird der Nachweis versucht, daß oft nur durch minimale sprachliche Modifikationen und Verschiebungen die drei wesentlichen Funktionen von Reformulierungen zwischen Texten (Information, Interpretations- und Bewertungsangebot) zumeist parallel realisiert werden. In 4.1 (Redewiedergaben) und 4.2 (freie Wiedergaben) werden Beispiele aus Texten T2, die fast ausschließlich aus Reformulierungen bestehen, und aus den dazugehörigen Kommentaren T3 behandelt. 4.3 faßt dann typische Vorkommensweisen der einzelnen Reformulierungstypen zusammen. Im fünften Kapitel erfolgt dann wieder ein Perspektivenwechsel. Reformulierungen werden nunmehr als sprachliche Verfahren betrachtet, die über einen längeren Zeitraum hinweg thematisch-argumentative Stränge und spezifische kommunikative Muster konstituieren. Zu diesem Zweck werden in 5.1 durch einen Quervergleich der Reformulierungstexte und Redekommentare die typischen Wiedergabemuster der Regierungserklärung isoliert, die zugleich Schlüsse hinsichtlich typischer Rezeptionsmuster im Wendediskurs überhaupt zulassen. In 5.2 kann gezeigt werden, wie die beschriebenen Reformulierungseffekte auch bei häufigen Wiederaufnahmen und Weiterverarbeitungen einer Kernaussage der Regierungserklärung über einige Jahre hinweg eintreten. Das sechste Kapitel schließlich faßt die Analyseergebnisse zusammen und präsentiert Schlußfolgerungen in bezug auf allgemeine Eigenschaften von Reformulierungen. Es wird weiterhin die Auffassung vertreten und begründet, daß die in der Analyse herausgearbeiteten Reformulierungseffekte (z.B. Disambiguierung und Vagheitsauflösung) nicht nur für diese Fallbeispiele zutreffen, sondern für öffentliche Kommunikation überhaupt gelten (6.1). Durch die Formulierung von möglichen Maximen für faires Reformulieren soll abschließend auf die Sprachkulturelle Dimension des Phänomens ‘Reformulierung’ aufmerksam gemacht werden (6.2). <?page no="19"?> 1. Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 1.1 Die Diskurswelt der ‘Wende’ Das untersuchte Korpus setzt sich aus einer Vielzahl von zwischen September 1989 und Oktober 1990 produzierten Zeitungs- und Femsehtexten, öffentlichen Reden, Statements und Demonstrationslosungen zusammen. Dieser Zeitraum vom Sturz der DDR-Regierung und der Öffnung der Grenzen im Herbst 1989 bis zur Vereinigung Deutschlands im Oktober 1990 ist nicht nur eine historische Etappe in der deutschen Geschichte, sondern zugleich auch eine besonders intensive Phase der Sprachentwicklung. Nicht zuletzt der Sprachwitz der Montagsdemonstrationen in Leipzig und der inzwischen schon legendären Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz sowie die Diskussionskultur des Runden Tisches zeigen, daß sich solche politischen Umwälzungen nicht unwesentlich über Sprache vollziehen und zugleich in Sprache manifestieren. Die kommunikativen Prozesse dieser Zeit sollen unter dem Begriff ‘Wendediskurs’ subsumiert werden, wobei sich innerhalb des Wendediskurses zahlreiche Subdiskurse unterscheiden lassen. So kann ein Subdiskurs all jene Äußerungen und Texte umfassen, die sich auf ein identisches Thema (z.B. deutsche Einheit, Staatssicherheit) beziehen oder von einer bestimmten politischen Gruppierung/ Partei (z.B. Sprache der Bürgerbewegungen) stammen oder auch ein historisches Ereignis einbetten (z.B. Öffnung der DDR-Staatsgrenze am 9. November 1989). Der Wendediskurs läßt sich für die analytischen Zwecke dieser Arbeit in fünf wesentliche Phasen einteilen, die einerseits durch die politischen Ereignisse, andererseits durch für diese Etappe typische Kommunikationssituationen und Textsorten markiert sind. 1 Viele der vor allem in der 2. und 3. Phase behandelten Themen sind für die thematisch-argumentative Struktur des zu analysierenden Originaltextes und für seine Weiterverarbeitung in den Folgetexten von besonderer Relevanz. Vorphase: Mai - August 1989 1. Phase: 9. September - 9. November 1989 2. Phase: 10. November - Mitte Januar 1990 3. Phase: Mitte Januar - 18. März 1990 4. Phase: 19. März - 1. Juli 1990 5. Phase: 1. Juli - 3. Oktober 1990 i Die folgende Charakterisierung ist auch Ergebnis von konzeptionellen Diskussionen im Rahmen des Projektes „Gesamtdeutsche Korpusinitiative“ Mannheim/ Berlin (vgl. Herberg/ Stickel 1992, Herberg 1993). <?page no="20"?> 20 Refonnulierungen Zur Vorphase (Mai - August 1989) Die Vorphase weist noch jene Spezifik kommunikativen Verhaltens auf, die Schlosser die „innere Mehrsprachigkeit einer Sprachgemeinschaft“ nennt. Diese in jeder größeren Sprachgemeinschaft existierende innere Mehrsprachigkeit sei in der DDR jedoch noch von besonderer Art gewesen (Schlosser 1990, S. 158). Es gibt zu diesem Zeitpunkt zumindest drei verschiedene Bereiche des Kommunizierens, die für die Betrachtung der Sprache vor, in und nach der Wende von Relevanz sind (vgl. Fraas/ Steyer 1992, S. 175): a) der öffentliche Diskurs b) der ‘halböffentliche’ Diskurs c) der privat-zwischenmenschliche Diskurs. Jeder dieser drei Bereiche hat eine spezifische Ausprägung, vor allem eine eigene Art des Informationstransfers und der Konstituierung von Bewertungsmustern, wobei b) und c) getrennt von a) existieren und a) eine relativ hermetische Kommunikationswelt darstellt. Im Frühjahr und Frühsommer 1989 befindet sich die DDR in einer Vorkrisensituation, die im offiziellen Sprachgebrauch nur insoweit Beachtung findet, als ihre Existenz in den DDR-Medien bestritten und entsprechende Kritik zurückgewiesen wird. Offizielle Verlautbarungen dieser Zeit sind ein typischer Fall für mehrfachadressierte Texte, wobei primäre und sekundäre Adressaten zu unterscheiden sind. Die Produzenten dieser Texte zumeist nicht die Journalisten meinen erst in zweiter Instanz den unmittelbaren Rezipienten des Mediums, in erster Instanz aber jene, die ganz offen von der Krise in der DDR sprechen, also ‘die Bundesrepublik’ sowie die oppositionellen Kreise im eigenen Land. 2 Verbunden ist dies mit der Publikation euphemistischer Berichte über den Zustand der DDR. Die Berichte stehen im Gegensatz zu dem in der Bevölkerung ermuntert durch Glasnost und Perestroika immer lauter werdenden Unmut über die politische Lage in der DDR. In einigen wenigen Zeitungen, wie der kulturellen Wochenzeitung „Sonntag“, finden sich auch kritische Texte, die eine Reform des politischen Systems in der DDR anmahnen. Im halböffentlichen Bereich speziell initiiert durch die sich in Kirchen- und Friedenskreisen formierenden oppositionellen Kräfte entstehen zahlreiche informelle Texte wie die Informationsblätter der Umweltbibliothek, Berichte von Kirchentagen etc., die jedoch wegen ihres ‘subversiven’ Charakters nur eine relativ geringe Verbreitung erfahren. Inzwischen ist bekannt, wie stark die Verantwortlichen des Politbüros und der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED in die Medienberichterstattung eingrififen. Viele dieser mit „ADN“ bzw. „ND" gekennzeichneten Statements wurden direkt von den dortigen Funktionären formuliert und dann unter Nutzung der Agentur- oder Zeitungskürzel über die Medien verbreitet (vgl. auch Bürger 1990). <?page no="21"?> Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 21 Einen bisher unterschätzten Einfluß auf das kommunikative Verhalten während der Herbstereignisse haben die Diskussionen, die außerhalb der Kirchen und Oppositionsgruppen stattfmden, z.B. in Theatern und Konzertsälen, bei Schriftstellerlesungen usw., aber auch als gruppeninteme Diskussionen bei Veranstaltungen der damals existierenden Parteien, gesellschaftlichen Organisationen und Interessengemeinschaften, Diese Art und Weise des Kommunizierens ist durch eine Mischung aus Elementen der Alltagssprache und Elementen der öffentlichen Rede gekennzeichnet. Der halböffentliche Diskurs etabliert sich zwar in einem gewissen institutionellen Rahmen, jedoch ohne die Beschränkungen und Restriktionen des offiziellen DDR-Sprachgebrauchs (vgl. Fraas/ Steyer 1992, S. 176f). Gerade in diesem Bereich bildet sich eine ‘Kultur metakommunikativer Rede’ heraus, die später vor allem bei den Demonstrationen und öffentlichen Foren in der Wende von vielen Beobachtern erstaunt wahrgenommen wird. Kommunikationsteilnehmer verbalisieren Bewertungen über die Sprache und sprachliches Handeln anderer Kommunikationsteilnehmer, um Konsens oder Dissens zu signalisieren. In der halböffentlichen Kommunikation der Vorwendezeit werden vor allem Bewertungsmuster und Rituale öffentlicher Rede thematisiert, zumeist um sich von ihnen zu distanzieren. 1. Phase: 9. September - 9. November 1989 Im Verlauf dieser zwei Monate erfahren die genannten drei Bereiche unterschiedlich ausgeprägte Veränderungen. Die Entwicklung tritt in eine neue Phase, als der Gründungsaufruf des „Neuen Forums“ auch außerhalb der entsprechenden Gruppierungen wahrgenommen wird und die Kommunikation der oppositionellen Kräfte damit ihren ‘subversiven’ Charakter verliert. Die Lage im Land spitzt sich dramatisch zu, vor allem aufgrund der Botschaftsbesetzungen in Prag und Warschau sowie der Massenflucht über die CSSR und Ungarn. Anfang Oktober kommt es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei am Dresdner Hauptbahnhof. Anscheinend unberührt von den Ereignissen, bereitet sich die offizielle DDR auf ihren 40. Jahrestag vor. Typisch für diese Zeit sind neben den im ‘alten Stil’ verfaßten Texten solche mit Gründungsaufrufen und Programmen für neue Parteien und Bewegungen (SPD, „Demokratie jetzt“ usw.), Appell- und Mahntexte, Resolutionen, Leserbriefe und Stellungnahmen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Diese appellierenden Texte weisen eine sich ähnelnde thematischargumentative Struktur auf: Sie signalisieren Besorgnis über die Entwicklung, fordern die DDR-Führung auf, endlich zu reagieren und Reformen einzuleiten, und schließlich werden die Mitbürger aufgerufen, sich zu organisieren. Damit dringen zunehmend Elemente des halböffentlichen Bereichs in den öffentlichen ein. In den Medien setzt sich wenn auch noch vorsichtig ein neuer Ton der Berichterstattung durch (z.B. in der Jugendsendung „ELF 99“). Mit den in dieser Zeit beginnenden Montagsdemonstrationen bildet sich eine der wesentlichsten Formen der ‘Wendekommunikation’ überhaupt heraus: das öffentliche Verhandeln von Problemen auf Demonstrationen und Foren. <?page no="22"?> 22 ReformuHerungen Ausgelöst durch die Ereignisse am 778. Oktober 1989, entsteht eine neue (temporäre) Textsorte: die „Gedächtnisprotokolle“. Während die Regierung der DDR mit Staatsgästen aus zahlreichen Ländern die offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der DDR begeht, finden überall Demonstrationen statt, bei denen es u.a. zu den sogenannten ‘Zuführungen’ durch die Polizei kommt. Menschen werden zumeist vollkommen willkürlich auf LKWs verladen, zu Polizeistationen gebracht, auf verschiedene Art in Gewahrsam genommen und verhört. Eine unabhängige Kommission untersucht später diese Vorfälle. Die Gedächtnisprotokolle sind Augenzeugenberichte Betroffener, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse ihre Erlebnisse bei den Polizeiaktionen beschreiben (vgl. Gedächtnisprotokolle 1990). Nach dem Rücktritt Erich Honeckers am 18.10.1989 gibt es eine aufschlußreiche Übergangsphase im kommunikativen Verhalten einiger DDR-Politiker wie Egon Krenz oder Günter Schabowski. Ihre Versuche, sich den Bedingungen der Wende anzupassen, werden vor allem lexikalisch signalisiert. Diese Sprecher nutzen lexikalische Einheiten, die für die offizielle politische Rhetorik in der DDR nicht typisch sind, gleichsam als Etiketten für Flexibilität und Veränderungsbereitschaft, z.B. Dialog, Erneuerung, Zukunftsvorstellungen, Oppositionsgruppen, Reisemöglichkeiten. Diese lexikalischen Etiketten sind jedoch in die tradierten Argumentations- und Stilmuster eingebettet. Ein markantes Beispiel dafür ist der Versuch, einen dominierenden Schlüsselbegriff in dieser Phase zu besetzen, den Begriff Dialog. Auf der Straße und im gesamten gesellschaftlichen Leben entsteht eine neue Diskussionskultur. Funktionäre werden zur Rede gestellt. Diese wiederum versuchen, eine „Politik des Dialoges mit allen Schichten der Bevölkerung“ zu initiieren. Die Pfiffe auf der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November bei Reden ‘gewendeter’ Politiker zeigen, daß die Rezipienten diese sprachlichen Anpassungsmechanismen durchschauen. Die Reden und Sprüche auf dieser Demonstration setzen auf originelle und eindrucksvolle Weise einen gewissen Endpunkt eines Diskursabschnittes, den man unter zwei Hauptthemen zusammenfassen kann: 3 —» Abrechnung mit dem alten System, -» Hoffnung auf eine reformierte, gerechtere und weltoffene DDR. Demgegenüber spielt das Deutschland-Thema in dieser ersten Phase eine eher marginale Rolle. Wenn überhaupt, wird es vor allem im Kontext der Flüchtlingsproblematik behandelt. 3 Vgl. zur Demonstrationskommunikation u.a. auch Lang 1990, Fix 1990, Reiher 1992, Vollmert 1992. <?page no="23"?> Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 23 2. Phase: 10. November - Mitte Januar 1990 Diese Phase ist durch eine Vielfalt neuer Kommunikationsformen und Textsorten gekennzeichnet, die bei den basisdemokratischen Aktionen vieler Menschen entstehen und dann rasch Verbreitung finden. In allen Teilen der DDR gibt es spontane Diskussionsforen, auf denen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Es bilden sich Bürgerkomitees. In den DDR- Medien wird in Enthüllungstexten versucht, Vergangenheitsbewältigung zu leisten. In neuen Sendeformen wird die öffentliche Diskussion befördert. Die vollkommene Agonie der zwar noch existierenden, jedoch unter immer massiveren Druck geratenen alten Führung tritt u.a. auf jener historischen Volkskammertagung zutage, auf der der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke eine Rede zur Verantwortung der Staatssicherheit hält, die dann vor allem durch den Satz „Ich liebe doch alle, alle Menschen“ bekannt wird. Diese Volkskammertagung ist gleichsam der Beginn einer Kultur der parlamentarischen Debatte, die es bis dato in der DDR nicht gab. 4 Nach dem Rücktritt der Regierung beginnt am 7.12.1989 der Runde Tisch in Berlin mit dem Krisenmanagement. Parallel zu diesen Entwicklungen rückt nach der Grenzöffnung am 9.11.1989 das Deutschlandthema in den Mittelpunkt des Interesses. Millionen DDR-Bürger fahren über die Grenze. Die Medien reflektieren das entstandene neue Lebensgefuhl auf zweierlei Art: Zum einen findet sich jetzt eine große Zahl ‘touristischer’ Texte über Westberlin und die Bundesrepublik, zum anderen erscheinen jedoch auch erste Texte zur Thematik der gemeinsamen Perspektive beider deutscher Staaten. Daß es in der DDR zu diesem Zeitpunkt zumindest zwei gegenläufige Tendenzen gibt, wird ganz deutlich: Intellektuelle veröffentlichen im November einen Aufruf „Für unser Land“, der eine eigenständige reformierte DDR beschwört. Auf den Montagsdemonstrationen dominieren demgegenüber zunehmend die „Deutschland einig Vaterland“- Sprechchöre und -Sprüche. Bundeskanzler Helmut Kohl hält im Dezember in Dresden eine umjubelte ‘Deutschlandrede’. Im neuen Jahr kommt es trotz der Reformbemühungen in der neuen SED um Gregor Gysi zu Massenaustritten. Die SED-PDS hat endgültig die Führungsrolle verloren. Mitte Januar wird die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin gestürmt. Der Runde Tisch wird live im Fernsehen übertragen und erlangt damit auch sprachlich eine breite Wirkung für die gesamte öffentliche Kommunikation. 3. Phase: Mitte Januar - 18. März 1990 Der Runde Tisch prägt in dieser Zeit das politische Bild der DDR wesentlich. Die Teilnehmer diskutieren grundlegende Texte wie z.B. den Entwurf einer 4 Burkhardt bezeichnet diese alte Volkskammer als ein „Parlament ohne parlamentarische Sprache" (Burkhardt 1992, S. 159). <?page no="24"?> 24 Refonmilierungen neuen Verfassung. Zugleich geht es immer wieder um Vergangenheitsbewältigung und gemeinsam mit der Modrow-Regierung um die Bewältigung der akuten Krise, in der sich die DDR befindet. Es erscheinen viele neue Zeitungen, die das ganze politische Spektrum widerspiegeln, und mit einem neu erwachenden Regionalgefuhl entsteht eine prosperierende Regionalpresse. Zunehmend beeinflußt der Wahlkampf das politische Klima im Land. Die Parteien entwickeln, unterstützt von ihren westlichen Partnern, zahlreiche Aktivitäten, wobei eine Grundfrage immer deutlicher hervortritt: für oder wider die Vereinigung Deutschlands. Viele der Themen, die später die neu gewählte Regierung z.B. in der Regierungserklärung aufgreift, werden bereits in den Wahlkampfmaterialien und Flugblättern diskutiert (z.B. Marktwirtschaft, Währungsunion etc.). Mit dem Sieg der CDU bei den Volkskammerwahlen vom 18. März ist endgültig entschieden, daß sich die DDR auf klarem Kurs zur deutschen Einheit befindet. 4. Phase: 19. März - 1. Juli 1990 Nach dem Mehrheitsvotum der DDR-Bevölkerung für eine Vereinigung mit der Bundesrepublik geht es in dieser Phase in der öffentlichen Diskussion vor allem um die Wege, die zur deutschen Einheit führen. Der Runde Tisch wird aufgelöst, die neu gewählte Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maiziere übernimmt die Regierungsgeschäfte. Die Verhandlungen zum Staatsvertrag und die Vorbereitungen auf die Währungsunion beginnen. Westliche Unternehmer verlagern ihr Geschäftsinteresse zunehmend in die DDR, vor allem im Bereich der Immobilien, des Zeitungsmarktes und des Handels. Die öffentliche Kommunikation ist wiederum durch zwei relevante thematischargumentative Stränge geprägt: Es werden zahlreiche Texte zur bevorstehenden Übernahme des neuen Wirtschaftssystems produziert, z.B. Informationstexte zur Währungsumstellung, beratende Texte zu Finanzproblemen und Steuerfragen oder zu Möglichkeiten einer Unternehmensgründung. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl warnender Texte, die die möglichen negativen Folgen dieser Entwicklung zur Marktwirtschaft beschreiben. Das zweite relevante Thema ist die „DDR-Identität“. Es wird auch angesichts der Infragestellung fast aller Einrichtungen und Institutionen diskutiert, was an der DDR erhaltenswert wäre. 5. Phase: 1. Juli -3. Oktober 1990 Mit der Währungsumstellung am 1. Juli verändert sich das Leben für die DDR-Bürger in entscheidendem Maße. Die Volkskammer beschließt am 22.8.1989 den Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Das bedeutet, daß sich die Vereinigung am 3. Oktober 1990 feierlich begangen nach den Konditionen der Bundesrepublik vollzieht. Die durch den Beitritt installierten Verhältnisse prägen auch heute noch die Kommunikation im vereinten Deutschland sowohl im öffentlichen als auch privaten Bereich. <?page no="25"?> Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 25 1.2 Die ausgewählten Texte Die Kriterien für die Zusammenstellung eines Korpus für diese Untersuchung ergaben sich aus dem Bestreben, relevante Belege dafür zu finden, daß die bereits in der Einleitung beschriebene kommunikative Konstellation der Wiederaufnahme von Äußerungen als signifikant für öffentliche Kommunikation gelten kann. Es war also aus der Gesamtheit der Diskurswelt eine Menge von Texten auszuwählen, die durch explizite Verweise miteinander verknüpft sind und sich vor allem auf ein gemeinsames sprachliches Objekt beziehen. Ein geradezu exemplarischer Ausgangspunkt für Wiederaufnahmen und nachfolgende Interpretationen ist die Regierungserklärung von Lothar de Maiziere, die der neu gewählte DDR-Ministerpräsident am 19. April 1990 vor der Volkskammer abgab. Die Volkskammerwahlen vom 18.3.1990 stellen wie bereits angedeutet einen Wendepunkt im politischen Leben der DDR und in dem gesellschaftlichen Veränderungsprozeß dar, den dieses Land seit dem Herbst 1989 durchläuft. Der ‘Aufbruchsdiskurs’ wandelt sich mit dem Sieg der CDU (Ost) zum ‘Vereinigungsdiskurs’. Es ändern sich die Redeweisen in der Öffentlichkeit sowie die Themen und die Perspektiven. Ein Kernthema ist die mit dem CDU-Wahlsieg in Aussicht gestellte Währungsunion und der damit verbundene Umtauschkurs. Mit Spannung wartet die politische Öffentlichkeit auf die Regierungserklärung des neuen DDR-Ministerpräsidenten, wobei man sich vor allem zwei Fragen stellt: Wieviel Eigenständigkeit ist der neue erste Mann imstande zu zeigen? Und: Wie äußert er sich zu den kontrovers diskutierten Fragen der Währungsunion? Die am 19. April abgegebene Regierungserklärung löst dann das erwartet große Echo aus. Sie wird in den Medien vielfach wiedergegeben, modifiziert und interpretiert. Die Regierungserklärung selbst und die Texte, die unmittelbar vor und nach der Abgabe der Regierungserklärung am 19. April und der Volkskammerdebatte am 20. April produziert werden, bilden den Kernbereich des Korpus und den Analyseschwerpunkt dieser Arbeit. Aus 13 Tageszeitungen wurden alle Beiträge ausgewählt insgesamt rund 80 die sich auf die Regierungserklärung unmittelbar davor und eine Woche danach in irgendeiner Art beziehen. Diese Texte liefern ein nahezu vollständiges Abbild der medialen Verarbeitungen des Originaltextes und stammen aus folgenden Tageszeitungen 5 : 5 Im Textanhang werden jene Texte (Redeberichte und Kommentare) vollständig dokumentiert, aus denen die wichtigsten und am ausführlichsten behandelten Analysebeispiele stammen. Dies soll eine Nachvollziehbarkeit der argumentativen Gesamtkontexte und der Originaleinbettungen (der ‘Textwelten’) ermöglichen. <?page no="26"?> 26 Refoniiulierungen Ost: „Berliner Zeitung“, „Neues Deutschland“, „Berliner Allgemeine“, „Neue Zeit“, „Morgen“ die drei letztgenannten als Organe der damaligen DDR- Blockparteien LDPD, NDPD und CDU - und die „Tribüne“ als Gewerkschaftsorgan; West: „Frankfurter Allgemeine“, „Tagesspiegel/ Berlin“, „Berliner Morgenpost“, „Frankfurter Rundschau“, „Süddeutsche Zeitung“, „taz“, „Welt“. Darüber hinaus liegen Originalmitschnitte der ersten Nachrichtensendungen am gleichen Tag sowie von Sendungen/ Diskussionsrunden vor, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Ausgewählt wurden nur solche Texte, in denen ein mehr oder weniger großer Anteil an reformulierten Einheiten vorkommt. Grundsätzlich mußte jeder Text mindestens einen expliziten Verweis darauf enthalten, daß er sich auf die Regierungserklärung bezieht. Ein weiterer Teil von Textbelegen stammt aus dem IDS-Korpus zur Sprache der Wende (WKD/ WKB), das in den Jahren 1990/ 91 im Projekt „Gesamtdeutsche Korpusinitative“ zusammengestellt und dokumentiert wurde (vgl. dazu u.a. Herberg/ Stickel 1992; Fraas/ Steyer 1992; Herberg 1993). Diese Texte umfassen den Zeitraum von etwa einem halben Jahr vor und nach den Volkskammerwahlen vom 18. März bzw. auch aus den Jahren 1991-1993. Sie sind ebenso von einiger Relevanz, um zum einen die Vorgeschichte von Reformulierungen und zum anderen die Übernahme einzelner reformulierter Sequenzen in andere Kontexte verfolgen zu können. Das ausgewählte Material ist aus zweierlei Gründen besonders aussagekräftig: Es ist linguistisch ergiebig, weil es nicht vordergründig kontrovers ist. Diese These scheint ein Widerspruch in sich zu sein, stehen doch in der Regel sprachliche Besonderheiten kontroverser Reden, Diskussionen und Auseinandersetzungen im Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Interesses, Kommunikationsakte also, bei denen Sprecher ihre divergierenden Standpunkte und Bewertungen sehr explizit formulieren. Viele Untersuchungen im Bereich von Sprache, Politik und Öffentlichkeit haben bisher vorrangig solche mehr oder weniger klaren Fälle von Meinungsaushandlungen analysiert. Das ist auch ein entscheidender Nachteil mancher Arbeiten: Sie beschreiben Phänomene, die sehr explizit sind, die sozusagen ‘auf der Hand liegen’, die also jeder interessierte Medienkonsument ebenso erkennen kann. Dies wirft natürlich die Frage auf, wozu ein linguistisches Instrumentarium überhaupt notwendig ist. Oft reicht ein Wissen über die entsprechende kommunikativ-diskursive Konstellation schon aus, um z.B. bestimmte Interpretations- und Bewertungsrituale zu erfassen. Interessant wird es für den Linguisten aber doch erst dann, wenn er mit Hilfe einer detaillierten sprachwissenschaftlichen Analyse Mechanismen und argumentative Strukturen transparent machen kann, die den <?page no="27"?> Die Analysetexte und ihr innerer Zusammenhang 27 Sprechern und Hörem nicht in vollem Maße bewußt sein können, da sie quasi unter der Oberfläche der sprachlichen Ausdrucksform liegen und dort ihre Wirkung entfalten. Auf die empirische Basis dieser Arbeit trifft dies in besonderer Weise zu: Die ausgewählten Texte erscheinen bei einer ersten Annäherung als ziemlich detailgetreue Wiederaufnahmen von Elementen des Bezugstextes. Die folgenden zwei Pressestimmen zeigen das Spektrum, in dem sich die Interpretationen und Bewertungen der Regierungserklärung bewegen. BASLER ZEITUNG „Die Regierungserklärung ist gewiß nicht allein Lothar de Maizieres Werk. Daran mitgeschrieben haben auch die anderen Koalitionspartner. Dennoch ist unverkennbar, daß der ebenso sensible wie zähe Humanist und gläubige Nachkomme einer Hugenottenfamilie dem Dokument seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt hat. Die Art und Weise, wie der 50jährige auf die Ängste und Anliegen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger eingeht, gleichzeitig aber die tatsächlichen Probleme dieser Welt im Auge behält, zeugt von Größe und Weitsicht ... Und einen Vorwurf kann man ihm nach dem gestrigen Auftritt in der Volkskammer nicht mehr machen: daß er ein Erfüllungsgehilfe des Bonner Bundeskanzlers ist.“ AUGSBURGER ALLGEMEINE „De Maiziere macht Politik nach dem Motto ‘warum das Fahrrad noch einmal erfinden? ’ Mit anderen Worten: Was sich in der Bundesrepublik bewährt hat, kann auch für die DDR nicht von Übel sein. So viel Selbstaufgabe ist wohl auch ein Zeugnis dafür, wie schlimm die Lage drüben wirklich ist. So hat die Regierung denn auch alle Reibungspunkte mit Bonn ausgeräumt ... Ob soziale Marktwirtschaft, Aufbau eines klar gegliederten Rechtssystems oder die rasche Wiedereinführung der Länder - Ost Berlin erfüllt alle Forderungen aus Bonn. Bleibt die Frage, worüber man eigentlich noch verhandeln will.“ Die große Mehrheit der den Bezugstext reformulierenden Sprecher befindet sich durchaus in einem Grundkonsens darüber, daß de Maiziere eine ausgewogene, selbstbewußte und differenzierte Rede gehalten hat. Da die Medien diese Rede in großem Umfang wiedergeben, weisen die Texte einen sehr hohen Anteil an gleichen Wörtern und Formulierungen auf; es gibt nur selten Wiedergabeäußerungen, die auf den ersten Blick z.B. als ‘zugespitzt’ oder ‘polarisierend’ verstanden werden könnten. Die Reformulierungsmechanismen und -effekte, die Interpretations- und Bewertungsmuster lassen sich deswegen in diesem Korpus nur durch eine wirkliche Detailanalyse sowie durch eine vergleichende Analyse einer großen Menge von Texten und Textausschnitten rekonstruieren und bestimmen. Erst die Summe vieler der beschriebenen Einzelerscheinungen und die ständige Wiederkehr ganz bestimmter Phänomene gestatten es dann, generelle Aussagen zu treffen. <?page no="28"?> 28 RefonnuHerungen Das Textmaterial ist auch deswegen so ergiebig, weil sich hier in geradezu exemplarischer Weise die Konstitution prototypischer Muster bei der Wiedergabe und der Bewertung von Äußerungen eines prominenten ostdeutschen Sprechers im damaligen Ost-West-Diskurs rekonstruieren läßt. <?page no="29"?> 2. Bezugs- und Wiedergabetexte (Tl-n) als Diskurskonstituenten — eine erste globale Einordnung 2.1 Text und Diskurs Den Terminus ‘Text’ haben Kommunikations- und Textlinguisten bzw. Texttheoretiker sehr ausführlich diskutiert, ohne jedoch bisher zu einer leidlich einheitlichen Definition dieser zentralen Kategorie zu kommen. Hier sollen nur zwei Definitionsversuche näher charakterisiert werden, da sie für die folgenden Überlegungen als praktikabel erscheinen. Brinker definiert ‘Text’ als sprachliche (im Sinne einer sprachlichen Struktur, d.A.) und als kommunikative Einheit. Einen Text versteht er als eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert (vgl. Brinker 1992, S. 17). Unter Struktur eines Textes versteht er ein Gefüge von Relationen, die zwischen den Sätzen bzw. den Propositionen als den unmittelbaren Strukturelementen des Textes bestehen und die den inneren Zusammenhang des Textes, die Kohärenz, bewirken. Die Textstruktur umfaßt eine grammatische und eine thematische Ebene (ebd., S. 21). Als Textfünktionen möchte er die kommunikative Funktion von Texten verstanden wissen, den Sinn also, den ein Text in einem Kommunikationsprozeß erhält, bzw. den Zweck, den er erfüllt (ebd., S. 81f). Die Zweiteilung in eine strukturelle und eine fünktionale Komponente (vgl. auch Antos 1982, Gülich/ Kotschi 1987, Brinker 1992) ist fundamental sowohl für das Verständnis eines Textvorkommens an sich als auch für seine analytische Beschreibung. Zu relativieren ist jedoch die Bestimmung von Kohärenz als dem Text innewohnende Eigenschaft. Dies wird in letzter Zeit auch von anderen Linguisten problematisiert, z.B. von de Beaugrande (1990), wenn er feststellt, der ‘alte’ Textbegriff sei davon ausgegangen, daß der Text an sich etwas aussage, daß er an sich existiere und Eigenschaften an sich besitze. Neuere Ansätze verträten dagegen die Auffassung, daß ein Text nur durch seine Verarbeitung erklärbar sei. Ein sprachliches Gebilde sei also nicht per se ein Text, ihm könne vielmehr diese Qualität variabel zugeschrieben werden. Die Zuschreibungskomponente gilt dabei sowohl für die allgemeine Kategorie ‘Text’ als auch für seine besonderen Merkmale wie z.B. Kohärenz. Eine sehr komplexe Textbestimmung auf der Grundlage eines dynamisch-prozeduralen Textanalysemodells geben Heinemann und Viehweger (1991). Ihre Definition bildet neben der Textbestimmung von Brinker die wesentliche terminologische Grundlage für die Verwendung des Textbegriffs in dieser Arbeit: „Unter Texten werden Ergebnisse sprachlicher Tätigkeit sozial handelnder Menschen verstanden, durch die in Abhängigkeit von der kognitiven Bewertung der Handlungsbeteiligten wie auch des Handlungskontextes vom Textproduzenten Wissen unterschiedlicher Art aktualisiert wurde, das sich in Texten in spezifischer Weise manifestiert und deren mehrdimensionale Struktur konstituiert. Die Struktur eines <?page no="30"?> 30 Refoniwlierungen Textes indiziert zugleich die Funktion, die einem Text von einem Produzenten in einem bestimmten Interaktionskontext zugeschrieben wurde, und stellt die Basis für einen komplizierten Interpretationsprozeß des Textrezipienten dar.“ (Heinemann/ Viehweger 1991, S. 126) Einer dynamischen TextaufFassung zu folgen, fuhrt die Autoren dazu, Bedeutungen und Funktionen immer nur in Relation zu den Interaktionskontexten sowie den Handlungsbeteiligten zu bestimmen, die die Texte produzieren und rezipieren. „Es sind vielmehr die Handlungsbeteiligten, die in einem Text den Zusammenhang stiften und diesen in der Textstruktur manifestieren, um ihn in einem komplizierten Verstehensprozeß wieder zu konstruieren, in dem Textinformationen und bereits vorhandenes Wissen eng Zusammenwirken.“ (ebd.) Gerade diese in einem Produktions- und Rekonstruktionsprozeß interagierenden Komponenten ‘Textinformation’ und ‘vorhandenes Wissen’ werden für die Beschreibung von Äußerungsvernetzungen in Reformulierungen von einiger Relevanz sein. Seit sich Linguisten mit Texten systematisch befassen, geht es auch immer wieder um den Komplexitätsgrad und die Abgrenzbarkeit von textlichen Gebilden. Brinker ist zuzustimmen, wenn er den ‘Satz’ als wichtigste Struktureinheit des Textes ansieht und dabei auf das Vorhandensein ganz spezifischer Textbegrenzungssignale hinweist, die es dem Hörer ermöglichen, ein sprachliches Gebilde als Text zu erkennen (vgl. Brinker 1992, S. 17ff.). Lind doch sind auch in bezug auf den Umfang variable Zuschreibungen möglich. Hatakeyama, Petöfi und Sözer unterstreichen z.B. die Relativität des Umfangs, der es gestattet, von einem Text zu sprechen: „Es soll auch betont werden, daß die Zuordnung der Eigenschaft ‘Text’ zu einem Ausdruck nicht von der Größenordnung dieses Ausdrucks abhängt. Gegebenenfalls kann ein Ausdruck in der Größenordnung eines Wortes, eines Syntagmas oder eines Satzes ebensogut als Text gelten wie ein Ausdruck in der Größenordnung einer Satz- Sequenz.“ (Hatakeyama/ Petöfi/ Sözer 1989, S. 6) Die Dynamisierung des Textbegriffs sollte jedoch nicht zu weit getrieben werden: Betrachtet man real vorkommende Texte schon in der Alltagskommunikation, seien es Briefe, Telefongespräche etc., so ist es in der Regel möglich, z.B. Textanfang und -ende zu bestimmen. Noch deutlicher bestimmbare Struktur- und Funktionseigenschaften haben Texte in der öffentlichen Kommunikation, die eigentlichen ‘Politik-Texte’ und die publizistischen Texte, wie sie schon in der klassischen Genretheorie der Journalistik etabliert wurden. Solche Texte sind z.B. <?page no="31"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 31 im Bereich der Politik: - Regierungserklärungen vor einem Parlament - Parlamentsdebatten - Statements - Wahlprogramme - Gesetzesentwürfe (vgl. dazu auch Tillmann 1989) im Bereich der Medien: - Femsehnachrichten - Berichte - Kommentare - Zeitungsnachrichten - Interviews (vgl. DovifatAVilkel976; Lüger 1983; Bucher 1986; Burger 1990; Schwitalla 1993). Die meisten Texte weisen eine für den Rezipienten erkennbare je spezifische Struktur mit je spezifischen Funktionen auf und ermöglichen es ihm u.a., den Text bei seiner Rezeption einer Textsorte zuzuorden bzw. bei der Produktion textsortenadäquate Texte zu formulieren. Diese klar definierbaren Struktur- und Funktionseigenschaften können als Konstanten für eine Textbestimmung gelten. Darüber hinaus existieren jedoch noch andere Eigenschaften, die dem Text variabel zugeschrieben werden können. Ein Beispiel aus dem Alltag möge dies verdeutlichen: Ein Telefongespräch kann bereits das zweite Gespräch darüber sein, warum Tante Emma ihren Egon noch immer nicht vor die Tür gesetzt hat. Man könnte deshalb auch beide Telefongespräche als einen Text zum Thema der Beziehung zwischen Tante Emma und ihrem Mann Egon verstehen. Es gäbe auch die Möglichkeit, diese Gespräche als für die Familie Meyer typischen Klatsch zu interpretieren, zu dem auch noch andere Gespräche und Bemerkungen gehören. Diese möglichen Zuordnungen könnten sowohl von Sprechern in alltagsweltlichen Wahrnehmungen als auch vom Linguisten bei der Textanalyse geleistet werden. Demzufolge wären mehrere relativ abgeschlossene sprachliche Gebilde zu einem globalen Thema in bestimmten Konstellationen auch als ein Text, sozusagen als eine Art ‘Supertext’, interpretierbar. Für eine solche mögliche Zuordnung bietet sich der Diskursbegriff an, selbst wenn er einer der schillerndsten in der neueren Linguistik ist. Wohl kaum ein anderer Terminus ist für derart verschiedene Objekte und Sachverhalte benutzt worden wie dieser (vgl. hierzu u.a Maas 1984; Erfurt 1986; Hopfer 1992; Ehlich 1994). 6 Dennoch soll mit ihm gearbeitet werden, allerdings in ei- Busse und Teubert definieren 'Diskurs’ in einem forschungspraktischen Sinn als „virtuelle Textkorpora“, deren Zusammensetzung vor allem durch inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt seien. Für den hier zur Debatte stehenden Ansatz erscheint ihr drittes Kriterium der Zugehörigkeit von Texten zu einem Diskurs zutreffend, nämlich, daß all jene Texte einen Diskurs konstituierten, die u.a. durch explizite <?page no="32"?> 32 Refoniiulierungen nem strikt definierten Sinne: Der Diskursbegriff ist nötig, weil sich in der Kommunikation einer Sprachgemeinschaft unbestreitbar ganz bestimmte Textzusammenhänge über den Einzeltext hinaus auf einer Art Makroebene konstituieren (vgl. Steyer 1994, S.143f. und auch Bucher 1986; Tschauder 1989; Plett 1991; Posner 1992; Holthuis 1993, Biere 1993). In bestimmten Konstellationen können Texten deshalb Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie als Teil einer größeren Menge definieren, d.h., sie können als Reaktion auf andere bzw. in Vorbereitung anderer Texte produziert und rezipiert werden. Diskurs soll daher für ein Netz von Äußerungen/ Texten stehen, die entweder über globale Themen miteinander verknüpft sind und zahlreiche Referenzbeziehungen untereinander aufweisen oder sich auf ein und dasselbe sprachliche Referenzobjekt beziehen. Der Diskurs wird also durch eine endliche Menge von Texten konstituiert, deren Elemente auf identische außersprachliche bzw. versprachlichte Sachverhalte referieren (vgl. auch schon ‘Isothematik’ bei Agricola 1979, S. 22ff ). Eine solche Abfolge und Vernetzung verschiedener Äußerungen/ Texte wie im vorliegenden Fallbeispiel, die in verschiedenen Zeitungen auf ein und denselben Originaltext referieren, verkörpert par excellence ein solches Phänomen. Hoppenkamps spricht in diesem Zusammenhang von einer paradigmatischen Textanalyse: Unterschiedliche Zitierungen zu einem Thema in verschiedenen Zeitungen bilden ein Paradigma (vgl. Hoppenkamps 1977, S. 78). Hier nähert er sich schon einem diskursiven Ansatz von Zitierungen, ohne diesen jedoch in seiner Ganzheit erfassen und ausarbeiten zu können. Man könnte auch sagen: Die Zitierungen konstituieren zusammen mit dem Zitierten einen Diskurs. Nun scheint es in der Tat problematisch, eine zusammenhängende Menge von Texten sinnvoll beschreiben zu wollen, zumal Rezipienten in der Regel ja auch nur den Einzeltext in seinem unmittelbaren Umfeld wahrnehmen und verarbeiten. Demzufolge könnten sie nicht ohne weiteres eine Menge von Texten Tl-n bewußt als Ganzheit erfassen bzw. Zusammenhänge zwischen TI, T2 usw. herstellen. Das ließe wiederum den Schluß zu, daß solche textübergreifenden Zusammenhänge für den Linguisten nicht erfaßbar und beschreibbar sind. Da sich jedoch keine Textproduktion und -rezeption voraussetzungslos ereignet, sondern Sprecher mit Äußerungen/ Texten vor dem Hintergrund ihres ‘Diskurswissens’ umgehen, d.h., sie mit Hilfe dieses Wissens verstehen und sie schließlich unter Berücksichtigung dieses Wissens produzieren, ist eine Einbeziehung der Intertextebene von einiger Relevanz für die Erfassung kommunikativer Prozesse. oder implizite Verweisungen aufeinander Bezug nähmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bildeten (Busse/ Teubert 1994, S. 14). Dieses Kriterium ist in einem ganz ähnlichen Sinne zu verstehen wie der Ansatz von Foucault, der so sehen es Busse und Teubert nicht in erster Linie ein Textkorpus meine, wenn er von ‘Diskurs’ spricht, sondern Beziehungen zwischen einzelnen Aussagen und Aussagenelementen (ebd., S. 15; vgl. auch Foucault 1991). <?page no="33"?> Bezugs- und Wiedergabetext (TI-n) als Diskurskontituenten 33 2.2 Reformulierungen im öffentlichen Diskurs - ‘Bezugsäußerung’ und ‘Bezugstext’ Texte der öffentlichen Kommunikation stehen wie in der Einleitung bereits angedeutet in besonderer Weise in einem intertextuellen Zusammenhang, sind Teil einer diskursiven Welt. Sie weisen zahlreiche Referenzbeziehungen untereinander auf und sind auf vielfache Weise miteinander vernetzt. Solche Vernetzungen können rein implizit entstehen, können unter Umständen aber auch sehr explizit zutage treten, nämlich dann, wenn Äußerungen und Texte im laufenden Diskurs wiederaufgenommen und weiterverarbeitet, wenn sie reformuliert werden. Reformulierungen bereits produzierter Textelemente in neuen Kontexten stellen dabei aber nur den Kernbereich eines komplexeren Phänomens dar: Eine erste, unmittelbare Beziehung zwischen einem Text TI und einem Text T2 entsteht, wenn T2 eine reproduzierte Form von TI ist, wenn TI in T2 transformiert wurde. Die Transformation von einem Originaltext in seinen Wiedergabetext kann demzufolge eine elementare diskurskonstituierende Operation sein. In der öffentlichen Kommunikation existiert dieser Fall in exemplarischer Weise: Sprecher 1 (Politiker) produziert einen Text TI (Rede oder Statement). Sprecher 2 (Journalist) reproduziert TI, indem er T2 produziert (also z.B. einen Bericht über TI schreibt und dabei Tl-Sequenzen reformuliert); TI wird damit zum Bezugstext fur T2. Es gibt in der öffentlichen Kommunikation zwei exemplarische Vorgänge einer diskursiven Entfaltung durch Wiederaufnahmen bereits produzierter Äußerungen: a) über einzelne Sätze (Wendungen) bzw. Wörter, die von verschiedenen Sprechern in verschiedenen Konstellationen wiederaufgenommen und in eigene Kontexte eingebettet werden; b) über ganze Texte, die zu Referenzobjekten für darauffolgende Äußerungen/ Texte werden und zumeist eine Kette interpretierender Texte auslösen. Dabei sind jedoch nicht x-beliebige Äußerungen bzw. x-beliebige Texte von solcher Relevanz, daß sie zu bevorzugten Referenzobjekten werden. Für die herausgehobene Stellung und damit für die besondere Reformulierbarkeit einzelner sprachlicher Entitäten im Diskurs können ganz verschiedene Ursachen angenommen werden: - Der laufende Diskurs zu einem Thema/ Themenbereich ist an einem Zeitpunkt angelangt, zu dem bereits viele Einzeläußerungen produziert worden sind, die nun grundsätzlicher behandelt und in gewisser Weise ‘gebündelt’ werden müssen. <?page no="34"?> 34 RefornwUerungen - Die Äußerungen/ Texte werden von einem in seiner sozialen Rolle herausgehobenen Sprecher produziert, wodurch seine Äußerungen besonders intensiv rezipiert und weiterverarbeitet werden. - Die Äußerungen/ Texte erregen durch ihre Unerwartbarkeit, Ungewöhnlichkeit oder Widersprüchlichkeit besondere Aufmerksamkeit bzw. dadurch, daß sie ein Problem ‘auf den Punkt bringen’. Zwischen den Reformulierungen und ihren Referenzobjekten unter a) und b) ist nunmehr qualitativ zu unterscheiden: Zu Bezugsäußerungen können zahlreiche Äußerungen in der öffentlichen Kommunikation werden; jedoch nur ganz spezielle Bedingungen erfüllende Texte erlangen auch den Status eines Bezugsstextes. Für die nähere Charakterisierung des ‘Bezugstextes’ soll auf die im vorangegangenen Kapitel vorgenommene Unterscheidung zwischen relativ konstanten Textcharakteristika und je variablen Zuschreibungen zurückgegriffen werden. Zum einen weisen Texte in der öffentlichen Kommunikation wie bereits gesagt relativ konstante Muster auf, die mit tradierten Klassifizierungen von Textsorten in Politik und Publizistik beschrieben werden können (vgl. 2.1). Neben dieser allgemein geltenden Charakterisierung als Nachrichten, Berichte usw. können solche Texte jedoch auch als Elemente einer Relation zu anderen Texten verstanden werden. Sie können Texte sein, auf die mit hoher Frequenz referiert wird, die ebenso aber auch selbst auf andere referieren. Für die nähere Erklärung dieses variablen Status soll noch einmal auf die spezifische Kommunikationssituation Bezug genommen werden: Jemand hat einen Text produziert. Es ist jedoch kein Älltagstext, sondern ein von einem legitimierten Sprecher (zumeist einem Politiker oder einer anderen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens) für die Öffentlichkeit produzierter Text. Dieser öffentliche Charakter impliziert eine Mehrfachadressierung an eine heterogene Menge potentieller Hörer, die durch die mediale Verbreitung noch zusätzlich erweitert wird (vgl. zu Mehrfachadressierung Hoffmann 1984, Hensel 1987). Äußerungen, Sequenzen und größere Teile dieses Textes werden nun in der Öffentlichkeit zum einen von den Politikern selbst, zum anderen von den Medien vielfach reformuliert. Einem solchen Text kann aufgrund der hohen Frequenz der Bezugnahmen und Wiederaufnahmen in seiner Folge der Status eines Bezugstextes zugeschrieben werden. Dies erscheint nur dann legitim, wenn er in seinen Wiedergaben als solcher thematisiert und präsentiert wird, wenn also nicht nur einzelne Ausdrücke oder Sequenzen häufig reformuliert, sondern wenn zugleich auch seine thematisch-argumentativen und sprachlichen Strukturen im wesentlichen wiederaufgenommen werden. Auch der ‘Wendediskurs’ konstituiert sich in vielen Bereichen über solche Bezugnahmen auf mehr oder minder komplexe Referenzobjekte, also über Bezugnahmen auf Einzeläußerungen wie im Fall a) und auf ganze Texte wie im Fall b). <?page no="35"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 35 Fall a): Es lassen sich bestimmte Schlüsselwörter und -Sätze nachweisen, die von verschiedenen Sprechern in verschiedenen Konstellationen besonders häufig wiederaufgenommen, umformuliert und interpretiert werden. Dafür ein Beispiel: (2/ 1) Michail Gorbatschow antwortet während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 auf die Frage von Journalisten, ob er die Situation in der DDR für gefährlich halte, folgendes: Gefahren warten nur auf jenen, der nicht auf das Leben reagiert. In den darauffolgenden Tagen wandelt sich dieser Satz in den Medien zu seiner bis heute verwendeten Wiedergabeform Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, wird zu einer Schlüsseläußerung dieser Zeit und schließlich in der Alltagssprache zu einer neuen deutschen Redewendung schlechthin (vgl. Steyer 1994). Im Wendediskurs wird diese Äußerung zunächst noch als Plädoyer für notwendige Veränderungen in der DDR reformuliert, wie in der Volkskammertagung Anfang Dezember 1989, wo Manfred von Ardenne u.a. das Problem des Widerstandes des alten Apparates gegenüber neuen Ministern zur Diskussion stellt: Ich möchte diesen Ministem Mut machen, in ihrem Nahbereich energisch aufzuräumen und Männer ihres Vertrauens und ihres Denkens einzusetzen. (Beifall) Lassen Sie mich in abgewandcltcr Form zitieren: Wer dazu nicht die Kraft hat, den bestraft das Leben. (Sitzungsprotokoll der Volkskammertagung vom 1. Dezember 1989) Mit zunehmender zeitlicher Distanz erweitert sich der Anwendungsbereich. Die Wendung wird nun ganz allgemein verwendet für den Sachverhalt, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. So beruft sich der CDU/ DA-Abgeordnete Bierling in einer aktuellen Stunde der Volkskammer zum Thema 2+4-Verhandlungen auf diesen Satz: Nicht nur wir in diesem Hohen Hause bekommen die starke Dynamik der ausgelösten Entwicklung zu spüren, die ständig dringenden Handlungs- und Entscheidungsbedarf schafft, um den Prozeß der deutschen Einheit möglichst in geordneten, gerechten und friedlichen Bahnen verlaufen zu lassen. Erinnern wir uns aber hier des Gorbatschow-Zitats, das gleichsam am Schnittpunkt der Wende mahnend vor der selbstgefällig jubilierenden SED-Führung stand: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dieses Wort gilt nicht minder heute im Blick auf die Lösung der Probleme, die mit unserer Einigung Zusammenhängen. (Sitzungsprotokoll der 19. Volkskammertagung vom 29. Juni 1990) Interessant ist nun, daß bei der Reformulierung im ersten Beispiel Teile des propositionalen Gehalts zwar verändert werden (aus wer zu spät kommt wird wer dazu nicht die Kraft hat), trotzdem aber eine dem Original gemäße Wiedergabe des kommunikativen Sinns erfolgt (nämlich Anmahnung von Reformen in der DDR). Im Gegensatz dazu verändert sich der Fokus im zweiten <?page no="36"?> 36 Refoniiulierungen Beispiel durch die Einbettung in einen anderen Kontext (nicht mehr Anmahnung von Reformen in der DDR, sondern schon Anmahnung einer schnellen Vereinigung und damit einer Auflösung der DDR), obwohl der Reformulierer den propositionalen Gehalt dieses Zitats nicht verändert und sogar den Originalsprecher erwähnt. Einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Verselbständigung dieses Zitats bietet das folgende Beispiel, mit dem es zu einer alltagssprachlichen Redewendung wird. In einer vorweihnachtlichen volkstümlichen Sendung im Dezember 1992 bemerkt die Moderatorin: Wer zu spät bäckt, den bestraft der Weihnachtsmann. Damit übernimmt sie zwar die Konstruktion, füllt sie jedoch teilweise mit anderen lexikalischen Einheiten auf. Ein solches am Gorbatschow-Beispiel demonstriertes - Weiterverarbeiten besonders relevanter Bezugsäußerungen in anderen Kommunikationssituationen stellt keinen Einzelfall dar. Ein weiteres Beispiel sei deshalb angeführt: (2/ 2) Willy Brandt äußert auf der Kundgebung anläßlich der Öffnung der Grenzen vor dem Berliner Rathaus Schöneberg den Satz Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, ein Satz, der viele Sprecher inspiriert, ihn auf die eine oder andere Weise zu wiederholen und zu paraphrasieren. Ein Spruch auf einer etwas späteren Montagsdemonstration lautet: Zusammenwachsen, nicht -wuchern. In einem Kommentar der Leipziger Volkszeitung vom 19. Januar 1990 unter der Überschrift „Wachsen oder wuchern? “ reflektiert der Journalist die Chancen und Gefahren der Kontakte ostdeutscher mit westdeutschen Firmen: Der Kapitalimport als Chance, den Beschäftigten hier Perspektiven zu geben, bringt nebenher ein Zusammenwachsen, wie es sich Brandt und von Weizsäcker vorstellen und wie es die Vernunft gebietet. Begegnungen mit Wirtschaftsfachleuten der Bundesrepublik machten mir deutlich, wo dagegen die Gefahren eines Zusammenwucherns liegen. Nach dem Tod von Willy Brandt sagt der französische Publizist und Brandt- Freund Alfred Grosser im Südwestfunk folgendes: Er war ein Humanist. Er hat das Leben geliebt. Und wer das Leben liebt und genießt, der ist ein Humanist. Er konnte sehr gut Französisch. Aber er konnte sich auch sehr gut in seiner Muttersprache ausdrücken. Er hatte eine reiche Sprache. Über die ehemalige DDR sagte er: Es muß zusammenwachsen, was zusammengehört Welch wunderbarer Satz! (Hörbeleg) Beide Beispiele dokumentieren, daß vor allem solche Äußerungen im öffentlichen Diskurs zu Bezugsäußerungen werden, die zum richtigen Zeitpunkt sprachlich überzeugend eine Meinung zu einem Problem formulieren, das für die jeweilige Diskurswelt von Bedeutung ist. Gorbatschows Äußerung ist anfangs deswegen so geeignet, reformuliert zu werden, weil sie treffend anhand einer Metapher auf die aktuelle Lage in der DDR Bezug nimmt, ohne jedoch <?page no="37"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 37 jemanden direkt anzusprechen, während sich die Äußerung Brandts durch ihre sprachliche Gestaltung von anderen abhebt und so in den Fokus vieler Sprecher gerät. Fall b): Neben diesen Einzeläußerungen lassen sich wie bereits erwähnt auch Texte finden, die als Ganzes wiederaufgenommen und mit eigenen Äußerungen des reformulierenden Sprechers verzahnt werden. Es handelt sich dabei zumeist um Reden oder offizielle Erklärungen, wie z.B. um die Rede von Helmut Kohl in Dresden (Dezember 1989) oder die Erklärung zu einer möglichen Konföderation zwischen der DDR und der BRD vom damaligen Ministerpräsidenten Hans Modrow unter dem Titel „Für Deutschland, einig Vaterland“ zu Beginn des Jahres 1990. Einen geradezu exemplarischen Ausgangspunkt für wechselseitige Wiederaufnahmen von Äußerungen stellt die Regierungserklärung von Lothar de Maiziere dar, die der neu gewählte DDR-Ministerpräsident am 19. April 1990 vor der Volkskammer abgibt. Gerade diese Rede legt die Vermutung nahe, daß es Texte geben muß, die aufgrund ihrer Relevanz und ihres Charakters zum Beispiel eine Grundsatzerklärung zu sein erwartbar eine hohe Frequenz von Wiederaufnahmen auslösen. Sie sind wenn man so will - ‘gesetzte Bezugstexte’. 2.3 Diskurskonstitution über den Bezugstext und seine Folgetexte Nachdem eine Unterscheidung zwischen konstantem und variablem Status von Texten und zwischen Reformulierungen einzelner Einheiten und ganzer Texte getroffen worden ist, soll dargestellt werden, auf welche Art und Weise sich ein Diskurs über Reformulierungen in der öffentlichen Kommunikation entfalten kann. Von Interesse ist dabei, wie sich die Reformulierungen eines Bezugstextes in den Folgetexten vernetzen bzw. selbst wieder zu Bezugsäußerungen/ Bezugstexten werden. Im Verlauf dieser Reformulierungsprozesse präsentieren und interpretieren die reformulierenden Sprecher den Bezugstext und seine Elemente in den wiedergebenden Texten zunächst als Ganzheit. Mit zunehmender Entfernung nimmt dann der Anteil an reformulierten Bezugstexteinheiten jedoch ab, und diese Einheiten vermischen sich mit anderen. Die im folgenden skizzierten Vorgänge haben dabei keinen zufälligen, auf den Einzelfall beschränkten Charakter, sondern sind aufgrund ihrer Häufigkeit signifikant für öffentliche Kommunikation überhaupt. Andere von der Autorin durchgefuhrte Fallstudien bestätigen diese Feststellung. 7 Es sei betont, daß es Zum einen handelt es sich um eine Analyse der medialen Reaktionen auf ein Interview mit Erich Honecker im Jahre 1984, das in vielfacher Weise in den Ost- und Westmedien reformuliert wurde. Die große Resonanz resultierte nicht zuletzt daraus, daß ein dominierendes Thema den deutsch-deutschen Diskurs zu dieser Zeit beherrschte: ein möglicher Staatsbesuch von Honecker in der BRD. Zum anderen ist damit eine (unveröffentlichte) Fallstudie aus dem Jahre 1987 zum SED-SPD-Papier „Der Streit der Ideologien <?page no="38"?> 38 ReformuUeningen sich hierbei nicht immer um lineare Vorgänge handelt. Vielmehr laufen viele Reformulierungsvorgänge parallel ab, und es kommt zu Vernetzungen verschiedener Stufen. Dies soll in einer Grafik verdeutlicht werden: Fbrmulierungsebene Vortexte 18.3. -18.4.90 Statement + Reformulierungsebene primär sekundär ^ Nachricht t A' Bereits vor der Produktion des Bezugstextes entstehen zum Diskurs gehörende Texte, die für die Konstitution des Themas und der argumentativen Verläu- und die gemeinsame Sicherheit" 1987 und die dieses Schriftstück interpretierenden Texte in den Medien gemeint. <?page no="39"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 39 fe relevant sind: die ‘Vortexte’. Sie scheinen unterschiedliche Funktionen zu haben. 8 Bei der Regierungserklärung von Lothar de Maiziere stellen sie mehr oder weniger die kommunikative Vorgeschichte für den Bezugstext dar. Bereits vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten und in den Wochen nach der Volkskammerwahl werden viele der in der Regierungserklärung behandelten Einzelthemen diskutiert. De Maiziere produziert seine Erklärung sozusagen in die bestehende Diskurswelt der ‘Wende’ hinein. Man findet in der Regierungserklärung nicht nur viele Hinweise auf die zum damaligen Zeitpunkt in der Öffentlichkeit diskutierten Fragen, die Rede ist in ihrem Aufbau und in der Logik der Argumentation geradezu von diesen Fragen und Themen bestimmt. Solche rückwärtsweisenden Komponenten lassen sich anhand zahlreicher anaphorischer Diskursindikatoren nachweisen (vgl. 5.1). Dennoch stellt die Regierungserklärung einen wichtigen Einschnitt dar. Es können zunächst grosso modo zwei Diskursebenen unterschieden werden: eine Formulierungsebene und eine Reformulierungsebene. Auf der Formulierungsebene wird jener Text produziert, dem für die darauffolgenden Texte eine Art Tnitialstatus’ zukommt, der dann zum Bezugstext wird, wenn auf ihn referiert wird. Sprecher 1 hat dabei den Status des Erstredners. In dem zu analysierenden Fall fungiert Lothar de Maiziere als Erstredner, indem er einen Bezugstext die Regierungserklärung produziert. Die Reformulierungsebene unterteilt sich in eine primäre und eine sekundäre Ebene. Für beide Reformulierungsebenen läßt sich jeweils eine dominierende Sprechergruppe bestimmen. Auf der primären Reformulierungsebene sind es in den meisten Fällen die Politiker, die auf den Bezugstext der Formulierungsebene reagieren, indem sie ihre oft explizit bewertenden - Statements zum Bezugstext abgeben. Die Politiker im hier behandelten Beispiel beziehen sich zweifach auf den Bezugstext, zum einen durch unmittelbare Statements für die Medien nach Abgabe der Regierungserklärung und zum anderen in einem stärker institutionalisierten Rahmen während der Parlamentsdebatte zur Regierungserklärung. Auf der sekundären Reformulierungsebene sind es die Journalisten, die in ihrem Mediendiskurs sowohl auf Texte/ Äußerungen der Formulierungsebene als auch der primären Reformulierungsebene Bezug nehmen und sie in großem Beim Diskurs zum SED-SPD-Papier erfüllen diese Vortexte eine Art Präventivfunktion. Mit Statements im Vorfeld der Veröffentlichung, dem Vorabdruck von Passagen des Dokuments und Hintergrundartikeln gehen die potentiellen Reformulierer auf mögliche Einwände (kritische Stimmen antizipierend) ein, bauen bestimmte Erwartungshaltungen auf, bereiten mögliche Formulierungen vor und unterbreiten Interpretationsangebote. <?page no="40"?> 40 Refonnulierungen Umfang wiederaufgreifen, das heißt, sie präsentieren nicht nur das, was im Bezugstext formuliert wird, sondern auch das, was andere Sprecher (Politiker) ihrerseits aus dem Bezugstext reformuliert haben. Die einem Bezugstext folgenden Texte, die ‘Nachtexte’, die sowohl auf der primären als auch auf der sekundären Reformulierungsebene angesiedelt sein können, kommen auf zweierlei Weise vor, nämlich als zeitlich ganz unmittelbare Reaktion auf den Bezugstext bzw. als Wiederaufnahmen einen oder mehrere Tage später. Bei den unmittelbaren reaktiven Texten handelt es sich in unserem Fall um jene Äußerungen und Texte, die unmittelbar nach dem Verlesen der Regierungserklärung der Publikmachung des Bezugstextes produziert werden (am selben Tag, dem 19.4.1990). In den Nachrichtensendungen (sekundäre Reformulierungsebene) wird vor allem über den Sachverhalt berichtet, daß dieser Text verlesen wurde und welche Wirkung er möglicherweise erzielt hat bzw. erzielen könnte. Die wesentlichen referentiellen Relationen entstehen jedoch im zeitlich mehr versetzten Nachfeld eines solchen Bezugstextes. Dieses Nachfeld konstituiert sich sowohl aus einer Vielfalt aufeinanderfolgender als auch paralleler Wiedergaben auf der primären und sekundären Reformulierungsebene. Die Volkskammerdebatte am 20.4.1990 ist der entscheidende Vemetzungs- und damit Interpretationsstrang auf der primären Reformulierungsebene im Untersuchungsbeispiel. Die Redner nehmen Stellung zum Bezugstext, reformulieren dabei Bezugsausdrücke, um ihre eigenen Einstellungen zum Bezugstext deutlich zu machen, um vor allem Konsens zu signalisieren bzw. Dissens klarzustellen. Auf der sekundären (medialen) Reformulierungsebene werden diese Debattenreden selbst wieder zu Bezugstexten für weitere Reformulierungen, was zu immer komplexeren Interpretations- und Bewertungsvarianten fuhrt. Von besonderer Relevanz ist unbestritten die sekundäre Reformulierungsebene, da hier der Kreis der Rezipienten ungleich größer ist. Viele sprachliche Äußerungen, die auf der primären Ebene produziert werden, erfahren erst über diese sekundäre Reformulierungsebene der Medien ihre eigentliche Verbreitung. Äußerungen und Texte der Formulierungsebene sowie auch der primären Reformulierungsebene werden hier wiedergegeben, modifiziert, umformuliert und bewertet. Die ausgewerteten Tageszeitungen weisen eine sehr ähnliche Berichterstattungsstruktur auf, die auch in den Vergleichskorpora zu finden ist. Man kann diesem sich auf verschiedenen Ebenen konstituierenden Netz von Äußerungen und Texten deshalb eine generellere Geltung zusprechen und sie als typische Muster medialer Reflexionen auf einen Bezugstext auffassen: <?page no="41"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 41 - Redeberichte über den Bezugstext (Reformulierungstexte), - Kommentare zum Bezugstext, - Originalauszüge, - Nachrichten über Politikerstatements zum Bezugstext, - Hintergrundartikel. Darüber hinaus gibt es im De-Maiziere-Diskurs der Zeitungen noch die speziellen Textsorten: Berichte über die Volkskammerdebatte zur Regierungserklärung (Zeitungsberichte über Parlamentsdebatte) und Kommentare zur Debatte zur Regierungserklärung (Zeitungskommentare über Parlamentsdebatte). Die Redeberichte (T2) der Zeitungen über den Bezugstext sind Wiedergabetexte, die mit Fug und Recht als echte Reformulierungstexte bezeichnet werden können, da sie fast ausschließlich aus Reformulierungsausdrücken bestehen (zu Kategorien ‘Bezugsausdruck’ und ‘Reformulierungsausdruck’ vgl. 3.1.1). Reformulierungen sind hier die primären Textkonstituenten, TI wird in T2 transformiert. Als dominierende Textfunktionen können diesen Texten durchaus die Information über den Sachverhalt, daß ein solcher Text produziert wurde, und die Vermittlung des Textinhaltes selbst unterstellt werden. Man muß dies so zurückhaltend formulieren, weil schon in diesen Reformulierungstexten neben oder sogar in informativen Sequenzen Indikatoren für eigene Bewertungen durch den Sprecher 2 (den Reformulierer, den Journalisten also) belegbar sind. Die Analyse im vierten Kapitel macht dann ganz deutlich, daß sich bereits hier noch unter der Verantwortung von Sprecher 1 wenn auch vorrangig implizit - Interpretationen und Bewertungen des Originalsprechers und des Reformulierers überlagern (erste mehr indirekte Interpretationen und Bewertungen). Am Tag nach dem Verlesen der Regierungserklärung (20.4.) beginnen alle Zeitungen ihre Berichterstattung mit solchen Redeberichten über den Bezugstext, die zumeist als ‘Aufmacher’ auf Seite 1 die Erklärung in großem Umfang wiedergeben. In der Regel folgt dann die Ankopplung eines Kommentars (T3) an den Reformulierungstext; zumeist enthält der Redebericht bereits einen entsprechenden Verweis. In den Kommentaren ist eine veränderte dominierende Textfunktion zu konstatieren. Sp2 (Kommentarautor) übernimmt eindeutig die Verantwortung für das Gesagte bzw. Geschriebene. Den von ihm im Text eingesetzten reformulierten Sequenzen kann als Textkonstituente nur noch ein sekundärer Status zugeschrieben werden. Sie konstituieren nicht mehr den Textsinn an sich, dienen demzufolge nicht mehr als Träger der Hauptinformationen, sondern fungieren als Stützargumente für die eigene, jetzt explizit gemachte Bewertung. Interessant ist nun, wie die reformulierten Sequenzen durch ihre spezifische kontextuelle Einbettung eine andere Funktion erhalten (explizite Interpretationen und Bewertungen). <?page no="42"?> 42 ReformuHerungen In der Medienberichterstattung über die De-Maiziere-Rede wird kein Redebericht ohne einen solchen Kommentar veröffentlicht. Die Kommentare liefern die eigentliche Bewertung sowohl des Inhalts des Bezugstextes als auch der kommunikativen Rolle des Erstredners mit und reformulieren dabei einige wenige Bezugsausdrücke. Die Originalauszüge erhöhen den Authentizitätsgrad der Wiedergaben, haben jedoch zumeist nur noch illustrierende Funktion, da die Rezeption und Interpretation des Bezugstextes durch die Redeberichte und Kommentare schon in starkem Maße bestimmt werden. Natürlich läßt auch die Auswahl und Anordnung der Originaläußerungen Schlüsse auf Sp2-Intentionen zu, doch soll dieses Phänomen nicht näher beleuchtet werden. Eine weitere Vernetzungsstufe bilden die Meldungen/ Nachrichten, die über die Statements der Politiker zum Bezugstext informieren. Das folgende Beispiel soll die mehrdimensionale Vernetzung dieser Wiedergaben andeuten: Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Lafontaine hob hervor, daß die DDR-Regierung die Interessen ihrer Bürger entschieden und mit dem Bemühen um soziale Gerechtigkeit vertreten wolle. Der Hinweis von de Maiziere, sich auch in Zukunft die Zeit zum verantwortungsvollen Nachdenken nicht nehmen zu lassen, spreche für das Interesse an einem soliden und traglahigen Prozeß. (Frankfurter Allgemeine, 20.4.90) Hier lassen sich drei Ebenen unterscheiden: - De Maiziere äußert x. (Einfacher Sprechakt) - Lafontaine äußert, daß de Maiziere x geäußert hat. (Information über einen Sprechakt) - FAZ äußert, daß Lafontaine geäußert hat, daß de Maiziere x geäußert hat. (Information über einen Sprechakt, der über einen Sprechakt informiert) Bei solchen Mehrfachreformulierungen ist zu erklären, wie der Bezugsausdruck durch die Sprecher 2, 3-n interpretiert wird, ob und wie zum Beispiel Sp3 die Äußerung von Sp2 bewertet, ob und wie die verschiedene Autorschaft überhaupt gekennzeichnet wird etc. Aufgrund des Nachrichtencharakters treten hier eher implizite Interpretationen und Bewertungen auf (vgl. auch Interview mit Volker Rühe im Beispiel 5/ 6). Die Hintergrundartikel enthalten in der Regel keine oder wenige Reformulierungsspuren und sind daher für die linguistische Analyse von sekundärer Bedeutung. Sie haben jedoch einige Relevanz, da sie die Vorgeschichte des <?page no="43"?> Bezugs- und Wiedergabetext (Tl-n) als Diskurskontituenten 43 Bezugstextes thematisieren und dem Rezipienten ermöglichen, Zusammenhänge mit vergangenen und aktuellen Diskursvorgängen herzustellen. Komplexe Vernetzungen weisen demgegenüber die beim De-Maiziere-Beispiel vorkommenden Parlamentsberichte und ihre entsprechenden Kommentare auf. Es handelt sich dabei um jene Zeitungstexte, die auf der sekundären Reformulierungsebene einen weiteren Tag später über die Volkskammerdebatte zur Regierungserklärung informieren. In diesen Berichten überlagern sich nun wiederum verschiedene referentielle Relationen: Sp2 (Journalist) reformuliert eigenständige Äußerungen des Politikers (Sp3) während dieser Debatte; Sp3 ist Bezugsredner für Sp2; - Äußerungen von Sp3, die ihrerseits Reformulierungen des Bezugstextes sind; Sp3 ist dabei zugleich Reformulierer von Spl-Äußerungen und Bezugsredner für Sp2 (Journalisten); - Äußerungen des Bezugstextes; Sp2 reformuliert auch ohne die ‘Vermittlungsinstanz’ Sp3 (Politiker) Äußerungen von Spl (de Maiziere). Diese Vemetzungsprozesse zwischen TI, T2-n entstehen natürlich in erster Instanz vermittels (lokaler) Verknüpfungen. Es ist daher unabdingbar, die Reformulierungsvorgänge von der elementaren Ebene her zu analysieren. Auch ein Reformulierungstext besteht in erster Linie aus Verknüpfüngen einzelner Reformulierungsausdrücke, welche sich wiederum auf einzelne Bezugsausdrücke beziehen. Deshalb sollen nun diese elementaren Beziehungen ausführlicher beschrieben werden. <?page no="44"?> 3. Das Reformulierungskonzept 3.1 Strukturelle Aspekte von Reformulierungen 3.1.1 Die elementaren Kategorien ‘Bezugsausdruck’, ‘Reformulierungsausdruck’ und ‘Reformulierungsindikator’ Vernetzungen zwischen dem Bezugstext TI und den Folgetexten T2-n zeigen sich in erster Instanz in elementaren Beziehungen. Diese elementaren Relationen können als Reformulierungen in dem von Gülich und Kotschi definierten Sinne bezeichnet werden. Der im folgenden zu entwickelnde Ansatz von Reformulierungen im Diskurs baut demzufolge vor allem auf der von ihnen in mehreren Arbeiten entwickelten Auffassung von Reformulierungen als Mittel der Textkonstitution auf. Der Terminus ‘Reformulierung’ wird in der einschlägigen Literatur zumindest in zweierlei Hinsicht verwendet, zum einen als sprachliche textbildende Handlung, zum anderen für das Ergebnis dieser Handlung. Hier soll der Terminus ‘Reformulierung’ für Reformulierungsausdrücke und -Sequenzen verschiedener Komplexität im Sinne des versprachlichten Ergebnisses, des Resultats einer Herstellungshandlung stehen. ‘Reformulierungshandlung’ bezeichnet demgegenüber den speziellen Aspekt der Herstellung, der Entstehung von Reformulierungen (bei der Beschreibung spezieller Sprecher-Hörer-Konstellationen usw.) und steht im Kontext dieser Arbeit nicht im Mittelpunkt. Die Termini ‘Reformulierungsausdruck’ oder ‘Reformulierungssequenz’ finden in jenen Fällen Verwendung, wo es nicht um die globale Bezeichnung für die sprachliche Erscheinung ‘Reformulierung’ geht, sondern es sich entweder um einen isolierten Reformulierungsausdruck oder um eine Sequenz handelt. Eine Reformulierungsaktivität besteht laut Gülich darin, daß ein Sprecher eine semantische Beziehung zwischen einem Bezugsausdruck (BA) und einem Reformulierungsausdruck (RA) herstelle. Diese Beziehung werde durch einen Indikator gekennzeichnet (Gülich 1988, S. 47). Bei einer Reformulierung werden also Ausdrücke zueinander in Beziehung gesetzt, d.h., Ausdruck y referiert auf Ausdruck x. Dabei kann es sich sowohl beim Referenzobjekt (x) als auch beim Referenzsubjekt (y) um sprachliche Äußerungen ganz unterschiedlicher Komplexität (vom einzelnen sprachlichen Zeichen bis zu komplexen Äußerungsfolgen) handeln. Die Kategorie der ‘Reformulierungshandlung’ umfaßt verschiedene Typen wie ‘Rephrasierungen’, ‘Paraphrasen’, ‘Korrekturen’ u.a. (Gülich 1988, S. 47; Kotschi 1990, S. 1). Gülich und Kotschi nehmen drei konstitutive Elemente für eine Reformulierungshandlung an: <?page no="45"?> Das RefonnuUerungskonzept 45 - Bezugsausdruck (BA) - Reformulierungsausdruck (RA) - Reformulierungsindikator (RI) Dabei ist der Bezugsausdruck jener Ausdruck, auf den sich bezogen wird, der Reformulierungsausdruck jener Ausdruck, der sich auf einen Ausdruck bezieht; der Reformulierungsindikator beinhaltet jene sprachlichen Zeichen, die explizit oder implizit diese Relationen indizieren. In ihrer Analyse eines Beratungsgesprächs im französischen Rundfunk beschreiben Gülich und Kotschi diese Konstituenten innerhalb einer Gesprächssequenz u.a. folgendermaßen: „(a) (...) ces iris comme ? a qui sont rhizomateux (b) c'est-ä-dire (c) avec une Sorte de. de grosse racine ime. un gros tubercule allonge. Die Reformulierungshandlung entsteht dadurch, daß die Ausdrücke (a) und (c) zueinander in Beziehung gesetzt werden; das Herstellen der Reformulierungsbeziehung wird durch den Ausdruck (b) markiert. Wir bezeichnen im fol-genden Ausdruck (a) als Bezugsausdntck (BA), (c) als Reformulierungsausdruck (RA) und (b) als Reformulierungsindikator (RI).“ (Gülich/ Kotschi 1987, S. 220) Als Bezugsausdruck für einen Reformulierungsausdruck könnten so Gülich sprachliche Äußerungen unterschiedlicher Komplexität fungieren; es könnten sowohl Einheiten mit Satzrang als auch kleinere oder größere Einheiten sein (Gülich 1988, S. 47). So finden Gülich und Kotschi in ihrer Analyse folgende Einheiten als Bezugsausdrücke für Paraphrasen: ein Wort, eine Nominalgruppe, eine finite Verbform, einen komplexen Satz, eine Folge von Sätzen. Diese unterschiedliche Komplexität gelte auch für die Reformulierungsausdrücke (Gülich/ Kotschi 1987, S. 221). ‘Bezugsausdruck’ und ‘Reformulierungsausdruck’ sind auch für das Reformulierungskonzept dieser Arbeit die zentralen Begriffe. Die Bezugsausdrücke sind hier all jene Ausdrücke im Bezugstext, auf die sich in den Folgetexten in irgendeiner Weise bezogen wird, die also in den wiedergebenden Texten wiederaufgenommen werden. Der Status eines Reformulierungsausdrucks kann all jenen Ausdrücken zugeschrieben werden, die sich auf einen Bezugsausdruck beziehen. Bei den Reformulierungen in diesem Kommunikationsbereich handelt es sich in der Regel um jenen Fall, von dem Gülich feststellt, daß durch eine Reformulierungshandlung auch über eine gewisse Entfernung hinweg eine Beziehung zwischen zwei Ausdrücken hergestellt werden könne, was einige Auswirkungen auf den Explizitheits- und Ausdehnungsgrad der Beziehungen zwischen Bezugsausdruck und Reformulierungsausdruck <?page no="46"?> 46 Refonnulierungen habe (vgl. Gülich 1988, S. 48). Solche elementaren Relationen sind zum Beispiel: 9 (3/ 1) Bezugsausdruck (Regierungserklärung) BA in TI (REG) Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Reformulierungsausdrücke: RA in T2 (FR/ K,20,3) Die Teilung überwinden könnten die Deutschen nur durch Teilen. oder RA in 12 (SDZ,20,1) De Maiziere: Die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen aufgehoben werden. oder RA in T2(BER,20,1) In diesem Zusammenhang richtete er an die Bürger der BRD den Appell, die Teilung könne tatsächlich nur durch Teilen, durch Solidarität und Sympathie überwunden werden. Unterschiede zum Reformulierungsansatz von Gülich und Kotschi bestehen vor allem in zweierlei Hinsicht: Die hier interessierenden Bezugs- und Reformulierungsausdrücke sind zum einen nicht wie jene bei Gülich und Kotschi Elemente mündlicher dialogischer Kommunikation, sondern Konstituenten schriftlicher monologischer Texte bzw. im Fall der Parlamentsdebatte mündlicher monologischer Texte. Das bedeutet, daß ein für mündliche dialogische Kommunikation entwickelter Ansatz nun auch für zumeist schriftliche, monologische Kommunikation genutzt wird. Ein solches Vorgehen scheint durchaus gerechtfertigt, denn auch monologische Texte weisen bis zu einem gewissen Grade einen potentiell dialogischen Charakter auf und werden als Redeangebot an einen oder mehrere Adressaten formuliert. Die schon von Volosinov beschriebene Situation eines ‘im Geiste anwesenden Hörers’ bestimmt den Diskurs in entscheidendem Maße (vgl. Zimmermann 1984, S. 133). Gülich und Kotschi weisen in ihrem Aufsatz bereits darauf hin, daß die beschriebenen 9 Die Beispiele sind kapitelweise numeriert: (3/ 1) bedeutet also, das erste Beispiel im dritten Kapitel, (4/ 2) das zweite im vierten Kapitel usw. <?page no="47"?> Das Refoniwlierungskonzept 47 charakteristischen Erscheinungsformen mündlicher Textproduktion „mutatis mutandis auch in schriftlicher Textproduktion Vorkommen“ (Gülich/ Kotschi 1987, S. 204). Daran anknüpfend ist zu fragen, ob eine generelle Zweiteilung in mündliche und schriftliche bzw. monologische und dialogische Textproduktion überhaupt sehr nutzbringend für komplexe Text- und Diskursanalysen ist. Techtmeier vertritt dazu die Auffassung, daß es nicht sinnvoll sei, Analyse- und Beschreibungskategorien, die einerseits für schriftliche (monologische), andererseits für mündliche (dialogische) Kommunikation entwickelt wurden, absolut voneinander zu isolieren (Techtmeier 1994, S. 248).'“ Wenn also diese Trennung in ihrer Absolutheit schon bei einzelnen Gesprächen und Texten - und um die geht es nach wie vor in den meisten Analysen zu relativieren ist, trifft dies um so mehr auf die in dieser Arbeit zu behandelnden Textmengen zu. Es sind wie beschrieben schriftliche bzw. verschriftlichte und auch mündliche Texte: Die Regierungserklärung de Maizieres ist ein vorgeplanter und vorformulierter Redetext in Schriftform, der mündlich vorgetragen und schriftlich abgedruckt wird. Es gibt mindestens zwei Rezeptionssituationen: Abgeordnete in der Volkskammer und Fernsehzuschauer hören die Regierungserklärung als mündlich vorgetragenen Text; Zeitungsleser rezipieren ihn als Abdruck in der Zeitung. Diese Erklärung weist natürlich Strukturen eines schriftlichen (monologischen) Textes auf, ist aber auch ‘mündlicher’ als beispielsweise ein Gesetzesentwurf. Die Wiedergabetexte T2-n scheinen eigentlich noch eindeutiger klassifizierbar zu sein: Als Zeitungstexte stellen sie ebenso vorgeplante, vorformulierte und vollständige sprachliche Gebilde dar. Ihrem Charakter gemäß enthalten sie jedoch zahlreiche Elemente des Bezugstextes TI, also eines mündlichen Textes und was die Sache noch komplizierter macht - Wiedergaben von mehr oder weniger spontan geäußerten mündlichen Statements von Politikern (z.B. als Antworten auf Reporterfragen unmittelbar nach Abgabe der Regierungserklärung). Damit ist eine frühere Face-to-face-Situation eingebettet in einen schriftlichen Text. Es vermischen sich also Elemente ganz verschiedener Situationen und Formen von Äußerungsproduktion und -rezeption. Somit wird deutlich, daß Abgrenzungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Zwecke dieser Untersuchung in der Tat nicht sehr brauchbar sind und daß es vielmehr darum gehen muß, welche allgemeinen Prozesse bei Wiedergaben ablaufen, unabhängig davon, ob ein Sprecher etwas wirklich gesprochen oder ob er es geschrieben hat. 10 Sie kritisiert zu Recht, daß bisher zu oft bestimmte sprachliche Erscheinungsformen allzu starr dem einen oder anderen zugeschrieben würden. Im Grunde würden die Linguisten in diesen Fällen einem Alltagsverständnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit folgen: „Der Prototyp des Schriftlichen ist eben für den Normalsprecher der vorgeplante und vorformulierte, indirekt vermittelte, monologische Text, [...] dessen sprachliche Form sich am Standard orientiert, während der Prototyp des Mündlichen repräsentiert wird durch das ungezwungene, spontane, direkte Alltagsgespräch, bis hin zum ‘small talk’.“ (Techtmeier 1994, S. 244) <?page no="48"?> 48 RefonnuUerungen Die zu beschreibenden Reformulierungsbeziehungen sind zum anderen nicht Relationen zwischen Ausdrücken innerhalb eines Textes, sondern Relationen zwischen Ausdrücken in mehreren, zumeist räumlich und zeitlich versetzt produzierten Texten. Man könnte sich natürlich fragen, ob es sich bei dem Phänomen der Wiederaufnahme bereits geäußerter Textteile in anderen Texten überhaupt um Reformulierungen im engen Sinne handelt. Hier sind jedoch bis zu einem gewissen Grad die gleichen Phänomene zu verzeichnen. Auch komplexe Textfolgen setzen sich aus elementaren Äußerungen zusammen. Somit sind Erkenntnisse über elementare Gesetzmäßigkeiten auf der Satz- und Einzeltextebene Grundbausteine für eine intertextuell-diskursive Analyse. Eine Sicht ‘von außen’ bringt darüber hinaus auch neue Erkenntnisse über Struktur und Funktionen innertextlicher Reformulierungen. Bei den zu beschreibenden Reformulierungen in Text und Diskurs geht es also um einzelne Äußerungen, um Textteile und um ganze Texte. Neben dem Bezugsausdruck und dem Reformulierungsausdruck nehmen Gülich und Kotschi ein drittes konstitutives Element für Reformulierungen an, und zwar den Reformulierungsindikator, der die Referenzbeziehung zwischen dem Bezugs- und dem Reformulierungsausdruck implizit oder explizit markiert. Kotschi betont, daß diese sprachlichen Ausdrücke nicht nur eine reine Indikationsfünktion besitzen. Der Reformulierungsindikator könne auch dazu dienen, eine Äußerung als Reformulierung einer anderen zu präsentieren oder zu interpretieren (Kotschi 1990, S. 1). In diesem Sinne kann man auch die expliziten Verweise in den hier zur Debatte stehenden Texten T2-n darauf, daß sie sich auf einen anderen Text TI beziehen und Elemente dieses Originals wiederaufnehmen, als Reformulierungsindikatoren verstehen. Diese Ausdrükke können Explizierungen des Originalsprechers und des Hörers bzw. Adressaten, des Orts, der Zeit und der Umstände der Produktion des Originaltextes bzw. der vollzogenen Sprechakte sein. Im Gegensatz zu den von Gülich und Kotschi beschriebenen Reformulierungsindikatoren sind diese jedoch zumeist textueller Natur, d.h., sie ermöglichen dem Rezipienten ohne direkten Vergleich mit dem Original eine allgemeine Einordnung des Rezipierten als wiedergebenden Text. Treten solche Indikatoren auf, könnte der Rezipient zu Annahmen folgenden Typs kommen: [„Dieser Text bezieht sich im Prinzip auf einen anderen. Ich muß damit rechnen, auch Elemente des Originals vorzufinden.“] Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, ob der Rezipient bei jedem einzelnen Ausdruck dieses wiedergebenden Textes ohne Kenntnis der Originaläußerungen erkennen kann, inwieweit es sich um eine Reformulierung handelt oder nicht. Auf die ungleich komplizierteren Möglichkeiten, wann ein Ausdruck bzw. eine Sequenz als Reformulierung verstanden werden kann, wird in 3.4 ausführlich eingegangen. <?page no="49"?> Das Refonimlierungskonzept 49 3.1.2 Sequentielle und satzinterne Einbettungsstrukturen Die Reformulierungselemente ‘Bezugsausdruck’ und ‘Reformulierungsausdruck’ sind also in der Tat auch konstitutiv für Reformulierungen zwischen Texten, während das Konzept des Reformulierungsindikators im elementaren Verständnis von Gülich und Kotschi dagegen nur bedingt auf diese textuellen Zusammenhänge anwendbar ist. Da die vorzunehmende Analyse Reformulierungsrelationen in ihren sequentiellen und textuellen Einbettungen und damit einhergehende Interpretations- und Bewertungsmechanismen zu beschreiben beabsichtigt, stellt sich folgerichtig die Frage, ob die Kategorien Bezugsausdruck und Reformulierungsausdruck ausreichen, um die verschiedenen Vernetzungen auf ganz unterschiedlichen Komplexitätsstufen erfassen zu können. Durch die erweiterte Sicht auf Reformulierungen rücken nun auch Ausdrücke in den Fokus, die nicht Elemente einer elementaren Reformulierungsrelation sind, mit den Reformulierungsausdrücken bzw. Bezugsausdrücken in ihren jeweiligen Texten aber unmittelbare Sinnzusammenhänge bilden. Bei der bereits erwähnten Analyse anderer derartiger Fallbeispiele und bei der Stichprobenanalyse des aktuellen Korpus hat sich ganz deutlich gezeigt, daß diese ‘Umgebungsausdrücke’ oft erst den eigentlichen Schlüssel für das Verstehen von Reformulierungseffekten bieten. Das trifft ebenso für jene Einheiten innerhalb eines Reformulierungsausdrucks oder eines Bezugsausdrucks zu, die zwar nicht zur Wiedergabebeziehung gehören (also nicht Objekt oder Subjekt der Wiedergabe sind), aber ebenso zum Satz gehörend zur Sinnkonstitution beitragen. So kann ein einziges neu eingefügtes Wort im Reformulierungsausdruck den Sinn eines Bezugsausdrucks oder die ganze Argumentationsstruktur der Originalsequenz stark verändern. Da Umgebungsausdrücke und satzinterne Einheiten für diese Reformulierungsanalyse in viel stärkerem Maße von Bedeutung sind, als das bei Gülich und Kotschi der Fall ist, scheint eine deutlichere Abgrenzung der verschiedenen an einer Reformulierung im weiten Sinne beteiligten Entitäten geboten. Der in 3.1.1 in einer ersten Annäherung vorgenommene Defmitionsversuch von RA und BA als Reformulierungssubjekte bzw. -objekte variabler Komplexität muß demzufolge konkretisiert und spezifiziert werden. RA und BA werden nun als klar abgrenzbare Entitäten aufgefaßt, ebenso wie die entsprechenden sie umgebenden Ausdrücke bzw. die satzinternen Einheiten. Es erweist sich daher als sinnvoll, den grammatischen Satz als Normalfall für einen Bezugsbzw. Reformulierungsausdruck anzunehmen. Die jeweils einbettenden Sequenzen können demzufolge als ‘Reformulierungssequenzen’ (RS) und ‘Bezugssequenzen’ (BS) verstanden werden. Auch hier gilt wie bei den Reformulierungs- und Bezugstexten, daß man ihnen diesen Status dann zuschreiben kann, wenn sie sich überwiegend über Reformulierungsausdrücke bzw. Bezugsausdrücke konstituieren. Innerhalb dieser Reformulierungs- und Bezugssequenzen können durchaus andere den RA und BA nebengeordnete Ausdrücke in Satzform existieren, die nicht an der unmittelbaren Wiedergabe <?page no="50"?> 50 Refoniiulierungen beteiligt sind. In einer Reformulierungssequenz handelt es sich um vom Reformulierer neu eingefugte Ausdrücke; in einer Bezugssequenz um nicht wiedergegebene Ausdrücke." Reformulierungsausdrücke kommen entweder in Kombination mit anderen Reformulierungsausdrücken oder eben mit jenen von Sp2 formulierten Ausdrücken vor, die als ‘Neu produzierter Ausdruck’ (NA) bezeichnet werden sollen. Letztere können erhebliche Auswirkungen auf Einordnungen und Interpretationen des Wiedergegebenen durch den Rezipienten haben. Auch der entsprechende Bezugsausdruck existiert nicht unverbunden im Bezugstext bzw. in der Bezugssequenz, sondern ist in jeweils andere Ausdrücke, mit denen er einen sequentiellen Zusammenhang bildet, eingebettet. Diese Umgebungsausdrücke sind zum einen selbst Bezugsobjekte für andere Reformulierungen. Sprecher 2 kann sie in der jeweiligen Reformulierungskonstellation aber zum anderen auch unberücksichtigt lassen. Damit hätten sie dann keinen Status als Bezugsausdruck. Sie sind bei der Analyse jedoch von einiger Relevanz, nämlich genau dann, wenn es herauszufinden gilt, welche Verschiebungen des Sinnes und der Bewertung eines Bezugsausdrucks durch den Sprecher 2 im Reformulierungsausdruck erfolgen. Diese den BA im Bezugstext einbettenden, nicht reformulierten Ausdrücke sollen mit dem Begriff ‘Kontextausdruck’ (KA) belegt werden. Für die genaue Abgrenzung und Bestimmung der Entitäten, die entweder direkt an einer Reformulierung beteiligt sind oder mit ihr in einem Zusammenhang stehen, ist es nun noch notwendig, eine BinnendifTerenzierung unterhalb der Satzgrenze vorzunehmen, da auch viele Reformulierungsausdrücke keine 1: 1-Entsprechungen der Bezugsausdrücke sind, sondern Mischformen aus mehreren Entitäten des Bezugstextes. Sowohl Reformulierungsausdruck und neu produzierter Ausdruck als auch Bezugsausdruck und Kontextausdruck besitzen solche kleineren Einheiten unterhalb der Satzgrenze. Lexikalische Einheit bzw. nichtsatzwertige Fügung werden je nach ihrem Vorkommen - Reformulierungseinheit’ (REI), ‘Neu produzierte Einheit’ (NEI), ‘Bezugseinheit’ (BEI) und ‘Kontexteinheit’ (KEI) genannt. Damit sind REI und NEI, BEI und KEI Elemente von RA und NA, BA und KA, die ihrerseits wiederum eine Teilmenge von RS und BS sind. RS und BS sind wiederum Elemente von TI und T2-n. Berücksichtigt man jetzt noch die Diskursperspektive, sind TI und T2-n Elemente eines Diskurses D (D wird für unsere Zwecke allerdings nur in seinem Kernbereich der explizit miteinander verknüpften Texte erfaßt und beschrieben (vgl. 2.1)). Antos unterscheidet in seinem Formulierungsmodell zwischen ‘reproduzierendem Verbalisieren’ und ‘formulierendem Verbalisieren’, also zwischen der Reproduktion ‘vorfabrizierter’ Äußerungen und der Formulierung neuer Ausdrücke (vgl. Antos 1982 S. 85ff.) II <?page no="51"?