Sprachidentität - Identität durch Sprache
0505
2003
978-3-8233-4761-3
978-3-8233-5761-2
Gunter Narr Verlag
Nina Janich
Christiane Thim-Mabrey
<?page no="1"?> Sprachidentität - Identität durch Sprache <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 465 <?page no="3"?> Nina Janich / Christiane Thim-Mabrey (Hrsg.) Sprachidentität - Identität durch Sprache ~ Gunter Narr Verrag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio· grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © 2003 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier: Internet: http: / / www.narr. de E-Mail: info@narr.de Druck: Müller+ Bass, Tübingen Bindung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 3-8233-5761-1 <?page no="5"?> Vorwort Der vorliegende Sammelband verdankt sich den engagierten Beiträgen und angeregten Diskussionen eines internationalen Symposiums, das am 19. und 20. April 2002 zu Ehren des 60. Geburtstages von Albrecht Greule an der Universität Regensburg stattfand. Ziel des Symposiums mit dem Titel „Sprachidentität - Identität durch Sprache. Beiträge der Sprachwissenschaft zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion" war es, ein im Rahmen von EU-Erweiterung und Globalisierung brennendes Thema aus verschiedenen sprachwissenschaftlichen Perspektiven zu konkretisieren und uns damit auch der verstärkt an die Geisteswissenschaften herangetragenen Forderung zu stellen, zu einem Thema des öffentlichen Interesses wissenschaftlich Stellung zu beziehen. Zugleich verbindet sich dies mit einem der Forschungsschwerpunkte Albrecht Greules: der Sprachkulturforschung. Die Vorträge, die hier in schriftlicher Fassung vorliegen, akzentuieren verschiedene Facetten von Sprachidentität. Der Beitrag von Albrecht Greule wurde nachträglich für diesen Sammelband verfasst und versteht sich als eine essayistische Ergänzung des Themenspektrums. Eine öffentliche Podiumsdiskussion zu Beginn des Symposiums und ein abschließendes Rundgespräch mit geladenen Fachvertreterinnen und Fachvertretern aus dem In- und Ausland beleuchteten „Sprachidentität" insbesondere unter dem Blickwinkel der Situation des Deutschen im Europa des 21. Jahrhunderts. Beide Diskussionen wurden in diesen Band aufgenommen, die Podiumsdiskussion in Form einer Zusammenfassung auf der Basis eines Tonbandmitschnitts, das Rundgespräch in Form von Thesen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit abschließender Synthese. Das Ziel des Symposiums brachte es mit sich, dass sich auch dieser Aufsatz-Band auf die Diskussion eines konkreten (kontroversen) Themas konzentriert, so dass längst nicht alle Freunde und Kolleginnen die Gelegenheit hatten, Albrecht Greule durch einen Beitrag im Rahmen einer Festschrift zu ehren. Ihre Namen finden sich in einer Tabula gratulatoria am Schluss des Sammelbandes. Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Beiträgern und Diskutandinnen, Helferinnen und Helfern, die die Tagung zu einem Forum des wissenschaftlichen Austausches gemacht haben. Für die zügige und sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge und die Erstellung der Druckvorlage danken wir besonders Frau Theresa Jindra. <?page no="6"?> VI Vorwort Das Symposium und die Publikation des Sanunelbandes wurden durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Regensburger Universitätsstiftung Hans Viefberth, der Universität Regensburg und des Unternehmens EDS Deutschland GmbH ermöglicht. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Schließlich danken wir dem Verleger Gunter Narr für seine engagierte Teilnahme am Symposium und die seit Jahren gute Zusammenarbeit mit dem Gunter Narr Verlag in Tübingen, die sich auch bei diesem Band wieder bewährt hat. Nina Janic/ 1 und Christiane Thim-Mabrey Regensburg im Dezember 2002 <?page no="7"?> Inhalt Vorwort ............................. „ . . „ .. . „.„ .. „„ ...... . .. „ . „ .. ...... „ .. ..... .... . . . .. . ........... „ ....... V Inhalt ................................................................................................................ VII Christiane Thim-Mabrey Sprachidentität - Identität durch Sprache. Ein Problemaufriss aus sprachwissenschaftlicher Sicht „ ........... „ .. „.„ .. „ .. „ . . „ .. „ . . ......................... 1 Susanne Näßl Die Rolle der deutschen Sprache im internationalen Kontext. Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion mit Statements von Gunter Narr, Csaba Földes, Margot Heinemann, Rudolf Hobcrg, Heinrich Löffler und Peter Wiesinger .. „ ................. „ ..... „ ..... „„ .... 19 Wilhelm Oppenrieder, Maria Thurmair Sprachidentität im Kontext von Mchrsprachigkeit „ .•.. . .... . . „ .. „ ........ . „ .... „ 39 Heinrich Tiefenbach Beginn einer volkssprachigen Identität im Spannungsverhältnis zwischen Althochdeutsch und Altsächsisch .. „.„„ . • . . . .•.•••..••..••.••...•.•.. „.