> Das Refoniiulierungskonzept 51 Wenn also innerhalb eines Diskurses D ein Bezugstext TI und wiedergebende Texte T2-n als Teilmengen angenommen werden, so lassen sich die Zugehörigkeiten in einem ersten Schritt folgendermaßen darstellen: D TI = Bezugstext T2-n = wiedergebende Texte BA= Element von TI (Satz) RA = Element von T2-n (Satz) KA = Element von TI (Satz) NA = Element von T2-n (Satz) Auf der Komplexitätsstufe des Ausdrucks (Satzes) sind die Zuordnungen eindeutig: Ein neu produzierter Ausdruck und ein Kontextausdruck sind nicht Teile einer Reformulierungsrelation, da sie einen nebengeordneten Status im Vergleich zum Reformulierungsausdruck und Bezugsausdruck im Text haben, also: NA ist nicht Element von TI; KA ist nicht Element von T2. Bei den satzintemen Einheiten gibt es diese eindeutigen Zuordnungen bzw. Ausschließungen nicht. Alle Teilmengen können hier Elemente der Menge aller Teile eines Bezugstextes bzw. aller auf ihn referierenden T2-n sein. So können einzelne Kontexteinheiten und neu produzierte Einheiten durchaus in einen Reformulierungsausdruck oder einen Bezugsausdruck eingebettet sein. Diese Einheiten sind dann de facto aus ihrer Ursprungseinbettung herausgelöst und in BA oder RA eingefiigt. Besonders häufig ist diese Einbettung zu konstatieren, wenn eine Reformulierungseinheit in einen anderen Reformulierungsausdruck eingebettet ist: TI BA = Teilmenge von TI KA = Teilmenge von TI BEI und KEI = Element von BA BEI und KEI = Element von KA <?page no="52"?> 52 Refonnulieningen und T2-n RA - Teilmenge von T2-n NA = Teilmenge von T2-n REI und NEI = Element von RA REI und NEI = Element von NA Ein Beispiel soll die beschriebenen sequentiellen und satzintemen Einbettungsstrukturen von Reformulierungsrelationen verdeutlichen. Es wird bis auf wenige in den konkreten Fällen dann zu begründende Ausnahmen durchgängiges Prinzip dieser Analyse sein, den Reforniulierungsausdruck, die Reformulierungssequenz bzw. den Reformulierungstext als Ausgangspunkt der Betrachtung zu wählen, um dann die entsprechenden Bezugsgrößen je nach Erklärungbedarf hinzuzuziehen. Daraus erklärt sich auch die stets gleiche Reihenfolge in der Präsentation der Relationen. Die Numerierung der einzelnen Ausdrücke erfolgt nach der konkret vorkommenden Abfolge innerhalb der jeweiligen Sequenzen: Eine Reformulierungssequenz kann beispielweise eine Abfolge von RAI, RA2, NA1, RA3 und NA2 sein. Dasselbe trifft auch auf die Bezugssequenz zu. Da es bei vielen Reformulierungen zu Umstellungen der Ausdrucksabfolgen kommt, ist es durchaus auch möglich, daß ein Reformulierungsausdruck RAI auf einen Bezugsausdruck BA2 referiert. In den Sequenzen sind diejenigen Reformulierungsausdrücke und ihre entsprechenden Bezugsausdrücke fett gesetzt, die den Analyseschwerpunkt bilden, auch um sie von den jeweils einbettenden Ausdrücken NA bzw. KA abzuheben. Wird dann eine elementare RA-BA-Relation beschrieben, sind jene Elemente fett gesetzt, um die es im jeweiligen Analysekontext gerade geht (z.B. Redekennzeichnung, einzelne wiederaufgenomme Einheiten usw.). (3/ 2) Reformulierungssequenz RS (DW,20,1) 1 In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. 2 Er betonte: „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“ <?page no="53"?> Dos Refonnulierungskonzept 53 3 Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. 4 De Maiziere bat in diesem Zusammenhang die Bürger der Sowjetunion, das Streben nach Einheit Deutschlands „nicht als bedrohlich anzusehen“. 5 In einem inoffiziellen Schreiben an de Maiziere und Außenminister Markus Mekkel hatte Moskau offenbar Bedenken gegen den Weg nach Artikel 23 geltend gemacht. Der erste Satz In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Verwirklichung der deutschen Einheit und der zweite Satz Er betonte: „ Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. ‘ referieren auf eine gemeinsame Bezugssequenz und sind deshalb Reformulierungsausdrücke (RA), wenn auch sehr verschiedenen Charakters: Bezugssequenz BS für 1 und 2 (REG) Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Damit sind die beiden Sätze dieser Bezugssequenz für diese Reformulierungsrelation Bezugsausdrücke (BA), wobei der erste BA neben Bezugseinheiten wie Mitspracherecht (BEI) auch Kontexteinheiten enthält (Ja ist gesprochen = KEI). Die Reformulierungsausdrücke enthalten neben den eigenen Reformulierungsseinheiten auch REI, die Bezugseinheiten aus einer ganz anderen Bezugssequenz wiederaufnehmen: Verwirklichung der deutschen Einheit (REI) Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen (B A). Dies ist auch der Bezugsausdruck für den dritten Satz der Reformulierungssequenz: Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes (RA). Dieser RA enthält neben Reformulierungseinheiten auch vom Sp2 neu produzierte Einheiten wie Beitritt der DDR zur Bundesrepublik (NEI). Der vierte Satz De Maiziere bat in diesem Zusammenhang die Bürger der Sowjetunion, das Streben nach Einheit Deutschlands „nicht als bedrohlich anzusehen“ referiert auf eine weitere Bezugssequenz: Bezugssequenz BS für 4 (REG) In dem großen historischen Prozeß unserer Befreiung haben wir einem Poliüker die wirksame Bündelung vieler positiver Impulse besonders zu verdanken: Michail Gorbatschow. Wir ahnen die schwere Last, die er in der Sowjetunion zu tragen hat. Wir <?page no="54"?> 54 Refonnulierungen bitten die Bürger der Sowjetunion, die Politik der DDR und ihr Streben nach der Einheit Deutschlands nicht als bedrohlich anzusehen. Allein der dritte Satz dieser Bezugssequenz ist ein Bezugsausdruck (BA), der wiederum neben Bezugseinheiten auch eine Kontexteinheit enthält: die Politik der DDR (KEI). Die ersten beiden Sätze haben kein reformuliertes Äquivalent, fungieren also in dieser Konstellation als einbettende Kontextausdrücke (KA). Der fünfte Satz der Reformulierungssequenz In einem inoffiziellen Schreiben an de Maiziere und Außenminister Markus Meckel hatte Moskau offenbar Bedenken gegen den Weg nach Artikel 23 geltend gemacht (NA) hat wiederum kein Referenzobjekt im Bezugstext und ist damit ein neu produzierter Ausdruck. Die Verknüpfüngsvarianten werden bei der Beschreibung lokaler Reformulierungsrelationen und möglicher struktureller bzw. funktionaler Verschiebungen im vierten Kapitel von besonderer Wichtigkeit sein. Im folgenden soll jedoch zunächst behandelt werden, welcher Art die bereits erwähnten Referenzbeziehungen zwischen Bezugsobjekten und -Subjekten in den hier zur Debatte stehenden Reformulierungen sein können. 3.2 Reformulierungen als Referenzspezialfall Wenn ein Sprecher beim Reformulieren eine Äußerung/ einen Text reproduziert, so hat diese Äußerung/ dieser Text einen doppelten Bezugspunkt: Eine ‘normale’ von einem Sprecher produzierte Äußerung referiert in der Regel auf ein außersprachliches Objekt, d.h., Sprecher/ Hörer beziehen sich im Prozeß der Kommunikation auf ein Wirklichkeitsmodell bzw. auf einen Wirklichkeitsausschnitt (vgl. Agricola 1983, S. 222). Reformulierungen referieren in erster Linie jedoch auf einen bereits versprachlichten Wirklichkeitsausschnitt. Sie können die sprachlichen Bezugsäußerungen selbst und/ oder die Bedingungen und Konsequenzen ihrer Produktion und Rezeption reflektieren. Solche Bezugsäußerungen weisen nun ihrerseits eine Referenzbeziehung zu einem zumeist außersprachlichen Objekt auf. Diese erweiterte referentielle Komponente hat erhebliche Auswirkungen auf die Interpretierbarkeit einer Äußerung durch den Hörer. Lang beschreibt Redewiedergaben als Äußerungen, die (sozusagen unbewußt produzierte, nicht reflektierte, d.A.) metasprachliche Konstruktionen sind, die gegenüber den in der Linguistik (reflektierend, d.A.) benutzten aber u.a. die Besonderheit hätten, daß sie als Äußerungen in der Kommunikation verwendet ihrerseits kontext- und situationsdeterminierte Gebilde seien (Lang 1983, S. 317). Eine Ursache für die Kompliziertheit einer möglichst systematischen Beschreibung dieser sprachlichen Erscheinungen liegt also gerade darin begründet, daß Reformulierungen in ausgeprägtem <?page no="55"?> Das Refoniwlierungskonzept 55 Maße ‘Fokussierungshandlungen’ sind. Fokussierungen sind hier im Sinne von Kallmeyer (1978, S. 191) als Aktivitäten der Aufmerksamkeitsausrichtung zu verstehen. Indem ein Sprecher 2 bestimmte Äußerungen bzw. Äußerungselemente eines von Sprecher 1 produzierten Textes auswählt, neu formuliert und gegebenfalls bewertet, rückt er diese Elemente der Originaläußerung in den Fokus, während andere im Flintergrund bleiben (vgl. auch Brünner 1991, S. 4). Es werden aus der Gesamtkonstellation - Sprecher produziert für Hörer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter bestimmten Bedingungen und mit bestimmten Konsequenzen eine Äußerung über eine Äußerung, mit der er beim Hörer etwas erreichen will bestimmte Aspekte herausgehoben, indem sie im Reformulierungsausdruck de facto ‘thematisiert’ werden. Nun wird sich im folgenden heraussteilen, daß die Objekte dieser Bezugnahmen ganz unterschiedlicher Natur sein können. 12 In der Literatur zur Redewiedergabe finden sich zahlreiche Überlegungen hinsichtlich einzelner Aspekte solcher Bezugnahmen und ihrer Objekte (vgl. u.a. Steube 1983, Schank 1989). Lang nimmt eine Unterscheidung vor, die fimdamental für Untersuchungen zur Redewiedergabe und zu Reformulierungen ist. Er vertritt die Auffassung, daß es zu unterscheiden gelte, ob sich der Linguist für die Formen der Wiedergabe, für die wiedergegebenen Aspekte und/ oder für die Dimensionen der Wiedergabequalität interessiere. Zu den Formen wird im nächsten Punkt Näheres ausgeführt. Jetzt geht es zunächst um eine Systematisierung der wiedergegebenen Aspekte, der wesentlichen Objekte, die ein Sprecher im Reformulierungsausdruck thematisieren kann. Folgende Möglichkeiten lassen sich unterscheiden: a) Thematisierungsobjekt: Inhalt von BA = Referenz auf Proposition/ Inhalt (PRO) b) Thematisierungsobjekt: kommunikative Funktion von BA = illokutive Referenz (ILL) c) Thematisierungsobjekt: Sprecherl-Status = Referenz auf BA-Produzent (SP) d) Thematisierungsobjekt: Hörer des BA = Referenz auf Adressaten (HR) 12 In Bezug auf die wiedergebenen Ausdrücke hat Hoppenkamps dieses Problem thematisiert, indem er zwischen zitierter Proposition (also Proposition des BA in RA) und Proposition der Zitierung unterscheidet (Hoppenkamps 1977, S. 61). Gleiches gilt natürlich auch für die kommunikativen Funktionen der Bezugs- und Reformulierungsausdrücke: Es ist zwischen zitierter kommunikativer Funktion des Bezugsausdrucks (z.B. durch Sprechaktexplizierung) und der kommunikativen Funktion des Reformulierungsausdrucks zu unterscheiden. <?page no="56"?> 56 Refonnulierungen e) Thematisierungsobjekt: Ort des BA = lokale Referenz (L) f) Thematisierungsobjekt: Zeitpunkt des BA = temporale Referenz (T) g) Thematisierungsobjekt: TextrahmenZ-muster des BA = Referenz auf Textsorte (TEXT) h) Thematisierungsobjekt: Verweis auf frühere Äußerungen = intertextuelle Referenz (INT) i) Thematisierungsobjekt: Art und Weise der BA-Produktion = metakommunikative Referenz (META) Die entsprechenden Zuordnungen werden im gleich folgenden Beispieltext mit den eingefuhrten Kürzeln in Versalien und einem Pluszeichen versehen, um die Eingrenzung verdeutlichen zu können (also wenn ein Teil des Satzes eine illokutive Referenz ist, ist der Anfang mit ILL+, das Ende dieses referentiellen Teils mit +ILL gekennzeichnet). Da sich oft auch mehrere Referenzen überlagern, werden ‘logische Klammern’ zum Einschluß verschiedener Elemente benutzt. Diese verschiedenen Thematisierungen sind nicht gleichwertig. Die unter a) aufgefuhrte Bezugnahme auf den Inhalt/ den propositionalen Gehalt des Bezugsausdrucks kann als übergreifende Referenz aufgefaßt werden, die zumeist auch bei den anderen subsidiären referentiellen Relationen vorliegt (von noch näher zu beschreibenden Ausnahmen abgesehen). Sp2 referiert auf den propositionalen Gehalt einer Spl-Äußerung und präsentiert ihn in seinem Reformulierungsausdruck (vgl. Hoppenkamps’ Kategorien ‘sachgebundene Rede’ und ‘personengebundene Rede’ 1977, S. 55). Die eindeutigste Form der Thematisierung und Wiedergabe des Inhalts ist das wörtliche Zitieren. Dabei gibt Sprecher 2 sogar die Satzbedeutung des Bezugsausdrucks in einer sprachlich identischen Formulierung wieder. Propositionale Referenz liegt aber auch dann vor, wenn der Bezugsausdruck im Reformulierungsausdruck propositional zitiert wird. Das heißt, der Reformulierungsausdruck erweist sich in seinen relevanten Bestandteilen als identisch mit dem Bezugsausdruck, wird jedoch nicht als wörtliches Zitat präsentiert. Wichtig ist hierbei, daß sich diese Reformulierung nicht auf die Satzbedeutung des BA bezieht, sondern auf die Äußerungsbedeutung, also die Realisierung der wörtlichen Bedeutung im Kontext, wobei sich bereits in dieser propositionalen Referenz ein interpretatorischer Spielraum für die Wiedergabe im Reformulierungsausdruck ergibt. Propositionale Referenz kann aber auch bedeuten, daß sich der Reformulierer in sehr komprimierter Form auf den Bezugsausdruck bzw. Bezugstext bezieht <?page no="57"?> Das Reformulierungskonzept 57 - ‘sinngemäß’ sozusagen - und die Reformulierungsausdrücke nur noch Kondensate ihrer Bezugsobjekte darstellen. Die anderen Thematisierungstypen sind nicht auf eine Stufe mit der propositionalen Referenz zu stellen. Sie treten in bestimmten Fällen faktisch hinzu, indem der Reformulierer diese Referenzobjekte zusätzlich expliziert. Die propositionale Referenz stellt den Kernbereich der Referenzbeziehungen zwischen dem Referenzobjekt Bezugsausdruck und dem Referenzsubjekt Reformulierungsausdruck dar. Sp2 referiert in erster Instanz auf eine Proposition, wenn er einen Bezugsausdruck reformuliert. In den Reformulierungstexten (Redeberichten) dominieren Wiedergaben, die fast ausschließlich explizite Präsentationen des propositionalen Gehalts der Originaläußerungen sind: Sp2 produziert einen Text über einen Text, der sich in großen Teilen an die Struktur des Bezugstextes hält und diese in wesentlichen Elementen wiedergibt (vgl. 2.3). Reformulierungen sind in diesen Redeberichtstexten die konstitutiven Verfahren der Textherstellung. Durch diese Wiedergabe von Inhalten des Bezugstextes erfüllt Sp2 in erster Linie die Funktion eines Mittlers. Er realisiert einen Informationstransfer, indem er propositional zitiert. In den wiedergebenden Texten, die nicht als Reformulierungstexte bezeichnet werden können (z.B. den Kommentaren), nimmt der Anteil dieser propositionalen Wiedergaben eindeutig zugunsten neu formulierter Sp2-Äußerungen (vgl. NA) ab. Das bedeutet, daß sich die Funktion einer solchen Bezugnahme und Wiedergabe auf BA- Propositionen immer weniger aus dem Inhalt des RA selbst definiert, sondern aus seiner Stellung im wiedergebenden Text: Sp2 reformuliert p nicht mehr, um den Inhalt von BA(p) zu vermitteln, sondern um p wie auch immer für seinen Text und die damit verbundene Argumentation zu instrumentalisieren. Während bei Explizierungen der kommunikativen Funktionen von Bezugsausdrücken in den Reformulierungstexten und gar bei expliziten Bewertungspassagen in den Kommentaren zum Bezugstext eine Sp2-abhängige Interpretation des Bezugstextes durchaus leicht nachzuvollziehen sein wird, ist dies beim propositionalen Wiedergeben nicht so ohne weiteres möglich. Bei der illokutiven Referenz unter b) thematisiert Sp2 einen anderen Aspekt des Bezugsausdrucks, nämlich den Sprechakt, den Spl beim Äußern vollzogen hat. Eine illokutive Referenz durch Sprechaktexplizierung liegt dann vor, wenn der Reformulierer diesen Sprechakt reflektierend wiedergibt, also die Sprechaktbeschreibung nicht allein zur Redekennzeichnung nutzt wie bei dem Verb sagen. Diese Referenz bietet einen breiten Interpretationsspielraum (vgl. u.a. Beispiel 3/ 4). Sp2 expliziert die im Bezugsausdruck zumeist nicht verbalisierte kommunikative Funktion der Äußerung und schreibt Spl eine ganz bestimmte Rolle in diesem Kommunikationsakt zu. Eng damit verbunden ist deshalb die Referenz auf den BA-Produzenten unter c), bei der der Spl-Status in den Vordergrund rückt. Besondere Beachtung findet dabei die soziale Rolle von Spl. So wird der Status von Spl (Lothar de <?page no="58"?> 58 Refonnulierungen Maiziere) auf unterschiedliche Weise thematisiert: als Individuum, als CDU- Politiker, als Ministerpräsident, als Sprecher für die Volkskammer, das Volk, die DDR, die Deutschen, Europa. Diese Aufzählung zeigt, daß Sp2 diese spezifischen Status-Zuordnungen sowohl dem Kontext des Bezugstextes als auch seinem Wissen über Spl und den Diskurs entnimmt. Auch hier ist zwischen der reinen Erwähnung von Sprecher 1 als Redekennzeichnung - und der Referenz auf einen besonderen Aspekt der Sprecherrolle zu unterscheiden. Die Referenz auf den Adressaten unter d), die lokalen Referenzbeziehungen unter e) bzw. die temporalen unter f) thematisieren jeweils einzelne Aspekte der kommunikativen Situation, in der der Bezugsausdruck/ -text produziert wurde, also den unmittelbaren Hörerkreis bzw. die vermuteten Adressaten, den Ort und den Zeitpunkt des wiedergegebenen Kommunikationsaktes. Ein weiteres Referenzobjekt ist die Art des Textes, in dem der Bezugsausdruck vorkommt, wie sie unter g) aufgeführt ist. Dabei aktualisiert Sp2 sein Musterwissen über solche Texte und macht sie im Reformulierungsausdruck explizit (z.B. in seiner Grundsatzerklärung). Die intertextuelle Referenz unter h) bezieht sich auf Objekte aus früher produzierten Äußerungen/ Texten. Zumeist ist jedoch kein direkter propositionaler Bezug zu konstatieren, sondern es wird nur mit einem Verweiswort angedeutet, daß irgend etwas bereits früher schon einmal so oder ähnlich gesagt wurde (vgl. 3/ 2 De Maiziere bat in diesem Zusammenhang die Bürger der Sowjetunion, das Streben nach Einheit Deutschlands „nicht als bedrohlich anzusehen“. In einem inoffiziellen Schreibet! an de Maiziere und Außenminister Markus Meckel hatte Moskau offenbar Bedenken gegen den Weg nach Artikel 23 geltend gemacht.). Schließlich gibt es noch eine weitere Fokussierung unter i) mit nicht unbedeutenden interpretatorischen Möglichkeiten: Der Textproduzent reformuliert nicht nur einzelne Bezugsausdrücke, sondern thematisiert die Art und Weise der Produktion des BA, das kommunikative Verhalten von Spl und bewertet dieses auch oft. Er bewegt sich also auf der Ebene der Metakommunikation, weshalb diese Referenz metakommunikative Referenz genannt werden soll. Eine solche Bezugnahme liegt im folgenden Fall vor: (ILL+ De Maiziere hält sich an (META+ bewährte Formeln +META) +ILL); (PRO+ die Einheit solle so schnell wie möglich kommen [...] +PRO). Der folgende Beispieltext soll die Vielfalt der Referenzen und Verweise zusammenfassend verdeutlichen. Es handelt sich um den Bericht über die Regierungserklärung von Lothar de Maiziere in der „Süddeutschen Zeitung“ (20.4.1990, S. 1), einen klassischen Reformulierungstext. Entsprechend der entwickelten Argumentation ist die Redekennzeichnung u.a. durch das Verb <?page no="59"?> Das Reformulierungskonzept 59 sagen und/ oder der einfachen Nennung des Sprechemamens (de Maiziere) nicht gesondert markiert, sondern als Bestandteil von PRO+ +PRO charakterisiert. (3/ 3) EIN REFORMULIERUNGSTEXT (T2) Überschrift Dachzeile: I. (PRO+ De Maiziere: Die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen aufgehoben werden +pro) Hauptüberschrift: II. (PRO+ Über den Weg zur Einheit haben wir ein entscheidendes Wort mitzureden +PRO). (ILL+ betont +nx) (SP+ der CDU-Politiker +SP) Unterzeile: III. (INT+ Erneut +INT) (PRO+ Umtauschkurs von 1: 1 für Löhne und Renten sowie Sicherung der Eigentumsverhältnisse in der DDR (ILL+ verlangt +ILL) +PRO) 1 (SP+ DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere +SP) (ILL+ hat +ILL) (TEXT+ in seiner Regierungerklärung +TEXT) (HR+ die Bundesbürger +hr) (1LL+ aufgerufen +ill), (pro+ bei der Vereinigung beider deutscher Staaten Hilfsbereitschaft, Sympathie und Offenheit zu zeigen +PRO). 2 (PRO+ „Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität“, sagte er +pro> (t+ am Dienstag +T), (HR1+ an die Westdeutschen gerichtet +hri>, (HR2+ vor der Volkskammer +HR2) (L+ in Ostberlin +L). 3 (PRO+ Die Teilung könne „tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden“ +PRO). 4 (ILL+ De Maiziere bekräftigte +ILL) (PRO+ die schnelle Schaffung der deutschen Einheit als vordringliches Ziel, bei dessen Erreichen die DDR „ein entscheidendes Wort mitzureden“ habe +PRO). 5 (PROt- Noch 1990 wolle (SP+ seine Regierung +SP) 500 000 Arbeitsplätze in mittelständischen Betrieben schaffen +PRO). 6 (ILL+ De Maiziere verband +ILL) (IIX+/ TEXT+ seinen besorgten Appell +TEXT/ +ILL) (hr+ an die Bundesbürger +HR) (ILL+ mit einem ausdrücklichen Dankeswort +ill): (PRO+ „Sie haben zu uns gehalten. Sie haben uns Mut gemacht und geholfen, wo immer dies möglich war“ +PRO). 7 (PROP Sein Volk habe eine Menge nützlicher und neuer Eigenschaften und Erfahrungen in das geeinte Deutschland einzubringen +pro). 8 (PRO*- Durch die DDR rückten den Deutschen die Länder Osteuropas näher +PRO). <?page no="60"?> 60 RefonnuHerungen 9 (PRO+ Das Kapital der DDR-Bürger seien Fleiß und Improvisationsgabe, aber auch ihre Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz +pro). 10 (PRO+- Ziel der Einigungsverhandlungen sei nicht eine „geschäftliche Partnerschaft, sondern eine wirkliche Gemeinschaft“ +pro). 11 Alle Fraktionen, auch die PDS, spendeten dem CDU-Politiker an dieser Stelle und am Schluß der Regierungserklärung anhaltenden Beifall. 12 (PRO+ Zeitpläne für die Arbeit seiner Regierung +pro> (ill+ kündigte de Maiziere nur in wenigen Bereichen an +ill). 13 (PRO+- Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Wähnmgsunion, voraussichtlich am 1. Juli 1990, „weitgehend“ beseitigt sein +PRO). 14 (PRO+ Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauschkurs von 1: 1 +pro). 15 (pro*- Die Bürger der DDR sollten nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden +pro). 16 (pro*- Die Genossenschaften und privaten Betriebe in der DDR können im Interesse ihrer Überlebensfähigkeit weitgehend mit der Streichung ihrer Inlandsschulden rechnen +pro). 17 (pro*- Für volkseigene Betriebe strebe die Regierung eine Umbewertung der Inlandsschulden zum Kurs von 2: 1 an +pro). 18(Ill+ De Maiziere verlangte +ill). (PRo+ daß die DDR-Wirtschaft für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen geschützt werde +pro). 19 (pro*- Als Vorbild könne der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren dienen +pro). 20 (PRO*- Im Spätherbst dieses Jahres sollen in der DDR Landtage gewählt werden +PRO). 21 (PRO+ An einem Länder-Einfühnmgsgesetz werde gearbeitet, (SP*sagte der Ministerpräsident+sp)+pro). 22 (PRO-*- Seine Regierung werde sich bemühen, die Räte der Bezirke nach den Kommunalwahlen zu reinen Verwaltungsorganen herabzustufen +pro). 23 (pro*- Nach den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 6. Mai sind die Räte der fünfzehn Verwaltungsbezirke die einzigen politischen Gremien in der DDR, die nicht durch demokratische Wahlen nach der Wende legitimiert worden sind +pro). 24 (pro*- Kultur- und Polizeihoheit sollen wie in der Bundesrepublik in die Zuständigkeit der künftigen Länder übergehen +PRO). <?page no="61"?> Das ReformuUerungskonzept 61 25 (PRO+ Genehmigungen für neue Industrieansiedlungen in der DDR müssen sich (ill+ nach den Worten de Maizieres +nx) an dem Umweltstandard der EG orientieren +pro). 26 (PRO+ Angestammte Betriebe mit „starker und unvertretbarer“ Umweltbelastung in der DDR hätten sich auf eine Sanierung oder die Stillegung vorzubereiten +pro). 27 (PRO+ Die Förderung der Braunkohle, aus der die DDR mehr als 90 Prozent ihres Energiebedarfs deckt, will die Regierung zugunsten von Erdgas, Steinkohle und Öl einschränken +PRO). 28 (PRCH In einem deutsch-deutschen Energieverbund (ILL+ stellt sich de Maiziere vor +ILL), daß die Bundesrepublik Überkapazitäten an Energie in die DDR liefert +pro>. 29 (PRCH Zur Bezahlung eines Teils der Kosten für Umweltreparaturen und Altlastsanienmgen soll ein staatlicher Öko-Fonds aus Abgaben, Gebühren und Stiftungen beitragen +PRO). 30 (PRCH De Maiziere sprach von einer „ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft“ +PRO). 31 (PRO+ Zum Eigentum an Grund in der Land- und Forstwirtschaft +PRO) (ILL+ betonte er +ILL): (PRCH „Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition" +pro). 32 (ILL+ Besondere Aufmerksamkeit widmete de Maiziere +ILL) (TEXT+ in seiner 31 Seiten starken Erklärung +TEXT) (PRCH der Zukunft der sozial Schwachen +PRO). 33 (PRCH Mietpreisbindung, Wohngeld und Kündigungsschutz für Mieter seien Eckpunkte einer sozialen Wohnungspolitik +pro). 34 (PRCH Als Sofortmaßnahmen gegen die zu erwartende Arbeitslosigkeit (ILL+ nannte (sp+ der Ministerpräsident +SP) +ILL) Umschulungs- und Qualifizierungsprogramme, Arbeitslosengeld, ein Kündigungsschutz-, ein Betriebsverfassungs- und ein Tarifvertragsgesetz +PRO). 35 (PRCH Bei Militär und Rüstung stehen Umwälzungen bevor: Die Volksarmee wird umstrukturiert, militärische Verpflichtungen der DDR werden abgebaut +PRO). Hier sei noch einmal eine Übersicht der gekennzeichneten Referenzen gegeben. Überschrift: I. RA gibt Proposition wieder (Die Teilung [...] werden) RA referiert auf Sprecherl (de Maiziere) I ist die von Sp2 rekonstruierte Makroproposition. <?page no="62"?> 62 ReformuHerungen II. RA gibt eine Proposition wieder {llber den Weg zur Einheit [...] mitzureden) RA expliziert den vollzogenen Spl-Sprechakt (betont) RA kennzeichnet einen spezifischen Spl-Status (der CDU-Politiker) III. RA gibt eine Proposition wieder (Umtauschkurs [...] verlangt) RA verweist auf Sachverhalt, daß dieser Ausdruck schon früher geäußert wurde (erneut) II und III sind vom Sp2 zugeordnete Konkretisierungen der Makroproposition. Vorspann (1-5): 1 RA expliziert Spl-Status (DDR-Ministerpräsident [...]) RA expliziert Textsorte (in seiner Regierungserklärung) RA expliziert sekundäre Hörer (die Bundesbürger) RA expliziert Spl-Sprechakt (hat aufgerufen) RA gibt Proposition wieder (bei der Vereinigung [...] zeigen) 2 RA gibt Proposition wieder (Wir erwarten [...]) RA expliziert Zeitpunkt des Äußerns von BA (am Dienstag) RA expliziert sekundäre Hörer (an die Westdeutschen gerichtet) RA expliziert primäre Hörer (vor der Volkskammer) RA expliziert Ort des Äußerns von BA (in Ostberlin) 3 RA gibt Proposition wieder (Die Teilung könne [...]) <?page no="63"?> Das Refonmilierungskonzept 63 4 RA expliziert Spl-Sprechakt {De Maiziere bekräftigte [...]) RA gibt Proposition wieder {die schnelle [...] mitzureden) 5 RA gibt Proposition wieder {Noch 1990 [...] schaffen) RA expliziert Spl-Status {seine Regierung) Fortlaufender Text (6-35) 6 RA expliziert Spl-Sprechakt {De Maiziere verband) RA expliziert Textsorte bzw. Spl-Sprechakt {seinen besorgten Appell) RA expliziert sekundäre Hörer {an die Bundesbüger) RA expliziert Spl-Sprechakt {mit einem ausdrücklichen Dankeswort) RA gibt Proposition wieder {Sie haben [...] möglich war) usw. Bei der referentiellen Beschreibung eines Reformulierungsvorgangs ist also hauptsächlich danach zu unterscheiden, ob im entsprechenden Reformulierungsausdruck ausschließlich die Proposition eines Bezugsausdrucks wiedergegeben wird oder ob zusätzlich die illokutive Funktion, der kommunikative Sinn eines Bezugsausdrucks bzw. das Sprecherziel eine Explizierung erfährt. Für den Fall einer Bezugnahme auf die kommunikative Funktion eines Bezugsausdrucks lassen sich im Beispieltext folgende Explizierungen von Sprechakten isolieren: II betont III verlangt 1 hat aufgerufen 4 bekräftigte 6 verband seinen besorgten Appell mit einem ausdrücklichen Dankeswort 18 verlangte 28 stellt sich vor 31 betonte <?page no="64"?> 64 Reformulierungen 32 widmete besondere Aufmerksamkeit 34 nannte 3.3 Funktionale Aspekte von Reformulierungen Bisher wurden Reformulierungen vor allem hinsichtlich ihrer Strukturen und ihrer referentiellen Bezüge diskutiert. Im folgenden stehen die funktionalen Aspekte dieses Phänomens im Mittelpunkt. Hintergrund für eine funktionale Beschreibung ist die Auffassung von Reformulierungen als Sprachhandlungen. Motsch/ Pasch (1987, S. 16f.) bestimmen folgende Komponenten einer sprachlichen Handlung (SH), die sie als den entwickelten Fall kommunikativer Handlungen bezeichnen: SH = ä int kond kons <ä, int, kond, kons> wobei ein Ereignis ÄUSSERN ist die Absicht eines Sprechers sp ist, der ein bestimmtes Ziel hat, die von einem Hörer hr entsprechend verwirklicht werden soll die Bedingungen außerhalb ä, einen Ausschnitt der kommunikativen Situation also, repräsentieren und die entsprechenden Zustände sind, die dann eintreten können oder tatsächlich eintreten „Mit einer sprachlichen Äußenmg, ob Satz- oder Textäußerung, verbindet der Sprecher eine fundamentale Absicht, die vom Hörer als mit der Äußenmg ver-bundene Absicht des Sprechers erkannt werden soll. Das im sprachlichen Text tatsächlich Ausgedrückte bildet die Gnmdlage für das Verständnis der fundamentalen Sprecherabsicht durch den Hörer.“ (Motsch/ Pasch 1987, S. 12) Auch bei Reformulierungen trifft diese Feststellung zu. Ein Sprecher produziert einen Ausdruck/ einen Text, um dem Hörer etwas mitzuteilen und z.B. einen Kenntnis- oder Gefühlszustand beim Hörer zu erreichen. Der Sprecher gäbe so Antos mit dem Text Anweisungen, die vom Rezipienten als ‘Instruktionen’ verarbeitet werden müßten: „Der Sprecher gibt qua hergestelltem Text Anweisung zur Konstruktion eines 'Bildes’, das der Hörer ‘geleitet von der sprachlichen Äußerung’ in einem ebenfalls konstruktiven Akt sozusagen ausmalen kann, aber nicht muß.“ (Antos 1982, S. 118) Diese Rekonstruktion einer Sprecherabsicht gestaltet sich bei Reformulierungen zwischen Texten jedoch als äußerst komplizierter Akt, der aus dem besonderen Charakter dieser Sprachhandlungen resultiert. Gülich und Kotschi haben Reformulierungen vor allem als ‘Textherstellungshandlungen’ charakterisiert, die der Formulierungsebene eines Textes zuzuordnen sind (zu Ebe- <?page no="65"?> Das RefonnuUerungskonzept 65 nen der Textstruktur vgl. u.a. Motsch/ Pasch 1987, Motsch/ Reis/ Rosengren 1989). Gülich und Kotschi verstehen Reformulierungen also vor allem als Formulierungsaktivitäten (zur Formulierungstheorie vgl. Antos 1982). Bei Reformulierungen zwischen Texten muß neben dem unbestritten relevanten Formulierungsaspekt jedoch noch ein weiterer relevanter Sprachhandlungsaspekt Beachtung finden: Man kann Reformulierungshandlungen auch als reproduktive Sprachhandlungen auffassen, als Sprachhandlungen, die aus zwei Teilhandlungen bestehen, der ‘Rezeption’ und der ‘Produktion’ (vgl. Rickheit/ Strohner 1985, 1989). Bei reproduktiven Sprachhandlungen wie Reformulierungen laufen verschiedene solcher Instruktions- und Rekonstruktionsprozesse ab, derart, wie sie Antos beschreibt. Der Reformulierer (Sprecher 2) rezipiert eine Äußerung/ einen Text, indem er versucht, die Satz- und Äußerungsbedeutung(en) und den kommunikativen Sinn zu verstehen/ zu interpretieren (zu Satz- und Äußerungsbedeutung und kommunikativem Sinn vgl. Bierwisch 1979). Gleichzeitig bildet sich eine eigene Einstellung zum Rezipierten heraus; Spuren dieser kognitiven Prozesse finden sich dann in der reformulierten Äußerung. Sprecher 2 formuliert unter Bezugnahme auf die Ursprungsäußerung und geleitet von den Ergebnissen des Rezeptionsvorganges eine neue Äußerung, die eine Kombination aus Reformulierungsausdrükken und neu produzierten Ausdrücken darstellt. Sprecher 2 reformuliert also, indem er einen Reformulierungsausdruck aus einem von Sprecher 1 produzierten Bezugsausdruck formuliert, den er zuvor rezipiert hat. Sicherlich trifft die Charakterisierung von Reformulierungshandlungen als reproduktive Sprachhandlungen für alle Reformulierungen zu. Sie hat jedoch für Reformulierungen zwischen verschiedenen Texten eine besondere Bedeutung. Wenn also nunmehr Reformulierungen als reproduktive Sprachhandlungen betrachtet werden, hat dies Auswirkungen auf mögliche Funktionen, die solche Reformulierungen haben können. Allen Typen von Reformulierungen kann jedoch zumindest ein grundlegendes kommunikatives Ziel zugeschrieben werden: Wenn ein Sprecher eine Äußerung reformuliert, dann signalisiert er, wie er diese Äußerung verstanden hat und/ oder verstanden haben will. Er möchte den Erfolg seines Redebeitrages sichern, indem er dem Hörer mit der Präsentation des Reformulierungsausdrucks zu verstehen gibt, wie dieser die wiedergegebene Äußerung sinnvollerweise zu interpretieren hat (zu Reformulierungsfünktionen vgl. auch Gülich/ Kotschi 1987). Bedingt durch die unterschiedlichen Kommunikationssituationen scheint es jedoch auch wesentliche Unterschiede zwischen Reformulierungen in der Faceto-face-Interaktion einerseits und bei zeitlich versetzten Reformulierungen andererseits zu geben: Stehen bei einem Gespräch, bedingt durch den formulativen Charakter von Reformulierungshandlungen, interaktiv-kooperative Lei- <?page no="66"?> 66 Reformulierungen stungen, die die Sprecher mit wechselseitigen Reformulierungen erbringen, steht also die ‘Formulierungsarbeit’ wie sie Gülich (1994, S. 77) nennt im Vordergrund, so ändert sich diese dominante Funktion bei schriftlichen Texten erheblich, wie zu zeigen sein wird. Differenzierungen ergeben sich vor allem im Grad erfolgreicher Antizipation möglicher Adressatenreaktionen und in der Explizitheit der Wiederaufnahmen der Bezugsausdrücke. Unter Antizipation möglicher Rezipientenreaktion versteht Zimmermann „den Vorgang, daß ein Sprecher bei dem Versuch der kommunikativen Realisierung eines gegebenen Zieles Einschätzungen im Hinblick auf Wissen, soziale und institutioneile Zugehörigkeit, ideologische Haltung, kulturelle Zugehörigkeit, Situationseinschätzung u.ä. des Rezipienten vomimmt [...].“ (Zimmermann 1984, S. 13 lf.) Diese Notwendigkeit einer Einplanung möglicher Adressatenreaktionen würde besonders für geschriebene Texte zutreffen (ebd., S. 132). Der Erfolg von Antizipationen ist beim Beispiel von Gülich und Kotschi meßbar, indem im laufenden Kommunikationsprozeß Reformulierungen ratifizierend und korrigierend wirken. Reformulierungen sind hier gesprächssteuernde und verständnissichernde sprachliche Teilhandlungen, die vor allem Reparaturfunktion haben. Im Gegensatz dazu erfüllen komplexe Reformulierungen, wie sie in Texten des öffentlichen Sprachgebrauchs, vor allem in Zeitungstexten anzutreffen sind, keine Reparaturfünktion im eigentlichen Sinne. Da der Textproduzent zumeist keine Rückkopplung des Interaktionspartners über die erzielte Wirkung erhält, müsse dies durch besondere formulative Leistungen ersetzt werden, wie Antos feststellt (vgl. Antos 1982, S. 115). Der Reformulierer muß sich auf der Basis seines Interaktionswissens ein Bild möglicher Rezipientenkreise rekonstruieren und dabei Wissen über bereits Gesagtes, über die Diskurswelt, die Diskursaktanten und die Diskurskonstellationen aktualisieren. Für diese Art von Reformulierungen läßt sich deshalb eine unmittelbar steuernde, strukturierende Funktion im Sinne von metakommunikativen Aktivitäten der Face-to-face-Reformulierungen nicht annehmen. Vielmehr kristallisieren sich für die Reformulierungen in monologischen Texten, wie sie hier zur Debatte stehen, drei Hauptfünktionen heraus (vgl. Ergebnisse der empirischen Analyse in Kapitel 4): Information, Interpretationsangebot und ggf. Bewertungsangebot. Dabei soll Information im Sinne einer Transferhandlung, eines Transports bestimmter Inhalte von einem Text TI zum anderen T2-n verstanden werden. Die zweite wesentliche Funktion, die des Interpretationsangebots, ist im Sinne einer Auslegungshandlung von Sp2 (Sp2 interpretiert den Bezugsausdruck/ -text) und ihrer sprachlichen Darstellung im Reformulierungsausdruck/ -text zu verstehen und die dritte, die des Bewertungsangebots, im Sinne der Wertzuschreibungshandlung von Sp2, einer Einstellungsbekundung zu den transportierten Inhalten. Die Komposita Interpretations- und Bewertungsangebot sind mit Bedacht gewählt, da eine Funktionszuschreibung nur unter Einbeziehung der Hörerperspektive möglich ist: Sprecher 2 reformuliert eine Äußerung doch nicht, um sie für sich zu interpretieren und/ oder zu bewerten, sondern er reformuliert <?page no="67"?> Das RefonnuUerungskonzept 61 sie, um beim Hörer mit Hilfe dieser neuen Äußerung einen bestimmten Zustand zu erreichen. Er reformuliert also, um über die Bezugsäußerung zu informieren und dem Hörer seine Interpretations- und Bewertungsresultate zu signalisieren und damit bestimmte Einstellungen beim Hörer zu steuern. Es lassen sich fünf Teilziele unterscheiden, wobei natürlich nicht immer alle Ziele beim Reformulieren gleichermaßen realisiert werden müssen: - Sp2 reformuliert, um den Sachverhalt zu vermitteln, daß eine bestimmte Äußerung produziert wurde. - Sp2 reformuliert, um den Inhalt dieser Äußerung zu übermitteln. - Sp2 reformuliert, um dem Hörer seine Interpretation der Bedeutung und des kommunikativen Sinns dieser Äußerung anzubieten. - Sp2 reformuliert, um dem Hörer durch seine signalisierte Einstellung zur reformulierten Äußerung ein Bewertungsangebot zu unterbreiten. - Sp2 reformuliert, um Sp 1 und anderen Hörern damit Konsens zu signalisieren und/ oder Dissens klarzustellen. Information, (Um-)Interpretation und Bewertung. Es scheint klar zu sein, daß diese Funktionen nicht losgelöst voneinander existieren, etwa in der Art, daß Sp2 bei einem Reformulierungsvorgang informiert, bei einem anderen den Bezugsausdruck interpretierend wiedergibt und bei einem dritten schließlich scheinbar seine Bewertung mitliefert. Vielmehr ist auch die Sp2-Information über einen Bezugsausdruck (indem z.B. Sp2 den BA im Reformulierungsausdruck indirekt wiedergibt) das Resultat einer subjektiven Auswahl des Interpreten Sp2. Eine Informationshandlung liegt vor, wenn Sp2 den propositionalen Gehalt in seinen wesentlichen Elementen wiedergibt, so daß es dem Hörer möglich ist, auch bei der Rezeption von nur RA/ T2-n den Inhalt des BA/ BT zu rekonstruieren. Das gleiche gilt für die Wiedergabe des kommunikativen Sinns und der kommunikativen Rolle von Spl. Bei der Interpretation sind zwei Vorgänge zu unterscheiden: Erstens interpretiert Sp2 selbst und zweitens gibt Sp2 das Ergebnis seiner Interpretation wieder. Sp2 interpretiert den Bezugsausdruck/ den Bezugstext immer auch schon geleitet von seinem eigenen Wissensbestand. Heinemann und Viehweger verstehen Textinterpretation demzufolge nicht als bloße Umkehrung der vorangegangenen Textproduktion, sondern als komplexe, konstruktive Tätigkeit, bei der der Rezipient „die in der Regel vage Datenstruktur eines Textes mit Vorwissen bzw. Kenntnissen ‘auflüllt’“. (Heinemann/ Viehweger 1991, S. 114) Das bedeutet, daß der Bezugstext ganz unterschiedlichen Wahrnehmungen durch verschiedene Rezipienten unterliegt, deren Resultate die folgenden Formulierungshandlungen ganz wesentlich beeinflussen. Sp2 produziert, geleitet von diesem Verstehensergebnis, einen Reformulierungsausdruck/ -text, wobei er bei seiner Formulierungshandlung jetzt weitere Faktoren einbezieht: <?page no="68"?> 68 Refonnulierungen sprachlich-stilistische Faktoren (z.B. Normen der Redewiedergabe, Normen für Textzusammenfassungen, die Textsortenspezifik etc.) - Faktoren der kommunikativen Situation (Profil der Zeitung, Leserschaft etc.) und thematisch-argumentative Gegebenheiten (aktuelle Themen, bisherige Argumentation der Zeitung etc.) Auf den Unterschied zwischen Informieren und Bewerten weist auch schon Hoppenkamps hin. Er entwickelt in diesem Zusammenhang einen ‘Modus der Zitierung’, der hier anhand des schon erwähnten Fallbeispiels „Mediale Reflexionen des SED-SPD-Papiers 1987“ weiterentwickelt werden soll (Hoppenkamps 1977, S. 44f). a. Spl informiert in BA über einen Sachverhalt (SV) BAI (Erhard Eppler) Ich werde am 1.9.87 an einer Diskussion zu unserem Papier im ersten Fernsehen der DDR teilnehmen. b. Spl evaluiert in BA einen Sachverhalt BA2 (Erhard Eppler) Wir legen kein Manifest der Verbrüdenmg vor. —> Evaluierung durch Negation Die Bezugsausdrücke BAI und BA2 bilden jeweils die Reformulierungsobjekte für die Reformulierungsausdrücke RA in c.f. c. Sp2 informiert in RA über eine SV-Information RA (FAZ) —» BAI Der Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, Eppler, gab bekannt, daß er am 1. September im Fernsehen der DDR an einer Diskussion über jenes Dokument teilnehmen wird d. Sp2 informiert über eine SV-Evaluierung RA (TS) -> BA2 Das Dokument sei kein Manifest der Verbrüderung, sagte Eppler. —> sagen = redeorganisierendes informierendes Verb ohne hinreichendes Bewertungssignal <?page no="69"?> Das Refonmilierungskonzept 69 e. Sp2 evaluiert in RA eine SV-Information in BA RA (TS) -> BAI Als besonders bemerkenswert empfindet es Eppler, daß er und Meyer sowie Reinhold und Reissig das Dokument im Fernsehen diskutieren können. -» Evaluierung durch ersten Teilsatz (als besonders bemerkenswert empfindet es Eppler) f. Sp2 evaluiert in RA eine SV-Evaluierung in BA RA (BZ) —> BA2 SED und SPD, so betonte das SPD-Präsidium, legten kein Manifest der Verbrüderung vor. —» Evaluierung durch betonen = redebewertendes Verb, Steigerung in der Bewertung gegenüber sagen Das Ergebnis solcher Informations- und Bewertungen kann auch eine Uminterpretation sein. Eine Uminterpretation liegt dann vor, wenn der propositionale Gehalt und/ oder die kommunikative Funktion und/ oder die Relationen zwischen Ausdrücken im Wiedergabetext als Originalwiedergaben aus dem Bezugstext präsentiert werden, dies aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Die Perspektive richtet sich dabei immer auf die Wiedergabe, d.h. darauf, inwieweit der Reformulierer einen Ausdruck oder eine Sequenz als Wiedergabe eines Originals präsentiert. Bei der folgenden Analyse geht es nicht darum, die kognitiven Prozesse und etwa die Motive der Reformulierer zu rekonstruieren und zu bewerten, die letztendlich zur Produktion eines RA/ T2-n fuhren. Vielmehr sollen die Resultate dieser Prozesse, die Spuren in den Texten, beschrieben werden (vgl. Analyse in 4. und 6.1). Das nächste Beispiel zeigt, in welcher Art und Weise unterschiedliche Sp2- Interpretationen ein und desselben Bezugsausdrucks in verschiedenen Reformulierungsausdrücken verkommen können. Besondere Relevanz für die Beschreibung von reformulativen Textverknüpfungsmechanismen hat die Analyse des Verhältnisses von Reformulierungen und Illokutionen, auf das auch Gülich und Kotschi eingehen (vgl. Gülich/ Kotschi u.a. 1987, S. 204). Bei den hier behandelten Reformulierungsprozessen besteht ein grundlegender Zusammenhang darin, daß im Diskurs von einem Text zum anderen die kommunikative Funktion eines Bezugsausdrucks im Reformulierungsausdruck paraphrasiert oder gar erst explizit gemacht wird. Dabei besteht ein Interpretationsspielraum bei der Explizierung von Illokutionen, d.h., eine im Sinne der Spl-Intention adäquate Illokutionswiedergabe durch Sp2 muß nicht zwingend sein. Es kann vielmehr zu Überlagerungen verschiedener Illokutionsinterpre- <?page no="70"?> 70 Refoniwlierungen tationen kommen. Sprecher 2 (Reformulierer) interpretiert und bewertet den vom Sprecher 1 vollzogenen Sprechakt, indem er ihn klassifiziert (vgl. Hoppenkamps 1977; Weigand 1989; Hindelang 1994). Das soll wiederum am Beispiel von Reformulierungen der ‘Regierungserklärung’ verdeutlicht werden, die aus unterschiedlichen Texten stammen: (3/ 4) Reformulierungsausdrücke a) RA (DM,20,2) Die Regierung bestätigte die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR bei Löhnen und Gehältern im Verhältnis 1: 1 erfolgen sollte, bei Renten [...]. Bei Sparguthaben und Versicherungen mit Sparwirkung werde ebenfalls ein Verhältnis von 1: 1 angestrebt, wobei Wege eines differenzierten Umtausches gegangen werden sollten. b) RA (SDZ,20,1) Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauscltkurs von 1: 1. c) RA (TAZ,21,3) „Grundlegender Kurs" der Regierung sei daher ein Beharren auf die Währungsumstellung von 1: 1. d) RA (BER,20,1) De Maiziere machte unmißverständlich klar, daß seine Regierung unverändert am Umtauschsatz 1: 1 für Löhne. Gehälter, Renten, Sparguthaben und Versicherungen festhält Gemeinsamer Bezugausdruck (REG) Wir bestätigen die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D- Mark auf dem Gebiet der DDR bei Löhnen und Gehältern im Ergebnis im Verhältnis 1: 1 erfolgen sollte, bei Renten ebenfalls im Verhältnis 1: 1 [...], -bei Sparguthaben und Versicherungen mit Sparwirkung auch im Verhältnis 1: 1, wobei Wege eines differenzierteren Umtausches gegangen werden sollten. Um die variierte Wiedergabe durch die vier Reformulierungsausdrücke beschreiben zu können, muß zuerst die kommunikative Funktion des Bezugsausdrucks charakterisiert werden. Spl verbalisiert bereits im Bezugsausdruck den kommunikativen Sinn, der aus zwei Teilen besteht: Spl bestätigt eine Aussage X (sagt X zu); X ist schon mehrfach gesagt worden (bestätigen)', Aussage X beinhaltet, etwas soll getan werden (Ankündigung). Dabei spielt das Modalverb sollen eine Schlüsselrolle. Das Hilfsverb sollen kann bekanntlich verschiedene Modalitäten zum Ausdruck bringen. Es vermag einen Auf- <?page no="71"?> Das Refonmilierungskonzept 71 trag als direkte Aufforderung, eine zukünftige Handlung, eine eventuelle Handlung oder eine indirekte Aufforderung auszudrücken. Das Modalverb steht hier im Konjunktiv und verleiht dem Satz den Status einer indirekten Aufforderung mit einem gewissen Vagheitsgrad, so daß man den Satz somit als Wunschsatz interpretieren kann. Sprecher 1 signalisiert, daß ihm bewußt ist, daß er keine direkten Forderungen erheben kann. Dafür steht die mit dem Konjunktiv verbundene indirekte Aufforderungsform (sollte). Er kennt die Konditionen und zieht die Konsequenzen unberechtigter Forderungen ins Kalkül. Er benutzt jedoch auch kein Modalverb mit geringerem Verbindlichkeitsgrad, da ihm andererseits die Brisanz dieser ‘Wunschforderung’ bewußt ist. Es handelt sich also um einen (wiederholten) Sprechakt dringlichen Wünschens. Während im ersten Reformulierungsausdruck unter a) dieser kommunikative Sinn exakt wiedergegeben wird, ist dies im zweiten Reformulierungsausdruck unter b) nicht mehr der Fall: Der Reformulierer (Sp2) paraphrasiert sollte durch gilt die Forderung. Er paraphrasiert also den im Bezugstext anders lexikalisierten Teil der illokutiven Funktion eine legitime sprachliche Operation -, drückt damit jedoch gleichzeitig seine Einstellung zur reformulierten Äußerung aus, indem er die sprachliche Äußerung interpretiert: Spl spricht keinen dringlichen Wunsch aus, sondern fordert. Damit nimmt Sp2 die vom Spl intendierte Unverbindlichkeit moderater Rede zurück und unterstellt ihm eine verbindlichere Redeweise. Im dritten Reformulierungsausdruck unter c) erfolgt eine weitere Interpretation: Sp2 interpretiert und bewertet den Sprechakt von Spl. Die Funktion des Bezugsausdrucks wird mit beharren paraphrasiert. Sp2 sagt damit erstens, daß jemand (wiederholt) gefordert hat (was dem Originalkontext entspricht), und zweitens, daß dies eine möglicherweise unberechtigte Forderung ist. Diese Bewertung läßt sich aus der Bedeutung des Wortes beharren ableiten. Beharren enthält eine anaphorische Komponente, es verweist implizit auf zurückliegende Texte/ Äußerungen des Diskurses, in denen Spl schon mehrfach diese Forderung erhoben haben muß. Diese ‘Vorgeschichte’ wird vorausgesetzt, wobei ein Interpretationsspielraum entsteht. Im „Deutschen Wörterbuch“ (Wahrig 1986/ 1991, S. 243) findet man die entsprechenden Einträge zu beharren'. „[...] auf, in etwas ~, zäh an etwas festhalten, auf etwas bestehen; auf einer Ansicht, einem Entschluß, einer Meinung in seinem Trotz (diese Hervorhebung d.A ). So enthält diese Explizierung zumindest die Möglichkeit einer negativen Bewertungszuordnung. Mit dem Jeilsatz De Maiziere machte unmißverständlich klar wird die Illokution des Bezugsausdrucks in d) gerade in umgekehrter Richtung gewertet. Spl wird als der Stärkere klassifiziert, der ‘unmißverständlich’ Forderungen aufstellen kann. <?page no="72"?> 72 Refornwlierungen 3.4 Zur Identifizierbarkeit von Reformulierungen Schon bei der Auswahl und der Zusammenstellung des Textkorpus hat sich gezeigt, daß es bei Reformulierungsbeziehungen, in denen Bezugsausdruck und Reformulierungsausdruck nicht in ein und demselben ‘Text’ in derselben Kommunikationssituation Vorkommen, sondern räumlich und zeitlich getrennt produziert und rezipiert werden, ganz unterschiedliche Qualitäten von Reformulierungen geben kann. Manche Reformulierungen sind auch ohne Vergleich mit dem Original durch ihre sprachliche Struktur klar als Reformulierungsausdrücke zu identifizieren, bei manchen bleibt der Status vage, andere wiederum erscheinen an der sprachlichen Oberfläche als vom Reformulierer neu produzierte Ausdrücke. Für den Rezipienten ist es also nicht in jedem Fall möglich zu erkennen, daß die rezipierte Äußerung eine Reformulierung darstellt. Er hat einen Text vor sich, den er im Prinzip mit Hilfe reformulativer Spuren als wiedergebenden Text erkennen kann. Das bedeutet aber nicht, daß diese Zuordnungen auch für jeden einzelnen Ausdruck dieses Textes immer gesichert vorgenommen werden können. Der analysierende Linguist hat hingegen einen doppelten Zugang zum Text: Zum einen als ‘normaler’ Textrezipient, der enthält ein Text Reformulierungsausdrücke auch bei der Rezeption nur dieses einen wiedergebenden Textes Spuren finden wird, mit deren Hilfe er bestimmten Ausdrücken einen Reformulierungsstatus zuschreiben kann. Diese Spuren kann man in der Regel mit den von Gülich und Kotschi ausführlich beschriebenen Reformulierungsindikatoren gleichsetzen. Er wird anhand sprachlicher Mittel möglicherweise decodieren können, was der Reformulierer ihm mitteilen möchte. Zum anderen wird der Linguist aber über den Erfahrungshorizont einer alltagsweltlichen Rezeption hinausgehen und eine ‘paradigmatische’ Analyse vornehmen. Das bedeutet die Einbeziehung des Originaltextes, auf den sich die zu beschreibenden Texte beziehen. Das Bezugsobjekt rückt damit ebenfalls in seinen Analysefokus. Damit tritt er faktisch aus dem ‘naiven’ Status heraus und fuhrt eigentlich getrennte Kommunikationsvorgänge und -ergebnisse in der Analyse zusammen. Er kann also real existierende Vorkommen und Einbettungen der Bezugs- und Reformulierungsausdrücke in ihren jeweiligen Einbettungen beschreiben und sie zugleich zueinander in eine Relation setzen, die eigentlich nur eine analytische Beziehung ist. So ist es für den Analysierenden möglich festzustellen, daß es auch zahlreiche Reformulierungsrelationen gibt, die eben nicht durch solche klar definierten Reformulierungsindikatoren gekennzeichnet sind. Erst die Rekonstruktion dieser Relationen bringt Aufschluß darüber, welche Reformulierungsvorgänge mit welchen Effekten wirklich abgelaufen sind. Auf diesem Wege kann er die mit Reformulierungen verbundenen Möglichkeiten der Information, Interpretation und Bewertung transparent machen. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß diese Verbindungen in der Alltagskommunikation nicht wahrgenommen werden müssen. <?page no="73"?> Das Refonmilierungskonzept 73 Es stellt sich nun die Frage, durch welche sprachlichen Mittel der Hörer eine Äußerung innerhalb eines wiedergebenden Textes (T2-n) als eine Äußerung erkennt, die auf eine früher produzierte Äußerung referiert und damit ein Reformulierungsausdruck ist. Wie in 3.1. bereits erwähnt, haben Gülich und Kotschi versucht, solche Reformulierungsindikatoren zu erfassen (vgl. u.a. 1987). Die folgenden Reformulierungsausdrücke veranschaulichen nun drei exemplarische Fälle, für die der Beschreibungsversuch von Gülich und Kotschi allein jedoch nicht ausreicht: (3/ 5) a) RA (FR,20,1) Der CDU-Politiker sagte: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden". b) RA (FR, 20,1) Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger" werden. c) RA (SDZ,20,1) Nach den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 6. Mai sind die Räte der fünfzehn Verwaltungsbezirke die einzigen politischen Gremien in der DDR, die nicht durch demokratische Wahlen nach der Wende legitimiert worden sind. Allen drei Äußerungen kann der Status eines Reformulierungsausdrucks zugeschrieben werden, wobei es erhebliche Unterschiede im Grad der Identifizierbarkeit dieses Status gibt. Der Reformulierungsausdruck in a) ist der eindeutige Fall, bei dem die Referenzbeziehung zu einer anderen sprachlichen Äußerung bereits im Satz selbst fixiert ist. Es handelt sich um einen redewiedergebenden Satz, der aus einer redeeinleitenden Phrase und dem Zitat, markiert durch Doppelpunkt und Anführungszeichen, besteht. Die Reformulierung wird bereits im Satz als solche gekennzeichnet. Bei b) verhält es sich schon etwas komplizierter: Es handelt sich um einen Deklarativsatz, dessen kommunikativer Sinn in der Mitteilung eines Sprechers liegt, daß jemand eine Handlungsabsicht hat. Den im Nebensatz verwendeten Anführungszeichen eine eindeutige Funktion zuzuschreiben erweist sich bei der isolierten Rezeption nur dieses Satzes als schwierig. Es gibt zumindest zwei Möglichkeiten: - Die Anführungszeichen sind ein sprachliches Mittel, um die Fügung zweitklassige Bundesbürger in irgendeiner Art hervorzuheben, um sich z.B. davon zu distanzieren; — Der Sprecher signalisiert damit, daß er hier eine früher produzierte Äußerung wiedergibt. Der wahrscheinliche Status dieser Äußerung wird erst deutlich, wenn man sie in ihrer Verwendung betrachtet, das heißt, das Wis- <?page no="74"?> 74 Refoniwlierungen sen über den gesamten Text nutzt und vor allem den im Text unmittelbar folgenden Satz (RA2) einbezieht. RAI Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. RA2 In seiner ersten Regierungserklärung verlangte Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) am Donnerstag zugleich einen Umtauschkurs von 1: 1 bei Einführung der deutsch-deutschen Währungsunion. In RA2 ist durch die satzinterne Markierung von Sprecher {Lothar de Maiziere), Sprechaktverb {verlangte) und Textsorte {in seiner ersten Regierungserklärung) eine eindeutige Zuordnung als Reformulierung möglich. Der Ausdruck bietet durch den anaphorischen Verweis zugleich darüber hinaus aber auch die Zuordnungsmöglichkeit für den vorhergehenden Satz: Es wird deutlich, daß die Äußerung in b) ebenfalls eine Reformulierung sein muß. Die Anführungszeichen dienen also mit hoher Wahrscheinlichkeit der Kennzeichnung authentischer Rede. Dies schließt jedoch die andere Zuordnungsmöglichkeit, nämlich die der Einstellungsbekundung, nach wie vor nicht aus, da solche sprachlichen Zeichen zumeist polyfunktional sind. In c) gibt es dagegen kein explizites sprachliches Zeichen, das signalisieren würde, daß dieser Satz die fast wörtliche Wiedergabe eines Bezugsausdrucks darstellt. Auch im unmittelbaren textuellen Vor- und Nachfeld lassen sich ohne Vergleich mit dem Bezugsausdruck im Bezugstext keinerlei sprachliche Indikatoren dafür nachweisen. Vielmehr präsentiert sich der Satz durch seine Ausdrucksform als Deklarativsatz, der vom Sprecher 2 (dem Produzenten des Reformulierungstextes) neu formuliert wurde und als Hintergrundinformation des Autors erscheint. Und doch handelt es sich auch hierbei um einen Reformulierungsausdruck, zu dem es einen adäquaten Bezugsausdruck mit einer sehr ähnlichen Struktur (lexikalische Einheiten, syntaktische Struktur, Satzbedeutung) gibt. Der Reformulierungsausdruck in c) ist wohl nicht so ohne weiteres auf eine Stufe mit den RA in a) und b) zu stellen. Es wird somit deutlich, daß es Referenzbeziehungen gibt, die bei der Rezeption von nur T2-n (Nachfolgetexten des Bezugstextes) identifizierbar sind und andere, die eigentlich erst im Vergleich mit dem Bezugsausdruck bzw. dem Bezugstext als Reformulierungen bestimmt werden können. Daher ist zwischen eindeutiger und nicht-eindeutiger Identifizierbarkeit zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist jedoch nur von heuristischem Wert, da der Hörer im Regelfall nicht diesen Vergleich zwischen Bezugstext und Wiedergabetexten durchführt. In der normalen Rezeptionssituation bleibt der Status solcher Ausdrücke wie RA in c) vage. Ob der Hörer sie als Reformulierung auffaßt, hängt nicht unwesentlich von seinem Wissen über die globalen kommunikativen Zusammenhänge, von seinem Diskurswissen ab. Dennoch ist diese Einteilung für analytische <?page no="75"?> Das Refonnulierungskonzept 75 Zwecke hilfreich, um in den Ablauf der verschiedenen Reformulierungsvorgänge eine gewisse Systematik bringen zu können. Eindeutige Identifizierbarkeit von Reformulierungen liegt dann vor, wenn der Sprecher die jeweilige Einzeläußerung als Reformulierungsausdruck präsentiert und der Hörer die jeweiligen Ausdrücke bei der Rezeption von nur T2-n ohne Vergleich mit TI also gesichert als Reformulierungsausdrücke identifizieren kann. Als ‘explizite Reformulierungssignale’ (Reformuliemngsindikatoren) fungieren hierbei sprachliche Einheiten unterschiedlicher Komplexität mit unterschiedlicher grammatischer, lexikalischer und syntaktischer Ausprägung. Die Skala reicht vom sprachlichen Zeichen mit rein strukturierender Funktion bis hin zu Äußerungen, die als eigenständiges Äußerungselement eine eigene Satz- und Äußerungsbedeutung und einen eigenen kommunikativen Sinn haben (vgl. hierzu Bierwisch 1979, Motsch/ Pasch 1987, Mötsch/ Reis/ Rosengren 1989). So lassen sich klassische Formen der ‘Redekennzeichnung’ (wie sie u.a. schon bei Kurz 1966 beschrieben wurden) ebenso bestimmen wie Metaverbalisierungen kommunikativer Akte. Dabei ist zu unterscheiden, ob eine Reformulierung satzintern also im entsprechenden Ausdruck selbst - oder im unmittelbaren sequentiellen Vor- und Nachfeld des Ausdrucks sequenzintern markiert ist. In der Regel sind bei den satzintern markierten Reformulierungsausdrücken keine kobzw. kontextuellen Informationen zur Einordnung ihres Reformulierungsstatus notwendig. Bei den satzinternen Indikatoren sind verschiedene Typen zu unterscheiden. Den am eindeutigsten gekennzeichneten Fall stellt die Markierung direkter und indirekter Rede innerhalb eines Ausdrucks dar. Zwei signifikante sprachliche Mittel sind demzufolge Doppelpunkt/ Anführungszeichen bei Wiedergabe von authentischer Rede und/ oder die konjunktivische Form der Verben (dazu ausführlich in Kap. 4). Darüber hinaus gibt es eine Reihe von sprachlichen Zeichen und Satzteilen, die allein durch eine Art ‘Verweis’ signalisieren, daß es sich bei diesem Satz um eine Reformulierung handelt. Sie weisen sozusagen ‘inhaltsleer’ über die Satzgrenze auf das unmittelbare Vorbzw. Nachfeld des Satzes hin und signalisieren nur, daß es eine Referenzbeziehung gibt, indem sie den jeweiligen Satz in einen Kontext einordnen. In diese Gruppe ließen sich wohl auch einige lexikalische Einheiten wie ferner einordnen (vgl. auch Kotschi 1990). RA Ferner will Ost-Berlin das soziale Sicherungssystem und das Recht neu ordnen, weitere Abrüstungsschritte durchsetzen und bis 1991 die alte Länderstruktur wieder einfuhren. oder RA Auch die Mauer soll bald verschwinden. <?page no="76"?> 76 ReformuHerungen Ferner und auch implizieren, daß diese Ausdrücke in einem größeren Äußerungskontext stehen und ebenso Reformulierungen sind wie die Sätze davor. Eine dritte große Gruppe der satzinternen Reformulierungsindikatoren bilden explizierende Fügungen zur Kennzeichnung einer kommunikativen Handlung von Spl: die sprechaktbeschreibenden Verben. Durch sprechaktbeschreibende Verben wird dem Hörer im Satz explizit signalisiert, daß der Sprecher auf eine bereits produzierte Äußerung referiert. Zu den sequenzinternen Indikatoren gehören jene sprachlichen Zeichen und Einheiten, die zwar satzextern, aber textintern zumeist innerhalb eines anderen Reformulierungsausdrucks einer Äußerung vorher und nachher den Status einer Reformulierung zuordnen. Im unmittelbaren Vor- oder Nachfeld der Äußerung weisen sie anaphorisch oder kataphorisch auf den Ausdruck hin, der selbst keinen expliziten Reformulierungsindikator enthält. Diese Einordnungsinstanz ermöglicht es dem Hörer ebenfalls, einen Ausdruck unmittelbar als Reformulierung zu identifizieren, da dem Rezipienten des Reformulierungsausdrucks/ -textes im Regelfall der gesamte Text vorliegt und er Kenntnisse über einen Text und/ oder ein Textmuster (z.B. ‘Redeberichte in Zeitungen’) besitzt. Dabei können diese sequenzinternen Indikatoren sowohl im unmittelbaren Satzumfeld liegen (ko-textuelle Indikatoren in unmittelbarer Satzfolge) als auch in anderen Textsegmenten auftreten (ko-textuelle Indikatoren in Teiltextfolge). Für beide Fälle sei je ein Beispiel gegeben: Ko-textuelle Indikatoren in unmittelbarer Satzfolge: RA Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. Der RA ist bei isolierter Betrachtung nicht ohne weiteres als Reformulierungsausdruck identifizierbar. Erst durch den darauffolgenden Satz wird diese Zuordnung möglich: RS (FR,20,1) RAI Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. RA2 In seiner ersten Regierungserklärung verlangte Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) am Donnerstag zugleich einen Umtauschkurs von 1: 1 bei Einführung der deutsch-deutschen Währungsunion. Die lexikalische Einheit zugleich in RA2 ist ein Indikator, der zur rückwirkenden Identifizierung von RAI als Reformulierung dient. <?page no="77"?> Das ReformuUerungskonzept Ko-textuelle Reformulierungsindikatoren auf Teiltext- und Textebene: 77 RA Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauschkurs von 1: 1. Die Einordnung dieses Ausdrucks als ein Reformulierungsausdruck ist nicht aufgrund der Oberflächenstruktur des Satzes möglich und auch nicht aufgrund von Indikatoren im unmittelbar vorausgehenden oder nachfolgenden Satz. Sie ist nur deshalb möglich, weil folgendes zwei Sätze zuvor (NA) als Wiedergabe von Rede explizit eingefuhrt wurde: RS (SDZ,20,1) NA Zeitpläne für die Arbeit seiner Regierung kündigte de Maiziöre nur in wenigen Bereichen an. RAI Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Währungsunion voraussichtlich am 1. Juli 1990 „weitgehend“ beseitigt sein. RA3 Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauschkurs von 1: 1. Solche ko-textuellen Reformulierungsindikatoren auf Teiltext- und Textebene lassen sich besonders häufig in resümierenden Sequenzen nachweisen, in denen der Reformulierer (Sp2) Mitteilungen und Ankündigungen von Spl in konzentrierter Form wiedergibt, sich aber trotz des zusammenfassenden Charakters an die lexikalisch-semantische Struktur der Bezugsausdrücke hält. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es eine Vielzahl von Äußerungen gibt, die durch ihre Ausdrucksform bzw. -Struktur (z.B. Deklarativsätze ohne Redewiedergabekennzeichnung) wie eigene Äußerungen des Reformulierers (NA) erscheinen und in denen solche expliziten unmittelbaren satzbzw. sequenzintemen Reformulierungsindikatoren fehlen. In diesen Fällen wurde von einer nicht-eindeutigen Identifizierbarkeit gesprochen. Sie können aufgrund des klaren Status des Gesamttextes als Wiedergabetext im Prinzip mit Reformulierungen in einen Zusammenhang gebracht werden, aber im Einzelfall nicht gesichert als Reformulierungen identifiziert werden. RA Nach den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 6. Mai sind die Räte der fünfzehn Verwaltungsbezirke die einzigen politischen Gremien in der DDR die nicht durch demokratische Wahlen nach der Wende legitimiert worden sind. BA Ausgehend davon, daß nach der Wahl demokratisch legitimierter Volksvertretungen auf der Ebene der Kreise, Städte und Gemeinden am 6. Mai 1990 die Bezirkstage die einzigen Vertretungskörperschaften sein werden. die nicht aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind, und deren Zusammensetzung damit nicht der tatsächlichen poliüschen Kräftekonstellation im jeweiligen Territorium entspricht, sollte das <?page no="78"?> 78 Refornwlierungen Präsidium der Volkskammer den Bezirkstagen empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. Der Ausdruck weist keine expliziten sprachlichen Reformulierungsmerkmale auf und wird von Sp2 als eigener Feststellungssatz präsentiert. Erst der Vergleich mit dem Bezugstext zeigt, daß es einen entsprechenden Bezugsausdruck gibt. Ein wichtiges Kriterium dafür, ob eine Reformulierung vorliegt, ist der Anteil der wiederaufgenommenen und wiedergegebenen lexikalischen Einheiten. Sie fungieren als ‘lexikalische Reformulierungsmarker’, wobei die Grenzen gerade in diesen Fällen sicher fließend sein können. Der Hörer kann, aber muß sie nicht unbedingt als solche erkennen, und er kann, muß sie aber nicht als Reformulierungsausdrücke identifizieren. Diese lexikalischen Reformulierungssignale kommen natürlich auch bei eindeutig identifizierbaren Reformulierungen vor, erfüllen dann jedoch nicht die primäre Indikatorenfunktion. 3.5 Redewiedergaben und freie Wiedergaben die zwei Grundtypen von Reformulierungen Für die nun vorzunehmende Klassifizierung von Reformulierungstypen wird nach einem grundsätzlichen Kriterium verfahren: Es ist nicht relevant, ob ein Bezugsausdruck wirklich direkt zitiert oder nur frei wiedergegeben wird, sondern ob der Reformulierer den Ausdruck als Wiedergabe präsentiert. Darauf verweist auch schon Gülich, wenn sie zum Gelingen eines Sprechakts ‘Redewiedergabe’ konstatiert: „Es kommt hier also nicht darauf an, ob tatsächlich ein ‘Original’-Sprechakt der Redewiedergabe zugrunde liegt, sondern darauf, ob ein Sprecher eine Äußerung als Redewiedergabe darstellt.“ (Gülich 1978, S. 51f.) Die in 3.4 beschriebenen Unterschiede zwischen eindeutig indizierten und nicht-eindeutig indizierten Wiedergaben haben demzufolge einige Konsequenzen hinsichtlich einer vorzunehmenden Klassifikation spezieller Reformulierungstypen. Deshalb sei noch einmal zusammengefaßt: — Es gibt Reformulierungen, bei denen Sp2 Einheiten des Bezugsausdrucks/ -textes wiederaufnimmt und diese Handlung durch entsprechende explizite sprachliche Merkmale als Redewiedergabehandlung gekennzeichnet ist. — Es gibt Reformulierungen, bei denen Sp2 Einheiten des Bezugsausdrucks/ -textes wiederaufnimmt und dies im Prinzip kennzeichnet (textinteme Indikatoren), wobei er nicht im Detail markiert, welche einzelnen Einheiten Elemente der Originalrede sind. — Es gibt Reformulierungen, bei denen Sp2 Einheiten des Bezugsausdrucks/ -textes wiederaufnimmt und dies in keiner Weise kennzeichnet, so daß der Rezipient diese Einheiten auch als Sp2-Einheiten auffassen könnte. <?page no="79"?> Das Refonmilierungskonzept 79 Der erste Fall ist am klarsten. Es handelt sich um den Reformulierungstyp Redewiedergabe mit seinen beiden Untertypen ‘indirekte’ und ‘direkte’ Rede. Dieser Typ ist schon häufig Gegenstand ganz unterschiedlicher linguistischer Analysen gewesen. 13 Es wurden Redewiedergaben als grammatisches Phänomen in einer idealisierten Sprechersituation beschrieben mit dem Ziel, klare Regeln für die Transformation zu finden. Viele Untersuchungen stellten auch den Aspekt der Authentizität der Wiedergabe (vgl. ‘Dimensionen der Wiedergabequalität’ bei Lang 1983, S. 318) in den Mittelpunkt, also das Verhältnis von Original und Wiedergabe. Andere wiederum beschäftigen sich mit diesen Phänomenen vor allem unter dem Aspekt der Sprachverwendung in konkreten kommunikativen Situationen, also damit, wie diese Typen und Formen denn tatsächlich in den Texten als Resultate einer sprachlichen Handlung Vorkommen. In der folgenden Analyse soll der schwierige Versuch unternommen werden, alle drei Aspekte zu integrieren. Es wird dabei die Meinung vertreten, daß eine zu starke Erweiterung des Begriffs ‘Redewiedergabe’ auf alle möglichen Wiederaufnahmephänomene zu einer Entwertung des Begriffs führt und er damit an Praktikabilität verliert. Deshalb soll Redewiedergabe in einem recht strengen Sinne definiert werden: Ein Sprecher reformuliert Elemente des Bezugsausdrucks mit hoher Frequenz und unter Beibehaltung der lexiko-semantischen und syntaktischen Grundstruktur des Bezugsausdrucks. Das allein reicht jedoch noch nicht aus, um von Redewiedergabe sprechen zu können. Der Reformulierer muß darüber hinaus reformulierte Äußerung als direkte oder indirekte Wiedergabe auch explizit kennzeichnen bzw. in irgendeiner Weise eindeutig markieren. Sprecher 2 muß also ein sprachliches Zeichen (unterschiedlicher Komplexität) einsetzen, mit dem er sagt: [„Hiermit gebe ich ‘Rede’ wieder“]. Er präsentiert explizit eine Redewiedergabestruktur. Diese Redekennzeichnungen weisen dabei eine breite Skala auf, vom einfachen Graphem bis zu komplexen Sätzen, die selbst wiederum einen Ausdruck wiedergeben, eine kommunikative Funktion oder einen Sprecher-Status explizieren. Unter indirekten Wiedergaben als einem Subtyp der Redewiedergabe werden all jene Formen verstanden, die den propositionalen Gehalt eines Bezugsausdrucks in wesentlichen Teilen wiedergeben und entsprechend gekennzeichnet sind (vgl. ausführliche Diskussion in 4.1.1), ohne daß ein direktes Zitat vorliegt. Bei diesen Wiedergabeformen sind unter Beibehaltung der Grundstruktur des Bezugsausdrucks Modifikationen wie Paraphrasierungen, Reduzierungen, Erweiterungen usw. zulässig. Auch indirekte Wiedergaben müssen vom Reformulierer als solche gekennzeichnet sein, wobei es folgende Möglichkeiten gibt: 13 Vgl. Kurz (1966), Ungeheuer (1969), Wunderlich (1972), Rath (1975), Hoppenkamps (1977), Gülich (1978 usw.), Zillig (1982), Lang (1983), von Roncador (1988), Schank (1989), Brünner (1991). <?page no="80"?> 80 Refonnulierungen a) indikativische Wiedergabe mit expliziter Redekennzeichnung RA (SDZ,20,1) Über den Weg zur Einheit haben wir ein entscheidendes Wort mitzureden, betont der CDU-Politiker. BS (REG) BAI Das Ja zur Einheit ist gesprochen. BA2 Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. b) konjunktivische Wiedergabe mit expliziter Redekennzeichnung RA (FR,20,1) In Deutschland dürfe es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Infonnationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammele, sagte der Regierungschef. BA In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt c) konjunktivische Wiedergabe ohne explizite Redekennzeichnung RA (BER,20,1) Die Regierung der DDR strebe eine drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte an. BA Die DDR strebt eine drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte an. Direkte Wiedergaben sind wörtliche Zitate eines Ausdrucks, die als solche explizit gekennzeichnet sind (vgl. ausführliche Diskussion in 4.1.2). Dieses markierte wörtliche Zitieren kann als vollständiger Satz erfolgen RA (FR,20,1) Der CDU-Politiker sagte: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden.“ oder als Teil eines anderen Satzes RA(SDZ,20,1) Die Teilung könne „tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden“. BA Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. <?page no="81"?> Das Refonnulierungskonzept 81 Da der Terminus ‘Redewiedergabe’ nur für jene Reformulierungen benutzt werden soll, bei denen eine eindeutige Redewiedergabestruktur mit den entsprechenden Implikationen erkennbar ist, muß daneben noch eine weitere Gruppe von Reformulierungen bestimmt werden, die eine solche explizite Kennzeichnung nicht in der gleichen Eindeutigkeit aufweist. Dies trifft auf den zweiten Typ von Reformulierungen, die freien Wiedergaben, zu. Freie Wiedergaben sind dadurch charakterisiert, daß sie nicht eindeutig als Redewiedergaben präsentiert werden. Der Sachverhalt, daß und unter welchen kommunikativen Bedingungen ein Sprecher etwas gesagt hat, ist nicht in erster Linie mitteilenswert, sondern es wird vor allem auf Inhalte und Konsequenzen von Gesagtem Bezug genommen. Das bedeutet nicht, daß diese freien Wiedergaben nicht auch Originalentitäten wiederaufnehmen und weiterverarbeiten. Im Gegenteil. Viele dieser freien Wiedergaben reformulieren Bezugseinheiten in großem Umfang, was aber für den Rezipienten entweder nur ‘im Prinzip’ oder überhaupt nicht erkennbar ist. Freie Wiedergaben sind demzufolge nicht als Redewiedergaben, wohl aber als Reformulierungsphänomene aufzufassen. Sie erfüllen die Konditionen für eine Redewiedergabe deshalb nicht, weil der Reformulierer seine Wiederaufnahmen nicht in eine eindeutige Redewiedergabestruktur einbettet. Dieses Charakteristikum ist allen freien Wiedergaben eigen. Sie sind aber trotzdem Reformulierungen, da sie Originaleinheiten benutzen und transportieren und der Hörer durch einige formale Merkmale zuordnen kann, daß es sich um Bezugnahmen handelt. Der Sprecher stellt ebenso wie bei indirekter und direkter Rede eine Relation zwischen einem Bezugsausdruck (einer -sequenz oder -einheit) und einem Reformulierungsausdruck (einer -sequenz oder -einheit) her und modifiziert diese Einheiten in neuen Kontexten. Freie Wiedergaben kommen in den Texten auf zweierlei Weise vor, zum einen als Sp2-Aussagen über von Spl verkündete Absichten, Ziele und Motive, zum anderen als stark komprimierende Zusammenfassungen. Die erste Gruppe wird als ‘berichtende Wiedergabe’, die zweite als ‘komprimierende Wiedergabe’ bezeichnet. Bei den berichtenden Wiedergaben handelt es sich um Reformulierungen, bei denen Sp2 auf ein von Spl ausgedrücktes Handlungsziel Bezug nimmt, indem er die Proposition dieses ausgedrückten Handlungsziels (oft in Kopplung mit Modalverben) wiedergibt, ohne den damit verbundenen Spl-Kommunikationsakt als solchen zu thematisieren. Der Hörer kann dabei zumeist nicht rekonstruieren, welche Elemente vom Bezugsausdruck stammen und welche vom Reformulierer neu produziert sind. RA (FAZ,20,2) Die Landwirtschaft soll schrittweise mit mehrjährigen Übergangsperioden an die der Europäischen Gemeinschaft herangeführt werden. <?page no="82"?> 82 Refoniwlierungen BA Wir haben die Aufgabe, die Landwirtschaft schrittweise an den EG-Agrarmarkt heranzufuhren. Dazu brauchen wir Schutzmaßnahmen jedweder Art für eine mehljährige Übergangsperiode. Allein aus dem Reformulierungsausdruck ist nicht ersichtlich, ob Sp2 mit seinen eigenen Worten auf ein von Spl formuliertes Ziel Bezug nimmt (über dieses Ziel sozusagen mit eigenen Worten berichtet) oder ob er Bezugseinheiten wiedergibt. Daß diese RA-Variante keine einfache indirekte Wiedergabe ist, verdeutlicht auch eine konstruierte indirekte Reformulierungsvariante. —> RA: Die Regierung habe die Aufgabe, die Landwirtschaft schrittweise an den EG- Agrarmarkt heranzuführen <— oder passivisch: —» RA: Die Landwirtschaft werde schrittweise an den EG- Agrarmarkt herangeftlhrt werden müssen. *- Spl vollzieht den Sprechakt einer Mitteilung über eine Handlungsabsicht. Sp2 referiert in diesem Fall sowohl auf den Inhalt der Ankündigung, indem er ihn wiedergibt, als auch auf den Sprechakt der Ankündigung, indem er ein Modalverb einsetzt, das für Akte des Wollens, Versprechens usw. steht. Im Reformulierungsausdruck ist nicht mehr relevant, daß Spl diese Aussage getroffen hat. Der Reformulierungsausdruck stellt vielmehr eine Aussage über ein mögliches Resultat der angekündigten Handlung dar. Der Reformulierungsausdruck berichtet also über eine von Spl geäußerte Handlungsabsicht, wobei es sich oft durchaus um eine propositionale Wiedergabe der Bezugsäußerung handelt. Sp2 formuliert also einen Bericht über Mitteilungen von Spl unter Benutzung von Spl-Formulierungen und lexikalisch-syntaktischen Strukturen des Bezugstextes. Zumeist existiert im Vor- oder Nachfeld ein textinterner Verweis auf die Herkunft des Wiedergegebenen, ohne daß man im einzelnen von einer Redewiedergabestruktur sprechen könnte. Im schon behandelten Beispieltext 3/ 3 betrifft dieser Fall mehrere Sätze. Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Währungsunion, voraussichtlich am 1. Juli 1990, „weitgehend" beseitigt sein. Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauschkurs von 1: 1. Im Spätherbst dieses Jahres sollen in der DDR Landtage gewählt werden. Kultur- und Polizeihoheit sollen wie in der Bundesrepublik in die Zuständigkeit der künftigen Länder übergehen. Die Förderung der Braunkohle, aus der die DDR mehr als 90 Prozent ihres Energiebedarfs deckt, will die Regierung zugunsten von Erdgas, Steinkohle und Öl einschränken. <?page no="83"?> Das Refonmtlierungskonzept 83 Zur Bezahlung eines Teils der Kosten für Umweltreparaturen und Altlastsanierungen soll ein staatlicher Öko-Fonds aus Abgaben, Gebühren und Stiftungen beitragen. Bei Militär und Rüstung stehen Umwälzungen bevor: Die Volksarmee wird umstrukturiert, militärische Verpflichtungen der DDR werden abgebaut. Dies sind Belege für berichtende Wiedergaben. Bei der Rezeption des Textes kann verstanden werden, daß sich der Reformulierer bei diesen ‘Berichten’ auf Gesagtes bezieht und die Aussagen etwas mit Äußerungen des Erstredners zu tun haben. Es kann aber nicht gesichert bestimmt werden, inwieweit die einzelnen Elemente wiedergegebene Bezugseinheiten sind oder ob sich Sp2 vorrangig auf der berichtenden Metaebene mit eigenen Worten über Gesagtes äußert. Im Beispiel gibt Sp2 Bezugsäußerungen ziemlich detailgetreu wieder, sowohl was die sprachliche Ausdrucksform als auch die propositionale Struktur betrifft. Er markiert dies jedoch nicht. Andere berichtende Wiedergaben enthalten dagegen sogar einzelne Elemente expliziter Redekennzeichnungen, indem z.B. der Erstredner genannt wird oder Handlungen bezeichnet werden. RA (FR,20,1) Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. BA Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR- Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. Diese Reformulierung stellt trotz der Verbalisierung des Sprecherstatus im weiteren Sinne (hier der Gruppe, für die der Erstredner spricht), des Orts und einer künftigen Sprecherl-Handlung keine Redewiedergabe im engen Sinne dar, da nicht eindeutig erkennbar ist, ob es sich um eine Sp2-Schlußfolgerung handelt, die Sp2 mit eigenen Worten formuliert, oder um eine Wiederaufnahme von Bezugseinheiten. Komprimierende Wiedergaben als zweiter Untertyp der freien Wiedergaben stellen Zusammenfassungen von Elementen des Bezugstextes dar. Auch hier gibt es Fälle, die vollkommen unmarkiert als neu produzierte Sequenzen erscheinen, und andere, bei denen durchaus signalisiert wird, daß sich die wiedergebenden Einheiten auf ein Original beziehen. Der hohe Grad von Komprimierung gestattet es trotzdem nicht, von einer Redewiedergabe zu sprechen. Diese komprimierenden Wiedergaben sind Resümees, die entweder Bezugsausdrücke aus ganz verschiedenen, voneinander unabhängigen Bezugstextsequenzen miteinander verbinden oder eine bestimmte Bezugssequenz zu einer Art Makroproposition kondensieren (vgl. u.a. van Dijk 1980). Die einzelnen Reformulierungsausdrücke sind dabei zumeist nicht rückführbar auf ei- <?page no="84"?> 84 ReformuHerungen nen bestimmten Bezugsausdruck im Sinne einer 1: 1 -Entsprechung. Sie bestehen aber trotzdem nur aus Reformulierungseinheiten. Durch den stark komprimierenden Charakter solcher freien ReformuHerungen verändert sich fast immer die argumentative Struktur des Bezugsausdrucks im Reformulierungsausdruck. Ein Beispiel sei auch für diese Wiedergabeform gegeben. Komprimierter Reformulierungsausdruck RA (FAZ/ K,20,1) Die Vereinigung Deutschlands in einem friedlichen Europa, an dessen Zusammenwachsen es mitbauen will; das war neben der Sorge um den Nord-Süd- Konflikt und der Aufforderung zur Solidarität mit den Menschen in der Dritten Welt die zentrale außenpolitische Botschaft dieser Regierungserklärung. Mögliche Bezugsausdrücke und Bezugssequenzen (REG) BA Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. BA Leistungsfähige Verkehrswege sind eine Grundlage für die dauerhafte Überwindung der Teilung Deutschlands und für ein Zusammenwachsen in ganz Europa. BA Unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten friedlichen Europa. BA Die Vereinigung Deutschlands soll die Stabilität in Europa festigen und die Schaffung einer gesamteuropäischen Ordnung des Friedens, der Demokratie und der Zusammenarbeit fördern. BS Die Beendigung des Ost-West-Konfliktes macht sichtbare Fortschritte. Dies verpflichtet uns, dem Nord-Siid-Konflikt unsere volle Aufmerksamkeit zu widmen. Sicher haben wir Probleme, aber sie sind klein im Vergleich zu den Sorgen und Nöten der Menschen in den Entwicklungsländern. Wir fühlen uns solidarisch mit den Menschen in der Dritten Welt und hoffen auf ein partnerschaftliches Miteinander. Zusammenfassend wird noch einmal die Beziehung zwischen den Kategorien ‘Redewiedergabe’ und ‘Reformulierung’ charakterisiert: Es ist unstrittig, daß Redewiedergaben den Kernbereich von ReformuHerungen bilden. Daneben gibt es aber Ausdrücke, denen die eindeutige explizite Markierung fehlt und die, obwohl sie zwar bis in die kleinste Struktureinheit ihrem Bezugsausdruck gleichen können, nicht als Redewiedergaben im definierten Sinne aufzufassen sind. Wohl aber sind sie als weiter oben eingeflihrte freie ReformuHerungen zu verstehen. Alle Redewiedergaben sind also ReformuHerungen, aber nicht alle ReformuHerungen Redewiedergaben. Die Zugehörigkeit zu einem der zwei Reformulierungstypen bzw. ihrer entsprechenden Subtypen sagt aber noch nichts darüber aus, in welchem Maß eine Reformulierung einen Bezugsaus- <?page no="85"?> Das Refonmilierungskonzept 85 druck originalgetreu präsentiert oder nicht und welche Effekte eine Wiederaufnahmehandlung erzielt. Dies wird im folgenden Kapitel ausführlich diskutiert und durch empirische Daten belegt. <?page no="86"?> 4. Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen auf der Satz-, Sequenz- und (Inter-)Textebene Im folgenden Kapitel werden Reformulierungsrelationen systematisch beschrieben, mit ihren Bezugsausdrücken bzw. anderen Reformulierungsvarianten verglichen und typische Reformulierungsvorgänge rekonstruiert. Zuerst erfolgt eine mikrostrukturelle Beschreibung, die die Satz- und Sequenzstruktur der Relationen zwischen Reformulierungs- und Bezugsobjekten erfaßt (4.1; 4.2). Die beiden in 3.5 definierten Reformulierungstypen ‘Redewiedergabe’ und ‘freie Wiedergabe’ mit ihren Subtypen ‘direkte Wiedergabe’ (wörtliche Zitierung) bzw. ‘indirekte Wiedergabe’ einerseits und ‘berichtende Wiedergabe’ bzw. ‘komprimierende Wiedergabe’ andererseits bilden dabei den Hintergrund für die Beschreibung. Die ausgewählten Beispiele können als prototypisch gelten und stammen zumeist aus den Reformulierungstexten T2 (Redeberichten); in einigen Fällen handelt es sich auch um Belege aus den den Redeberichten folgenden Kommentaren (T3). In 4.3 werden wesentliche Struktur- und Funktionsmerkmale der Wiedergabetypen noch einmal zusammengefaßt. Die Ausführungen sollen erstens konkretere Erkenntnisse vermitteln, durch welche sprachlichen Operationen Sprecher-, kontext- und diskursabhängige Modifikationen, Interpretationen gegebenfalls Uminterpretationen - und Bewertungen der Bezugsäußerungen auf der propositionalen und/ oder der funktionalen Ebene bei Reformulierungshandlungen entstehen. Es wird im Detail geklärt, inwieweit die reformulierte Entität eine originalgerechte Wiedergabe ist oder in welcher Art und Weise sich relevante Sp2-abhängige Veränderungen ergeben, ob es sich bei diesen Modifikationen und Interpretationen also um angemessene oder nicht-angemessene Verschiebungen (Uminterpretationen) handelt. 14 Es geht in diesem Kapitel zweitens um die Stützung der im 3. Kapitel formulierten Annahme: Durch die oft nur minimalen sprachlichen Modifikationen und Verschiebungen werden die drei wesentlichen Funktionen von Reformulierungen in verschiedenen Texten (Information, Interpretations- und Bewertungsangebot) oft parallel realisiert. 14 Lang unterscheidet wie gesagt zwischen den Formen der Wiedergabe, den wiedergegebenen Aspekten und Dimensionen der Wiedergabequalität. Letztere bedeutet für ihn vor allem „Fairneß" und „Transparenz". Er bezeichnet eine Wiedergabeäußerung als fair, wenn sie den propositionalen Inhalt und den Einstellungsrahmen der Originaläußerung zu rekonstmieren gestattet und die Bezugnahme auf den kommunikativen Sinn so formuliert ist, daß in der Wiedergabe die Intention des Originalsprechers von der des Wiedergebenden unterscheidbar ist. Transparent ist in seinen Augen eine Wiedergabeäußerung, aus der die sprachliche Struktur der Originaläußerung rekonstruierbar ist (Langl983, S. 318). <?page no="87"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 87 In einem ersten Schritt werden typische strukturelle und funktionale Eigenschaften der zwei Reformulierungstypen isoliert und klassifiziert. In einem zweiten Schritt können Schlußfolgerungen gezogen werden, ob bestimmte sprachliche Mittel überhaupt bevorzugt spezielle Funktionen realisieren und welche Konsequenzen die spezifische Verwendung allgemeiner sprachlicher Mittel für die Konstitution argumentativer Abfolgen in Reformulierungsausdrücken hat. Der Analyse liegt ein einheitliches Raster zugrunde, bei dessen Anwendung nicht in jedem Fall alle Struktur- und Funktionselemente von Reformulierungsrelationen herausgearbeitet werden: Es geht vielmehr um die Abweichungen, um die entstandenen Verschiebungen. Bei der Darstellung der Analyse werden nicht in jedem Fall alle sprachlichen Ebenen ausführlich beschrieben, sondern nur diejenigen, die tatsächlich relevante Veränderungen aufweisen. Es gibt auch einige Fälle, wo sich die Verschiebungen entweder auf der propositionalen oder auf der kommunikativen Ebene vollziehen. Dabei kann zum Teil auf vorhandene Erklärungsversuche für äquivalente bzw. nicht-äquivalente Ersetzungen zurückgegriffen werden, die zwar fast ausschließlich intratextuelle Phämone erfassen, sich aber durchaus auch auf Wiederaufnahmen zwischen Texten beziehen lassen (vgl. Agricola 1979; Viehweger u.a. 1977; van Dijk 1980; Gülich/ Kotschi 1987; Heinemann/ Viehweger 1991; Drescher 1992; Holthuis 1993). 15 Die Beschreibung erfolgt auf drei Ebenen: der Ebene der sprachlichen Ausdrucksform, der Ausdrucksstruktur also (vgl. Brinker 1992, S. 23), der propositionalen Ebene, wobei Proposition u.a. im Sinne von Brinker als vom Satz ausgedrückter Sachverhalt verstanden wird (vgl. Brinker 1992, S. 25) und der kommunikativ-diskursiven Ebene. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: - Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Gibt es Veränderungen an der sprachlichen Oberfläche in der grammatischen Struktur der Reformulierungsäußerung im Vergleich zu ihrer Bezugsäußerung; und wenn ja, von welcher Art sind sie? 15 Das Analyseraster folgt jenen Ansätzen, die versucht haben, eine Systematik in die Erfassung verschiedener Beschreibungsebenen für Äußerungen und Texte zu bringen (vgl. zahlreiche Arbeiten der Reihe „Sprache und Pragmatik“, hg. v. Inger Rosengren, Lund). 16 Unter Bezugnahme auf die Searlesche Unterscheidung zwischen illokutiver Rolle und propositionalem Gehalt einer Äußerung venveist Brinker darauf, daß Sätze als komplexe sprachliche Zeichen auch eine Inhaltsseite hätten, die sich vor allem auf die Satzbedeutung im engeren Sinne bezögen. Diesen vorn Satz ausgedrückten Sachverhalt nennt er Proposition (Brinker 1992, S. 25). <?page no="88"?> 88 Refonmilierungen s(RA) = s(BA) oder s(RA) ^ s(BA) Wenn s(RA) ^ s(BA): z.B. lexikalisch-semantisch: - Hinzufugung, Tilgung und Ersetzung lexikalischer Einheiten und Fügungen syntaktisch: unterschiedliche Kombination einzelner Satzteile - Umwandlung/ Veränderung der internen Satzstruktur (z.B. Hauptsatz in Nebensatz und umgekehrt; koordinierende in subordinierende Struktur und umgekehrt; Nominalin Verbalphrase und umgekehrt etc.) - Propositionale Ebene: Führen diese Veränderungen zu propositionalen Verschiebungen, und wenn ja, sind sie sinnvariierend, sinnverändemd oder entsteht ein vollkommen neuer Sinn? p(RA) = p(BA) oder p(RA) * p(BA) Wenn p(RA) * p(BA): z.B. satzinterner Sinn: - Expansion, Reduktion bzw. bloße Variation Sequenzstruktur: interpropositionale Relationen (z.B. konzessive vs. kausale Relation) - Kommunikativ-diskursive Ebene: Hier sollen zwei Fragen gestellt und im Rahmen des Möglichen beantwortet werden: Führen diese Veränderungen erstens zu funktionalen Verschiebungen im Satz, in der Sequenz und im Text und wenn ja, sind diese angemessen oder entsteht eine völlig neue funktionale Zuschreibung? f(RA) = RBA) oder f(RA) * RBA) Wenn RRA) * f(BA) z.B.: - Veränderung der illokutiven Funktion (vgl. auch Sprechaktberichte Weigand 1984) - Veränderung des Adressatenbezugs (z.B. Mehrfachadressierung) - Veränderung der mit p verbundenen Bewertungen Die zweite Frage bezieht sich auf einen globaleren diskursiven Zusammenhang: Wie ordnen sich relevante Interpretationen und Bewertungen in die damalige Diskurswelt der Wende ein? Aus dem empirischen Material sind wie gesagt prototypische Fälle für die Reformulierungstypen ausgewählt worden, die das Spektrum aller möglichen <?page no="89"?> Eine analytische Beschreibung von RefonnuHerungsrelationen 89 Varianten von Kombinationen und Einbettungen umfassen. Zuerst wird der Versuch unternommen, die elementare Wiedergabestruktur des Reformulierungsausdrucks bzw. der Reformulierungssequenz zu beschreiben, was zum Teil ohne die Einbeziehung des Bezugsausdrucks/ der Bezugssequenz möglich ist, zum Teil jedoch auch nicht. Um nämlich zu entscheiden, ob es sich bei diesen Reformulierungen auch um Sp2-beeinflußte Wiedergaben handelt und inwieweit die Originaltextwelt in der Wiedergabe fortlebt, ist es in der Regel unumgänglich, das unmittelbare textuelle Umfeld des Reformulierungsausdrucks zu betrachten und mit den jeweiligen sequentiellen und textuellen Einbettungen des Bezugsausdrucks im Bezugstext bzw. in bestimmten Fällen auch mit parallelen Reformulierungsvarianten in mehreren Texten zu vergleichen. Das bedeutet, daß in vielen Fällen in einem ersten Schritt ein elementarer Ausdrucksvergleich nach dem eben entwickelten Raster vorgenommen wird und anschließend ein Vergleich der Sequenzstrukturen. Die Analyse dieser Sequenzstrukturen bringt oft erst den wirklichen Aufschluß darüber, inwieweit argumentative Zusammenhänge transportiert, verändert oder gar neu konstruiert worden sind. Bei der Darstellung der Analyse werden nicht in jedem Fall alle sprachlichen Ebenen ausführlich beschrieben, sondern nur diejenigen, die tatsächlich relevante Veränderungen aufweisen. Es gibt auch einige Fälle, wo sich die Verschiebungen entweder auf der propositionalen oder auf der kommunikativen Ebene vollziehen. Um die zum Teil sehr komplexen Vernetzungen überhaupt verstehen zu können, ist es sinnvoll, der Analyse den Wortlaut der ausgewählten Beispiele in ihrer einbettenden Sequenz voranzustellen. Bei der Beschreibung werden dann aus dieser Sequenz jedoch die einzelnen Elemente herausgelöst und analysiert. Die Frage, nach welchen Kriterien eine Sequenzierung überhaupt vorgenommen werden kann, ist hier aufgrund der Textsorte ‘Regierungserklärung’ recht unproblematisch zu beantworten. Solche Reden referieren ja auf verschiedene Themen und Sachverhalte und sind deswegen ziemlich klar strukturiert. Es lassen sich sowohl im Bezugstext als auch in den Reformulierungstexten deutlich abgrenzbare Sinnzusammenhänge isolieren. Sowohl diese sequentiellen Einbettungen als auch die satzinternen und -externen Redekennzeichnungen werden im Unterschied zu früheren Klassifizierungen in der Linguistik unter Anwendung des im dritten Kapitel entwickelten Kategorieninventars für die Satz- und Sequenzebene (Reformulierungsausdruck RA, Bezugsausdruck BA, Neu produzierter Ausdruck NA, Kontextausdruck KA bzw. Reformulierungssequenz RS, Bezugssequenz BS) und die Einheitenebene unterhalb der Satzebene (Reformulierungseinheit REI, Bezugseinheit BEI, Neu produzierte Einheit NEI, Kontexteinheit KEI) analysiert und beschrieben (vgl. 3.1.2). Deshalb seien nochmals alle für die Analyse notwendigen Kategorien zusammgefaßt: <?page no="90"?> 90 Refonnuherungen Reformulierungsausdruck (RA), Ausdruck, der Bezugseinheiten wiedergibt Reformulierungseinheit (REI), nichtsatzwertige Einheit, die Bezugseinheiten wiedergibt Bezugsausdruck (BA), Ausdruck, der wiedergegeben wird Bezugseinheit (BEI), nichtsatzwertige Einheit, die wiedergegeben wird Neu produzierter Ausdruck (NA), Ausdruck in der Umgebung von RA, der nicht Bestandteil der Reformulierungsrelation ist Neu produzierte Einheit (NEI), nichtsatzwertige Einheit in Umgebung von RA/ REI, die nicht Bestandteil der Reformulierungsrelation ist Kontextausdruck (KA), Ausdruck in der Umgebung von BA, der nicht Bestandteil der Reformulierungsrelation ist Kontexteinheit (KEI), nichtsatzwertige Einheit in Umgebung von BA/ BEI, die nicht Bestandteil der Reformulierungsrelation ist Reformulierungssequenz (RS), einbettende Umgebung von RA Bezugssequenz (BS), einbettende Umgebung von BA Wiedergabetext(e) (T2-n), die einen bestimmten Anteil an TI-Sequenzen verschiedener Komplexität reproduzieren Reformulierungstext (T2), ein Wiedergabetext, der fast ausschließlich aus RA besteht Bezugstext (TI), Text, aus dem Sequenzen reproduziert werden Sprecher 2-n (Sp2-n), Sprecher, die Reformulierungsausdrücke produzieren Sprecher 1 (Spl), Sprecher, der Bezugsausdrücke produziert 4.1 Äußerungsvernetzungen über Redewiedergaben 4.1.1 Indirekte Wiedergaben Indirekte Wiedergaben sind das bevorzugte Reformulierungsverfahren in den hier im Mittelpunkt stehenden Texten schlechthin. Viele der zu beschreibenden strukturellen und funktionalen Spezifika indirekter Wiedergaben bilden darüber hinaus die Grundlage für die Analyse der anderen Wiedergabeformen. Es werden deshalb zuerst elementare Struktur- und Funktionseigenschaften solcher indirekten Reformulierungen diskutiert, um dann die Vernetzungen mit anderen Wiedergabetypen analysieren zu können. Gerade bei den unter 4.1.2 behandelten direkten Wiedergaben spielen indirekte Einbettungen eine zentrale Rolle. Unter indirekten Wiedergaben werden all jene Formen verstanden, die den propositionalen Gehalt eines Bezugsausdrucks in wesentlichen Teilen wiedergeben (ausdruckseitig jedoch nicht als direkte Zitierung) und auch entsprechend gekennzeichnet sind. Bei diesen Wiedergabeformen sind unter Beibehaltung der Grundstruktur des Bezugsausdrucks Modifikationen wie Paraphrasierungen, Reduzierungen, Erweiterungen usw. zulässig. Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden: indirekte konjunktivische bzw. indikativische <?page no="91"?> Eine analytische Beschreibung von Refornwlierungsrelationen 91 Wiedergaben mit expliziter Redekennzeichnung (RKZ) (vgl. 4.1.1.1) und indirekte konjunktivische Wiedergaben ohne RKZ (vgl. 4.1.1.2). Um bei diesem Reformulierungstyp von angemessener Wiedergabe sprechen zu können, müssen, wie gesagt, der propositionale Gehalt und der kommunikative Sinn der Bezugsäußerungen in den Reformulierungsäußerungen rekonstruierbar sein. An der sprachlichen Oberfläche allerdings sind bei diesem Reformulierungstyp durchaus Veränderungen zugelassen: s(RA) * s(BA) P(RA) = P(BA) f(RA) = f(BA) Sp2 präsentiert die Äußerung als Reformulierung, mit der er in wesentlichen Teilen das Original wiedergibt, wobei diese Wiedergabe nicht den absoluten Authentizitätsgrad erreichen muß wie direkte (wörtliche) Wiedergaben (vgl. hierzu auch Wunderlich 1972, Steube 1983, Dieckmann 1985). 4.1.1.1 Indirekte Wiedergaben mit expliziter Redekennzeichnung Diese Form der indirekten Wiedergabe ist besonders hinsichtlich der verschiedenen Redekennzeichnungsmöglichkeiten von Interesse. Zu Klassifizierungen von Redekennzeichnungen gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur (vgl. Kurz 1966, Jäger 1968, Wunderlich 1972, Kaufmann 1976, Hoppenkamps 1977, Gülich 1978, Gülich/ Kotschi 1987, v. Roncador 1988, Schank 1989). Es soll hier keine weitere Klassifizierung hinzugefugt werden, vielmehr interessieren diese Redekennzeichnungen als effizientes Mittel der Interpretation und Bewertung eines wiedergegebenen Objektes (vgl. hierzu ‘Redesituierung’ bei Brünner 1991, S. 6). Schank vertritt in bezug auf die Redeerwähung zu Recht die Auffassung, daß Redeeinleitungen auch pragmatische Aufgaben erfüllten. Es läge auf der Hand, daß in die Wahl der Redeeinleitung eine interpretative Leistung von S2 (desjenigen Sprechers, der Rede wiedergibt; d.A.) mit eingeht (Schank 1989, S. 34). Indirekte Wiedergaben können durch unterschiedliche Redekennzeichnungen eingeleitet werden, wobei die verwendeten verba dicendi eine wesentliche Rolle spielen. 17 Die in ihrem Bewertungsgrad skalar vorkommenden redekennzeichnenden Verben sind zwar auch für Redemarkierungen der direkten Zitierung konstitutiv, gestalten sich aber bei der indirekten Wiedergabe un- 17 Auch hinsichtlich der verba dicendi existieren viele einschlägige Analysen und Untersuchungen (vgl. u.a. Winkler 1987, Weigand 1989, Hindelang 1994), so daß hier kein weiterer Klassifizierungsversuch hinzugefügt werden soll. Vielmehr werden sie bei den entsprechenden Fällen als wichtiges Mittel für (Um-)Interpretationen und Bewertung in Reformulierungen beschrieben. <?page no="92"?> 92 Refonnulierungen gleich variabler. In dem Maße, wie das eigene Bedeutungspotential der redekennzeichnenden Verben und der selbständige Status als Reformulierungseinheit zunehmen, sind auch eigene Sp2-Interpretationen und -bewertungen der Bezugsäußerung möglich. Reformulierungen in dieser indirekten und explizit gekennzeichneten Wiedergabeform weisen drei wesentliche Kombinationen von Redekennzeichnungen mit Reformulierungseinheiten und/ oder neu produzierten Einheiten auf: a) Spl-Benennung und/ oder redekennzeichnendes Verb und Reformulierungseinheit(en) b) Spl-Benennung und/ oder redekennzeichnendes Verb und sowohl Reformulierungseinheit(en) als auch von Sp2 neu produzierte Einheit(en) c) Spl-Benennung und/ oder redekennzeichnendes Verb und von Sp2 neu produzierte Einheiten Es wird nun überprüft, welche Konsequenzen diese verschiedenen Vorkommen und Verbindungen von Reformulierungseinheiten und von Sp2 neu produzierten Einheiten mit den RKZ für den Adäquatheitsgrad der Wiedergabe des Bezugsausdrucks im Reformulierungsausdruck haben. a) Redekennzeichnung und Reformulierungseinheiten Sprecher 2 kann Bezugsobjekte indirekt wiedergeben, indem er Sprecher 1 benennt, ein redekennzeichnendes Verb verwendet und Bezugseinheiten reformuliert, ohne neu produzierte Einheiten hinzuzufugen: (4/ 1) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 20.4.90: RS (FAZ,20,2) RA Ein Mediengesetz, das kartellrechtliche Bedingungen schaffe und eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen enthalten werde, stellte de Maiziere in Aussicht. BS (REG) BAI Die Ausarbeitung eines Mediengesetzes ist unter Berücksichtigung späterer Länderkompetenzen bald abzuschließen. [...] BA2 Angesichts des Konkurrenzdrucks bundesdeutscher Printmedien scheint es geboten, schnellstmöglich kartellrechtliche Bestimmungen zu erlassen. BA3 Ebenso dringend ist eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen. Diese indirekte konjunktivische Wiedergabe hat folgende Struktur: <?page no="93"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 93 Redekennzeichnung: Sp 1 = de Maiziere Verb = stellte in Aussicht Reformulierungseinheiten: Ein Mediengesetz, das kartellrechtliche Bedingungen schaffe und eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen enthalten werde RA2 nimmt Einheiten aus drei Bezugsausdrücken (BAI-3) wieder auf. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Diese indirekte Wiedergabe stellt eine Komprimierung dar: Alle relevanten lexikalischen Einheiten und Fügungen des RA2 kommen in der Bezugssequenz vor (Mediengesetz, kartellrechtliche Bedingungen, Gehührenregehmg für Rundfunk und Fernsehen). Es werden jedoch die meisten sinntragenden Teile der Bezugssequenz ausgelassen, die restlichen neu kombiniert und zu einem Satz verdichtet. Eine lexikalische Bezugseinheit wird durch eine andere ersetzt (aus kartellrechtlichen Bestimmungen werden kartellrechtliche Bedingungen). Ein wesentlicher sprachlicher Eingriff mit Konsequenzen für die propositionale Ebene ist dabei die Umwandlung einer koordinierenden Struktur der Bezugsäußerungsfolge in eine satzinteme subordinierende Struktur im Reformulierungsausdruck. Die reformulierten Einheiten (Mediengesetz, kartellrechtlich, Gebührenregelungfür Rundfunk und Fernsehen) stehen in jeweils eigenständigen Bezugsausdrücken (BA1-3), die nebengeordnete Formulierungen darstellen. Im Reformulierungsausdruck werden sie zu einer Hauptsatz-Nebensatz-Relation zusammengefügt (Ein Mediengesetz, das kartellrechtliche Bedingungen schaffe und eine Gebührenregelung enthalte). Propositionale Ebene. Ein Teil des propositionalen Gehalts des RA2 ist identisch mit propositionalen Elementen der BAI-3: Es gibt einen Sachverhalt SV1 ‘Mediengesetz’, einen Sachverhalt SV2 ‘kartellrechtliche Bestimmungen/ Bedingungen’, einen Sachverhalt SV3 ‘Gebührenregelung’. Die Unterschiede lassen sich folgendermaßen darstellen: Sp2 sagt, Spl stellte SV1 (Mediengesetz) in Aussicht, das SV2 (kartellrechtliche Bedingungen) schafft und SV3 (Gebührenregelung) enthält. Spl sagt, SV1 (Mediengesetz) wird ausgearbeitet und ist abzuschließen; SV2 (kartellrechtliche Bestimmungen) ist zu erlassen, SV3 (Gebührenregelung) ist dringend. Das stellt eine Sinnverschiebung insofern dar, als die Einheit Mediengesetz im Reformulierungsausdruck zum Subjekt für das Objekt Bedingungen und zum <?page no="94"?> 94 Reformulierungen Hyperonym (—> werde enthalten) für die Einheit Gebührenregelung wird (vgl. Viehweger 1977, S. 26Iff). Dies bedeutet, Sp2 expliziert die Abfolge in der Bezugssequenz zum einen als eine Subjekt-Objekt-Relation, zum anderen als Teil-Ganzes-Relation. Sp2 bezieht sich damit also vor allem auf die propositionalen Relationen der Bezugssequenz, indem er sie in seinem Sinne expliziert (vgl. zu solchen proportionalen Relationen vor allem van Dijk 1980, S. 27ff; Heinemann/ Viehweger 1991, S. 42ff). Die Entscheidung darüber, ob es sich bei der komprimierenden Wiedergabe der additiven interpropositionalen Struktur (Heinemann/ Viehweger 1991, S. 43) der BAl-BA2-BA3-Abfolge durch eine satzinterne propositionale RA-Struktur im eben beschriebenen Sinne um eine wirkliche Sinnveränderung handelt oder nur um eine spezifische Sinnexplikation, ist indes schwierig und ohne außerlinguistische Fakten nicht zu leisten. Die sprachliche Struktur der Bezugssequenz bietet mehrere Interpretationsvarianten an und ist nicht zuletzt durch das Fehlen verbalisierter logischer Verknüpfiingsmarker (z.B. von Konnektoren, Anaphern usw.) vage. Diese Vagheit wird im Reformulierungsausdruck aufgehoben: Sp2 entscheidet sich für eine Variante. Ein wenig mehr Aufschluß bringt nun die Betrachtung der fünktionalen Zusammenhänge. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 paraphrasiert die bereits in der Bezugssequenz enthaltene kommunikative Funktion der dringlichen Aufforderung mit einem redekennzeichnenden Verb, das eine Mitteilung (Ankündigung) darstellt. RA stellte in Aussicht BA2 BA3 BA4 ist bald abzuscheint es geboten dringend ist schließen zu erlassen Dadurch hat Sp2 den Charakter des Spl-Sprechaktes verändert. Wenn Sp2 sagt, Spl habe etwas in Aussicht gestellt, impliziert dies, daß Spl den angekündigten Sachverhalt schaffen will. In den Bezugsausdrücken formuliert Spl dagegen erst Forderungen nach Schaffüng dieser Sachverhalte, die wiedergegebene Äußerung erscheint im Reformulierungsausdruck fast beiläufig. Darüber hinaus wird der Spl-Sprechakt durch das Weglassen der relevanten Kontexteinheiten angesichts des Konkurrenzdrucks bundesdeutscher Medien zusätzlich neutralisiert. Sp2 sagt, daß Spl nicht angesichts massiver Gründe etwas fordert, sondern etwas in Aussicht stellt. <?page no="95"?> Eine analytische Beschreibung von RefonnuHerungsrelationen 95 De Maiziere nimmt hier auf die in 1.1 schon angedeutete Situation im Frühjahr und Sommer 1990 Bezug, als sich zahlreiche Medienunternehmen der Bundesrepublik bemühten, auf dem DDR-Markt Fuß zu fassen und vor allem die in der DDR existierende Presse zu übernehmen. Dabei versuchte man in hartem Konkurrenzkampf, sich die entscheidenden Marktanteile zu sichern. Über Nacht hatten fast alle DDR-Zeitungen um ihre materielle Existenz zu kämpfen und sahen sich diversen Kaufangeboten westdeutscher Zeitungsverlage gegenüber. Vor diesem Hintergrund sind die Prädikate in BAI, BA2 und BA3 als dringliche Aufforderung und nicht als einfache Mitteilungen (Ankündigungen) zu interpretieren. b) Redekennzeichnung und Reformulierungseinheit(en) und neu produzierte Einheit(en) Sprecher 2 benennt Sprecher 1 und fügt ein redekennzeichnendes Verb, Reformulierungseinheiten und neu produzierte Einheiten hinzu: (4/ 2) Aus dem Redebericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.4.90: RS (SDZ,20,1) RAI De Maiziere verlangte, daß die DDR-Wirtschafit für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen geschützt werde. RA2 Als Vorbild könne der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren dienen. BS (REG) BAI Bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems der Bundesrepublik ist darauf zu achten, daß in Übergangszeiten die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden. BA2 Wir denken hierbei an das Saarland-Modell. Die RAI—»BAl-Relation RAI De Maiziere verlangte, daß die DDR-Wirtschaft für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen geschützt werde. BAI Bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems der Bundesrepublik ist darauf zu achten, daß in Übergangszeiten die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden. Diese indirekte konjunktivische Wiedergabe beinhaltet folgende Elemente: <?page no="96"?> 96 Reformulierungen Redekennzeichnung: Spl = de Maiziere Verb = verlangte Reformulierungseinheiten: daß die DDR-Wirtschaft für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion geschützt werde Neu produzierte Einheiten: vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Das Verhältnis der zentralen Reformulierungseinheiten und ihrer jeweiligen Bezugseinheiten bzw. der Anteil der neu produzierten Einheiten lassen sich am besten in einer Tabelle darstellen. RAI BAI de Maiziere verlangte ist daraufzu achten DDR- Wirtschaft für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen in Übergangszeiten bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems geschützt werde die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden Zwei Bezugseinheiten bzw. Fügungen wurden hinzugefugt {DDR-Wirtschaft, vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen), die anderen Bezugseinheiten durch andere Reformulierungseinheiten ersetzt. Weiterhin präsentiert Sp2 in dieser Reformulierung einen von Spl passivisch formulierten Satz als aktivischen Satz (RAI: verlangte, daß etwas geschützt werde —> BAI: ist daraufzu achten, daß Regelungen getroffen werden). <?page no="97"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 97 Propositionale Ebene. Durch diese Ersetzungen entsteht eine Sinnkonkretisierung, d.h., nur eine Seite oder ein Ausschnitt einer mit einem allgemeinen Geltungsanspruch formulierten Aussage wird im Reformulierungsausdruck fokussiert, aspektualisiert. Die im Singular stehende Fügung für eine Übergangszeit ist eine auf einen konkreten Zeitpunkt bezogene Aussage, während ihre im Plural formulierte Bezugseinheit in Übergangszeiten eine generelle Aussage über solche Fälle impliziert. Man könnte diese Ersetzung auch als Verschiebung von einer allgemein temporalen zu einer konkret temporalen Fokussierung bezeichnen. Die nächste Ersetzung hat dagegen einen etwas anderen Charakter, jedoch mit gleichem ‘propositionalen Effekt’: Die Fügung in RAI nach der Wirtschafts- und Währungsunion drückt einen abgeschlossenen Prozeß aus; die Fügung im BAI bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems jedoch einen laufenden Prozeß. Die innere Logik dieser Ersetzung läßt sich nicht aus der eigentlichen Lexikonbedeutung erschließen. Vielmehr ist für die Interpretation dieser Ersetzung enzyklopädisches Wissen notwendig (vgl. u.a. Viehweger 1987, S. 332). Das bedeutet hier das Wissen darüber, daß eine Wirtschafts- und Währungsunion als eine erste wesentliche Maßnahme bei der Übernahme des anderen Wirtschafts- und Sozialrechtssystems geplant ist. Auch für diese Reformulierung ist wie in 4/ 1 die Aufhebung vager und mehrdeutiger Aussagen der Bezugsäußerung charakteristisch: Eine von mehreren im Bezugsausdruck angelegten Interpretationsmöglichkeiten wird expliziert. Kommunikativ-diskursive Ebene. Verschiebungen zeigen sich hier, wenn man die Verbalphrasen verlangte, daß etwas geschützt werde (RAI) und ist darauf zu achten, daß Regelungen getroffen werden (BAI) in ihrer kontextuellen Einbettung etwas genauer betrachtet. Hier liegt keine Explizierung einer kommunikativen Funktion im eigentlichen Sinne vor, vielmehr wird ein bereits im Bezugsausdruck lexikalisierter, indirekt ausgedrückter kommunikativer Sinn ist darauf zu achten (als Umschreibung für eine Aufforderung) im Reformulierungsausdruck mit verlangte (als explizit ausgedrückte Forderung) paraphrasiert. Beide Fügungen drücken also eine Aufforderung aus, allerdings mit Nuancen: Sp2 paraphrasiert den bereits lexikalisierten kommunikativen Sinn der Spl-Äußerung im Reformulierungsausdruck mit verlangen. Dies ist wohl eher ein Sprechakt dringlichen Wünschens. Spl formuliert dagegen durch die Verwendung des Verbes achten auf im Bezugsausdruck eine Aufgabe auf neutralere Weise. Das wird deutlich, wenn man die Wörterbucheinträge zum Verb auf etwas/ jemanden achten betrachtet. Im Wahrig heißt es: ,/ / . <...> auf etwas od. jmdn. ~ [...] Rücksicht nehmen, aufpassen, sich um etwas oder jmdn. kümmern (Wahrig 1986/ 1991, S. 137); im Paul: „achten [...] 1. die Aufmerksamkeit auf etw. richten [...]“ (Paul 1992, S. 17). Verstärkt wird diese Ausrichtung durch die Umwandlung der BA-Fügung daß Regelungen getroffen werden in die RA-Fügung daß jemand vor etwas geschützt wird. Die Forderung [Jemand soll vor etwas/ jemandem beschützt wer- <?page no="98"?> 98 Reformulierungen den] hat einen stärker bewertenden Charakter als die Mahnung [Jemand soll Regelungen treffen]. So entsteht der Eindruck, es handele sich um eine Spl- Bewertung, was durch die Verwendung des emotional wertenden Attributs übermächtig noch gestützt wird. Der Reformulierungsausdruck erscheint sozusagen als Sp2-Information über Spl-Evaluation von p, so als ob Sp2 über eine Spl-Evaluation informiere. Eigentlich ist es aber eine Spl-Evaluation von p. Sp2 bewertet einen Sachverhalt als schützenswert, sagt aber nicht: [„Ich (Sp2) halte einen SV für schützenswert, weil übermächtige Konkurrenz vorhanden ist“]. Die RA2—>BA2-Relation Die den beiden Ausdrücken RAI bzw. BAI jeweils folgenden Ausdrücke stehen in einem unmittelbaren Sinnzusammenhang. RA2 Als Vorbild könne der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren dienen. BA2 Wir denken hierbei an das Saarland-Modell. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. RA2 ist eine indirekte Wiedergabe in Form einer Expansion: Es werden mehrere neu produzierte Einheiten hinzugefugt. RA2 BA2 könne als Vorbild gelten denken an Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Saarland-Modell in denfünfziger Jahren - Propositionale Ebene. Die wesentliche Aussage des Bezugsausdrucks wird im Reformulierungsausdruck wiedergegeben. Gemeinsam ist die Annahme des Sachverhalts SV1 = ‘Beitritt des Saarlandes’ (RA: Beitritt des Saarlandes', BA: Saarland-Modell). Die Unterschiede lassen sich folgendermaßen beschreiben: 18 18 Bei der Darstellung des propositionalen Gehalts und der jeweiligen relationalen Verknüpfungen werden alle von der Autorin vorgenommenen analytischen Paraphrasierungen des propositionalen Gehalts bzw. des Inhalts in eckigen Klammem geschrieben, z.B.: [Jemand soll teilen] oder bei einer Abstrahierung z.B.: [Es gibt einen Sachverhalt X], Wenn es notwendig erscheint, werden die Originalbelege (kursiv) hinzugefugt. Um die argumentativen Verknüpfungen zu zeigen, werden die oft nicht verbalisierten <?page no="99"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 99 Sp2 sagt, Spl sagt, [SV1 kann als Vorbild dienen] Spl sagt, [Jemand (wir) denkt an SV1] Sp2 erweitert die Aussage jedoch um einige explikative Elemente ein konventionalisiertes Verfahren der Vermittlung von Hintergrundwissen in Zeitungstexten. Der Sinn des Sachverhalts Saarland-Modell wird paraphrasiert mit: Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Daß RA2 trotz adäquater Wiedergabe des propositionalen Gehalts Verschiebungen aufweist, die die in der RAl-BAl-Relation beschriebenen Veränderungen des Vagheitscharakters der Originaläußerung stützen, zeigt die funktionale Interpretation. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 ersetzt die neutrale Verbform denken an durch die stärker konnotierte Fügung als Vorbild dienen. Spl formuliert diese Aussage durchaus nicht so zugespitzt, sondern er erinnert eher an einen bereits praktizierten Fall. Damit wird wiederum eine Sp2-Evaluation als Sp2- Bericht über eine Spl-Evaluation dargestellt. Der Sequenzvergleich Um diese Aussage zu stützen, ist es notwendig, die gesamte einbettende Bezugssequenz zu betrachten: BS (REG) KAI So wie für Griechenland, Portugal oder Spanien mehljährige Übergangsregelungen zum Schutz ihrer eigenen Wirtschaft galten, werden wir vergleichbare Schutzmechanismen mit der Bundesregierung vereinbaren müssen. BAI Bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems der Bundesrepublik ist darauf zu achten, daß in Übergangszeiten die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden. BA2 Wir denken hierbei an das Saarland-Modell. KA2 Gleichzeitig sollten diskriminierende Wirtschafts- und Handelsbeschränkungen abgebaut werden. Der Ausdruck KAI im sequentiellen Vorfeld fungiert als interpretative Einordnung der dann folgenden BAI und BA2 und wird nicht reformuliert. Indem Sprecher 1 mit diesen Kontextausdrücken auf den Sachverhalt Bezug nimmt, daß schon für andere Länder ähnliche Regelungen getroffen wurden, kann der Schluß gezogen werden, daß er damit für die DDR in anderen Fällen durchaus schon praktizierte Sonderbestimmungen anmahnt. Darüber hinaus erscheint die DDR durch die Formulierung von Sprecher 1 Wir werden [...] vereinbaren müssen in der Bezugssequenz als (gleichberechtigter) Verhandlungspartner. Diese Aussage wird nicht wiedergegeben. Der Ausdruck KA2 im sequentiellogischen Operatoren explizit gemacht und in spitze Klammem gesetzt, also: [Jemand soll teilen <WEIL>...]. <?page no="100"?> 100 ReformuHerungen len Nachfeld des Bezugsausdrucks, der im Reformulierungsausdruck ebenso nicht wiederaufgenommen wird, bringt einen weiteren Aspekt des Problems zur Sprache: KA2 präsupponiert, daß es diskriminierende Wirtschafts- und Handelsbeschränkungen gegeben habe. Damit wird angedeutet, daß die Ursachen für die schlechte Wirtschaftslage und das Ungleichgewicht nicht nur in der DDR selbst zu suchen sind. Wenn Spl fordert, daß ein Sachverhalt verändert werden soll, muß er nach seiner Meinung existiert haben. Durch das Adjektiv diskriminierend bewertet Spl diesen Sachverhalt; diese Spl-Bewertung nimmt Sp2 ebenso wie die gesamte Aussage jedoch nicht wieder auf. Der Reformulierungsausdruck wird als Information über eine Spl-Information über p präsentiert, obwohl der Bezugsausdruck auch eine Bewertung von p enthält. Darüber hinaus enthält die Reformulierung auch eine bewertende Komponente, die wiederum im Bezugsausdruck nicht explizit vorhanden ist: Im RAI werden die NEI vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen hinzugefugt. Natürlich ist diese Interpretationsmöglichkeit in der Bezugssequenz angelegt. Spl macht sie jedoch nicht explizit. Dadurch hält er trotz der indirekten Kritik den kooperativen Charakter seiner Äußerung aufrecht. c) Redekennzeichnung und neu produzierte Einheiten Diesen Fall dürfte es eigentlich gar nicht geben, da er einen Widerspruch in sich darstellt. Signalisiert ein Sprecher durch die Redekennzeichnung und die konjunktivische Verbform, daß er jetzt den Inhalt einer anderen Äußerung wiedergibt, fugt dann aber nur von ihm neu produzierte Einheiten hinzu, so handelt es sich wohl um eine Art ‘Vortäuschung falscher Tatsachen’. Der Ausdruck erscheint wie von Spl so gesagt. Diese Fälle sind zwar eher die Ausnahme, kommen aber in bestimmten Zusammenhängen trotzdem vor. (4/ 3) Aus dem Kommentar des „Morgens“ vom 20.4.90: RS (DM/ K,20,3) RAI Vom inneren Frieden sprach er, der notwendig sei, um die Früchte der friedlichen Revolution nicht verderben zu lassen. RA2 Er sprach aber auch von der Notwendigkeit, daß die Regierung die Geschicke des Landes fest in die Hand nehmen, von den demokratisch legitimierten Befugnissen Gebrauch machen und die weithin herrschende Rechtlosigkeit beenden müsse. Redekennzeichnung (RAI): Spl = er Verb = sprach Redekennzeichnung (RA2): Spl = er Verb = sprach <?page no="101"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 101 Es gibt keine entsprechenden Bezugsausdrücke, auf die sich RAI und RA2 in ihrer Ganzheit beziehen könnten. Die Recherche nach allen wesentlichen lexikalischen Einheiten im Bezugstext hat entweder nicht einen einzigen Beleg gebracht oder die Existenz einiger Einheiten in ganz anderem Zusammenhang nachgewiesen: RA 1: innerer Friede innerer Friede BA (REG) In die deutsche Einheit wollen wir unsere Erfahrungen der Bedeutung eines inneren Friedens in der Gesellschaft einbringen. Früchte derfriedlichen Revolution kein Beleg Früchte BS (REG) Wir müssen diejenigen stützen, die zu den Schwachen der Gesellschaft gehören. Wir müssen sicherstellen, daß die Früchte der gemeinsamen Arbeit gerecht verteilt werden, und wir müssen dafür eintreten, daß der, der Lasten trägt, auch Entlastung bekommt. Gerade in einer Gesellschaft, in der sich das Spiel der freien Kräfte entfalten kann, ist es wichtig, daß die stärkste Kraft, also der Staat, sich zum Anwalt der Schwächeren macht. friedliche Revolution BS (REG) Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte. BS (REG) Ein Dank darf heute nicht fehlen. Das ist der Dank an die Kirchen. Ihr Verdienst ist es, Schutzraum fiir Andersdenkende und Anwalt für Rechtlose gewesen zu sein. Ihre Besonnenheit und ihr Festhalten an der Gewaltlosigkeit haben unserer Revolution die Friedfertigkeit bewahrt. RA2: Geschicke des Landes kein Beleg von demokratisch legitimierten Befugnissen Gebrauch machen kein Beleg demokratisch legitimiert BS (REG) Ausgehend davon, daß nach der Wahl demokratisch legitimierter Volksvertretungen auf der Ebene der Kreise, Städte und Gemeinden am 6. Mai 1990 die Bezirkstage die einzigen Vertretungskörperschaften sein werden [...], <?page no="102"?> 102 Reformulierungen Befugnisse BS (REG) Eine Verfassungsschutzbehörde auch dies ist eine Lehre der Vergangenheit darf keine polizeilichen bzw. strafprozessualen Befugnisse erhalten. Durch die Verwendung des Konjunktivs (RAI: ... der notwendig sei, RA2: [...] müsse) erscheinen RAI und RA2 jedoch so, als ob Spl sie geäußert habe. Eigentlich sind diese Reformulierungen jedoch freie (komprimierende) Wiedergaben, die hier eine resümierende Funktion haben (vgl. 3.5, 4.2). RA2 stellt dabei eine ‘verdeckte Bewertung’ dar: Sp2 behauptet, Spl sagt, [Es herrscht weithin Rechtlosigkeit], Da es dafür jedoch keinen expliziten Beleg gibt, ist diese Aussage eine Sp2-Bewertung, die Sp2 jedoch Spl zuschreibt. Spl thematisiert zwar Rechtsprinzipien in einem zu schaffenden Rechtsstaat, verzichtet aber auf eine explizite Bewertung des aktuellen Zustandes. Weitere Fälle von indirekten Wiedergaben mit Redekennzeichnungen werden in Verbindung mit direkten Wiedergaben (wörtlichen Zitierungen) behandelt (vgl. 4.1.2). 4.1.1.2 Indirekte konjunktivische Wiedergaben ohne explizite Redekennzeichnung In den uneingeleiteten Wiedergaben signalisiert Sp2 allein durch die konjunktivische Verbform, daß er sich auf bereits Geäußertes bezieht und dieses annähernd authentisch wiedergibt. Nun müßte eigentlich anzunehmen sein, daß der Sprecher bei derartigen Wiedergaben einen größeren Formulierungsspielraum besitzt als bei den indirekten mit Redekennzeichnung, da sowohl der Produzent der Bezugsäußerung (Spl) als auch der von Spl vollzogene Sprechakt nicht explizit gemacht werden müssen. Bei näherer Betrachtung dieser Wiedergabeform wird jedoch deutlich, daß Sprecher in diesem nicht-gekennzeichneten Fall viel stärker auf die Adäquatheit der wiedergegebenen Proposition festgelegt werden können. Während Sp2 im Fall der gekennzeichneten Wiedergabe u.a. durch die Wahl des redekennzeichnenden Verbs und damit verbundener Teilwiedergaben des propositionalen Gehalts des Bezugsausdrucks eine große Skala sprachlicher Mittel des ‘zulässigen’ Verändems des Bezugsausdrucks bis hin zu stark komprimierten und resümierenden Ausdrükken anwenden kann, sind diese sprachlichen Mittel bei nicht gekennzeichneten konjunktivischen Formen eher begrenzt. Bei uneingeleiteten indirekten Wiedergaben gibt es eigentlich nur zwei übergreifende Möglichkeiten der Einbettung, entweder sind Reformulierungseinheiten mit von Sp2 neu produzierten gekoppelt (a), oder eine Wiedergabe besteht allein aus Reformulierungseinheiten (b). In den Beispielen 4/ 1 - 4/ 3 ist bereits zu sehen, daß viele dieser indirekten Wiedergaben ohne Redekennzeichnungen mit indirekten Wiedergaben mit Redekennzeichnungen im sequentiellen Vorbzw. Nachfeld <?page no="103"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 103 unmittelbar verknüpft sind. Diese konjunktivischen Sätze selbst haben zwar keine explizite Sprecher- und Verb-Kennzeichnung. Durch ihre sequentiellen Einbettungen ist es dem Hörer der in der Regel keine isolierten Sätze rezipiert, sondern den Text im Zusammenhang jedoch auch bei diesen Sätzen möglich, sie dem Originalsprecher usw. zuzuordnen. Zumeist gibt es in solchen konjunktivischen Wiedergaben einen expliziten Verweis auf die Einbettungsumgebung, z.B. durch deiktische Ausdrücke (z.B. gleichzeitig, dabei). Für mögliche Bewertungen und Uminterpretationen scheint diese Form der satzextemen Kennzeichnung in besonderer Weise prädestiniert, da mit ihr auch andere Sinnzusammenhänge gestiftet werden können als im Original, ohne die lexiko-semantische Struktur (vgl. Holthuis 1993, S. 138) der Bezugsäußerungen wesentlich zu verändern. a) Reformulierungseinheiten und neu produzierte Einheiten Sp2 kann sprachliche Bezugsobjekte indirekt wiedergeben, indem er Bezugseinheiten reformuliert und neu produzierte Einheiten hinzufugt. Die Wiedergabe wird allein durch den verwendeten Konjunktiv signalisiert. Das ist im folgenden Beispiel beim Reformulierungsausdruck RA2 der Fall. Der für das Verständnis des Sinnzusammenhangs dieser Sequenz unabdingbare Reformulierungsausdruck RAI enthält wie eben beschrieben eine Redekennzeichnung, die dann auch RA2 zusätzlich einordnet. (4/ 4) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RS (FR,20,1) RAI Den Menschen in der DDR versprach er, das soziale Netz von Grund auf zu erneuern. RA2 So werde die Sozialversicherung aus dem Gewerkschaftsbund FDGB und der Staatlichen Versicherung hcrausgclöst. BS (REG) KAI Wir brauchen soziale Sicherungssysteme, die die Bürger als Arbeitslose, Kranke und Alte vor materieller Not schützen. KA2 Wir brauchen aber nicht den einen Wohltäter, ganz gleich, ob er FDGB oder anders heißt. KA3 Die zentralistische Verwaltung der Sozialversicherung beim FDGB entspricht nicht den Erfordernissen eines demokratischen Sozialstaates. BA 1 Eine Neuorganisation ist notwendig: - Die Sozialversicherung muß aus dem FDGB und der Staatlichen Versicherung herausgelöst werden; <?page no="104"?> 104 RefonnuHerungen Die RA2—»BAl-Relation RA2 So werde die Sozialversicherung aus dem Gewerkschaftsbund FDGB und der Staatlichen Versicherung herausgelöst. BAI Eine Neuorganisation ist notwendig: die Sozialversicherung muß aus dem FDGB und der Staatlichen Versicherung herausgelöst werden; Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Im Reformulierungsausdruck RA2 wird der erste Teilsatz des Bezugsausdrucks BAI (Eine Neuorganisation ist notwendig) vollständig getilgt, aus dem zweiten Teilsatz allerdings werden fast alle Einheiten des Bezugsausdrucks wiederaufgenommen. Nur zwei lexikalische Einheiten kommen als neu produzierte Einheiten hinzu: zum einen die lexikalische Einheit Gewerkschaftsbund, die als Spezifizierung des Kürzels FDGB dient, zum anderen die Konjunktion so, die den Status dieses Nebensatzes als anaphorische Spezifizierung des vorhergehenden Satzes anzeigt. Propositionale Ebene. Die Veränderungen der sprachlichen Ausdrucksform haben satzintern keine Auswirkungen auf den wiedergegebenen propositionalen Gehalt. Er bleibt in seinem Wesen auch in der Wiedergabe erhalten. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 sagt, Spl formuliert eine Mitteilung über eine beabsichtigte Handlung (so werde [...] herausgelöst). Spl formuliert jedoch eine Forderung, die Handlung durchzufuhren. Diese Verschiebungen allein würden wohl im Rahmen der Reformulierungskonventionen bleiben. Wirkliche Veränderungen ergeben sich dagegen bei der Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem RA2 und BA2 stehen. Die RAl/ RA2->BEI(KA)-Relation RAI Den Menschen in der DDR versprach er, das soziale Netz von Grund auf zu erneuern. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Mit der Konjunktion so verbindet Sp2 den Reformulierungsausdruck RA2, wie gesagt, mit einem Ausdruck (RAI), dessen Status zunächst vage ist. Er kann durchaus ein Reformulierungsausdruck sein, der nur eine freie Wiedergabe darstellt. In BAI und im unmittelbaren sequentiellen Umfeld finden sich jedoch höchstens zwei Einheiten, die als Bezugseinheiten fur RAI gelten könnten. Die Reformulierungseinheit soziales Netz könnte als Paraphrase der KAI-Fügung soziale Sicherungssysteme aufzufassen sein, das Verb erneuern in RAI als verbalisierte Form des Nomens Neuorganisation in BAI. Diese Bezugnahme ist aber keineswegs sicher belegbar. Mit Bestimmtheit ließe sich dies nur dann behaupten, wenn die relevanten Einheiten von RAI Netz, erneuern und von Grund auf auch im Bezugstext in diesem sequentiellen Umfeld nachweisbar wären. Sie kommen je- <?page no="105"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 105 doch in völlig anderen Kontexten im Bezugstext vor: die Reformulierungseinheit Netz in der Bezugsphrase in dem Spinnennetz der ehemaligen Staatssicherheit und im BA Die Regierung wird dafür Sorge tragen, Kultur- und Kunstschaffende in ein differenziertes Netz sozialer Maßnahmen einzubinden. Das Verb erneuern ist nur in einem Satz des Bezugstextes nachzuweisen: Bis zu seiner Verabschiedung schlagen wir der Volkskammer vor, das Mandat des Medienkontrollrates zu erneuern. Die Fügung von Grund auf ist keine Einheit des Bezugstextes. Damit stellt RAI eher eine freie komprimierende Wiedergabe dar. Der Sequenzvergleich Daß man obwohl eigentlich alle relevanten Einheiten der Reformulierungssequenz (vorrangig aus RA2) auch nachweisbar Referenzobjekte im Bezugstext haben dennoch von wirklichen Verschiebungen sowohl propositionaler als auch kommunikativer Art sprechen kann, wird erst deutlich, wenn man die Strukturen der Reformulierungssequenz und der Bezugssequenz miteinander vergleicht und sie mit den jeweiligen kommunikativen Funktionen konstrastiert. Die gesamte Folge von Kontextausdrücken der Bezugssequenz (KAI - KA3) ist getilgt. Dadurch erfolgt eine Reduktion der komplexen argumentativen Struktur der Bezugssequenz: In beiden Sequenzen (BS und RS) gibt es zwei identische Aussagen: [Etwas muß erneuert werden] <UND> [Die Sozialversicherung muß/ wird aus dem FDGB herausgelöst werden] Die Unterschiede lassen sich folgendermaßen formulieren: - Sp2 sagt, Spl hat [eine <generelle> Erneuerung des sozialen Netzes] versprochen <UND> [Eine Maßnahme dieser generellen Erneuerung ist die Herauslösung der Sozialversicherung aus dem FDGB] - Spl sagt, [Soziale Sicherheitssysteme sind <ZWAR> notwendig <ABER> nicht in der bisherigen Form, <DENN> sie <die bisherige Form> ist zentralistisch und <DAMIT> überholt] <DESHALB> [ist Neuorganisation notwendig; <EINE FORDERUNG» ist die Herauslösung der Sozialversicherung aus dem FDGB] Spl präsentiert diese (Auf-)Forderung als Schlußfolgerung aus seiner komplexen Argumentation, oder anders gesagt: Die vorhergehenden Aussagen bereiten diese Aufforderung vor. Weil Spl eine möglicherweise nicht unbedingt erwartbare - Forderung erhebt, braucht er diese argumentative Stützung. Hätte er nur etwas versprochen, wäre diese Stützung nicht unbedingt nötig gewesen. Auch im folgenden Beispiel wird die indirekte Wiedergabe in RA3 allein durch den Konjunktiv indiziert. Und auch hier gehen RA3 zwei andere Reformulie- <?page no="106"?> 106 RefonnuHerungen rungsausdrücke mit Redekennzeichnungen voraus (RAI und RA2), mit denen er eine Einheit bildet. (4/ 5) Aus dem Redebericht der „Welt“ vom 20.4.90: RS (DW,20,1) RAI In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Venvirklichung der deutschen Einheit. RA2 Er betonte: „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“ RA3 Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. BS (REG) BAI Das Ja zur Einheit ist gesprochen. BA2 Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. [...] BS (REG) KAI Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. KA2 Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität. Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. [..] BA3 Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Die RA3->BA3-Relation RA3 Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. BA3 Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Bis auf die Reformulierungseinheit Artikel 23 des Grundgesetzes sind fast alle anderen Satzteile des Reformulierungsausdrucks RA3 neu produzierte Einheiten (die beste Lösung sei, dabei, nach wie vor, der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik). Die RA3-Fügung Beitritt der DDR [...] kann als Paraphrase der BA3-Fügung Einheit über vertraglich zu vereinbarenden Weg und damit als Ersetzung einer Bezugseinheit durch eine Reformulierungseinheit aufgefaßt werden. <?page no="107"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 107 Propositionale Ebene. Diese Reformulierung wird als indirekte Wiedergabe präsentiert, da sie eine Redewiedergabestruktur aufweist. Sie hat jedoch, wie gesagt, einen hohen Anteil an vom Sp2 neu produzierten (interpretierenden) Ausdrücken. Das müßte eigentlich zu durch den Reformulierer beeinflußten interpretativen Verschiebungen führen. Es wird nicht der propositionale Gehalt eines konkreten Bezugsausdrucks wiederaufgenommen, sondern es wird auf Grundaussagen des Bezugstextes, die sich in mehreren Äußerungen und Sequenzen finden, referiert (vgl. kommunikativ-diskursive Interpretation). Und trotzdem scheint diese Reformulierung angemessener als andere, die sich detailgetreu ans Original halten. Das bedeutet, daß die Wiedergabeform noch nichts über die semantische Korrektheit einer Reformulierung aussagen muß. Dennoch gibt es auch zu diesem Beispiel etwas zu bemerken: Sp2 hält sich nicht an die Wiedergabekonvention, wenn er vorgibt, Spl hätte dies so gesagt. Sp2 macht also nicht klar, daß er einen oder mehrere Bezugsausdrücke frei wiedergibt und stark komprimiert. Die einzige Bezugnahme in RA3 auf Elemente von BA3 ist die Wiederaufnahme der Einheit Artikel 23 des Grundgesetzes. Hier liegt eine Sinnexpansion vor, indem diese Fügung im RA3 um einige explikative Elemente erweitert wird {Beitritt der DDR zur Bundesrepublik). Die von Sp2 neu produzierte Einheit die beste Lösung sei ist die Ersetzung einer ganzen argumentativen Abfolge in der Bezugssequenz. Dies bringt eine Reduktion auf eine rein pragmatische Zielsetzung mit sich, die damit der Differenziertheit der Bezugssequenz nicht voll entspricht. Kommunikativ-diskursive Ebene. Die kommunikativen Verschiebungen lassen sich sinnvoll nur unter Einbeziehung der jeweils mit RA bzw. BA verbundenen Ausdrücke beschreiben. Deshalb werden als nächstes die unmittelbar miteinander verknüpften Ausdrücke betrachtet. Die RA1/ RA2—>BAl/ BA2-ReIation RAI In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. RA2 Er betonte: „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.“ BAI Das Ja zur Einheit ist gesprochen. BA2 Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Die Reformulierungsausdrücke RAI und RA2, die RA3 unmittelbar vorausgehen und mit denen RA3 durch das Adverb dabei direkt verknüpft ist, beziehen sich auf eine andere Sequenz des Bezugstextes. RAI ist eine freie Wiedergabe mit einer Sprechaktexplikation. RA2 stellt eine direkte Wiedergabe (wörtliche Zitierung) von BA2 dar. Da Sp2 den Reformulierungsausdruck RAI frei (ohne Einsatz des Konjunktivs) formuliert, hält er sich im Gegensatz <?page no="108"?> 108 Reformuherungen zu seiner Formulierung in RA3 an die Wiedergabekonvention. Es ist aus der sprachlichen Struktur des RAI rekonstruierbar, daß der Sprecher nicht Teile des propositionalen Gehalts des Bezugsausdrucks reformuliert, sondern sich auf einer Metaebene über den Bezugstext und seinen Produzenten äußert und damit sprachliche Eingriffe umfassenderer Art vornimmt. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 referiert auf den Spl-Sprechakt, in dem er die BA2-Formulierung (haben mitzureden) als Forderung (erforderte) verbalisiert. Damit fokussiert er eine weniger neutrale Interpretationsvariante: - Sp2 sagt, Spl [fordert fiir jemanden (wir) ein, etwas zu tun (werden mitzureden haben)], wobei Mitspracherecht eine nominalisierte Paraphrase des Verbs mitzureden ist. Die Spl-Aussage könnte jedoch ebenso als Ankündigung interpretierbar sein: [Spl kündigte an, <künftig> etwas zu tun (werden mitzureden haben)]. Der Sequenzvergleich Propositionale Ebene. Die entscheidenden Verschiebungen ergeben sich wie auch in 4/ 4 -, wenn man die Verknüpfung der einzelnen Reformulierungsausdrücke miteinander betrachtet: Mit dem Adverb dabei wird RA3 ganz unmittelbar mit RAI und RA2 verknüpft und hat den Status einer Spezifierungsäußerung. Dadurch erscheint die Abfolge der Reformulierungsausdrücke als Wiedergabe der Bezugsargumentationsabfolge, wobei die argumentative Ausrichtung nicht eindeutig bestimmbar ist: Es ist nämlich nicht gesichert zu ermitteln, auf welches konkrete Objekt diese Anapher referiert. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder sie referiert auf die Fügung Weg zur deutschen Einheit oder auf die lexikalische Einheit Mitspracherecht oder auf die Fügung das Mitspracherecht auf dem Weg zur deutschen Einheit. Durch diese vage Referenz ergeben sich drei Möglichkeiten der Explizierung des Sinns dieser Sequenz. Generell ist für die Reformulierungssequenz festzuhalten: Sp2 trifft mit RAI eine Aussage, die er mit RA2 stützt. Diese Aussagen werden mit RA3 noch spezifiziert, also - Sp2 sagt in RAI, Spl [fordert Mitspracherecht bei der Schaffung der deutschen Einheit] - Sp2 sagt in RA2, <DENN> Spl betont: "[p]“ - Sp2 sagt in RA3, <WOBEI> Spl sagt, [die beste Lösung für das Mitspracherecht ist der Beitritt] <ODER> [die beste Lösung für den Weg zur deutschen Einheit ist der Beitritt] Der Vergleich mit der entsprechenden Bezugssequenz macht aber deutlich, daß Spl seinen Bezugsausdruck BA3 (Beide Anliegen, Tempo und Qualität lassen sich am besten [...] wenn wir Einheit [...] gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen) wiederum als eine argumentative Schlußfolgerung <?page no="109"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 109 präsentiert, die durch die Kontextausdrücke KAI und KA2 im Vorfeld stützend vorbereitet wird: - Spl sagt in KAI, [Jemand (wir) hat Auftrag, Einheit zu realisieren] <DABEI> [müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden (Tempo und Qualität)) <DESHALB> [muß Jemand (wir) Weg über Artikel 23 beschreiten] Diese argumentative Struktur wird in der Reformulierungssequenz nicht wiedergegeben. Die Explikation Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist noch aus einem anderen Grund von Interesse. Nach der gegebenen Rechtslage ist sie durchaus richtig; Artikel 23 des ehemaligen Grundgesetzes der Bundesrepublik besagt unter der Überschrift Geltungsbereich des Grundgesetzes: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern [...] und Württemberg-HohenzolIern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen. “ (vgl. Lauber 1983, S. 130) De Maiziere verwendet das Schlüsselwort Beitritt in seiner ganzen Rede jedoch nicht ein einziges Mal. Von zahlreichen Reformulierern wird es ihm aber gleichermaßen ‘untergeschoben’. Das Fehlen des Reizwortes jener Tage Beitritt in der Regierungserklärung scheint indes kein Zufall zu sein. Es hatte damals durchaus auch eine negative Konnotation für viele Ostdeutsche ähnlich wie die zeitweise im offiziellen Sprachgebrauch verwendete Bezeichnung für DDR als Beitrittsgebiet. De Maiziere vermeidet dieses Wort und stellt die Vereinigung beider deutschen Staaten als Akt zwischen gleichberechtigten Partnern dar. Ganz deutlich wird dies in den Kontextausdrücken KAI und KA2: In KAI betont er die europäische Komponente der deutschen Einheit, in KA2 mahnt er trotz des Gebots der Schnelligkeit des Vereinigungsprozesses Ausgewogenheit und Vernunft an. Diese Zwischentöne reflektiert der Reformulierer aber nicht. Der Sinn der Bezugssequenzen wird bei der Wiedergabe vor allem in RA3 auf eine rein pragmatische Äußerung reduziert (die beste Lösung sei). Damit erfahren eigentlich auch die beiden Aussagen in RAI und RA2 vor allem durch die nicht eindeutig bestimmbaren argumentativen Verknüpfungen eine Entwertung. Diese ‘pragmatische Reduzierung’ auf die unmittelbare Tagespolitik ist ein immer wieder zu beobachtender Effekt bei Reformulierungen im öffentlichen Diskurs. (4/ 6) Aus dem Redebericht der „tageszeitung“ vom 20.4.90: RS (TAZ,20,1) RAI „Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte“, erklärte de Maiziere. <?page no="110"?> 110 Refonnulierungen RA2 Gleichzeitig sei die Regierung dem Willen zur deutschen Einheit, wie er im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommen ist, verpflichtet. BS1 (REG) KAI Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. BAI Unsere Wähler haben diesem ihren politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. BA2 Dieser Wille verpflichtet uns. BS2 (REG) KA2 Eine entscheidende Kraft dieses Prozesses waren die neuen demokratischen Gruppen, in denen sich Menschen zusammenfanden, die die Fesseln der Vergangenheit sprengten. BA3 Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte. KA3 Das sollte in diesem Hause stets gegenwärtig und lebendig bleiben. Auch in diesem Beispiel ist die indirekte konjunktivische Wiedergabe in RA2 unmittelbar mit dem vorherigen Satz verknüpft und durch die direkte Wiedergabe in RAI satzextern gekennzeichnet. Die RA2—»BAl/ BA2-Relation RA2 Gleichzeitig sei die Regienmg dem Willen zur deutschen Einheit, wie er im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommen ist, verpflichtet. BAI Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. BA2 Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Mit der konjunktivischen Verbform sei wird der Reformulierungsausdruck RA2 als indirekte Wiedergabe markiert. RA2 ist allerdings eine Komprimierung aus Elementen von drei Bezugsausdrücken BA1-3 und demzufolge eigentlich eine freie Wiedergabe. Die Reformulierungseinheit Willen zur deutschen Einheit ersetzt zum einen die Bezugseinheit Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen will, wobei die Bezugseinheit Teil des deutschen Volkes weggelassen wird, und paraphrasiert den Teil des Bezugsausdrucks, der selbst eine Reformulierung darstellt, den Relativsatz das wieder zusammenwachsen will mit der Phrase Willen zur deutschen Einheit. Diese Äußerung de Maizieres reformuliert ihrerseits eine Äußerung aus einer anderen Kommunikationssituation, und zwar die schon erwähnte Äußerung Willy Brandts nach dem Fall der Mauer Jetzt wächst zusammen, M’as zusammengehört, ohne dies kenntlich zu machen (vgl. 2.2). Durch die Aufhebung der stilistischen Besonderheit des eigentlichen Bezugsausdrucks Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört ist diese Re- <?page no="111"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 111 formulierung einer Reformulierung in RA2 jedoch nicht mehr als solche identifizierbar. Die Reformulierungseinheit Willen zur deutschen Einheit ist zum anderen eine Wiederaufnahme der lexikalischen Einheit Willen in Verbindung mit dem Verb verpflichten (vgl. BA2 und BA3). Die Nominalphrase unsere Wähler wird nicht wiederaufgenommen, die Bezugsfiigung in den Wahlen vom 18. März 1990 wird zur lexikalischen Einheit Wahlergebnis kondensiert und die Aktiv- Konstruktion unsere Wähler haben Ausdruck verliehen in die Passiv- Konstruktion zum Ausdruck gekommen ist umgewandelt. Diese Eingriffe fuhren jedoch nicht zu wesentlichen Verschiebungen auf der propositionalen und kommunikativen Ebene, obwohl der Reformulierer, eine indirekte Wiedergabe vorgebend, eigentlich frei reformuliert. RAI ist eine wörtliche Zitierung von BA3 und in seiner internen Satzstruktur mit BA3 identisch. Die wirklich interessante interpretative Zuordnung erhält RA2 durch seine anaphorische Verknüpfung mit RAI. Der Sequenzvergleich Propositionale Ebene. Mit der koordinierenden Konjunktion gleichzeitig wird ein unmittelbarer Zusammenhang zum vorhergehenden Satz konstruiert: Sp2 sagt, Spl sagt pl. Gleichzeitig sagt Spl p2. Durch diese Nebenordnung einer direkten und indirekten Wiedergabe präsentiert Sp2 die Folge der Reformulierungssequenz so, als sei dies die Reihenfolge im Bezugstext. Sp2 stellt damit einen Zusammenhang zwischen zwei Äußerungen her, die im Bezugstext zwar in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen, jedoch in verschiedenen Sinnzusammenhängen stehen. Sp2 nimmt eine Nebenordnung zweier Bezugsaussagen vor und konstruiert dabei einen neuen Sinn, den man u.U. auch als Gegensatz interpretieren könnte, denn: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Trägern der friedlichen Revolution im Herbst 1989 gehört Platz in der Geschichte] - Spl sagt, [gleichzeitig ist Spl (meine Regierung) dem Volkswillen zur Einheit verpflichtet] Daraus könnte der Schluß gezogen werden, die Träger der friedlichen Revolution hätten nichts mit dem Willen zur deutschen Einheit zu tun. Im Bezugstext liegen jedoch zwei argumentativ voneinander unabhängige Verkettungen vor: <?page no="112"?> 112 ReformuUerungen a) BS (RAI) - Spl sagt, [entscheidende Kraft in der Wende waren demokratische Gruppen] <DESHALB> [verdienen sie einen Platz in der Geschichte] <DIES> [darf nicht vergessen werden] b) BS (RA2) - Spl sagt, [das Volk will die Einheit und hat dies in Wahlen dokumentiert] <DESHALB> [haben wir als Regierung die Verpflichtung, sie zu realisieren] Die unmittelbare Verknüpfung dieser eigentlich voneinander unabhängigen Aussagenkomplexe im Reformulierungstext stiftet zwischen ihnen einen neuen Zusammenhang, der u.a auch mit dem Medienhintergrund zu tun hat. In diesem Fall scheint es von einiger Bedeutung zu sein, daß der Reformulierer für die als ‘alternativ’ geltende „taz“ schreibt. Diese fühlt sich bekanntermaßen stärker als andere den im Bezugsausdruck genannten Trägern derfriedlichen Revolution verbunden und artikuliert das sehr explizit. Dafür gibt es im Korpus zahlreiche Belege. Der Reformulierer nutzt zwei im Bezugstext an ganz unterschiedlichen Stellen formulierte Aussagen, koppelt sie, um auf diese Weise eine eigene Bewertung mitzuliefern: [Der Wille zur deutschen Einheit ist nicht unbedingt im Sinne der Träger der friedlichen Revolution]. RAI ist zwar korrekt reformuliert, der Bezugsausdruck BA3 steht jedoch in einem anderen Kontext. Er stammt aus einem Textabschnitt, in dem de Maiziere sich mit einem Dank an die Sowjetunion - und speziell an Gorbatschow für die Impulse von Glasnost/ Perestroika wendet. Er versichert, daß sich die DDR ihrer historischen Schuld gegenüber der Sowjetunion bewußt und das Bestreben nach Einheit nicht als bedrohlich anzusehen sei. Dann folgt jener Bezugsausdruck BA3, verbunden mit der Mahnung (KA3), daß diese geschichtliche Rolle der Bürgerbewegungen in diesem Hause stets gegenwärtig und lebendig bleiben sollte. Auch die Bezugseinheit Willen zur Einheit steht in einem anderen Kontext. Neben diesen unmittelbar mit einer expliziten Redekennzeichnung im sequentiellen Umfeld verknüpften konjunktivischen Wiedergaben finden sich aber auch einige Fälle, in denen diesen nicht gekennzeichneten konjunktivischen Wiedergaben durchaus ein eigenständiger Status als hauptsächliche sinntragende Einheit zuzuordnen ist. (4/ 7) Aus dem Redebericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.4.90: RA (SDZ,20,1) Seine Regierung werde sich bemühen, die Räte der Bezirke nach den Kommunalwahlen zu reinen Verwaltungsorganen herabzustufen. <?page no="113"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 113 BA (REG) Im Interesse der Regierbarkeit des Landes werden wir darauf hinwirken, daß die Räte der Bezirke bis zur Länderbildung nur noch als Verwaltungsorgane, als Bindeglied im Sinne einer Auftragsverwaltung tätig werden. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Mehrere sprachliche Operationen sind zu konstatieren: Selektion, Hinzufiigung und Ersetzung. RA BA im Interesse der Regierbarkeit des Landes seine Regierung werde sich bemühen die Räte der Bezirke wir werden darauf hinwirken die Räte der Bezirke nach den Kommunalwahlen bis zur Länderbildung zu reinen Verwaltungsorganen nur noch als Verwaltungsorgane als Bindeglied im Sinne der Auftragsverwaltung herabzustufen tätig werden Der Reformulierungsausdruck ist eine komprimierte Wiedergabe des Bezugsausdrucks, wobei die Fügungen im Interesse der Regierbarkeit des Landes und als Bindeglied im Sinne der Auftragsverwaltung nicht wiederaufgenommen wurden. Die Fügung bis zur Länderbildung wird durch eine andere Fügung nach den Kommunalwahlen ersetzt. Die Partikel nur noch werden durch das Attribut rein und durch das Verb herabstufen paraphrasiert. herabstufen bildet gleichzeitig die Ersetzung von tätig sein. Propositionale Ebene. Das Auslassen von zwei Fügungen {im Interesse der Regierbarkeit des Landes und als Bindeglied im Sinne der Auftragsverwaltung) hat zwar keine Sinnveränderung zur Folge, fuhrt aber zur Reduktion eines kommunikativen ‘Nebensinns’, der indessen mehr auf der Sprechaktebene bzw. auf der diskursiven Ebene angesiedelt ist, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Eine erste Verschiebung ergibt sich durch die Ersetzung der temporalen Fügung nach den Kommunalwahlen durch die Fügung bis zur Länderbildung. Rein lexikalisch-semantisch wäre diese Ersetzung nicht rekonstruierbar und wenig plausibel. Sie basiert vielmehr auf von Sp2 nicht ex- <?page no="114"?> 114 RejbniiiiHerungen pliziertem, hier aber vorausgesetztem Wissen darüber, daß Kommunalwahlen und Länderbildung in einem (zeitlichen) Zusammenhang stehen: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Jemand soll nach einem Zeitpunkt zu etwas gemacht werden] - Spl sagt, [Jemand soll bis zu einem Zeitpunkt etwas tun] Es ergibt sich also zum einen eine temporale Verschiebung, zum anderen eine Verschiebung hinsichtlich der Agensrolle (vgl. kommunikativ-diskursive Ebene). Sp2 gibt das von Spl ausgedrückte Ziel (bis zum Ende eines Prozesses) als Beginn eines in Aussicht gestellten Ziels wieder. Dies ist ein Beispiel dafür, daß auch eine Verschiebung auf der propositionalen Ebene nicht unbedingt eine Uminterpretation zur Folge haben muß. Kommunikativ-diskursive Ebene. Der kommunikative Hauptsinn der Bezugsäußerung ist die Mitteilung über eine Handlungsabsicht. Die Formulierung seine Regierung werde sich bemühen herabzustufen stellt eine Sp2- Interpretation dieses Spl-Mitteilungsaktes dar. Sp2 präsentiert sie jedoch nicht als eigene Interpretation, sondern als Wiedergabe einer Spl-Bewertung. Durch den Konjunktiv erscheint auch das bewertende Verb herabstufen als von Spl so verwendet. Die konjunktivische Formulierung seine Regierung werde sich bemühen ist darüber hinaus eine Paraphrase von werde darauf hinwirken. Hier entsteht die Verschiebung dadurch, daß sich um etwas bemühen einen passiveren Charakter hat als auf etwas hinwirken. Damit erscheint der Bezugsausdruck in seiner Wiedergabe im Reformulierungsausdruck einerseits weniger nachdrücklich und weniger überzeugend, andererseits besitzt der Reformulierungsausdruck aber einen stärker bewertenden Charakter als der Bezugsausdruck. Diese Bezugsäußerung hat wie bereits erwähnt auch einen kommunikativen ‘Nebensinn’. De Maiziere teilt mit, daß seine Regierung beabsichtigt, den Räten der Bezirke ihre Entscheidungsbefugnisse fast gänzlich, aber eben nicht vollständig zu nehmen. Er versucht, diesen angestrebten Kompromiß zu begründen {im Interesse der Regierbarkeit des Landes). Damit geht er antizipierend auf den erwartbaren Einwand ein, die ehemaligen Regierenden würden damit weiter Macht ausüben können. Er formuliert sein Argument in fast appellativer Weise und bezieht sich damit indirekt auf die damals ziemlich chaotischen Zustände im öffentlichen Leben der DDR, zu einer Zeit, da die alten Strukturen nicht mehr existierten, die neuen jedoch noch nicht funktionierten. So kann man diese Äußerung auch als Mahnung zur Besonnenheit verstehen. Dieser Nebensinn wird im Reformulierungsausdruck nicht reflektiert. <?page no="115"?> Eine analytische Beschreibung von Refornwlierungsrelationen 115 b) nur Reformulierungseinheiten Sp2 kann Bezugsobjekte indirekt wiedergeben, indem er nur Bezugseinheiten reformuliert und die Wiedergabe allein durch den Konjunktiv explizit macht. (4/ 8) Aus dem Redebericht der „Welt“ vom 20.4.90: RA (DW,20,1) Die Zukunft eines geeinten Deutschlands liege in einem ungeteilten, friedlichen Europa. BA (REG) Unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten friedlichen Europa. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Die vorgenommene Hauptoperation ist eine syntaktische Transformation: Die Bezugseinheiten unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands werden zur Genitiv-Konstruktion die Zukunft eines geeinten Deutschlands umgewandelt. Propositionale Ebene. Sp2 formuliert einen von Spl perspektivisch ausgedrückten Sachverhalt Zukunft Hegt in der Einheit Deutschlands als bereits gegebenen Sachverhalt Zukunft eines geeinten Deutschlands. Der im Bezugsausdruck nebengeordnete Sachverhalt Zukunft in einem ungeteilten, friedlichen Europa wird im Reformulierungsausdruck dadurch besonders herausgehoben. Kommunikativ-diskursive Ebene. Es erfolgt ein Perspektivenwechsel, der mit dem Status der jeweiligen Sprecher zu tun hat. Spl spricht für die DDR- Bürger {unsere Zukunft), Sp2 für alle Deutschen {die Zukunft eines geeinten Deutschlands). Diese Veränderungen sind durchaus als propositionale und funktionale Verschiebungen aufzufassen, jedoch nicht als wirkliche Uminterpretation im strengen Sinne. Es liegt eher die spezifische Betonung eines Aspektes des Bezugsausdrucks vor, also eine Aspektualisierung einer von mehreren möglichen Lesarten. Ein komplexes Beispiel Anhand eines Reformulierungsbeispiels, das eine Schlüsselsequenz des Bezugstextes wiederaufnimmt und interpretiert, werden nun nochmals typische Reformulierungseflfekte bei der indirekten Wiedergabe im Zusammenhang dargestellt (vgl. auch Steyer 1994). <?page no="116"?> 116 Reformulierungen (4/ 9) Aus dem Kommentar der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RS (FR/ K,20,3) NAl Es ist zu spüren, wie der demokratisch legitimierte Regierungschef der DDR versucht, seinen Mitbürgern, die von Sozialangst und dem Gefühl der Unterlegenheit dem reichen Westen gegenüber gebeutelt werden, etwas von seinem Selbstbewußtsein abzugeben. RAI Sie sollten keine Angst vor den Maßnahmen haben, die notwendig sein werden, um die großen Schäden im Lande zu beheben. RA2 Sie hätten auch manches in ein künftiges Deutschland einzubringen: Diren Erfindungsreichtum, ihre Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, ihre Bereitschaft, zu arbeiten. NA2 Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert: RA3a daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien, b und beklagt die in der DDR grassierende AusländerfeindlichkeiL BS1 von RAI (REG) KAI In dieser Situation sind fortwirkendes Mißtrauen. Verdrossenheit und Ermattung vieler Mitbürger nur zu verständlich. BAI Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. KA2 Wir haben es nicht mit Problemen zu tun, die erst jetzt entstehen, sondern mit alten, verdeckten Wunden der Gesellschaft, die jetzt olfengelegt werden müssen, damit sie heilen können. BS2 von RA3a (REG) KA3 Wir geben uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung und der Übergang zu ihr keine politisch-ethischen Qualitäten mehr benötigen würden. Im Gegenteil! BA2 Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich envachscn werden müssen. KA4 Selbstbestimmt und aktiv. BS3 von RA2 und RA3b (REG) BA3 Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten. BA4 Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! KA5 Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. BA5 Not macht auch erfinderisch! KA6 Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben. BA6 Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. KA7 In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. BA7 Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. <?page no="117"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 117 KA8 Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. KA9 Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. In einem ersten Schritt erfolgt die Beschreibung der Reformulierungsausdrükke RA1-3 unabhängig von ihrem Vor- und Nachfeld in ihrer Relation zu den Bezugsausdrücken BA1-BA7. In einem zweiten Schritt sollen dann die Reformulierungsausdrücke in ihren sequentiellen Einbettungen mit denen der entsprechenden Bezugsausdrücke im Bezugstext verglichen werden. Die Reformulierungssequenz wird mit einem vom Reformulierer (Kommentator) neu produzierten Ausdruck NA1 explizit eingeleitet: NA1 Es ist zu spüren, wie der demokratisch legitimierte Regierungschef der DDR versucht, seinen Mitbürgern, die von Sozialangst und dem Gefühl der Unterlegenheit dem reichen Westen gegenüber gebeutelt werden, etwas von seinem Selbstbewußtsein abzugeben. Der Reformulierer unterbreitet ein Interpretationsangebot für die sich anschließenden indirekten Wiedergaben von Propositionen in den Reformulierungsausdrücken RAI und RA2. Inwieweit dieses Interpretationsangebot Auswirkungen auf den Sinn der gesamten Reformulierungssequenz hat, wird noch zu klären sein. Zuerst soll jedoch betrachtet werden, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen der Bezugsausdruck im Reformulierungsausdruck wiedergegeben wird. Die RAl-»BAl-ReIation RAI Sie sollten keine Angst vor den Maßnahmen haben, die notwendig sein werden, um die großen Schäden im Lande zu beheben. BAI Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Bei RAI handelt es sich um eine indirekte konjunktivische Wiedergabe; der NA1 füngiert auch als Redeeinleitung. Eine relevante Fügung Angst vor den Maßnahmen wird im RAI wiederaufgenommen, wobei die Verbalphrase Angst verbreiten durch Angst haben ersetzt wird. Weiterhin werden die lexikalischen Einheiten Maßnahme und notwendig wiedergegeben. Eine relevante Phrase von BAI aber unverantwortlich ist es entfällt. Propositionale Ebene. Ein Teil der Proposition des Bezugsausdrucks BAI wird auch im Reformulierungsausdruck RAI wiederaufgenommen, nämlich die Aussage: [Es gibt Schäden] <UND> [Es sind Maßnahmen notwendig, um Schäden zu überwinden] <UND> [Es gibt Angst] <?page no="118"?> 118 Refoniiulierungen Dennoch bestehen Unterschiede im propositionalen Gehalt. - Sp2 sagt, Spl sagt, [Angst zu haben, ist unberechtigt] - Spl sagt, [Angst zu verbreiten, ist unverantwortlich] Aus der Sp2-Aussage resultiert, Spl hat gesagt, [Es gibt einen Jemand, der Angst hat]; aus der Spl-Aussage resultiert, [Es gibt einen Jemand, der Angst verbreitet] Sp2 expliziert einen der möglichen Adressaten durch das Pronomen sie, das eine pronominale Wiederaufnahme des Objektes seine Mitbürger aus NA1 der Reformulierungssequenz darstellt. Er expliziert damit Adressaten, die Spl höchstens sekundär im Fokus hatte (die Mitbürger) und hebt auf diese Weise die Mehrfachadressierung auf. Er formuliert die Aussage so, als ob Sprecher 1 diese Adressaten (seine Mitbürger) direkt anspräche, ihnen Mut mache usw. Spl formuliert im BAI diesen Sachverhalt indirekter und läßt hingegen sowohl den bzw. die Adressaten als auch die näheren Umstände offen. Diese Mittelwahl des Nicht-Explizitmachens eines Adressatenkreises ermöglicht es ihm, seine Rezipienten anzusprechen, ohne sie direkt anzugreifen. Er legt sich auch nicht auf einen bestimmten Hörerkreis fest. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 sagt, Spl appelliere an Jemanden direkt, er solle keine Angst haben. Spl formuliert diesen Ausdruck dagegen als Feststellung mit indirektem Appellcharakter. Daß auch auf der funktionalen Ebene eine Verschiebung stattgefunden hat, macht ein Vergleich mit einer möglichen alternativen indirekten Wiedergabe deutlich, die in dieser Form im Text jedoch nicht zu finden ist. Sp2 hätte eben auch sagen können: —»Aber unverzeihlich sei, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die [...]<- Angefugt sei noch eine Bemerkung zum Gebrauch der lexikalischen Einheit Schaden. Sp2 fokussiert mit der adverbialen Konstruktion im Lande die materiellen Schäden, die konkreten Schäden, z.B. in der Wirtschaft. Spl benutzt sie dagegen vage; es wird nicht deutlich, auf welche Art von Schäden er sich bezieht. Analysiert man jedoch den gesamten Bezugstext, so stellt man fest, daß Spl neben den materiellen Schäden der Vergangenheit häufig auch ideelle meint. Die Mehrdeutigkeit wird in RAI also zugunsten konkreter Aussagen zurückgenommen. Die RA2-»BA3/ BA4/ BA5/ BA6-Relation RA2 Sie hätten auch manches in ein künftiges Deutschland einzubringen. Ihren Erflndungsreichtum, ihre Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, ihre Bereitschaft zu arbeiten. BA3 Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten. <?page no="119"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 119 BA4 Wir werden gefragt: Haben wir gar nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! [...] BA5 Not macht auch erfinderisch! [...] BA6 Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Bei RA2 handelt es sich um eine indirekte Wiedergabe mit einer resümierenden Ergänzung. Die Hinzufiigungen bzw. Tilgungen relevanter Einheiten lassen sich wiederum am übersichtlichsten in einer Tabelle darstellen: RA2 BS3 Land Menschen geschaffene Werte Fleiß Ausbildung Improvisationsgabe Not macht erfinderisch gemeinsame Erfahrungen mit Ländern Osteuropas Sensibilitätfür soziale Gerechtigkeit für Solidarität und Toleranz bittere und stolze Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand Identität Würde Bereitschaft zu arbeiten Erfindungsreichtum Sensibilitätfür soziale Gerechtigkeit Propositionale Ebene. In RA2 wird ein Teil von p des BA4 wiederaufgenommen: [Es gibt etwas, das in die deutsche Einheit einzubringen ist] Ein weiterer Teil von p des BA4 wird jedoch weggelassen, nämlich: [Es gibt jemanden, der fragt, ob ...] Aus der Tabelle wird ersichtlich, daß lediglich zwei „Qualitäten“ wiederaufgenommen wurden {Erfindungsreichtum-, Sensibilität)-, die dritte {Arbeitsbereit- <?page no="120"?> 120 Reformulierungen schaff) steht in dieser Bezugssequenz in einem anderen Zusammenhang. Sie ist im Originaltext als Versprechen formuliert, das einen nachfolgenden Appell an die Bundesbürger stützen soll (Seid solidarisch! ). In der Reformulierungssequenz wird sie jedoch von Sp2 in die argumentative Abfolge der oben erwähnten Reformulierungssequenz gestellt. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 transformiert die expressivrhetorische Frage-Antwort-Struktur des BA4 in eine indirekte Wiedergabe, ein an sich konventionalisiertes Verfahren der Redewiedergabe. Spl nutzt im BA4 dieses klassische stilistische Mittel einer Frage (fVir werden gefragt ...) jedoch, um eine selbstbewußte Antwort {Doch wir haben! ) zu formulieren. In RA2 erhält diese Aussage dagegen einen neutralen, eher beiläufigen Charakter, was durch die Einbettung im Nachfeld untermauert wird. 19 Die RA3a/ RA3b—»BA2/ BA7-ReIation NA2 Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert: RA3a daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien, RA3b und beklagt die in der DDR grassierende Ausländerfeindlichkeit. 19 Andere Belege für Reformulierungen dieses Kernabschnittes der Regierungserklärung weisen zum Teil ähnliche Tendenzen auf: FAZ, 20,1 Zugleich sepezißzierte er, was die DDR in die Vereinigung einbringe, darunter ein Land mit wirtschaßlichen Möglichkeiten, Menschen mit Ausbildung und Improvisationsgabe - „Not macht erfinderisch" - Sensibilität für soziale Gerechtigkeit und gewachsene Gemeinsamkeit mit Osteuropa. SDZ, 20,1 Sein Volk habe eine Menge nützlicher und neuer Eigenschaften und Erfahrungen in das geeinte Deutschland einzubringen. Durch die DDR rückten den Deutschen die Länder Osteuropas näher. Das Kapital der DDR-Bürger seien Fleiß und Improvisationsgabe, aber auch ihre Sensibilitätfür soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz. TAZ, 20, 1 Man habe aber „etwas einzubringen" in die Deutsche Einheit. TAZ, 21.4., S. 3 Auf die rhetorische Frage „Haben wir gar nichts einzubringen in die deutsche Einheit? “ antwortete er: „ IVir bringen unsere Sensibilitätfür soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz ein [...] Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. " FAZ, 20.4., S. 8: Auszüge aus der Regierungserklärung (Originalzitate) Wir werden gefragt: [...] Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht aufSelbstbestimmung [...] TS, 20,8 vollständige Wiedergabe im Abdruck von Originalauszügen. Offen muß bleiben, inwieweit diese Originalauszüge tatsächlich noch differenziert wahrgenommen werden, nachdem auf den ersten Seiten Redeberichte, Kommentare und Statements veröffentlicht sind und das Bild vom Bezugstext vorprägen. Die damaligen Ost- Zeitungen reformulieren diesen Textabschnitt in keiner Weise differenzierter, im Gegenteil. Die meisten nehmen diese Passsage in ihren Redeberichten und Kommentaren überhaupt nicht auf. <?page no="121"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 121 BA2 Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich envachsen werden müssen. BA7 Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. Zwischen RA2 und RA3a/ RA3b hat der Reformulierer einen weiteren neu produzierten Ausdruck (NA2) eingefugt, der den folgenden Reformulierungsausdruck nun sehr explizit interpretiert und bewertet. Dazu werden im nächsten Analyseschritt noch detaillierte Aussagen zu treffen sein. Zunächst soll es um den Nebensatz in RA3a gehen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Relevante lexikalische BA2- Einheiten Bevormundung und gewöhnen wurden wiederaufgenommen. Zum propositionalen Gehalt. Auch hier wird ein Teil der p von BA2 wiederaufgegriffen: [Es gab Bereiche der Bevormundung] <UND> [Jemand hatte sich daran gewöhnt] Es gibt aber auch Unterschiede: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Jemand hat sich zu sehr an Bevormundung gewöhnt] - Spl sagt, [Es gab Bereiche, wo sich jemand an Bevormundung gewöhnt hatte] Es erfolgt also eine Generalisierung der Aussage von BA2. Darüber hinaus gibt Sp2 die entsprechende Spl-Schlußfolgerung - <WEIL> [dieser Zustand in manchen Bereichen zu konstatieren ist, muß Jemand etwas tun] nicht wieder. Kommunikativ-diskursive Ebene. Im Reformulierungsausdruck wird das Subjekt des Bezugssatzes (BA2) verändert. Spl formuliert eine Aufforderung zum gemeinsamen Handeln. Spl benutzt dafür das integrierende wir, bezieht sich also in diese Aufforderung mit ein. Sp2 integriert Spl nicht, sondern sagt, Spl habe eine Kritik formuliert, er sage seinen Adressaten, daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien. Nun ist die Aufspaltung dieses für eine Politikerrede nicht untypischen integrierenden Pronomens wir durch den Reformulierer eigentlich ein normaler und häufig anzutreffender Reformulierungsvorgang. Bei einer solchen Wiedergabe hebt der Reformulierer Spl in besonderer Weise hervor und schreibt ihm eine aktive Rolle zu. Durch die Redeeinleitung er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert kommt jedoch eine bewertende Komponente ins Spiel. Eine konstruierte alternative Variante eines RA von BA3a soll verdeutlichen, daß eine andere (adäquatere) Reformulierung möglich gewesen wäre (wobei die Parenthese fakultativ ist): —»Dort, wo sich die DDR-Bürger - (und er schließt sich da nicht aus) an Bevormundung gewöhnt hätten, müßten sie gesellschaftlich erwachsen werden.^- <?page no="122"?> 122 ReformuUerungen Der Nebensatz RA3b Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Der zweite Teil dieses Nebensatzes in RA3b und beklagt die in der DDR grassierende Ausländerfeindlichkeit ist keine indirekte Wiedergabe, da sie fast ausschließlich aus von Sp2 neu produzierten Ausdrücken besteht. Die einzige Einheit, die aufgegriffen wurde, ist die lexikalische Einheit Ausländerfeindlichkeit als Wiederaufnahme aus BA7. Zum propositionalen Gehalt. Der gemeinsame, wiederaufgenommene Teil von p(RA3b) und p(BA7) läßt sich folgendermaßen umschreiben: [Es gibt Tendenzen der Ausländerfeindlichkeit], Der Unterschied bei p ergibt sich durch die Hinzufugung der neuen lexikalischen Einheit grassierend: Es gibt erhebliche Tendenzen ... Dadurch wird die Aussage verstärkt, ja sogar bewertet. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 expliziert hier einen von ihm angenommenen Spl-Sprechakt: Er sagt, Spl beklagt einen Zustand. Spl formuliert diesen Satz dagegen mit Hilfe der Modalverben als dringlichen Appell, wobei er wiederum keinem expliziten Adressaten diese Tendenzen unterstellt. Sp2 nimmt den Appellcharakter zurück. Beklagen scheint nun keineswegs ein adäquates Sprechhandlungsverb zu sein; es geht Spl wohl eher darum, seine Mitbürger zum Handeln aufzufordern, als einen Zustand zu beklagen. Bereits der elementare Vergleich hat deutlich gemacht, wie trotz Wiederaufnahme entscheidender Strukturen der Bezugsausdrücke Sinnverschiebungen entstehen können. Diese werden wiederum noch deutlicher, wenn man die sequentielle Einbettung betrachtet, wobei zu fragen ist, inwieweit die Verknüpfungen in der Reformulierungssequenz der argumentativen Abfolge im Bezugstext entsprechen. Der Sequenzvergleich Die erste explizite Verknüpfung in der Reformulierungssequenz erfolgt zwischen Reformulierungsausdruck RAI und Reformulierungsausdruck RA2 durch die koordinierende Konjunktion auch im RA2. Da es sich um zwei indirekte Wiedergaben handelt, erscheint diese Abfolge der Reformulierungsausdrücke auch als Wiedergabe der Bezugsargumentationsabfolge, was in dieser Form jedoch nicht dem Originalkontext entspricht. Durch die Kombination der Aussage keine Angst vor Überwindung der Schäden mit auch manches einzubringen wird die Zurücknahme des selbstbewußten Charakters der Bezugssequenz zum Thema ‘Einbringen in die deutsche Einheit’ gestützt. Die zweite explizite Verknüpfung erfolgt mit dem NA2 Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert. Sp2 nimmt seine Einleitungssequenz NA1 wieder auf. Nicht zuletzt durch das durchgängige Prinzip der Gegenüberstellung <?page no="123"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 123 von Spl und seinen Adressaten (der Übergang vom ‘wir’ zum ‘ihr’ also) wird deutlich, daß Sp2 alle Reformulierungsausdrücke eigentlich als Stützargumente für seine eigene in NA1 formulierte These nutzt. Dabei stellt er die Reformulierungsausdrücke in ein und denselben argumentativen Zusammenhang, obwohl die entsprechenden Bezugsausdrücke (z.B. BA2 und BA7) eigentlich in ganz verschiedenen, voneinander unabhängigen argumentativen Kontexten im Bezugstext stehen. 4.1.2 Direkte Wiedergaben (wörtliches Zitieren) Nachdem prototypische Fälle indirekter Wiedergaben in Reformulierungstexten dargestellt wurden, ist es nun möglich, auf dieser Basis den zweiten Reformulierungstyp der direkten Wiedergabe (des wörtlichen Zitierens) zu diskutieren. Diese Zitierungen sind zwar nicht so häufig wie indirekte Formen anzutreffen, haben aber durchaus einen hervorgehobenen Status innerhalb reformulativer Strukturen. Ein schwieriges Problem wirft die Abgrenzung der direkten Wiedergaben von anderen Formen der Redewiedergabe auf. In der sprachwissenschaftlichen Fachliteratur werden dazu mehrere Vorschläge unterbreitet: Wunderlich sieht ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal in der Behandlung der deiktischen Ausdrücke. Im direkten Zitat müßten sich alle deiktischen Ausdrücke nach wie vor auf denjenigen Sprecher beziehen, dessen Äußerung zitiert wird, im indirekten jedoch auf den zitierenden Sprecher selbst, wobei dieser die ursprünglichen Ausdrücke entsprechend seiner Position zu transformieren habe (Wunderlich 1972, S. 164). Kaufmann versteht unter direkter Rede jene Form, bei der der referierende Sprecher S2 die Rede R in genau der Form anführe, in der sie der Sprecher S1 in der Sprechsituation 1 realisiert habe, wobei er diese Aussage selbst als „grammatische Idealisierung“ bezeichnet (Kaufmann 1976, S. 15). Andere Autoren stellen die explizite Kennzeichnung des Zitatcharakters durch graphische Zeichen in den Mittelpunkt eine auch in dieser Arbeit vertretene Auffassung (vgl. Definition von direkter Wiedergabe in 3.5). Demnach müssen direkte Wiedergaben immer explizit durch das Graphem Anführungszeichen — gekennzeichnet sein. Es genügt nicht, wenn im bloßen Vergleich mit dem Bezugsausdruck deutlich wird, daß es sich um eine identische Wiedergabe handelt. Im Sinne von Gülich (1978) kann das entscheidende Kriterium für eine direkte Wiedergabe demzufolge nur sein, ob Sp2 angibt, das Wiedergegebene sei ein wörtliches Zitat. 4.1.2.1 Satzformige direkte Wiedergaben Unter satzförmiger direkter Wiedergabe in Reformulierungsausdrücken soll die gekennzeichnete wörtliche Wiedergabe eines Bezugsausdrucks als eigen- <?page no="124"?> 124 Reforniulierungen ständiger Satz verstanden werden. Der Terminus ‘satzförmig’ bezeichnet in diesem Kontext jene Satzteilfolgen, die innerhalb der Anführungszeichen einen unabhängigen Satz bilden (vgl. auch v. Roncador 1988, S. 102f). Eine Äußerung von Spl wird in sich unverändert als ‘Zitierung’ im Reformulierungsausdruck wiedergegeben und als solche durch Redekennzeichnungsmerkmale wie Anführungszeichen und/ oder Doppelpunkt und zumeist durch verba dicendi markiert. RA (FR,20,1) Der CDU-Politiker sagte: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden.“ BA (REG) Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. In der Menge aller untersuchten Texte haben diese satzförmigen direkten Zitierungen von Bezugsausdrücken einen eher geringen Anteil. Dies ist unter anderem so zu begründen, daß eine solche satzförmige Zitierung im Prinzip eine hohe Verbindlichkeit besitzt. Sp2 legt sich dadurch fest, daß Spl diese Äußerung so und nicht anders gesagt hat. Der Reformulierungsausdruck verliert seine Vagheit und wird ‘einklagbar’. Andererseits bietet diese Wiedergabeform die Möglichkeit, den Authentizitätsgrad einer Reformulierungssequenz bzw. eines Reformulierungstextes zu erhöhen. Die Original-Textwelt lebt wenn man so will im wiedergebenden Text fort. 20 Nun ist festzustellen, daß alle Bezugsausdrücke, die als direkte satzförmige Zitate reformuliert werden, auch noch in indirekter, resümierender oder anderer Form in den Texten auffindbar sind, oft sogar in ein und demselben Text. Damit ist zu vermuten, daß diesen direkten Zitierungen neben der Funktion des authentischen Transfers des Inhalts und der Form der Originaläußerung noch andere Funktionen in der Argumentationsabfolge des jeweiligen Reformulierungstextes und der anderen wiedergebenden Texte zugeschrieben werden können. Wenn also ein Sprecher bei einer direkten Wiedergabe anzeigt, [„Hiermit übernehme ich wörtlich einen Bezugsausdruck“], ist zu fragen, ob es dabei überhaupt zu propositionalen und fünktionalen Verschiebungen kommen kann, die Uminterpretationen und Bewertungen im Sinne der Sp2- Argumentation ausdrücken, denn das unbestrittene Charakteristikum dieser satzförmigen Zitierungen ist ja gerade die vollständige Identität der wiedergegebenen Äußerungen mit ihren Bezugsäußerungen. Sprecher 2 sagt: [„So, wie ich diese Proposition ausdrücke, hat Sprecher 1 sie geäußert“]: 20 In den Grundregeln der journalistischen Arbeit für Associated Press (AP) wird die Bedeutung direkter Zitierungen so formuliert: „Zitate (Quotes) sind das Salz in der Suppe jeder Meldung. Die Verwendung der direkten Rede, besonders bei wichtigen oder kontroversen Aussagen, ist außerordentlich wichtig. Zitate verleihen jeder Meldung und jedem Korrespondentenbericht größere Authentizität, dem Leser oder Hörer vermitteln sie das Gefühl des ‘Dabeigewesensein’. (Frohner 1994, S. 73) <?page no="125"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 125 s(RA) = s(BA) P(RA) = p(BA) f(RA) = f(BA) Ist dies nicht der Fall, ist also p(RA) nicht gleich p(BA), so handelt es sich entweder um einen Irrtum oder um eine Fälschung und ist deshalb in diesem Kontext nicht von Interesse. Das Bild wird jedoch differenzierter, wenn man die unmittelbaren sequentiellen Einbettungen der jeweiligen Zitierungen und ihrer entsprechenden Originaleinbettungen betrachtet. In den Reformulierungstexten sind nämlich trotz der prinzipiellen Übereinstimmung der Zitate teilweise erhebliche propositionale und funktionale Unterschiede zwischen der ‘Umgebung’ von p im Bezugsausdruck und der ‘Umgebung’ von p im Reformulierungsausdruck zu konstatieren. Diese unterschiedlichen Einbettungen, die entweder der satzförmigen Wiedergabe vorgelagert sind oder aber ihr folgen, können auch Bewertungen und (Um-)Interpretationen für das eigentlich ‘objektive’ Zitat mit sich bringen. Durch derartige Einbettungen, die unter anderem auch Redekennzeichnungen sein können, bieten die Sprecher eine mögliche Einordnung des wörtlichen Zitats. Aufgrund ihres Status, die Einordnungsinstanz für die Rezeption einer wörtlichen Zitierung bzw. das sprachliche Mittel zu sein, mit dem der Reformulierer seine Bewertung und Interpretation mit dem zitierten Satz koppeln kann, werden die satzintemen Einbettungen (Redekennzeichnungen) bzw. die sequentiellen Einbettungen hier besonders genau zu betrachten sein. Es wird sich zeigen, daß diese Einbettungsausdrücke sehr oft selbst Reformulierungen sind, z.B. indirekte Wiedergaben, und eine Beschreibung von direkten Wiedergaben in ihren Sequenzen nicht ohne die Einbeziehung von Erkenntnissen über die anderen Wiedergabeformen zu leisten ist. Bei den Beispielen 4/ 10-4/ 18 handelt es sich um typische Belege aus den Texten T2-n, in denen ein wörtliches Zitat eingeleitet wird, zumeist durch Doppelpunkt. In einigen Fällen füngieren diese Redekennzeichnungen bzw. Einbettungsausdrücke als Rahmen für die wörtlichen Wiedergaben, in anderen markieren sie die wörtlichen Wiedergaben im unmittelbaren Nachfeld, wobei sie einen großen Variantenreichtum aufweisen, von der einfachen Kennzeichnung des Sprechers bis zu komplexen eigenständigen Sätzen, die selbst schon Reformulierungsausdrücke enthalten. Bei einer textuellen Sicht auf Reformulierungen lassen sich also Kennzeichnungen direkter Rede nicht auf satzinteme Redekennzeichnungen reduzieren, es können eben auch sehr komplexe Einbettungsmuster zur Markierung und Einordnung dienen. Solche Einbettungsmuster für wörtliche Zitate sind u.a.: a) Benennung des Originalsprechers Spl b) Spl-Benennung + redekennzeichnendes Verb c) Reformulierungseinheit(en) <?page no="126"?> 126 Reformulierungen d) neu produziert(e) Einheit(en) e) Spl-Benennung + redekennzeichnendes Verb + Reformulierungseinheit(en) f) Spl-Benennung + redekennzeichnendes Verb + von Sp2 neu produzierte Einheit(en) g) Spl-Benennung + redekennzeichnendes Verb + Reformulierungseinheit(en) + neu produzierte Einheit(en) a) Benennung des Originalsprechers Spl Sp2 benennt lediglich den Originalsprecher. (4/ 10) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RA (FR,20,1) De Maiziere: „Was in den Ländern vor sich geht, einschließlich der Wahl der Landeshauptstadt, bestimmt dann jedes Land selbst.“ BA (REG) Was in den Ländern vor sich geht, einschließlich der Wahl der Landeshauptstadt, bestimmt dann jedes Land selbst. Redekennzeichnung: Spl = de Maiziere b) Spl-Benennung + redekennzeichnendes Verb Sp2 benennt in einer Redekennzeichnung den Originalsprecher und fugt ein entsprechendes Verb hinzu. (4/ 11) Aus dem Redebericht der „tageszeitung“ vom 20.4.90: RA (TAZ,20,1) „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“, versprach der Ministerpräsident. BA (REG) Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Redekennzeichnung: Spl = der Ministerpräsident Verb = versprach <?page no="127"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 127 Bereits bei dieser einfachen Redekennzeichnungsform gibt es eine große Variationsbreite an möglichen Explizierungen der von Sp 1 vollzogenen Sprechakte. Ob de Maiziere p sagte oder ob er p versprach, ist nicht dasselbe. Mit dem Verb versprechen (Wahrig 1986/ 1991: „[...] = zusichern, [...], hoffen lassen, erwarten lassen“, S. 1375) schreibt Sp2 Spl eine höhere Verantwortung zu als das bei sagen der Fall ist. Diese Explizierung eines von Spl vollzogenen Sprechaktes (Versprechen) ist auch dahingehend aufschlußreich, daß die Bezugsäußerung mehrere Möglichkeiten zuläßt, von denen der Reformulierer eine ausgewählt hat. Solche klassischen Redekennzeichnungen wie in 4/ 10 und 4/ 11 sind zumeist noch einigermaßen durchschaubare einbettende Konstruktionen, die vor allem dem Zweck der Markierung von wörtlicher Rede dienen. In den folgenden Fällen (und die kommen häufiger vor) sind die einbettenden Ausdrücke selbst eine Komprimierung mehrerer Reformulierungseinheiten bzw. neu produzierter Einheiten aus verschiedenen Segmenten des Bezugstextes. Sie fungieren ebenfalls als Redekennzeichnung und bereiten das Zitat oft auch schon interpretierend vor. c) Nur Reformulierungseinheiten Sp2 kann einen Reformulierungsausdruck, der nur aus Reformulierungseinheiten besteht, als Einbettungsausdruck einsetzen. (4/ 12) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 20.4.90: RS (FAZ,20,1) RAI Er begann sie mit der Erinnerung an die Opfer des Faschismus, des Stalinismus und der Mauer: RA2 Die Menschen, die Widerstand geleistet haben, seien der Stolz des deutschen Volkes. RA3 Es sei nicht die PDS allein, welche in der DDR die Vergangenheit zu verantworten habe: RA4 „Es ist auch meine Partei.“ BS (REG) BAI Als freie Regierung und freies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus. KA1 Wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges. BA2 Wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus, an die Opfer des 17. Juni 1953 und an die Opfer der Mauer. KA2 Krieg und Nachkrieg, die Verflochtenheit unendlich vieler Menschen in Schuld und Sühne und wieder neue historische Schuld haben das Gesicht unseres Volkes gekennzeichnet. KA3 Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. <?page no="128"?> 128 Reformulierimgen BA3 Diese Menschen sind der Stolz, und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes. KA4 Die Menschen des Widerstandes erinnern uns an unsere Verantwortung für unsere Geschichte. BA4 Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangcnheit zu verantworten hat. BA5 Auch meine Partei muß sie verantworten. KA5 Wir alle müssen sie verantworten. Redekennzeichnung: REI = Er begann sie mit der Erinnerung an die Opfer des Faschismus, des Stalinismus und der Mauer: Die Menschen, die Widerstand geleistet haben, seien der Stolz des deutschen Volkes. Die RA4—>BA5-Relation RA4 „Es ist auch meine Partei.“ BA5 Auch meine Partei muß sie verantworten. Die als wörtlich präsentierte Zitierung stellt sich beim Vergleich mit dem Bezugsausdruck als indirekte Wiedergabe heraus. Es wird die Wiedergabekonvention verletzt, da der Reformulierer eine indirekte Wiedergabe als Zitat präsentiert. Die Umwandlung allein hat jedoch keine Auswirkungen auf den propositionalen und funktionalen Sinn dieser Äußerung; die eigentlichen Verschiebungen ergeben sich erst durch die Einbettungen. Die RA3—»BA4-Relation RA3 Es sei nicht die PDS allein, welche in der DDR die Vergangenheit zu verantworten habe: BA4 Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Das als wörtlich präsentierte Zitat (RA4) wird durch einen Satz RA3 eingeleitet, der selbst die Reformulierung eines Bezugsausdrucks BA4 darstellt, was durch die konjunktivische indirekte Wiedergabe auch ohne Vergleich mit dem Bezugstext rekonstruierbar ist. Die indirekte Wiedergabe unterscheidet sich vom Original eigentlich nur durch einen minimalen sprachlichen Eingriff: Das Kompositum im Bezugsausdruck DDR- Vergangenheit wird aufgelöst, jedoch nicht folgerichtig zu Vergangenheit der DDR, sondern zu Vergangenheit in der DDR. Durch eine syntaktische Umstellung entsteht die Phrase in der DDR die Vergangenheit. Damit erfolgt eine Erweiterung der Aussage der Bezugssequenz. <?page no="129"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 129 Propositionale Ebene. Die Erweiterung ist nicht nur formulativ, sondern stellt eine Sinnveränderung dar. Um das zu verdeutlichen, sollen nun auch die entsprechenden Reformulierungsausdrücke (RAI und RA2) im Vorfeld des wörtlichen Zitats (RA4) und seines Einbettungssatzes (RA3) einbezogen werden. Die RAI—>BAl/ KAl/ BA2-Relation RAI Er begann sie mit der Erinnerung an die Opfer des Faschismus, des Stalinismus und der Mauer: BAI Als freie Regierung und freies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus. KA1 Wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges. BA2 Wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus, an die Opfer des 17. Juni 1953 und an die Opfer der Mauer. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. RAI ist die freie Wiedergabe einer komplexen Äußerungsfolge des Bezugstextes. Mehrere relevante Einheiten und Fügungen sind getilgt, und der Sinn ist in resümierender Form komprimiert wiedergegeben: RAI Er begann sie mit der Erinnerung an die Opfer des Faschismus <Erinnerung an" <die Opfer> des Stalinismus BS Alsfreie Regierung undfreies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus an die Opfer des 17. Juni 1953 <?page no="130"?> 130 Rcfoniiulierungen <die Opfer ' der Mauer und an die Opfer der Mauer Die Substitutionsmechanismen sind an sich neutral. Man muß sich ihrer bedienen, um überhaupt eine textökonomischen Kriterien entsprechende Wiedergabefassung produzieren zu können. Trotzdem erscheint eine Sinnverkürzung in diesem Fall zumindest problematisch, da solche relevanten Einheiten wie Opfer der Konzentrationslager und der Kriege nicht reformuliert werden; einzig die möglicherweise als Hyperonym aufzufassende und diese Zeit reflektierende Fügung Opfer des Faschismus ist im Reformulierungsausdruck wiederzufinden. Entscheidend ist jedoch, daß alle Objekte von RA2 denselben additiven Status haben: Sie werden nebengeordnet aufgezählt. Sp2 sagt, Spl erinnere an die ..., die ... und die ... In der Bezugssequenz liegt dagegen eine adversative Verknüpfung zwischen BAI und KAI einerseits und BA2 andererseits vor, indiziert durch die Konjunktionen aber auch in BA2. Spl sagt, wir verneigen uns vor jemandem, wir denken an jemanden, wir denken aber auch an jemanden. Damit konstruiert Spl einen Unterschied zum einen zwischen den Objekten in BAI und KAI und zum anderen in BA2. Kommunikativ-diskursive Ebene. Die Komprimierung von BAI, KAI und BA2 fuhrt zu einer Entemotionalisierung der Originaläußerung. Die Bezugsausdrücke BAI und BA2 bzw. die Kontextausdrücke sind durch mehrere sprachliche Mittel stark emotional geprägt. Spl expliziert seinen Sprecherstatus. Er äußert explizit, daß er als Ministerpräsident für die Regierung und für das Parlament spricht und verleiht damit seiner Aussage einen offiziellen Charakter. Durch die Verwendung des Adjektivs frei wird Selbstbewußtsein demonstriert. Diese Fügung läßt Sp2 weg und reduziert sie auf die Sprechaktbeschreibung er begann. Das Verb verneigen vor jemandem in BAI signalisiert eine besondere Achtung des Sprechers vor den Opfern des Faschismus. Dieses Verb wird im RAI mit erinnern an jemanden paraphrasiert, wodurch dieser BA in seiner Wiedergabeform neutraler, fast lapidar wirkt. Darüber hinaus ist auch hier wieder eine komplexe argumentative Struktur der Bezugssequenz in ihrer Wiedergabe reduziert. De Maiziere nimmt eines der Hauptthemen des damaligen Diskurses auf: ‘DDR-Vergangenheitsbewältigung’. Er entwickelt ein differenziertes Geschichtsbild mit verschiedenen Perspektiven. Gleichzeitig reflektiert er die Art und Weise der öfTentlichen Diskussion zu diesem Thema, was u.a. durch den anaphorischen Diskursindikator der Negation (Es ist nicht die PDS allein, die die DDR-Vergangenheit zu verantworten hat) signalisiert wird. <?page no="131"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 131 d) Nur neu produzierte Einheiten Sp2 kann einen Ausdruck, der nur aus neu produzierten Einheiten besteht, als Redekennzeichnung einsetzen. (4/ 13) Aus dem Kommentar der „Welt“ vom 20.4.90: RS (DW/ K,20,1) NAla Und wie weit sein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat mit dem Versprechen vereinbar ist, RA „die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition“, NAlb das wird er wohl noch zu erklären haben. BA (REG) Im Namen der Regierung stelle ich hier fest: Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition. Einbettungsmuster: NEI = Und wie weit sein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat mit dem Versprechen vereinbar ist, [...] das wird er wohl noch zu erklären haben Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Im Gegensatz zu den wörtlichen Zitierungen in den vorigen Beispielen, bei denen die Reformulierungen zumeist in gleicher oder zumindest ähnlicher kontextueller Einbettung wie die entsprechenden Bezugsausdrücke umgewandelt wurden, wird hier das Zitat in einen neuen, von Sp2 hergestellten Kontext gestellt. Die Proposition des Bezugsausdrucks wird wörtlich im Reformulierungsausdruck wiedergegeben. Die Zitierung ist in einen von Sp2 neu produzierten Ausdruck eingebettet, hat aber trotz dieser satzinternen Einbettung satzförmigen Charakter. Deswegen darf man ihr wohl auch den Status eines Reformulierungsausdrucks zuschreiben. 21 Propositionale Ebene. Die Einbettung des Reformulierungsausdrucks in den neu produzierten Ausdruck NA1 kann als adversatives Verhältnis zwischen NA1 und RA interpretiert werden, was nur durch die Erfassung der Äußerungsstruktur zu belegen ist: 21 Dies ist wohl ein Grenzfall. Natürlich hat Spl zentrale lexikalische Einheiten ‘soziale Marktwirtschaft und Rechtsstaat’ verwendet. Man könnte diesen Ausdruck auch als sehr freie Wiedergabe interpretieren. Er hat im Gesamtgefüge der komplexen Äußerung jedoch klar den Status eines Sp2-Kommentars. Deswegen ist es wohl gerechtfertigt, von einem neu produzierten Ausdruck zu sprechen. <?page no="132"?> 132 Reformulierungen - Sp2 sagt in NAla, Spl sagt, [Jemand (Spl=/ c/ 7) bekennt sich zur sozialen Marktwirtschaft] <UND> [zum Rechtsstaat] - Sp2 sagt, Spl [gibt mit dem Inhalt p(RA) ein Versprechen ab] - Sp2 sagt in RA, Spl sagt, [Ergebnisse der Bodenreform stehen nicht zur Disposition] - Sp2 sagt in NAla/ b, [Jemand (Spl) wird zu erklären haben, inwieweit Marktwirtschaft und Rechtsstaat mit Bewahrung der Bodenreformergebnisse vereinbar sind] Diese Abfolge suggeriert, daß Sp2 meint, [Ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat ist mit dem Spl-Versprechen ‘Keine Rückgabe des Bodenreformlandes’ unvereinbar]. Das legt die Schlußfolgerung nahe: [Eine Politik für die Beibehaltung der infolge der Bodenreform entstandenen Eigentumsverhältnisse folgt nicht den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft und des Rechtsstaates], Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 expliziert die kommunikative Funktion der Spl-Äußerung eigentlich adäquat, obwohl er sie interpretativ wiedergibt. Spl vollzieht hier sogar mit einer explizit performativen Formel (stelle ich hier fest) einen deklarativen Sprechakt, der durch die Explizierung seines Status als Regierungsoberhaupt zusätzliches Gewicht erhält (im Namen der Regierung). Sp2 ersetzt das Spl-Sprechaktverb feststellen durch die Sprechaktbezeichnung versprechen und interpretiert den Sprechakt in diesem Sinne. Eine Verschiebung ergibt sich aber vor allem aus der Bewertung des Spl-Sprechaktes durch Sp2, die dadurch entsteht, daß Sp2 die Sprechaktwiedergabe mit der modalen Infmitivkonstruktion wird er noch zu erklären haben koppelt. Diese Fügung ist als eine Auffbrderungshandlung von Sp2 zu interpretieren und drückt Zweifel an der Gültigkeit der wiedergegebenen Spl-Aussagen aus. Es gibt hier wieder mehrere Lesarten für die kommunikative Funktion dieser Äußerung: Einerseits ist eine solche ‘Journalistenaufforderung’ ein legitimes Muster publizistischer Argumentation; Beispiele für derartige Aufforderungshandlungen etwa „Treten Sie zurück, Herr Minister“ sind in der Tat sehr zahlreich anzutreffen. Berücksichtigt man die argumentative Struktur des Textes, könnte man aber bei dem Kommentar der „Welt“ zur De-Maiziere-Rede diese von Sp2 ausgedrückte Aufforderung auch als Ausdruck eines vom Reformulierer angesetzten asymmetrischen Verhältnisses zwischen ihm und dem Erstredner empfinden. Die Zuordnung hängt wohl gerade in solchen Fällen sehr von den Rezeptionsvoraussetzungen ab. Der Fall 4/ 13 ist noch aus einem anderen Grunde interessant, denn er stellt zweifelsfrei eine Übergangsform dar. Die wörtliche Wiedergabe erfolgt zwar in einem vollständigen Satz, durch die Einbettung in die kommentierenden Sp2-Äußerungen erhält sie jedoch einen subsidiären Status und nähert sich den nicht-satzförmigen wörtlichen Wiedergaben (vgl. 4.1.2.2), die den ungleich größeren Anteil an Zitierungen innerhalb von T2-n haben. <?page no="133"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 133 e) Redekennzeichnung und Reformulierungseinheiten Sp2 benennt den Originalsprecher sowie den vollzogenen Sprechakt und fugt Reformulierungseinheiten hinzu. (4/ 14a) Aus dem Redebericht der „Welt“ vom 20.4.90: RS (DW,20,1) RAI Er richtete die „herzliche Bitte" an die Bürger der Bundesrepublik: RA2 „Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwere Last der deutschen Geschichte tragen müssen.“ RA3 Die DDR habe bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung erhalten, sondern sie habe Reparationsleistungen erbringen müssen, erklärte de Maiziere. BS (REG) BA 1 Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: BA2 Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. BA3 Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Einbettungsmuster von RA2: Spl = er REI/ Verb = richtete an REI = herzliche Bitte“ = an die Bürger der Bundesrepublik Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Hier wird die Zitierung selbst durch eine Reformulierung eingeleitet, bei der die bereits im Bezugsausdruck explizierte kommunikative Funktion und der entsprechende Adressat {Bürger der Bundesrepublik) auch entsprechend wiedergegeben sind. Die elliptische Konstruktion im BAI wird nur durch ein Verb {richtete an) ergänzt. Die Funktion der Anführungszeichen ist in diesem Beispiel vage. Sie können zur Markierung eines Zitats dienen, aber auch eine (möglicherweise ironisierende) Distanzhaltung des Reformulierers zu dieser von Spl vorgenommenen Sprechaktbezeichnung {herzliche Bitte) ausdrücken. Insgesamt ist aus der Rezeption des gesamten Reformulierungsausdrucks nicht eindeutig rekonstruierbar, ob die Redeeinleitung einen vom Reformulierer neu produzierten Ausdruck darstellt, der einen Sprechakt von Spl beschreibt und interpretiert, oder ob es sich um eine Wiedergabe von Gesagtem handelt. Eine Veränderung an der Oberfläche ist nun in einem Ausdruck zu konstatieren, wo sie eigentlich laut Wiedergabekonvention nicht Vorkommen dürfte, nämlich beim Zitat selbst. Die komparativische Fügung im Bezugsausdruck schwerere Last der deutschen Geschichte wird im direkt zitierten Teil des Reformulierungsaus- <?page no="134"?> 134 Refoniiulierungen drucks als einfache attributive Fügung schwere Last der deutschen Geschichte präsentiert. Propositionale Ebene. Spl referiert, wenn auch nur implizit, auf einen Vergleichspartner mit der Aussage [Jemand {wir = DDR) hatte eine schwerere Last zu tragen als ein anderer JEMAND <Bundesrepublik>], Sp2 schreibt diese Aussage nur einem einzigen Träger {DDR) zu. Wie sich Verschiebungen verschiedener Art bei fast identischen Reformulierungen ergeben können, sollen zwei weitere Reformulierungsvarianten dieser Bezugssequenz verdeutlichen. Das erste Vergleichsobjekt stammt aus dem Kommentar derselben Zeitung zur Regierungserklärung. (4/ 14b) Aus dem Kommentar der „Welt“ vom 20.4.90: RS (DW/ K,20,1) RAI An die Mitbürger im Westen richtete er die „herzliche Bitte“: RA2 „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden BS (REG) BAI Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: KAI Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. KA2 Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. KA3 Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. KA4 Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. BA2 Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Die RA 1/ RA2—»BA l/ BA2-Relation RAI An die Mitbürger im Westen richtete er die „herzliche Bitte“: RA2 „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. BAI Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: [...] BA2 Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Auch hier erfolgt die redeeinleitende Einbettung durch die Reformulierung eines Bezugsausdrucks. Die Adressatenkennzeichnung Bürger der Bundesrepublik wird durch die Fügung Mitbürger im Westen ersetzt. Propositionale Ebene. Eine wesentliche Veränderung ergibt sich dann bei der Auswahl des direkten Zitats. Sp2 fokussiert hier einen anderen Teil der Bezugssequenz {Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden). <?page no="135"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 135 - Sp2 sagt, Spl [richtet eine Bitte, zu teilen] - Spl sagt, [<ich> bitte, zu bedenken] Kommunikativ-diskursive Ebene. Die schon erwähnte Ersetzung der Adressatenkennzeichnung Bürger der Bundesrepublik durch Mitbürger im Westen hat eine Verschiebung zur Folge. Mitbürger können nur in ein und demselben Staat oder Land existieren. Der Bezugsausdruck ist erheblich distanzierender durch die Verwendung der offiziellen Bezeichung Bürger der Bundesrepublik. Damit drückt Spl aus, daß er sich nicht zugehörig fühlt. Der Sequenzvergleich Die Reformulierungssequenz reduziert eine komplex angelegte Argumentation im Bezugstext auf eine Aussage, die sich in einen kurzen Satz fassen läßt: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Jemand <Spl> bittet Jemanden (die Mitbürger im Westen) zu teilen] Die Bezugssequenz weist dagegen eine komplexe argumentative Struktur auf: - Spl sagt, [Jemand (wir = DDR) hat 40 Jahre lang Last der Geschichte getragen] <WEIL> [Es gab keinen Marshallplan] <UND> [Es gab Reparationszahlungen] <TROTZDEM> [Wir erwarten keine Opfer] <ABER> [Seid solidarisch] Eine weitere Variante der Referenz auf dieselbe Bezugssequenz stellt folgender Reformulierungsausdruck dar: (4/ 14c) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 20.4.90: RS (FAZ,20,1) RAI In diesem Zusammenhang sah er mit Sorge in der Bundesrepublik Zeichen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein: RA2 „Trennung kann nur durch Teilen überwunden werden.“ BS (REG) BAI Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein. [...1 BA2 Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. <?page no="136"?> 136 Reformulierungen Die RA1/ RA2—»BAl/ BA2-Relation In diesem Reformulierungsausdruck wird ebenso auf den Bezugsausdruck Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden referiert. Das Zitat RA2 wird in eine andere Redeeinleitung als bei 4/ 14a und 4/ 14b eingebettet. Im Zitat gibt es eine Veränderung: Die lexikalische Einheit Teilung aus BA2 wurde durch Trennung in RA2 ersetzt. Dies ist wie bereits erwähnt eigentlich nicht zulässig, da der Ausdruck in einer sprachlichen Wiedergabeform präsentiert wird (als Zitat), die die Möglichkeit einer solchen Verschiebung ausschließt. Der Einbettungsausdruck RAI ist eine fast wörtliche Wiedergabe des BAI; allein die lexikalische Einheit Tendenzen wurde durch Zeichen ersetzt. Trotz dieser adäquaten Detailwiedergabe ergeben sich Verschiebungen in der Gesamtaussage der Reformulierungssequenz, und diese entstehen wiederum durch die modifizierte Kombination verschiedener Reformulierungsausdrücke (abweichende RA1/ RA2-Verknüpfung). Sp2 präsentiert den Reformulierungsausdruck RAI als Redeeinleitung für die Zitierung RA2, eine Verknüpfung, die Sp2 jedoch neu herstellt. In der Bezugssequenz sind beide Bezugsausdrücke nicht unmittelbar verknüpft, denn entscheidende Ausdrücke (vgl. KA1-6 aus 14b) werden nicht reformuliert. Auch diese Komprimierung fuhrt zu einer reduzierten Wiedergabe der Originalaussage. f) Redekennzeichnung und neu produzierte Einheiten Sprecher 2 nennt den Originalsprecher und den vollzogenen Sprechakt und fügt neu produzierte Einheiten hinzu. (4/ 15) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RS (FR,20,1) NA Zur Geschichte der DDR sagte de Maiziere: RA „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat [,„1 “ Einbettungsmuster von RA (NA): Spl = de Maiziere Verb = sagte NEI = Zur Geschichte der DDR <?page no="137"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 137 (4/ 16) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 20.4.90: RS (FAZ,20,1) NA Hinsichtlich der Infrastruktur beließ er es im wesentlichen bei dem Satz: RA „Die Zeiten, in denen man sechzehn Jahre auf ein Telefon warten mußte, sollten vorbei sein; die Postunion mit der Bundesrepublik werde schon vorbereitet.“ Einbettungsmuster von RA (NA): Spl = er Verb = beließ NEI = Hinsichtlich der Infrastruktur = im wesentlichen = bei dem Satz Die beiden neu produzierten Ausdrücke in 4/ 15 Zur Geschichte der DDR und 4/ 16 hinsichtlich der Infrastruktur haben einen resümierenden Charakter. In 4/ 16 wird darüber hinaus auch eine Bewertung mitgeliefert. Das Verb belassen läßt mindestens zwei Bewertungsvarianten zu. - Sp2 sagt, Spl hat mit p <bedauerlicherweise> nicht mehr zu diesem Thema gesagt (Sp2 bewertet die Spl-Äußerung negativ). oder - Sp2 sagt, Spl hat mit p <richtigerweise> nicht mehr zu diesem Thema gesagt (Sp2 bewertet die Spl-Äußerung positiv). (4/ 17) Aus dem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.4.90: RS (SDZ/ K,20,4) NA1 In einem Staate, der über lange, mindestens eingeübte demokratische Tradiüonen und Strukturen verfügt, würden viele der Worte de Maizieres bloß hehr und vielleicht leer anmuten. NA2 Nicht so in der DDR die sich gerade eben aus bürokratisch-diktatorischen Zuständen befreit hat mit all den Deformationen und Wunden, die jene Zustände der Gesellschaft und der Wirtschaft des Landes, seinen Städten und seiner Umwelt zugefügt haben. [...] NA3 In diesem Zusammenhang klingt es dann auch keineswegs floskelhaft, wenn er sagt: RAI „Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten.“ <?page no="138"?> 138 Refonnulierungen RA2 Oder wenn in der Erklärung die „ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft“ beschworen wird. NA4/ RA3 Und es ist durchaus angebracht, auf die seelischen Schäden hinzuweisen, die die DDR-Gesellschaft davongetragen hat und die sie erst noch heilen muß. BS (REG) KAI Heute dagegen stehen wir in der geschichtlichen Situation, daß unser demokratisches Aufbegehren ausgelöst wurde und aufgenommen wird von einer den Kontinent durchziehenden Bewegung zu Demokratie, Frieden und internationalem Ausgleich. KA2 Machen wir uns bewußt, welcher Fortschritt bereits bei uns erreicht wurde, vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, daß diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas haltmacht, sondern daß in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht. BAI Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. KA3 Dazu brauchen wir einen prinzipiellenAnsatz. Einbettungsmuster von RA 1: Spl = er Verb = sagt NEI = In diesem Zusammenhang klingt es dann auch keineswegs floskelhaft, wenn er sagt Zur NA3(RA1)-Einbettung Da der die Zitierung RAI einbettende und als Redekennzeichnung fungierende Ausdruck von seinem Wesen her ein von Sp2 neu produzierter Ausdruck mit einem eigenen propositionalen Gehalt ist, kann kein direkter RA-BA-Vergleich vorgenommen werden. Vielmehr interessiert hier die innere Struktur und der mögliche kommunikative Sinn dieser Reformulierungssequenz. Propositionale Ebene. Mit der Negation keineswegs floskelhaft unterstellt Sp2: [Es gibt einen Jemand <unter den Rezipienten>, der Aussagen wie RAI für floskelhaft halten könnte] und formuliert eine Präventivaussage hinsichtlich solcher von ihm antizipierten Interpretationen. Sp2 nimmt damit beim Hörer eine Art ‘Musterwissen’ an, nämlich darüber, welche Formulierungen im Normalfall als floskelhafte Sprache verstanden werden könnten (z.B. die Anhäufung relevanter Schlüsselwörter Unfreiheit, Diktatur, Freiheit, Demokratie, Herrschaft und Recht). Daß diese Lesart einer Sp2-Bewertung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, wird bei der folgenden analytischen Betrachtung des sequentiellen Vorfeldes des Reformulierungsausdrucks deutlich (NA1-3). Kommunikativ-diskursive Ebene. Diese Einbettung ist ein typisches Beispiel für einen sehr spezifischen neu produzierten Ausdruck, nämlich eine ex- <?page no="139"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 139 plizite Sp2-Bewertung eines Spl-Sprechaktes. Damit ist dieser NA3 auch als Interpretationsangebot für die zitierte Proposition zu verstehen. Zur Struktur der Reformulierungssequenz Die wörtliche satzförmige Wiedergabe RAI stammt aus einem der den Reformulierungstexten beigeordneten Kommentaren T3, die zum größten Teil aus von Sp2 neu produzierten Ausdrücken bestehen und zahlreiche sprachlich explizit gemachte Sp2-Bewertungen aufweisen. Demzufolge ändert sich hier der Status des Reformulierungsausdrucks. Er realisiert nicht mehr in erster Linie einen Informationstransfer, sondern stützt vom Sp2 entwickelte Argumentationen bzw. angebotene Bewertungen. Das soll nun anhand der argumentativen Struktur der Reformulierungssequenz gezeigt werden, wobei zu betonen ist, daß es sich im folgenden um die ‘Mikroargumentationsstruktur’ einer Sequenz handelt. Die Statuszuordnungen (also ob es sich z.B. um ein Stützargument oder eine These handelt) sind variabel und können für die Makrostruktur des gesamten Kommentars dementsprechend anders aussehen. Propositionale Ebene. In den neu produzierten Ausdrücken vor dem Reformulierungsausdruck formuliert Sp2 eine These, die dann u.a. mit Hilfe der Zitierung belegt wird. - Sp2 sagt in NA1, [Es gibt Staaten X, die lange demokratische <ODER> eingeübte Traditionen haben] (implizite Negation-» [Es gibt Staaten Y, die keine langen demokratischen <ODER> eingeübten Traditionen haben]) - Sp2 sagt in NA1, [Es gibt Worte, die, wenn sie in Staaten X geäußert werden, bloß hehr und leer wirken <ALSO> negativ bewertet werden] (implizite Negation -» [In Staaten Y würden sie nicht so wirken, <ALSO> werden sie positiv bewertet]) - Sp2 sagt auch, Spl hat [Worte geäußert, die in X negativ bewertet werden würden] (implizite Negation -> [In Y würden sie positiv bewertet]) Diese implizite Negation macht Sp2 in NA2 explizit, indem er sagt, [Es gibt ein Land DDR, das zur Menge der Staaten Y gehört. Spl hat in Y diese Worte geäußert, <ALSO> werden sie nicht negativ bewertet] (implizite Negation-» [Die Worte von Spl werden positiv gewertet]) - Sp2 sagt in NA3, [Es gibt Worte aus RAI <ODER> RA2, die <in X> floskelhaft klingen würden. Spl hat sie <JEDOCH> in Y produziert, <ALSO> klingen sie nicht floskelhaft] <?page no="140"?> 140 Reformulierungen Es zeigt sich, daß die Sp2-Bewertung keineswegs floskelhaft einen weiteren Geltungsbereich als nur für das wörtliche Zitat RAI hat. Sp2 bezieht sie auch auf RA2 ökologisch orientierte Marktwirtschaft und unterstellt im eben entwickelten Sinn zumindest die Möglichkeit, auch diese Fügung als eine Floskel interpretieren und bewerten zu können. Explizit konzediert der Reformulierer Spl Angemessenheit und Selbstbewußtsein. Die Überschrift z.B. lautet Ein starker Partner kündigt sich an. Mit seiner Regierungserklärung beweist der DDR-Ministerpräsident politisches Format. Differenzierende Spl-Aussagen werden jedoch nicht angemessen wiedergegeben. Erneut finden Bezugseinheiten, die Aussagen globalerer Natur (auch mit möglichen Konsequenzen für die westliche Welt) beinhalten, keinen Niederschlag in der Wiedergabe, z.B.: KA2 Machen wir uns bewußt, welcher Fortschritt bereits bei uns erreicht wurde, vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, daß diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas haltmacht, sondern daß in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht. oder KA3 Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz. Der RA2 folgende Ausdruck NA4/ RA3 stützt diese Reduktion. NA4/ RA3 Und es ist durchaus angebracht, auf die seelischen Schäden hinzuweisen, die die DDR-Gesellschaft davongetragen hat und die sie erst noch heilen muß. Dieser Ausdruck ist noch aus einem anderen Grund von Interesse, denn er ist in vielerlei Hinsicht vage. Es wird bei der alleinigen Rezeption der Reformulierungssequenz nicht deutlich, ob es sich um eine Reformulierung handelt oder um einen von Sp2 neu produzierten Ausdruck. Im Bezugstext finden sich zahlreiche Belege, die durchaus als Bezugsobjekte für diesen Ausdruck gedient haben könnten. g) Redekennzeichnung und Reformulierungseinheiten und neu produzierte Einheiten Sprecher 2 benennt den Originalsprecher und den vollzogenen Sprechakt und fügt sowohl Reformulierungsals auch neu produzierte Einheiten hinzu. (4/ 18) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RS (FR,20,2) RAI Im außenpolitischen Teil seiner Rede verlangte er, die polnische Westgrenze völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen. [...] <?page no="141"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 141 RA2 Eng damit in Zusammenhang stellte der DDR-Premier die Abschaffung des Artikels 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. RA3/ NA1 Er solle verschwinden, um zu zeigen: RA4 „Deutschland hat keine Gebietsanspriiche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht haben.“ BS (REG) BAI Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, wie sie im Görlitzer Vertrag der DDR mit Polen und im Warschauer Vertrag der Bundesrepublik mit Polen beschrieben ist, ist unverzichtbar. BA2 Mit Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten soll die künftige deutsche Verfassung unter anderem den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten. BA3 Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben. Einbettungsmuster von RA4: Spl = der DDR-Premier Verb = stellt in Zusammenhang NEI = Eng damit REI = die Abschaffung des Artikels 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes nach der Vereinigung NEI = Er solle verschwinden, um zu zeigen Die RA2/ RA3—»BA2-ReIation RA2 Eng damit in Zusammenhang stellte der DDR-Premier die Abschaffung des Artikels 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. RA3/ NA1 Er solle verschwinden, um zu zeigen: BA2 Mit Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten soll die künftige deutsche Verfassung unter anderem den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. RA2 BA2 - Mit Vollzug der Vereinigung soll die künftige deutsche Verfassung unter anderem <?page no="142"?> 142 Reformulierungen Eng damit in Zusammenhang hang stellte der DDR-Premier die Abschaffung des Artikels 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten - Die lexikalischen Bezugseinheiten Vereinigung, Artikel 23 und Grundgesetz werden in RA2 wiederaufgenommen. Die Bezugsfiigungen die künftige deutsche Verfassung und unter anderem sind in RA 2 ausgeklammert. Umwandlungen erfolgen bei der Übernahme der zentralen Bezugseinheit den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten. Zum einen ist sie in nominalisierter, zum anderen in paraphrasierter Form wiedergegeben {etwas nicht mehr enthalten wird mit Abschaffung paraphrasiert). Eine weitere Änderung ist bei der Umwandlung von der Bezugseinheit mit Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zur REI nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu konstatieren. Es ergibt sich eine temporale Verschiebung: Aus einem laufenden Prozeß {mit Vollzug der Vereinigung) wird ein Zielzustand {nach der Vereinigung). RA3 wird als indirekte Wiedergabe präsentiert, ist aber ein von Sp2 neu produzierter Ausdruck ohne entsprechenden Bezugsausdruck. Propositionale Ebene. Durch die Ersetzung des neutralen Verbs enthalten durch das Verb abschaffen entsteht eine Sinnverschiebung derart, daß abschaffen einen negativen Zustand voraussetzt, den es zu beseitigen gilt. Diese Verschiebung wäre indes ohne den dazugehörigen Kontext minimal und im Bereich zulässiger Umwandlungen. Daß es sich hier trotz alledem um eine sinnverändernde Verschiebung handelt, die zusammen mit den anderen noch zu beschreibenden Veränderungen zu einer Uminterpretation der Bezugssequenz fuhrt, soll ein Vergleich der propositionalen Strukturen von RA2 vs. BA2 zeigen. Teile des propositionalen Gehalts von BA2 werden im RA2 wiederaufgenommen: [Es gibt eine deutsche Vereinigung] <UND> [Es gibt ein Grundgesetz mit einem Artikel 23] <UND> [Es gibt einen Zusammenhang zwischen Artikel 23 und Vereinigung derart, daß der Artikel nach der Vereinigung aus dem Grundgesetz entfernt werden soll] (Implikation <Für die Vereinigung ist er noch notwendig>) Ein Teil des propositionalen Gehalts von BA2 wird aber auch weggelassen: [Es wird eine künftige deutsche Verfassung geben, die verändert oder ganz neu ist]. Andere Elemente des propositionalen Gehalts werden verändert: <?page no="143"?> Eine analytische Beschreibung von RefonnuUerungsrelationen 143 - Sp2 sagt, Spl sagt, [Es wird eine Abschaffung des Artikels nach einem abgeschlossenen Prozeß erfolgen] <UND> [Es wird eine Abschaffung des Artikels im bestehenden Grundgesetz erfolgen] - Sp2 sagt, Spl stellt diese Aussagen in BA2 in einen Zusammenhang mit der Aussage in BAI - Spl sagt, [Eine künftige Veränderte oder neue> deutsche Verfassung wird den Artikel nicht mehr enthalten] (Implikation <Mit/ nach Vollzug der Vereinigung wird es eine neue deutsche Verfassung geben>) RA3/ NA1 ist durch die pronominale Wiederaufnahme der lexikalischen Einheit Artikel 23 und die konjunktivische Form solle ganz unmittelbar mit RA2 verknüpft und stellt somit eine spezifizierende interpropositionale Relation zu RA2 her. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 präsentiert RA3/ NA1 als von Spl gesagt. Mit diesem Konsekutivsatz drückt er aus, Sp 1 habe die Motive seines Mitteilungsaktes {er solle verschwinden) explizit gemacht {um zu zeigen). Damit erscheint dieser Ausdruck als von Spl auf diese Weise formulierte Begründung. Sp2 expliziert mit diesem Ausdruck jedoch in Wirklichkeit seine eigene Interpretation möglicher Spl-Motive für die beabsichtigte Handlung. Dadurch erfolgt eine Zuspitzung des kommunikativen Sinns der Äußerung von Spl. Diese Behauptung kann belegt werden, wenn das weitere Umfeld dieser Äußerung einbezogen wird, das auch deutlich macht, auf welches Diskursthema der gesamte Aussagenkomplex referiert. Durch die Fügung eng damit in Zusammenhang stellte der DDR-Premier ist der RA2 darüber hinaus ganz unmittelbar mit seinem vorhergehenden Satz RAI verküpft. Zuerst soll auch hier die elementare BA-RA-Relation betrachtet werden und danach ihre sequentielle Verbindung. Die RAl->BAl-Relation RAI Im außenpolitischen Teil seiner Rede verlangte er, die polnische Westgrenze völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen. BAI Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, wie sie im Görlitzer Vertrag der DDR mit Polen und im Warschauer Vertrag der Bundesrepublik mit Polen beschrieben ist, ist unverzichtbar. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Verschiedene Operationen sind zu konstatieren: Eine Nominalphrase die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze wird in eine Verbalphrase die polnische Westgrenze völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen transformiert (ein typisches sprachliches Verfahren der Redewiedergabe). Die zweite Operation <?page no="144"?> 144 Refonnuherungen stellt eine Tilgung dar: Sp2 läßt die Spezifikation dieser Nominalphrase weg, und zwar den Nebensatz wie sie im Görlitzer Vertrag [...] beschrieben ist. Die Fügung ist unverzichtbar wird mit verlangen paraphrasiert. Propositionale Ebene. Der getilgte vergleichende Nebensatz wie sie [...] beschrieben ist drückt nun aber den Sachverhalt aus, daß diese Anerkennung bereits einmal vertraglich fixiert wurde. Die BA-Konstruktion ist unverzichtbar präsupponiert, daß es a) diesen Sachverhalt gibt und b) daß die Existenz dieses Sachverhalts nicht unumstritten ist. Durch die Paraphrase verlangen im Reformulierungsausdruck wird aus der Betonung eines bestehenden Sachverhaltes im Bezugsausdruck ein Desiderat: Sp2 sagt, Spl fordert, den Sachverhalt erst herzustellen. Damit wird die komplexe Aussage der gesamten Bezugssequenz reduziert. Diese Wiedergabe in RAI hat als sequenzeinleitender Ausdruck einen Geltungsbereich über die interne Satzgrenze hinaus, d.h., die folgenden Ausdrükke könnten im Lichte dieses Reformulierungsausdrucks interpretiert werden. Kommunikativ-diskursive Ebene. Spl bezieht sich ebenso wie Sp2 auf die damals auch durchaus vorhandene Angst des Auslandes vor einem (wieder-)vereinigten Deutschland. Sowohl de Maiziere als auch der Reformulierer thematisieren diesen Zusammenhang und formulieren indirekt ein Versprechen, daß es keine neuen Gebietsansprüche des vereinigten Deutschlands geben werde. Im Detail gibt es aber Unterschiede: Spl formuliert ein direktes Versprechen, bereits Bestehendes nicht anzufechten, und stellt fest, daß die DDR und die Bundesrepublik in dieser Hinsicht bereits eine klare Haltung (durch entsprechende Verträge) bezogen hatten, die auch weiterhin die Grundlage der Beziehungen bilden sollte. Die diesem Versprechen im 1. Satz (BAI) folgende Ankündigung (BA2) in der Bezugssequenz hinsichtlich des Artikels 23 soll dieses Versprechen untermauern. Das wird durch die Aussage Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben noch einmal explizit thematisiert. In der Reformulierungssequenz wird dieser Aussage jedoch der ‘beruhigende’ und zusichernde auch offizielle - Charakter genommen. Sie wird mit sprachlichen Mitteln wiedergegeben, die eine geringere Verbindlichkeit aufweisen als die Originalaussage, so durch die umgangssprachliche Formulierung er solle verschwinden als Paraphrase für den Sachverhalt der Forderung nach Abschaffung des Paragraphen. Damit ist die Aussage Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben zwar wörtlich wiedergegeben, verliert jedoch ihren offiziellen Charakter und erscheint im Reformulierungsausdruck eher als beiläufige Reaktion auf mögliche Einwände. <?page no="145"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 145 Gerade die Analyse der Einbettungen satzförmiger Zitate in ihre jeweiligen Umgebungen hat sehr klar gezeigt, wie unzureichend Wiedergaben, die als wörtlich präsentiert werden, den propositionalen Gehalt und kommunikativen Sinn der Sequenz, in die sie eingebettet sind, tatsächlich transportieren. Im Gegensatz zu nicht-satzförmigen Zitierungen oder gar indirekten Wiedergaben impliziert diese Wiedergabeform einen ungleich höheren ‘Anspruch auf Authentizität’ und wird demzufolge wohl auch bei der Rekonstruktion des Gesagten durch den Leser weniger angezweifelt. 4.1.2.2 Nicht-satzförmige direkte Wiedergaben Nicht-satzförmige direkte Wiedergaben stellen durch graphische Zeichen (Anführungszeichen) als wörtliche Zitate präsentierte Wiedergaben einzelner lexikalischer Einheiten, Wortgruppen oder Teilsätze dar. Sie sind in den hier zur Debatte stehenden Texten sehr viel häufiger nachzuweisen als satzförmige Zitate. Die direkte Wiedergabe eines Teils des Bezugsausdrucks hat keinen eigenständigen Satzstatus als Zitierung mehr, sondern ist in andere Wiedergabeformen integriert. Sie erfüllt demzufolge zumeist die Funktion eines Satzgliedes und ist in viel stärkerem Maße schon innerhalb desselben Satzes in andere Formen von Wiedergaben eingebunden als die satzförmigen Zitierungen. Es wird zu klären sein, wann diesen nicht-satzförmigen Zitierungen ein eher dominanter oder ein eher subsidiärer Status innerhalb einer Äußerung oder Äußerungsfolge zugeschrieben werden kann. An den folgenden Beispielen wird vor allem überprüft, wann der Reformulierungsausdruck noch eine vollständige propositionale Wiedergabe des Bezugsausdrucks ist (das, was Spl gesagt hat, wird von Sp2 so wiedergegeben) und demzufolge diese nicht-satzförmige Zitierung auch die Funktion des Informationstransfers realisiert. Es werden dann aber auch Möglichkeiten der Interpretation und Bewertung beschrieben, die ein Sprecher hat, wenn er einen Bezugsausdruck mit Hilfe indirekter und anderer Wiedergabeformen in Kombination mit mehr oder minder komplexen ‘Zitateinschüben’ reformuliert. Die nicht-satzförmigen direkten Wiedergaben unterscheiden sich untereinander zum einen durch ihren unterschiedlichen Grad an Komplexität (von der einzelnen lexikalischen Einheit bis zu komplexen Satzteilfolgen) und zum anderen durch ihre Einbettungsumgebung. Nicht-satzförmige Zitierungen können im Reformulierungsausdruck innerhalb des Originalkontextes vom entsprechenden Bezugsausdruck oder aber in einem von Sp2 modifizierten und bisweilen stark veränderten Kontext eingebettet sein. Der Anteil an ‘Originalumgebung’ hat erhebliche Auswirkungen auf den Grad der Sp2-Interpretationen und -bewertungen des reformulierten Ausdrucks. Auch hier gibt es wiederum verschiedene Fälle: <?page no="146"?> 146 Refoniwlierungen a) nicht-satzförmige direkte Wiedergabe, eingebettet in Reformulierungseinheiten b) nicht-satzförmige direkte Wiedergabe, eingebettet in neu produzierte Einheiten c) nicht-satzförmige direkte Wiedergabe, eingebettet in Reformulierungseinheiten und neu produzierte Einheiten a) Einbettung in Reformulierungseinheiten Der Reformulierungsausdruck besteht nur aus Reformulierungseinheiten. Eine oder mehrere dieser Einheiten sind durch Anführungszeichen hervorgehoben. (4/ 19) Aus dem Redebericht der „Welt“ vom 20.4.90: RA (DW,20,1) Die deutsche Einheit müsse „so schnell wie möglich kommen“, aber die Rahmenbedingungen müßten so gut, vernünftig und zukunftsfähig „wie nötig“ sein. BA (REG) Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Hier ist die Proposition des Bezugsausdrucks in der Tat vollkommen aus dem Reformulierungsausdruck rekonstruierbar, da die Zitateinschübe im Reformulierungsausdruck genau der strukturellen Einbettung des Bezugsausdrucks entsprechen. Innerhalb einer fast vollkommen identischen indirekten Wiedergabe sind zwei Fügungen, so schnell wie möglich und wie nölig, durch die Anführungszeichen hervorgehoben. Die Funktion des authentischen Informationstransfers allein kann in diesem Fall für die Zitate nicht angenommen werden, weil der gesamte Ausdruck diese Informationsfünktion realisiert. Da durch den Konjunktiv die Redekennzeichnung eigentlich ausreichend erfolgt ist, erfüllen die Anführungszeichen wohl eher eine Fokussierungsfünktion. Die Aufmerksamkeit wird in besonderem Maße auf die wörtlichen Teilzitate gelenkt: Das hat Spl wirklich so gesagt. Es kann sich aber auch um ein rein stilistisches Mittel handeln, das den Gesamtcharakter eines Redeberichts stützen soll, was darüber hinaus ein Beleg dafür ist, daß die authentische Wiedergabe einer Originaläußerung keinesfalls immer an wörtliche Wiedergabe gebunden sein muß. (4/ 20) Aus dem Redebericht der „tageszeitung“ vom 20.4.90: <?page no="147"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 147 RS (TAZ,20,1) RAI In den vergangenen 40 Jahren habe die Gesellschaft „nicht nur materiell“ von der Substanz gelebt. RA2 Man habe aber „etwas einzubringen“ in die Deutsche Einheit. BS (REG) KAI Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig ist. Ihn leicht zu nehmen, wäre leichtfertig. BAI Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, vierzig Jahre lang von der Substanz zu leben, und nicht nur materiell. Die RAl-»BAl-ReIation RAI In den vergangenen 40 Jahren habe die Gesellschaft „nicht nur materiell“ von der Substanz gelebt. BAI Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, vierzig Jahre lang von der Substanz zu leben, und nicht nur materiell. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Auch hier ist der Zitateinschub Element einer indirekten konjunktivischen Wiedergabe. Die Einbettung der nicht-satzförmigen direkten Wiedergabe nicht nur materiell im Reformulierungsausdruck bezieht sich ebenfalls auf die tatsächlich vorliegende Einbettung dieser Fügung im Bezugsausdruck. Im Gegensatz zum Beispiel 4/ 19 erfolgt die Wiedergabe der einbettenden Entitäten jedoch in einer veränderten Form. Die durch die Anführungszeichen gekennzeichnete Fügung im Reformulierungsausdruck erweist sich als Wiedergabe des ergänzenden Nachsatzes des Bezugsausdrucks (und nicht nur materiell), wobei die Konjunktion und nicht reformuliert wurde. Der Teilsatz im Bezugsausdruck ist durch die Reformulierung in ein einfaches Satzglied transformiert worden. Darüber hinaus erfolgt die Umwandlung der Passiv-Konstruktion im Bezugsausdruck (wurde gezwungen, [...] zu leben) in die Aktiv-Konstruktion (habe gelebt). Propositionale Ebene. Schon durch die Umwandlung dieses Teilsatzes in ein einfaches Satzglied verliert die Fügung im Reformulierungsausdruck ihren ergänzenden Charakter, den sie im Bezugsausdruck hat. Damit wird eine wichtige Funktion der Anfuhrungzeichen deutlich: Hervorhebung bzw. Fokussierung einzelner Teile einer Bezugsmenge. Die Fügung nicht nur materiell erhält durch die Anführungszeichen einen relevanten Status innerhalb der Satzaussage des Reformulierungsausdrucks. Die auch schon im Bezugsausdruck durch den Negationsträger nicht angelegte Interpretationsmöglichkeit <auch ideell>, also eine mögliche Assoziation des Antonyms von materiell, besitzt im Reformulierungsausdruck einen herausgehobenen Status. Diese Detailveränderung stützt letzten Endes nur die Uminterpretation der gesamten Aussage, die im wesentlichen durch die Umwandlung der Passiv-Konstruktion im Bezugsausdruck (wurde gezwungen, [...] zu leben) in die Aktiv-Konstruktion (habe gelebt) entstanden ist. <?page no="148"?> 148 ReforwuHerungen Ein Teil der Spl-Aussage findet sich auch in der Sp2-Aussage wieder: [Etwas wurde von Jemandem getan]. Es gibt aber auch Unterschiede: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Jemand hat etwas getan] - Spl sagt, [Jemand wurde gezwungen, etwas zu tun] Sp2 reduziert den Bezugsausdruck auf einen aktiven vom Subjekt gewollten und gesteuerten Vorgang, Spl unterstellt dem Subjekt des Satzes Gesellschaft mit der Verwendung der passivischen Verbform gezwungen sein dagegen jedoch nicht direkt, sie hätte dies bewußt getan, und benennt nicht die Umstände, die dazu führten, daß die Gesellschaft von der Substanz leben mußte. Damit läßt er offen, ob nicht auch (äußere) Umstände existierten, die nicht immer beeinflußbar gewesen sein mögen. Kommunikativ-diskursive Ebene. Der Reformulierungsausdruck ist weniger vage und enthält Aussagen, die die Differenziertheit des Bezugsausdrucks nicht in vollem Umfang berücksichtigen. Die Bezugsäußerung ist also eher moderat; sie bietet mehrere mögliche Interpretationen an (z.B. durch den einbettenden Kontextausdruck Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig ist. Ihn leicht zu nehmen, wäre leichtfertig). Dies wird wiederum besonders durch die sequentielle Einbettung deutlich. Die RA1/ RA2-Verknüpfung RAI In den vergangenen 40 Jahren habe die Gesellschaft „nicht nur materiell“ von der Substanz gelebt. RA2 Man habe aber „etwas einzubringen“ in die Deutsche Einheit. Vor allem der dem Reformulierungsausdruck RAI folgende Ausdruck RA2 stützt die Verschiebung des Originalsinns. Der Reformulierungsausdruck Man habe aber „etwas einzubringen“ in die Deutsche Einheit reformuliert eine Bezugseinheit aus dem Bezugstext, die dort in einem anderen argumentativen Kontext steht (vgl. dazu Beispiel 4/ 9). BA (REG) Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! Die Konjunktion aber verknüpft RA2 jedoch mit RAI. Die beiden Ausdrücke bilden damit einen Sinnzusammenhang. Durch die durchgängige konjunktivische Form dieser indirekten Wiedergaben erscheint die argumentative Abfolge in der Reformulierungssequenz als Wiedergabe der Bezugsabfolge. Sp2 konstruiert durch die adversative Verknüpfung einen Gegensatz: <OBWOHL> [die Gesellschaft materiell von der Substanz gelebt hat, hat sie etwas einzubrin- <?page no="149"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 149 gen]. In RA2 verdient die mit Anführungszeichen gekennzeichnete Fügung etwas einzubrhtgen besondere Aufmerksamkeit. Die im RA2 als eine wörtliche Zitierung erscheinende Fügung etwas einzitbringett erweist sich jetzt nicht als direkte Wiedergabe, sondern als zusammenfassende Paraphrase. Die Funktion der Anführungszeichen muß daher vage bleiben; sie könnte ebenso ein sprachliches Mittel des ironischen Distanzierens sein. RA2 wird der schon beschriebenen Differenziertheit der Bezugssequenz nicht in vollem Maße gerecht: Der Reformulierungsausdruck erscheint als von Spl fast ‘beiläufig’ formuliert. In Kombination mit RAI entsteht ein anderes Bild als in den Bezugssequenzen sowohl hinsichtlich des Sinns als auch der Funktionen dieser Äußerungen. (4/ 21) Aus dem Redebericht der „Frankfürter Allgemeinen“ vom 20.4.90: RS (FAZ,20,2) RAI Ein künftiges europäisches Sicherheitssystem solle „immer weniger militärische Funktionen" haben. RA2a Bis dahin würde sich auf dem Gebiet der heutigen DDR außer sowjetischen Streitkräften auch eine „sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee“ befinden, RA2b welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer berücksichtige. BS (REG) KAI Es ist Aufgabe der Regiemng der DDR, eine Politik zu verfolgen, die den , Prozeß der Ablösung der Militärbündnisse mittels bündnisübergreifender Strukturen als Beginn eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems fördert. BAI Ein europäisches Sicherheitssystem mit immer weniger militärischen Funktionen ist dabei unser Verhandlungsziel. KA2 Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs auf die Bereiche der Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Wissenschaft und Technologie halten wir für ein Gebot der Stunde. BA2 Auf dem heutigen Gebiet der DDR wird sich für eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA befinden, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist. BA3 Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sich für uns u.a. darin zeigen, daß wir die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen stets berücksichtigen. Die RA2a-»BA2-Relation RA2a Bis dahin würde sich auf dem Gebiet der heutigen DDR außer sowjetischen Streitkräften auch eine „sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee“ befinden, [... ]. BA2 Auf dem heutigen Gebiet der DDR wird sich für eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA befinden, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist. <?page no="150"?> 150 Reforniulierungen Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Der Reformulierungsausdruck RA2 stellt eine stark komprimierte Fassung von zwei sehr komplexen Sätzen (BA2 und BA3) aus dem Bezugstext dar. Ausgangspunkt der Betrachtung ist der mit Anführungszeichen gekennzeichnete Teil des Reformulierungsausdrucks RAIa (sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee). Die im Reformulierungsausdruck als wörtliche Wiedergabe erscheinende Fügung ist wiederum kein wirkliches wörtliches Zitat. Einige lexikalische Einheiten der Bezugsfugung eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA wurden wiederaufgenommen (strikt; reduziere)! in Form des Adjektivs reduzierende; das Abkürzungswort NVA als ausgeschriebene Variante Nationale Volksarmee). Andere kommen in der wiedergegebenen Fassung nicht vor (stark; defensiv ausgerichtete). Weiterhin erfolgt eine syntaktische Verschiebung. Die Nebenordnung zweier Satzteile, verbunden durch die Konjunktion und, wird aufgehoben und zu einem Satzglied komprimiert: (eine stark reduzierte und eine strikt defensiv ausgerichtete NVA wird zu eine sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee). Die einzige wirklich wörtliche Bezugnahme ist die Wiederaufnahme der lexikalischen Einheit strikt. Der relativische Nebensatz des BA2 deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist wurde gar nicht wiedergegeben. Die Fügung bis dahin verbindet RA2 mit RAI. Sie könnte auch als Ersetzung der Bezugseinheit für eine Übergangszeit gelten, wobei keine Referenzidentität vorliegt. Schließlich erfolgte eine weitere syntaktische Umstellung, indem das Adjektiv heutig im Reformulierungsausdruck einem anderen Objekt (DDR) zugeordnet wird als im Bezugsausdruck (Gebiet). Propositionale Ebene. Sowohl im BA2 als auch im RA2a ist das identische Subjekt NVA mit dem Verb reduzieren verbunden. Die erste propositionale Verschiebung liegt darin, daß der Sachverhalt im Reformulierungsausdruck als Prozeß (sich reduzierende), der Sachverhalt in der Bezugssequenz als Ergebnis eines Prozesses (reduziert) präsentiert wird. Eine weitere Verschiebung resultiert aus der veränderten Kombination der lexikalischen Einheit strikt mit dem entsprechenden Substantiv. Diese Einheit wird im Bezugsausdruck auf den Sachverhalt SV1 ‘Defensive Ausrichtung der Armee’ (strikt defensiv ausgerichtete NVA), im Reformulierungsausdruck dagegen auf den Sachverhalt SV2 ‘Reduzierung der Armee’ (sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee) bezogen. Es erfolgt darüber hinaus eine Sinnreduktion durch die bereits erwähnten Auslassungen der Attribuierung der Armee als strikt defensiv und des ganzen Nebensatzes im Bezugsausdruck zur Aufgabe der NVA (SV ‘Schutz des eigenen Gebietes’). Dies hat auch Konsequenzen für die Wiedergabe der kommunikativen Funktion dieser Bezugssequenz durch den Reformulierer. Die Fügung bis dahin in RA2a referiert auf den Sachverhalt SV3 in RAI ‘Ein künftiges europäisches Sicherheitssystem’. Dadurch erhält sie eine anaphori- <?page no="151"?> Eine analytische Beschreibung von Refonmilierungsrelationen 151 sehe Zuordnung, die eine weniger vage temporale Bestimmung impliziert als die temporale Bestimmung im BA2 für eine Übergangszeit. Kommunikativ-diskursive Ebene. Sp2 gibt den Spl-Sprechakt als Feststellung wieder. Man könnte die Spl-Äußerung jedoch auch als (mehrfachadressierte) Mitteilung mit offiziellem Charakter interpretieren, der zugleich als Zusicherung zu verstehen wäre. Ein Indikator dafür ist die Verwendung strikt. Im Wörterbuch wird ‘strikt’ folgendermaßen definiert: "[...]streng, peinlich genau; ein -er Befehl; eine Anordnung befolgen [...]“ (Wahrig 1986/ 1991, S. 1242). Die Verwendung von strikt für die Ankündigung des Sprechers 1 über die künftige Ausrichtung der DDR-Armee (SV1) ist somit auch als verstärkendes sprachliches Mittel zu verstehen, das den Charakter einer offiziellen und vertrauenswürdigen Zusage an potentielle Adressaten hinsichtlich einer künftigen Militärdoktrin unterstützen soll. Da sich Sp2 mit dem Adjektiv strikt wie schon ausgeführt allein auf SV2 bezieht, entfallt die Zusicherung hinsichtlich der Militärdoktrin (defensiv). Betrachtet man nun die Einbettung dieser reformulierten Fügung, ergeben sich zahlreiche weitere Veränderungen, die letztlich zu einer Uminterpretation der gesamten Bezugssequenz im Reformulierungstext führt. Die Ra2b->BA3-ReIation RA2b [...] welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer berücksichtige. BA3 Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sich für uns u.a. darin zeigen, daß wir die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen stets berücksichtigen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. RA2b BA3 Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sichfür uns u.a. darin zeigen, daß wir welche die Sicherheitsinteressen der Sowdie Sicherheitsinteressen der Sowjetjetunion und anderer union und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen <?page no="152"?> 152 ReformuHerungen stets berücksichtige berücksichtigen Wesentliche lexikalische Einheiten und Fügungen des Bezugsausdrucks werden weggelassen, so der einleitende Hauptsatz in BA3 Loyalität [...] wird [...] zeigen und die Fügung in den Verhandlungen. Die RA2a/ b—>BA2/ BA3-Relation RA2a Bis dahin würde sich auf dem Gebiet der heutigen DDR außer sowjetischen Streitkräften auch eine „sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee“ befinden, b welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer berücksichtige. BA2 Auf dem heutigen Gebiet der DDR wird sich fiir eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA befinden, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist. BA3 Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sich für uns u.a. darin zeigen, daß wir die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen stets berücksichtigen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Die im Bezugstext unmittelbar aufeinanderfolgenden, aber voneinander unabhängigen Sätze BA2 und BA3 werden in zwei Teilsätze ein und desselben Reformulierungsausdrucks umgewandelt, die in einer Hauptsatz-Nebensatz-Beziehung stehen. Dadurch entstehen neue relativische Konstruktionen. Weiterhin ist eine Agensveränderung zu konstatieren: Die Reformulierungseinheit Nationale Volksarmee ist eine Ersetzung des Pronomens wir, das jedoch auf ein anderes Objekt referiert. Propositionale Ebene. Es gibt auch hier wieder einen gemeinsamen Teil des propositionalen Gehalts: [Es gibt zwei Armeen auf einem Gebiet für eine bestimmte Zeit] <UND> [Eine dieser Armeen steht mit einer Reduktion in Zusammenhang] <UND> [Es gibt Sicherheitsinteressen] Die Unterschiede sehen folgendermaßen aus: - Sp2 sagt, Spl sagt, [Eine der Armeen reduziert sich] <UND> [berücksichtigt Sicherheitsinteressen] - Spl sagt, [Eine der Armeen ist reduziert <UND> ist defensiv ausgerichtet] <UND> [hat die Aufgabe des Schutzes ihres Gebietes] - Spl sagt weiter, [Es gibt die Warschauer Vertragsorganisation] <UND> [Es gibt Verhandlungen] <UND> [Loyalität wird gezeigt, <INDEM> in den Verhandlungen Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden] <?page no="153"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 153 Diese propositionale Struktur beinhaltet mehrere mögliche Präsuppositionen: <Es muß eine Notwendigkeit geben, jemandem Loyalität zu zeigen> und <Es müssen Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden>. Vor allem durch die Tilgung des Sachverhalts ‘Verhandlungen der Regierung mit Militärpartnem’ im Reformulierungsausdruck sowie durch die schon erwähnte Tilgung der Sinneinheit Defensive entsteht eine Sinnreduktion, die zu unterschiedlichen Interpretationen fuhren kann. Kommunikativ-diskursive Ebene. Im RA2a/ b erhält das Subjekt {Nationale Volksarmee) durch das Pronomen welche einen aktiven Status. Ihm wird durch Sp2 eine Handlung zugeschrieben, {Sicherheitsinteressen berücksichtigen), die im BA3 ein anderes Subjekt für sich beansprucht. Im BA3 steht das integrierende Pronomen wir für die Regierung und die Politiker des Landes, die ‘Loyalität zeigen’ und ‘Interessen berücksichtigen’ wollen. Auch durch die Verwendung des Pronomens erhält der Bezugsausdruck den Charakter einer (offiziellen) Zusage. Spl formuliert im BA2 eine Vorstellung, einen Wunsch, den er mit einem Versprechen verbindet: ‘Reduktion und defensive Ausrichtung der Armee’. In BA3 wird dieses Versprechen an die ehemaligen Bündnispartner noch unterstrichen. Sp2 reduziert dieses Versprechen bei seiner Reformulierung auf einen Nebensatz mit reinem Mitteilungscharakter. Um die Auffassung zu stützen, daß es sich bei der Wiedergabe dieser Bezugssequenz um eine reduzierte Wiedergabe handelt, muß man auch die einbettenden Kontextausdrücke KAI und KA2 betrachten. Dort formuliert de Maiziere den Willen der DDR, an Verhandlungen zur Auflösung der Militärblöcke und zur Schaffüng eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems teilzunehmen. Das Problem besteht u.a. darin, daß Sp2 mit dem Reformulierungsausdruck der im Bezugsausdruck angelegten Mehrfachadressierung nicht gerecht wird. Der Bezugsausdruck ist auch als Botschaft nach außen formuliert, z.B. an die im zweiten Satz explizit gemachten ehemaligen Partner im Warschauer Vertrag. Durch die Reformulierung, daß die Nationale Volksarmee Sicherheitsinteressen berücksichtigen werde und nicht die Regierung in Verhandlungen, kann die Spl-Äußerung, die man auch als Akt des Beruhigens interpretieren kann, eine Entwertung erfahren. Der beschriebene Agenswechsel bringt eine Verschiebung mit sich: Während sich Spl als Regierungschefin der Bezugssequenz durch das integrierende wir einbezieht und diesen Äußerungen durchaus den Charakter einer offiziellen politischen Zusage verleiht, kommt dies in der Reformulierungssequenz nicht mehr so klar zum Ausdruck. Hier wird die Äußerung von Spl als Aussage über den Willen einer Armee, nicht einer Regierung, präsentiert. b) Einbettung in neu produzierte Einheiten Bei diesen Fällen handelt es sich um nicht-satzförmige direkte Wiedergaben, die in von Sp2 neu produzierte Ausdrücke eingebettet sind. Das geschieht zu- <?page no="154"?> 154 Refonnulienmgen meist in kommentierenden und explizit bewertenden Passagen. Sp2 reformuliert Bezugseinheiten, indem er sie als Zitat präsentiert, um sie für eine eigene explizite Stellungnahme zu nutzen. (4/ 22) Aus dem Kommentar der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RS (FR/ K,20,3) NA1 Lothar de Maiziere muß mittlerweile auch Gefallen an der Macht gefunden haben. NA2 Er erteilt sich selbst ein (nicht unberechtigtes) Lob; die große Koalition, mit der er sein „anspruchsvolles Programm“ der totalen Erneuerung des ihm anvertrauten Staates in Angriff nehmen will, hat er in drei Wochen zusammengebracht. BS (REG) BA Das Programm dieser Regierung der demokratischen Mitte ist anspruchsvoll. KAI Wir wissen, daß wir einen mühsamen Weg vor uns haben. KA2 Keine Regierung kann Wunder vollbringen, aber wir werden das Mögliche mit aller Kraft anstreben. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Die Fügung anspruchsvolles Programm ist wiederum durch die Anführungszeichen als wörtliche Zitierung markiert. Ohne Vergleich mit dem Original ist die Funktion der Anführungszeichen in diesem Reformulierungsausdruck jedoch nicht eindeutig bestimmbar. Es gibt zumindest zwei Lesarten: Sp2 zitiert eine Bezugseinheit, die er für besonders bedeutsam bzw. hervorhebenswert hält, oder er bewertet eine von ihm neu produzierte Einheit in einer bestimmten Weise (distanzierend, ironisierend etc.). Auch die einbettenden, als Sp2-Kommentare identifizierbaren Einheiten bieten keine Einordnungsmöglichkeit. Es existiert jedoch ein Beleg im Bezugstext, der als Bezugsausdruck zu interpretieren ist und es gestattet, bei dieser durch Anführungszeichen markierten Fügung von einem Zitateinschub zu sprechen. BA (REG) Das Programm dieser Regierung der demokratischen Mitte ist anspruchsvoll. Die neu formulierten Einheiten in NA2 bilden eine Kombination aus Sp2- Kommentar und Hintergrundinformation. Das Zitat ist Ergebnis einer Nominalisierung eines im Bezugsausdruck explizit ausgedrückten Sachverhalts. Der propositionale Gehalt des einen Satzes (BA) von Spl bleibt bei isolierter Betrachtung der Transformation von BA zu RA erhalten. Die folgenden zwei Kontextausdrücke KAI und KA2 zeigen dann aber, daß der Sinn der Sequenz in keiner Weise wiedergegeben wird, sondern der Bezugsausdruck in seiner reformulierten Form in der Reformulierungssequenz in einem vollkommen neuen Kontext steht. <?page no="155"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 155 Die entscheidende Verschiebung ergibt sich jedoch auf der kommunikativen Ebene. Der kommunikative Sinn des Bezugsausdrucks liegt darin, daß Spl zu verstehen gibt, daß er Zweifel an den Erfolgsaussichten seines verkündeten Programms hinsichtlich des Umfangs und Anspruchs erwartet. Spl signalisiert, daß er diese möglichen Einwände antizipiert und akzeptiert, kündigt jedoch auch den Willen an, dieses Programm zu verwirklichen. Sp2 präsentiert den Bezugsausdruck als lobende Selbsteinschätzung von Spl und bewertet den von ihm so klassifizierten Spl-Sprechakt, indem er ihm eine moralische Qualität zuschreibt (Gefallen an der Macht gefunden). c) Einbettung in Reformulierungseinheiten und neu produzierte Einheiten Die nicht-satzförmigen wörtlichen Wiedergaben sind zumeist in eine Kombination von Reformulierungseinheiten und neu formulierten Einheiten eingebettet. Dabei weisen die von Sp2 neu formulierten Einheiten sehr verschieden ausgeprägte Explizitheitsgrade von Bewertungen auf. (4/ 23) Das Beispiel ist aus dem Redebericht des „Neuen Deutschlands“ vom 20.4.90, der einen besonders hohen Anteil an kommentierenden Passagen besitzt und deshalb eine Mischform darstellt. RS (ND,20,1) NA Denn Beitritt bedeutet eben nicht die Vereinigung souveräner Staaten. RA Das „entscheidende Wort“, das man mitreden will, hat so seine Grenzen. BS (REG) KA Das Ja zur Einheit ist gesprochen. BA Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Auch hier ist der Status der einzelnen Einheiten der Reformulierungssequenz ohne Hinzuziehung des Bezugsausdrucks nicht eindeutig erkennbar. Es zeigt sich, daß sowohl die Fügung entscheidendes Wort als auch der eingeschobene Nebensatz das man mitreden will Reformulierungseinheiten sind. Der propositionale Gehalt des Bezugsausdrucks wird auch hier im Reformulierungsausdruck wiedergegeben. Die entscheidende Verschiebung vollzieht sich ebenfalls auf der kommunikativen Ebene. Durch die neu formulierten Ausdrücke im sequentiellen Vor- und Nachfeld des Reformulierungsausdrucks macht Sp2 seine Bewertung sehr explizit. Er präsentiert seine Interpretation des Bezugsausdrucks als selbstbewußte Ankündigung von Spl, drückt aber gleichzeitig seine Zweifel am Gelingen der Spl-Ankündigung aus. Sp2 signalisiert damit Distanz. Dadurch besitzen diese Anführungszeichen sowohl eine Redemarkierungsfunktion als auch <?page no="156"?> 156 Refonnulierungen eine Indikatorenfunktion für die Einstellungsbekundung des Reformulierers. Der Hörer könnte diese Wiedergabe durchaus auch als ironisches Zitieren interpretieren. (4/ 24) Aus dem Kommentar der „Welt“ vom 20.4.90. RA (DW/ K,20,1) Eine „Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage“ freilich konnte er nicht ziehen, dafür haben seine Vorgänger bis hin zu Modrow gesorgt. BS (REG) KA Die Aufgabe der Regierung bei der Aufstellung und Ausführung des Staatshaushaltes für 1990 ist getragen von der notwendigen Stabilisierung der Staatsfinanzen und den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. BA Eine konkretere Aussage ist erst dann möglich, wenn der neuen Regierung eine vollständige Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage vorliegt. Dieser Reformulierungsausdruck läßt als Hauptsatz-Hauptsatz-Konstruktion sowohl eindeutige als auch nichteindeutige Zuordnungen zu: So kann man den zweiten Teilsatz dafür haben seine Vorgänger bis hin zu Modrow gesorgt schon durch seine sprachliche Struktur als von Sp2 neu produzierte Einheiten identifizieren. Beim ersten Teilsatz (Eine „Ausgangsbilanz [...] ziehen) dagegen ist dies nicht ohne weiteres möglich. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Aus dem Bezugsausdruck wird nur eine Fügung (Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage) isoliert und wörtlich in einem neuen Kontext wiederaufgenommen. Dabei ist der Konditionalsatz des Bezugsausdrucks (Eine konkrete Aussage ist erst dann möglich, wenn [...] vorliegt) in eine negierte Aussage im Reformulierungsausdruck transformiert (Eine „Ausgangsbilanz [...] “freilich konnte er nicht ziehen, [...]). Propositionale Ebene. Der zweite Hauptsatz des Reformulierungsausdrucks (dafür haben seine Vorgänger bis hin zu Modrow gesorgt) benennt die von Sp2 angenommene Ursache für den im ersten Hauptsatz (Eine „Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage “ konnte er nicht ziehen) ausgedrückten Sachverhalt. Sowohl im Reformulierungsausdruck als auch im Bezugsausdruck wird der Sachverhalt (SV1) ‘Nichtexistenz einer Ausgangsbilanz’ ausgedrückt. - Sp2 sagt, Spl sagt, [Es gibt einen Jemand, der für SV1 veranwortlich ist] - Spl sagt, <WEIL> [SV1 gilt, ist eine Aussage über den Staatshaushalt (SV2) <NOCH> nicht möglich] <?page no="157"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 157 - <WENN> [SV1 nicht mehr existent, <DANN> SV2 möglich] Kommunikativ-diskursive Ebene. Dies ist ein Reformulierungsvorgang, bei dem Sp2 bei der Wiedergabe eines Bezugsausdrucks einen emotionaleren Bewertungsgrad erreicht, als das Spl getan hat. Spl formuliert im Bezugsausdruck eine Feststellung, die indirekt ein Desiderat ausdrückt. Damit spielt Spl auf die Art und Weise der wirtschaftlichen Rechnungsführung und Statistik in der DDR an. Da diese Anspielung jedoch nur sehr indirekt formuliert wird, erreicht Spl eine sachliche, entemotionalisierte Aussage. Dies wird nun durch Sp2 im Reformulierungsausdruck aufgehoben. Er expliziert die Präsuppositionen und formuliert den Reformulierungsausdruck als polemische Aussage. Sp2 konkretisiert die Schuldzuweisung und interpretiert den Spl-Sprechakt als Sprechakt des Bedauerns. Wörter in Anführungszeichen: ein Grenzfall direkter Wiedergabe Den wörtlichen Zitierungen nur einer lexikalischen Einheit eine eindeutige Funktion zuzuschreiben erweist sich zumeist als kompliziert. Die Funktion des Informationstransfers kann bei dieser Bezugnahme kaum eine Rolle spielen, vielmehr ist es wohl die Vagheit, die in solchen Zitaten steckt. Fast immer können diese ‘Wörter in Anführungszeichen’ im Reformulierungsausdruck direkte Rede und/ oder eine Sp2-Interpretation bzw. -bewertung signalisieren. (4/ 25) Aus dem Redebericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.4.90: RA (SDZ,20,1) Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Währungsunion, voraussichtlich am 1. Juli 1990, „weitgehend“ beseitigt sein. BA (REG) Der Abbau des Planungssystems in seiner bisherigen Form sollte mit dem Stichtag Währungsunion weitgehend erreicht sein. In 4/ 25 ist ohne den Vergleich mit dem Bezugsausdruck nicht eindeutig festzulegen, ob das Adverb weitgehend mit den Anführungszeichen nun eine wörtliche Wiedergabe ist oder ein von Sp2 eingefügter interpretativer Kommentar. Beim Vergleich mit dem Bezugsausdruck wird dies nicht unbedingt leichter. Nun wird zwar deutlich, daß weitgehend die Wiedergabe einer Bezugseinheit darstellt. Es gibt jedoch mehrere Möglichkeiten, wie die Verwendung dieser Anführungszeichen zu interpretieren ist: Durch die Anführungszeichen will Sp2 den Eindruck von Authentizität der Reformulierung schaffen, gewissermaßen als eine Art Verständnishilfe. Sp2 kann sie aber auch als Mittel der Distanzierung oder der Ironie eingesetzt haben. Der kommunikative Sinn des Reformulierungsausdrucks könnte somit auch in der Weise interpretiert <?page no="158"?> 158 Refonnulierungen werden, daß Sp2 in irgendeiner Art Zweifel an der im Bezugsausdruck enthaltenen Aussage hegt. Die Analyse der nicht-satzförmigen direkten Wiedergaben hat gezeigt, daß eindeutige Zuordnungen nur noch in den wenigsten Fällen möglich sind. Zumeist bleibt die Funktion der Anführungszeichen (als Redekennzeichnung und/ oder Sp2-Bewertung) nicht eindeutig bestimmbar, nicht selten überlagern sich beide in einem Ausdruck. Satzförmige Zitierungen haben einen höheren Normativitätsgrad und Geltungsanspruch, während nicht-satzförmige ganz variabel eingesetzt werden können, bis hin zu einer von der ursprünglichen Umgebung im Bezugstext unabhängigen Reformulierung in einem von Sp2 neu formulierten Kontext. 4.2 Äußerungsvernetzungen durch freie Wiedergaben Nachdem die Redewiedergabe ausführlich behandelt worden ist, soll nun der zweite Reformulierungstyp diskutiert werden, der nicht als Redewiedergabe aufgefaßt werden kann und doch ein Wiederaufnahmeverfahren darstellt: die freie Wiedergabe. Freie Wiedergaben kommen, wie gesagt, auf zweifache Weise vor; zum einen als Sp2-Reden über Inhalt, Ziele und Absichten eines Spl-Sprechaktes (berichtende Wiedergaben), zum anderen in stark zusammenfassenden Passagen (komprimierende Wiedergaben). 4.2.1 Berichtende Wiedergaben Diese Gruppe von Reformulierungen kann man durchaus auch als eine Art ‘Metareformulierungen’ bezeichnen, die eine relevante Konstituente vor allem in den Reformulierungstexten (T2) darstellt. Oft handelt es sich dabei um Reformulierungsausdrücke bzw. -Sequenzen, die Konstruktionen mit Modalverben enthalten: Sp2 sagt, Spl bzw. jemand (Spl) will etwas (p) tun bzw. etwas (p) soll (laut Spl) getan werden. Es können jedoch auch ganz normale Aussagesätze ohne modale Ausdrucksmittel sein. RA (FR,20,1) Dezentral soll auch das künftige politische System in der DDR organisiert sein. BA (REG) Demokratie bedarf neben der Rechtsstaatlichkeit einer weiteren Bedingung: Dezentralisierung der Macht. oder RA(FR,20,1) Beim Datenschutz will sich Ost-Berlin an der Bundesrepublik orientieren. <?page no="159"?> Eine analytische Beschreibung von Rcfonnulierungsrelationen 159 BA (REG) Hinsichtlich der Gewährleistung des Personen- und Datenschutzes werden wir uns am entsprechenden Recht der Bundesrepublik orientieren. Hauptcharakteristika dieser Reformulierungsausdrücke und -Sequenzen sind die potentielle Offenheit hinsichtlich ihres Wiedergabestatus und ihre zahlreichen Möglichkeiten für referentielle Relationen. Im Gegensatz zu indirekten und direkten Wiedergaben ist bei der Betrachtung dieser Reformulierungsausdrücke in T2-n in den meisten Fällen nicht eindeutig erkennbar, daß es sich um Reformulierungen handelt, die sich nicht nur im Prinzip auf entsprechende sprachliche Objekte im Bezugstext beziehen, sondern diese Objekte auch so im Detail wiedergeben. Es ist also bei diesen Reformulierungsausdrücken ohne den Vergleich mit dem Original nicht zu ersehen, daß es sich auch in diesen Fällen oft um Wiedergaben von Originalelementen des Bezugstextes handelt. Die meisten dieser Reformulierungen sind aber in der Tat zumindest auf der propositionalen Ebene ‘originalgetreu’ bis ins Detail. Sp2 nimmt bei solchen berichtenden Reformulierungen in der Regel auf ein bereits von Spl ausgedrücktes Handlungsziel oder auf eine von Spl als Feststellung formulierte Äußerung explizit Bezug. Sp2 präsentiert diese Reformulierungsausdrücke auf einer Art Metaebene, indem er über Handlungsabsichten von Spl in Form von angestrebten Zielen (erwünschten Zuständen etc.) berichtet. Die wiedergegebenen Ausdrücke erscheinen wie vom Reformulierer produzierte Reflektionen über Originaläußerungen. Er verwendet dabei jedoch nicht wie man annehmen könnte vorzugsweise von ihm selbst neu produzierte Einheiten, sondern reformuliert überwiegend Bezugseinheiten. Er reformuliert also Elemente des Bezugstextes, ohne dies im Einzelnen ausdrücklich zu markieren. Sp2 referiert in den Reformulierungsausdrücken in den meisten Fällen demzufolge nicht explizit auf den Sprechakt der Ankündigung (also de Maiziere kündigte an, de Maiziere versprach p), sondern auf den Inhalt der Ankündigung (also p soll sein bzw. de Maiziere will p tun). Es handelt sich somit um einen Spezialfall der propositionalen Referenz, wobei im Reformulierungsausdruck nicht mehr relevant ist, daß und wie Spl diese Aussage getroffen hat, sondern daß der Reformulierungsausdruck eine Aussage über ein mögliches Resultat der angekündigten Handlung darstellt. Diese Sonderform findet vor allem in den resümierenden Reformulierungssequenzen ihre Anwendung: Sp2 formuliert eine Quintessenz aus den Mitteilungen von Spl unter Benutzung von Spl- Formulierungen und lexikalisch-syntaktischen Strukturen des Bezugstextes. Die entsprechenden Bezugsausdrücke können sowohl Sprachhandlungen sein, die einen Sachverhalt beschreiben: BA (REG) Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. = repräsentativer Sprechakt (Aussage) <?page no="160"?> 160 Refoniiulierungen RA (FR/ K,20,3) Der Beitritt der DDR soll nach Neugründung der alten fünf Länder über den Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen. oder aber Sprachhandlungen darstellen, mit denen Sprecherl die Verpflichtung zu einer zukünftigen Handlung eingeht. BA (REG) Um den Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen zu beschützen, werden wir ein umfassendes Datenschutzgesetz vorlegen. = kommissiver Sprechakt (Ankündigung) RA (DW,20,4) Ein Datenschutzgesetz soll die Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen schützen. Solche Repräsentativa oder Kommissiva werden in den Reformulierungsausdrücken durchweg als kommissive Sprechakte (Versprechen, Zusagen, Ankündigungen), z.B. durch die Verwendung modaler Konstruktionen mit ‘sollen’, ‘wollen’ usw., wiedergegeben. Sie weisen keine Redewiedergabestruktur auf, beziehen sich in vielen Beispielen aber trotzdem explizit auf BA-Propositionen und geben diese oft sehr ausführlich wieder. Die wiedergegebenen Propositionen haben im Gegensatz zu den direkten und indirekten Wiedergaben jedoch keinen dominierenden Status. Sie werden vielmehr in eine Globalaussage über ein angekündigtes Handlungsziel eingebettet. Ob sich diese berichtenden Wiedergaben am Bezugstext orientieren oder ob Einstellungen von Sp2 beteiligt sind, läßt sich z.B. anhand der Art und Weise der Umwandlungen der Verbalphrasen im Bezugstext in modale Konstruktionen im Reformulierungsausdruck rekonstruieren. Mit einigen ausgewählten Beispielen sollen einige typische Möglichkeiten des Informationstransfers, der Bewertung und Interpretation dargestellt werden. (4/ 26) Aus dem Redebericht der „Welt“ vom 20.4.90: RA (DW,20,4) Ein Datenschutzgesetz soll die Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen schützen. BA (REG) Um den Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen zu beschützen, werden wir ein umfassendes Datenschutzgesetz vorlegen. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Hier liegt ein typischer Fall freier Wiedergabe vor, wobei die wesentliche Veränderung syntaktischer Natur ist. Eine aktiv formulierte Äußerung (BA) wir werdet} vorlegen, um zu beschützen wird in eine Soll-Konstruktion (RA) soll schützen umgewandelt. Dabei erfolgt <?page no="161"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 161 eine Auflösung der Infinitivkonstruktion im Bezugsausdruck Um [...] zu beschützen bei Wiederaufnahme aller lexikalischen Elemente dieses Teilsatzes (Bürger, in Zukunft, vor Bespitzelungen schützen, in der Ersetzung beschützen). Diese lexikalischen Einheiten sind im Reformulierungsausdruck in einem Hauptsatz komprimiert. Aus dem zweiten Teilsatz des Bezugsausdrucks wurde nur die Einheit Datenschutzgesetz wiederaufgenommen, alle anderen nicht (wir werden vorlegen, umfassendes). Propositionale Ebene. Es gibt einen gemeinsamen Teil an propositionalen Elementen: [Es gibt die Notwendigkeit, die Bürger vor Bespitzelung zu schützen] <UND> [Es ist ein Datenschutzgesetz zu schaffen]. Allerdings sind die interpropositionalen Relationen leicht verschoben: Die im Bezugsausdruck durch um [...] zu schützen explizierte finale Relation zwischen den beiden Propositionen wird im Reformulierungsausdruck nicht ausgedrückt, sondern präsupponiert. (4/ 27) Aus dem Redebericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RA (FR,20,1) Die neue Regienmg in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. BS1 (REG) KAI Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gnt. so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. BAI Die Diskussionen um die Währungsumstcllung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. (REG) Alle politischen Kräfte Europas nehmen heute teil an dem Prozeß der Einigung Deutschlands. Wir vertreten in ihm die Interessen der Bürger der DDR. Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Uber den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Diese freie Wiedergabe weist eine Sprecherkennzeichnung in weiterem Sinne auf. Die Fügung die neue Regierung in Ost-Berlin ist durchaus als Sp 1-Kennzeichnung aufzufassen, nur in einem vermittelten Sinne. Es wird der Status von Sprecher 1 dahingehend präzisiert, daß die Gruppe, für die er legitimiert ist zu sprechen, benannt wird (neue Regierung). Des weiteren wird nicht allein ein redekennzeichnendes Verb hin- BS2 KA2 KA3 BA2 BA3 <?page no="162"?> 162 Refonnulierungen zugefugt, sondern die Äußerung von Spl zugleich interpretiert. Daß es sich um eine freie Wiedergabe handelt, signalisiert die ein Handlungsziel anzeigende Verbalphrase (will verhindern). Der mit der Konjunktion daß eingeleitete Nebensatz besteht nur aus Reformulierungseinheiten, die Bezugseinheiten aus verschiedenen Sequenzen des Bezugstextes wiederaufnehmen. Propositionale Ebene. Die Reformulierungseinheiten werden im Reformulierungsausdruck zu einer neuen Sinneinheit fusioniert, die dieser Wiedergabe trotz der fast ausschließlichen Verwendung von Bezugseinheiten eigentlich den Status einer freien Wiedergabe verleiht, die interpretativen Charakter hat. (4/ 28) Aus dem Kommentar der „Frankfurter Rundschau“ vom 20.4.90: RA (FR/ K,20,3) Der Beitritt der DDR soll nach Neugründung der alten fünf Länder über den Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen. BA (REG) Beide Anliegen. Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten. wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Die jeweilige sequentielle Struktur sieht folgendermaßen aus: - Sp2 sagt [Es gibt einen Sachverhalt X (Neugriindung von Bundesländern)] <UND> [Es gibt einen Sachverhalt Y (Beitritt eines Landes nach Artikel 23)] <UND> [Und Y folgt nach X] - Spl sagt, [Es gibt einen Sachverhalt ‘Anliegen’ (Tempo und Qualität) <bei der Vereinigung>] [Dieser Sachverhalt soll gesichert werden] [Er kann <DANN> gesichert werden, wenn Jemand (wir) SVY herstellt (vereinbaren), <NÄMLICH> die Einheit über einen Vertrag nach Artikel 23 verwirklicht] An diesem Reformulierungsbeispiel wird noch einmal deutlich, wie Transformationen von Verbalphrasen bei den berichtenden Wiedergaben erfolgen und daß diese Ersetzungen durchaus auch sinnverändernden Charakter haben können. Es wird insbesondere durch den Sequenzvergleich deutlich, daß die Reformulierer durch die freie Wiedergabestruktur neue Zusammenhänge konstruieren können, obwohl sie Bezugseinheiten durchaus verwenden. Hier kann man nicht einmal von ableitbaren Ersetzungen sprechen, vielmehr formulieren die Sprecher neue Sachverhalte, wobei diese zumindest im Prinzip durchaus dem Bezugstext entsprechen. <?page no="163"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 163 4.2.2 Komprimierende Wiedergaben Dieser Subtyp freier Reformulierungen ist die am schwersten eingrenzbare Wiedergabeform, da er sich nicht unter eine der anderen Wiedergabeformen subsumieren läßt, aber ebenso einen großen Anteil an propositionalen Elementen des Bezugstextes aufweist. Komprimierende Wiedergaben kommen besonders häufig als Zusammenfassungen im Vorspann der Redeberichte und vor allem in Kommentaren vor. Durch den stark komprimierenden Charakter solcher freien Reformulierungen verändert sich fast immer die argumentative Struktur vom Bezugsausdruck zum Reformulierungsausdruck, und diese Reformulierungsausdrücke tendieren in manchen Fällen schon sehr zu neu produzierten Ausdrücken oder gar zu direkten Sp2-Kommentaren, bestehen jedoch fast ausschließlich aus Bezugseinheiten. Letztere können aber in ganz unterschiedlichen Kontexten im Bezugstext stehen. Gerade bei diesen freien Wiedergaben läßt sich zeigen, wie Sp2 sowohl wirkliche Bezugsausdrücke und -einheiten wiederaufnimmt, aber auch Einheiten als Reformulierungsausdrücke präsentiert, die Spl nicht verwendet hat. (4/ 29) Aus dem Kommentar des „Morgens“ vom 23.4.90: RS (DM/ K,23,3) Unser Premier hat gesagt, wo und wie wir arbeiten, leben und wohnen wollen. In einer ökologisch verpflichteten, sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dafür bewährte Vorbilder, und der Christdemokrat an der Spitze unserer Regierung hat mit klaren Worten bekräftigt, daß die Hinwendung zum Markt kein Abschied ist von sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität. Aber einfach wird es nicht werden. De facto leben wir noch mit den Resten staatlich gelenkter Kommandowirtschaft. BS (REG) Wer aber glaubt, damit (mit diesem Umbruch, d.A.) müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt sich genauso. Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße naclikommen zu können. Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten, sozialen Marktwirtschaft. BA (REG) Die wirtschaftspolitische Zielstellung der Koalitionsregierung besteht darin, die bisherige staatlich gelenkte Kommandowirtschaft auf eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft umzustellen. <?page no="164"?> 164 ReformuUerungen Ebene der sprachlichen Ausdrucksform. Dies ist ein typischer Fall für eine komprimierende freie Wiedergabe: Mehrere Bezugseinheiten bzw. Bezugsausdrücke werden wiederaufgenommen und in einen eigenen Kommentartext von Sp2 eingebettet (Wer aber glaubt, damit müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität [...] verabschieden; Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft; staatlich gelenkte Kommandowirtschaft). Die relativische Konstruktion wer [...] der [...] wird in eine Negation umgewandelt: kein Abschied von [...]. Der Bezugsausdruck Wir wollen arbeiten [...] wird von Sp2 als Bericht über eine Spl-Äußerung präsentiert unter Beibehaltung der lexiko-semantischen Struktur. Die Bezugsfugung staatlich gelenkte Kommandowirtschaft wird schließlich in einen von Sp2 neu produzierten Ausdruck eingebettet. Propositionale Ebene. Interessant ist nun, daß die Reformulierungssequenz eine von Sp2 neu konstruierte Argumentationsstruktur ist, in der Sp2 seine Thesen mit den Reformulierungen stützt, und dies trotzdem eine angemessene freie Wiedergabe der argumentativen Zusammenhänge im Bezugstext darstellt: - Sp2 sagt, [Jemand (Spl: unser Premier) hat sich zu etwas bekannt (ökologisch verpflichtete, soziale Marktwirtschaft) Sp2 sagt [Dafür gibt es Vorbilder] - Sp2 sagt, Spl sagt [Bekenntnis zur Marktwirtschaft bedeutet nicht Aufgabe von moralischen Werten] (Negation: [Es gibt einen Jemand, der dies sagt/ meint] <ABER> [Umsetzung dieses Bekenntnisses ist kompliziert] <WEIL> [Existenz von alten Strukturen] 4.3 Redewiedergaben und freie Reformulierungen im Diskurs eine Zusammenfassung Nachdem Reformulierungen im Detail analysiert und beschrieben sind, wird nun noch einmal ein Überblick über spezifische Vorkommensweisen der einzelnen Reformulierungstypen und ihrer Unterformen sowie über typische Reformulierungseffekte gegeben. Grundsätzlich ist anzumerken, daß sich das im 3. Kapitel entwickelte Kategorieninventar, vor allem die Erweiterungen hinsichtlich der vom Sprecher neu produzierten Ausdrücke (NA) und der sequentiellen Kategorien (Bezugs- und Reformulierungssequenzen) sowie die Binnendifferenzierung innerhalb der Bezugsausdrücke und der Reformulierungsausdrücke (Kontexteinheiten, neu produzierte Einheiten), als notwendig und ergiebig erwiesen hat. Alle Verschiebungen auf der Satz- und Sequenzebene lassen sich vor dem Hinter- <?page no="165"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulicrungsrelationen 165 grund dieser Entitäten und ihrem Verhältnis zueinander erklären. Deutlich ist aber auch geworden, daß der Anteil dieser Einheiten noch nichts über die Reformulierungseffekte aussagen muß, d.h., eine Reformulierungssequenz, die einen hohen Anteil an von Sp2 neu produzierten Ausdrücken enthält, kann in viel größerem Maße die Originaltextwelt abbilden als eine Sequenz, die nur aus Reformulierungsausdrücken besteht. Die Hypothese, daß die drei Funktionen von Reformulierungen zwischen Texten (Informieren, Bewertungsangebot und Interpretationsangebot) bei diesen Wiederaufnahmevorgängen oft parallel realisiert werden, konnte durch die empirische Analyse verifiziert werden. Dabei ist deutlich geworden, daß sich die Funktionen nicht auf eine Ebene etwa die kommunikative reduzieren lassen, sondern auch auf die anderen beziehbar sind. Sp2 kann bereits auf der Ebene der Ausdrucksform eine Bewertung oder Interpretation vornehmen, indem er beispielsweise die syntaktische Struktur des Bezugsausdrucks verändert (z.B. vom Passiv zum Aktiv) oder eine neutrale lexikalische Einheit durch eine stärker konnotierte ersetzt. Er kann durch die Fokussierung eines bestimmten Teils des propositionalen Gehalts einen Bezugsausdruck auf eine ganz bestimmte Art und Weise interpretieren. Er kann schließlich einen Spl- Sprechakt explizieren und bewerten. Eine besondere Eignung einzelner sprachlicher Mittel bzw. Verfahren für Bewertungen oder Interpretationen ist nicht festgestellt worden. Minimale Eingriffe wie die Tilgung einer einzigen lexikalischen Einheit können daher weitreichendere Folgen haben als der sehr freie Einsatz neu produzierter Einheiten. Eine Vielzahl sprachlicher Operationen und damit einhergehender Verschiebungen von einem Bezugsausdruck zu einem Reformulierungsausdruck erfolgt bereits satzintern. Inwieweit diese Verschiebungen die Bezugsausdrücke und -Sequenzen abbilden oder nicht, entscheidet indes oft erst die sequentielle Einbettung (Mikroargumentationsstruktur). In den untersuchten Texten T2 (Reformulierungstexte = Redebericht), T3 (wiedergebende Texte = Kommentar), T4-Tn (wiedergebende Texte = Redenachricht, Statement, Debatte, Interview) kommen alle Reformulierungstypen (indirekte und direkte Redewiedergabe, freie berichtende Wiedergabe und freie komprimierende Wiedergabe) in fast allen möglichen Kombinationen vor, wobei keine besonderen Präferenzen für ganz bestimmte Wiedergabeformen in Abhängigkeit vom jeweiligen Texttyp konstatierbar sind; also etwa in dem Sinn, daß sich direkte Rede besonders für Redeberichte und indirekte Rede besonders für Kommentare eigne. Insgesamt hat sich die indirekte Redewiedergabe als die dominierende Wiedergabeform in allen Texten herauskristallisiert. Auch wenn also keine besondere Eignung einzelner Wiedergabeformen für ganz bestimmte Texttypen innerhalb der Reformulierungskette bestätigt wer- <?page no="166"?> 166 Refoniwlierungen den kann, ist es durchaus möglich, für die unterschiedlichen Reformulierungstypen auch spezifische Eigenschaften anzunehmen, die sie dazu prädestinieren, in einer konkreten Situation von den Sprechern bevorzugt eingesetzt zu werden. Den Reformulierungsverfahren Redewiedergabe und freie Wiedergabe können innerhalb der jeweiligen Texte durchaus ganz bestimmte spezifische Funktionen zugeschrieben werden. 22 Ganz allgemein ist festzuhalten, daß die wirklich eingreifenden Abweichungen hinsichtlich bestimmter Interpretationen und Bewertungen des Bezugstextes vorrangig in den Redewiedergaben nachweisbar sind und weniger was eigentlich zu erwarten gewesen wäre in den freien Wiedergaben. 4.3.1 Indirekte Wiedergabe im Diskurs Präsentiert ein Sprecher seine Reformulierung als eine indirekte Redewiedergabe, kann er auf der einen Seite den auch bei dieser Wiedergabeform noch existierenden Authentizitätsgehalt nutzen, auf der anderen Seite ist diese sprachliche Form aber auch offen genug, um potentielle Interpretations- und Bewertungsvarianten mitzuformulieren. In der Regel ist der Hörer in der Lage zu verstehen, daß sich Sp2 indirekt auf einen Bezugsausdruck bezieht und diesen im großen und ganzen auch so wiedergibt. Sp2 signalisiert jedoch dem Hörer mit der Mittelwahl auch, daß seine Wiedergabe an der sprachlichen Oberfläche möglicherweise nicht ganz originalgetreu ist und dies gemäß der Konvention für indirektes Wiedergeben ja auch nicht sein muß. Der Hörer besitzt in der Regel eine Art Musterwissen über den Charakter indirekter Redewiedergaben, derart, daß Abweichungen vom Original bei dieser Wiedergabeform durchaus zulässig sind. Der Reformulierer kann nun gewissermaßen durch das Muster sanktioniert am Bezugsausdruck Veränderungen und ggf. Uminterpretationen oder Bewertungen vornehmen, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Es hat sich gezeigt, daß es bei indirekter Rede im Gegensatz zur direkten Rede gar nicht in dem Maße relevant ist, ob die Redekennzeichnung satzintern oder im unmittelbaren sequentiellen Vorbzw. Nachfeld des Reformulierungsausdrucks erfolgt. In der Regel haben Redekennzeichnungen bei der indirekten Rede keine wirkliche Bedeutung als Einordnungsinstanz, so wie das bei der direkten Rede der Fall ist. Der Reformulierer benötigt diese Redekennzeichnungen beim indirekten Wiedergeben nicht als Interpretationsbzw. Be- 22 Würde man Journalisten nach ihrer Reformulienmgspraxis fragen, bekäme man sicher zunächst die Antwort, daß sie einfach variieren wollten und deshalb zwischen den einzelnen Wiedergabeformen wechselten. Bald würden sie aber auch auf die besondere Rolle von direkter Rede in Meldungen und Berichten zur Erhöhung des Authentizitätsgrades und der Glaubwürdigkeit zu sprechen kommen (vgl. auch die in Fußnote 20 erwähnten AP-Richtlinien für Zitatverwendung, Frohner (1994)). <?page no="167"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 167 wertungsstützen, da indirekte Wiedergaben selbst veränderbar sein dürfen und mitgelieferte Interpretationen des wiedergebenden Sprechers faktisch mit einschließen. Eine Ausnahme bilden Explizierungen illokutiver Funktionen und Sprecherrollen, die natürlich auch beim indirekten Wiedergeben Vorkommen und eine erhebliche Interpretationsmöglichkeit besitzen. 4.3.2 Direkte Wiedergabe im Diskurs Anders stellt sich dies bei den satzförmigen direkten Wiedergaben dar. Im Gegensatz zu nicht-satzförmigen Zitierungen oder gar indirekten Wiedergaben impliziert diese Wiedergabeform einen ungleich höheren Wahrheitsanspruch und wird demzufolge wohl auch bei der Einschätzung des Wiedergegebenen durch den Leser weniger angezweifelt. Hier besitzen dann auch die Redekennzeichnungen, die wie gesehen unendlich vielfältig sein können (von einer lexikalischen Einheit bis zu komplexen Sätzen, die selbst schon Reformulierungen sind), einen anderen Stellenwert. Sie fungieren als eigentliche Einordnungsinstanz, indem sie von Fall zu Fall bereits Interpretations- oder Bewertungshilfen für das eingebettete unveränderbare Zitat anbieten. Die Kategorie des ‘Einbettungsmusters’ bezeichnet dieses Phänomen beim direkten Zitieren wie sich herausstellte exakter als die der ‘Redekennzeichnung’ und wird auch einer sequentiell-textuellen Sichtweise besser gerecht. Diese direkten satzförmigen Wiedergaben leisten einen entscheidenden Beitrag zur Information über Gesagtes, indem sie mit dem Zitat nicht nur auf den Inhalt referieren, sondern durch die Beibehaltung der Ausdrucksform einen Eindruck von der Originaltextwelt vermitteln und die einzelne Bezugsäußerung sowohl hinsichtlich der sprachlich-formalen, der propositionalen als auch der funktionalen Aspekte angemessen präsentieren. Dies sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob sich diese Angemessenheit auch auf die sequentielle Umgebung bzw. den argumentativen Zusammenhang beziehen läßt. Gerade die sequentiellen Umgebungen mit ihrem argumentativen Potential haben sich ja als die eigentlichen Einordungsinstanzen für Sp2-abhängige Interpretationen und Bewertungen von wiedergegebenen Äußerungen erwiesen. Eine schwierig zu beantwortende Frage bleibt dennoch die Frage nach den Faktoren, die die Entscheidung für die eine oder andere Wiedergabeform beeinflussen. Einige Ausdrücke werden wie die Analyse gezeigt hat einerseits besonders häufig direkt zitiert. Andererseits werden fast alle satzförmigen Zitate auch noch in anderer Form reformuliert (nicht-satzförmig, indirekt, frei), was bedeutet, daß diese Wiedergabeform auch noch andere Funktionen als den Transfer authentischer Informationen haben muß. Es sind vor allem solche Bezugsausdrücke, die eine besondere Rolle in der Diskurswelt spielen, in die sie hineinproduziert wurden. Spl äußert diese Bezugsausdrücke selbst schon als Reaktion auf einen laufenden Diskurs, er antwortet, stellt klar, be- <?page no="168"?> 168 Refoniiulierungen zieht Position. Dazu seien nur zwei Beispiele genannt: die Diskussion um den Umtauschkurs bei einer Währungsunion und die Bewältigung der DDR-Vergangenheit. Aufgrund des prominenten Status von Spl (als Ministerpräsident) werden bestimmte relevante von ihm geäußerte Bezugsausdrücke als Beitrag zur öffentlichen Diskussion gewertet. Sie besitzen entweder einen hohen Akzeptanzgrad oder ein entsprechend großes Widerspruchspotential und sind deswegen in besonderer Weise direkt zitierbar: Spl hat sich zu diesem relevanten Thema genau so und nicht anders geäußert, was dem darauffolgenden Diskurs eine bestimmte Richtung geben kann. Diese Äußerungen werden von Sp2 als Autoritätsäußerungen reformuliert, um dann in anderen Kontexten interpretiert und bewertet zu werden. Darüber hinaus sind es auch sprachlichstilistische Besonderheiten, die bei einer freieren Wiedergabe verloren gehen würden. Unter anderem sprechen folgende Kriterien für die Bevorzugung bestimmter Bezugsausdrücke als Zitierung: - Argumentative Relevanz; Bedeutsamkeit in der Diskurswelt, damit verbundene Häufigkeit; sprachliche Unveränderbarkeit des Bezugsausdrucks, z.B. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Aufgrund der hohen Wiederaufnahmefrequenz läßt sich hier von einem Kernsatz der Regierungserklärung sprechen, der relevant für die argumentative Strategie von Spl ist. Durch das Konfrontieren von Teilung mit teilen ist dieser Satz auch sprachlich-stilistisch prädestiniert, als vollständiger Satz zitiert zu werden, z.B. Der CDU-Politiker sagte: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden.“ (FR,20,1) - Diskursuntypische Spl-Bewertung im Bezugsausdruck, z.B. „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer mir ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahlfernzubleiben.“ Diese stark wertende Spl-Äußerung wird in vielen Texten als ganzer Äußerungskomplex direkt wiedergegeben, da er zumindest ungewöhnlich für die dominierenden Argumentationen der damaligen Diskurswelt ist: De Maiziere nimmt keine pauschale Schuldzuschreibung an eine Seite vor, sondern versucht, Vergangenheit und die Verantwortung des einzelnen differenziert zu betrachten. Mit einer satzförmigen direkten Redewiedergabe, wie im folgenden Beispiel, kennzeichnet der Reformulierer dann diese Aussage als Spl-Bewertung. Durch die eingefügten Anführungszeichen bleibt aber offen, ob er diese Einschätzung teilt oder ohne eigenen Kommentar zitiert: Zur Geschichte der DDR sagte de Maiziere: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahlfernzubleiben.“ (FR,20,2) <?page no="169"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 169 Regierungsoffizieller Sprechakt des Erstredners, z.B. Im Namen der Regierung stelle ich hier fest: Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition. Hier wird mit dem direkten satzförmigen Zitat der Charakter des deklarativen Sprechaktes aufrechterhalten. Spl expliziert seinen Status als Regierungsoberhaupt, um dieser Versicherung Nachdruck zu verleihen, was sich dann im Reformulierungsausdruck z.B. wiederfmdet: Zum Eigentum an Grund in der Land- und Forstwirtschaft betonte er: „Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition.“ (SDZ,20,1) Diskursiv-perspektivische Relevanz des Bezugsausdrucks, z.B. Das Ja zur Einheit ist gesprochen, über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Dieser Bezugsausdruck enthält zwei wesentliche Aussagen des Bezugstextes innerhalb eines Satzes, die als programmatisch gelten können. Ausführlichere Paraphrasierungen würden diese Programmatik von Spl nicht so treffend wiedergeben können wie der Satz selbst, deshalb auch hier wieder satzwertiges Zitieren: Direkt an die Adresse der BRD gerichtet, erklärte er: „Das Ja zur Einheit ist gesprochen, über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“. (TAZ,21,3) Ausgeprägt emotiver Charakter des Bezugsausdrucks, z.B. „ Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußtmachen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischen Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. “ Die stark konnotierten lexikalischen Einheiten seelische Schäden, Haß, Unduldsamkeit, Müdigkeit, Verzweiflung, freie Menschen verleihen dem Bezugsausdruck einen hohen emotionalen Gehalt. Als direktes satzförmiges Zitat bleibt dieser Charakter erhalten: Als „eigentliche Krankheit der DDR “ bezeichnete de Maiziere den diktatorischen Zentralismus, unter dem es eine menschliche Leistung gewesen sei, dem eigenen Gewissen zu folgen. „ Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußtmachen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischen Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. “ (TS,20,1) Dieser Beleg macht darüber hinaus sehr deutlich, in welchem Maße solche einbettenden Ausdrücke wie Als eigentliche Krankheit [...] zu folgen die Funktion eines Interpretationsangebots realisieren können. In diesem speziellen Fall präsentiert sich der einbettende Ausdruck selbst als Reformulierung, obwohl es keinen entsprechenden Originalausdruck im Bezugstext gibt. Sprachlich und inhaltlich treffend formulierter Bezugsausdruck, z.B. Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. Die Formulierung ist in besonderer Weise direkt zitierbar, weil sie Haupt- <?page no="170"?> 170 Refonnulieningen aussagen des Bezugstextes in konzentrierter Form komprimiert und durch die sprachliche Gestaltung besonders gut rezipierbar macht. Eine Reformulierung lautet folgendermaßen: Wörtlich sagte der Regierungschef: „Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig.“ (DM,20,1) Nicht-satzförmige direkte Wiedergaben also durch Anführungszeichen gekennzeichnete lexikalische Einheiten, Wortgruppen oder Teilsätze konnten in der Regel nur im Zusammenhang mit indirekter Rede beschrieben werden, da sie fast immer in eine indirekte Wiedergabestruktur eingebettet sind. Die mehr oder minder komplexen Zitateinschübe haben sich daher als nichteigenständige Wiedergabeform erwiesen. Anders als die als wörtliche Zitierung präsentierten Wiedergaben mit Satzstatus bilden diese nicht-satzförmigen Wiedergaben nämlich nur in den seltensten Fällen vollständige Originalstrukturen ab. Mit abnehmender Komplexität der Entität, die innerhalb einer indirekten Rede in Anführungszeichen steht, nimmt auch der Informationsgehalt über die Struktur der Originaläußerung ab. Der Reformulierungsausdruck gibt dann immer weniger Aufschluß darüber, ob es sich bei dem Zitateinschub tatsächlich um eine Redewiedergabe handelt oder vielmehr um ein sprachliches Signal, mit dem Sp2 seine eigene Einstellung zum Gesagten deutlich machen will. Solche Zitateinschübe haben vor allem folgende Funktionen: Zitateinschübe als direkte Redewiedergabe RA (ND,20,1) Die Marktwirtschaft, die seine Regierung anstrebe, beschrieb der Premier als „eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können.“ BA (REG) Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können. Der Reformulierungsausdruck weist die Struktur einer indirekten Rede auf, wobei der größte Teil des Satzes in Anführungszeichen steht. Hier kann man durchaus noch davon sprechen, daß ein nicht-satzförmiges Zitat Rede direkt wiedergibt. <?page no="171"?> Eine analytische Beschreibung von Refonnulierungsrelationen 171 Zitateinschübe als Wiedergabe von Spl-Bewertungen RA (FAZ,20,2) Im Bildungswesen habe die neue Regierung von der SED „ein katastrophales Erbe“ übernehmen müssen. BA (REG) Ein katastrophales Erbe übernehmen wir von der SED-Herrschaft auch im Bildungswesen. Eine von Spl vorgenommene Bewertung wird übernommen und explizit als Fremdäußerung gekennzeichnet (vgl. auch 4/ 22). Zitateinschübe mit fokussierender Funktion RA (FAZ,20,2) Ein künftiges europäisches Sicherheitssystem solle „immer weniger militärische Funktionen“ haben. BA (REG) Ein europäisches Sicherheitssystem mit immer weniger militärischen Funktionen ist dabei unser Verhandlungsziel. Innerhalb eines Reformulierungsausdrucks wird ein bestimmter Teil besonders hervorgehoben (vgl. auch 4/ 21). Zitateinschübe als Mittel der Einstellungsbekundung von Sp2 RA (FR,20,1) Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger auf dem Weg zur deutschen Einheit zweitklassige Bundesbürger“ werden. BA (REG) Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR- Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. Die Anführungszeichen können neben der Redekennzeichnung auch ein Mittel der Einstellungsbekundung sein (z.B. als Mittel ironischen Distanzierens) (vgl. auch 4/ 25). <?page no="172"?> 1 '2 ReformuUerungen Zitateinschübe mit textgestaltender Funktion RA (DW,20,1) Die deutsche Einheit müsse „so schnell wie möglich kommen“, aber die Rahmenbedingungen müßten so gut, vernünftig und zukunftsfahig „wie nötig“ sein. BA (REG) Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfahig wie nötig sein. In einigen Fällen ist zu fragen, aus welchem Grund Sp2 einen oder mehrere Teile des Reformulierungsausdrucks in Anführungszeichen setzt. Oft ist der Einsatz auch textgestalterisch motiviert. Der Gesamtcharakter eines „Textes über einen Text“ wird aufrechterhalten. 4.3.3 Freie Wiedergabe im Diskurs Die berichtende Wiedergabe, also die oft mit Hilfe eines Modalverbs formulierten Berichte über Handlungsabsichten von Sprecher 1, weist (wie in 4.2 demonstriert) eigentlich keine wirkliche Redewiedergabestruktur auf. Ohne Vergleich mit dem Original bleibt zumeist offen, ob Sp2 den Bezugsausdruck mit eigenen Worten wiedergibt (also einen neu produzierten Ausdruck einsetzt) oder ob er trotz der präsentierten NA-Struktur eigentlich Originalelemente reformuliert. Wie die Analyse gezeigt hat, nehmen viele dieser freien Wiedergaben oft bis ins Detail sprachliche Grundstrukturen des Bezugsausdrucks wieder auf. Nun stellt sich die Frage, warum Sp2 dann trotzdem auf jegliche Redewiedergabemerkmale verzichtet, also nicht explizit macht, daß er über eine Bezugsäußerung redet, und zwar unter Verwendung von Bezugsentitäten. Zumindest zwei Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an. Zum einen sind es wohl auch hier textgestalterische Gründe. Solche Passagen stützen den Charakter eines Redeberichts, in dem es neben Redewiedergaben immer auch solche berichtenden Passagen geben muß. Zum anderen ist durch diese Art der Wiedergabe eine größere Verbindlichkeit in der Aussage zu erreichen. Sp2 sagt nicht mehr, Spl habe angekündigt (gefordert; in Aussicht gestellt etc ), daß er (Spl) etwas tun werde (erreichen wolle etc ), sondern: Sp2 sagt, X soll getan (erreicht; durchgesetzt etc.) werden. Sp2 legt Spl damit nicht mehr auf seinen Äußerungsakt fest, sondern eher auf den Inhalt dieser Sprechakte mit den entsprechenden Konsequenzen. Die komprimierende Wiedergabe ist aus Gründen der Textökonomie unabdingbar. Sp2 kann nicht den gesamten Originaltext identisch wiedergeben (vgl. dazu auch Dieckmann 1985). Wenn Sp2 diese Reformulierungsresümees als solche kennzeichnet, sind sie ein legitimes Verfahren, das dem Reformulierer große Interpretations- und Bewertungsmöglichkeiten bietet. Im Gegensatz zur <?page no="173"?> Eine analytische Beschreibung von Reformulierungsrelationen 173 indirekten und direkten Rede gibt der Reformulierer hier keine Redewiedergabestruktur vor. Er sagt also nicht: [„Spl hat etwas so und nicht anders gesagt“], sondern er sagt: [„Hiermit fasse ich Grundgedanken von Spl interpretativ zusammen“]. Mit der Wahl dieser Wiedergabeform und ihrer entsprechenden Präsentation sind auch sinnverändemde und uminterpretierende Eingriffe faktisch sanktioniert und nicht einklagbar. <?page no="174"?> 5. Globale Reformulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs Nachdem Reformulierungen vor allem hinsichtlich ihrer sequentiellen Einbettungen und Modifizierungen im Detail analysiert und beschrieben wurden, erfolgt nun ein Perspektivenwechsel: 23 Reformulierungen interessieren jetzt in erster Linie als Operationen, über die bestimmte Themen und Argumente von einem Text zu anderen Texten transportiert und weiterverarbeitet werden, über die sich also ganz spezielle Diskurszusammenhänge konstituieren. Es geht nicht mehr in erster Linie um eine Elementaranalyse von Ausdrucksrelationen und ihren je spezifischen Einbettungsumgebungen in den Texten. Durch einen paradigmatischen Vergleich gilt es nun vielmehr, Reformulierungstrends aus allen parallel produzierten Texten herauszufinden, um dann verfolgen zu können, welche dieser Trends sich in weiter entfernten Kommunikationssituationen fortsetzen. Dazu werden in einem ersten Schritt noch einmal typische Rezeptionsmuster der De-Maiziere-Regierungserklärung herausgestellt und systematisiert. Anschließend wird dargestellt, wie eine besonders markante - Aussage eines prominenten Sprechers den unmittelbaren Äußerungskontext quasi ‘überlebt’ und durch die häufige Wiederaufnahme zu einer Art ‘Diskursmetapher’ wird. Die folgenden Analysen sollen das bereits angedeutetete Phänomen der Verfestigung stereotyper Urteile und Bewertungen über Reformulierungen im Detail erhellen. Kindt meint zu solchen Standards (Topoi), daß natürlichsprachige Kommunikation spezifische soziale Organisationsformen für Argumentationen - Topoi entwickelt habe, deren logische Struktur bei konkreten Anwendungen weitgehend implizit bleiben und/ oder unvollständig realisiert sind (vgl. Kindt 1992, S. 191). Die Konstitution solcher Standards bzw. die Verfestigung bestimmter Stereotype und Bewertungen erfolgt auch über häufiges und wechselseitiges Wiederaufnehmen von Äußerungen und lexikalischen Schlüsseleinheiten. Da in dieser Arbeit bereits versucht wurde, Reformulierungen als Spuren vorhergehender Verstehens- und Interpretationsprozesse zu beschreiben, muß es auch möglich sein, anhand von bestimmten Reformulierungssträngen solche Standardargumente, -figuren und -fokussierungen im Diskurs zu rekonstruieren. Die im 4. Kapitel herausgearbeiteten Reformulierungsabläufe und -resultate werden also auch daraufhin betrachtet, ob und wie 23 Der Wende- und Einheitsdiskurs ist im Sinne des öffentlichen Diskurses in Deutschland seit 1989 zu verstehen, wobei hier die Menge aller jener Texte gemeint ist, die das Thema Deutsche Vereinigung explizit thematisieren. Für diese Erweiterung wurde neben dem in 1.2 beschriebenen Wendekorpus Ost und West ein weiteres Teilkorpus zugrunde gelegt: das Wendekorpus Vereinigung (WKV), das Texte der „Berliner Zeitung“ und der „Zeit“ zum Thema Deutsche Einheit’ aus den Jahren 1991 und 1992 enthält und ein streng thematisches Korpus darstellt. Ein weiteres Auswertungsprojekt dieser Korpora ist eine Studie zu Kontextualisierungen ganz bestimmter Schlüsseleinheiten im Wende- und Einheitsdiskurs (vgl. Fraas 1996). <?page no="175"?> Globale Reformulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 175 sie typische thematisch-argumentative und kommunikative Muster des Wende- und Einheitsdiskurses abbilden bzw. zu ihrer Konstituierung beigetragen haben. 5.1 Typische Rezeptionsmuster im „De-Maiziere-Diskurs“ 5.1.1 Allgemeine Bemerkungen zu Reformulierungstrends Nimmt man einen Quervergleich der Reaktionen aller Tageszeitungen auf die Regierungserklärung vor, so kristallisieren sich einige besonders augenfällige Verschiebungen in den Wahrnehmungen und in den damit verbundenen Präsentationen des Bezugstextes heraus. Um zu generelleren Aussagen darüber zu gelangen, seien nun Reformulierungsvarianten von jeweils ein und denselben Bezugsausdrücken in allen vorliegenden 14 Reformulierungstexten (Redeberichten) und den sich anschließenden 13 Kommentaren (Redekommentaren) 24 nach thematisch-inhaltlichen, nach argumentativen und nach interaktiven Kriterien betrachtet. Die Präferenz für diese beiden Textsorten ‘Redebericht’ und ‘Redekommentar’ in der Analyse läßt sich folgendermaßen begründen: Die wesentlichen Informationen über den Bezugstext und die damit verbundenden Interpretations- und Bewertungsangebote liefern die Redeberichte, die wie bereits gesagt zumeist auch als Aufmacher plaziert sind sowie die sich anschließenden Kommentare (vgl. hierzu 2.3). Zusammen mit den Nachrichten über die Rede und die Statements der Politiker kann ihnen eine entscheidende diskursstrukturierende Funktion zugeschrieben werden. Viele Zeitungen veröffentlichen zwar nach ausführlichen Wiedergaben und Kommentaren durchaus auch Originalauszüge im Wortlaut (z.B. „Frankfürter Allgemeine“ und sehr ausführlich - „Tagesspiegel“) bzw. die Rede in vollem Umfang (z.B. „Neue Zeit“ und „Neues Deutschland“). Dies hat jedoch keinen großen Einfluß auf die Trendthemen der aktuellen Diskurswelt. Es werden in der Tat nur die Äußerungen (weiter-)behandelt, die sozusagen aufbereitet in Nachrichtensendungen, Redeberichten und Kommentaren sowie in den Statements der Politiker wiedergegeben werden. Die Zeitungen kommen mit den Originalauszügen oder dem Abdruck der Rede ihrer Informationspflicht korrekt nach. Inwieweit diese in der internen Abfolge der Texte in den jeweiligen Zeitungsausgaben 24 Es ist darüber nachzudenkeii, ob man nicht angesichts der Dominanz reformulierender Elemente in vielen Pressetexten von Subtypen sprechen kann, nämlich von ‘Redeberichten’, ‘Redekommentaren’ und ‘Redenachrichten’. Redebericht als Bericht über einen komplexen Redevorgang ist bereits ein eingefuhrter Terminus, vor allem in der Joumalistikwissenschaft. Der Redekommentar (Kommentar zu T2) würde dann zur Textsorte ‘Kommentar’ gehören mit der Besonderheit, daß der Kommentator bereits versprachlichte Sachverhalte interpretiert und bewertet. Redenachrichten als Subtyp des Genres ‘Nachrichten’ wären dann jene Meldungen, die in erster Instanz über Äußerungen von Sprechern informieren. <?page no="176"?> 176 Refonmilierungen höchstens an vierter oder fünfter Stelle rangierenden - Originalauszüge des Bezugstextes die durch Redeberichte, Kommentare und Statements bereits vorbereitete Informations- und Interpretationswelt des einzelnen Rezipienten noch beeinflussen und verändern können, ist hier mit einem linguistischen Instrumentarium nicht zu klären. Feststellbar ist indes, daß sie für die Konstitution von thematisch-argumentativen Ketten in der Diskurswelt nicht von Bedeutung sind, was sich an der Kette der weiteren Wiederaufnahmen belegen läßt. Wenn also im folgenden bestimmte Reformulierungstrends aus den Redeberichten und Kommentaren beschrieben werden, können diese als repräsentativ für die gesamte Textmenge gelten. Diese Reformulierungstrends, die in ihrer Summe trotz alledem eine reduzierte Präsentation und Weiterverarbeitung des Originaltextes im Diskurs zur Regierungserklärung zur Folge haben, lassen sich unter drei wesentlichen Aspekten zusammenfassen: a) thematische Modifizierungen des Originals b) argumentative Modifizierungen des Originals c) kommunikativ-interaktive Modifizierungen des Originals a) Thematische Modifizierungen des Originals Beim Vergleichen der Texte, die sich auf den Bezugstext ‘Regierungserklärung’ in irgendeiner Weise explizit beziehen, stellen sich Fokussierungen bzw. Thematisierungen des Originaltextes durch Reformulierungen heraus, die von allen Zeitungen bevorzugt vorgenommen werden. Es werden zum großen Teil dieselben Bezugsausdrücke (wenn auch in sehr unterschiedlicher spezifischer sprachlicher Ausprägung) reformuliert und andere überhaupt nicht wiederaufgenommen. Bestimmte Textabschnitte werden dabei für besonders heraushebenswert gehalten, andere wichtige Textabschnitte und Bewertungen von de Maiziere dagegen völlig ausgeblendet oder reduziert wiedergegeben. Man kann hier durchaus von Thematisierungs- und Interpretationstrends sprechen. Generell ist festzuhalten, daß nur ein ganz begrenzter Teil des Bezugstextes überhaupt weiterverarbeitet und ein Großteil nicht ein einziges Mal reformuliert wird. Komprimierungen und Auswahl bestimmter Äußerungen sind natürlich aus Gründen der Textökonomie unumgänglich. Doch lassen sich bei diesen Komprimierungsvorgängen bestimmte Trends erkennen, die in Verbindung mit der aktuellen Diskurswelt an sich stehen. Diese Thematisierungstrends könnte man als aktuell-pragmatische Fokussierungen bezeichnen, und zwar aus folgendem Grund: In jedem Reformulierungstext werden die damals dominierenden Diskursthemen präferiert fokussiert, was für tagesaktuelle Zeitungen natürlich zunächst auch vollkommen notwendig und legitim ist. So werden die Äußerungen de Maizieres zur bevorstehenden Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in entsprechendem Umfang (vgl. dazu die Beschreibung der Diskurssituation im Kap. 1.1) ebenso wie einige generelle Aussagen zum künftigen Weg eines in Aussicht gestellten vereinigten Deutsch- <?page no="177"?> Globale Refonmilierwigsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 177 lands wiedergegeben. Dieses Spektrum wird bereits bei der Betrachtung der Überschriften aller Redeberichte deutlich: FR.20,1/ 2 De Maizere pocht auf Gleichberechtigung „Nicht zweitklassige Bundesbürger“ SDZ,20,I De Maiziere: Die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen aufgehoben werden Über den Weg haben wir ein entscheidendes Wort mitzureden, betont der CDU-Politiker Erneut Umtauschkurs von 1: 1 für Löhne und Renten sowie Sicherung der Eigentumsverhältnisse in der DDR verlangt DW,20,1 „Einheit so schnell wie möglich“ De Maiziere bittet um Solidarität Regierungserklärung in Ost-Berlin / Ministerpräsident beharrt auf grundlegendem Umtauschkurs 1: 1 DW,20,4 Noch im Herbst sollen Landtagswahlen in der DDR stattfinden FAZ,20,1 De Maiziere will die DDR schnell und ohne Demut in die Einheit fuhren „Trennung kann nur durch Teilen überwunden werden“ / Bonn: Demokratischer Neuanfang / Regierungserklärung BER,20,1 Premier de Maiziere in der Volkskammer: Das Ziel bleibt der Umtauschsatz von 1: 1 Regierungserklärung betont Vereinigung nach Artikel 23 Bundesregierung: Botschaft für einen demokratischen Neubeginn TAZ,20,1 „Ein Wort mitreden" Regierungserklärung des Ministerpräsidenten de Maiziere in der Volkskammer / Bonn zufrieden BZ,20,1 Einheit Deutschlands so schnell wie möglich nach Artikel 23 Lothar de Maiziere gab Regierungserklärung ab / Kontroverse um neue Verfassung TS,20,1 DDR will schnelle Einheit unter vernünftigen Bedingungen Ministerpräsident de Maiziere gab vor der Volkskammer seine Regierungserklärung ab NZ,20,1 Lothar de Maiziere vor der Volkskammer: Wir wollen das Mögliche mit aller Kraft anstreben Lebhafte Aussprache zur Regierungserklärung für heute erwartet DM,20,1 Wahrhafte Demokratie und Politik mit Augenmaß <?page no="178"?> 178 Refonmilientngen Regierungserklärung von Lothar de Maizicrc / Baldige Einheit in einem friedlichen Europa / Kontroverse Debatte / Verfassungsentwirf des Runden Tisches ND,20,1 Auf Bewahrung von Grundwerten orientiert: Regierungserklärung Lothar de Maizieres vor der Volkskammer Über den Weg zur Einheit reden wir ein entschcidcndes Wort mit Im Grunde umreißen diese Schlagzeilen als eine Art ‘propositionale Konzentrate’ das gesamte Spektrum typischer Fokussierungen in den Redeberichten und können naturgemäß nicht die gesamte Textwelt erfassen. Die wesentlichen thematischen Fokussierungen der wiedergebenden Texte lassen sich wie folgt zusammenfassen: UMTAUSCHKURS VON 1: 1 BEITRITT NACH ARTIKEL 23 MITSPRACHERECHT AUF DEM WEG ZUR DEUTSCHEN EINHEIT BITTE UM TEILEN UND SOLIDARITÄT EINBRINGEN IN DIE DEUTSCHE EINHEIT PRAKTISCHE SCHRITTE BEI VEREINIGUNG (MARKTWIRTSCHAFT, EIGEN- TUMSVERHÄLTNISSE, NEUES RECHTSSYSTEM, LÄNDERBILDUNG) VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG (STAATSSICHERHEIT, DIKTATUR, ZENTRA- LISMUS) MILITÄR (REDUZIERUNG DER NATIONALEN VOLKSARMEE, WARSCHAUER VERTRAG, ABRÜSTUNG) AUSSENPOLTIK (GRENZEN ZU NACHBARN, SOWIETUNION, EUROPA) Damit werden einerseits wesentliche Themen des Bezugstextes in den Wiedergaben thematisiert und besprochen: De Maiziere referiert zum Teil sehr ausführlich auf die damals relevanten Diskursthemen. Er spricht über die seelischen Schäden der DDR-Vergangheit, über Schuld, Zentralismus und Staatssicherheit. Er plädiert dabei aber für eine differenzierte historische Sicht auf die vergangenen 40 Jahre. De Maiziere beschreibt einen selbstbewußten Weg der DDR zur deutschen Einheit. Er unterstreicht das Bekenntnis seiner Regierung zur sozialen Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat nach dem Vorbild der Bundesrepublik. Er thematisiert aber auch die problematischen Folgen des westlichen Wirtschaftswachstums, z.B. für die Dritte Welt. Er relativiert in diesem Kontext die Darstellung des völligen Bankrotts und Niedergangs der DDR auch in ökonomischer Hinsicht (Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. Es geht um Europa. Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land). Zugleich betont er die Notwendigkeit ideeller Werte wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen einer Gesellschaft. De Maiziere unterstreicht das Bemühen seiner Regierung um eine schnelle Integration in die Europäische Gemeinschaft, betont aber gleichzeitig die besonderen Beziehungen und Verbindungen zur Sowjetunion und zu Osteuropa, <?page no="179"?> Globale Refonnulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 179 die es zu erhalten und auszubauen gelte. Schließlich mahnt er ein Nachdenken über Zustände, ethische Werte und Normen des menschlichen Zusammenlebens am Ende des 20. Jahrhunderts generell an. Andererseits ergeben sich obwohl eigentlich alle relevanten Themen auch in den Reformulierungstexten zumindest in Kurzform, aber zum Teil auch sehr extensiv wiedergegeben werden bereits auf der thematischen Ebene Verschiebungen, die in der Summe zu Verkürzungen des präsentierten Bildes vom Original fuhren. Diese Verschiebungen entstehen besonders bei jenen Wiedergaben, die Originalaussagen nicht in ihrer Differenziertheit präsentieren, sondern in sehr komprimierter Form, z.B. indem sehr differenziert formulierte Aussagen zur bevorstehenden Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im Bezugstext auf den unmittelbar technischen Vorgang des Geldumtausches reduziert oder Äußerungen mit sehr weitreichender perspektivischer Geltung (vgl. 4/ 9) auf rein tagesaktuell-pragmatische Aspekte reduziert werden. 25 Das jeweilige Thema wird so zwar in der Wiedergabe berührt, es werden aber Umgebungsausdrücke, die im Bezugstext wichtige argumentative Funktionen erfüllen, nicht reformuliert bzw. in andere Zusammenhänge gestellt. Das bedeutet, daß die in vielen Fällen auch sinnverändernden Reduktionen der Originaltextwelt erst dann zu erfassen sind, wenn sie in ihren jeweiligen argumentativen Kontexten betrachtet werden. b) Argumentative Modifizierungen des Originals Es hat sich ganz klar gezeigt, daß die Eingriffe des Reformulierers in die argumentative Struktur einer Bezugssequenz die entscheidenden Verschiebungen und Reduktionen mit sich bringen (vgl. u.a. 4/ 4, 4/ 5, 4/ 12, 4/ 14b, 4/ 17 usw.). Diese Eingriffe können sich z.B. auf die propositionale Ebene beziehen, indem u.a. bestimmte Teile des propositionalen Gehalts weggelassen werden, oder auf die Einbettungen des Reformulierungsausdrucks durch eine veränderte Ausdrucksfolge. De Maizieres Rede ist zum einen sehr differenziert und argumentativ aufgebaut. Fast keine Forderung, Ankündigung oder Bewertung wird ohne eine argumentative Stützung formuliert, sehr häufig wird versucht, mehrere Seiten eines Problems zu beleuchten. Der Bezugstext ist darüber hinaus besonders dialogorientiert, oder anders gesagt: diskursiv. Dafür lassen sich zahlreiche sprachliche Mittel (anaphorische und kataphorische Diskursindikatoren) nachweisen, z.B.: Es ist jedoch unübersehbar, daß es Unterschiede in der Wertigkeit von wiederzugebenden Äußerungen gibt und diese Unterschiede nicht nach einem etwaigen Ost-West- Schema zu beschreiben sind. Auf der einen Seite halten einige West-Tageszeitungen den selbstbewußten Charakter der Rede für hervorhebenswert, auf der anderen Seite reduzieren einige Ost-Zeitungen ihre Schlagzeile auf den technischen Vorgang der Währungsunion. <?page no="180"?> 180 RefonnuUerungen fiktive Fragen (Wir werdet! gefragt: Habet) M'ir nichts eimubringen [...]? ), rückwärtsweisende Verben (Wir bestätigen die bereits mehrfach getroffene Aussage), deiktische Ausdrücke, -Negationen (Es ist nicht die PDS allein, die die DDR-Vergangenheit zu verantworten hat), relativische Konstruktionen (Wer aber glaubt [...], der). Dies sind Indikatoren dafür, daß der Sprecher versucht, auf aktuelle Diskussionen und mögliche Fragen, Einwände und Probleme in seinen Formulierungen antizipierend einzugehen. Viele seiner Äußerungen haben demzufolge akzeptanzstützenden Charakter. 26 Die Akzeptanzstützungen sind in jener Zeit (Frühjahr 1990) vor allem deshalb notwendig, da sich de Maiziere der komplizierten Aufgabe stellen muß, einer besonders problematischen Mehrfachadressierung gerecht zu werden. Er wendet sich in erster Linie an die DDR- Bevölkerung, um zum einen Verständnis für die von ihm angekündigten Veränderungen des gesamten Lebensumfeldes eines jeden zu erlangen, zum anderen versucht er aber auch, keine Pauschalverurteilung der Lebensläufe von 16 Millionen DDR-Bürgern vorzunehmen. Er muß der Bundesrepublik deutlich machen, inwieweit die neu gewählte Regierung der DDR gewillt ist, klare Schritte in Richtung Vereinigung zu unternehmen. Er muß schließlich Nachbarn, alte und neue Bündnispartner im Ausland im Blick haben, die sehr genau beobachten, wie die möglichen Perspektiven und Haltungen eines künftig vereinten Deutschlands aussehen könnten. Diese die Regierungserklärung prägenden differenziert argumentierenden Äußerungen und Sequenzen sind in den Wiedergabetexten nicht immer so wiederzufinden. c) Kommunikativ-interaktive Modifizierungen des Originals Mit der Mehrfachadressierung und den gerade beschriebenen notwendigen Akzeptanzstützungen hängt ein weiteres Charakteristikum des Bezugstextes zusammen: Die Rede weist zahlreiche kooperative sprachliche Elemente auf, die eine Bemühung von Sprecher 1 um Integration, Verständigung und Konsens signalisieren (vgl. dazu Analyse in 4.). Die Reformulierungen in T2-n erscheinen einerseits zugespitzter, polarisierender und damit auch in einigen Fällen konfrontativer, als das im BezugsausdruckMext angelegt ist, andererseits erfahren viele sehr dringlich formulierte Äußerungen eine Abschwächung, indem beispielsweise eine Forderung als reine Mitteilung wiedergegeben wird (vgl. 4/ 1) oder bestimmte ausgesprochen emotionale Stilmittel durch neutralere ersetzt werden (z.B. Ersetzung der Phrase verneigen vor jmdm. durch denken an jmdn. in Beispiel 4/ 12). Viele 26 Vgl. zum Konzept der akzeptanzstützenden Handlungen Techtmeier 1993. <?page no="181"?> Globale Refonnulieningsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 181 kooperative, auf Verständnissicherung ausgerichtete Signale werden weggelassen bzw. umgewandelt, indem z.B. im Bezugsausdruck nicht explizierte Adressaten bzw. nur einer von mehreren möglichen explizit gemacht (vgl. u.a. 4/ 9) oder passivische Konstruktionen in aktivische umgewandelt werden (vgl. Umwandlung von wurde gezwungen zu leben in habe gelebt in Beispiel 4/ 20). Ein Grund dafür liegt darin, daß der Reformulierer bei der notwendigen Komprimierung der Originaläußerungen zumeist jene Ausdrücke und Formulierungen wegläßt, die diese rhetorisch-stilistische Struktur konstituieren, und jene Äußerungen bevorzugt wiedergibt, die ihm zentral erscheinende - Informationen transportieren. Daß aber mit diesen Reduzierungen auf den Kern der Aussagen ebenso Bewertungen und Interpretationen des Reformulierers mitgeliefert werden können, sollte durch die Analyse im 4. Kapitel deutlich geworden sein. Problematisch erscheint die Frage, bis zu welchem Grad solche auf den Informationskern reduzierte Wiedergaben das Gesamtbild eines Textes oder einer Äußerungssequenz noch vermitteln und wann dies zu einer absolut abweichenden Präsentation ein und desselben Originals führt, bei denen sich ein Original Sprecher auch mißverstanden fühlen kann. Auf dieses grundsätzliche Problem wird im 6. Kapitel noch einmal ausführlich eingegangen. 5.1.2 Reformulierungsvarianten in parallelen Texten des „De Maiziere-Diskurses“ ein Quervergleich Im folgenden Beispiel wird versucht, solche Kondensationsprozesse, die sowohl zu thematisch-argumentativen als auch zu kommunikativen Reduktionen führen können, anhand eines komplexen Textabschnitts der Regierungserklärung im Zusammenhang darzustellen. Dieser Teil des Originaltextes enthält so gut wie alle relevanten Themen, darüber hinaus jene Bezugsausdrücke mit der höchsten Frequenz an Wiederaufnahmen überhaupt und auch relevante Ausdrücke, die von keinem Reformulierer wiederaufgenommen werden. Dabei sollte durch die Auflistung der jeweils belegbaren Reformulierungsausdrücke sowohl die Präferenz der Reformulierer für ganz bestimmte Originaläußerungen als auch die Modifizierungen der inhaltlich-argumentativen und kommunikativen Bezugsstrukturen deutlich werden. Immer vorangestellt wird die Originalabfolge des Textabschnitts der Regierungserklärung, entweder als Kontextausdruck, der nicht reformuliert wurde, oder als Bezugsausdruck. Der Kontextausdruck ist mit KA gekennzeichnet und hat keinen entsprechenden Reformulierungsbeleg in der rechten Spalte. Den Bezugsausdrücken (BA) werden ihre entsprechenden Reformulierungsvarianten (RA) in der rechten Spalte gegenübergestellt. Die Zahl in der Klammer rechts zeigt an, wieviel Reformulierungsausdrücke in allen für dieses Beispiel in Betracht gezogenen 27 Texten (14 Redeberichte und 13 Kommentare) überhaupt belegbar sind (also z.B.: RA (2) bedeutet: Es gibt zwei Reformulie- <?page no="182"?> 182 Refoniiulieningen rungsbelege in allen untersuchten Texten oder RA (0): Es läßt sich kein Beleg nachweisen). Hinzugefugt wird jeweils ein mit Pfeil (-») gekennzeichneter analytischer Kommentar, der die jeweils prägnanten sprachlichen Eingriffe erfaßt und gegenüberstellt. Es gibt auch Fälle, in denen mehrere Bezugsausdrücke als Referenzobjekte für einen Reformulierungsausdruck fungieren. Hier erfolgt beim Erstvorkommen nur ein Hinweis darauf, bei welchem Bezugsausdruck der gesamte Reformulierungsausdruck eingefugt ist. Die Logik der Abgrenzung der Bezugssequenzen voneinander erklärt sich aus der relativen Abgeschlossenheit einer argumentativen Abfolge. Im Sinne der im 2. Kapitel vertretenen Dynamik bei der Bestimmung von Sequenzen ist diese Abgrenzung variabel. Die Ausdrücke bzw. Einheiten, die zu Bezugsausdrücken bzw. -einheiten werden, und alle Reformulierungseinheiten sind fett gesetzt. (5/ 1) Zusammenhängender Textabschnitt aus der Regierungserklärung und alle entsprechenden Reformulierungsvarianten [...] KAI Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig ist. -> Feststellung, zugleich Kooperativsignal durch bewertendes Attribut schwierig RA (0) KA2 Ihn leicht zu nehmen wäre leichtfertig. -» Feststellung, zugleich Mahnung RA (0) BAI Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, vierzig Jahre lang von der Substanz zu leben, und nicht nur materiell. —r Begründung für Feststellung in KAI <?page no="183"?> Globale Refoniiulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 183 -> Feststellung, zugleich indirekte Kritik mit Kooperativsignal (Passivkonstruktion wurde gezwungen [...] zu leben\ dadurch keine explizite Schuldzuweisung an bestimmte Adressaten) RA (1) (TAZ,20,1) In den vergangenen 40 Jahren habe die Gesellschaft „nicht nur materiell“ von der Substanz gelebt. -»argumentative Reduktion (in Umgebung des RA keine weitere Bezugnahme auf Bezugsabschnitt), damit Umwandlung von Begründung in reine Feststellung (nicht mehr durch andere Aussagen gestützt) -> Präsentation von BAI als Kritik mit direkter Schuldzuweisung (Umwandlung in Aktivkonstruktion; dadurch Polarisierung des Bezugsausdrucks; vgl. dazu 4/ 20) BA2 Wir haben Schäden auf vielen Gebieten und einen großen Nachholebedarf. -> Feststellung mit einer Einschränkung (Schaden auf vielen Gebieten-, impliziert: nicht generell) RA (2) (FR/ K,20,5, siehe BA3) (SDZ/ K,20,4, siehe BA3) BA3 Und oft sind die Schäden derart, daß der Weg zu ihrer Heilung erst noch ausgearbeitet werden muß. -» Spezifizierung der Feststellung in BA2 -> zugleich Feststellung mit bewertenden Element des Sachverhalts ‘Schaden’ <?page no="184"?> 184 Reformulierungen RA (2) (FR/ K,20,3) Das, was der Ministerpräsident den großen Nachholbedarf bei der Beseitigung der Schäden in der DDR nennt, ist eine schier endlose Liste von meist totalen Änderungen der bisherigen politischen, -wirtschaftlichen und sozialen Struktur des anderen deutschen Staates. -> Wiederaufnahme der lexikalischen Einheiten Schäden und Nachholbedarf -* argumentative Reduktion auf Sachverhalte ‘Schaden’ und ‘Nachholebedarf in BA2 (Wegfall der Stützungen, vor allem in BAI) -»Generalisierung des BA (Reformulierung stellt eine Sp2-Interpretation dar, da ein möglicher, im BA aber nicht verbalisierter Sinn expliziert wird) BA4 In dieser Situation sind fortwirkendes Mißtrauen, Verdrossenheit und Ermattung vieler Mitbürger nur zu verständlich. - ♦ Feststellung, zugleich indirekte Kritik (Mißtrauen, Verdrossenheit, Ermattung), aber auch kooperative Äußerung (Kooperativsignal durch (SDZ/ K,20,4) Und es ist durchaus angebracht, auf die seelischen Schaden hinzuweisen, die die DDR-Gesellschaft davongetragen hat und die sie erst noch heilen muß. -» neue argumentative Einbettung durch Sp2-Bewertung (es ist angebracht,...) des Bezugsausdrucks; dadurch Hervorhebung der Spl-Äußerung als Kritik an jemandem -+ Es gibt nur Belege für Reformulierungen dieses BA in Redekommentaren, dadurch wird Präsentation des BA immer mit expliziter Sp2-Interpetation bzw. -bewertung verbunden; BA erhält damit ein stärkeres Gewicht als Kritikäußerung, weniger als Kooperativäußerung <?page no="185"?> Globale Refonnulieningsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 185 Fügung sind nur zu verständlich und stützende Vorbereitung durch vorhergehende Ausdrücke) RA(D (FAZ/ K,20,1) Als Selbstzweck möchte der Regierungschef die neue Ordnung nicht betrachtet wissen, aber er hat mehrfach deutlich gemacht, daß er in der Übernahme dieses Systems die große Chance sieht, die Mutlosen und „Ermatteten“ dieses Phänomen ist ihm geläufig -für den großen Aufbruch zu gewinnen. -»Reformulierung nur einer einzigen lexikalischen Einheit Ermattete; dadurch völlig neue Kontextuierung und direkte Kommentierung BA5 Aber unverantivortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. -»Feststellung / Behauptung, zugleich indirekte Kritik und Kooperativsignal (durch Passivkonstruktion aber unverantwortlich ist es) RS (1) (FR/ K,20,3) Es ist zu spüren, wie der demokratisch legitimierte Regierungschef der DDR versucht, seinen Mitbürgern, die von Sozialangst und dem Gefühl der Unterlegenheit dem reichen Westen gegenüber gebeutelt werden, etwas von seinem Selbstbewußtsein abzugeben. Sie sollten keine Angst vor den Maßnahmen haben, die notwendig sein werden, um die großen Schäden im Lande zu beheben. -»Reduzierung der kooperativen Kritikäußerung in reine Kritik (durch Umwandlung der Passivin Aktivkonstruktion) (vgl. 4/ 9) -»Reduzierung auf Sachverhalt ‘Angst vor Maßnahmen’ (BA5); dadurch präsentiert als reine Aufforderung an jemanden <?page no="186"?> 186 ReformuUerungen KA3 Wir haben es nicht mit Problemen zu tun, die erst jetzt entstehen, sondern mit alten, verdeckten Wunden der Gesellschaft, die jetzt ojftengelegt werden müssen, damit sie heilen können. —» ■ Feststellung und zugleich Begründung für kooperative Kritik in BA5 (gleichzeitig diskursive Referenz durch Negation): [Es gibt mögliche Behauptungen, Probleme in der DDR seien erst jetzt entstanden] RA (0) KA4 Dazu gehören auch Struktur und Wirkungsweise der ehemaligen Staatssicherheit. -+ spezifizierende Feststellung (Spezifikation von KA3): [Eine Wunde ist Staatssicherheit] RA (0) KA5 Dazu gehört, daß sich betroffene Menschen aussprechen dürfen. ->• Forderung mit mahnendem Charakter RA (0) KA6 Es hilft nicht die Veröffentlichung der Verstrickung einzelner, bei denen man kaum sagen kann, wieweit sie Opfer oder Töter waren. -> argumentative Wiederaufnahme von KA4 [Es gibt alte Wunden, die erst noch heilen müssen] <.aber NICHT, INDEM> KA6 -»Feststellung, zugleich indirekte Kritik (durch Negation), die sowohl als Zurückweisung möglicher Praktiken der Schuldzuweisung verstanden werden kann als auch als Mahnung RA (0) KA7 Wir haben in diesen Wochen zu spüren bekommen, wie sich unsere junge Demokratie von neuem in dem Spinnennetz der ehemaligen Staatssicherheit verfing. -> Feststellung und Begründung für die davor formulierte Kritik bzw. Anmahnung eines verantwortungsvollen Umgangs mit diesem Thema <?page no="187"?> Globale Refonnulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 187 RA (0) BA6 Wir werden eine Regierungskommission einsetzen, die die Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtesfür Nationale Sicherheit betreibt. -> Ankündigung von konkreten Maßnahmen zur Auflösung der Staatssicherheit und Aufarbeitung der damit im Zusammenhang stehenden Geschichte; diese Ankündigung ist gekoppelt an eine Zusicherung RA (1) (DW.20,4 siehe BA8) KA8 Diese Kommission wird dafür sorgen, daß die verdienstvolle Arbeit der Bürgerkomitees einen rechtsstaatlich geordneten Abschlußfindet. -> Ankündigung und Spezifikation von BA6 RA (0) KA9 Die Bewältigung der Stasi-Vergangenheit verlangt die unbedingte Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. -> Forderung und indirekte Mahnung zu Rechtsstaatlichkeit, zugleich Lob (für Arbeit der Bürgerkomitees) RA (0) BA7 Um den Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen zu beschützen, werden wir ein umfassendes Datenschutzgesetz vorlegen. —> Ankündigung von Maßnahmen RA (1) (DW.20,4 siehe BA8) BA8 In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt. -> Forderung, zugleich appellativer Sprechakt —> ■ argumentativ vorbereitet durch vorhergehende Aussagen (Forde- <?page no="188"?> 188 RefonnuHerungen rung nicht voraussetzungslos formuliert) RA(2) (FR.20,1) In Deutschland dürfe es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammele, sagte der Regierungschef. -> Wiedergabe der Forderung in BA8 ohne Wiedergabe der argumentativen Stützung dieser Forderung (DW,20,4) Eine Regierungskommission soll zur Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des ehemaligen Stasi- Ministeriums und der Nachfolgeorganisation Amtfür Nationale Sicherheit eingesetzt werden. Ein Datenschutzgesetz soll die Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen schützen. „In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt“, sagte de Maiziere. -> berichtende Wiedergabe von BA6 und BA7 -> Reduzierung der gesamten Sequenz auf pragmatischen Aspekt der Ankündigung von Maßnahmen (Spl-Forderung nach differenziertem Umgang, Spl-Mahnung zur Rechtsstaatlichkeit, Spl-Würdigung der Bürgerkomitees nicht reformuliert); direkte Redewiedergabe von BA8; dadurch authentische Wiedergabe des appelativen Charakters von BA8 Verehrte A nwesendel KA10 WV sind dabei, uns die Demokratie zu erarbeiten. -^Feststellung und indirekte Bitte um Verständnis RA (0) <?page no="189"?> Globale ReformuUerungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 189 KAU Niemand möge Innehalten und Überlegen mit Entschlußlosigkeit verwechseln. -> Forderung, zugleich kooperativer Appell für Verständnis (Antizipation möglicher Kritik am Tempo der politischen Entwicklung indiziert durch Negationsträger niemand) RA (0) BA9 In dieser Situation nach drei Wochen eine große Koalition zu haben, ist eine Leistung, für die ich allen beteiligten Fraktionen danke. — ► Danksagung, zugleich Lob an Partner (Spl-Bewertung ist eine Leistung ist vorbereitet durch KA10 und KAU) -» Kooperativsignal (Dank und Lob gerichtet an alle Partner) RS (1) (FR/ K,20,3) Lothar de Maiziere muß mittlerweile auch Gefallen an der Macht gefunden haben. Er erteilt sich selbst ein (nicht unberechtigtes) Lob; die große Koalition, mit der er sein „anspruchsvolles Programm“ der totalen Erneuerung des ihm anvertrauten Staates in Angriff nehmen will, hat er in drei Wochen zusammengebracht. -» explizite Wiedergabe des BA-Sprechaktes ‘Loben’, aber reduziert auf Spl- Selbstlob; dadurch keine Wiedergabe als Kooperativsignal an Partner -» Einbettung des RA in Sp2-Bewertung von Spl (Gefallen an der Macht gefunden) KAI2 Ich versichere allen, wir werden uns auch in Zukunft Zeit zum verantwortlichen Nachdenken nehmen. -» Ankündigung [Zeit zum verantwortlichen Nachdenken] mit perspektivischem Charakter RA (0) BA10 Das wird uns helfen, den notivendigen Grundkonsens der Nation nicht durch sachlich unbegründete Zwietracht der Parteien zu zerstören. <?page no="190"?> 190 RefonnuUerungen -»Feststellung, zugleich Kooperativäußening an politische Partner gerichtet (Verweis auf Notwendigkeit eines Grundkonsenses) RA (1) (FAZ/ K,20,3) Nur zurückhaltend hat der Ministerpräsident mit den Kräften und „ Organen “ des alten Regimes abgerechnet, mit seinen früheren Exponenten überhaupt nicht. Er blickt lieber nach vorn, möchte die Kräfte für den Auftau sammeln und mobilisieren, beschwört die Parteien, den „Grundkonsens der Nation“ nicht durch Zwietracht zu zerstören. —> Einbettung des RA in eigene Kommentierung; Hinzufugung einer eigenen Bewertung (nur zurückhaltend [...]) KA13 Wir müssen alles tun, diesen Geist zu bewahren und uns der Freiheit würdig zu erweisen. -> Mahnung zu Nachdenken und verantwortungsvollem Handeln RA (0) BAI 1 Damit nehmen wir das demokratische Erbe Deutschlands auf. —> Feststellung [Es gibt ein demokratisches Erbe] und Spezifikation von KAI3 RA (1) (TAZ,21,3 siehe BA12) KAM 58 Jahre unterschiedlicher Diktaturen dürfen uns den Blick daraufnicht verstellen. -* argumentative Anknüpfung an KA13: Feststellung in KA13 trifft zu <auch wenn> [Es gab Diktaturen] -»Feststellung, zugleich indirekte Aufforderung <?page no="191"?> Globale Refonmtlierungsrelalionen im Wende- und Einheitsdiskurs 191 RA (0) BA12 Int Bauernkrieg, in den Befreiungskriegen, in der Revolution von 1848/ 49, in der Novemberrevolution von 1918, in den Ereignissen vom 20. Juli 1944 und im Volksaufstand des 17. Juni 1953 immer gab es den brennenden Willen zur Demokratie, und immer wurde er in Blut oder in Resignation erstickt. -»argumentative (und zugleich emotionalisierte) Anknüpfung an KAI3 und KA14: <denn> [Es gab immer brennenden Willen ...] -» Feststellung RA (1) (TAZ,21,3) Der Ministerpräsident stellte die Umwälzung in der DDR in den Kontext des „demokratischen Erbes Deutschlands“ vom Bauernkrieg, der 1848er Revolution und der Novemberrevolution 1918 über den 20. Juli 1944 bis hin zum 17. Juni 1953. -> Entemotionalisierung durch versachlichte, berichtende Wiedergabe in komprimierter Form (Reduzierung der gesamten argumentativen Bezugsstruktur auf reine aufzählende Berichtsstruktur) KAIS Heute dagegen stehen wir in der geschichtlichen Situation, daß unser demokratisches A ufbegehren ausgelöst wurde und aufgenommen wird von einer den Kontinent durchziehenden Bewegung zu Demokratie, Frieden und internationalem A usgleich. -» Feststellung einer Kausalbeziehung zwischen aktueller historischer Situation in der DDR und europäischen Demokratisienmgsprozessen RA (0) KA16 Machen wir uns bewußt, welcher Fortschritt bereits bei uns erreicht wurde, vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, daß diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas haltmacht, sondern daß in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht. <?page no="192"?> 192 Reformulienmgen -»Aufforderung, zugleich Mahnung zur positiven Bewertung (Entwicklung im Herbst 1989/ Frühjahr 1990 in der DDR) -> Aufforderung zu einer ‘Weitsicht’ auf die eigenen Probleme RA (0) BAI3 Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. -> bewertende Feststellung (Jahrzehnte der Unfreiheit und der Diktatur), zugleich perspektivische Ankündigung RA (1) (SDZ/ K,20,4) ln diesem Zusammenhang klingt es dann auch keinesivegs floskelhaft, wenn er sagt: „Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. “ -> argumentative Reduzierung durch Tilgung von KA15 und KA16 -»Einbettung in eigene Kommentierung und Bewertung (ausführlich vgl. 4/ 17) KAI7 Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz. -> Forderung (nach grundsätzlichem Herangehen; Forderung nicht nur pragmatisch auf konkrete Maßnahmen reduziert) RA (0) KAI8 Nicht die Staatssicherheit war die eigentliche Krankheit der DDR, sie war nur einer ihrer Auswüchse. -> Behauptung, zugleich Spezifizierung von KA17 (prinzipieller Ansatz heißt z.B„ die „Staatssicherheit“ nicht als Kern des Problems, <?page no="193"?> Globale Refonnulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 193 sondern nur als eine Begleiterschei nung zu sehen) RA (0) BAI4 Die eigentliche Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft war der diktatorische Zentralismus, der aus stalinistischer Verblendung an die Stelle der Demokratie, an die Stelle der Selbstbestimmung der Menschen gesetzt worden war. -* Feststellung; zugleich Begründung für Behauptung: {demokratischer Zentralismus ist eigentliches Übel <WEll> [Es gab Stalinismus] RA (1) (TAZ,21,3) Sein Rückblick auf die Geschichte der DDR konzentrierte sich vor allem auf den ..diktatorischen Zentralismus“ als der „eigentlichen Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft“. -» argumentative Reduzierung auf reinen Inhalt der Sequenz durch komprimierende Wiedergabe KAI9 Dieser Zentralismus war es, der eine alles gesellschaftliche Leben vergiftende Atmosphäre des Druckes erzeugte. -» Feststellung, zugleich Spezifizierung von BA14 in KA RA (0) BAI5 Zwang und Druck vernichteten Initiative, VeranUvortungshereitschaft, eigene Überzeugung und machten es zu einer menschlichen Leistung, dem eigenen Gewissen zufolgen. -> Feststellung RA (1) (TS,20,1 siehe BA 17) KA20 Deshalb genügt es heute nicht, ein Problem aufzugreifen, sondern wir müssen viel tiefer ansetzen. -r Aufforderung zu differenziertem Umgang mit historischen Problemen der DDR <?page no="194"?> 194 Refornwlierungen RA (0) BA16 Wir müssen uns unsere seelischen Schäden beivußt machen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. -> Begründung für KA20 -> indirekte Kritik mit kooperativem Element (integrierendes Wirf dadurch Versuch, Akzeptanz zu erreichen RA (3) (SDZ/ K,20,4) Und es ist durchaus angebracht, auf die seelischen Schäden hinzuweisen, die die DDR-Gescllschafi davongetragen hat und die sie erst noch heilen muß. -» Verstärkung des Elements der Kritik durch Bewertung des Spl-Sprechaktes (ist angebracht) (FAZ,20,1 u. TS.20,1 siehe BA17) BA17 Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. -* Aufforderung, zugleich perspektivische Kooperativäußerung durch integrierendes Pronomen (wir) RA (3) (FAZ.20,1) De Maiziere fügte aber hinzu: „Es sind nicht immer die Mutigsten von einst, die heute die Bestrafung von anderen fordern. Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen, wir müssen uns gegenseitig helfen. “ -> Refomiulierung eines BA aus einer anderen Sequenz (.fs sind ^Reduzierung des propositionalen Gehalts auf Sachverhalt seelische Schäden bei Refomiulierung von BA16 und auf gegenseitig helfen bei Refomiulierung von <?page no="195"?> Globale Refonnulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 195 BA18 Die Qualität unseres Weges wird an der Benahrung von Grundwerten der Gesellschaft zu messen sein. -> Feststellung, zugleich Mahnung (Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Sachverhalt ‘Weg zur deutschen Einheit’ und ‘Bewahrung von Grundwerten’) BA17 (Tilgung des von Spl ausgedriickten Ziels freie Menschen zu werden) (TS.20,1) Als die „eigentliche Krankheit der DDR“ bezeichnete de Maiziere den diktatorischen Zentralismus, unter dem es eine menschliche Leistung gewesen sei, dem eigenen Gewissen zufolgen. „ Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußtmachen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. “ -> argumentative Reduzierung, Komprimierung der Sequenz auf Wiedergabe von BA14 (Tilgung relevanter Einheiten wie aus sialinistischer Verblendung), BA16 und BA 17 (ND,20,1 siehe BAI8) RA (1) (ND,20,1) Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden, forderte der Premier auf und fügte hinzu: „Die Qualität unseres Weges wird an der Bewahrung von Grunihverten der Gesellschaft zu messen sein. “ -4 direkte Kontextuierung des BAI7 mit BAI8, damit Fokussierung des Zusamenhangs zwischen Sachverhalt ’gegenseitige Hilfe’ und ’Grundwertebewahrung’; Spezifikation des Sachverhalts ‘Grundwerte’ im folgenden KA21 nicht wiederaufgenommen <?page no="196"?> 196 RefonnuUerungen BA 19 Es geht um vier Dinge: die Freiheit des Andersdenkenden, - Gerechtigkeitfür alle, - Frieden als Gestaltungsaufgabe nach innen und außen, - Verantwortungfür das Leben in alten seinen Gestalten. -* Spezifizierung von BA18 RA (1) (TRI,20,1, siehe BA21) KA21 Diese Werte zeigen die Richtung, die ich - und ich denke, wir alle einschlagen wollen. Ankündigung RA (0) KA22 Dabei geben wir uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung der Freiheit, der Demokratie und des Rechts eine mühelos zu bewältigende A ufgabe wäre. -» Feststellung, zugleich Zurückweisung durch implizite Bezugnahme auf mögliche Annahmen (Negation: [Es gibt einen Jemand, der das annimmt]) RA (0) KA23 Wir geben uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung und der Übergang zu ihr keine politisch-ethischen Qualitäten mehr benötigen würden. Im Gegenteil! -> Feststellung, zugleich Zurückweisung (Hervorhebung notwendiger ethischer Aspekte bei der Schaffung der neuen Ordnung) RA (0) BA20 Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich erwachsen werden müssen. Selbstbestimmt und aktiv. -> perspektivische Feststellung, zugleich Forderung und indirekte Kritik mit kooperativen Signalen (Vermeidung pauschalisierender Bewertungen) (vgl. 4/ 9) <?page no="197"?> Globale Reformulierungsrelntionen im Wende- und Einheilsdiskurs 197 RA(1) (FR/ K,20,3) Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert: daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien, und beklagt die in der DDR grassierende Ausländerfeindlichkeit. -> Generalisierung des BA, dadurch zugespitzer und weniger kooperativ (vgl. 4/ 9) KA24 Das giltfürjeden Bürger, das gilt auch für das Parlament und die Regierung undfür das gesamte gesellschaftliche Leben. -> Feststellung (Spezifikation von BA20) RA (0) KA25 Und wir geben uns nicht der Illusion hin, daß Mora! und Recht identisch wären, daß wir mit Hilfe des Rechts Mora! erzwingen könnten. —y Feststellung, zugleich Anmahnung moralischer Werte RA (0) KA26 Hier halte ich es mit Hölderlins „Hyperion „Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das lass ’ er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag ’ es an den Pranger! Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. " -» direktes Zitat eines anderen Zitats (FR,21,2) Aufgespießt ,J)u räumst dem Staate [...] daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. " Passage aus dem „Hyperion" Friedrich Hölderlins, die der DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere in seiner Regierungserklärung mit Blick auf die frühere Allmacht des SED-Staates zitierte. -»Referenz auf die konkrete ‘Zitiersituation’ von Spl (jedoch Tilgung der perspektivischen Referenz in Bezug auf die neue Ordnung) <?page no="198"?> 198 ReformuUerungen KA27 Wahrlich ein aktuelles Wort über unsere jüngste Vergangenheit! -» Feststellung, zugleich Bewertung (Einordnen des Zitats in aktuellen Kontext) RA (0) KA28 ln diesem Sinne ist unser Umbruch Teil eines revolutionären Erneuerungsprozesses in Osteuropa, der zugleich ein gesamteuropäischer und ein Weltprozeß ist. -» Feststellung (Betonung der europäischen und außereuropäischen Dimension des Umbruchs in der DDR) RA (0) KA29 Manche mögen meinen, daß er letztlich konterrevolutionär sei. -»Feststellung, zugleich implizite Kritik einer antizipierten Kritik innerhalb der DDR (zugleich also diskursive Referenz) RA (0) KA30 Nach dieser 70jährigen Entwicklung des realen Sozialismus ist aber das „Konter“, das „ Gegen ", eine Naturnotwendigkeit. -> Begründung für die Zurückweisung der antizipierten Kritik in KA29 RA (0) KA31 Wer Sozialismus faktisch mit brutaler Parteidiktatur, Entmündigung der Gesellschaft, Staatseigentum an den Produktionsmitteln und mit zentralistischem Plandirigismus gleichsetzte, wer glaubte, mit solchen Mitteln eine gerechtere Gesellschaft schaffen zu können, der hat sich so gründlich geirrt, daß hier nur ein entschiedenes „Kontra“ möglich ist. — ► Feststellung, zugleich implizite Zurückweisung antizipierter Kritik (Fortsetzung der Argumentation zu Ursachen des Scheiterns des sozialistischen Systems, z.B. Stalinismus und Zentralismus) RA (0) KA32 Wer aber glaubt, damit müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt sich genauso. <?page no="199"?> Globale Reformulieningsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 199 -> Feststellung, zugleich implizite Zurückweisung antizipierter Kritik (direkte argumentative Fortsetzung von KA28/ 29) und Anmahnung moralischer Werte -> Sequenz KA27-KA32 fungiert gleichzeitig als akzeptanzstützende Vorbereitung für BA22, einen Schlüsselsatz der Regierungserklärung (Bekenntnis zur Marktwirtschaft) und der Ankündigung konkreter Maßnahmen in der darauffolgenden Sequenz BA22-BA31 27 RA (0) BA21 Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können. -»Feststellung, zugleich implizite Zurückweisung bzw. indirekte Kritik und Mahnung RA (2) (ND,20,1) Die Marktwirtschaft, die seine Regierung anstrebe, beschrieb der Premier als „eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können. “ -» Wiedergabe der argumentativen Struktur des Bezugsausdnicks 27 Diese Akzeptanzstützung scheint notwendig, da zum einen wie de Maiziere dann im weiteren Verlauf der Regierungserklärung ausführt mit einer Entscheidung für ein neues Wirtschaftsmodell eine grundlegende Umwälzung quasi aller Lebensbereiche einhergehen wird; zum anderen kann diese Sequenz auch als Bekenntnis zu einer wohlbedachten Übernahme des Modells, die ebenso ethisch-moralische Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität im Blick behält, verstanden werden. Diese Aspekte werden außer im ND und der Tribüne in sehr konzentrierter Form in keinem wiedergebenden Text reflektiert. <?page no="200"?> 200 ReformuHerungen BA22 Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Markt! virtschuft. -»Feststellung, zugleich Ankündigung einer Entscheidung (für neues Wirtschafts- und Geseilschaftsmodell) -»argumentativ vorbereitet durch die vorhergehende Sequenz (TRI.20,1) Als die Grundwerte einer ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft bezeichnete der RegierungschefFreiheit des Andersdenkenden, Gerechtigkeit für alle, Frieden als Gestaltungsaufgabe nach innen und außen, Veranhvortung für das Leben in allen seinen Gestalten. -»komprimierende Wiedergabe (Explikation der Bezugsfiigung unser Weg mit ökologisch orientierter Marktwirtschaft)', hier Wiederaufnahme der Spezifikation in BAI9 (Freiheit des Andersdenkenden', usw.) RA (6) (DM/ K.23,3) Unser Premier hat gesagt, wo und wie wir arbeiten, leben und wohnen wollen. In einer ökologisch verpflichteten, sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dafür bewährte Vorbilder, und der Christdemokrat an der Spitze unserer Regierung hat mit klaren Worten bekräftigt, daß die Hinwendung zum Markt kein Abschied ist von sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität. Aber einfach wird es nicht werden. De facto leben wir noch mit den Resten staatlich gelenkter Kommandowirtschaft. -» komprimierende Wiedergabe der argumentativen Sequenz, die BA22 vorbereitet (vgl. 4/ 29) <?page no="201"?> Globale Refoninilierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 201 (TAZ,21.9) Allein die Auflistung dessen, was man sich für die Zukunft wünscht, ist noch kein Regierungsprogramm. Doch ist zu vermuten, daß das Bekenntnis der neuen Regierung zur sozialen Marktwirtschaft sie ebenfalls der Forderung enthebt, ein wirkliches Programm haben zu müssen. Bedeutet doch wie Elmar Pieroth im März 1981 sagte soziale Marktwirtschaft nichts weiter, als den einfachen und klaren Maximen Ludwig Erhards zu folgen, daß nämlich der Staat der Versuchung widerstehen muß, „wirtschaftliche Dynamik und sozialen Fortschritt durch eigene Tätigkeit und in eigener Regie direkt herbeifllhren zu wollen." Einbettung in eigene Kommentierung; dadurch Aufhebung der ursprünglichen argumentativen Struktur (Relativierung des Bekenntnischarakters des Bezugsausdrucks) (FAZ.20,1) Für die nächsten acht Wochen stellte de Maiziere die Herstellung des Rahmens ftir eine effektive, ökologisch verpflichtete, soziale Marktwirtschaft in Aussicht. -> argumentative Reduktion auf pragmatischen Akt der Ankündigung einer politischen Maßnahme (FAZ/ K,20,1) Klar war das Bekenntnis des Ministerpräsidenten zur neuen Wirtschaftsordnung, die in der DDR stets als „ökologisch verpflichtete Soziale Marktwirtschaft“ umschrieben wird. Als Selbstzweck möchte der Regierungschef die neue Ordnung nicht betrachtet wissen, [...]. -»Explizierung des Sprechaktes ‘Bekennen’ für Ankündigung von Spl in BA22 -> Signalisierung möglicher Distanz (die in der DDR stets als „ökologisch [...]“ umschrieben wird) <?page no="202"?> 202 Refonmilierungen (SDZ/ K,20,4) In diesem Zusammenhang klingt es dann auch keineswegsßoskelhaft, wenn er sagt: „Nach Jahrzehnten [...] des Rechts gestalten. " Oder wenn in der Erklärung die „ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft“ beschworen wird. -> Bewertung von BAI3 und BA22 als ..nichtfloskelhaft“ (vgl. 4/ 17) (TS,20,1 siehe BA23) BA23 Wir werden sie in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG jetzt Schrittfür Schritt entwickeln. -> Ankündigung konkreter Maßnahmen RA(1) (TS.20,1) Maiziere bekannte sich zu einer „ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft“, die in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG jetzt Schritt für Schritt verwirklicht werden solle. -» Wiedergabe der Originalausdrucksfolge -» ■ Explizienmg des Spl-Sprechaktes als ‘Bekenntnis’ Es sollte bis zu diesem Punkt hinreichend dargestellt worden sein, daß es Reformulierungstrends gibt und wie sie manifest werden, welche konkreten sprachlichen Eingriffe zu Reduktionen fuhren und welche Aussagen von keinem einzigen Sprecher für reformulierungswürdig gehalten wurden. Im folgenden werden nicht mehr sprachliche Eingriffe im einzelnen dargestellt, sondern vielmehr soll nur noch anhand einer Übersicht die These untermauert werden, daß bevorzugt tagesaktuell-pragmatische Aussagen wiederaufgenommen werden, andere, differenziertere und globalere Aussagen dagegen so gut wie keine Beachtung finden. Die auch im Originaltext folgenden BA24 - BA39 sind jene Bezugsausdrücke mit der höchsten Frequenz an Wiederaufnahmen überhaupt; es wird wie gesagt nur die Anzahl ihrer Reformulierungen genannt, da sie zum großen Teil schon Gegenstand des 4. Kapitels waren und in erster Linie Ankündigungen konkreter Schritte darstellen. <?page no="203"?> Globale Refonnulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 203 BA24 In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause in Kraft treten kann. RA (3) BA25 Dabei ist 1: 1 der grundlegende Kurs. RA (9) BA26 Dazu gehört die Sicherung der Eigentumsrechte aus der Bodenreform und aus Eigentumsübertragungen, die nach Treu und Glauben rechtens waren und daher auch rechtens bleiben müssen. RA (4) BA27 Dazu gehört, daß vor der Währungsumstellung die Aufwendungen für die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden. RA (3) BA28 Erst dann können die Preise und Mieten mit der Entwicklung der Einkommen schrittweisefreigegeben werden. RA (2) [...] BA29 Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. RA (5) BA30 Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität. Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. RA (9) BA31 Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. RA (6) BA32 Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes venvirklichen. RA (5) <?page no="204"?> 204 Refonmilierungen Die nun folgende Sequenz Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt [...] Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. wird ausführlich in 5.2 behandelt. BA33 Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! RA (6) BA34 Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. RA (2) BA35 Not macht auch erfinderisch! RA (2) BA36 Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben. RA (3) BA37 Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. RA (4) KA33 7« der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. RA (0) BA38 Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. RA (1) KA34 Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. RA (0) BA39 Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. RA (2) Aus den sich in der Regierungserklärung anschließenden 19 Ausdrücken wird nur ein einziger Ausdruck reformuliert (BA39): <?page no="205"?> Globale Reforniulieriingsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 205 KA35 Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden. RA (0) KA36 Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung. RA (0) KA37 Aber es geht nicht nur um die letzten 40 Jahre in Deutschland. RA (0) KA38 In Deutschland ist viel Geschichte aufzuarbeiten, vor allem die, die wir mehr den anderen zugeschoben und daher zu wenig aufuns selber bezogen haben. RA (0) KA39 Aber wer den positiven Besitzstand der deutschen Geschichtefür sich reklamiert, der muß auch zu ihren Schulden stehen, unabhängig davon, wann er geboren und selbst aktiv handelnd in diese Geschichte eingetreten ist. RA (0) KA40 Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. RA (0) KA41 Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns zu diesem doppelten Erbe. RA (0) KA42 Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. RA (0) KA43 Es geht um Europa. RA (0) KA44 Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. RA (0) KA45 Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land. RA (0) KA46 Die eigentlichen Probleme in unserer Welt wir wissen es alle sind nicht die deutsch-deutschen oder die Ost-West-Probleme. <?page no="206"?> 206 Refonnulierungen RA (0) BA40 Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. RA (1) KA47 Wenn daraus nicht eine tödliche Bedrohung für das Leben der Menschen erwachsen soll, haben auch wir uns an der Überwindung dieser Ungerechtigkeit zu beteiligen. RA (0) KA48 Die Errichtung einer gerechteren internationalen Wirtschaßsordnung ist nicht nur Sache der Großmächte oder der UNO, sondern ist Aufgabe jedes Mitgliedes der Völkergemeinschaft. RA (0) KA49 Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in unserem Land kann ein Beitrag zu einer neuen Qualität des Miteinanders verschiedener Völker sein. RA (0) KA50 Die Klärung der Rechtslagefür ausländische Mitbürger und die Einsetzung von Ausländerbeauftragten auf verschiedenen Ebenen wird dafür ebenso nötig sein wie die Förderung solcher Initiativen, die kulturelle Vielfalt als Reichtum erfahren lassen. RA (0) KA51 Die Befreiung Nelson Mandelas und die Aujhebung der Apartheid in Südafrika, das Schicksal der tropischen Regenwälder und die Hilfe für die Dritte Welt bewegen uns wie unsere eigenen Probleme, ja nicht nur ..wie" — es sind unsere eigenen Probleme. RA (0) KA52 Wir wissen: Unsere Fähigkeit, die eigenen Probleme zu lösen, hängt davon ab, wie wir bereit sind, auch die Probleme der anderen zu sehen. RA (0) Angesichts der eben vorgenommenen Analyse scheint es gerechtfertigt zu sein, bei diesen Reformulierungstrends von bestimmten Standardfokussierungen zu sprechen, die die Sprecher geleitet durch bestimmte Prädispositionen bereits bei der Rezeption eines solchen sehr komplexen Textprodukts vornehmen. Für den speziellen „De-Maiziere-Diskurs“ sind es vor allem folgende Trends: - Weglassen oder Neuinterpretieren von Textstellen, in denen sich das Selbstbewußtsein des Originalsprechers dokumentiert; <?page no="207"?> Globale Reformulierwigsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 207 - Weglassen oder Neuinterpretieren von Textstellen, in denen ein behutsamer Weg zur deutschen Einheit angemahnt wird; - Weglassen oder Neuinterpretieren von Textstellen, die ein differenziertes Geschichtsbild entwickeln bzw. allgemein gültige ethisch-moralische Werte anmahnen; - Weglassen oder Neuinterpretieren von Textstellen, die eine Relativierung der deutschen Probleme vornehmen und sie in einen Zusammenhang mit globalen Menschheitsproblemen stellen; - Zuspitzung oder Polarisierung moderat formulierter Äußerungen, was dazu fuhrt, daß kooperative Äußerungen de Maizieres in ihren Wiedergaben in stärkerem Maße konfliktär erscheinen. 28 Natürlich sind die beschriebenen Effekte Reformulierungen vom Prinzip her eigen. Es muß aber gefragt werden, ob die Tilgungen argumentativinteraktiver Spuren des Originaltextes in seinen Wiedergaben durch die Notwendigkeit der Kürzung wirklich immer legitimiert sind. Solche argumentativen Abfolgen haben eine ganz bestimmte Funktion in der Kommunikation zwischen Partnern, nämlich oft strittige, kontrovers behandelte Aussagen einzufuhren, zu stützen, wie das am Beispiel de Maizieres vorgefuhrt wurde. Wenn dies jedoch keinen oder wenig Niederschlag in den Wiedergaben findet, wenn also eine reine ‘Kernkommunikation’ entsteht, die um jegliche interaktiv notwendige Redundanz reduziert ist, kann dies irgendwann zu (kommunikativen) Störungen fuhren (vgl. dazu noch 6.2). Nicht zuletzt deswegen ist festzustellen, daß die beschriebenen Phänomene der argumentativen und kommunikativen Reduktion und Vereinfachung die zum Teil auch noch gegenwärtig existierenden kommunikativ-psychologischen Probleme zwischen Ost- und Westdeutschen und der politischen Diskussion in Deutschland generell bestimmen. 5.2. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden - Zur Weiterverarbeitung eines Schlüsselsatzes in anderen Text- und Diskurszusammenhängen Im folgenden soll an konkreten Beispielen gezeigt werden, wie sich verschiedene Reformulierungen ein und desselben Bezugsausdrucks sowohl in der 28 Anzumerken ist schließlich noch, daß bei der Analyse von Ost- und Westzeitungen keine großen Divergenzen in Abhängigkeit von der Herkunft (Ost oder West) bzw. dem wie auch immer zu definierenden politischen Profil der jeweiligen Tageszeitung (also eher links-liberal, eher konservativ etc.) feststellbar waren. Vielmehr sind bestimmte Interpretationen und Bewertungen quer durch die traditionellen Lager zu konstatieren. Zumindest für den Diskurs der Wende- und unmittelbaren Nachwendezeit und des damit einhergehenden Umbruchs in Europa erscheinen deshalb Annahmen über direkte Beziehungen zwischen bestimmten politischen Richtungen und Kommunikationsweisen von Personen wenig sinnvoll zu sein. <?page no="208"?> 208 Refonnulierungen Folge der Texte T3-n als auch in entsprechenden Weiterverarbeitungen über größere Zeiträume hinweg mit anderen Äußerungen vernetzen. Von besonderem Interesse ist dabei, welche verschiedenartigen Fokussierungen damit verbunden sein können. Da grundsätzlich anzunehmen ist, daß die beschriebenen sprachlichen Wiederaufnahmeverfahren, Umwandlungen und Interpretationen auch für Reformulierungen z.B. in Berichten über die Parlamentsdebatte, in Politikerstatements, in Interviews etc. gelten, kann an dieser Stelle auf eine Detailanalyse verzichtet werden. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie Ausdrücke und Sequenzen in der Folge interpretierender Texte (zur Textkettenfolge vgl. Kapitel 2.3) Sprecher- und kontextabhängig modifiziert und interpretiert werden. Die folgenden Ausführungen vergleichen daher verschiedene Reformulierungsvarianten ein und desselben Bezugsausdrucks in verschiedenen Texten in einem Zeitraum von drei Jahren. Der in dieser Arbeit schon mehrfach erwähnte und behandelte Satz von Lothar de Maiziere Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden gehört zu den am häufigsten zitierten und wiedergegebenen Äußerungen; er gehört auch zu jenen, die den unmittelbaren Reformulierungskontext quasi ‘überlebt’ haben und auch einige Zeit später von Sprechern immer wieder aufgegriffen werden (zur besonderen Reformulierbarkeit einzelner sprachlicher Äußerungen vgl. Kap. 2.2 und 4.3). Neben dem schon erwähnten Satz von Willy Brandt Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört und dem Versprechen Helmut Kohls, blühende Landschaften im Osten zu schaffen, ist der Kemsatz der Regierungserklärung von Lothar de Maiziere fast zu einer Diskursmetapher für die Probleme der deutschen Vereinigung geworden. Bevor einzelne Belege von ganz unterschiedlich kontextuierten Wiederaufnahmen analysiert werden, soll noch einmal die komplexe argumentative Sequenz dieses Bezugsausdrucks nunmehr differenzierter dargestellt werden (vgl. auch schon 4/ 14a-c): BS (REG) Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt. Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein. Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Wir envarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten. <?page no="209"?> Globale Refoniwlierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 209 - Spl sagt, [Jemand (m'/ >=DDR) erlebt Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Offenheit des anderen Partners (Bundesbürger)] [Es gibt aber auch Tendenzen schwindender Bereitschaft zur Solidarität] <WEIL> [diese Tendenzen zu konstatieren sind, eine Bitte an Bundesbürger] [Bedenkt, Jemand (w/ >=DDR) mußte 40 Jahre mehr Opfer bringen] <WEIL> [kein Marshall-Plan für DDR existierte] <UND WEIL> [Jemand (w/ r=DDR) mußte Reparationen zahlen] [Jemand (w/ r=DDR) erwartet keine Opfer] [<ABER> <HABT> ein Gemeinsamkeitsgefühl <UND> <SEID> solidarisch] <DENN> [Teilung kann nur durch Teilen aufgehoben werden] Man könnte dies auch so zusammenfassen: Das Paar Teilung und Teilen wird in Bezug gesetzt zu historischer Gerechtigkeit, Opferbringen, Herstellung von Gemeinsamkeit und Solidarität (Teilung, Teilen, Gerechtigkeit, Gemeinsamkeit Und Solidarität). Durch den sequentiellen Kontext läßt das Nomen Teilen zumindest einen großen Interpretationsspielraum zu, vom Teilen materieller Werte bis hin zum Teilen als Begriff mit fast methaphorischem Charakter, der ganz allgemein für Solidarität und partnerschaftliches Verhältnis (auch im ideellen Sinne) steht. Die Reformulierungen in den wiedergebenden Texten weisen eine Vielfalt von Kontextuierungen auf, die zum Teil Spezifizierungen bzw. Fokussierungen einer von vielen möglichen Interpretationsvarianten sind, zum Teil aber auch Konstruktionen völlig neuer Bezüge und Sinnzusammenhänge darstellen. RA und NA werden nur in jenen Belegen genau bestimmt, in denen die sequentielle Argumentationsabfolge im Detail interessiert. Das betrifft die Beispiele 5/ 4, 5/ 5, 5/ 6, 5/ 9b, 5/ 10, 5/ 18. 5.2.1 Reformulierungen aus dem direkten Rezeptionskontext „Regierungserklärung“ (20./ 21. April 1990) Um die Weiterverarbeitungen dieses Schlüsselsatzes im Detail erfassen zu können, sei in einem ersten Schritt der direkte Kernbereich reformulativer Kontextuierungen betrachtet: nämlich ausgewählte Reformulierungsausdrücke und ihre Einbettungen als direkte Reaktion auf den Bezugstext einen Tag nach der Abgabe der Regierungserklärung. Teilung — Teilen -> Weg zur deutschen Einheit Das erste Beispiel stammt aus dem Redebericht der „Berliner Allgemeinen“ vom 20.4.90: <?page no="210"?> 210 RefonnuHerungen (5/ 2) RS (BER,20,1) Für den Weg zur deutschen Einheit gilt für die Regierung die Formel: So schnell wie möglich, aber mit Rahmenbedingungen so gut, vernünftig und zukunftsfähig wie nötig. Das wird nach Auffassung des Premiers am besten durch Grundgesetzartikel 23 gewährleistet. In diesem Zusammenhang richtete er an die Bürger der BRD den Appell, die Teilung könne tatsächlich nur durch Teilen, durch Solidarität und Sympathie überwunden werden. Die Reformulierung stellt eine Komprimierung mehrerer Bezugsausdrücke dar und wird in den Zusammenhang mit dem konkret einzuschlagenden Weg zur deutschen Einheit gestellt. Damit bleibt der Reformulierer zwar noch eng am Originalkontext, präsentiert jedoch auch eine veränderte Einbettung (Kontextuierung des Appells zum Teilen mit Entscheidung für Artikel 23). Teilung - Teilen —» Kritik am Westen In diesem Reformulierungsbeleg aus dem Kommentar der „Frankfurter Rundschau“ zur Regierungserklärung ist besonders die interpretative Einbettung von Interesse. (5/ 3) RS (FR/ K,20,3) Die Schwestern und Brüder in der Bundesrepublik bekommen ebenfalls ihr Fett ab. De Maiziere bedankt sich für die Hilfe, sieht aber eine schwindende Solidarität im größeren deutschen Staat. Die Teilung überwinden könnten die Deutschen nur durch Teilen. Die argumentative Stützung und der dadurch vorbereitete Appell zum Teilen in der Bezugssequenz wird reduziert auf den Sprechakt der Kritik. Verstärkt wird diese Verschiebung durch die Verwendung der eher umgangssprachlichen Redewendung: Jemand bekommt sein Fett ab. Dadurch wird der kooperative Charakter der Bezugssequenz reduziert und eine stärkere Polarisierung vorgenommen. Teilung - Teilen —» Eigentumsverhältnisse Das nächste Beispiel ist eine dem Bezugstext unmittelbar folgende Reformulierung in einem Redekommentar der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 20.4.90: (5/ 4) RS (FAZ/ K,20,1) NA1 Enttäuschend waren die Aussagen über den Kurs, den die neue Regierung in der Eigentumspolitik steuern will. <?page no="211"?> Globale Refonnulierungsrelationen im li'ende- und Einheitsdiskurs 211 RAI Auf Verständnis kann sie rechnen, wenn sie die Bodenreform von 1946 nicht rückgängig machen will. NA2 Ob die enteigneten Grundbesitzer entschädigt werden sollen, blieb jedoch ebenso offen wie die Frage, was aus den enteigneten Betrieben, Grundstücken und Wohnhäusern von Bürgern werden soll, die heute in der Bundesrepublik leben. RA2 Der Ministerpräsident hat mit Sorge von einer schwindenden Bereitschaft in der Bundesrepublik gesprochen, „abzugeben und solidarisch“ zu sein. RA3 Die Teilung könne „nur durch Teilen“ überwunden werden. NA3 Das ist richtig, nur ist hier auch einmal ein Wort für die Deutschen in der Bundesrepublik einzulegen: Von ihnen werden in der Zukunft erhebliche Opfer erwartet. NA4 Da sollten sie umgekehrt darauf hoffen dürfen, daß auch ihre Interessen berücksichtigt werden, nicht zuletzt in der Frage des in der DDR zurückgelassenen, entzogenen oder venvirtschafteten Eigentums. An dieser Stelle interessiert nicht die argumentative Struktur des gesamten Kommentars. Es reicht vielmehr aus, sich die durch NA1 eingeleitete Mikroargumentationsstruktur anzusehen, in die RA3 eingebettet ist. In NA1 stellt Sp2 eine Subthese auf, mit der er explizit Spl-Äußerungen bewertet: - Sp2 sagt, [Es gibt einen Jemand (Spl), der Aussagen zum Sachverhalt SV1 (Eigentumspolitik) gemacht hat] <UND> [Diese Aussagen sind negativ zu bewerten {enttäuschend)) In NA2 fuhrt Sp2 einen ersten Beleg für diese Bewertung in NA1 an, indem er mögliche Betroffene dieser angekündigten und von ihm kritisierten Eigentumspolitik benennt (nach 1945 enteignete Großgrundbesitzer; Bürger, die in der DDR Immobilien besaßen und in die Bundesrepublik übersiedelten). Sp2 bringt dann das Thema ‘Eigentumspolitik’ in Zusammenhang mit der Bitte de Maizieres, Gemeinsamkeit und Solidarität zu zeigen und zu teilen, indem er RA2 und RA3 als Stützargumente einsetzt. Die argumentative Abfolge des Bezugstextes wird auf eine Forderung de Maizieres an die Bürger der Bundesrepublik, abzugeben und zu teilen, reduziert. In NA3 interpretiert Sp2 diese Bezugsäußerungen, indem er die Negation der Bezugssequenz Wir erwarten von ihnen keine Opfer aufhebt und durch die entgegengesetzte Aussage {Von ihnen <den Bürgern der Bundesrepublik werden in Zukunft erhebliche Opfer erwartet) ersetzt. Die eigentliche Schlußfolgerung dieser Mikroargumentation wird nunmehr deutlich durch die konditionale Verknüpfung von NA3 und NA4: - Sp2 sagt in NA3, [<wenn> Bürger der Bundesrepublik erhebliche Opfer bringen müssen]; NA4: [<dann> sollten sie dafür mit einer großzügigen Eigentumsregelung belohnt werden]. Beide Sprecher nehmen also ganz verschiedene Kontextuierungen vor. Im Bezugstext thematisiert Spl das Verhältnis beider Partner im Vereinigungsprozeß generell: Gemeinsamkeit, Solidarität, Teilen (aber auch den unterschiedlich großen Anteil an Opfern nach dem Zweiten Weltkrieg): <?page no="212"?> 212 Refoniiulierungen - Spl sagt, [DDR hatte größere Opfer zu erbringen; <DESHALB> [Es ist legitim, jetzt vom stärkeren Partner Solidarität zu fordern] - Sp2 nutzt diese Reformulierung zur Stützung der eigenen These [Bundesdeutsche müssen für die Einheit Opfer bringen; <als Gegenleistung dafür> sollten sie altes Eigentum zurückerhalten bzw. entsprechend entschädigt werden] Teilung - Teilen -» Umtauschkurs von 1: 1 Das folgende Beispiel ist ebenfalls einem Redekommentar zur Regierungserklärung entnommen. Er wurde in der „Berliner Allgemeinen“ vom 20.4.90 unter dem Titel „Der große Balanceakt“ veröffentlicht. Es ist deshalb interessant, weil hier negative Reaktionen von anderen Sprechern/ Adressaten antizipiert werden, die ein Sprecher im darauffolgenden Beispiel tatsächlich ausdrückt. (5/ 5) RS (BER/ K,20,2) RAI In Währungsfragen bleibt der Rechtsanwalt beim hier populären und dort unpopulären 1: 1. RA2 Seine Begründung ist mehr als ein pointiertes Wortspiel: Wer die Teilung überwinden wolle, müsse teilen. NA Ein freimütig vorgetragener Standpunkt, dem von den Machern in der letztlich alles entscheidenden C-Partei am Rhein ganz gewiß nicht stehend applaudiert wird. - Sp2 stellt in RAI die Behauptung auf, Spl wiederholt eine Ankündigung X (/ ■ '/ ). Er fügt hinzu: [X wird von einem Jemand positiv bewertet, von einem anderen Jemand negativ] - Sp2 sagt in RA2, [SPl-Aussage Y (Die Teilung [...] teilen.) ist Begründung für X.] - Sp2 sagt in NA, [Jemand wird X nicht sofort positiv bewerten] Er fügt eine eigene Bewertung hinzu (freimütig vorgetragen). Sp2 bewertet die Äußerung von Spl auch dadurch, daß er mögliche Reaktionen auf diese Äußerung antizipierend wiedergibt. Teilung — Teilen —» Umverteilung/ Verteilungsmentalität Diese antizipierte Reaktion ganz explizit verbalisiert findet man im folgenden Beispiel aus dem Redebericht über ein Interview, das der damalige CDU- Generalsekretär Volker Rühe der Tageszeitung „Die Welt“ zur Regierungserklärung gab. <?page no="213"?> Globale Refoniiulierungsrelalionen im Wende- und Einheitsdiskurs 213 (5/ 6) RS (DW,21,4) Hauptüberschrift: Beim DDR-Rcgicningschef ein Stück „überkommenes Denken“ festgestellt Vorspann: Maßvolle, aber doch deutliche Kritik übt CDU-Generalsekretär Volker Rühe an einigen Punkten der sonst in der Bundesrepublik mit großem Lob bedachten Regierungserklärung des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere. In einem Gespräch mit der WELT hat Rühe seine Argumente präzisiert. Text: [...] NA Aber vor allem in zwei Punkten hält Rühe Kritik für notwendig. RAI „Dieser fast in allen Berichten und Kommentaren zitierte Satz des Ministerpräsidenten, daß die Teilung nur durch Teilen aufgehoben werden könne, verlangt Widerspruch. RA2 Es geht doch hier gar nicht um Teilung oder Umverteilung dessen, was in der Bundesrepublik an Wohlstand erarbeitet worden ist. RA3 Es geht doch im Kern um Starthilfe, Hilfe zur Selbsthilfe. RA4 Die Bremsklötze müssen herausgeschlagen werden, damit die Leute sich aus eigener Kraft denselben Wohlstand erarbeiten können, wie wir ihn haben.“ RA5 Rühe sieht in diesem von ihm kritisierten Satz nicht etwa nur terminologische Unerfahrenheit des DDR-Regierungschefs, also den etwas unbeholfenen Versuch, die in der DDR zu Recht erwartete Solidarität der Landsleute mit dem wirtschaftspolitisch unglücklichen Begriff Teilung zu umschreiben. RA6 Rühe: „Das scheint mir auch noch ein Stück überkommenes Denken zu sein, ein Stück Vertcilungsmentalität." RA7 Aber auch der hohe Standard der Sozialleistungen in der Bundesrepublik sei ja nicht durch Verteilung oder Umverteilung erreicht worden, sondern durch eine Steigerung der Produktivität. RA8 Auch in der DDR werde Reichtum nicht einfach durch Teilung entstehen. [...] RA9 Rühe: „Ich muß die Bürger der Bundesrepublik ein wenig in Schutz nehmen. RAID Ministerpräsident de Maizicre hat von Anzeichen gesprochen, daß die Menschen bei uns nicht mehr in dem Maße bereit seien, etwas abzugeben. RAI 1 Ich glaube dagegen: Solidarität und Bereitschaft sind vorhanden. RA12 Aber die Menschen wissen auch sehr genau, daß der eigentliche Schlüssel zum Erfolg in der DDR liegt und nicht hier.“ Dies ist vor allem deshalb ein besonders interessanter Fall, weil Sp2 die Reformulierungen eines dritten Sprechers reformuliert. Sprecher 3 (Rühe) interpretiert und bewertet Bezugsäußerungen von Spl (de Maiziere) in seinem Sinne, indem er sie reformuliert und dann teilweise distanzierend zurückweist. Sp2 (DW-Joumalist) reflektiert diese Reformulierungsvorgänge, gibt sowohl die Reformulierungen des Bezugsausdrucks als auch von Sprecher 3 neu produzierte Ausdrücke wieder und benennt die dominierende Funktion der Äußerungen von Sprecher 3 explizit {maßvolle Kritik). Es überlagern sich also mehrere Reformulierungsebenen: <?page no="214"?> 214 Refonnutierungen - Mit NA leitet Sp2 diese Sequenz ein, indem er die folgenden Sp3- Sprechakte expliziert (Rühe hält Kritikfür notwendig). In RA1-RA4 zitiert Sp2 eine Äußerung von Sp3 (direkte Redewiedergabe), in die wiederum eine Äußerung von Spl eingebettet ist (indirekte Wiedergabe). Sp3 bekundet seine Einstellung zur wiedergegebenen Äußerung (verlangt Widerspruch). - Dann erfolgt die Begründung für den ausgedrückten Widerspruch (Es geht doch nicht um... Es geht doch im Kern um ...). Damit wird deutlich, welche Fokussierung Sp3 vornimmt: Teilung als Teilen bzw. Abgeben materiellen Wohlstandes. RA5 soll nun genau betrachtet werden: RAS Rühe sieht in diesem von ihm kritisierten Satz nicht etwa nur terminologische Unerfahrenheit des DDR-Regierungschefs, also den etwas unbeholfenen Versuch, die in der DDR zu Recht envartete Solidarität der Landsleute mit dem wirtschaftspolitisch unglücklichen Begriff Teilung zu umschreiben. Es ist die berichtende Wiedergabe einer möglichen Äußerung von Sp3 (Rühe), wobei nicht im Detail bestimmbar ist, welche der präsentierten Einheiten von Sp3 tatsächlich formuliert werden: - Sp2 (DW) sagt, Sp3 hat einen Satz von Spl (de Maiziere) kritisiert. Diese Kritik bezieht sich tiicht etwa mir <ABER AUCH> auf Sachverhalt X, ‘sprachliche Gestalt der Spl-Formulierung Teilen kann ... aufgehoben werden ' (terminologische Unsicherheit). - Dieser SV X wird von Sprecher 2 oder Sprecher 3 näher beschrieben: der unbeholfene Versuch... Dabei referiert Sp2 oder Sp3 auf die Äußerung von Spl zur von den Bundesbürgern erwarteten Gemeinsamkeit und Solidarität mit den Ostdeutschen und bewertet diese von Spl ausgedrückte Erwartung (berechtigt). - Sp2 oder Sp3 behaupten dann, der von Spl verwendete Terminus Teilung sei eine Paraphrase für diese erwartete Solidarität. - Zwischen RA5 und RA6 besteht darüber hinaus eine koordinierende Verknüpfüng: - Sp2 sagt in RA5, Sp3 bezieht die Kritik nicht nur auf den Sachverhalt X (sprachliche Unsicherheit), <SONDERN AUCH> auf Sachverhalt Y: die Haltung und Denkungsart von Spl (überkommenes Denken, Verteilungsmentalität). -RA7 und RA8 stellen Stützargumente dar für die These in RA5: [Die Ostdeutschen wollen denselben Wohlstand erreichen wie die Bundesrepublik <UND ZWAR> durch Verteilen bereits geschaffener Werte], Die Negation in RA7 (der hohe Standard [...] seija nicht durch Verteilung oder Umverteilung erreicht worden) referiert auf eine (mögliche) Äußerung [eines Jemand, der hohe Standard ist durch Verteilung zustande gekommen]. Der adversative Anschluß durch die Konjunktion sondern konstruiert einen Gegensatz zwischen Verteilung und Erhöhung der Produktivität, der zugleich präsupponiert: [Wer Teilen anmahnt, sollte lieber die Produktivität erhöhen]. Dies wird ganz explizit in RA8, wo wiederum durch die Negation ei- <?page no="215"?> Globale Refoniiulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 215 nem Jemand unterstellt wird, er habe eben jene Behauptung aufgestellt (Auch in der DDR werde Reichtum nicht einfach durch Teilung entstehen). - RA9 ist eine wörtliche Zitierung einer Äußerung von Sp3, mit der dieser Spl-Äußerungen bewertet, indem er sie als Kritik an den Bundesbürgern interpretiert und sie als unberechtigt zurückweist. -In RA10 überlagern sich wieder zwei Reformulierungsebenen. Sp2 zitiert eine Sp3-Äußerung, die wiederum indirekt eine Spl-Äußerung wiedergibt (Rühe: „[..^Ministerpräsident de Maiziere hat davon gesprochen, daß [...] bereit seien, etwas abzugeben). -RAH ist eine explizite Zurückweisung der Spl-Äußerung, so wie Sp3 sie interpretiert. - RA 12 schließt diese Argumentation ab, indem er die wesentliche Schlußfolgerung noch einmal formuliert: daß der eigentliche Schlüssel zum Erfolg in der DDR liegt und nicht hier <in der Bundesrepublik. Auch hier werden die Reformulierungssequenzen benutzt, um eine eigene Argumentation mit folgender Hauptthese zu stützen: [Die Menschen in der DDR müssen sich selbst helfen und können nicht darauf hoffen, daß ihre Probleme durch Teilen und Umverteilen materieller Werte von West nach Ost zu lösen wären. Die Westdeutschen haben ihren wirtschaftlichen Aufschwung auch aus eigener Kraft geschafft, und es ist ihnen nichts geschenkt worden). Eine andere Art von Vernetzung, auch als Reformulierung der Reformulierung, stellt die Meldung der „Berliner Morgenpost“ über das „Welt“-Interview mit Volker Rühe unter dem Titel „Rühe kritisiert Regierungschef de Maiziere “ vom 21.4.90 dar: RS (BM,21,9) Kritik an der Regierungserklänmg des neuen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizere (CDU Ost) hat CDU-Generalsekretär Volker Rühe geübt. De Maizieres Satz, daß die Teilung nur durch Teilen überwunden werden könne, verlange „Widerspruch", da er „ein Stück überkommenes Denken“ und „Verteilungsmentalität" zeige, sagte Rühe in einem Interview der Zeitung „Die Welt“. Es gehe hier nicht um Teilen oder Umverteilen dessen, was in der Bundesrepublik an Wohlstand erarbeitet worden sei, sondern um „Starthilfe“ zur Selbsthilfe. 5.2.2 Spätere Wiederaufnahmen des Schlüsselsatzes (Mai 1990 - Dezember 1992) Der Bezugsausdruck wird wie gesagt auch über den unmittelbaren Reformulierungskontext der Regierungserklärung wiederaufgenommen und für eigene Bewertungen genutzt. Dabei wird nur noch zu einem geringen Teil auf das Original explizit Bezug genommen, und damit gehören diese Reformulie- <?page no="216"?> 216 Refonmilientngen rungen auch nicht mehr zum „Regierungserklärungs-Diskurs“. Sie sind vielmehr Elemente verschiedener Diskurse. Der erste Beleg in dieser Gruppe ist einem Text des „Rheinischen Merkur“ (RM) unter dem Titel „Eine Kultursteuer wäre gerecht" vom 11.5.1990 entnommen. (5/ 7) RS (RM, 11.5.90, 29) Vorspann: Die Übernahme des westdeutschen Modells der Kirchensteuer für die DDR forderte Hans-Martin Harder (Greifswald), während sich der Ost-Berliner Alt-Bischof Albrecht Schönherr dagegen aussprach (RM vom 4. Mai). Der Bonner Sozialethiker Lothar Roos zeigt heute einen dritten Weg auf. Text: Mehr Gerechtigkeit bedeutet: Der Stärkere muß bereit sein, dem Schwächeren zu helfen (...) Dabei stehen noch ganz andere Probleme und Größenordnungen im Raum: Unser Grundgesetz enthält das weitestgehende Asylrecht, das es weltweit gibt. Wir fühlen uns zu Recht immer mehr für eine Soziale Marktwirtschaft in die Pflicht genommen, zu deren ethischen Zielen die ökologische Verträglichkeit unseres Produzierens und Konsumierens und die moralische Akzeptanz unserer Wirtschaftsbeziehungen auch in den Ländern der Dritten Welt gehören. In der Regierungserklärung des DDR-Ministcrpräsidcntcn Lothar de Maizicre steht die ethisch prägnante und politisch brisante Formel von der „Teilung“, die nur durch „Teilen“ überwunden werden könne. Wer aber soll die ethische Substanz für all dies bereitstellen? Wenn es überhaupt jemand kann und tut, dann sind es in erster Linie die Kirchen - und die vom christlichen Ethos geprägte Erziehung in christlichen Familien und Bildungseinrichtungen. Besonders interessant ist an diesem Beispiel, daß sich der Sprecher noch einmal so explizit auf den Originalkontext bezieht. Dabei gibt der Sprecher obwohl er den Reformulierungsausdruck als Stützargument für eine These zur ethischen Verantwortung der Kirche nutzt, die mit dem Originalkontext in keiner Weise zusammenhängt die ideelle Dimension der Bezugssequenz sogar angemessener wieder als viele der unmittelbaren Reformulierungen. Dies kommt explizit zum Ausdruck, indem Sp2 den Kernsatz de Maizieres als „ethisch prägnante undpolitisch brisante Formel" bewertet. Teilung - Teilen —» Materielle Ausstattung Ein weiteres Beispiel, das dagegen wieder die rein materielle Seite betont, findet sich in einem Artikel der „Zeit“ über die Situation der DDR-Bibliotheken unter der Überschrift „Bücher im Regen". <?page no="217"?> Globale Refoninilierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 217 (5/ 8) RS (DZ, 29.6.90, 52) Die Sperren wurden aufgehoben, aber das schließt die gewaltigen Bestandslücken nicht und erst recht nicht die anerzogene Neugierlücke. An vielen Orten und auf allen Ebenen wurden Partnerschaften mit vergleichbaren Bibliotheken im Westen geschlossen, welche begonnen haben, die Devise „von der Teilung zum Teilen“ rasch und unbürokratisch in die Tat umzusetzen. Der Ausdruck wird zwar explizit markiert, aber durch die Umschreibung als Devise bleibt offen, ob diese Äußerung tatsächlich einmal produziert wurde (also eine Reformulierung ist) oder ob es sich quasi um ein mehr oder weniger fiktives Bild handelt. Die folgenden zwei Belege stammen aus der 1. Lesung der Volkskammer am 21.5.1990 zum Gesetz über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaffs- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Gesetzesentwurf wird unterschiedlich aufgenommen, von der absoluten Zustimmung, z.B. durch die CDU, über eine partielle Zustimmung mit Änderungswünschen durch die SPD bis hin zur Ablehnung des Gesetzes durch die PDS. Teilung - Teilen -» eigene Verantwortung des Ostens Der Abgeordnete der Fraktion der Deutschen Sozialen Union Nowack bezieht sich bei seiner Zustimmung zum Entwurf des Gesetzes über die Währungs-, Wirtschaffs- und Sozialunion auf den Satz de Maizieres. (5/ 9) a) RS (VK, 21.5.90, 222) Dieses müssen wir erkennen, unser Handeln danach bestimmen, um so unserer großen Verantwortung gerecht zu werden. Die Teilung des Vaterlandes durch Teilen zu überwinden muß einschließen das Teilen der Verantwortung, das Teilen der Arbeit und das Einbringen all unserer Kraft. Dieses ist ein Weg, der in keinem Lehrbuch für Volkswirtschaft geschrieben ist, aber mit Sicherheit in Zukunft dort nachzulesen sein wird. Dieser Vorgang kann sehr wohl als Experiment bezeichnet werden, ein gut fundiertes und abgesichertes. Was mich und uns aber so zuversichtlich macht und unseren Menschen Mut gibt, ist, daß dieses Experiment kein sozialistisches Experiment ist. Die nicht markierte Reformulierung ist hier in ein zustimmendes Statement des Politikers eingebettet, indem er u.a. den eigenen Anteil der DDR am Weg zur deutschen Einheit einfordert. Die Adressierung der Bezugsäußerung wird erweitert auf die DDR-Bevölkerung und als Mahnung nach innen reformuliert. Da es sich um eine Art ‘Insider-Diskussion’ (Volkskammerabgeordnete als unmittelbare Adressaten auch der Regierungserklärung) handelt, ist davon <?page no="218"?> 218 Reformulierungen auszugehen, daß Sp2 ein Wissen über die Herkunft seines nicht gekennzeichneten Zitats bei seinen Adressaten (Volkskammer) voraussetzt. b) Teilung - Teilen —» Doppelfokussierung: Umtauschkurs von 1: 1 und Außenperspektive RS (VK, 21.5.90, 233) NA1 Die Fraktion der Liberalen kann in der vorliegenden Fassung des Staatsvertrages keinen Untenverfungsakt erkennen. [...] NA2 Ich möchte betonen, daß für uns der Umtausch unserer Lebensumstände 1: 1 das Wichtigste ist. NA3 Jede kleinliche Diskussion um Kosten erscheint unter diesem Aspekt fehl am Platze, da es hier um historische Dimensionen geht. RA Es sei an die Regierungserklärung erinnert, die Teilung kann wahrhaftig nur durch Teilen überwunden werden. NA5 Ich denke, dies ist nicht nur eine Botschaft an die Deutschen in der Bundesrepublik, vielmehr ergibt sich für uns alle die Möglichkeit, gegenüber den Völkern Europas und der ganzen Welt Zeichen zu setzen, daß wir aus der Geschichte gelernt haben. - In NA1 vollzieht Sp2 den Sprechakt der Zustimmung, indem er die Ablehnung eines anderen, der diesen Staatsvertrag negativ bewertet {Unterwerfungsakt), zurückweist. -NA2 ist ein Stützargument für NA1 und gleichzeitig eine sehr ausdrücklich formulierte Feststellung, die auch als Mahnung interpretierbar sein kann. - NA3 weist eine typische diskursive Referenz auf, indem unter Verzicht auf die Nennung eines konkreten Adressaten jene Äußerungen zurückgewiesen werden, die Kosten der Einheit in besonderem Maße in den Mittelpunkt rücken. Dafür wird der RA als Autoritätsargument eingesetzt, um dann in NA5 die Perspektive nach außen zu erweitern und die Mahnung zu formulieren, die Chance der friedlichen Einheit nicht durch solche Diskussionen zu vertun. Dies stellt ein Beispiel dafür dar, wie der Reformulierer einen Bezugsausdruck für seine eigene Argumentation nutzt und dazu auch den Bezugstext nennt, ohne die Originaleinbettung jedoch noch zu berücksichtigen. Teilung - Teilen —» Hilfe zur Selbsthilfe In einem Interview der „Wochenpost“ vom 22.6.1990 mit dem emeritierten Professor für Volkswirtschaftslehre Hans Willgerodt (Köln) unter dem Titel ,ßie D-Mark wird's schon richten? “ ist eine Kontextuierung zu konstatieren, die fast identisch mit jener im Interview mit Völker Rühe ist: Relativierung des Appells zum Teilen (vgl. 5/ 6). <?page no="219"?> Globale Reformuliennigsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 219 (5/ 10) RS (WP, 22.6.90, S.5-4) RA Wochenpost: Dann halten Sic die Worte Lothar de Maizieres, daß die Teilung Deutschlands nur durch Teilen aufzuheben ist, für abwegig? NA1 Hans Willgerodt: Für den Start in die Marktwirtschaft braucht die DDR eine Anschubfinanzierung aus Westdeutschland. NA2 Das bestreitet kein Vernünftiger. NA3 Aber das kann nur Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten. NA4 Geschenke vor allem als Dauerzustand sind für den Empfänger am teuersten: Sie lenken von der eigenen Leistung ab. NA5 Der Schenker mischt sich immer ein. NA6 Eigene Leistung dagegen macht frei und selbstbewußt. Der Interviewer setzt den Reformulierungsausdruck als eine Art unterstellter These in Frageform ein, wobei er den Originalsprecher genau kennzeichnet. Der Interviewte entwickelt im Anschluß an diese Frage eine argumentative Abfolge, in der zwar nicht explizit auf die Frage geantwortet wird, diese These jedoch implizit ein Bestätigung erfährt. NA3 stellt dabei die eigentliche Kernaussage dar, die von NA1 und NA2 stützend vorbereitet und durch NA4 -NA6 spezifiziert und begründet wird: NA1: <ZWAR> [ist Sachverhalt X (finanzielle Hilfe Anschubfinanzierung) notwendig] (—» Fokussierung des ‘Teilens’ auf‘Geldhilfe’) <UND> NA2: [Es gibt niemanden, der X nicht meint] (_> Absicherung von NA1 durch verallgemeinernde Negation) NA3: Aber [X kann nur Sachverhalt Y (Hilfe zur Selbsthilfe) heißen] (—> implizite Negation: kann also nicht Z heißen; Z z.B. ständige finanzielle Hilfe auf lange Sicht) <DENN> NA4: [Z ist Geschenk <UND> Geschenk ist negativ zu bewerten <WEIL> Keine eigene Leistung] (-» Negation: Eigene Leistung ist positiv zu bewerten) <UND> NA5: [Verhältnis zum Träger von Z ist negativ zu bewerten <DAGEGEN> Ohne Z wird positiv zu bewertender Zustand erreicht]. Hier erfolgt also eine Verneinung der Frage eines Sp2 in Form eines Reformulierungsausdrucks durch einen Sprecher Sp3, indem dieser dem BA eine ganz spezifische Fokussierung (ständige finanzielle Hilfe) unterstellt, um sie entsprechend zurückzuweisen. Teilung - Teilen -» Marktchancen In einer Kolumne ,ßrücken auf dem Weg zur Einheit / Jetzt erst gilt es, die Kriegswunden Deutschlands wirklich auszuheilen“ für die „Zeit schreibt Klaus von Dohnanyi am 5. April 1991: <?page no="220"?> 220 Refoniiulienmgeri (5/ 11) RS (DZ, 5.4.91, 3) So wichtig nümlich klare Eigentumsverhältnisse, bessere Verwaltungen und massive Investitionsanreize für die Region Ostdeutschland sind entscheidend bleibt, daß die bestehenden Betriebe so schnell wie möglich bessere Marktchancen auf bestehenden Märkten bekommen. Dann aber wird Teilen mehr bedeuten als die ärgerliche Leistung von ein paar zusätzlichen Steuergroschen oder als der zeitweilige Verzicht auf Umgehungsstraßen, Krankenhausneubauten und dergleichen. Bei einer gerechten Verteilung der deutschen Marktchancen auf östliche und westliche Unternehmen werden am Ende auch Arbeitsplätze aus dem Westen nach Osten abwandern müssen. Hier geht es dann eben oft nicht nur um Anteile an einem größeren Kuchen, sondern um eine Umverteilung des bestehenden Kuchens, von dem Westdeutschland gegenwärtig einen im Verhältnis zu hohen Anteil für sich in Anspruch nehmen kann. In ganz anderer Weise als im vorangegangen Beispiel wird hier eine weitere Dimension von Teilen thematisiert, ohne daß der Sprecher einen direkten Bezug zum Bezugsausdruck herstellt. Er bedient sich gewissermaßen der Metaphorik des Ausdrucks und erweitert seinen Sinn noch. Teilen bedeutet <NICHT NUR> (<ABER AUCH>: Das ist der Gegensatz zu 5/ 13) konkrete finanzielle und administrative Maßnahmen, sondern das Teilen des Marktes. Damit plädiert der Sprecher für ein wirkliches Umdenken in Westdeutschland. Interessant ist dabei, daß es sich bei beiden Sprechern in 5/ 10 und 5/ 11 um „Westsprecher“ handelt. Teilung — Teilen —» Spl-Bewertung In einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 17.04.1991 wird unter dem Titel ,J)e Maiziere blickt zurück“ ein Resümee wesentlicher historischer Ereignisse gezogen. (5/ 12) RS (BZ, 17.4.91, 5) Zu Beginn der 160 Tage seiner Amtszeit hatte de Maiziere noch zäh und uneinsichtig, wie Beobachter registrierten, eine schnelle staatliche Einheit abgelehnt. Er wollte länger und gleichberechtigt über die Bedingungen verhandeln. Die Teilung könne nur durch Teilen übenvunden werden, sagte er in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer. De Maiziere mußte bei den Verhandlungen bald feststellen, daß er als Konkursverwalter eines Staates, der abgeschafft werden sollte, nicht allzuviele Bedingungen stellen konnte. Der Reformulierungausdruck wird auch in diesem Beleg wieder als Stützargument für eine eigene Sp2-These genutzt. Die Besonderheit liegt darin, daß sich die These auf Intentionen und Haltungen des Originalsprechers bezieht und mit eigenen Aussagen des Originalsprechers belegt wird. Der Bezugsausdruck wird somit als Indiz für den Willen von Spl, einen gleichberechtigten <?page no="221"?> Globale Refonmilierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 221 Weg zur deutschen Einheit einzuschlagen, präsentiert, der jedoch nicht im erwünschten Maße umgesetzt werden konnte. Teilung - Teilen —» rationaler Umgang mit Einheit In einer „Betrachtung zum Wochenende“ der „Berliner Zeitung“ vom 157 16.06.1991 plädiert der Berliner Pfarrer Klaus Galley für eine Entemotionalisierung der Diskussion und eine illusionslose Sicht auf die Vorgänge der deutschen Vereinigung. (Überschrift: fassen wir die Illusionen“). (5/ 13) RS (BZ, 15716.6.91,3) Ich befürchte, es besteht oder entsteht ein Tabu, das schleunigst zu brechen ist: An Stammtischen in der so genannten alten Bundesrepublik mag es noch gehen, aber welcher Politiker traut sich, öffentlich zu sagen, daß für viele diese Einheit kein sehnlicher Wunsch war, daß Lasten, die auf sie zukommen, ungern übernommen werden, daß es höchst ungern gehört wird, wenn von Opfern oder vom Teilen die Rede ist. Zugleich: Mancher Ossi denkt, für die „Brüder und Schwestern“ oder „Landsleute“ im Osten des „einig Vaterland“ sollten die dicken Wessis einmal in ihre Brieftasche greifen und ihm den Übergang ins neue Leben erleichtern. Dies stellt eine doppelte Bezugnahme eines ostdeutschen Sprechers dar, der ähnlich wie der Redakteur der „Zeit“ im Beispiel 5/ 18 das Ziel der deutschen Einheit als Ziel aller Deutschen anzweifelt. Auch hier gibt es keinen direkten Bezug zum Original mehr. Es wird ganz allgemein auf das Teilen verwiesen. Zwei relevante lexikalische Schlüsseleinheiten, Teilen und Opfer, werden quasi als Metapher eingesetzt, um zu thematisieren, daß die Westdeutschen nicht gern teilen (Fokussierung: West-Ost-Transfer), daß die Ostdeutschen zu oft eine gewisse Erwartungshaltung haben (Fokussierung: passive Transferempfänger). Ähnlich wie in 5/ 18 werden also Elemente des Originals benutzt, um über die Situation im Lande generell zu sprechen. Dabei bezieht sich der Sprecher nicht auf die ursprüngliche Aussage zum Teilen, sondern auf die Reaktionen auf diesen Appell. Teilung - Teilen -» Hauptstadtfrage Ein Kommentar der „Berliner Zeitung“ (21.6.1991) zur Entscheidung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt {„Nach dem Erfolg muß Berlin jetzt zum Teilen bereit sein“) konstruiert wiederum einen anderen Zusammenhang: (5/ 14) RS (BZ, 21.6.91, 1) Vor Berlin steht jetzt nicht zuletzt die Aufgabe, nach überwundener Teilung zu beweisen, daß es im Sinne eines föderalen Staates teilen kann. Mit Bonn [...] Die Wiederaufnahme ist nicht explizit gekennzeichnet, allein das Paar Teilung und teilen wird eingesetzt, so daß man hier wohl nicht mehr von einer Refor- <?page no="222"?> 222 Refoninilieningen mulierung im eigentlichen Sinne sprechen kann. Darüber hinaus ist es das einzige Beispiel, das nicht direkt auf die Ost-West-Konstellation referiert. Es wird vielmehr der ‘Effekt’ des Wortpaares genutzt. Dies legt die Vermutung nahe, daß der Bezugsausdruck in kondensierter Form bereits zur kognitiven Basis der am Diskurs beteiligten Sprachteilnehmer gehört und als Standardformulierung abgerufen werden kann. Teilung - Teilen —» finanzielles Teilen Über ein Jahr nach dem unmittelbaren Diskurs zur Regierungserklärung findet sich ein Beispiel in der „Berliner Zeitung“, das den Satz auf die aktuelle Situation im Herbst 1991 bezieht. Der Reformulierer verarbeitet dabei Elemente der damaligen Diskurswelt, ohne jedoch auf die konkrete Kommunikationssituation (Originalsprecher, Ort und Zeit, Textsorte usw.) explizit einzugehen. Es handelt sich um einen Artikel vom damaligen Bundestagsabgeordneten der Ost-SPD Konrad Eimer vom 21/ 22.September 1991 „Wer Jas Grundstück erbt, muß für die Hypotheken einstehen / Die Ursachen für die deutsche Misere gehen weit zurück": (5/ 15) RS (BZ,21./ 22.9.91, 21) Insofern wird Helmut Kolli von der Geschichte immer angelastet bleiben, daß er am Tag, als die Mauer fiel, nicht die Gunst der Stunde nutzte, um zugleich zu erwähnen, daß die Teilung nur durch schmerzhaftes, finanzielles Teilen zu überwinden ist. Damals hätte man ihm zugestimmt. Heute ist das alles sehr viel schwieriger geworden. Der Nebensatz die Teilung [...] überwinden ist wird nicht als Reformulierung gekennzeichnet. Der Reformulierer Sp2 (Eimer) kritisiert einen Adressaten (Kohl), diesen Satz nicht gesagt zu haben. Er projiziert sozusagen eine Äußerung in die Vergangenheit und nimmt ihr damit die zeitliche Einordnungskomponente. Bei dieser Reformulierung ist nicht mehr relevant, wer, wann und mit welchem konkreten Sinn diese Äußerung ursprünglich produziert hat. Vielmehr zeigt das Beispiel erneut, daß sie sich zu einer Art ‘Satzmetapher’ entwickelt hat, die unabhängig vom Ursprung kontextvariabel einsetzbar ist (vgl. auch die Beispiele in 2.2). Teilung — Teilen —» Währungsunion In der „Berliner Zeitung“ vom 2.10.1991 äußert sich de Maiziere selbst rückblickend zum Jahr 1990. Dieses Interview wird mit einem Zitat de Maizieres betitelt: „1990 erlebten wir alle wie ein Naturereignis*/ <?page no="223"?> Globale Refornnilierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 223 (5/ 16) RS (BZ, 2.10.91, 3) Reporterfrage: Unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Währungsunion begannen die Verhandlungen zum Einigungsvertrag. In Ihrem Statement aus diesem Anlaß betonten Sie, die Teilung sei nur durch Teilen zu überwinden. Ein wesentlicher Eckpunkt des auszuhandelnden Vertrages war für Sie außerdem die Schaffung äußerer Bedingungen für die Einheit [...] In diesem Beispiel wird die Äußerung zwar dem Original Sprecher zugeordnet, aber zu einem anderen Zeitpunkt. Geht man davon aus, daß Spl sie tatsächlich auch aus diesem Anlaß wiederholt hat, ist sie nicht als Selbstreformulierung gekennzeichnet und wird unmittelbar in einen Zusammenhang mit dem konkreten politischen Schritt der Währungsunion gestellt. Teilung - Teilen —» Ministerdiäten Der folgende Beleg zeigt eine konkrete Möglichkeit, diesen Satz mit völlig neuen Referenzobjekten koppeln zu können, die in dieser Form nicht im Original angelegt waren. Er stammt ebenfalls aus der „Berliner Zeitung“, und zwar vom 3. April 1992: (5/ 17) RA (BZ, 3.4.92, 2) Ministerportemonnaies als Verschlußsache Im Bonner Kabinett herrscht wenig Neigung, die Teilung durch Teilen zu überwinden Teilung — Teilen —» Keine innere Einheit In der „Zeit“ vom 2. Oktober 1992 beschäftigt sich der Redakteur in einem Artikel („Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung zeigt es sich: Die innere Einheit ist in die Ferne gerückt / Mit der Spaltung leben lernen“) mit den inneren Problemen der deutschen Einheit. (5/ 18) RS (DZ, 2.10.92, 4) NA1 Darum scheint es notwendig, die Idee der inneren Einheit als Nahziel aufzugeben. Ul NA2 Die Einwände gegen diesen Zielverzicht (Aufgeben des Nahziels: innere Einheit, d.A.) liegen auf der Hand: Wenn die Idee der inneren Einheit aufgegeben wird, welche Legitimationen gibt es dann noch für die ostdeutschen Politiker, auf Dauer hohe Transferleistungen zu fordern? RA Wie kann der westdeutsche Steuerzahler weiterhin zum Teilen bewogen werden? Dieser Textbeleg ist ein aufschlußreiches Beispiel für die sogenannten diskursiven Wurzeln aktueller Themen und Argumentationen, z.B. für die öffentliche <?page no="224"?> 224 Refonnulierungen Diskussion über den Umgang mit westdeutschen Fördergeldern in den neuen Bundesländern im Jahr 1995. Das Bild vom Teilen wird als einseitige finanzielle Leistung der Westdeutschen spezifiziert. 29 - Sp2 behauptet in NA1 Notwendigkeit der Beseitigung von Sachverhalt X (Ziel: innere Einheit) <OBWOHL> -NA3: [Es gibt einen Jemand {ostdeutsche Politiker), der NA1 bestreitet] <WEIL> [Er hat Vorteile von X <DENN> X legitimiert ihn, Forderungen nach Sachverhalt Y aufzustellen {aufDauer hohe Transferleistungen)) <ABER> RA: [Es gibt einen Jemand, der Y erbringt {westdeutscher Steuerzahler)) <UND> [Dieser Jemand muß überzeugt werden] <WENN> [jedoch NA1 zutrifft, ist dies ein Problem] Teilung - Teilen -» Solidarpakt Das folgende Beispiel stammt aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 28. Oktober 1992 und ist unter dem Titel „Teilung mit Teilen überwinden eine Illusion“ - Führende Wirtschaftsforschungsinstitute fordern stattdessen Steuerreform aus einem Guß“ veröffentlicht. (5/ 19) RS (SDZ, 28.10.92, 4) Weitaus lesenswerter im diesjährigen Herbstgutachten sind vielmehr die wesentlichen Aussagen zur Wirtschaftspolitik, bei denen alle Beteiligten die Regierung ebenso wie die Tarifvertragsparteien ausgesprochen schlecht abschneiden. Kern der Kritik an die Adresse der Bundesregierung ist der nach Einschätzung der Institute „schwerwiegende Irrtum der Politik", daß die Teilung Deutschlands im wesentlichen nur durch Teilen überwunden werden könne. Mit dieser Formel sei in der Vergangenheit die Illusion genährt worden, daß es lediglich eine Frage des guten Willens von Politik, Unternehmern und westdeutscher Bevölkerung sei, ob die Bürger Ostdeutschlands schon bald über westliche Einkommen verfügen könnten. Jeder Versuch, auf diese Weise die Teilung zu überwinden, beschwöre aber nur neue kostspielige Verteilungskonflikte zwischen Staat, Bürgern und Unternehmen herauf. In diesem Textabschnitt wird der Satz de Maizieres nach über zwei Jahren von Wirtschaftsexperten wiederaufgenommen, um die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu kritisieren. Er wird dabei nicht als Mahnung eines ehemaligen DDR-Politikers, sondern gleichsam als wirtschaftspolitischer Leitsatz der Bundesregierung reformuliert. Das impliziert, daß die Regierenden eine praktische Politik unter diesem Motto betrieben hätten, und zwar ohne Erfolg. Inhaltlich ähnelt diese Argumentation der im Beispiel 5/ 6 analysierten Argumen- 29 Bereits in diesem Beleg findet sich die Metapher vom „westdeutschen Steuerzahler“, der persönlich für den Osten zahlen muß. <?page no="225"?> Globale Reforwulierungsrelationen im Wende- und Einheitsdiskurs 225 tation von CDU-Generalsekretär Volker Rühe zwei Jahre früher und stellt eine Art von ‘diskursiver Kontinuität’ dar. Resümiert man alle hier vorgestellten Beispiele, so kann man folgendes feststellen: Es gibt im Grunde zwei grundsätzliche Positionen, die bei Reformulierungen dieser Äußerung zum Ausdruck kommen: Entweder wird ‘Teilen’ als einseitiger Prozeß des materiellen Abgebens von West nach Ost dargestellt und in den meisten Fällen zurückgewiesen (wie in 5/ 4, 5/ 6, 5/ 10, 5/ 18 usw.). Oder es wird als Ausdruck eines gleichberechtigten Prozesses des Aufeinanderzugehens präsentiert, dessen praktische Umsetzung zumeist als Problem angesehen wird (wie in 5/ 2, 5/ 5, 5/ 9, 5/ 11 usw.). Bereits die ersten interpretativen Verarbeitungen dieses Bezugsausdrucks deuten an, welche Problematik im weiteren Verlauf des ost-westdeutschen Diskurses mit dieser Aussage verknüpft ist und wie er in bestimmtem Phasen des historischen Prozesses der Vereinigung zunehmend einen Konfliktfall abbildet. Der Satz de Maizieres, in seinem Ursprung ein Appell für ein gleichberechtigtes Aufeinanderzugehen der Deutschen, gerinnt über die Jahre quasi zur Metapher für die Schwierigkeiten der Deutschen im Umgang miteinander. <?page no="226"?> 6. Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee Die Analysen und die vorgestellten Ergebnisse belegen die zu Beginn formulierte Annahme, daß sich die wirklichen Vorgänge und Resultate öffentlichen Kommunizierens nicht allein durch die Betrachtung der sprachlichen Oberfläche (etwa anhand variierender Verwendung spezifischer - ‘politik- oder ideologierelevanter’ lexikalischer Einheiten) erschließen. Vielmehr ist es unabdingbar zu versuchen, argumentativ-diskursive Strukturen in ihrer Komplexität erfaß- und verstehbar zu machen. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn man zum einen eine linguistische Detailanalyse zur Grundlage der Untersuchungen macht (vgl. dazu vor allem 4.) und zum anderen darauf aufbauend den Versuch unternimmt, aus diesen Ergebnissen Trends und Verallgemeinerungswürdiges abzuleiten (vgl. 5. und 6.). 6.1 Reformulierungen als spezifische Sp2-Perspektivierungen Durch die Analyse ist deutlich geworden, daß die von Sp2-n präsentierte und vom Leser rezipierbare Wiedergabestruktur nicht in jedem Fall den wirklich abgelaufenen Wiederaufnahmeprozessen entsprechen, daß vielmehr zahlreiche Divergenzen zwischen vorgegebenen und wirklich vollzogenen sprachlichen Operationen entstehen. In den Texten finden sich dafür fast alle Möglichkeiten: Eine als direkte Zitierung präsentierte Wiedergabe erweist sich als unvollständiges Zitat, da von Sp2 am Zitat Veränderungen vorgenommen wurden (vgl. u.a. 4/ 14a). Eine indirekt wiedergegebene Äußerung ist dadurch, daß der Reformulierungsausdruck fast nur aus vom Sprecher 2 neu produzierten Einheiten besteht, eigentlich eine freie komprimierende Wiedergabe (vgl. u.a. 4/ 3). Es gibt aber auch Fälle, in denen Sp2 einen Ausdruck als von ihm neu produziert (als NA) präsentiert, der Ausdruck aber nur aus Reformulierungseinheiten besteht. Der Umgang mit Bezugsausdrücken in den Reformulierungsausdrücken bzw. die Flinzufugung neuer Ausdrücke müssen dann immer noch nichts über den Reformulierungseffekt aussagen: Ein Reformulierungsausdruck, der nur aus Reformulierungseinheiten besteht, kann in viel größerem Maße eine Uminterpretation eines Bezugsausdrucks sein als eine Reformulierungssequenz, die in sehr komprimierter Weise Teile des Bezugstextes auch mit eigenen Worten des Reformulierers resümiert. Im Lichte dieser Analyseergebnisse ist sowohl das Problem der Bewertung und Interpretation bzw. Uminterpretation als auch der Adäquatheit bzw. Nicht-Adäquatheit differenzierter zu betrachten als bisher, in bestimmter Hinsicht zu relativieren und in einen neuen Zusammenhang zu bringen. Es hat sich als äußerst schwierig erwiesen, wirklich zu entscheiden, wann die beschriebenen Verschiebungen ‘Uminterpretationen’ sind. Dieser Begriff hat sich letztlich als wenig praktikabel erwiesen, da viele Reformulierungsprozesse anders zu beschreiben sind. <?page no="227"?> Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee 227 Vielmehr kommt man dem Problem näher, wenn man sich vor Augen fuhrt, daß die Sprecher beim Reformulieren von Äußerungen immer eine Welt möglicher Lesarten bzw. möglicher Interpretationen vorfmden, aus der sie entweder auswählen oder die sie verlassen. In jedem Fall nehmen Sprecher immer eine eigene Perspektivierung vor, das heißt, sie geben eine Äußerung unter den für sie relevanten Aspekten wieder. 30 Bewegen sie sich innerhalb dieses Spielraums möglicher Lesarten bzw. Interpretationen, handelt es sich vor allem um Disambiguierungen und Vagheitsauflösungen (vgl. 6.1.2). Verlassen sie ihn dagegen vollends und etablieren sie eine völlig neue Lesart, kann man wohl auch von Neuinterpretation bzw. Neubewertung sprechen. 6.1.1 Neuinterpretation und Neubewertung Es gibt also Fälle, bei denen man schon durch den analytischen Vergleich eines Reformulierungsausdrucks mit einem Bezugsausdruck bzw. einer Reformulierungssequenz mit einer Bezugssequenz die Inadäquatheit einer Wiedergabe erkennt, nämlich genau dann, wenn Sp2, obwohl er eine Redewiedergabestruktur vorgibt, den Spielraum möglicher Interpretationen vollkommen verläßt und neue, andere Lesarten etabliert. Nicht-adäquat wäre eine Reformulierung also dann, wenn Sp2 eine Äußerung als Redewiedergabe präsentiert und damit signalisiert: [„Hiermit bewege ich mich in der Welt möglicher Lesarten / im zulässigen Spielraum möglicher Interpretationen“), diesen Spielraum jedoch für den Hörer nicht erkennbar (! ) überschreitet. Solche nicht-adäquaten Wiedergaben können entstehen, wenn z.B. die lexikalische und syntaktische Struktur eines Reformulierungsausdrucks / einer Reformulierungssequenz als Redewiedergabe präsentiert wird (Redekennzeichnung; Konjunktiv oder Anführungszeichen), aber eigentlich keine ist, da der Ausdruck ganz aus von Sp2 neu produzierten Einheiten besteht (vgl. 4/ 3); eine Lesart sowohl propositionaler als auch fünktionaler Art als einzige mögliche Lesart des Bezugsausdrucks erscheint, in Wahrheit aber nur eine von vielen ist (vgl. 4/ 9); der propositionale Gehalt als p von BA präsentiert wird, die vermeintliche Wiedergabe aber eigentlich einen völlig neuen, vom Original unabhängigen Sinn darstellt (vgl. 4/ 3, 4/ 23); ein logischer Schluß des Reformulierungsausdrucks als Wiedergabe eines logischen Schlusses im Bezugsausdrucks präsentiert wird, in Wahrheit aber ein von Sp2 selbst gezogener Schluß ist (vgl. u.a. 4/ 20); 30 Den Hinweis darauf, daß es sich bei diesen Prozessen um ‘Perspektivierungen’ handelt, gab Beate Henn-Memmesheimer. <?page no="228"?> 228 Refonnulierungen eine Wiedergabe als Sp2-Bericht über eine Spl-Evaluation erscheint, in Wahrheit aber eine Sp2-Evaluation ist (verdeckte Evaluierung: Sp2 sagt, Spl bewertet p, aber eigentlich bewertet Sp2 p) (vgl. u.a. 4/ 2); eine Argumentationsabfolge in der Reformulierungssequenz als Wiedergabe der Argumentationsabfolge des Bezugstextes erscheint, aber eigentlich eine von Sp2 neu produzierte ist, indem z.B. Reformulierungsausdrücke aus verschiedenen Abschnitten des Bezugstextes innerhalb einer Sequenz miteinander verknüpft wiedergegeben werden (vgl. u.a. 4/ 5, 4/ 9, 4/ 14c). Wie schon erwähnt, kommen diese Fälle zwar vor, jedoch nicht in der Häufigkeit wie jene Verschiebungen, die als Mehrdeutigkeitsbzw. Vagheitsauflösungen zu verstehen sind, bei denen sich die Sprecher innerhalb der Welt zulässiger Lesarten bewegen. 6.1.2 Disambiguierung und Vagheitsauflösung Es ist in der Analyse in der Tat deutlich geworden, daß die meisten Veränderungen und Umwandlungen von Bezugsausdrücken Fokussierungen oder bestimmte Aspektualisierungen und keine wirklichen Neuinterpretationen und -bewertungen darstellen. Das bedeutet, ein Aspekt der Originaläußerung wird besonders hervorgehoben und behandelt, ggf. auch interpretiert und bewertet. Damit werden formale, strukturell-semantische und funktionale Mehrdeutigkeiten bzw. Vagheiten aufgelöst. Pinkal bezeichnet Vagheit und Ambiguität als konstitutive Eigenschaften natürlicher Sprachen, die sie maßgeblich zu einem effizienten und universellen Kommunikationsmittel machen. „Ein Ausdruck ist in verschiedenen Situationen in einer Vielzahl unterschiedlicher Lesarten bzw. Präzisierungen verwendbar [...]“. (Pinkal 1991, S. 250). Dabei versteht er unter ‘Ambiguität’ Mehrdeutigkeit in verschiedenen Formen und Sprachbereichen. ‘Vagheit’ versteht er dagegen als Unbestimmtheit. Ambige Ausdrücke hätten mehrere alternative Denonate; vage Ausdrücke dagegen ein unbestimmtes Denotat (ebd., S. 264). Äußerungsakte in der öffentlichen Kommunikation sind in besonderem Maße vage und mehrdeutig, sie müssen dies in ihrer sprachlichen Ausdrucksform auch sein, um z.B. der Mehrfachadressierung in diesem Kommunikationsbereich gerecht werden zu können. Vagheit und Mehrdeutigkeit lassen sich dabei auf allen Ebenen nachweisen, auf der Ebene der sprachlichen Ausdrucksform, auf der propositionalen und auf der kommunikativ-diskursiven Ebene. Für den Prozeß der reproduktiven Sprachhandlung ‘Reformulierung’ bedeutet dies, daß sich der Reformulierer für eine oder mehrere von diesen im Original angelegten lexikalisch-semantischen und pragmatischen Lesarten entscheidet und diese dann im Reformulierungsausdruck explizit macht. <?page no="229"?> Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee 229 Hinsichtlich der lexikalisch-semantischen Lesart könnte dies z.B. bedeuten, daß der Sprecher eine lexikalische Einheit durch eines von mehreren möglichen Synonymen bzw. Hyperonymen ersetzt. Ein anderer Sprecher könnte sich jedoch auch für ein anderes entscheiden. Pragmatisch bedeutet dies u.a., daß Sp2 Implizites expliziert, indem er beispielsweise einen Spl-Sprechakt als Forderung interpretiert. Ein anderer Sprecher könnte diese Äußerung dagegen als Mahnung verstehen. Oder: Sp2 könnte einen von mehreren möglichen Adressaten explizit nennen. Er entscheidet sich für eine von vielen möglichen kommunikativen Lesarten, wobei offenbleiben muß, ob z.B. eine Welt von Lesarten möglicher Sprechakte mehrdeutig oder vage ist. Sachverhalte und Funktionen, die im Bezugstext so ausgedrückt werden, daß sie einen gewissen Interpretations- und Bewertungsspielraum haben, werden im Reformulierungsausdruck in Abhängigkeit von der Sp2-spezifischen Verarbeitung des Bezugsausdrucks also stärker auf eine Interpretationsvariante hin festgelegt. Solange sich Sp2 im Paradigma möglicher Lesarten bewegt, kann er für sich eine adäquate Wiedergabe beanspruchen, auch wenn ein anderer Rezipient diese von Sp2 favorisierte Lesart nicht wählen würde. Erst wenn Sp2 diesen zulässigen Interpretationsraum verläßt, muß von einer inadäquaten Wiedergabe ausgegangen werden. Dazwischen liegt eine nicht unbeträchtliche ‘Grauzone’ möglicher Auslegungen. Wenn also im Beispiel 4/ 9 der Journalist der „Frankfurter Rundschau“ den Satz de Maizieres Dort, M’o wir uns an Bevormundung gewöhnt hatten, müssen wir gesellschaftlich erwachsen werden als Kritik de Maizieres an seinen Landsleuten (A her er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert: daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien [...]) reformuliert, ist dies eine Interpretation, die sicher innerhalb des Spektrums möglicher Auslegungen liegt, also von einigen Rezipienten als durchaus zutreffend empfünden wird; andere hingegen werden sie als inadäquat interpretieren, da sie den Satz von de Maiziere als Aufforderung zu gemeinsamem Handeln verstehen. Im einzelnen Fall läßt sich oftmals nicht eindeutig bestimmen, ob die eine oder die andere Wiedergabe die adäquatere ist. Deshalb sollen noch einmal besonders prägnante satzinteme Verschiebungen dargestellt werden, die zu solchen Bevorzugungen einer bestimmten Lesart führen. Auf der propositionalen Ebene gibt es folgende Möglichkeiten des Verhältnisses von p (BA) und p (RA): a) Sinngleichheit (Übereinstimmung des propositionalen Gehalts von BA und RA) <?page no="230"?> 230 ReformuHerungen - Sprachliche Ausdrucksformen und Sinn von Bezugs- und Reformulierungsausdruck sind gleich. Als Beispiel seien wirkliche wörtliche Zitate genannt (vgl. u.a. 4/ 10). - Die sprachliche Ausdrucksform verändert sich, aber der Sinn bleibt gleich, z.B.: In RA2 wird eine Explikation der Abkürzung FDGB eingefugt (Gewerkschaßsbunä) und die Verbform muß herausgelöst werden in den Konjunktiv werde herausgelöst transformiert. Der Sinn bleibt erhalten (vgl 4/ 4). b) Sinnveränderung - Ein Teil des propositionalen Gehalts des Bezugsausdrucks wird im Reformulierungsausdruck aspektualisiert/ fokussiert, z.B. bei der Ersetzung der Bezugseinheit in Übergangszeiten durch die Reformulierungseinheit für eine Übergangszeit (eine mit einem allgemeinen Geltungsanspruch formulierte Aussage wird auf einen konkreten Zeitpunkt bezogen wiedergegeben; vgl. 4/ 2). - Es erfolgt eine Explikation des propositionalen Gehalts oder eines Teils von p, z.B. bei der Explikation der lexikalischen Einheit Saarland-Modell durch Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren (vgl 4/ 2). - Es erfolgt eine Kondensation des propositionalen Gehalts oder eines Teils des propositionalen Gehalts, z.B. wird der Bezugsausdruck Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit! Und wir antworten: Doch, wir haben! in folgenden Reformulierungsausdruck transformiert: Man habe aber „etwas einzubringen“ in die Deutsche Einheit (vgl. 4/ 20). Auf der kommunikativen Ebene sind es vor allem folgende Phänomene: a) Thematisierung von Sprechakten - Sprechaktparaphrasierung: Ein bereits verbalisierter Sprechakt des Bezugsredners wird paraphrasiert. Spl formuliert z.B. Forderungen wie: ist abzuschließen, scheint es geboten, zu erlassen, dringend ist. Sp2 gibt die Forderung als Mitteilung wieder und nimmt damit eine eigene Interpretation vor: Spl stellte in Aussicht (vgl. 4/ 1). - Sprechaktexplizierung: Ein durch den Bezugsausdruck zwar vollzogener, vom Bezugsredner aber nicht benannter Sprechakt wird im Reformulierungsausdruck explizit gemacht. Spl formuliert z.B. <eine Ankündigung> Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Liber den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Sp2 expliziert dies als Versprechen und nimmt damit gleichzeitig eine eigene Interpretation vor: „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben versprach de Maiziere (vgl. 4/ 11). <?page no="231"?> Reforniulierungen im öffentlichen Diskurs — ein Resümee 231 - Sprechaktbewertung: Ein vom Bezugsredner vollzogener Sprechakt wird vom Reformulierer bewertet, z.B.: In diesem Zusammenhang klingt es dann auch keineswegsfloskelhaft, wenn er sagt [...] (vgl. 4/ 17). b) Thematisierung der möglichen Sprecher-Hörerkonstellation - Die im Bezugsausdruck angelegte Mehrfachadressierung wird aufgehoben, z.B.: Der passivisch formulierte und die Adressaten nicht explizierende Bezugsausdruck Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind wird in einen aktivischen Ausdruck umgewandelt: Sie sollten keine Angst vor den Maßnahmen haben, die notwendig sein werden, um die großen Schäden im Lande zu beheben (vgl. 4/ 9). - Es erfolgt ein Perspektivenwechsel, z.B. durch die Umwandlung des integrierenden ‘Wir’ in folgendem Beispiel: Dort, wo wir uns an Bevormundung gewöhnt haben ... wird transformiert in Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert, daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien [...] (vgl. 4/ 9). 6.2 Maximen für faires Reformulieren - Plädoyer für eine Kultur der Redewiedergabe Die in der Analyse herausgearbeiteten Reformulierungsverfahren und -resultate sind nicht nur für die untersuchten Beispiele zutreffend, sondern können als typisch für Wiederauf- und Bezugnahmen in öffentlicher Kommunikation überhaupt gelten. Es wäre nun darüber hinaus zu prüfen, ob sich solche Reformulierungseffekte nicht auch in anderen Kommunikationsbereichen nachweisen lassen. Ohne Zweifel stellen Reformulierungen ein wenn nicht sogar das - Hauptmittel des Informationstransfers und des Bewertens in der öffentlichen Kommunikation dar. Mit ihnen können Interpretationen und Bewertungen von Gesagtem quasi noch unter der Verantwortung des Erstredners mitgeliefert werden. Wenn sich also ein Sprecher bei seiner Wiedergabe im großen und ganzen an die Bezugsäußerungen hält, kann er das Kriterium der Objektivität und Authentizität erfüllen, kann er also wirklich darüber informieren, was ein anderer gesagt hat, und zugleich das Wiedergegebene in seine Interpretationen einbetten. Da in 6.1 festgestellt wurde, daß die meisten der konstatierten Abweichungen Disambiguierungen bzw. Vagheitsauflösungen sind, müßte das eigentlich bedeuten, daß die Reformulierungen der T2-n alles in allem tatsächlich die Textwelt des Originals reflektieren. Im einzelnen trifft dies sicher zu. Und doch haben die oft minimalen Veränderungen an der sprachlichen Oberfläche einer Äußerung zum Teil erhebliche Konsequenzen derart, wie sie hier beschrieben wurden. Von ganz entscheidendem Einfluß sind aber die argu- <?page no="232"?> 232 Refonnulierungen mentativen Veränderungen. Diese ‘Eingriffe’ in die argumentative Struktur sind die eigentlich erheblichen sprachlichen Operationen, die zu abweichenden Bildern vom Original fuhren können, so wie es beim Diskurs zur Regierungserklärung der Fall ist. Die Summe aller konstatierten Abweichungen und Umwandlungen in den untersuchten Texten hat gezeigt, daß die Entscheidungen für eine bestimmte Lesart nicht immer nur zufällig sind bzw. von subjektiven Intentionen des einzelnen Reformulierers beeinflußt werden, sondern oft auch von bestimmten ‘Diskurs-trends’. Journalisten sind als Hauptträger der öffentlichen Kommunikation auch um es mit einem Bild zu sagen - ‘Gefangene der eigenen Diskurswelt’; sie rezipieren die wiederzugebenden Äußerungen selbst schon selektiv gemäß den gerade aktuellen diskursiven Themen und Argumentationen. 31 Das kann dann zu dem erwähnten Resultat fuhren, daß bestimmte ‘gängige’ Themen immer wieder, andere, nicht erwartbare Formulierungen entweder gar nicht oder auf den Kern reduziert wahrgenommen und weiterverarbeitet werden. Darüber hinaus scheinen gerade diese Reduktionen und die ständig wiederkehrenden Wiederholungen der reduzierten Aussagen eine Ursache für die Entstehung von Stereotypen, Vorurteilen und Mißverständnissen im öffentlichen Diskurs zu sein. Auch ohne linguistische Analyse läßt sich feststellen, daß sich Politik, daß sich öffentliche Meinungsbildung und Problemaushandlung heute zum größten Teil auf dieser Metaebene des Redens über Reden konstituieren und vermitteln. Dem Hörer präsentiert sich nicht die reale öffentliche Welt, sondern nur ein durch Kommunikation vermitteltes Bild dieser realen Welt. Das führt dazu, das solche Metaebenen eine besondere Relevanz für die Konstitution von Vorstellungen und Meinungen über die Welt überhaupt besitzen. 32 Diese Verselbständigung kann zur Folge haben, daß Reformulierungen in der öffentli- 31 Es gibt im Korpus zahlreiche Belege dafür, daß Sp2 schon bei der Rezeption des Bezugstextes diskursabhängig rezipiert, z.B., indem er diskursive Schlüsseleinheiten aktualisiert und wiedergibt. Vor allem in den Kommentaren vereinzelt aber auch in den Reformulierungstexten kommen immer wieder Schlüsselwörter, dominante lexikalische Einheiten, vor, die als von Spl so gesagt wiedergegeben werden, obwohl Spl sie gar nicht verwendet hat. Das heißt konkret, einzelne Einheiten werden von de Maiziere entweder gar nicht oder in einem anderen Kontext verwendet, aber in großer Übereinstimmung von den Kommentatoren reformuliert. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung der Fügung Kurs aufdie deutsche Einheit. Diese wird in vielen Wiedergabetexten (Reformulierungstexte und Kommentare) als Bezugseinheit von de Maiziere präsentiert. De Maiziere spricht jedoch nur von Kurs in dem konkreten finanziellen Zusammenhang mit der Währungsunion (Umtauschkurs 1: 1, der grundlegende Kurs ist 1: 1 usw.) Mit der veränderten Fokussierung von Kurs als Währungskurs zu Kurs als Metapher für eine politische Strategie vollzieht sich eine Bedeutungsenveiterang der Einheit Kurs (vgl. auch Beispiele der Verwendung von Beitritt). Welche dominante Rolle Medien heute im Leben eines jeden Individuums spielen, haben Medientheoretiker inzwischen eindrucksvoll beschrieben. An dieser Stelle sei nur auf McLuhan 1968 und vor allem Meyrowitz 1990 verwiesen. <?page no="233"?> Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee 233 chen Kommunikation nicht mehr als das wahrgenommen werden, was sie sind, nämlich als eine zumeist verkürzte, durch den wiedergebenden Sprecher subjektiv wahrgenommene und reformulierte Wiedergabe eines Originals, als ein ‘Sekundärakt’ also, der nicht den ganzen Kommunikationsakt der Bezugsäußerungen wiedergeben kann. Diese Wiedergaben werden dann praktisch als Original behandelt und können Auslöser für Statements, Dementi und politische Debatten sein. Diesen Zustand zu beklagen erscheint wenig sinnvoll, ist es doch angesichts der Informationsflut der heutigen Mediengesellschaft unabdingbar, daß legitimierte öffentliche Sprecher eine Auswahl treffen und Informationen bzw. Äußerungen für andere aufbereiten. Kein Rezipient kann in jedem Fall durch die Originalquelle Informationen aus erster Hand erhalten. Daraus resultiert aber auch eine ungleich größere Verantwortung für jene Sprecher, die professionell mit Reformulierungen umgehen. Soll nicht wirklich ein Verlust an Rede(wiedergabe)kultur eintreten, müssen sie sich wieder darauf besinnen (oder es lernen? ), trotz Zeitdruck und oftmals nicht zu vermeidender Kürze, auch in ihren Wiedergaben die Differenziertheit der inhaltlich-argumentativen Aspekte von Äußerungen und der kommunikativen Ausdrucksformen zu erfassen und angemessen zu präsentieren. Es ist auch nach dieser Untersuchung klar zu betonen, daß jede Reformulierung wie gesagt naturgemäß eine eigene Perspektivierung mit sich bringt und Originalsinn und -intention durch vom Reformulierer neu produzierte Ausdrücke und damit verbundene Bewertungen überlagert werden. Und doch muß man fragen, ob es nicht gewisse Fairneß-Bedingungen gibt, die einzuhalten ganz im Sinne des von Grice als oberstes Prinzip für Kommunikation angesetzten Kooperationsprinzips wären (vgl. dazu u.a. Wimmer 1990, Rolf 1994). 33 Auch hinsichtlich der komplexen sprachlichen Handlung ‘Reformulieren’ lassen sich zwei übergeordnete Maximen formulieren: I. Formuliere Deinen Beitrag so, daß Du dem wiedergegebenen Original in höchstmöglichem Maße gerecht wirst. II. Sage Deinem Adressaten genau, welche Elemente Deines Beitrages wiedergegebene und welche Deine eigenen, hinzugefügten Elemente sind. Diese sehr allgemein formulierten Maximen lassen sich unter mehreren Aspekten in Form konkreter Fairneß-Bedingungen spezifizieren. Diese bezie- 33 An dieser Stelle sei noch einmal auf Lang verwiesen, der in einem ganz ähnlichen Sinne Fairneß- und Transparenzbedingungen für Redewiedergabe nennt (vgl. Lang 1983, S. 318). <?page no="234"?> 234 Reforniulierungen hen sich sowohl auf das Rezipieren des wiederzugebenden Originals als auch auf das Formulieren der Wiedergabeäußerung. Bei der Rezeption: Versuche schon bei der Interpretation einer Äußerung, die Du reformulieren willst, die Komplexität der kommunikativen Bedingungen, unter denen diese Äußerung produziert wurde, zu erfassen. Bedenke bei der Interpretation einer Äußerung, die Du reformulieren willst, daß der Sprecher sich möglicherweise in einem anderen Denk- und Bewertungsparadigma bewegt, als Du es tust. - Versuche also, diese Äußerung als Äußerung eines anderen Sprechers in ihrer Ganzheit zu erfassen und sie nicht schon nach Deinen eigenen Mustern zu verstehen. - Versuche auch Aussagen zu erfassen, die nicht in das erwartbare Schema gerade gängiger Aussagen und Argumente passen. Bei der Produktion: Formuliere Deinen Beitrag so, daß aus Deiner Wiedergabe der propositionale Gehalt der Originaläußerung noch abzuleiten ist. - Bedenke, ob Du Dich bei Veränderungen des propositionalen Gehalts noch im Spielraum möglicher Lesarten befindest. - Signalisiere es dem Hörer, wenn Du diesen Spielraum verläßt und einen neuen, nicht im Original angelegten Sinn etablierst. Formuliere Deinen Beitrag so, daß aus Deiner Wiedergabe die argumentative Einbettung der Originaläußerung noch abzuleiten ist. - Bedenke, ob der von Dir präsentierte logische Schluß einer Argumentation wirklich im Original angelegt ist. Handelt es sich um eine von Dir gezogene Schlußfolgerung, so kennzeichne dies. - Bedenke, ob die von Dir präsentierten interpropositionalen Relationen zwischen wiedergegebenen Äußerungen im Original angelegt sind. Handelt es sich um von Dir konstruierte Relationen zwischen zwei Wiedergabeäußerungen, so kennzeichne dies. Formuliere Deinen Beitrag so, daß aus Deiner Wiedergabe der kommunikative Sinn der Originaläußerung noch abzuleiten ist. - Bedenke, ob die Explizierung eines im Original nicht verbaliserten Sprechaktes noch im Spielraum möglicher Lesarten liegt. <?page no="235"?> Reformulierungen im öffentlichen Diskurs ein Resümee 235 - Bedenke, ob Du bei Deiner Wiedergabe der im Original angelegten Mehrfachadressierung gerecht wirst. Entscheidest Du Dich für die Wiedergabe nur eines Teils möglicher Adressaten der Originaläußerung, so kennzeichne dies. - Bedenke, ob eine von Dir formulierte Bewertung so im Original angelegt ist. Handelt es sich um Deine eigene Bewertung, so kennzeichne dies. Formuliere Deinen Beitrag so, daß nicht jegliche rhetorisch-stilistischen Elemente des Originals getilgt sind. - Bedenke bei der Tilgung rhetorischer Mittel eines Originals in Deiner Wiedergabe, ob dann der kommunikative Sinn des Originals noch transportiert wird. - Bedenke z.B., ob beim Weglassen ganz spezieller stützender Ausdrücke der kooperative Charakter einer Äußerung erhalten bleibt. - Bedenke z.B., ob Du eine explizit performative Formel einfach durch andere Sprechaktkennzeichnungen ersetzen kannst, ohne daß der Charakter des vollzogenen Sprechaktes dabei inadäquat wiedergegeben wird. - Bedenke, ob Äußerungen mit hohem emotionalem Gehalt einfach als entemotionalisierte Äußerungen wiedergegeben werden können und ob dann der kommunikative Sinn des Originals rekonstruierbar bleibt usw. Mit der Formulierung solcher Fairneß-Bedingungen oder Maximen soll abweichendes Sprachverhalten nicht prinzipiell bewertet oder gar verurteilt werden. Vielmehr können so sprachliche Vorgänge aus Expertensicht ins Bewußtsein gerückt werden, die nicht immer in dem expliziten Maße präsent sind, um dadurch Sprachbenutzer für einen aktiven und bewußten Umgang mit sprachlichen Mitteln zu sensibilisieren. 6.3 Fazit und Ausblick Schlußfolgerungen ergeben sich aus der Analyse jedoch nicht nur hinsichtlich praktischen Kommunikationsverhaltens. Auch für zukünftige wissenschaftliche Analysen lassen sich Konsequenzen ableiten. Auf eine von ihnen sei abschließend verwiesen: Betrachtet man die öffentliche, also weitgehend massenmedial organisierte und transportierte Kommunikation aus einer intertextuellen Sichtweise, also als ein kompliziertes Netz von Äußerungen in einer vernetzten Welt, so erscheinen auch einige der tradierten Kategorien der Beschreibung von sprachlichen und kommunikativen Prozessen in einem neuen Licht: Angesichts der mediendominierten Kommunikation in fast allen Lebensbereichen wird es wohl immer schwieriger, gesichert zu erkennen, welche kommunikativen Akte wann von wem unter welchen Bedingungen produziert und rezipiert wurden. <?page no="236"?> 236 Reformulierungen Wie sind mündliche und schriftliche Kommunikation dann noch klar voneinander zu trennen, wenn Gesagtes in Geschriebenes transformiert wird und sich Wohlgeformt-Schriftliches in spontaner mündlicher (monologischer) Rede wiederfmdet (z.B. in Statements), die ihrerseits wiederum in Interviews und Talk-Shows zum Gegenstand unmittelbarer Face-to-face-Dialoge wird? Sind solche Charakteristika wie ein höherer Emotionsgrad in spontan mündlicher Rede aufrechtzuerhalten, wenn man so etwas heute auch in schriftlichen Texten und Statements findet, wie die Analyse gezeigt hat? Wie soll man Äußerungen von Politikern vor der Kamera einordnen, die zwar mündlich vorgetragen werden, aber eigentlich durch ihre Wohlgeformtheit den Eindruck eines ‘Wie-Gedruckt-Redens’ erwecken? Kann man in massenmedialer Kommunikation monologische von dialogischer Rede, Geschriebenes und Gesprochenes wirklich so klar trennen? Mit diesen Fragen sollen nicht alle jene unbestritten wichtigen Beschreibungsversuche hinsichtlich spezifischer Eigenschaften mündlicher vs. schriftlicher bzw. monologischer vs. dialogischer Kommunikation pauschal verworfen werden. Es gibt spezifische Ausprägungen der jeweiligen Kommunikationsweisen, und es ist sinnvoll, diese zu erfassen. Die Untersuchung hat andererseits aber auch ganz deutlich gemacht, daß es so etwas wie universale Diskursstrukturen geben muß, die vor allem aber nicht nur die argumentativen Strukturen und Topoi betreffen und sich unabhängig vom Charakter der Kommunikationssituation konstituieren; sie werden zwar in mündlicher Kommunikation zuweilen anders realisiert, lassen sich aber in der Regel auf einen argumentativen Kern kondensieren, der auch in schriftlichen Texten auffindbar ist. Es sei deshalb abschließend ein Desiderat formuliert: Die konkrete sprachliche Analyse massenmedialer Texte sollte stärker als bisher mit der Suche nach solchen universalen argumentativ-diskursiven Strukturen verbunden werden. Hier eröffnet sich dem an empirisch fundierter Argumentationsanalyse interessierten Linguisten ein nur in Ansätzen erforschtes Feld. <?page no="237"?> 7. Verzeichnis der Abkürzungen a) Kategorien TI T2 T3-n BS RS BA RA KA NA BEI REI KEI NEI Spl Sp2 Sp3-n P PRO+ ... +PRO ILL+ ... +ILL SP+ ... +SP HR+ ... +HR L+ ... +L T+ ... +T TEXT+ ... +TEXT INT+ ... +INT META+ ... +META Bezugstext Reformulierungstext Wiedergabetexte Bezugssequenz Reformulierungssequenz Bezugsausdruck Reformulierungsausdruck Kontextausdruck Neu produzierter Ausdruck Bezugseinheit Reformulierungseinheit Kontexteinheit Neu produzierte Einheit Sprecher 1 Sprecher 2 Sprecher 3 und weitere Sprecher Proposition propositionale Referenz illokutive Referenz sprecherbezogene Referenz adressatenbezogene Referenz lokale Referenz temporale Referenz textsortenbezogene Referenz intertextuelle Referenz metakommunikative Referenz <?page no="238"?> 238 ReformuUerungen b) andere Abkürzungen REG FR SDZ BER DW DM TAZ FAZ ND BM TS BZ TRI DZ RM SP VK Regierungserklärung Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Berliner Allgemeine Die Welt Der Morgen Die Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Neues Deutschland Berliner Morgenpost Tagesspiegel Berliner Zeitung Tribüne Die Zeit Rheinischer Merkur Spiegel Volkskammerdebatte c) Quellenkennzeichnung FR,20,1 Frankfurter Rundschau, 20. April 1990, S.l DW/ K,20,2 Die Welt (Kommentar), 20. April 1990, S.2 d) Beispielnumerierung (3/ 4) Viertes Beispiel im dritten Kapitel (4/ 1) Erstes Beispiel im vierten Kapitel <?page no="239"?> 8. Literatur Agricola, Erhard (1979): Textstruktur - Textanalyse - Informationskern. Leipzig. Agricola, Erhard (1983): Textelemente und Textstrukturen. In: Fleischer, Wolfgang/ Hartung, Wolfdietrich/ Schildt, Joachim/ Suchsland, Peter (Hg.): Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Leipzig. S. 220-226. Antos, Gerd (1982): Grundlagen einer Theorie des Formulierens. Textherstellung in geschriebener und gesprochener Sprache. (Reihe Germanistische Linguistik 39). Tübingen. Antos, Gerd/ Krings, Hans P. (Hg.) (1989): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 48). Tübingen. Aristoteles (1980): Rhetorik. Übers, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München. Austin, John L. (1989): Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with Words). Dt. Bearb. v. Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart. de Beaugrande, Robert Alain (1990): Neue Trends in der Textlinguistik. Vortrag, gehalten am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. Berlin. de Beaugrande, Robert Alain/ Dressler, Wolfgang Ulrich (1981): Einflihrung in die Textlinguistik. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28). Tübingen. Beckmann, Ulrich (1991): Text und Textwelten. Zur Problematik der Bedeutungskonstituierung zu Texten. (Papiere zur Textlinguistik 67). Hamburg. Besch, Elmar (1989): Wiederholung und Variation. Untersuchung ihrer stilistischen Funktionen in der deutschen Gegenwartssprache (Europäische Hochschulschriften/ I 1118). Frankfurt a. M./ Bem/ New York/ Paris. Biere, Bernd Ulrich (1993): Zur Konstitution von Pressetexten. In: Biere, Bernd Ulrich/ Henne, Helmut (Hg.): Sprache in den Medien nach 1945. (Reihe Germanistische Linguistik 135). Tübingen. S. 56-86. Bierwisch, Manfred (1979): Wörtliche Bedeutung eine pragmatische Gretchenfrage. In: Rosengren, Inger (Hg ): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1978. Malmö. S. 63-85. Brandt, Margareta/ Koch, Wolfgang/ Motsch, Wolfgang/ Rosengren, Inger/ Viehweger, Dieter (1983): Der Einfluß der kommunikativen Strategie auf die Textstruktur dargestellt am Beispiel des Geschäftsbriefes. In: Rosengren, Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1982. (Lunder germanistische Forschungen 52). Malmö. S. 105-135. Brinker, Klaus (1992): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. (Grundlagen der Germanistik 29). 3., durchges. u. erw. Aufl. Berlin. Brünner, Gisela (1991): Redewiedergabe in Gesprächen. In: Deutsche Sprache 19, S. 1-15. <?page no="240"?> 240 Refonnulierungen Bucher, Hans-Jürgen (1986): Pressekommunikation. Grundstnikturen einer öffentlichen Form der Kommunikation aus linguistischer Sicht. (Medien in Forschung + Unterricht/ A 20). Tübingen. Bucher, Hans-Jürgen/ Straßner, Erich (1991): Mediensprache, Medienkommunikation, Medienkritik. Tübingen. Burger, Harald (1990): Sprache der Massenmedien. (Sammlung Göschen 2225). 2., durchges. u. env. Aull. Berlin. Bürger, Ulrich (1990): Das sagen wir natürlich so nicht! Donnerstags-Argus bei Herrn Geggel. Berlin. Burkhardt, Armin (1992): Ein Parlament sucht(e) seine Sprache - Zur Sprache der Volkskammer. In: Burkhardt, Armin/ Fritzsche, K. Peter (Hg.): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 1). Berlin/ New York. S. 155-197. Busse, Dietrich (Hg.) (1991): Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels. (Reihe Germanistische Linguistik 113). Tübingen. Busse, Dietrich/ Teubert, Wolfgang (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Busse, Dietrich/ Hermanns, Fritz/ Teubert, Wolfgang (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen. S. 10-28. Bußmann, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart. Clyne, Michael (1994): Warum ich Deutsch für eine soziolinguistisch interessante Sprache halte. In: Löffler, Heinrich/ Jakob, Karlheinz/ Kelle, Bernhard (Hg.): Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hugo Sieger zum 65. Geburtstag. Berlin/ New York. S. 169-179. Daneä, Frantisek/ Viehweger, Dieter (Hg.) (1977): Probleme der Textgrammatik II. (studia grammatica XVIII). Berlin. Dieckmann, Walther (1985): Konkurrierender Sprachgebrauch in Redeerwähnungen der Presseberichterstattung. In: Wirkendes Wort 35, S. 309-328. van Dijk, Teun A. (1980): Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen. van Dijk, Teun A. (Hg.) (1990): Text. An interdisciplinary journal for the study of discourse, 10-1/ 2. van Dijk, Teun A./ Kintsch, Walter (1978): Cognitive Psychology and Discourse: Recalling and Summarizing Stories. In: Dressier, Wolfgang Ulrich (Hg.): Current Trends in Textlinguistics. (Untersuchungen zur Texttheorie 2). Berlin/ New York. S. 61-80. Dovifat, Emil/ Wilke, Jürgen (1976): Zeitungslehre I. Theoretische und rechtliche Grundlagen, Nachricht und Meinung, Sprache und Form. 6. neubearb. Aufl. Berlin/ New York. <?page no="241"?> Literatur 241 Drescher, Martina (1992): Verallgemeinerungen als Verfahren der Textkonstitution. Untersuchungen zu französischen Texten aus mündlicher und schriftlicher Kommunikation. (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur/ Beihefte/ Neue Folge 20). Stuttgart. Drescher, Martina/ Kotschi, Thomas (1988): Das „Genfer Modell". Diskussion eines Ansatzes zur Diskursanalyse am Beispiel der Analyse eines Beratungsgesprächs. In: Rosengren, Inger (Hg ): Sprache und Pragmatik 8. Arbeitsberichte. Lund. S. 1-42. Drosdowski, Günther (Hg.) (1984): Duden. „Grammatik der deutschen Gegenwartssprache". In Zusammenarbeit mit Gerhard Augst u.a. 4., völlig neu bearb. u. env. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. Ehlich, Konrad (Hg.) (1994): Diskursanalyse in Europa. (Forum Angewandte Linguistik 24). Frankfurt a. M./ Berlin/ Bem/ New York/ Paris/ Wien. Erfurt, Jürgen (1986): Der politische Diskurs. Funktionen, Strukturen und Analyse politischer Kommunikation in Frankreich. Phil. Habil. Leipzig. Fanselow, Gisbert/ Felix, Sascha W. (1993): Sprachtheorie. Eine Einführung in die Generative Grammatik. Band 1: Grundlagen und Zielsetzungen. 3. Aufl. Tübingen/ Basel. Fix, Ulla (1990): Der Wandel der Muster - Der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutioneilen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen. In: Deutsche Sprache 18, S. 332-347. Fleischer, Wolfgang/ Hartung, Wolfdietrich/ Schildt, Joachim/ Suchsland, Peter (Hg.) (1983): Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Leipzig. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. Fraas, Claudia (1996): Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte Identität und deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit. (Studien zur deutschen Sprache 3). Tübingen. Fraas, Claudia/ Steyer, Kathrin (1992): Sprache der Wende - Wende der Sprache? Beharnmgsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Deutsche Sprache 20, S. 172-184. Frohner, Jürgen (Hg.) (1994): Journalismus von heute. Abschnitt V. München. Gardin, Bernard (1984): Un recit d'interaction: les comptes rendus de delegation syndicale. In: Guespin, Louis (Hg ): Dialogue et interaction verbale. (Langages 74), S. 93-122. Gedächtnisprotokolle (1990): Schnauze! Gedächtnisprotokolle 7. und 8. Oktober 1989. Berlin - Leipzig - Dresden. Berlin. Good, Colin H. (1985): Presse und soziale Wirklichkeit. Ein Beitrag zur „kritischen Sprachwissenschaft". (Sprache der Gegenwart 65). Düsseldorf. Gülich, Elisabeth (1978): Redewiedergabe im Französischen. Beschreibungsmöglichkeiten im Rahmen einer Sprechakttheorie. In: Meyer-Hermann, Reinhard (Hg.): Sprechen - Handeln - Interaktion. Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zu Texttheorie. Sprechakttheorie und Konversationsanalyse. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 26). Tübingen. S. 49-101. <?page no="242"?> 242 ReformuHerungen Gülich, Elisabeth (1988): Handlungsschema und Formulierungsstruktur. Am Beispiel eines Beratungsgesprächs („Das Zeitungsabonnement“). Ein Diskussionsbeitrag, ln: Rosengren, Inger (Hg ): Sprache und Pragmatik 8. Arbeitsberichte. Lund. S. 43-66. Gülich, Elisabeth (1994): Formulienmgsarbeit im Gespräch. In: Cmejrkovä, Svetla/ Daneä, Frantisek/ Havlovä, Eva (Hg ): Writing vs Speaking. Language. Text, Discourse, Communication. Proceedings of the Conference held at the Czech Language Institute of the Academy of Sciences of the Czech Republic, Prague, October 14-16, 1992. (Tübinger Beiträge zur Linguistik 392). Tübingen. S. 77-95. Gülich, Elisabeth/ Kotschi, Thomas (1983): Les marqueurs de la reformulation paraphrastique. In: Cahiers de linguistique frangaise 5, S. 305-351. Gülich, Elisabeth/ Kotschi, Thomas (Hg.) (1985): Grammatik, Konversation, Interaktion. Beiträge zum Romanistentag 1983. (Linguistische Arbeiten 153). Tübingen. Gülich, Elisabeth/ Kotschi, Thomas (1987): Reformulierungshandlungen als Mittel der Textkonstitution. Untersuchungen zu französischen Texten aus mündlicher Kommunikation. In: Mötsch, Wolfgang (Hg.): Satz, Text, sprachliche Handlung, (studia grammaticaXXV). Berlin. S. 199-261. Gülich, Elisabeth/ Raible, Wolfgang (Hg.) (1975): Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. (Athenaion-Skripten Linguistik 5). 2. Aufl. Wiesbaden. Gülich, Elisabeth/ Raible, Wolfgang (1977): Linguistische Textmodelle. Grundlagen und Möglichkeiten. München. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. Hatakeyama, Katsuhiko/ Petöfi, Jänos S./ Sözer, Emel (1989): Text, Konnexität, Kohäsion, Kohärenz. In: Conte, Marie-Elisabeth (Hg.): Kontinuität und Diskontinuität in Texten und Sachverhalts-Konfigurationen. Diskussion über Konnexität. Kohäsion und Kohärenz. (Papiere zur Textlinguistik 50). Hamburg. S. 1-55. Heinemann, Wolfgang/ Viehweger. Dieter (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Helbig, Gerhard/ Buscha. Joachim (1986): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 9., unveränd. Aufl. Leipzig. Hensel, Cornelia (1987): Produktbegleitende Texte der Versuch einer Analyse unter illokutionärem Aspekt. Phil. Diss. Leipzig. Herberg, Dieter (1993): Die Sprache der Wendezeit als Forschungsgegenstand. Untersuchungen zur Sprachentwicklung 1989/ 90 am IDS. Bericht. In: Muttersprache 103-3 S. 264-266. Herberg, Dieter/ Steffens, Doris/ Tellenbach, Elke (1995): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90. Schriften des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. (i. D.). Herberg, Dieter/ Stickel, Gerhard (1992): Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache 20, S. 185-192. <?page no="243"?> Literatur 243 Heringer, Hans Jürgen (1990): „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort". Politik - Sprache - Moral. Müchnen. Heringer, Hans Jürgen/ Samson. Gunhild/ Kauffmann, Michel/ Bader, Wolfgang (Hg.) (1994): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Herzog, Jacqueline (1991): Zur Beschreibung von Verfahren der Reformulierung in der politischen Pressekommunikation Frankreichs. Phil.Diss. Leipzig. Hess-Lüttich, Ernest W.B. (Hg.) (1992): Medienkultur - Kulturkonflikt. Massenmedien in der interkulturellen und internationalen Kommunikation. Opladen. Hindelang, Götz (1994): Einführung in die Sprechakttheorie. (Germanistische Arbeitshefite 27). 2., durchges. Aufl. Tübingen. Hoffmann, Ludger (1984): Mehrfachadressierung und Verständlichkeit, ln: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 55, S. 71-85. Hoffmann, Ludger (1985): Die Bonner Runde - Ansätze zur Analyse einer Kommunikationsform. In: Sucharowski, Wolfgang (Hg ): Gesprächsforschung im Vergleich. Analysen zur Bonner Runde nach der Hessenwahl 1982. Tübingen. S. 107-145. Holthuis, Susanne (1993): Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. (Stauffenburg Colloquium 28). Tübingen. Hopfer, Reinhard (1992): Christa Wolfs Streit mit dem „großen Bruder". Politische Diskurse der DDR im Herbst 1989. In: Burkhardt, Armin/ Fritzsche, K. Peter (Hg ): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende" und „Vereinigung". (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 1). Berlin/ New York. S. 111-133. Hoppenkamps, Hermann (1977): Information oder Manipulation? Untersuchungen zur Zeitungsberichterstattung über eine Debatte des Deutschen Bundestages. (Reihe Germanistische Linguistik 8). Tübingen. Jacobs, Eva-Maria (1994): Conceptsymbols. Funktionen von Zitation und Verweisung im wissenschaftlichen Diskurs. In: Haiwachs, Dieter W./ Stütz, Irmgard (Hg ): Sprache - Sprechen - Handeln. Akten des 28. Linguistischen Kolloquiums. Band 2. (Linguistische Arbeiten 321). Tübingen. S. 45-52. Jäger, Siegfried (1968): Die Einleitungen indirekter Reden in der Zeitungssprache und in anderen Texten der deutschen Gegenwartssprache. In: Muttersprache 78, S. 236-256. Kallmeyer, Werner (1978): Fokuswechsel und Fokussierungen als Aktivitäten der Gesprächskonstitution. In: Meyer-Hermann. Reinhard (Hg.): Sprechen - Handeln - Interaktion. Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zu Texttheorie, Sprechakttheorie und Konversationsanalyse. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 26). Tübingen. S. 191-241. Kallmeyer, Werner (Hg.) (1986): Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten. Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für deutsche Sprache. (Sprache der Gegenwart 67). Düsseldorf. Kaufmann, Gerhard (1976): Die indirekte Rede und mit ihr konkurrierende Formen der Redeerwähnung. (Heutiges Deutsch/ III-1). München. <?page no="244"?> 244 Refontwlierungen Kindt, Walther (1992): Argumentation und Konfliktaustragung in Äußerungen über den Golfkrieg. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 11-2, S. 189-215. Klein. Josef (1987): Die konklusiven Sprechhandlungen. Studien zur Pragmatik, Semantik, Syntax und Lexik von begründen, erklären-warum, folgern und rechtfertigen. (Reihe Germanistische Linguistik 76). Tübingen. Klein, Josef (Hg.) (1989): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen. Klein, Wolfgang (1981): Logik der Argumentation, ln: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung. Jahrbuch 1980 des Instituts für deutsche Sprache. (Sprache der Gegenwart 54). Düsseldorf. S. 226-264. Klein, Wolfgang/ v. Stutterheim, Christiane (1992): Textstruktur und referentielle Bewegung. In: Klein, Wolfgang (Hg.): Textlinguistik. (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 22-86. S. 67-92. Klix, Friedhard (1984): Über Wissensrepräsentation im menschlichen Gedächtnis, ln: Ders. (Hg.): Gedächtnis - Wissen - Wissensnutzung. Berlin. S. 9-73. Kopperschmidt, Josef (1989): Methodik der Argumentationsanalyse, (problemata 119). Stuttgart-Bad Cannstatt. Kotschi, Thomas (1990): Reformulierungsindikatoren und Textstruktur. Untersuchungen zu frz. c'est-ä-dire. In: Rosengren. Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik 19. Arbeitsberichte. Lund. S. 1-26. Kretzenbacher, Heinz Leonhard (1990): Rekapitulation. Textstrategien der Zusammenfassung von wissenschaftlichen Fachtexten. (Forum für Fachsprachen-Forschung 11). Tübingen. Kurz, Josef (1966): Die Redewiedergabe. Methoden und Möglichkeiten. Leipzig. Lang, Ewald (1983): Einstellungsausdrücke und ausgedrückte Einstellungen. In: Rüzicka, Rudolf/ Motsch, Wolfgang (Hg.): Untersuchungen zur Semantik, (studia grammatica XXII). Berlin. S. 305-341. Lang, Ewald (1990): Wendehals und Stasi-Laus. Demo-Sprüche aus der DDR. München. Lauber, Heinz (1983): Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Wort und Bild. 7., neubearb. Aufl. Villingen-Schwenningen. Lewandowski, Theodor (1990): Linguistisches Wörterbuch 1-3. 5., überarb. Aufl. Heidelberg/ Wiesbaden. Linke, Angelika/ Nussbaumer. Markus/ Portmann, Paul R. (1991): Studienbuch Linguistik. (Reihe Germanistische Linguistik 121, Kollegbuch) Tübingen. Lyons, John (1989): Einführung in die moderne Linguistik, 7. Aufl. München. Lötscher, Andreas (1987): Text und Thema. Studien zur thematischen Konstituenz von Texten. (Reihe Germanistische Linguistik 81). Tübingen. <?page no="245"?> Literatur 245 Lüger, Heinz-Helmut (1983): Pressesprache. (Germanistische Arbeitshefte 28). Tübingen. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Düsseldorf. Lumer, Christoph (1990): Praktische Argumentationstheorie. Theoretische Grundlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsarten. (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 26). Braunschweig. Maas, Utz (1984): „Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand." Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse. Opladen. Maletzke, Gerhard (1988): Massenkommunikationstheorien. (Medien in Forschung + Unterricht/ B 7). Tübingen. Maingueneau, Dominique (1987): Nouvelles tendances en analyse du discours. (Langue, Linguistique, Communication). Paris. Marcellesi, Jean-Baptiste (1971): Le Congres du Tours (Decembre 1920). Etudes sociolinguistiques. Paris. Meyrowitz, Joshua (1990a): Überall und nirgends dabei. Die Fernseh-Gesellschaft I. Weinheim/ Basel. Meyrowitz, Joshua (1990b): Wie die Medien unsere Welt verändern. Die Fernseh-Gesellschaft II. Weinheim/ Basel. Michel, Georg (1991): Paraphrasierung von Texten. In: Pohl, Inge/ Bartels, Gerhard (Hg.): Sprachsystem und sprachliche Tätigkeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Professor Dr. phil. habil. Karl-Emst Sommerfeldt. (Sprache, System und Tätigkeit 2). Frankfurt a. M./ Bern/ New York/ Paris. S. 203-215. Moilanen, Markku/ Liisa Tiittula (Hg.) (1994): Überredung in der Presse. Texte, Strategien, Analysen. (Sprache, Politik, Öffentlichkeit 3). Berlin/ New York. Mötsch, Wolfgang (1987a): Zur Illokutionsstruktur von Feststellungstexten. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 40-1, S. 45-67. Mötsch, Wolfgang (Hg.) (1987b): Satz, Text, sprachliche Handlung, (studia grammatica XXV). Berlin. Mötsch, Wolfgang/ Pasch, Renate (1987): Illokutive Handlungen. In: Mötsch, Wolfgang (Hg.): Satz, Text, sprachliche Handlung, (studia grammatica XXV). Berlin. S. 11-79. Mötsch, Wolfgang/ Reis, Marga/ Rosengren, Inger (1989): Zum Verhältnis von Satz und Text. In: Rosengren, Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik 11. Arbeitsberichte. Lund. S. 1-36. Murat, Michel/ Cartier-Bresson, Bernard (1987): C'est-ä-dire ou la reprise interpretative. In: Riegel, Martin/ Tamba, Irene (Hg.): La reformulation du sens dans le discours. (Langue fran<; aise 73). S. 5-15. Paul, Hennann (1992): Deutsches Wörterbuch. 9., vollst. neu bearb. Aufl. von Henne, Helmut/ Objartel, Georg unter Mitarb. v. Kämper-Jensen, Heidrun, Tübingen. <?page no="246"?> 246 Reforinulierungen Pinkal, Manfred (1991): Vagheit und Ambiguität. In: v. Stechovv. AmimAVunderlich, Dieter (Hg.): Semantik. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 6). S. 250-269. Plett. Heinrich F. (Hg.) (1991): Intertexuality. (Untersuchungen zur Texttheorie 15). Berlin/ New York. v. Polenz, Peter (1993): Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 21, S. 127-149. Posner, Roland (1980): Theorie des Kommentierens. Eine Grundlagenstudie zur Semantik und Pragmatik. (Linguistische Forschungen 9). 2., verb. u. erw. Aufl. Wiesbaden. Posner, Roland (1992): Zitat und Zitieren von Äußerungen, Ausdrücken und Kodes. In: Zeitschrift für Semiotik 14-1/ 2, S. 3-16. Rath, Rainer (1975): Kommunikative Paraphrasen. In: Linguistik und Didaktik 6-22, S. 103-118. Reiher, Ruth (1992): „Wir sind das Volk“. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zu den Losungen des Herbstes 1989. In: Burkhardt, Armin/ Fritzsche, K. Peter (Hg.): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende" und „Ver-einigung". (Sprache, Politik. Öffentlichkeit 1). Berlin/ New York. S. 43-57. Reiher, Ruth/ Läzer, Rüdiger (Hg.) (1993): Wer spricht das wahre Deutsch? Erkundungen zur Sprache im vereinigten Deutschland. Berlin. Rickheit, Gert/ Strohner, Hans (1985): Psvcholinguistik der Textverarbeitung. In: Studium Linguistik 17/ 18. S. 1-78. Rickheit. Gert/ Strohner, Hans (1989): Textreproduktion. In: Antos. Gerd/ Krings, Hans P. (Hg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 48). Tübingen. S. 220-256. Riegel, Martin/ Tamba. Irene (Hg.) (1987): La reformulation du sens dans le discours. (Langue fran<; aise 73). Paris. Rolf, Eckard (1994): Sagen und Meinen. Paul Grices Theorie der Konversations- Implikaturen. Opladen. v. Roncador, Manfred (1988): Zwischen direkter und indirekter Rede. Nichtwörtliche direkte Rede, erlebte Rede, logophorische Konstruktionen und Verwandtes. (Linguistische Arbeiten 192). Tübingen. Sayatz, Ulrike (1991): Die illokutive Analyse von Gesetzestexten unter besonderer Berücksichtigung des Problems direkter und nicht-direkter Interpretation sprachlicher Äußerungen. Phil. Diss. Leipzig. Schaffner, Christine (1992): Sprache des Umbruchs und ihre Übersetzung. In: Burkhardt, Armin/ Fritzsche, K. Peter (Hg.): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. (Sprache, Politik. Öffentlichkeit 1). Berlin/ New York. S. 135-153. <?page no="247"?> Literatur 247 Schank, Gerd (1989): Redeerwähnung im Interview. Strukturelle und konversationeile Analysen an vier Interviewtypen. (Sprache der Gegenwart 78). Düsseldorf. Schlosser, Horst Dieter (1990): Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen. Köln. Schmich, Walter (1987): Sprachkritik. Sprachbewertung, Sprecherkritik. Heidelberg. Schwitalla, Johannes (1993): Textsortenwandel in den Medien nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick. In: Biere, Bernd Ulrich/ Henne, Helmut (Hg ): Sprache in den Medien nach 1945. (Reihe Germanistische Linguistik 135). Tübingen. S. 1- 27. Searle, John R. (1977): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M. Steube, Anita (1983): Indirekte Rede und Zeitverlauf. In: Rüzicka, Rudolf/ Motsch, Wolfgang (Hg ): Untersuchungen zur Semantik, (studia grammatica XXII). Berlin. S. 121- 168. Steyer, Kathrin (1994): Reformulierungen. Zur Vernetzung von Äußerungen im Ost-West- Diskurs. In: Busse, Dietrich/ Hermanns, Fritz/ Teubert, Wolfgang (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen. S. 143-160. Stickel, Gerhard (1970): Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch. (Schriften zur Linguistik 1). Braunschweig. Techtmeier, Bärbel (1993): Typen akzeptanzstützender Handlungen im Gespräch. In: Löffler, Heinrich (Hg ): Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992. Teil 1. (Beiträge zur Dialogforschung 4). Tübingen. S. 375-384. Techtmeier, Bärbel (1994): Handlungsstrukturen in monologischen und dialogischen Texten. In: Cmcjrkovä, Svetla/ Danes, Frantisek/ Havlovä, Eva (Hg.): Writing vs Speaking. Language, Text. Discourse, Communication Proceedings of the Conference held at the Czech Language Institute of the Academy of Sciences of the Czech Republic. Prague, October 14-16, 1992. (Tübinger Beiträge zur Linguistik 392). Tübingen. S. 243-248. Tillmann, Alexander (1989): Ausgewählte Textsorten politischer Sprache. Eine linguistische Analyse parteilichen Sprechens. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 513). Göppingen. Toulmin, Stephen (1975): Der Gebrauch von Argumenten. (Wissenschaftstheorie und Grundlagenforschung 1). Kronberg/ Ts. Tschauder, Gerhard (1989): Textverbindungen. Ansätze zu einer Makrotextologie, auch unter Berücksichtigung fiktionaler Texte. (Bochumer Beiträge zur Semiotik 22). Bochum. Ueding, Gert/ Steinbrink, Bernd (1986): Gnmdriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 2.Aufl. Stuttgart. Ungeheuer, Gerold (1969): Paraphrase und syntaktische Tiefenstruktur. In: Folia Linguistica 3, S. 178-227. <?page no="248"?> 248 ReformuHerungen Viehweger, Dieter (u.a.) (1977): Probleme der semantischen Analyse, (studia grammatica XV). Berlin. Viehweger, Dieter (1983a): Sprachhandlungsziele von Auffordenmgstexten. In: Danes, Frantisek/ Viehweger, Dieter (Hg.): Ebenen der Textstruktur. (Linguistische Studien/ A 112, Arbeitsberichte). Berlin. S. 152-192. Viehweger, Dieter (1983b): Sequenzierung von Sprachhandlungen und Prinzipien der Einheitenbildung im Text. In: Rüzicka, Rudolf/ Motsch, Wolfgang (Hg.): Untersuchungen zur Semantik (studia grammatica XXII). Berlin. S. 369-394. Viehweger, Dieter (1987): Illokutionswissen und Textinterpretation (Plenarvortrag auf dem XIV. Internationalen Linguistenkongreß), ln: Vorabdruck der Plenarvorträge. Berlin. S. 331-349. Viehweger, Dieter (1989): Illokutive Handlungen, globale Handlungen, Illokutionsstrukturen. In: Hlavsa, Zdenek/ Viehweger, Dieter (Hg ): Makrostrukturen im Text und im Gespräch. (Linguistische Studien/ A 191. Arbeitsberichte). Berlin. S. 20-35. Viehweger, Dieter/ Spies, Gottfried (1987): Struktur illokutiver Handlungen in Anordnungstexten. In: Mötsch, Wolfgang (Hg.): Satz. Text, sprachliche Handlung, (studia grammatica XXV). Berlin. S. 81-118. Vollmert. Johannes (1992): Auf der Suche nach einer neuen Rhetorik. Ansprachen auf den Massendemonstrationen Anfang November '89. In: Burkhardt, Armin/ Fritzsche. K. Peter (Hg ): Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. (Sprache. Politik. Öffentlichkeit 1). Berlin/ New York. S. 59-110 Wahrig, Gerhard (1986/ 91): Deutsches Wörterbuch. Mit einem „Lexikon der deutschen Sprachlehre“. Jubiläumsausgabe. Gütersloh/ München. Weigand, Edda (1989): Sprache als Dialog. Sprechakttaxonomie und kommunikative Grammatik. (Linguistische Arbeiten 204). Tübingen. Wessel, Horst (1989): Logik. 3., durchges. Aufl. Berlin. Winkler, Edeltraud (1987): Syntaktische und semantische Eigenschaften von verba dicendi. Phil. Diss. Berlin. Wimmer, Rainer (1990): Maximen einer kommunikativen Ethik, ihre Begründung und ihre Verwendung in der Praxis. In: Ennert, Karl (Hg.): Sprachliche Bildung und kultureller Wandel. (Loccumer Protokolle 56/ 1989). Rehburg-Loccum. S. 129-172. Wunderlich, Dieter (1972): Sprechakte. In: Maas, Utz/ Wunderlich, Dieter (Hg.): Pragmatik und sprachliches Handeln. Mit einer Kritik am Funkkolleg „Sprache". (Athenäum- Skripten Linguistik 2). Frankfurt a. M. S. 69-188. Zillig, Werner (1982): Bewerten. Sprechakttypen der bewertenden Rede. (Linguistische Arbeiten 115). Tübingen. Zimmermann, Klaus (1984): Die Antizipation möglicher Rezipientenreaktionen als Prinzip der Kommunikation. In: Rosengren, Inger (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1984. (Lunder germanistische Forschungen 53). Malmö. S. 131-158. <?page no="249"?> 9. TEXTANHANG Stenografische Niederschrift der 3. Tagung der Volkskammer der DDR (19.4.1990) 34 (REG) Regierungserklärung des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik Ich bitte den Herrn Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Herrn Lothar de Maiziere, das Wort zu seiner Regierungserklärung zu nehmen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Abgeordnete! Die Erneuerung unserer Gesellschaft stand unter dem Ruf „Wir sind das Volk! ". Das Volk ist sich seiner selbst bewußt geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht. Und aus dem Ruf „Wir sind das Volk! " erwuchs der Ruf „Wir sind ein Volk! ". Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihren politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen, ist unsere gemeinsame Verantwortung. Der Neuanfang unserer Gesellschaft ist ein zutiefst demokratischer Neuanfang. Wir haben einen demokratischen Auftrag. Den haben uns die Bürger der DDR gegeben und niemand sonst. Wir haben das erste frei gewählte Parlament und die erste frei gewählte Regierung seit zwei Generationen. Und es ist eine breite Mehrheit des Parlaments und der Wähler, auf die sich die Koalition stützt. Alle politischen Kräfte Europas nehmen heute teil an dem Prozeß der Einigung Deutschlands. Wir vertreten in ihm die Interessen der Bürger der DDR. Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Der Neuanfang unserer Gesellschaft soll auch ein ehrlicher Neuanfang sein. In dem großen historischen Prozeß unserer Befreiung haben wir einem Politiker die wirksame Bündelung vieler positiver Impulse besonders zu (ver)danken: Michail Gorbatschow. (lebhafter Beifall) Wir ahnen die schwere Last, die er in der Sowjetunion zu tragen hat. Wir bitten die Bürger der Sowjetunion, die Politik der DDR und ihr Streben nach der Einheit Deutschlands nicht als bedrohlich anzusehen. Wir sind uns unserer historischen Schuld gegenüber der Sowjet- Die stenografische Niederschrift entspricht bis auf einige ganz minimale Abweichungen der Originalrede und ist ebenso mit den Abdrucken der vollständigen Rede in den Tageszeitungen identisch. Die minimalen Abweichungen haben jedoch keinerlei inhaltliche Auswirkungen und sind in Klammem vermerkt. <?page no="250"?> 250 Reformulierungen union bewußt, und wir möchten als freier Staat mit einer Sowjetunion, in der das neue Denken gesiegt hat. freundschaftlich Zusammenarbeiten. Glasnost und Perestroika haben der Welt neue, lange Zeit nicht für möglich gehaltene historische Horizonte erschlossen. Sie forderten auch in der DDR eine Bürgerbewegung, die alle gesellschaftlichen Sektoren erfaßte. Eine entscheidende Kraft dieses Prozesses waren die neuen demokratischen Gruppen, in denen sich Menschen zusammenfanden, die die Fesseln der Vergangenheit sprengten. Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte. Das sollte in diesem Hause stets gegenwärtig und lebendig bleiben. Wenn ich an dieser Stelle den Dank für unsere Freiheit ausspreche, denke ich auch an die Freiheitsbewegungen in unseren östlichen Nachbarstaaten. Die Solidamosc-Bewegung in Polen hatte nachhaltige Wirkungen auf ganz Osteuropa. Weder Kriegsrecht noch Hetzpropaganda haben der Demokratie den Riegel vorschieben können. Namen wie Lech Walesa oder der des großen Bürgerrechtlers und heutigen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, werden für immer in den Geschichtsbüchern der Welt stehen und die Herzen (der) freiheitliebende(n) Menschen bewegen. (Beifall) Wir denken an das ungarische Volk und seine Bürger, die den Eisernen Vorhang herunterrissen und damit auch ein Stück Berliner Mauer zum Fallen brachten. (Beifall) Noch in den nächsten Monaten wird dieses menschenunwürdige Schandmal abgerissen. Ich möchte im Namen der Regierung der DDR den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland danken, (sie) haben zu uns gehalten, haben uns Mut gemacht und geholfen, wo immer es möglich war. Und vergessen wir nicht: Jahrzehntelang waren, wenn auch mitunter nicht ohne Eigennutz, die westlichen Medien für viele DDR-Bürger die wichtigste Informationsquelle. Oft waren sie das einzige Sprachrohr für Unterdrückte und politisch Andersdenkende in diesem Land. Das uneingeschränkte Bekenntnis verantwortlicher Politiker der Bundesrepublik ich nenne nur Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher zur Selbstbestimmung und Einheit des deutschen Volkes versetzt uns (jetzt) auch in die Lage, jetzt die Einheit verwirklichen zu können. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Hans Modrow für sein Engagement danken. (Beifall) Durch seine behutsame Politik ist uns sicher vieles erspart geblieben. In den schwierigen Zeiten des letzten halben Jahres blieb er als Demokrat überparteilich und stabilisierte in Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch dieses Land. (Beifall bei der PDS) Verehrte Abgeordnete! Ein Dank darf heute nicht fehlen. Das ist der Dank an die Kirchen. (Beifall) <?page no="251"?> Textanhang 251 Ihr Verdienst ist es, Schutzraum fiir Andersdenkende und Anwalt für Rechtlose gewesen zu sein. Ihre Besonnenheit und ihr Festhalten an der Gewaltlosigkeit haben unserer Revolution die Friedfertigkeit bewahrt. Es hätte ja auch alles ganz anders kommen können. Wir haben Grund zu tiefer Dankbarkeit, daß uns die Erfahrungen erspart geblieben sind, wie sie etwa das rumänische Volk machen mußte. Aber unsere Geschichte, das sind nicht nur die letzten fünf Jahre. Als freie Regierung und freies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus. Wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges. Wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus, an die Opfer des 17. Juni (19)53 und an die Opfer der Mauer. Krieg und Nachkrieg, die Verflochtenheit unendlich vieler Menschen in Schuld und Sühne und wieder neue historische Schuld haben das Gesicht unseres Volkes gekennzeichnet. Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Diese Menschen sind der Stolz, und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes. (Beifall) Die Menschen des Widerstandes erinnern uns an unsere Verantwortung für unsere Geschichte. Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl femzubleiben. Jeder frage sich selbst, ob er immer alles richtig gemacht und welche Lehren er zu ziehen hat. Es sind nicht immer die Mutigen von einst, die heute am lautesten die Bestrafung von anderen (anderer) fordern. (lebhafter Beifall) Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig ist. Ihn leicht zu nehmen wäre leichtfertig. Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, vierzig Jahre lang von der Substanz zu leben, und nicht nur materiell. Wir haben Schäden auf vielen Gebieten und einen großen Nachholebedarf. Und oft sind die Schäden derart, daß der Weg zu ihrer Heilung erst noch ausgearbeitet werden muß. In dieser Situation sind fortwirkendes Mißtrauen, Verdrossenheit und Ermattung vieler Mitbürger nur zu verständlich. Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. Wir haben es nicht mit Problemen zu tun, die erst jetzt entstehen, sondern mit alten, verdeckten Wunden der Gesellschaft, die jetzt offengelegt werden müssen, damit sie heilen können. Dazu gehören auch Struktur und Wirkungsweise der ehemaligen Staatssicherheit. Dazu gehört, daß sich betroffene Menschen aussprechen dürfen. Es hilft nicht die Veröffentlichung der Verstrickung einzelner, bei denen man kaum sagen kann, wieweit sie Opfer oder Täter waren. Wir haben in diesen Wochen zu spüren bekommen, wie sich unsere junge Demokratie von neuem in dem Spinnennetz der ehemaligen Staatssicherheit verfing. Wir werden eine Regierungskommission einsetzen, die die Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit betreibt. Diese Kommission wird dafür sorgen, daß die verdienstvolle Arbeit der Bürgerkomitees einen rechtsstaatlich geordneten Abschluß findet. Die Bewältigung der Stasi- Vergangenheit verlangt die unbedingte Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. Um den Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen zu (be)schützen, werden wir ein umfassendes Datenschutz- <?page no="252"?> 252 Refomiulierungen gesetz vorlegen. In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt. (Beifall) Verehrte Anwesende! Wir sind dabei, uns die Demokratie zu erarbeiten. Niemand möge Innehalten und Überlegen mit Entschlußlosigkeit verwechseln. In dieser Situation nach drei Wochen eine große Koalition zu haben, ist eine Leistung, für die ich allen beteiligten Fraktionen danke. (Beifall, vor allem bei der CDU) Ich versichere allen, wir werden uns auch in Zukunft Zeit zum verantwortlichen Nachdenken nehmen. Das wird uns helfen, den notwendigen Grundkonsens der Nation nicht durch sachlich unbegründete Zwietracht der Parteien zu zerstören. (Beifall, vor allem bei der SPD) Wir müssen alles tun, diesen Geist zu bewahren und uns (unserer) der Freiheit (als) würdig zu erweisen. Damit nehmen wir das demokratische Erbe Deutschlands auf. 58 Jahre unterschiedlicher Diktaturen dürfen uns den Blick darauf nicht verstellen. Im Bauernkrieg, in den Befreiungskriegen, in der Revolution von 1848/ 49, in der Novemberrevolution von 1918, in den Ereignissen vom 20. Juli 1944 und im Volksaufstand des 17. Juni 1953 — immer gab es den brennenden Willen zur Demokratie, und immer wurde er in Blut oder in Resignation erstickt. Heute dagegen stehen wir in der geschichtlichen Situation, daß unser demokratisches Aufbegehren ausgelöst wurde und aufgenommen wird von einer den Kontinent durchziehenden Bewegung zu Demokratie, Frieden und internationalem Ausgleich. Machen wir uns bewußt, welcher Fortschritt bereits bei uns erreicht wurde, vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, daß diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas haltmacht, sondern daß in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht. Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz. Nicht die Staatssicherheit war die eigenüiche Krankheit der DDR, sie war nur einer ihrer Auswüchse. Die eigentliche Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft war der diktatorische Zentralismus, der aus stalinistischer Verblendung an die Stelle der Demokratie, an die Stelle der Selbstbestimmung der Menschen gesetzt worden war. Dieser Zentralismus war es, der eine alles gesellschaftliche Leben vergiftende Atmosphäre des Druckes erzeugte. Zwang und Druck vernichteten Initiative, Verantwortungsbereitschaft, eigene Überzeugung und machten es zu einer menschlichen Leistung, dem eigenen Gewissen zu folgen. Deshalb genügt es heute nicht, ein Problem aufzugreifen, sondern wir müssen viel tiefer ansetzen. Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen, die sich in Haß, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden. (Beifall) <?page no="253"?> Textanhang 253 Die Qualität unseres Weges wird an der Bewahrung von Grundwerten der Gesellschaft zu messen sein. Es geht um vier Dinge: die Freiheit des Andersdenkenden. - Gerechtigkeit für alle, - Frieden als Gestaltungsaufgabe nach innen und außen, - Verantwortung für das Leben in all(en) seinen Gestalten. Diese Werte zeigen die Richtung, die ich - und ich denke, wir alle einschlagen wollen. Dabei geben wir uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung der Freiheit, der Demokratie und des Rechts eine mühelos zu bewältigende Aufgabe wäre. Wir geben uns nicht der Illusion hin, daß diese neue Ordnung und der Übergang zu ihr keine politischethischen Qualitäten mehr benötigen würden. Im Gegenteil! Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich erwachsen werden müssen. Selbstbestimmt und aktiv. Das gilt für jeden Bürger, das gilt auch für das Parlament und die Regierung und für das gesamte gesellschaftliche Leben. Und wir geben uns nicht der Illusion hin, daß Moral und Recht identisch wären, daß wir mit Hilfe des Rechts Moral erzwingen könnten. Hier halte ich es mit Hölderlins Hyperion: „Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das lass’ er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag’ es an den Pranger! Beim Himmel! Der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“ (Beifall) Wahrlich ein aktuelles Wort über unsere jüngste Vergangenheit! In diesem Sinne ist unser Umbruch Teil eines revolutionären Emeuerungsprozesses in Osteuropa, der zugleich ein gesamteuropäischer und ein Weltprozeß ist. Manche mögen meinen, daß er letztlich konterrevolutionär sei. Nach dieser 70jährigen Entwicklung des realen Sozialismus ist aber das „Konter“, das „Gegen“, eine Naturnotwendigkeit. Wer Sozialismus faktisch mit brutaler Parteidiktatur, Entmündigung der Gesellschaft, Staatseigentum an den Produktionsmitteln und mit zentralistischem Plandirigismus gleichsetzte, wer glaubte, mit solchen Mitteln eine gerechtere Gesellschaft schaffen zu können, der hat sich so gründlich geirrt, daß hier nur ein entschiedenes „Kontra“ möglich ist. (Beifall) Wer aber glaubt, damit müßten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt sich genauso. <?page no="254"?> 254 Reform«Herwigen (Beifall) Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können. Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft. Wir werden sie in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG jetzt Schritt für Schritt entwickeln. In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause in Kraft treten kann. Dabei ist 1: 1 der grundlegende Kurs. Dazu gehört die Sicherung der Eigentumsrechte aus der Bodenreform und aus Eigentumsübertragungen, die nach Treu und Glauben rechtens waren und daher auch rechtens bleiben müssen. (Beifall) Dazu gehört, daß vor der Währungsumstellung die Aufwendungen für die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden. Erst dann können die Preise und Mieten mit der Entwicklung der Einkommen schrittweise freigegeben werden. Eine unserer wichtigsten Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber der Menschheit ist die Gewährleistung einer lebenswerten und lebensfähigen Umwelt. Wir können unser Defizit auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen beseitigen. Aber mit Hilfe der Bundesrepublik werden wir ein durchdachtes und finanzierbares Umweltschutzprogramm in Gang setzen, das die vorhandenen Arbeitsplätze schont und neue Arbeitsplätze schafft. Die dritte Dimension dieser Lebensqualität neben der sozialökonomischen und der ökologischen ist das geistige Leben. Bildung, Kultur und Medien sollen Ausdruck unserer Freiheit sein. Ihre Vielgestaltigkeit, ihre Pluralität werden ein Stück unseres gesellschaftlichen Reichtums sein. Aufgabe der Regierung wie des Parlaments ist es, über diesen Reichtum zu wachen und neuerlichen Deformierungen entgegenzuwirken. Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität. Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein. Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. (Beifall bei CDU, DA und DSU) Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt. Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein. <?page no="255"?> Textanhang 255 Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. (Beifall) Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten. Wir werden gefragt: Haben wir nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben! Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. Not macht auch erfinderisch! (Heiterkeit und Beifall) Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben. Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben. (Beifall) Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde. Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden. Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung. Aber es geht nicht nur um die letzten 40 Jahre in Deutschland. In Deutschland ist viel Geschichte aufzuarbeiten, vor allem die, die wir mehr den anderen zugeschoben und daher zu wenig auf uns selber bezogen haben. Aber wer den positiven Besitzstand der deutschen Geschichte für sich reklamiert, der muß auch zu ihren Schulden stehen, unabhängig davon, wann er geboren und selbst aktiv handelnd in diese Geschichte eingetreten ist. (schwacher Beifall) Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns (auch) zu diesem doppelten Erbe. Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. Es geht um Europa. Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land. Die eigentlichen Probleme in unserer Welt wir wissen es alle sind nicht die deutschdeutschen oder die Ost-West-Probleme. Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. (Beifall) <?page no="256"?> 256 Refonnulierungen Wenn daraus nicht eine tödliche Bedrohung für das Leben der Menschen erwachsen soll, haben auch wir uns an der Überwindung dieser Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Errichtung einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung ist nicht nur Sache der Großmächte oder der UNO. sondern ist Aufgabe jedes Mitgliedes der Völkergemeinschaft. Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländem in unserem Land kann ein Beitrag zu einer neuen Qualität des Miteinanders verschiedener Völker sein. Die Klärung der Rechtslage für ausländische Mitbürger und die Einsetzung von Ausländerbeauftragten auf verschiedenen Ebenen wird dafür ebenso nötig sein wie die Fördemng solcher Initiativen, die kulturelle Vielfalt als Reichtum erfahren lassen. Die Befreiung Nelson Mandelas und die Aufhebung der Apartheid in Südafrika, das Schicksal der tropischen Regenwälder und die Hilfe für die Dritte Welt bewegen uns wie unsere eigenen Probleme, ja nicht nur „wie“ es sind unsere eigenen Probleme. (Beifall) Wir wissen: Unsere Fähigkeit, die eigenen Probleme zu lösen, hängt davon ab, wie wir bereit sind, auch die Probleme der anderen zu sehen. Frau Präsidentin, verehrte Abgeordnete! Die gebildete Koalitionsregierung steht vor großen, schwierigen und sehr konkreten Aufgaben, die klare und strategische Entscheidungen notwendig machen. Die wirtschaftspolitische Zielstellung der Koalitionsregierung besteht darin, die bisherige staatlich gelenkte Kommandowirtschaft auf eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft umzustellen. Die Umstellung von staatlichem Plandirigismus auf soziale Marktwirtschaft muß mit hohem Tempo, aber auch in geordneten Schritten erfolgen. In den nächsten Monaten wird beides noch nebeneinander existieren müssen, wobei wir nach dem Motto zu arbeiten haben: „Soviel Markt wie möglich und soviel Staat wie nötig“. Eine herausragende Bedeutung messen wir in diesem Zusammenhang dem Wettbewerb aller Unternehmen bei. Er ist das wichtigste Regulativ der Marktwirtschaft. Die Koalitionsregierung wird Gesetze zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, ein Kartellgesetz, die Überarbeitung des Bankgesetzes durchführen und vor allen Dingen ein Gesetz über die Entflechtung von Kombinaten und Großbetrieben zur Schaffung branchentypischer, leistungsfähiger Unternehmenseinheiten einbringen. In diesem Zusammenhang sind Aufgaben und Struktur der Treuhandanstalt so zu gestalten, daß damit ein Instrument zur Beeinflussung der Entflechtung volkseigener Betriebe und zur Überführung in geeignete Rechtsformen geschaffen wird. Der Abbau des Planungssystems in seiner bisherigen Form sollte mit dem Stichtag Währungsunion weitgehend erreicht sein. Ausgehend vom Angebot der Regierung der Bundesrepublik Deutschland an die Regierung der DDR, eine Wähnmgs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu schaffen, ist es die Aufgabe der Koalitionsregierung, die dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen zu gewährleisten. Bei den Verhandlungen mit der Bundesregierung gehen wir von dem festen Grundsatz aus, daß Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eine untrennbare Einheit bilden müssen und nur gleichzeitig in Kraft treten können. (Beifall) <?page no="257"?> Textanhang 257 Dies schließt Anschubfinanzierungen, insbesondere im Sozialbereich, ein. Wir bestätigen die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR bei Löhnen und Gehältern im Ergebnis im Verhältnis 1: 1 erfolgen sollte, bei Renten ebenfalls im Verhältnis 1: 1, wobei ihre schrittweise Anhebung auf das Nettorentenniveau von 70 % nach 45 Versicherungsjahren erfolgen sollte, und bei Sparguthaben und Versicherungen mit Sparwirkung auch im Verhältnis 1: 1, wobei Wege eines differenzierteren Umtausches gegangen werden sollten. Differenzierter sind die Inlandsschulden der VEB, Genossenschaften und der privaten Betriebe zu beachten. Hier ist bei der Währungsumstellung prinzipiell der Produktivitätsunterschied zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zugrunde zu legen. Dabei neigt die Regierung besonders bei dem privaten und genossenschaftlichen Sektor zur weitgehenden Streichung der Inlandsschulden, um dessen Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und bei den VEB zur Umbewertung der Inlandsverschuldung mindestens im Verhältnis 2: 1 zu kommen sowie Anpassungshilfen für wettbewerbsfähig organisierbare Betriebe, z.B. durch Entschuldung im Rahmen der in der EG üblichen Sanienmgswege(regelungen), zu geben. So wie für Griechenland, Portugal oder Spanien mehrjährige Übergangsregelungen zum Schutz ihrer eigenen Wirtschaft galten, werden wir vergleichbare Schutzmechanismen mit der Bundesregierung vereinbaren müssen. Bei der Übernahme des Wirtschafts- und Sozialrechtssystems der Bundesrepublik ist darauf zu achten, daß in Übergangszeiten die notwendigen Sonderregelungen getroffen werden. Wir denken hierbei an das Saarland-Modell. Gleichzeitig sollten diskriminierende Wirtschafts- und Handelsbeschränkungen abgebaut werden. Die Koalitionsregierung wird insbesondere anstreben, die Kreativität und Motivation der Menschen in der DDR in den raschen Übergang zur sozialen Marktwirtschaft einzubringen. Besonders durch einen breiten Zustrom von privatem Kapital wird eine durchgreifende Besserung der wirtschaftlichen Lage in der DDR erwartet. Die am Ende der 9. Wahlperiode der Volkskammer der DDR von der Regierung Modrow noch vorgelegten Gesetze zur Gewerbefreiheit, zur Gründung von privaten Unternehmen einschließlich Reprivatisierung, zum Bankgesetz und zur Ergänzung des Steuerrechts haben für viele DDR-Bürger einen Impuls gesetzt, sich selbständig zu machen. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es allerdings auf dem Gebiet der Reprivatisierung der 1972 verstaatlichten Unternehmen nur Einzelbeispiele, bei denen die Übergabe abgeschlossen ist. Die in breitem Maße vorhandenen Wünsche zur Errichtung privater Gewerbe scheitern allzuoft am chronischen Mangel von Gewerberäumen. Es ist das Ziel der Koalitionsregierung, hier sofort eine deutliche Änderung eintreten zu lassen. Deshalb werden umgehend gesetzliche Regelungen zum Niederlassungsrecht, zur Schaffung von Gewerberaum, von Berufs-, Vertrags- und Gewerbefreiheit sowie für ein Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb erarbeitet werden. <?page no="258"?> 258 ReformuUerungen Radikale Änderungen zur Durchsetzung unseres marktwirtschaftlichen Konzepts sind allerdings nicht möglich, wenn nicht eine umfassende Veränderung der Preisgestaltung verwirklicht wird. Preise sind die Steuerungssignale des Marktes. Ohne ihre freie Gestaltung kann Marktwirtschaft nicht funktionieren. Im Zusammenhang damit ist die Steuergesetzgebung dahingehend zu verändern, daß mit günstigen Startsteuersätzen für kleinere und mittlere Unternehmen, mit günstigen Startsteuersätzen für Investoren aus dem In- und Ausland Rahmenbedingungen für die schnelle Untemehmensgründung geschaffen werden. Damit ist schrittweise der Wegfall des Abgabesystems der produktgebundenen Abgaben und Subventionen einschließlich des Beitrages für gesellschaftliche Fonds zu verbinden. Unser Ziel ist es, noch 1990 ca. 500 000 Arbeitsplätze im Mittelstandsbereich zu schaffen. Wir wollen damit auf dem Arbeitsmarkt einen Ausgleich schaffen für Arbeitsplätze, die aus zwingenden Gründen der Wirtschaftlichkeit oder des Umweltschutzes nicht zu halten sind. Eine gute Mittelstandspolitik wird ein Schwerpunkt zukünftiger Wirtschaftspolitik sein! Ich möchte an dieser Stelle einige grundsätzliche Bemerkungen zu unserer künftigen Haushalts- und Finanzpolitik machen. Die Aufgabe der Regierung bei der Aufstellung und Ausführung des Staatshaushaltes für 1990 ist getragen von der notwendigen Stabilisierung der Staatsfinanzen und den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Eine konkretere Aussage ist erst dann möglich, wenn der neuen Regierung eine vollständige Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage vorliegt. Wir werden bemüht sein, so bald wie möglich hierüber öffentlich Auskunft zu geben und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Heute kann ich nur soviel sagen: Der jetzt vorliegende Voranschlag zum Haushalt 1990 ist auf die Bedingungen der sozialen Marktwirtschaft auszurichten. Eine hohe Effizienz in der Wirtschaft für stabile Staatseinnahmen sowie die wirtschaftliche und sparsame Verwaltung der Ausgaben sind unabdingbare Voraussetzungen zum weitestgehenden Ausgleich des Haushaltes 1990. Trotz sparsamer Haushaltsführung, die wir uns vornehmen, wird eine begrenzte Kreditaufnahme nicht zu umgehen sein. Alle Minister und Vorsitzenden der Räte der Bezirke sind in die Verantwortung genommen, die dem Staat aus Steuern und anderen Abgaben zustehenden Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Das betrifft auch Aufgaben wie die Umstellung der Kapitalgesellschaften auf die Steuern, die Festsetzung und den Einzug der Steuern durch die zu schaffenden Steuerbehörden. Insgesamt muß das Steuersystem der Initiative und Leistungsbereitschaft unternehmerischer Tätigkeit Rechnung tragen. Für 1990 wird durch den Staatshaushalt der Republik gesichert, daß über den Finanzausgleich den Bezirken und Kommunen der nach strenger Wirtschaftlichkeit berechnete Finanzbedarf gedeckt wird. Die Souveränität der Kommunen in der Haushaltswirtschaft wird weitgehend hergestellt. Der Voranschlag zum Haushalt 1990 geht davon aus, daß die sozialen Versorgungs- und Betreuungsleistungen des Staates gegenüber der Bevölkerung finanziell abgesichert werden. <?page no="259"?> Textanhang 259 Die Arbeiten im betreffenden Ressort sind in Abstimmung mit dem Bundesfinanzministerium auf die Rechtsanpassung mit der Bundesrepublik gerichtet. Vorrangig zu nennen sind die Grundsätze des Haushaltsrechts, die Haushaltsordnung sowie das bundesdeutsche Steuerrecht, insbesondere die Umsatz- und Verbrauchssteuer. Diese Aufgaben sind so zu erfüllen, daß den notwendigen Anforderungen bei (der) Einführung der Währungsunion Rechnung getragen wird. Unsere Bürger haben verständlicherweise hohe Erwartungen an unsere Energie- und Umweltpolitik. In der Energiepolitik folgen wir dem Ziel einer umweltfreundlichen und rationellen Energieerzeugung und Energieverwendung. Wir gehen davon aus. daß die Energieerzeugung aus Rohbraunkohle in den kommenden Jahren drastisch reduziert werden muß, um die hohe Luftbelastung durch die stark schwefelhaltige Rohbraunkohle aus DDR-Aufkommen deutlich zu senken und die weitere Zerstörung wertvollen Kulturgutes und der Landschaft durch überdimensionalen Kohleabbau einzuschränken. Wir werden stärker auf die Nutzung umweltfreundlicher Energieträger wie Erdöl, Steinkohle und Erdgas zurückgreifen müssen. Ein Schwerpunkt der Rekonstruktion der Braunkohlekraftwerke ist die Rauchgasentschwefelung und die Erhöhung des Wirkungsgrades bei der Energieerzeugung. Auch diese Probleme, die sich aus der notwendigen Bereitstellung ausreichender Energieträger ergeben, kann die DDR nicht alleine lösen. Wir setzen deshalb auf einen schnellen Energieverbund mit der Bundesrepublik, um die dort vorhandenen Kapazitätsreserven zu nutzen. Wir gehen davon aus, daß wir wohl auf absehbare Zeit nicht auf die Nutzung von Kernenergie verzichten können. Die Gutachten werden hier das entscheidende Wort zu sprechen haben. Wir werden nach der Entscheidungsfindung die vorhandenen Kernkraftwerke durch Rekonstruktion und Modernisierung auf international geltenden Sicherheitsstandard zu bringen haben. Mit steigender Wirtschaftskraft werden die Möglichkeiten zur Finanzierung der nicht billigen Umweltschutzmaßnahmen wachsen. Dazu zählt auch Erforschung und wirtschaftliche Nutzung alternativer Energieträger. Wir werden die Einführung umweltfreundlicher Technik steuerlich begünstigen. Der bevorstehende Strukturwandel der Wirtschaft muß und wird so zu umweltfreundlicher und abproduktanner, marktgerechter Produktion führen. Neue Industrieansiedlungen werden allerdings schon jetzt den EG-Standards (voll) entsprechen müssen. Ein Schwerpunkt ist die Erarbeitung von Sanierungs- und Stillegungsprogrammen für industrielle und kommunale Altanlagen mit starker und unvertretbarer Umweltbelastung. Der Umlenkung frei werdender Arbeitskräfte in andere wichtige Bereiche, insbesondere in die Infrastruktur, in den Handels- und Dienstleistungsbereich und in das Bauwesen, gilt dabei besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Durch den Aufbau einer leistungsfähigen Umweltindustrie kann unsere Lebensqualität entscheidend verbessert werden. Viele neue Arbeitsplätze werden so entstehen. Die Regierung wird geeignete Maßnahmen ergreifen, die den sparsamen Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Recycling und recyclinggerechte Produktion stimulieren. <?page no="260"?> 260 Reformulierungen Wir werden gesetzliche Regelungen zu progressiv gestaffelten Abgaben für Schadstoffemissionen in Wasser. Luft und Boden und andere Umweltbeeinträchtigungen erarbeiten und die Bildung eines staatlichen Ökofonds aus Abgaben. Gebühren und Stiftungen zur Unterstützung umweltverbessernder und naturschützender Maßnahmen, insbesondere für unvorhersehbare ökologische Folgemaßnahmen und Altlastsanierungen, einführen. Das erfordert: eine wirksame, dem internationalen Stand entsprechende Umweltschutzgesetzgebung, eine umfassende staatliche Umweltschutz- und Umweltkontrolle, eine rechtsverbindliche Raum- und Flächenordnung zur Sicherung des Flächen-, Landschafts- und Naturschutzes in kommunaler, regionaler und überregionaler Abstimmung und eine staatliche Förderung der Umweltforschung. Die komplizierte Wirtschaftssituation in unserem Land spiegelt sich auch in einer unterentwickelten Infrastruktur, insbesondere im Bereich des Verkehrs-, des Post- und Fernmeldewesens und im Bauwesen, wider. Der Aufbau eines leistungsfähigen Verkehrswesens ist eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, für wirtschaftliches Wachstum und für den Wohlstand des Landes. Wir brauchen einen Güterverkehr, der auf die Bedürfnisse unserer sich entwickelnden Wirtschaft ausgerichtet ist und das Zusammenwachsen zu einer deutschen Wirtschaftsgemeinschaft fordert. Für den Personenverkehr benötigen wir Verkehrsmittel und Reiseverbindungen, die dem Reisebedürfnis der Menschen unseres Landes und den gestiegenen Anforderungen an die Qualität der Verkehrsmittel Rechnung tragen. Dies gilt für die Deutsche Reichsbahn ebenso wie für die Kraftfahrzeuge. Leistungsfähige Verkehrswege sind eine Grundlage für die dauerhafte Überwindung der Teilung Deutschlands und für ein Zusammenwachsen in ganz Europa. Die Chancen der Marktwirtschaft wollen wir auf das nachhaltigste mit der Belebung von Städtebau und Architektur verbinden. Den Kommunen muß das Recht zukommen, das Bauen in ihren Territorien weitestgehend selbst zu bestimmen. Die Städte- und Wohnungsbauforderung, einschließlich ihrer materiellen Sicherstellung, gehört zu den Prioritäten der Regierungspolitik. Im Zusammenwirken mit den künftigen Ländern und den Kommunen setzt sie sich für die Stadt- und Dorferneuerung als Hilfe zur Selbsthilfe ein. Dringlich sind die Wiedergewinnung, Erhaltung und Bewahrung der im europäischen Kulturraum so geschätzten historisch geprägten Stadtbilder. Gleichermaßen wird sich die Regierung der Revitalisierung der in den zurückliegenden Jahrzehnten geschaffenen Wohngebiete zuwenden. . (Beifall, vereinzelt bei der SPD) Bürgerinitiative, Länderverantwortung und gesetzgeberisches, hoheitsrechtliches Handeln des Staates sollen sich nach dem Willen der Regierung in einer wahrhaft demokratischen Baukultur, in einer sozial und ökologisch orientierten Entwicklung der Regionen, Städte und Dörfer wiederfmden. Die Regierung ist sich der Schwere dieser Aufgabe, die enorme Mittel und schöpferische Kräfte erfordert, bewußt. Sie wird das dazu nötige wirtschaftliche <?page no="261"?> Textanhang 261 Potential durch umfassende Förderung der unternehmerischen Initiativen des Baugewerbes fordern und alle Instrumentarien der Raumordnung und der Stadtplanung nutzen. Große Anstrengungen werden notwendig sein, um die erforderlichen Bauleistungen für den Ausbau und die Modernisierung der technischen und sozialen Infrastruktur und der Industrie sowie fur den Wohnungs- und Gesellschaftsbau, einschließlich kirchlicher Bauten, zu erbringen. Die Regierung stellt sich ihrer sozialen Verantwortung für die Sicherung angemessener Wohnbedingungen aller Bürger. Das erfordert eine Wohnungspolitik, mit der soziales Mietrecht und Mieterschutz gewährleistet (werden) sowie die Bewahrung, Erneuerung und Erweiterung des Wohnungsbestandes ermöglicht werden (wird). Mietpreisbindung für Wohnraum, die sich in Abhängigkeit von der allgemeinen Einkommensentwicklung regelt, ist unabdingbar. (Beifall, vor allem bei der SPD und PDS) Sozial Schwache erhalten Wohngeld. Kündigungsschutzregelungen für Mieter gehören zu den sozialen Grundsätzen der Koalition. In einer sozialen Marktwirtschaft ist Wohnraum jedoch nicht nur eine Versorgungsfrage. Durch Eigentumsbildung muß Wertbildung in privater Initiative ermöglicht werden. Das kommt zugleich der Werterhaltung und der Wohnkultur zugute. Bei beidem haben wir bekanntlich Nachholebedarf. Zum Post- und Fernmeldewesen möchte ich nur soviel sagen: Die Zeiten, in denen man 16 Jahre auf ein Telefon warten mußte, sollen vorbei sein. (Beifall) Wir wollen ein leistungsfähiges, schnelles und zuverlässiges System aufbauen, das die geschäftlichen wie privaten Verbindungen durch Briefe, Telefon und moderne Kommunikationsmittel sicherstellt, und so die Postunion mit der Bundesrepublik vorbereitet. Ziel der Regierung ist es, eine vielfältig strukturierte, leistungsfähige und ökologisch orientierte Land- und Forstwirtschaft in unserem Lande zu schaffen. In diesem Zusammenhang müssen wir sehr schnell unter anderem folgende Probleme lösen: 1. Die offenen Fragen im Zusammenhang mit dem Eigentum an Grund und Boden in der Land- und Forstwirtschaft. Im Namen der Regierung stelle ich hier fest: Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition. (Beifall) Wir gehen aber davon aus, daß künftig alle Eigentumsformen gleichgestellt werden müssen. Ein völlig neues Bodenrecht wird die Verfügbarkeit des Eigentums an Boden unter Berücksichtigung des Gemeinwohls und bei Ausschluß von Möglichkeiten zu Spekulationen sichern. 2. Wir haben die Aufgabe, die Landwirtschaft schrittweise an den EG-Agrarmarkt heranzuführen. Dazu brauchen wir Schutzmaßnahmen jedweder Art für eine mehrjährige Übergangsperiode. Es gilt, unsere Landwirtschaft zu erhalten und die Wettbewerbsfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe möglichst schnell herzustellen. Wir müssen die Zusammenhänge zwischen Produktion und Absatz in Ordnung bringen, indem der Ministerrat die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür setzt. <?page no="262"?> 262 Reformulierungen Dazu gehören ein System neuer Agrarpreise und Steuern mit schrittweisem Übergang zur (zu) freien(r) Preisbildung, die Sicherung der Interessen der DDR-Landwirtschaft bei zukünftigen Quotenregelungen, die schnelle Erneuerung der landtechnischen Ausrüstung, die schrittweise Einführung von Umweltnormen der EG in unserer Landwirtschaft und die beschleunigte Entwicklung und Förderung von Gewerbe und Industrien für Verarbeitung und Veredelung von Agrarprodukten im ländlichen Raum. 3. Zur Förderung genossenschaftlicher Betriebe und Einrichtungen wird unsere Regierung ein neues Genossenschaftsrecht vorlegen. Dabei werden auch die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen den Genossenschaftsmitgliedern und (den) Genossenschaften zu ordnen sein. 4. Unsere Sorge gilt gleichermaßen dem Wald. Neben der Klärung vieler offener Fragen im Zusammenhang mit dem Eigentum geht es um eine völlig neue Einstellung zum Wald. Seine ökologischen und landeskulturellen Leistungen haben Vorrang vor der Holznutzung. (Beifall) Meine Damen und Herren! Eine Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern sie ist ein Mittel, um die Lebensbedürfnisse der Menschen zu sichern, um die Entfaltung der Menschen zu ermöglichen und um die Verwirklichung menschlicher Werte zu fordern. Arbeitsforderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere auch für Frauen, Alleinerziehende, für Eltern kinderreicher Familien und für Geschädigte, ist Ziel unserer Regierungspolitik. Die Bekämpfung der zu erwartenden Arbeitslosigkeit erfordert folgende Sofortmaßnahmen: - Umschulung und Qualifizierung von Werktätigen, - Aufbau leistungsfähiger Arbeitsämter, finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit sowie - Schutz der Beschäftigten durch ein Kündigungsschutzgesetz, ein Betriebsverfassungsgesetz und ein Tarifvertragsgesetz. Unsere Sorge muß immer zuerst denen gelten, die aus Gründen, die sie selbst nicht zu verantworten haben, nicht aus eigener Kraft am Wohlstand teilhaben können. Wir müssen diejenigen stützen, die zu den Schwachen der Gesellschaft gehören. Wir müssen sicherstellen, daß die Früchte der gemeinsamen Arbeit gerecht verteilt werden, und wir müssen dafür eintreten, daß der, der Lasten trägt, auch Entlastung bekommt. Gerade in einer Gesellschaft, in der sich das Spiel der freien Kräfte entfalten kann, ist es wichtig, daß die stärkste Kraft, also der Staat, sich zum Anwalt der Schwächeren macht. Dabei kann es nicht nur um die Zuweisung materieller Hilfen, beispielsweise an Behinderte, gehen, sondern es müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, daß nicht Almosen verteilt werden, sondern einklagbare Rechtsansprüche (ent)bestehen. (Beifall) Ich möchte an dieser Stelle vom ungeborenen Leben sprechen. Wir alle wissen, daß die Frauen und Männer - und beide Partner stehen in der Verantwortung, darüber sind sich so manche Männer anscheinend gar nicht im klaren an den Entscheidungen oft schwer tragen. Aber wir kennen auch die Mißstände, die eine Entscheidung gegen das Leben herbeiführen. Wir brauchen mehr Entscheidungen für das Leben. Wir brauchen wirtschaftliche <?page no="263"?> Textanhang 263 und ideelle Hilfestellungen, die insbesondere den Frauen die Entscheidung für das Leben erleichtern und nahelegen: (Beifall) Die soziale Unterstützung und Absicherung der Alleinerziehenden muß verstärkt werden. Und ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Mütter und Väter in gleicher Weise zur elterlichen Sorge für ihre Kinder verpflichtet sind. Aber nicht nur Alleinerziehende, sondern auch viele Eheleute und feste Partner stehen vor Problemen, weil die Familie bisher moralisch und finanziell nicht genügend gefordert worden ist. Notwendig ist ein umfassendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen und eine Abstimmung von Arbeitszeiten und Familienzeiten, die der Familie und vor allem den Kindern zugute kommt. Deshalb brauchen wir flexiblere Arbeitszeiten, Arbeitszeitverkürzung und mehr Teilzeitarbeit. Wir wollen aber auch denen helfen, die sich eine Zeitlang ganz der Erziehung der Kinder, einem behinderten Kind oder der Betreuung der eigenen Eltern widmen. (Beifall) Wir werden diesen Männern und Frauen helfen, damit sie sich nach der Erziehungs- oder Pflegephase wieder im Berufsleben zurechtfinden. Ziel der Regierung ist es, daß solche Phasen finanziell ausgeglichen und in die Anrechnung von Rentenzeiten einbezogen werden. (Beifall) Die Lastenverteilung in dieser Gesellschaft - und das heißt auch in der Familie ist oft ungleich. Wenn der Grundwert der Gleichheit konkret werden soll, dann reicht es nicht aus. daß so viele Frauen im Arbeitsleben stehen und daraus auch ein Mehr an Selbstbewußtsein ableiten, sondern dann müssen unsere Frauen auch die gleichen Aufstiegschancen, die gleiche Bezahlung, überhaupt gleiche Chancen in allen Berufen haben. Die Gleichstellung im Beruf darf nicht auf dem Rücken der Frauen selbst verwirklicht werden. Zur Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft werden wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen, d.h. in den Kommunen, in den Ländern und beim Ministerrat, Beauftragte einsetzen, die darauf achten, daß die Gleichstellung auch im Alltag von Betrieben und Verwaltungen Wirklichkeit wird. (Beifall) Wir brauchen soziale Sicherungssysteme, die die Bürger als Arbeitslose, Kranke und Alte vor materieller Not schützen. Wir brauchen aber nicht den einen Wohltäter, ganz gleich, ob er FDGB oder anders heißt. Die zentralistische Verwaltung der Sozialversicherung beim FDGB entspricht nicht den Erfordernissen eines demokratischen Sozialstaates. Eine Neuorganisation ist notwendig: (Beifall) die Sozialversicherung muß aus dem FDGB und der Staatlichen Versicherung herausgelöst werden; - Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung sind (zu)künftig zu trennen; für alle Aufgaben der Krankenversicherung muß ein kassenartenneutraler Träger geschaffen werden. <?page no="264"?> 264 Refonnulierungen Schließlich zahlen wir doch alle unsere Beiträge und haben (damit auch) ein Recht- (sanspruch) auf die Leistung. Es wird in Zukunft selbstverwaltete voneinander getrennte Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen geben. Meine Damen und Herren! Der Krisenzustand in unserem Gesundheitswesen ist hinlänglich bekannt. Wir brauchen mehr Ärzte, mehr Krankenschwestern und Krankenpfleger. Wir brauchen eine medizinische Behinderten- und Altenhilfe und eine Neugestaltung der medizinischen Rehabilitation. Wir müssen die medizinische Ausstattung der Krankenhäuser verbessern und viele Krankenhäuser, viele Pflegeheime und Feierabendheime rekonstruieren. Dabei muß auch für die eindeutige Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlich-technischen Infrastruktur gesorgt werden. Das gewachsene System von Polikliniken und Einrichtungen des betrieblichen Gesundheitswesens ist sinnvollerweise zu erhalten, und (sowie) die Niederlassungsfreiheit für Ärzte und Fachärzte ist zu sichern. Im Zusammenhang mit der Gesundheit kommt dem Sport eine besondere Bedeutung zu. Wir wollen weg von der einseitigen Förderung des Leistungssports und hin zu einer verstärkten Förderung des Breiten- und Behindertensports. (Beifall) Dazu muß die freie Wahl der sportlichen Betätigung möglich sein. Deshalb werden wir die Kommunen in Fragen der regionalen Entwicklung des Sports unterstützen. Das schließt aber eine besondere Förderung des Leistungssports nicht aus. In Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland sollte darauf hingewirkt werden, daß zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona eine gesamtdeutsche Mannschaft entsandt wird. Wir unterstützen von ganzem Herzen den Gedanken, innerhalb der nächsten zehn Jahre Olympische Spiele in Berlin, der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands, abzuhalten. (Beifall bei CDU, DSU. den Liberalen, SPD) Dies wäre ein weithin sichtbares Zeichen ihrer neugewonnenen Funktion als Bindeglied zwischen den Völkern in Ost und West. Ein katastrophales Erbe übernehmen wir von der SED-Herrschaft auch im Bildungswesen. Besonders in den letzten Jahren haben sich große Probleme und Fehler angestaut. Es gilt, das bürokratisch-zentralistische System staatlicher Leitung zu beseitigen und zu einem ausgewogenen Verhältnis von staatlicher Verantwortung und gesellschaftlicher Initiative zu kommen. Die in den letzten Jahrzehnten zementierte Einheitlichkeit muß durch ein differenziertes und flexibles Bildungswesen ersetzt werden, das auch alternative Modelle nicht ausschließt. Die Regierung stellt sich das Ziel, durch strukturelle Veränderungen jene Freiräume zu schaffen, in denen sich ein verantwortliches Zusammenwirken aller in der Bildung Tätigen entfalten kann. Die Kommandostruktur muß durch transparente Entscheidungsprozesse ersetzt werden. Für die allgemeinbildende Schule erfordert dies rechtlich geregelte Formen, in denen sich das Recht und die Aufgabe der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, die fachliche und pädagogische Autorität einer kompetenten Lehrerschaft und die partnerschaftliche Hinführung der Kinder und Jugendlichen zu eigenverantwortlichem Handeln wechselseitig ergänzen. Dies bezieht sich auch auf das Sonderschulsystem, das zudem in vielen Bereichen besonderer Förderung und Fürsorge bedarf. <?page no="265"?> Textanhang 265 Im Vorfeld der Schule muß der Vorschulbereich durch die gemeinsame Anstrengung aller beteiligten staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Kräfte in seinem Bestand gesichert und in seiner pädagogischen Bedeutung weiterentwickelt werden. Die auf die allgemeinbildende Schule folgende Fach- und Berufsausbildung muß in Dauer, Niveau und Gestaltung viel stärker der realen Vielfalt beruflicher Anforderungen entsprechen. Das Hochschulwesen bedarf eines Rahmenrechts, das jenen Grad an Gemeinsamkeit und Übereinstimmung sichert, der im Interesse von Forschung, Lehre und Studium liegt, zugleich aber den Universitäten und Hochschulen ein hohes Maß an gesellschaftlicher Eigenverantwortung garantiert. Die Leitungs- und Entscheidungsgremien müssen die legitimierte Teilhabe der verschiedenen Personengruppen, die an den Universitäten und Hochschulen tätig sind, ermöglichen. Dabei wird einerseits die besondere Verantwortung und Sachkompetenz des Lehrkörpers und andererseits das existentielle Interesse der Studenten an hochwertigen und verwendungsfähigen Kenntnissen und Fähigkeiten sorgfältig zu beachten sein. Die Freiheit von Lehre und Forschung und der Wettstreit um Ideen und Qualität sind die bewegenden Momente akademischen Lebens. Die Forschungs- und Technologiepolitik hat die folgenden Ziele: die Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu erhalten. die Lebensbedingungen zu verbessern, die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und das menschliche Wissen zu vertiefen. Für die Wissenschaften den rechtlichen Rahmen und die finanzielle Grundlage zu sichern, ist Aufgabe des Staates, wobei die Förderung der Forschung auch ein Anliegen der Wirtschaft sein sollte. Grundsätzlich hat jedoch der Staat die Finanzierung der Grundlagenforschung an staatlichen, wissenschaftlichen Institutionen abzusichern. Nicht zuletzt gilt den Lebensbedingungen der Schüler, Lehrlinge und Studenten und ihrer beruflichen Aussicht die Sorge der Regierung. Wir wollen eine offene Jugendarbeit als Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft. Neu entstehende Jugendorganisationen müssen Möglichkeiten der Arbeit eingeräumt erhalten. Dabei ist zu sichern, daß bisher bestehende staatliche Jugendeinrichtungen auch weiterhin für die Jugendarbeit zur Verfügung stehen. (Beifall) Auf dem Gebiet der Kultur werden wir eine Politik verfolgen, die ein von jeder Reglementierung befreites, ungehindertes kulturell-künstlerisches Schaffen gewährleistet und sich allen geistigen Schätzen unseres Volks, Europas und der Welt öffnet. Die Regierung betrachtet es als ihre Pflicht, Kultur und Kunst zu schützen und zu fördern. Sie erkennt die Notwendigkeit der Subventionierung von Kultur und Kunst an. (vereinzelt Beifall) Für die Unterstützung kultureller Aufgaben von überregionaler Bedeutung regen wir einen zentralen Kulturfonds durch eine gesamtdeutsche Kulturstiftung an. <?page no="266"?> 266 Refonmilierungen Die Regierung wird die Voraussetzungen zur Dezentralisierung und Föderalisierung von Kultur und Kulturpolitik schaffen und den Aufbau der Kulturhoheit der Länder vorbereiten. Die Regierung wird dafür Sorge tragen. Kultur- und Kunstschaffende in ein differenziertes Netz sozialer Maßnahmen einzubinden. Wir werden den urheberrechtlichen Schutz der Kunstwerke garantieren, das Versicherungssystem für Kulturschaffende aufrechterhalten und auf eine kunstfreundliche Steuergesetzgebung hinwirken. Wohl nirgends war in der Vergangenheit der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit so kraß wie in unserer Medienlandschaff. Die neue Regierung erklärt: Presse, Rundfunk und Fernsehen sind frei. (lebhafter Beifall) Eine demokratische Ordnung setzt unabhängige Medien und den Wettbewerb der Meinungen voraus. Die Abkehr von dem früheren Informations- und Meinungsmonopol der SED und die Zuwendung zu einer pluralistischen Medienstruktur dürfen jedoch weder dem Selbstlauf überlassen noch der Gefahr neuerlicher Monopolbildungen ausgesetzt sein. (Beifall) Mit der Einrichtung eines Ministeriums für Medienpolitik will die Regierung helfen, unterschiedliche Bemühungen zusammenzuführen und den Weg in eine freie und vielfältige Medienlandschaft zu bahnen. Die Ausarbeitung eines Mediengesetzes ist unter Berücksichtigung späterer Länderkompetenzen bald abzuschließen. Bis zu seiner Verabschiedung schlagen wir der Volkskammer vor, das Mandat des Medienkontrollrates zu erneuern. Angesichts des Konkurrenzdrucks bundesdeutscher Printmedien scheint es geboten, schnellstmöglich kartellrechtliche Bestimmungen zu erlassen. Ebenso dringend ist eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen. (Beifall vor allem bei der SPD) Frau Präsidentin, verehrte Abgeordnete! Mir persönlich liegt die Rechtsstaatlichkeit besonders am Herzen. Das bisherige Rechtswesen diente im wesentlichen der Absicherung der bestehenden Machtstrukturen und sorgte dafür, daß jegliche oppositionelle Regung kriminalisiert und im Keim erstickt wurde. Mit welcher Unerbittlichkeit und Härte dabei vorgegangen wurde, das haben Tausende Bürger am eigenen Leibe erfahren. Die Rehabilitierung von Bürgern, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt und arbeitsrechtlich benachteiligt wurden oder andere Nachteile zu Unrecht erlitten, wird ein wesentliches Anliegen neuer Rechtspolitik sein (müssen). (Beifall) Die Regierung wird dafür Sorge tragen, daß das Justizwesen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen umgestaltet und das Prinzip der Gewaltenteilung durchgesetzt wird. Insbesondere halten wir folgende Maßnahmen für erforderlich: 1. Bildung eines Verfassungsgerichts <?page no="267"?> Textanhang 267 2. Schrittweise Schaffung gesonderter Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichte, zunächst im Rahmen ordentlicher Gerichtsbarkeit. 3. Umgestaltung der Vertragsgerichte in ordentliche Gerichte. 4. Eingliederung der Militärgerichte sowie der Militärstaatsanwaltschaften in das zivile Justizwesen und 5. Stärkung der Rechtsanwaltschaft. Hinsichtlich der Gewährleistung des Personen- und Datenschutzes werden wir uns am entsprechenden Recht der Bundesrepublik orientieren. Dem Parlament unterbreiten wir den Vorschlag, einen Datenschutzbeauftragten einzusetzen. In Zukunft wird es in unserem Land keine Geheimpolizei mehr geben. (lebhafter Beifall) Eine Verfassungsschutzbehörde — auch dies ist eine Lehre der Vergangenheit — darf keine polizeilichen bzw. strafprozessualen Befugnisse erhalten. Die Angehörigen der Deutschen Volkspolizei müssen alles in ihren Kräften Stehende tun, gemeinsam mit den Bürgern ihren Dienst am Gemeinwohl, für die Freiheit und Würde der Bürger zu leisten. Loyalität zur Regierung, Gesetzestreue, Orientierung an den Grund- und Menschenrechten und bürgernahe Arbeitsweise sind Kernpunkte der demokratischen Erneuerung. Die Volkspolizei ist eine zivile Ordnungskraft. Sie darf nur auf der Grundlage von Gesetzen zum Wohle des Gemeinwesens tätig werden. Sie unterliegt öffentlicher und parlamentarischer Kontrolle. (Beifall) Die Angehörigen der Organe des Ministeriums für Innere Angelegenheiten, die ihren Dienst für die Öffentlichkeit vornehmlich in der Öffentlichkeit versehen, müssen durch ihr Auftreten und Einschreiten die demokratische Erneuerung und Rechtsstaatlichkeit glaubhaft verkörpern. Mit der Einführung der Länder wird die Polizeihoheit im wesentlichen bei den Ländern liegen. Das bietet für die Effizienz und Akzeptanz der Polizei neue, günstigere Bedingungen. Je enger die Polizei mit dem Gemeinwesen verbunden ist, desto besser kann sie ihre soziale Funktion mit wirklicher Bürgernähe im Interesse des Gemeinwohls wahmehmen. Demokratie bedarf neben der Rechtsstaatlichkeit einer weiteren Bedingung: Dezentralisierung der Macht. Bisher ging alle Macht von Berlin aus. In Berlin wurde entschieden. Ausgehend davon, daß nach der Wahl demokratisch legitimierter Volksvertretungen auf der Ebene der Kreise. Städte und Gemeinden am 6. Mai 1990 die Bezirkstage die einzigen Vertretungskörperschaften sein werden, die nicht aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind, und deren Zusammensetzung damit nicht der tatsächlichen politischen Kräftekonstellation im jeweiligen Territorium entspricht, sollte das Präsidium der Volkskammer den Bezirkstagen empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. (Beifall) <?page no="268"?> 268 Reforniulierungen Im Interesse der Regierbarkeit des Landes werden wir darauf hinwirken, daß die Räte der Bezirke bis zur Länderbildung nur noch als Verwaltungsorgane, als Bindeglied im Sinne einer Auftragsverwaltung tätig werden. Wir werden die Macht dezentralisieren. 1991 soll es wieder Länder geben. Die Wahlen dazu sollen im Spätherbst dieses Jahres stattfinden. (vereinzelt Beifall) Die Länderstruktur ist eine Grundbedingung fiir die deutsche Einheit, eine Grundbedingung für Demokratie und eine Bedingung für eine erfolgreiche Umstrukturierung unserer Wirtschaft. Wirtschafts- und Steuerreform müssen der Länderreform vorausgehen, denn neben historischen und kulturellen Gesichtspunkten ist die Eigenfinanzierung der Länder unter Beachtung des Finanzausgleichs ein Grundpfeiler des Föderalismus. Zur Herausbildung der kommunalen Selbstverwaltung werden gegenwärtig eine Kommunalverfassung und ein Länder-Einführungsgesetz erarbeitet. Was in den Ländern vor sich geht, einschließlich der Wahl der Landeshauptstadt, bestimmt dann jedes Land selbst. Wir haben in der DDR eine Vielzahl offener Gebietsfragen, die zum Teil vor der Länderbildung geregelt werden müssen. Die Menschen in den betroffenen Gebieten müssen dazu gehört werden. Fast 2000 Briefe mit geschichtlichen Abhandlungen und Unterschriftensammlungen ganzer Kreise sind dabei zu berücksichtigen. Ich komme zum letzten Schwerpunkt meiner Regierungserklärung. Unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten friedlichen Europa. (Beifall) Wir sind in der Regienmg für 16 Millionen Bürger verantwortlich, und das wird das Handeln dieser Regierung bestimmen. (Beifall bei der Fraktion Bündnis 90/ Grüne) Alle Deutschen haben eine gemeinsame Geschichte, die am Ende des zweiten Weltkrieges durch die Teilung Europas nur scheinbar unterbrochen wurde. Beide deutsche Regierungen sind sich einig darin, daß das Ziel der Verhandlungen nicht eine geschäftliche Partnerschaft sein kann, sondern eine wirkliche Gemeinschaft. Das wird den Geist der Verhandlungen bestimmen. Die Einigung muß aus dem Wunsch der Menschen und nicht aus den Interessen von Regierungen entstehen. (Beifall) Deutschland liegt in der Mitte Europas, aber es darf sich nie wieder zum Machtzentrum Europas erheben wollen. (Beifall) Wir wollen nicht zwischen den Stühlen der Völker Europas sitzen, sondern ein Pfeiler sein für eine Brücke der Verständigung. Deutschland muß ein Faktor des Friedens sein. Die Vereinigung Deutschlands soll die Stabilität in Europa festigen und die Schaffung einer gesamteuropäischen Ordnung des Friedens, der Demokratie und der Zusammenarbeit fordern. <?page no="269"?> Textanhang 269 In die deutsche Einheit wollen wir unsere Erfahrungen der Bedeutung eines inneren Friedens in der Gesellschaft einbringen. Wir wissen, daß wir dafür zuerst mit unserer Geschichte ins Reine kommen müssen. Es darf nicht mehr den einen Teil geben, der an allem Schuld war, und den anderen, der sich seine Unschuld vor der Geschichte angeblich bewahrt hatte. Auch wir haben uns zu der gemeinsamen Verantwortung für die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur bekannt. Die Einheit Deutschlands soll die Gemeinschaft der Europäer stärken. Die wesentliche Voraussetzung daflir ist die Garantie der Grenzen in Europa. Dafür ist auch grundlegend, daß sich unsere Nachbarn ihrer Grenzen mit Deutschland sicher sind. Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, wie sie im Görlitzer Vertrag der DDR mit Polen und im Warschauer Vertrag der Bundesrepublik mit Polen beschrieben ist, ist unverzichtbar. (lebhafter Beifall) Mit Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten soll die künftige deutsche Verfassung unter anderem den Artikel 23 des Grundgesetzes nicht mehr enthalten. Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben. (Beifall) Die Einigung ist möglich geworden im Zusammenhang mit der weltweiten Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Die Teilung war Ausdruck dieses Konfliktes. Die Entspannung steht im Zeichen der Menschenrechte und der Abrüstung. In dieser Phase der Entspannungspolitik sind Verteidigungspolitik und Abrüstungspolitik untrennbar miteinander verbunden. Auch in diesem Punkt besinnen wir uns auf die Wurzeln der demokratischen Erneuerung in unserem Land. Ein wesentliches Fundament dieser Erneuerung ist die Friedensbewegung. Es ist Aufgabe der Regierung der DDR, eine Politik zu verfolgen, die den Prozeß der Ablösung der Militärbündnisse mittels bündnisübergreifender Strukturen als Beginn eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems fordert. Ein europäisches Sicherheitssystem mit immer weniger militärischen Funktionen ist dabei unser Verhandlungsziel. Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs auf die Bereiche der Wirtschaft, Umwelt, Kultur, Wissenschaft und Technologie halten wir für ein Gebot der Stunde. Auf dem heutigen Gebiet der DDR wird sich für eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA befinden, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist. Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation wird sich für uns u.a. darin zeigen, daß wir die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und die der anderen Warschauer Vertragsstaaten in den Verhandlungen stets berücksichtigen. Die Regierung der DDR strebt eine drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte an. (lebhafter Beifall) Die DDR verzichtet auf Herstellung, Weitergabe, Besitz und Stationierung von ABC-Waffen und strebt Entsprechendes im geeinten Deutschland an. (Beifall) <?page no="270"?> 270 Reformulierungen Sie tritt außerdem ein für ein globales Verbot chemischer Waffen noch in diesem Jahr. Der nukleare Abrüstungsprozeß muß fortgesetzt werden. Wir erhoffen uns noch in diesem Jahr einen positiven Abschluß der Start-Verhandlungen über eine 50%ige Verringerung der strategischen Nuklearwaffen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Mit einer Ordnung des Friedens und der Sicherheit in Europa können Voraussetzungen geschaffen werden für die Ablösung der Rechte der Alliierten des zweiten Weltkrieges für Berlin und Deutschland als Ganzes. Die Regierung der DDR setzt sich dafür ein, daß diese Ablösung im Rahmen der Zwei-Plus-Vier-Gespräche erfolgt. Auch sie gehören in den Gesamtrahmen des KSZE-Prozesses zur Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Die KSZE hat für uns eine besondere Bedeutung. Insbesondere tritt die Regierung der DDR dafür ein, daß eine KSZE-Sicherheitsagentur zur Verifikation der Abrüstungs- und Umstrukturierungsvereinbarung geschaffen wird. Sie ist auch für ein KSZE-Organ zur Streitschlichtung und für die Bildung eines ständigen gemeinsamen Rates der Außen- und Verteidungsminister. Die Regierung der DDR will beim Abrüstungsprozeß eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir werden sofort Maßnahmen einleiten, um die Kriegswaffenproduktion und den Export von Waffen zunächst einzuschränken und in einem überschaubaren Zeitraum ganz einzustellen. (Beifall) Die Rüstungsexporte in Krisengebiete haben generell zu unterbleiben. Wir werden eine Umstrukturierung der Volksarmee und einen schrittweisen Abbau der militärischen Verpflichtungen der DDR einleiten. Die politische Zusammenarbeit im Rahmen des Warschauer Vertrages dagegen soll intensiviert werden. Dazu wird die Regierung in allernächster Zeit den Kontakt zu den Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten aufnehmen. Die DDR will ihre besondere Verbindung zu den Völkern Osteuropas auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet entwickeln und vertiefen. Die Verbindungen zur EG werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Regierung der DDR würde eine baldige stufenweise Erweiterung der EG begrüßen. (vereinzelt Beifall) Die Schaffung der Einheit Deutschlands ist verbunden mit der Durchsetzung von Menschenrechten. Der neue Patriotismus soll daher Ausdruck dafür sein, daß wir für Grund- und Menschenrechte eintreten. Deshalb werden wir der europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Wir werden auch um die Teilnahme der DDR an den Beratungen des Europarates ersuchen. (Beifall) Bis zur Vereinigung Deutschlands wird die DDR-Regierung über die Ausdehnung der EG auf die heutige DDR verhandeln. Dabei wird es unser Ziel sein, die Festlegung von Fristen bis zur vollen Übernahme der Vertragsverpflichtungen und -rechte zu erreichen. Dies ist besonders wichtig für unsere Landwirtschaft, für das Steuersystem und im Bereich der sozialen und ökologischen Normen. Für die bestehenden Außenhandelsverpflichtungen der DDR, insbesondere mit der Sowjetunion, müssen Lösungen zur Garantie der Vertragstreue der DDR gefunden werden, die vor allem zu einer Stabilisierung und Stärkung der Verhältnisse in Mittel und Osteuropa <?page no="271"?> Textanhang 271 beitragen. Ich möchte dies hier noch einmal ausdrücklich betonen: Unsere Außenhandelsverpflichtungen mit der Sowjetunion werden strikt eingehalten und im Sinne der Vertragstreue in ein geeintes Deutschland einfließen. (Beifall) Ein vereinigtes Europa muß Friedens- und Verständigungsprozesse in der Welt fordern. Ein geeignetes Mittel dafür sind die Beratungen im Rahmen der Europäischen politischen Zusammenarbeit. Wir werden den Antrag stellen, an diesen Beratungen zukünftig teilzunehmen. Wir wollen zu einem Friedensprozeß im Nahen Osten beitragen, der das Selbstbestimmungsrecht aller dort lebenden Völker achtet. Die Beendigung des Ost-West-Konfliktes macht sichtbare Fortschritte. Dies verpflichtet uns, dem Nord-Süd-Konflikt unsere volle Aufmerksamkeit zu widmen. Sicher haben wir Probleme, aber sie sind klein im Vergleich zu den Sorgen und Nöten der Menschen in den Entwicklungsländern. Wir fühlen uns solidarisch mit den Menschen in der Dritten Welt und hoffen auf ein partnerschaftliches Miteinander. (Beifall) Gerade nach den hinter uns liegenden Ereignissen ist es für uns von besonderer Bedeutung, die Botschaft von sozialer Gerechtigkeit und Demokratie auch in den Ländern zu unterstützen, mit denen wir schon bisher zusammengearbeitet haben. Daher haben für uns wirtschaftliche, medizinische und soziale Projekte (den) Vorrang. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der DDR wird sich überall auf der Welt in einer zunehmenden Kooperation mit ähnlichen Projekten und Stellen der Bundesrepublik Deutschland entwickeln. Parallel zum Vereinigungsprozeß der beiden Staaten in Deutschland wird es zu einer Verschmelzung des deutsch-deutschen Engagements in den Ländern der Dritten Welt kommen. Unser Ziel muß langfristig eine gerechte Weltwirtschaftsordnung sein, die allen Menschen eine wirtschaftliche Zukunft und eine soziale Perspektive gibt. (vereinzelt Beifall) Meine Damen und Herren! Das Programm dieser Regierung der demokratischen Mitte ist anspruchsvoll. Wir wissen, daß wir einen mühsamen Weg vor uns haben. Keine Regierung kann Wunder vollbringen, aber wir werden das Mögliche mit aller Kraft anstreben. Wenn wir das uns Mögliche erkennen und mit Nüchternheit und Umsicht Schritt für Schritt verwirklichen, dann können wir die Grundlagen für eine bessere Zukunft der Menschen in unserem Land legen. Wir bauen dabei auf die Unterstützung, den Mut und die Tatkraft aller Bürger. Ich danke Ihnen. (starker anhaltender Beifall) <?page no="272"?> 272 Reformulierungen „Frankfurter Rundschau“, 20.04.1990, S. 1/ 2 (FR,20,l/ 2) De Maiziere pocht auf Gleichberechtigung „Nicht zweitklassige Bundesbürger“ BERLIN, 19. April (vbn/ AP/ FR). Die neue Regierung in Ost-Berlin will verhindern, daß die DDR-Bürger aufdem Weg zur deutschen Einheit „zweitklassige Bundesbürger“ werden. In seiner ersten Regierungserklärung verlangte Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) am Donnerstag zugleich einen Umtauschkurs von 1: 1 bei Einführung der deutsch-deutschen Währungsunion. Ferner will Ost-Berlin das soziale Sicherungssystem und das Recht neu ordnen, weitere Abrüstungsschritte durchsetzen und bis 1991 die alte Länderstruktur wieder einführen. Auch die Mauer soll bald verschwinden. Die Erklärung de Maizieres wurde in Bonn positiv aufgenommen. Vor den rund 400 Abgeordneten der Volkskammer sagte Maiziere, die DDR müsse den Weg zur deutschen Einheit so schnell wie möglich gehen, wobei er zugleich aber auf die sozialen Rechte für alle DDR-Bürger pochte und die Bundesrepublik zur Solidarität in dieser Frage aufrief. Der CDU-Politiker sagte: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden“. Den Menschen in der DDR versprach er, das soziale Netz von Grund auf zu erneuern. So werde die Sozialversicherung aus dem Gewerkschaftsbund FDGB und der staatlichen Versicherung herausgelöst. De Maiziere: „Es wird in Zukunft selbstverwaltete, voneinander getrennte Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen geben“. Dezentral soll auch das künftige politische System in der DDR organisiert sein. Der Ministerpräsident kündigte an, bis 1991 wieder Länder in der DDR zu schaffen. Wahlen dazu werde es noch im Spätherbst dieses Jahres geben. Gegenwärtig werde noch an einer Kommunalverfassung und einem Länder-Einführungsgesetz gearbeitet. De Maiziere: „Was in den Ländern vor sich geht, einschließlich der Wahl der Landeshauptstadt, bestimmt dann jedes Land selbst". Der Regierungschef schlug dem Präsidium der Volkskammer vor, den Bezirkstagen zu empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. Die Bezirkstage werden nach dem 6. Mai die einzigen Organe, die nicht aus freien Wahlen hervorgegangen sind. Zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit sollen unter anderem ein Verfassungsgericht sowie Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichte gebildet werden. Militärgerichte sollen in das zivile Justizwesen eingegliedert werden. Ein „wesentliches Anliegen der neuen Rechtspolitik“ soll die Rehabilitierung von Bürgern sein, die aus politischen Gründen in der Vergangenheit verfolgt oder arbeitsrechtlich benachteiligt wurden. Beim Datenschutz will sich Ost-Berlin an der Bundesrepublik orientieren. De Maiziere schlug dem Parlament vor, einen Datenschutzbeauftragten einzusetzen. In Deutschland dürfe es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammele, sagte der Regierungschef. Der Ministerpräsident schloß aus, daß es in Zukunft eine Geheimpolizei geben werde. Eine Verfassungsschutzbehörde dürfe keine polizeilichen und strafrechtlichen Befugnisse erhalten. Zur Geschichte der DDR sagte de Maiziere: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR- Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl fernzubleiben“. <?page no="273"?> Textanhang 273 Im auüenpolitischen Teil seiner Rede verlangte er, die polnische Westgrenze völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen. Die Volkskammer hatte sich in einer gemeinsamen Erklärung bereits in der vergangenen Woche für die Unantastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen. Eng damit in Zusammenhang stellte der DDR-Premier die Abschaffung des Artikels 23 des bundesdeutschen Grundgesetzes nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Er solle verschwinden, um zu zeigen: „Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht haben“. Beim Abrüstungsprozeß peilt die DDR eine Vorreiterrolle an. De Maiziere kündigte an, die Kriegswaflenproduktion und den Export von Waffen zunächst einzuschränken und „in einem überschaubaren Zeitraum“ ganz einzustellen. In einem künftig vereinten Deutschland sollten zudem die Streitkräfte drastisch reduziert werden, auf atomare, biologische und chemische Waffen sei zu verzichten. frankfurter Rundschau“, 20.04.1990, S. 3 (FR/ K,20,3) Gesundes Gottvertrauen Von Hans-Herbert Gaebel Nein, ein Erfüllungsgehilfe des Bonner Kollegen ist der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR nicht. Wenn er es nicht schon hatte, jetzt zeigt er Selbstbewußtsein ohne Scheu; seinen demokratischen Auftrag hätten ihm und seiner Regierung die Bürger der DDR erteilt und sonst niemand, offenbart er in seiner ersten Regierungserklärung. Das ist deutlich. Und ebenso deutlich: „Wir haben ein entscheidendes Wort bei der Vereinigung Deutschlands mitzureden". Lothar de Maiziere muß mittlerweile auch Gefallen an der Macht gefunden haben. Er erteilt sich selbst ein (nicht unberechtigtes) Lob; die große Koalition, mit der er sein „anspruchsvolles Programm" der totalen Erneuerung des ihm anvertrauten Staates in Angriff nehmen will, hat er in drei Wochen zusammengebracht. Daß er sich einen der mörderischsten Polit- Jobs zumutet, den unser Kontinent zur Zeit zu vergeben hat, spricht außerdem für ein gesundes Gottvertrauen. Er muß zuallererst dafür sorgen, daß seine Landsleute in der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion so fair wie möglich behandelt werden. Seine Forderung, Löhne und Renten grundsätzlich im Verhältnis eins zu eins umzustellen, ist die erste Machtprobe aufs Exempel. Hier weiß er sich mit Koalition. Parlament und den Menschen in der DDR einig. Das erleichtert eine Hartnäckigkeit, von der er ohne Verlust seiner Glaubwürdigkeit nicht mehr abrücken kann. Das, was der Ministerpräsident den großen Nachholbedarf bei der Beseitigung der Schäden in der DDR nennt, ist eine schier endlose Liste von meist totalen Änderungen der bisherigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Struktur des anderen deutschen Staates. Wie es nicht anders sein kann, besonders bei der wirtschaftlichen Erneuerung, der Sozialgesetzgebung oder den fast noch vordringlicheren Umweltschutzprogrammen, lehnt sich de Maiziere eng an Vorbilder aus der Bundesrepublik an. Aber auch hierbei scheut er sich nicht, an DDR-Typischem festzuhalten, das vor Jahrzehnten mit Gewalt erzwungen wurde, dessen Beseitigung aber heute neues Unrecht brächte. Die Bodenreform, so der Ministerpräsident, ist Rechtens, sie steht nicht zur Disposition. Es ist zu spüren, wie der demokratisch legitimierte Regierungschef der DDR versucht, seinen Mitbürgern, die von Sozialangst und dem Gefühl der Unterlegenheit dem reichen We- <?page no="274"?> 274 Reformulienmgen sten gegenüber gebeutelt werden, etwas von seinem Selbstbewußtsein abzugeben. Sie sollten keine Angst vor den Maßnahmen haben, die notwendig sein werden, um die großen Schäden im Lande zu beheben. Sie hätten auch manches in ein künftiges Deutschland einzubringen: Ihren Erfmdungsreichtum, ihre Sensibilität ffir soziale Gerechtigkeit, ihre Bereitschaft, zu arbeiten. Aber er sagt ihnen auch, wo es bei ihnen hapert: daß sie zu sehr an Bevormundung gewöhnt seien, und beklagt die in der DDR grassierende Ausländerfeindlichkeit. Die Schwestern und Brüder in der Bundesrepublik bekommen ebenfalls ihr Fett ab. De Maiziere bedankt sich für die Hilfe, sieht aber eine schwindende Solidarität im größeren deutschen Staat. Die Teilung überwinden könnten die Deutschen nur durch Teilen. Von der Einheit spricht der Ministerpräsident natürlich auch, hütet sich aber, einen Termin für die ersten gesamtdeutschen Wahlen zu nennen. Die westdeutsche Art, munter draufloszuschwätzen, hat die DDR bei diesem Thema noch nicht erreicht. De Maiziere hält sich an bewährte Formeln; die Einheit solle so schnell wie möglich kommen, die Rahmenbedingungen aber so gut wie erforderlich gezimmert werden. Der Beitritt der DDR soll nach Neugründung der alten fünf Länder über den Artikel 23 des Grundgesetzes erfolgen. Artikel 23, das heißt, Beitritt zur Bundesrepublik ohne Wenn und Aber; trotzdem scheint die Koalition aus Allianz, SPD und Liberalen zunächst einmal der DDR eine neue Verfassung, zumindest teilweise, nach dem Baukastenprinzip, anpassen zu wollen. Eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches hatte am 4. April einen Entwurf dafür verabschiedet. Die von Bundeskanzler Kohl so geschätzte Geschichte leistet sich gelegentlich ihre Scherze: Eigentlich müßte die Bundesrepublik den anderen deutschen Staat jetzt völkerrechtlich ohne jeden Vorbehalt anerkennen; denn er verfügt über ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und demokratisch gewählte Repräsentanten. Doch hat dieser plötzlich zur vollen völkerrechtlichen Schönheit erblühte Staat selbst seine Beseitigung beschlossen, so schnell, wie dies in einem ordentlichen Verfahren nur geht. Daher mag manchen in beiden Teilen Deutschlands das allzu anspruchsvolle Programm de Maizieres stören. Es bietet Fleisch nicht nur für eine, sondern für mindestens vier Legislaturperioden. Doch rechnen alle damit, daß er nicht einmal eine zu Ende bringt. Gewiß, er mußte seinem Parlament und seinen Bürgern erläutern, was zu reformieren ist; und das ist fast alles. Doch hätte er deutlicher unterscheiden können, was keinen Aufschub duldet und was später kommt. Für eine Verfassung, die womöglich nur aus Bruchstücken besteht und in kurzer Zeit entschwinden wird, kündigt de Maiziere sogar ein eigenes Verfassungsgericht an. „Die Welf', 20.04.1990, S. 1 (DW.20,1) „Einheit so schnell wie möglich“ De Maiziere bittet um Solidarität Regierungserklärung in Ost-Berlin / Ministerpräsident bcharrt auf grundlegendem Umtauschkurs 1: 1 DIV. Berlin Der seit einer Woche amtierende DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere hat gestern in seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer die Forderung nach einer Umstellung von Löhnen, Gehältern, Renten und Sparguthaben im Verhältnis 1: 1 bei der Einführung der <?page no="275"?> Textanhang 275 D-Mark gefordert. „1: 1 ist der grundlegende Kurs" betonte de Maiziere. Die deutsche Einheit müsse „so schnell wie möglich kommen", aber die Rahmenbedingungen müßten so gut. vernünftig und zukunftsßhig „wie nötig" sein. „Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft", erklärte de Maiziere. Mit Besorgnis verzeichnete der DDR-Ministerpräsident in der Bundesrepublik Deutschland eine schwindende Bereitschaft der Bevölkerung, „abzugeben und solidarisch zu sein". Er richtete die „herzliche Bitte" an die Bürger der Bundesrepublik: „Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwere Last der deutschen Geschichte tragen müssen." Die DDR habe bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung erhalten, sondern sie habe Reparationsleistungen erbringen müssen, erklärte de Maiziere. Er dankte in diesem Zusammenhang der Sowjetunion, den Polen, Tschechoslowaken und den Bürgern Ungarns, die den Eisernen Vorhang heruntergerissen „und damit auch ein Stück Berliner Mauer zum Fallen gebracht" hätten. De Maiziere kündigte an, daß „dieses menschenunwürdige Schandmal" noch in den nächsten Monaten abgerissen werde. In seiner Regierungserklärung forderte der DDR-Ministerpräsident das Mitspracherecht seines Landes bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. Er betonte: „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben." Die beste Lösung sei dabei nach wie vor der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. De Maiziere bat in diesem Zusammenhang die Bürger der Sowjetunion, das Streben nach Einheit Deutschlands „nicht als bedrohlich anzusehen”. In einem inoffiziellen Schreiben an de Maiziere und Außenminister Markus Meckel hatte Moskau offenbar Bedenken gegen den Weg nach Artikel 23 geltend gemacht. De Maiziere bekräftigte vor der Volkskammer die Koalitionsforderungen nach einer drastischen Reduzierung aller deutschen Streitkräfte und an einer forcierten Abrüstung. Die DDR-Regierung wolle beim Abrüstungsprozeß eine Vorreiterrolle einnehmen, betonte de Maiziere. Die Zukunft eines geeinten Deutschlands liege in einem ungeteilten, friedlichen Europa. „Wir wollen nicht zwischen den Stühlen der Völker Europas sitzen, sondern ein Pfeiler sein für eine Brücke der Verständigung", erklärte der Ministerpräsident. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sei. daß die Grenzen der Nachbarn Deutschlands gesichert seien. Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze, wie sie im Görlitzer Vertrag der DDR mit Polen und im Warschauer Vertrag der Bundesrepublik mit Polen festgeschrieben sei, sei unverzichtbar. [...] „Die Welt", 20.04.1990, S. 1 (DW/ K.20,1) Ein halbes Jahr nur DETLEV AHLERS Man muß es sich in die Erinnerung zurückrufen: Noch vor einem Jahr trat in der Ostberliner Volkskammer ein Ministerpräsident Stoph auf, bestimmte ein Staatsratsvorsitzender Honecker über die Politik und ein Staatssicherheitsminister Mielke über die Freiheit, galt das alles als unabänderlich. Gestern sprach dort ein frei gewählter, ein den christlichen Werten verpflichteter Ministerpräsident über die Wiederherstellung von Freiheit. Menschenwürde und Einheit genau ein halbes Jahr nach dem Sturz Honeckers. <?page no="276"?> 276 Refonnulierungen Lothar de Maizieres Regierungserklärung war eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme des zerfallenden Staates. Eine „Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage“ freilich konnte er nicht ziehen. Dafür haben seine Vorgänger bis hin zu Modrow gesorgt. Und wie weit sein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat mit dem Versprechen vereinbar ist, „die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition", das wird er wohl noch zu erklären haben. Jedenfalls aber sind diese Botschaften unmißverständlich: „Das Ja zur Einheit ist gesprochen“ - „Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen“; sie ist „gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes (zu) verwirklichen“ - „Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft.“ An die Mitbürger im Westen richtete er die „herzliche Bitte“: „Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden. Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin Ihre Sympathie und Solidarität, so, wie wir sie im letzten Herbst spürten“. Er hat sie. Und wenn er dafür sorgt, daß die Irritationen aufhören, die Verdächtigungen, als wollten wir nicht helfen, sondern jemanden „über den Tisch ziehen“, dann wird er Sympathie und Hilfsbereitschaft uneingeschränkt behalten. „Die Welt“, 20.04.1990, S. 4 (DW,20,4) Die Regierungserklärung des neuen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere Noch im Herbst sollen Landtagswahlen in der DDR stattfinden D. D. Berlin In seiner Regierungserklärung vor der Volkskammer hat Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) den Abriß der Berliner Mauer („menschenunwürdiges Schandmal“) für die nächsten Monate angekündigt. „Das Ja zur Einheit ist gesprochen, über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“, erklärte de Maiziere. Besondere Worte des Dankes richtete de Maiziere an Michail Gorbatschow. Der Regierungschefhob hervor, daß die Träger der friedlichen Revolution in der DDR „einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte" verdienen. Nicht allein die PDS (ehemals SED) habe die Verantwortung für die DDR-Vergangenheit, „auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten“. Unverzichtbar für die deutsche Einheit sei die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze. Mit Vollzug der Vereinigung soll aus der künftigen deutschen Verfassung der Artikel 23 des Grundgesetzes gestrichen werden: „Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und wird sie auch in Zukunft nicht erheben“. Deutschland dürfe sich nie wieder zum Machtzentrum Europas erheben wollen. „Unsere Außenhandelsverpflichtungen mit der Sowjetunion werden strikt eingehalten und im Sinne der Vertragstreue in ein geeintes Deutschland einfließen“, betonte Lothar de Maiziere. Eine Regierungskommission soll zur Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des ehemaligen Stasi-Ministeriums und der Nachfolgeorganisation Amt für Nationale Sicherheit eingesetzt werden. Ein Datenschutzgesetz soll die Bürger in Zukunft vor Bespitzelungen schützen. „In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt“, sagte de Maiziere. <?page no="277"?> Textanhang 277 In „geordneten Schritten“ soll die Umstellung von staatlichem Plandirigismus auf soziale Marktwirtschaft erfolgen. In den nächsten Monaten müßte beides noch nebeneinander existieren. Wichtige erste Schritte: Ein Kartellgesetz, Überarbeitung des Bankengesetzes, ein Gesetz zur Entflechtung der Kombinate und Großbetriebe zur Schaffung branchentypischer Unternehmenseinheiten. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sollen als „untrennbare Einheit“ gleichzeitig in Kraft treten. In den nächsten „acht bis zehn Wochen“ würden die Grundlagen dafür geschaffen. Noch 1990 sollen rund 500 000 neue Arbeitsplätze im Mittelstandsbereich geschaffen werden. Notwendig sei eine umfassende Preis- und Steuerrefonn. Löhne, Gehälter und Renten sollen bei der Einführung der D-Mark im Verhältnis 1: 1 umgestellt, die Renten schrittweise auf das Nettoniveau von 70 Prozent nach 45 Versicherungsjahren angehoben werden. Auch für Sparguthaben und Versicherungen soll das Verhältnis 1: 1 gelten, „wobei Wege eines differenzierten Umtausches gegangen werden sollten“. Zur Herauslösung der Sozialversicherung aus dem Gewerkschaftsbund FDGB sagte de Maiziere: „Es wird in Zukunft selbstverwaltete, voneinander getrennte Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen geben“. Auf allen Ebenen vom Ministerrat bis in die Kommunen sollen Gleichstellungsbeauftragte für Frauen berufen werden. Niederlassungsfreiheit für Ärzte und Fachärzte soll gesichert werden. Das System der Polikliniken und betrieblichen Einrichtungen des Gesundheitwesens will die neue Regierung beibehalten. Der Ministerpräsident kündigte eine internationalem Stand entsprechende Umweltschutzgesetzgebung, staatliche Umweltkontrolle, drastische Reduzierung der Rohbraunkohleförderung und die Schaflüng eines schnellen Energieverbundes mit der Bundesrepublik an. Auf absehbare Zeit könne auf die Kernenergie nicht verzichtet werden. Entscheidungen darüber aber sind von angeforderten Gutachten abhängig. „Die Länderstruktur ist eine Grundbedingung für die deutsche Einheit“, sagte de Maiziere. Weil die Räte der Bezirke auch nach den Kommunalwahlen vom 6. Mai die einzigen Vertretungskörperschaften sein würden, die nicht aus freien und geheimen Wahlen hervorgegangen sind, sollten sie bis zur Länderbildung nur noch als Verwaltungsorgane tätig sein. Noch für den Herbst 1990 schlägt die DDR-Regierung Landtagswahlen vor. Gegenwärtig werde ein Ländereinführungsgesetz vorbereitet. Die Regierung werde Sorge dafür tragen, daß das Justizwesen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen umgestaltet und das Prinzip der Gewaltenteilung durchgesetzt wird, erklärte der Regierungschef. Im einzelnen: Bildung eines Verfassungsgerichtes, Schäftung von Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialgerichten, Umgestaltung der Vertragsgerichte in ordentliche Gerichte, Eingliederung der Militärgerichtsbarkeit in das zivile Justizwesen und Stärkung der Rechtsanwaltschaft. „Die Rehabilitierung von Bürgern, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt und arbeitsrechtlich benachteiligt wurden, wird ein wesentliches Anliegen neuer Rechtspolitik sein müssen“, heißt es weiter in der Regierungserklärung. Die Polizeihoheit soll im wesentlichen bei den Ländern liegen. Die Volkspolizei als „zivile Ordnungskraft“ werde öffentlicher und parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Die Regierung will der Volkskammer die Berufung eines Datenschutzbeauftragten vorschlagen. De Maiziere: „Eine Verfassungsschutzbehörde auch dies ist eine Lehre der Vergangenheit darf keine polizeilichen beziehungsweise strafprozessualen Befugnisse erhalten“. <?page no="278"?> 278 ReformuUerungen Die Regierung der DDR strebe eine drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte an. Für eine „Übergangszeit" werde sich auf dem Gebiet der DDR neben den sowjetischen Streitkräften eine stark reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete Nationale Volksarmee befinden. Die DDR-Regierung werde die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und der Staaten des Warschauer Vertrages berücksichtigen. Produktion und Export von Waffen sollen zunächst eingeschränkt „und in einem überschaubaren Zeitraum" ganz eingestellt werden. „Süddeutsche Zeitung". 20.04.1990. S. 1 (SDZ.20.1) Erste Regierungserklärung eines freigewählten Ostberliner Ministerpräsidenten De Maiziere: Die Teilung Deutschlands kann nur durch Teilen aufgehoben werden Über den Weg zur Einheit haben wir ein entscheidendes Wort mitzureden, betont der CDU-Politiker Erneut Umtauschkurs von 1: 1 für Löhne und Renten sowie Sicherung der Eigentumsverhältnisse in der DDR verlangt Berlin/ DDR, 19. April - DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere hat in seiner Regierungserklärung die Bundesbürger aufgerufen, bei der Vereinigung beider deutscher Staaten Hilfsbereitschaft, Sympathie und Offenheit zu zeigen. „ Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität", sagte er am Dienstag, an die Westdeutschen gerichtet, vor der Volkskammer in Ostberlin. Die Teilung könne „ tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden De Maiziere bekräftigte die schnelle Schaffung der deutschen Einheit als vordringliches Ziel, bei dessen Erreichen die DDR „ein entscheidendes Wort mitzureden" habe. Noch 1990 wolle seine Regierung 500 000 Arbeitsplätze in mittelständischen Betrieben schaffen. Von Ulrich Deupmann De Maiziere verband seinen besorgten Appell an die Bundesbürger mit einem ausdrücklichen Dankeswort: „Sie haben zu uns gehalten. Sie haben uns Mut gemacht und geholfen, wo immer dies möglich war“. Sein Volk habe eine Menge nützlicher und neuer Eigenschaften und Erfahrungen in das geeinte Deutschland einzubringen. Durch die DDR rückten den Deutschen die Länder Osteuropas näher. Das Kapital der DDR-Bürger seien Fleiß und Improvisationsgabe, aber auch ihre Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz. Ziel der Einigungsverhandlungen sei nicht eine „geschäftliche Partnerschaft, sondern eine wirkliche Gemeinschaft". Alle Fraktionen, auch die PDS, spendeten dem CDU-Politiker an dieser Stelle und am Schluß der Regierungserklärung anhaltenden Beifall. Zeitpläne für die Arbeit seiner Regierung kündigte de Maiziere nur in wenigen Bereichen an. Das System der Wirtschaftsplanung soll mit dem Stichtag der Währungsunion, voraussichtlich am 1. Juli 1990, „weitgehend" beseitigt sein. Für Löhne, Gehälter, Renten und Sparguthaben gilt weiter die Forderung nach einem Umtauschkurs von 1: 1. Die Bürger der DDR sollten nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. <?page no="279"?> Textanhang 279 Die Genossenschaften und privaten Betriebe in der DDR können im Interesse ihrer Überlebensfähigkeit weitgehend mit der Streichung ihrer Inlandsschulden rechnen. Für volkseigene Betriebe dagegen strebe die Regierung eine Umbewertung der Inlandsschulden zum Kurs von 2: 1 an. De Maiziere verlangte, daß die DDR-Wirtschaft für eine Übergangszeit nach der Wirtschafts- und Währungsunion vor übermächtiger Konkurrenz aus dem Westen geschützt werde. Als Vorbild könne der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in den fünfziger Jahren dienen. Im Spätherbst dieses Jahres sollen in der DDR Landtage gewählt werden. An einem Länder-Einführungsgesetz werde gearbeitet, sagte der Ministerpräsident. Seine Regierung werde sich bemühen, die Räte der Bezirke nach den Kommunalwahlen zu reinen Verwaltungsorganen herabzustufen. Nach den Gemeinde- und Kreistagswahlen am 6. Mai sind die Räte der fünfzehn Verwaltungsbezirke die einzigen politischen Gremien in der DDR, die nicht durch demokratische Wahlen nach der Wende legitimiert worden sind. Kultur- und Polizeihoheit sollen wie in der Bundesrepublik in die Zuständigkeit der künftigen Länder übergehen. Genehmigungen für neue Industrieansiedlungen in der DDR müssen sich nach den Worten de Maizieres an dem Umweltstandard der EG orientieren. Angestammte Betriebe mit „starker und unvertretbarer“ Umweltbelastung in der DDR hätten sich auf eine Sanierung oder die Stillegung vorzubereiten. Die Förderung der Braunkohle, aus der die DDR mehr als 90 Prozent ihres Energiebedarfs deckt, will die Regierung zugunsten von Erdgas, Steinkohle und Öl einschränken. In einem deutsch-deutschen Energieverbund stellt sich de Maiziere vor, daß die Bundesrepublik Überkapazitäten an Energie in die DDR liefert. Zur Bezahlung eines Teils der Kosten für Umweltreparaturen und Altlastsanierungen soll ein staatlicher Öko-Fonds aus Abgaben, Gebühren und Stiftungen beitragen. De Maiziere sprach von einer „ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft“. Zum Eigentum an Grund in der Land- und Forstwirtschaft betonte er: „Die Ergebnisse der Bodenreform auf dem Territorium der DDR stehen nicht zur Disposition“. Besondere Aufmerksamkeit widmete de Maiziere in seiner 31 Seiten starken Erklärung der Zukunft der sozial Schwachen. Mietpreisbindung, Wohngeld und Kündigungsschutz für Mieter seien Eckpunkte einer sozialen Wohnungspolitik. Als Sofortmaßnahmen gegen die zu erwartende Arbeitslosigkeit nannte der Ministerpräsident Umschulungs- und Qualifizierungsprogramme, Arbeitslosengeld, ein Kündigungsschutz-, ein Betriebsverfassungs- und ein Tarifvertragsgesetz. Bei Militär und Rüstung stehen Umwälzungen bevor: Die Volksarmee wird umstrukturiert, militärische Verpflichtungen der DDR werden abgebaut. „Süddeutsche Zeitung". 20.04.1990, S. 4 (SDZ/ K,20,4) Ein starker Partner kündigt sich an Mit seiner Regierungserklärung beweist der DDR-Ministerpräsident politisches Format Von Albrecht Hinze Berlin/ DDR. 19. April - Der DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere hat in der Volkskammer in Ostberlin für seine große Koalition aus Konservativen, Liberalen und Sozialde- <?page no="280"?> 280 RefonnuUerungen mokraten eine Regierangserklärung vorgetragen, die in Grundsätzen und Einzelheiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes angemessen und überzeugend Rechnung trägt. Sie tut dies im übrigen auch mit einer nachdenklichen Sprache. In einem Staate, der über lange, mindestens eingeübte demokratische Traditionen und Strukturen verfügt, würden viele der Worte de Maizieres bloß hehr und vielleicht leer anmuten. Nicht so in der DDR, die sich gerade eben aus bürokratisch-dikatorischen Zuständen befreit hat mit all den Deformationen und Wunden, die jene Zustände der Gesellschaft und der Wirtschaft des Landes, seinen Städten und seiner Umwelt zugefügt haben. Die Vergangenheit und die prinzipiellen Schlußfolgerungen daraus können nicht übergangen werden, wenn es gilt, nicht nur die Revolution des Herbstes, die ein Umsturz zur Demokratie war, sondern auch die unterdessen eingetretene Entwicklung zur Einheit Deutschlands hin zu Ende zu führen. De Maiziere hat die Spannungslage, die sich daraus ergibt, in dialektisch-differenzierter Weise zur Sprache gebracht. In diesem Zusammenhang klingt es dann auch keineswegs floskelhaft, wenn er sagt: „Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten.“ Oder wenn in der Erklärung die „ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft“ beschworen wird. Und es ist durchaus angebracht, auf die seelischen Schäden hinzuweisen, die die DDR-Gesellschaft davongetragen hat und die sie erst noch heilen muß. In der Sache stehen die Regierung und das Land insgesamt vor Aufgaben und vor Schwierigkeiten. die quantitativ und qualitativ schier unlösbar erscheinen wollen. Diese Lage und die Wege, ihr gerecht zu werden, hat de Maiziere in eher dürren Worten beschrieben; sie zeugen auf der anderen Seite von einer Nüchternheit, die gleichfalls nötig ist. In der Frage der Einheit Deutschlands hat der Regierungschef für die Verhandlungen mit der Bundesregierung über einen Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währangs- und Sozialunion Pflöcke gesetzt, deren Haltbarkeit sich angesichts der ökonomischen Übermacht des Westens allerdings erst noch erweisen muß. Jedenfalls markieren diese Pflöcke die Interessen der DDR-Bevölkerang, bei der der Zugriff bundesdeutscher Politik und Wirtschaft Unmut und Unsicherheit ausgelöst haben. Vor allem soziale Ängste gehen nun zunehmend um, ohne allerdings bislang den Einheitswillen wirklich beschädigt zu haben. Doch ist hier Vorsicht am Platze. Nicht von ungefähr hat de Maiziere in der Volkskammer den ungeteilten Beifall aller Seiten bekommen so auch demonstrativ für jene Passage, in der er den Bundesbürgern Solidarität mit den DDR- Bürgern abverlangt und von den Pfunden spricht, die die DDR in das vereinigte Deutschland einbringen kann. De Maiziere und seine Regierung werden bei aller Schwäche ein starker Verhandlungspartner sein. „Franklürter Allgemeine“. 20.04.1990, S. 1/ 2 (FAZ,20,l/ 2) De Maiziere will die DDR schnell und ohne Demut in die Einheit führen „Trennung kann nur durch Teilen überwunden werden“ / Bonn: Demokratischer Neuanfang / Regierungserklärung Me. BERLIN, 19. April. Der vorige Woche gewählte Ministerpräsident der DDR hat am Donnerstag vor der Ost-Berliner Volkskammer seine Regierungserklärung abgegeben. Er begann sie mit der Erinnerung an die Opfer des Faschismus, des Stalinismus und der Mauer: Die Menschen, die Widerstand geleistet haben, seien der Stolz des deutschen Volkes. Es sei nicht die PDS allein, welche in der DDR die Vergangenheit zu verantworten habe: „Es <?page no="281"?> Textanhang 281 ist auch meine Partei.“ De Maiziere fügte aber hinzu: „Es sind nicht immer die Mutigsten von einst, die heute die Bestrafung von anderen fordern. Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen, wir müssen uns gegenseitig helfen.“ In Bonn würdigte Regierungssprecher Vogel die Erklärung de Maizieres als „würdige und beeindruckende Botschaft für einen demokratischen Neuanfang". Für die nächsten acht Wochen stellte de Maiziere die Herstellung des Rahmens für eine effektive, ökologisch verpflichtete soziale Marktwirtschaft in Aussicht. Dabei sei ein Umrechnungskurs der Mark der DDR von eins zu eins ebenso unabdingbare Grundlage wie die Eigentumsrechte, welche die Bodenreform geschaffen habe. Die bisherigen Aufwendungen für Subventionen sollten den Löhnen und Renten differenziert zugeschlagen werden. In Erinnerung an den Wählerauftrag zur schnellen Herstellung der Einheit Deutschlands präzisierte de Maiziere, daß sie auf einem vertraglich zu vereinbarenden Weg über den Artikel 23 des Grundgesetzes hergestellt werden müsse. In diesem Zusammenhang sah er mit Sorge in der Bundesrepublik Zeichen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein: „Trennung kann nur durch Teilen überwunden werden.“ Zugleich spezifizierte er, was die DDR in die Vereinigung einbringe, darunter ein Land mit wirtschaftlichen Möglichkeiten, Menschen mit Ausbildung und Improvisationsgabe - „Not macht erfinderisch“ -, Sensibilität für soziale Gerechtigkeit und gewachsene Gemeinsamkeit mit Osteuropa. Von den konkreten Aufgaben stellte de Maiziere die wirtschaftspolitischen an den Anfang. In der Energie- und Umweltpolitik faßte de Maiziere das Ziel ins Auge, die Energie aus Rohbraunkohle drastisch zu verringern zu Gunsten von Erdöl, Steinkohle und Erdgas. Er gab der Hoffnung auf einen schnellen Energieverbund mit der Bundesrepublik Ausdruck, wies aber darauf hin, daß auf absehbare Zeit auf Kemkraft nicht verzichtet werden könne. Bei steigender Wirtschaftskraft würden die teuren Vorkehrungen zum Schutz der Umwelt bald zu finanzieren sein. Alle neuen Industrieansiedlungen würden den Standards der Europäischen Gemeinschaft entsprechen müssen. Dabei würden viele neue Arbeitsplätze entstehen. Für die Belebung des Städtebaus und der Architektur stellte de Maiziere weitgehende kommunale Selbstbestimmung in Aussicht. Dabei sei sich die Regierung der Schwere der Aufgabe der Bewahrung von historisch geprägten Stadtbildern bewußt. Die Wohnungspolitik solle nicht nur als Versorgungsfrage angesehen werden; auch Wohnkultur und die Bildung von Wohneigentum seien Ziele. Als er Mieterschutz und Mietpreisbindung für „unabdingbar“ erklärte, erhielt er den Beifall des ganzen Hauses. Hinsichtlich der Infrastruktur beließ er es im wesentlichen bei dem Satz: „Die Zeiten, in denen man sechzehn Jahre auf ein Telefon warten mußte, sollten vorbei sein“; die Postunion mit der Bundesrepublik werde schon vorbereitet. Die Landwirtschaft soll schrittweise mit mehljährigen Übergangsperioden an die der Europäischen Gemeinschaft herangeführt werden. Dazu gehöre in der DDR außer einem neuen Steuer- und Agrarpreissystem auch ein neues Genossenschaftsrecht. In der Forstwirtschaft werde, wie de Maiziere unter Beifall sagte, die Ökologie den Vorrang vor der Holznutzung bekommen. Bei seinen Ausführungen über den Staat als „Anwalt der Schwachen“ er sprach sich für einklagbare Rechtsansprüche statt Almosen aus kam de Maiziere auch auf den Schutz des ungeborenen Lebens zu sprechen: „Wir brauchen mehr Entscheidungen für das Leben“. Dazu sollen flexible Arbeitszeiten sowie die Anrechnung von Erziehungs- und Pflegephasen auf die Rentenzeiten beitragen. Damit Frauen in allen Berufen gleiche Chancen hätten. <?page no="282"?> 282 Refonmilierungen kündigte er die Einsetzung von Frauenbeaufitragten in den Kommunen, in den Ländern und im Ministerrat an. Das soziale Sicherheitssystem solle der zentralistischen Verwaltung durch den Gewerkschafitsbund der DDR entzogen werden; sie entspreche nicht den Erfordernissen des Sozialstaates. Im Bildungswesen habe die neue Regierung von der SED „ein katastrophales Erbe“ übernehmen müssen. Die zentralisierte Einheitlichkeit werde durch Differenzierung ohne Kommandostruktur ersetzt. Den Sonderschulen versprach er besondere Förderung. Im Hochschulwesen werde in hohem Maß gesellschaftliche Eigenverantwortung Einzug halten. Der Staat hoffe auf Finanzierung von Forschungsvorhaben durch die Wirtschaft, werde aber die Finanzierung der Grundlagenforschung absichem. Den Lebensbedingungen von Schülern und Studenten gelte Aufmerksamkeit. Der Ministerpräsident will „sichern, daß bestehende staatliche Jugendeinrichtungen weiterhin für die Jugend zur Verfügung stehen“. Kulturhoheit der Länder Auf dem Gebiet der Kultur soll die Kulturhoheit der künftigen Länder vorbereitet werden. Die Notwendigkeit der Subventionierung von Kunst und Kultur wird anerkannt. Den Künstlern werde das Urheberrecht, die Aufrechterhaltung ihrer Versicherung und ein „kunstfreundliches Steuersystem“ zugesichert. In der Medienpolitik soll die Abkehr vom Informationsmonopol der SED nicht dem Selbstlauf überlassen werden, weil sonst die Gefahr der Monopolisierung drohe. Ein Mediengesetz, das kartellrechtliche Bedingungen schaffe und eine Gebührenregelung für Rundfunk und Fernsehen enthalten werde, stellte de Maiziere in Aussicht. Für das Rechtswesen kündigte er ein Verfassungsgericht sowie die Umgestaltung der Vertragsgerichte zu ordentlichen Gerichten an; die Militärgerichte sollen zu zivilen Gerichten werden. Eine Verfassungsschutzbehörde dürfe keine polizeiliche Befugnis haben. Die Volkspolizei sei eine zivile Ordnungskraft, die nur auf Gesetzesgrundlage tätig werde und öffentlicher wie staatlicher Kontrolle unterliege. Eine wichtige Ankündigung betraf die Zukunft der gegenwärtig tätigen Bezirkstage. Sie sollten nach der Kommmunalwahl als letzte nicht durch Wahlen legitimierte parlamentarische Körperschaft ihre Legislaturperiode selbst beenden. Die Räte der Bezirke sollten nur noch in auftragsausführendem Handeln tätig werden. Bei der Vorbereitung des Ländereinführungsgesetzes. die im Gange seien, gibt es, wie de Maiziere sagte, „viele offene Gebietsfragen“, zu denen er schon zweitausend Briefe erhalten habe. „Nie wieder Machtzentrum“ Abschließend erklärte de Maiziere, ein vereinigtes Deutschland solle nie wieder ein Machtzentrum in Europa darstellen. Bei der Garantie der polnischen Grenze griff er auf deren Beschreibung im „Görlitzer Vertrag" zurück. Er forderte im gleichen Zusammenhang nach der Vereinigung eine Tilgung des Artikels 23 aus dem Grundgesetz, da dann keine weiteren Ansprüche mehr bestünden. Ein künftiges europäisches Sicherheitssystem solle „immer weniger militärische Funktionen“ haben. Bis dahin würde sich auf dem Gebiet der heutigen DDR außer sowjetischen Streitkräften auch eine „sich strikt reduzierende Nationale Volksarmee“ befinden, welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer berücksichtige. Insgesamt trat de Maiziere für eine „drastische Reduzierung aller deutschen Streitkräfte“ ein. Für alle Außenhandelsverpflichtungen gegenüber der Sowjetunion müßten Lösungen im Sinne der Vetragstreue gefunden werden, die, strikt eingehalten, in ein geeintes Deutschland einflössen. <?page no="283"?> Textanhang 283 „Frankfurter Allgemeine", 20.04.1990, S. 1 (FAZ/ K,20,1) Ein hoffnungsvoller Anfang Von Fritz Ullrich Fack Die Deutschen in der DDR dürfen zufrieden sein. Mit der Wahl vom 18. März haben sie einen Ministerpräsidenten ins Amt gebracht, der mit Augenmaß und Hartnäckigkeit an die Aufgabe herangehen wird, die Einheit Deutschlands so bald wie möglich herzustellen. In seiner Regierungserklärung hat er diese Absicht zwar nicht ausdrücklich zur Grundlage seines politischen Handelns erklärt und auch nicht den Satz wiederholt. Hauptaufgabe dieser Regierung sei es, sich so bald wie möglich überflüssig zu machen aber alle politischen Vorgaben waren auf dieses Ziel hingeordnet. Die Regierungserklärung war ein Aufriß der ungeheuren Probleme, vor denen die DDR steht. Sie kann sie, daran ließ de Maiziere keinen Zweifel, überwiegend nur mit Hilfe der Bundesrepublik lösen. Rasches Handeln ist geboten; in den nächsten acht bis zehn Wochen sollen die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion geschaffen werden. Auch wenn dann staatsrechtlich die Deutschen noch in zwei Gehäusen leben: damit wird die deutsche Einheit faktisch hergestellt, jedenfalls was den Alltag des Bürgers in Deutschland angeht. De Maiziere hat zur Außenpolitik, und das spricht für sein politisches Gespür, nur das Notwendigste gesagt. Er hat der Sowjetunion versichert, daß die DDR ihre Außenhandelsverpflichtungen erfüllen und sie als Obligo auch in ein vereintes Deutschland einbringen werde. Polen bekam die Zusicherung, daß die DDR zum Görlitzer Grenzvertrag steht und dafür sorgen wird, daß der Artikel 23 des Grundgesetzes gestrichen wird, um zu verdeutlichen, daß weitere Gebietsansprüche nicht erhoben und somit weitere Beitritte zum Grundgesetz auch nicht erwartet werden. Die Vereinigung Deutschlands in einem friedlichen Europa, an dessen Zusammenwachsen es mitbauen will: das war neben der Sorge um den Nord-Süd-Konflikt und der Aufforderung zur Solidarität mit den Menschen in der Dritten Welt die zentrale außenpolitische Botschaft dieser Regierungserklärung. Nur zurückhaltend hat der Ministerpräsident mit den Kräften und „Organen" des alten Regimes abgerechnet, mit seinen früheren Exponenten überhaupt nicht. Er blickt lieber nach vom, möchte die Kräfte für den Aufbau sammeln und mobilisieren, beschwört die Parteien, den „Grundkonsens der Nation" nicht durch Zwietracht zu zerstören. Nur an einigen wenigen Stellen gab es eine klare Schuldzuweisung an die SED. Die Verantwortlichkeit für die gigantische Misere, in der die DDR steckt politisch, ökonomisch, sozial und kulturell -, wurde deshalb nicht so recht deutlich. Da waren Rücksichten im Spiel, die man verschieden deuten kann, die aber unzweifelhaft etwas mit dem fortbestehenden Gewicht der „alten Strukturen" im Gesellschaftsgefüge der DDR zu tun haben. Klar war das Bekenntnis des Ministerpräsidenten zur neuen Wirtschaftsordnung, die in der DDR stets als „ökologisch verpflichtete Soziale Marktwirtschaft" umschrieben wird. Als Selbstzweck möchte der Regierungschef die neue Ordnung nicht betrachtet wissen, aber er hat mehrfach deutlich gemacht, daß er in der Übernahme dieses Systems die große Chance sieht, die Mutlosen und „Ermatteten" dieses Phänomen ist ihm geläufig für den großen Aufbruch zu gewinnen. Daß die Regierung der DDR für möglichst günstige Bedingungen bei der Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion kämpfen will, ist keine Überraschung. De Maiziere hat sich bei den Löhnen, Gehältern und Renten auf einen Umtauschkurs von eins zu eins fest- <?page no="284"?> 284 RefonnuUerungen gelegt, bei den Sparguthaben jedoch die Bereitschaft zur „Differenzierung“ angedeutet. Apodiktische Formeln hat er nicht gebraucht. Er weiß, daß hier nicht nur die beiden Regierungen ihre Interessen abstimmen müssen, sondern daß ein solcher Interessenausgleich auch innerhalb der DDR geftmden werden muß. Denn wie man den Kurs auch wählt: es wird immer einen Antagonismus zwischen Rentnern und Guthabenbesitzem einerseits und Schuldnern (vor allem den betrieblichen) andererseits geben. Enttäuschend waren die Aussagen über den Kurs, den die neue Regierung in der Eigentumspolitik steuern will. Auf Verständnis kann sie rechnen, wenn sie die Bodenreform von 1946 nicht rückgängig machen will. Ob die enteigneten Grundbesitzer entschädigt werden sollen, blieb jedoch ebenso offen wie die Frage, was aus den enteigneten Betrieben, Grundstücken und Wohnhäusern von Bürgern werden soll, die heute in der Bundesrepublik leben. Der Ministerpräsident hat mit Sorge von einer schwindenden Bereitschaft in der Bundesrepublik gesprochen, „abzugeben und solidarisch“ zu sein. Die Teilung könne „nur durch Teilen“ überwunden werden. Das ist richtig, nur ist hier auch einmal ein Wort für die Deutschen in der Bundesrepublik einzulegen: Von ihnen werden in der Zukunft erhebliche Opfer erwartet. Da sollten sie umgekehrt darauf hoffen dürfen, daß auch ihre Interessen berücksichtigt werden, nicht zuletzt in der Frage des in der DDR zurückgelassen, entzogenen oder verwirtschafteten Eigentums. De Maizieres Regierungserklärung enthält beherzigenswerte Ausführungen über Sinn und Funktion des Rechtsstaats. Aber der besteht nicht nur aus Gewaltenteilung, unabhängigen Gerichten und Personenschutz. Auch eine gerechte Eigentumsordnung gehört dazu. Zugegeben, das wirft in der DDR komplizierte Fragen auf; aber man hätte erwarten dürfen, daß die neue Regierung dazu wenigstens die Richtung absteckt. In anderen Fragen, bis hin zur Kinderbetreuung, war der Ministerpräsident weniger schweigsam. „Tagesspiegel“, 20.04.1990, S. 1 (TS,20,1) DDR will schnelle Einheit unter vernünftigen Bedingungen Ministerpräsident de Maiziere gab vor der Volkskammer seine Regierungserklärung ab Von unserem Korrespondenten Gz. Berlin. Der DDR-Ministerpräsident de Maiziere hat gestern in einer Regierungserklärung vor der Volkskammer das Programm seines Kabinetts der Großen Koalition in den Worten zusammengefaßt: „Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig ". Die Diskussionen über die Währungsumstellung hätten klar erkennen lassen, „daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden“. Tempo und Qualität des Einigungsprozesses ließen sich am besten über einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Maiziere bekannte sich zu einer „ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft“, die in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG jetzt Schritt für Schritt verwirklicht werden solle. Die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialuni- <?page no="285"?> Textanhang 285 on, die als Einheit betrachtet werden müsse, sollten „in den nächsten acht bis zehn Wochen" gelegt werden, damit diese Union noch vor der Sommerpause in Kraft treten könne. Dabei ist nach den Worten de Maizieres „1: 1 der grundlegende Kurs". Die Eigentumsrechte aus der Bodenreform müßten gesichert werden. Eigentumsübertragungen, die nach Treu und Glauben rechtens waren, müßten auch rechtens bleiben. Noch vor der Währungsumstellung müßten „die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden“. Erst dann könnten Preise und Mieten schrittweise freigegeben werden. De Maiziere dankte den Bundesbürgern für „viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit“ seit dem vergangenen Sommer. Mit Sorge sehe man aber auch „Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein“. An die Bundesbürger richtete de Maiziere die „herzliche Bitte“, zu bedenken, daß die DDR „40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen“ mußte. Sie habe Reparationen leisten müssen, als die Bundesrepublik ERP-Hilfe erhielt. Als die „eigentliche Krankheit der DDR“ bezeichnete de Maiziere den diktatorischen Zentralismus, unter dem es eine menschlichen Leistung gewesen sei, dem eigenen Gewissen zu folgen. „Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußtmachen, die sich in Haß, Ungeduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden“. Die gesetzgeberischen Ankündigungen de Maizieres entsprachen weitgehend den Festlegungen aus dem in der vergangenen Woche Unterzeichneten Koalitionsvertrag. Er machte klar, daß eine vollständige Ausgangsbilanz der Finanz- und Wirtschaftslage erst noch erarbeitet werden muß. Die Finanzpolitik müsse unter dem Grundsatz der Stabilisierung und des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts stehen. Die „sozialen Versorgungs- und Betreuungsleistungen des Staates gegenüber der Bevölkerung“ würden finanziell abgesichert. Die Landwirtschaft und auch andere Wirtschaftsbereiche müßten innerhalb der auch anderen Staaten gewährten Übergangsfristen auf die EG-Bedingungen umgestellt werden. Zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona soll nach dem Willen der DDR-Regierung eine gesamtdeutsche Mannschaft entsandt werden, und innerhalb der nächsten zehn Jahre sollen Olympische Spiele in Berlin, „der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands", stattfinden. Im Jahre 1991 soll es in der DDR wieder Länder geben. Die Wahlen dazu sollen im Spätherbst dieses Jahres stattfinden. Da nach dem 6. Mai die Bezirkstage die einzigen nicht demokratisch legitimierten Vertretungskörperschaften sein werden, soll das derzeit mit der Wahrnehmung der Staatsratsftmktionen beauftragte Volkskammerpräsidium den Bezirkstagen empfehlen, ihre Legislaturperiode nach den Kommunalwahlen zu beenden. Die Bezirke sollen dann bis zur Ländergliederung nur noch als Verwaltungsorgane tätig sein. <?page no="286"?> 286 Reformulienmgen „Neues Deutschland". 20.04.1990, S. 1 (ND.20.1) Auf Bewahrung von Grundwerten orientiert: Regierungserklärung Lothar de Maizieres vor der Volkskammer Über den Weg zur Einheit reden wir ein entscheidendes Wort mit Von UWESTEMMLER Berlin. Eines steht nach der Regierungserklärung, die Lothar de Maiziere gestern vor der Volkskammer hielt, fest: Der neue Premier will seinem sozialen und rechtsstaatlichen Credo, mit dem er im Spätherbst 1989 als Rechtsanwalt ins Lager der Politik überwechselte, auf dem zügigen Marsch zur Marktwirtschaft und zur deutschen Vereinigung treu bleiben. Und er geht mit einem recht großen Maß an Selbstbewußtsein ans Werk, das sich wohltuend von manchen Szenen in der Zeit vor der Volkskammerwahl abhebt: „Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“. Der Ministerpräsident erinnerte zunächst an die Geschichte. Dank galt dabei jenen, die den demokratischen Umbntch auf den Weg brachten, so Michail Gorbatschow und im eigenen Lande den neuen demokratischen Gruppen, „die die Fesseln der Vergangenheit sprengten". Hier auch die Einschätzung: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten ... Jeder frage sich selbst, ob er immer alles richtig gemacht und welche Lehren er zu ziehen hat. Es sind nicht immer die Mutigen von einst, die heute am lautesten die Bestrafung anderer fordern". Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden, forderte der Premier auf und fugte hinzu: „Die Qualität unseres Weges wird an der Bewahrung von Grundwerten der Gesellschaft zu messen sein". Die Marktwirtschaft, die seine Regierung anstrebe, beschrieb der Premier als „eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können“. Zwar hätten Vertreter der „Dritten Welt“ in bezug auf das „international bewährt“ gewiß erhebliche Zweifel einzubringen, doch deutet diese Aussage darauf hin, daß man das Streben nach sozialer Gerechtigkeit bei der künftigen Entwicklung zumindest im Auge hat. Das bekräftigte Lothar de Maiziere auch, als er sagte, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion müßten eine untrennbare Einheit bilden und gleichzeitig in Kraft treten. „Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig“, erklärte der Redner an anderer Stelle. „Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 2: 1 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden". Die Hunderttausenden Gewerkschafter haben mit ihren Demonstrationen gegen die Bonner Spielerei mit dem Umstellungskurs der neuen Regierung also schon kräftige Hilfestellung bei der Kursbestimmung gegeben. Ein anderes Verhältnis als 1: 1 bei der Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR stellt Lothar de Maiziere jedenfalls in Abrede. Von besonderem Interesse ist die Äußerung, daß noch vor der Währungsumstellung die Aufwendungen für die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden. Erst danach sollen die Preise und Mieten mit der Entwicklung der Ein- <?page no="287"?> Textanhang 287 kommen schrittweise freigegeben werden. Bis zum Sommer stehen also gewaltige Veränderungen für jedermanns Portemonnaie ins Haus. Natürlich war die Regierungserklärung zugleich ein Plädoyer für den Beitritt zur BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes, dem erklärten Ziel der Koalitionsregierung. Und so blieb die bemerkenswerte Regierungserklärung, von der Exministerpräsident Hans Modrow sagte, sie habe viele Seiten, die man mittragen könne, auch ein Akt der Selbstbeschneidung. Denn Beitritt bedeutet eben nicht die Vereinigung souveräner Staaten. Das „entscheidende Wort“, das man mitreden will, hat so seine Grenzen. „tageszeitung“, 20.04.1990, S. 1 (TAZ,20,1) „Ein Wort mitreden“ Regierungserklärung des Ministerpräsidenten de Maiziere in der Volkskammer / Bonn zufrieden Berlin (taz) - Mit einer mehr als einstündigen Regierungserklärung trat gestern der Ministerpräsident Lothar de Maiziere vor die Volkskammer. „Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte“, erklärte de Maiziere. Gleichzeitig sei die Regierung dem Willen zur deutschen Einheit, wie er im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommen ist, verpflichtet. „Über den Weg dahin werden wir ein entscheidenes Wort mitzureden haben", versprach der Ministerpräsident. Er dankte dem ungarischen Volk, das „den eisernen Vorgang heruntergerissen“ habe und Hans Modrow, durch dessen Politik „uns vieles erspart geblieben ist“. In den vergangenen 40 Jahren habe die Gesellschaft „nicht nur materiell” von der Substanz gelebt. Man habe aber „etwas einzubringen" in die Deutsche Einheit. Je konkreter de Maiziere wurde, desto ähnlicher wurden allerdings seine politischen Ausführungen dem, was in der Bundesrepublik Realität ist. Niederlassungsrecht, Gewerbefreiheit und Mittelstandsforderung sollen die soziale Marktwirtschaft ermöglichen, über die Notwendigkeit von Atomkraftwerken sollen Expertengutachten entscheiden. Die Bodenreform steht für die Regierung der DDR nicht zur Debatte, für die Umstellung der Löhne will sie sich für ein Umstellungsverhältnis 1: 1 einsetzen. Sozial Schwache sollen geschützt werden, Frauen mit kleinen Kindern gefordert. Aber wieviel Geld die Regierung dafür ausgeben kann und will, ist derzeit mangels klarer Zahlen über die Kassenlage nicht zu sagen. Die Sozialversicherung soll dem FDGB weggenommen und entsprechend dem sozialen System der BRD geregelt werden. In Berlin, „der zukünftigen Hauptstadt Deutschlands", sollen Olympische Spiele stattfinden. Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen West-Grenze ist für de Maiziere unverzichtbar, eine reduzierte und strikt defensiv ausgerichtete NVA soll den Schutz des Gebietes der heutigen DDR garantieren. Die Loyalität gegenüber der Warschauer Vertragsorganisation „soll (sich) derweil nur darin zeigen, daß die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion berücksichtigt" werden. K.W. <?page no="288"?> 288 Refonnulierungen „tageszeitung". 21.04.1990, S. 3 (TAZ,21,3) Auf der Suche nach der verlorenen Identität Lothar de Maizieres Regierungserklärung war Ausdruck eines parteiiibergreifenden Konsenses Der neue Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, hat in seiner Regierungserklärung am Donnerstag vor der Volkskammer den Versuch unternommen, den Menschen der DDR ihr doch arg angekratztes Selbstwertgeföhl zurückzugeben. Sie dürften nicht das Gefühl bekommen, „zweitklassige Bundesbürger“ zu werden. „ Grundlegender Kurs“ der Regierung sei daher ein Beharren auf die IVährungsumstellung von 1: 1. Das Problem der Regierungserklärung war, daß sie konsensfähige Grundsatzpositionen verknüpfte mit Vorhaben, deren Realisierung die DDR-Regierung nicht allein in der Hand hat. Nach der anschließenden aktuellen Stunde über den Verfassungsentwurfdes Runden Tisches mußte man sich fragen, ob es sich um das Vorspiel einer Verfassungsdebatte oder um ein Nachspiel des Wahlkampfs handelte. Die Regierungserklärung von Lothar de Maiziere in der gestrigen Volkskanunersitzung in Berlin hat in den konkreten Vorhaben wenig Überraschungen gebracht, wohl aber war sie im grundsätzlichen Teil beeindruckend. Daß ihr am Schluß sogar PDS-Vorsitzender Gregor Gysi (wenn auch nicht seine ganze Fraktion) Beifall zollte, zeigt, daß de Maiziere mehr geleistet hat, als nur ein Regierungsprogramm vorzustellen. Soweit für seine Rede bundesdeutsche Vorbilder eine Rolle gespielt haben, so war es gewiß nicht Helmut Kohl, an den er gedacht hat, sondern Richard von Weizsäcker. De Maiziere war sichtbar bemüht, für alle DDR-Bürgerinnen zu sprechen und ihnen wieder etwas von ihrem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl zurückzugeben: „Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert [...] Wir haben einen demokratischen Auftrag. Den haben uns die Bürger der DDR gegeben, und niemand sonst“. Direkt an die Adresse der BRD gerichtet, erklärte er: „Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben“. Und noch etwas deutlicher: „Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1: 1 oder 1: 2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt [...], daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sicherstellen, daß unsere Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden“. Auf die rhetorische Frage „Haben wir gar nichts einzubringen in eine deutsche Einheit? “ antwortete er: „Wir bringen unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz ein. [...] Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde“. Der Ministerpräsident stellte die Umwälzung in der DDR in den Kontext des „demokratischen Erbes Deutschlands“ vom Bauernkrieg der 1848er Revolution und der Novemberrevolution 1918 über den 20. Juli 1944 bis hin zum 17. Juni 1953. Sein ausdrücklicher Dank galt den „neuen demokratischen Gruppen“, die „einen herausragenden Platz der deutschen Geschichte“ verdienten, den Kirchen, aber auch Hans Modrow. Er habe „als Demokrat überparteilich“ mit seiner „behutsamen Politik“ entscheidend dazu beigetragen, daß „uns sicher vieles erspart blieb“. De Maiziere erinnerte auch an den Beitrag Gorbatschows zu den Umwälzungen der letzten Jahre, an den Kampf der polnischen Solidamosc und an die tschechoslowakischen Bürgerrechtler. Und er dankte führenden bundesdeutschen Politikern voran Richard von Weizsäcker für ihr Bekenntnis zur „Einheit des deutschen Volkes“. <?page no="289"?> Textanhang 289 Erbkrankheiten Sein Rückblick auf die Geschichte der DDR konzentrierte sich vor allem auf den „diktatorischen Zentralismus" als der „eigentlichen Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft". Selbstkritik wurde dabei nicht ausgespart: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR- Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl femzubleiben“. Und: „Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen". ... Keine Selbstverständlichkeit war es auch, daß de Maiziere daran erinnerte, daß es bedeutendere Probleme als die deutsche Teilung gibt: „Die eigentlichen Probleme in unserer Welt [...] bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd". Ob allerdings der Beitrag, den er zur Überwindung dieser Ungerechtigkeit ankündigte, nämlich die „Verschmelzung des deutsch-deutschen Engagements in den Ländern der Dritten Welt", dieser Aufgabenstellung angemessen ist, das darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Es war ein Problem dieser ganzen Rede, weil es das Problem dieser Koalition ist, daß sie konsensfähige Grundsatzpositionen verknüpfte mit Vorhaben, die zureichend scheinen, um sie auch einzulösen. Es war die moralisch überlegene Position des Schwächeren, die dieser Rede zugrunde lag. [.] Walter Süß „Der Morgen". 20.04.1990. S. 1 (DM,20,1) Wahrhafte Demokratie und Politik mit Augenmaß Regierungserklärung von Lothar de Maiziere / Baldige Einheit in einem friedlichen Europa / Kontroverse Debatte / Verfassungsentwurf des Runden Tisches „Morgen "-Bericht von Jürgen Voigt Berlin. - An zwei Tagen muß sich die Volkskammer mit der Regierungserklärung beschäftigen, die Premier Lothar de Maiziere am Donnerstag vormittag vortrug. Die Debatte beginnt heute um 9 Uhr. Nach der Erklärung des Ministerpräsidenten der großen Koalition gab es eine aktuelle Stunde zum Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Diesen zusätzlichen Tagesordnungspunkt hatte die Fraktion Bündnis 90/ Grüne gefordert. Lothar de Maiziere erläuterte in seiner SOminütigen Rede, wie sich die Regierung die Erneuerung der Gesellschaft vorstellt. Das müsse ein ehrlicher Neuanfang sein. In dem historischen Prozeß unserer Befreiung „haben wir einem Politiker die wirksame Bündelung vieler positiver Impulse besonders zu verdanken: Michail Gorbatschow", sagte der Redner. Beifall im Plenum für diese Würdigung wie auch für den Dank an demokratische Wegbereiter wie Solidamocz in Polen, Vaclav Havel in der Tschechoslowakei und an die Ungarn, die den Eisernen Vorhang herunterrissen und damit Teile der Mauer zum Fallen brachten. Wir verneigen uns vor den Opfern des Faschismus, des Stalinismus und den Toten an der Mauer. Lernen sollten wir so der Premier von denen, die in dieser dunklen Zeit politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Es sei nicht die PDS allein, die DDR-Ver- <?page no="290"?> 290 Refonmtlierungen gangenheit zu verantworten habe. „Wir alle müssen sie verantworten. ... Es sind nicht immer die Mutigen von einst, die heute am lautesten die Bestrafung anderer fordern“. Der Wählerauftrag fordere die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. Wörtlich sagte der Regierungschef: „Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig“. Vonnöten seien in unserem Lande gewaltige eigene Anstrengungen, eine wahrhafte Demokratie und eine Politik mit Augenmaß nach innen wie nach außen. [...] „Der Morgen“, 20.04.1990, S. 2 (DM,20,2) Im Herbst gibt es erneut Wahlen Einheit soll Europa stärken / Maßnahmen im sozialen Bereich / Aus der Regierungserklärung Der Ministerpräsident kündigte die Einführung der Länder für 1991 an. Die Wahlen dazu sollen bereits im Spätherbst dieses Jahres stattfinden. Die Länderstruktur sei eine Grundbedingung für die deutsche Einheit, für Demokratie und für eine erfolgreiche Umstrukturierung der Wirtschaft. Bis dahin sollten die Räte der Bezirke nur noch als Verwaltungsorgane, als Bindeglied im Sinne einer Auftragsverwaltung tätig bleiben. Die Einheit Deutschlands soll nach den Worten von de Maiziere die Gemeinschaft der Europäer stärken. Die wesentliche Voraussetzung dafür sei die Garantie der Grenzen in Europa. Die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der polnischen Westgrenze sei unverzichtbar. Deutschland habe keine Gebietsansprüche gegenüber anderen Staaten und werde sie auch in Zukunft nicht erheben. Den Artikel 23 des Grundgesetzes solle die künftige deutsche Verfassung nach der Vereinigung nicht mehr enthalten. Die Regierung bestätigte die bereits mehrfach getroffene Aussage, daß die Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der DDR bei Löhnen und Gehältern im Verhältnis 1: 1 erfolgen sollte, bei Renten ebenfalls im Verhältnis 1: 1, wobei ihre schrittweise Anhebung auf das Nettoniveau von 70 Prozent nach 45 Versicherungsjahren erfolgen sollte. Bei Sparguthaben und Versicherungen mit Sparwirkung werde ebenfalls ein Verhältnis von 1: 1 angestrebt, wobei Wege eines differenzierten Umtausches gegangen werden sollten. Die Steuergesetzgebung solle dahingehend verändert werden, daß mit günstigen Startsteuersätzen für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Investoren aus dem In- und Ausland Rahmenbedingungen für die schnelle Untemehmensgründung geschaffen werden. Die Landwirtschaft solle schrittweise an den EG-Markt herangeführt werden, unterstrich der Premierminister. Dazu seien Schutzmaßnahmen jedweder Art für eine mehljährige Übergangsperiode erforderlich. Arbeitsforderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere auch für Frauen, Alleinerziehende, Eltern kinderreicher Familien und Geschädigte sei Ziel der Regierungspolitik. Die zu erwartende Arbeitslosigkeit erfordere Sofortmaßnahmen wie die Umschulung und Qualifizierung von Werktätigen, den Aufbau leistungsfähiger Arbeitsämter, finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit sowie den Schutz der Beschäftigten durch ein <?page no="291"?> Textanhang 291 Kündigungsschutzgesetz, ein Betriebsverfassungsgesetz und ein Tarifvertragsgesetz. Im Gegensatz zur zentralistischen Verwaltung der Sozialversicherung beim FDGB werde es in Zukunft selbstvenvaltete, voneinander getrennte Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen geben. De Maiziere sprach sich für eine Abkehr von der einseitigen Förderung des Leistungssportes und zu verstärkter Förderung des Breiten- und Behindertensportes aus. Zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona solle eine gesamtdeutsche Mannschaft entsandt werden. Die in den letzten Jahren zementierte Einheitlichkeit im Bildungswesen müsse durch ein differenziertes und flexibles System ersetzt werden, das auch alternative Modelle nicht ausschließe. „Der Morgen“, 20.04.1990, S. 3 (DM/ K,20,3) Konsens und Konstruktivität Von Dr. Manfred Brendel Die Regierung hat sich erklärt. Vier Wochen nach der Wahl endlich. Doch das von manchen ungeduldigen Kommentaren begleitete Warten hat sich gelohnt. Lothar de Maiziere hat mit dem gestern vor der Volkskammer vorgestellten Programm deutlich gemacht, daß diese Regierung sich ihrer vornehmsten Aufgabe wohl bewußt ist, nämlich sich möglichst bald selbst zu überwinden. Wie bald das sein wird, wie schnell die erste frei gewählte Regierung der DDR zugleich deren letzte gewesen sein wird, das konnte naturgemäß auch gestern nicht verbindlich gesagt werden. Schon unmittelbar nach seiner Wahl hatte der Regierungschef darauf verwiesen, daß das Tempo des Einigungsprozesses „nur in bedingtem Maße durch regierendes Handeln zu beeinflussen ist“. Um so bemerkenswerter das Selbstbewußtsein, mit dem das Kabinett angetreten ist. sich und uns nicht zum Objekt eines Naturereignisses Vereinigung werden zu lassen, sondern die Erfüllung des wirksamsten Wahlversprechens aktiv gestalten zu wollen, obwohl wie fast alles in diesem Land gerade dieser Vorgang von Emotionen bestimmt ist. Kompatibilität war ein mehrfach gebrauchter Begriff der Regierungserklärung: Paßfähigkeit hersteilen in der Wirtschafts-, Währungs-, Sozial- und Rechtsunion. Damit wurde der vereinfachenden Auffassung widersprochen, daß Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes, wie sie die Regierungskoalition vereinbart hat, schlichtweg Vereinnahmung bedeute. Mit der Regierungserklärung wurden auch Pflöcke eingeschlagen für die begonnenen Ministergespräche in Berlin und Bonn wie auch die Begegnung von Bundeskanzler und Ministerpräsident, über die man durchaus stolpern kann. Eins-zu-eins-Vereinigung das ist Berliner Regierungsprogramm, denn so der christliche Demokrat de Maiziere - „Teilung kann nur durch Teilen aufgehoben werden“. Das wird in Bonn nicht ohne Widerspruch bleiben. Innenpolitisch hat die Regierungserklärung kaum ein Reizwort der letzten Wochen und Monate ausgespart. Aus jedem einzelnen ergibt sich ein vielstimmig begründeter dringender Handlungsbedarf von Parlament und Regierung. Die Abgeordneten werden ihren eigentlichen Beruf schnellstens an den Nagel hängen müssen, um das Programm zu bewälti- <?page no="292"?> 292 Reformulierungen gen. Im Nachhinein erklären sich auch die tage- und nächtelangen Koalitionsverhandlungen über gemeinsame Positionen. Den dabei erreichten Konsens versuchte der Regierungschef gestern Land und Leuten zu vermitteln. Vom inneren Frieden sprach er, der notwendig sei, um die Früchte der friedlichen Revolution nicht verderben zu lassen. Er sprach aber auch von der Notwendigkeit, daß die Regierung die Geschicke des Landes fest in die Hand nehmen, von den demokratisch legitimierten Befugnissen Gebrauch machen und die weithin herrschende Rechtslosigkeit beenden müsse. Gute Vorsätze. Sie unter hohem Erwartungsdruck zu erfüllen, wird nicht leicht. Hundert Tage gibt man gemeinhin einer neuen Regierung Schonfrist. „Wenn man uns nur zehn ließe“, so de Maiziere vor der Presse, „wäre ich schon ganz zufrieden“. Heute wird die Opposition zur Regierungserklärung das Wort nehmen. Auch daran wird man ermessen können, wie schwer die nächsten acht oder achtundneunzig Tage werden. „Der Morgen“, 23.04.1990. S. 3 (DM/ K,23,3) Ein klares Wort Wir wollen arbeiten dieser kleine Nebensatz in der Regierungserklärung de Maizieres hat programmatischen Charakter. Ist doch in all den Diskussionen vergangener Wochen, als um Umtauschsätze. Quoten, Kredite oder Absichtserklärungen geredet wurde, nur allzuoft vergessen worden, daß harte Arbeit auf uns zukommt. D-Mark schön und gut, und je freundlicher das eins zu ... ausfällt, umso besser. Spätestens aber, wenn die D-Mark in der Lohntüte ihr Äquivalent in verkaufter guter Ware sucht, wird abgerechnet. Unser Premier hat gesagt, wo und wie wir arbeiten, leben und wohnen wollen. In einer ökologisch verpflichteten, sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dafür bewährte Vorbilder, und der Christdemokrat an der Spitze unserer Regierung hat mit klaren Worten bekräftigt, daß die Hinwendung zum Markt kein Abschied ist von sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität. Aber einfach wird es nicht werden. De facto leben wir noch mit den Resten staatlich gelenkter Kommandowirtschaft. Der Markt beginnt sich erst hier mehr, dort weniger sein Recht zu verschaffen. Die neue Regierung wird dabei gefordert sein. Es ist an der Zeit, an die Stelle der Freiräume ökonomischen Goldgräbertums feste Rahmen zu setzen. Die schönste Gewerbefreiheit nutzt wenig, wenn keine klaren Regelungen zur Gewerberaumvergabe bestehen. So mancher Gestrige versteckt sich noch hinter diesen Lücken und versucht zu bremsen. Das mag nicht das größte Problem sein, die großen VEB bzw. ihre nachfolgenden AG und GmbH für die rauhe Luft des Marktes zu rüsten, ist sicher schwieriger. Aber in den neuentstehenden Betrieben des Mittelstandes wird so mancher, dem der bisher sicher geglaubte Arbeitsplatz in Volkes Eigentum verlorengeht, sein Unterkommen finden. 500000 Arbeitsplätze sollen allein in diesem Jahr in Klein- und Mittelbetrieben neu entstehen. Eine gute Mittelstandspolitik so de Maiziere wird ein Schwerpunkt künftiger Mittelstandspolitik sein. In den zurückliegenden Monaten hat unsere Wirtschaft so manch harten Schlag wegstecken müssen. Jetzt scheint es möglich, wieder aufzuholen, mit der Arbeit endlich zu beginnen. Axel Schomburg <?page no="293"?> Textanhang 293 „Berliner Allgemeine”, 20.04.1990, S. 1 (BER,20,1) Premier de Maiziere in der Volkskammer: Das Ziel bleibt der Umtauschsatz von 1: 1 Regierungserklärung betont Vereinigung nach Artikel 23 Bundesregierung: Botschaft für einen demokratischen Neubeginn Es berichtet HARALD SCHULZENDORF Berlin (BA). Mit hochgesteckten Zielen tritt die Regierung de Maiziere ihr Amt an. Der Premier umriß gestern mit der Regierungserklärung vor der Volkskammer die in den nächsten Monaten zu lösenden Aufgaben. Vorrangig geht es nach den Worten des Regierungschefs um eine ökologisch verpflichtete soziale Marktwirtschaft, die in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und der EG gestaltet werden soll. In den nächsten acht bis zehn Wochen seien dazu die Grundlagen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zu legen. De Maiziere machte unmißverständlich klar, daß seine Regierung unverändert am Umtauschsatz 1: 1 für Löhne, Gehälter, Renten, Sparguthaben und Versicherungen festhält. Noch vor dem Stichtag im Sommer sollen die bisherigen Subventionen den Einkommen zugeschlagen und das staatsdirigistische Planungssystem abgeschafft werden. Für den Weg zur deutschen Einheit gilt für die Regierung die Formel: So schnell wie möglich, aber mit Rahmenbedingungen so gut. vernünftig und zukunftsfähig wie nötig. Das wird nach Auffassung des Premiers am besten durch Grundgesetzartikel 23 gewährleistet. In diesem Zusammenhang richtete er an die Bürger der BRD den Appell, die Teilung könne tatsächlich nur durch Teilen, durch Solidarität und Sympathie überwunden werden. Als Grundbedingung für die deutsche Einheit muß relativ schnell die Länderstruktur eingeführt werden. Als Termin gilt 1991, mit vorgeschalteten Landtagswahlen im Herbst dieses Jahres. Der Regierungschef regte an, die Legislaturperiode der Bezirkstage nach den Kommunalwahlen zu beenden und die Räte danach nur noch als Verwaltungsorgane füngieren zu lassen. Breiten Raum nahm in der mit Beifall aus allen Fraktionen aufgenommenen Regierungserklärung die Problematik Ökologie und Umweltschutz ein. Um die Defizite auf diesem Gebiet auszugleichen, soll ein finanzierbares und durchdachtes Programm in Gang gesetzt werden, das Arbeitsplätze erhält und schafft. Kontroverse Auffassungen über die Notwendigkeit einer neuen Verfassung kennzeichneten die sich anschließende aktuelle Stunde. Während Sprecher von CDU, DA und DSU das Thema auf dem Weg zur deutschen Einheit als abwegig bezeichneten, mahnten Vertreter anderer Parteien die Notwendigkeit eines Grundgesetzes auch in einer Übergangsphase an. Die Aussprache zur Regierungserklärung folgt heute. <?page no="294"?> 294 Reformulierungen „Berliner Allgemeine“, 20.04.1990, S. 1/ 2 (BER/ K.,20,1/ 2) Der große Balanceakt Die neue DDR-Regierung hat sich erklärt. Nach seiner 80-Minuten-Ansprache durfte Premier Lothar de Maiziere den in der Intensität gewiß abgestuften - Beifall aus allen sieben Fraktionen der Volkskammer entgegennehmen. Die Zustimmung galt einer eher kühl als effektvoll vorgetragenen, sachlichen und in gewisser Weise auch um Ausgleich bemühten Erklärung, die, im Gegensatz zu manchem Flop, den Wahlkampfredner produzierten, die leeren Versprechungen mied. Sicherlich wird so eine Grundsatzrede unterschiedlich aufgenommen. Die Interessenlage des Zuhörers spielt da eine große Rolle; der Diplomat auf der Tribüne setzt andere Bewertungsakzente als das Rentnerpaar am Rundfunkgerät. Für mich war einer der Kerngedanken der von der Einheit, die so schnell wie möglich kommen müsse, aber, so schränkte de Maiziere ein, ihre Rahmenbedingungen müßten so gut, so vernünftig und so zukunftsfahig wie nötig sein. Dem Mann an der Regierungsspitze, so darf man getrost prophezeien, wird die Balance der in diesem Kontext so bedeutungsschweren Wörter MÖGLICH und NÖTIG nicht leichtfallen, denn das wurde gestern auch sichtbar es gibt nicht wenige in hohen Ämtern, denen Schnelligkeit offenbar mehr bedeutet als Solidität. In Währungsfragen bleibt der Rechtsanwalt beim hier populären und dort unpopulären 1: 1. Seine Begründung ist mehr als ein pointiertes Wortspiel: Wer die Teilung überwinden wolle, müsse teilen. Ein freimütig vorgetragener Standpunkt, dem von den Machern in der letztlich alles entscheidenden C-Partei am Rhein ganz gewiß nicht stehend applaudiert wird. Im inneren DDR-Gefuge sieht der Ministerpräsident bereits vor der Währungsumstellung einen differenzierten Zuschlag auf Löhne und Renten, und zwar aus dem bisherigen Subventionsfonds. Doch dieser positiven Einkommensentwicklung soll auf dem Fuße die Freigabe der Preise und Mieten folgen. Das ist ein Gesetz des Marktes, an dem nun nicht mehr zu rütteln ist. Nur: Der (auch in freien Preisen) Unerfahrene neigt zur Übertreibung gern. Es wäre sehr zu wünschen, daß Lothar de Maiziere und seine marktwirtschaftlichen Spezialisten dann auch zum Maßhalten raten. Der Premier äußerte sich nicht zum viel diskutierten Staatsvertrag und ebenfalls nicht zum gesamtdeutschen Wahltermin. Er mag seine Gründe dafür haben. Eine denkbare und gar nicht einmal so unsympathische Version wäre die einer gewollten Distanz zu Fragen, die speziell uns in der DDR etwas angehen, die aber andere über unsere Köpfe hinweg zu besprechen belieben. Daß der neuen Regierung künftig Wunder zu Hilfe kämen, wollte der Hausherr im Regierungssitz ausschließen. Aber Volkes Unterstützung sei vonnöten. Viele von denen, die sich im Herbst als das Volk fühlten, sind ernüchtert und enttäuscht. Was auch immer man unter dem Volk versteht: Die DDR-Bürger hegen Erwartungen in die Regierungsarbeit, und im Miteinander von Geben und Nehmen wird de Maizieres Mannschaft wohl den Ton angeben müssen. Diethard Wend <?page no="295"?> Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Die nächsten Bände: Andreas Paul Müller ‘Reden ist Chefsache’ Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ‘Kontrolle’ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen Reinhold Schmitt / Gerhard Stickel (Hrsg.) Polen und Deutsche im Gespräch Franz-Josef Berens / Rainer Wimmer (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex- Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehnwortbildung II Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post- Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern <?page no="296"?> Der vorliegende Band diskutiert die Konzepte ‘Reformulienmg’ und ‘Redewiedergabe’ aus intertextuell-diskursiver Sicht und beschreibt zugleich einen Teil jüngster deutscher Sprachgeschichte. Untersucht werden grammatischstrukturelle, propositionale und funktionale Eigenschaften von Reformulierungen unter besonderer Berücksichtigung der argumentativen Einbettungen. Anhand einer Fallstudie aus dem deutsch-deutschen Diskurs zwischen ‘Wende’ und ‘Vereinigung’ im Frühjahr 1990 werden Wiederaufnahmen eines relevanten Originaltextes in Folgetexten beschrieben. Dabei geht es vor allem um sprachliche Indikatoren für Sprecher-, kontextbzw. diskursabhängige Modifikationen, Interpretationen und Bewertungen von Bezugsentitäten. Die Detailanalyse erlaubt schließlich die Rekonstruktion von komplexen Reformuherungsmustern, die das kommunikative Verhalten der Deutschen in der Folgezeit nicht unwesentlich prägten und als typisch für öffenthche Diskurse überhaupt gelten können. ISBN 3-8233-5137-0