„ •. „ 61 Friedhelm Debus Identitätsstiftende Funktion von Personennamen ................... „.„ . ............. 77 Ingrid Kühn Sprachberatung als Hilfeleistung im Identifikationsprozess .................... 91 Ulla Fix Identität durch Sprache eine nachträgliche Konstruktion? .................. 107 Robert Hinderling Wej mir sog'n. Sprache und Identität des Mundartsprechers in Nordostbayern. Erfahrungen bei der Erhebung des Materials für den Sprachatlas von Nordostbayern .................................................................. 125 Hans-Werner Eroms Identität durch Sprache in der neueren deutschen Literatur .............. „ .. 137 <?page no="8"?> VIII Jnh11/ t Horst Dieter Schlosser Wenn sich die Parteien in der Mitte drängeln. Von Erfolg und Misserfolg politischer Identifikationsangebo te ................................. 155 Albrecht Greule .„irgendwie'n anderer Mensclt. Identität und Sp1·ache am Beispiel eines Anamnesegesprächs ......... „ .. „.„ .. „.„ ........ „.„ .............. 171 Nina janich, Susanne Niißl ,Sprachidentität' in der germanistischen Forschung und Lehre. Resümee und Ausblick. Zusammenfassung eines Rundgesprächs mit Statements von Peter Bassola, Stojan Brach '.: , Jarmo Korhonen, Eckhard Meineke, Dieter Nerius, Dagmar Neuendorff, Eva Szcherova und Zenon Weigt .... „ ....... . . . .•. „ . „.„ . ............................... „ .. .. .......................... 177 Grußwort und Tabula gratulatoria ... „.„.„ .. „ ....• „ .. „.„.„ .. „.„.„.„ .•.. „ ..... „ ... 203 <?page no="9"?> Sprachidentität - Identität durch Sprache. Ein Problemaufriss aus sprachwissenschaftlicher Sicht Christiane Thim-Mabrey 1 Fragestellung Das Wort „Identität" ist im deutschen Sprachgebrauch mit verschiedenen Bedeutungen belegt. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache in der Duden-Reihe (1999) unterscheidet a) Identität wie in der Fügung jemandes ldenlitiit feststelleu als 'Echtheit einer Person oder Sache' oder als 'völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird', b) Identität wie in den Ausdrücken se i11e Identität finden, suchen, eine mme Identität im Sinne einer 'als Selbst erlebten inneren Einheit einer Person' sowie c) Identität im Sinne einer 'völligen Übereinstimmung mit jemandem, in Bezug auf etwas, Gleichheit'. Weiterhin führt das Wörterbuch als Einträge z.B. auf: jemanden/ chvas identifizieren, sielt identifizieren mit, Identifikation, Identitätsausweis, -karte, -nachweis, -papiere, Identilätsfindtmg, -krise 1t11d -verlust. Jedes Unternehmen, das den Prozessen der Identitätsbildung, den dabei mitwirkenden konstitutiven oder begleitenden Faktoren auf die Spur kommen will, stößt schon im Alltagsverständnis des Wortes auf höchst komplexe und erklärungsbedürftige Konzepte - Echtheit, Übereinstimmung, Selbst, innere Einheit, Gleichheit -, die überdies alle, mehr oder weniger gemischt, auch in der Vorstellung von Sprachteilhabern eine Rolle spielen können, wenn diese reflektieren, was ihre eigene ,Identität' prägt und womit sie sich ,identifizieren'. Der Titel des vorliegenden Bandes und des vorangegangenen Symposiums beschränkt diese Vielfalt durch den Aspekt der Sprache: Wo und Wie ist die Sprache aus der Sicht der Sprachwissenschaft mit der Identitätsproblematik verknüpft? Dabei eröffnet der Titel folgende Ausdeu· tungsmöglichkeiten: „Sprac/ 1identität": Dieser Begriff kann die Eigenschaft einer einzelnen Sprache bezeichnen, als solche identifizierbar und von anderen Sprachen abgrenzbar zu sein, in diesem Sinne also eine ,Identität' zu besitzen. Damit eröffnet dieses Schlagwort im Hinblick auf die deutsche <?page no="10"?> 2 Cliristia11e Tllim-Mabrey Sprache bereits ein erstes Untersuchungsfeld: die Identität der deutschen Sprache als einer von anderen Sprachen abgrenzbaren, unterscheidbaren und unterschiedenen Sprache. „Sprachidentität" kann auch die Identität einer Person in Bezug auf ihre - oder auf eine - Sprache bezeichnen. Diese Bedeutung wiederum umfasst die Möglichkeit, dass eine Einzelsprache wie Deutsch, Englisch oder Spanisch, eine dialektale, soziolektale oder sondersprachliche Gruppensprache oder auch eine idiolektale Form der Sprachverwendung gemeint ist. Offen ist auch, ob der Gesichtspunkt der Sprache als permanent-konstitutiver Bestandteil einer personalen Identität gilt oder nur als begleitender Faktor, der in bestimmten Zusammenhängen lediglich besonders fokussiert wird. Die Sprache kann dabei sowohl im Selbstverständnis einer Person wie auch in ihrer Identifikation durch die Umwelt ebenfalls eine zentrale oder eine nebengeordnete Position haben. Unter Umständen wird, in der Außenperspektive auf eine Person, sogar aus der Sprache auf (andere) konstitutive Persönlichkeitsmerkmale dieser Person als Individuum wie auch als Mitglied einer Gruppe geschlossen. Gerade in der Außenperspektive beinhalten Einstellungen zu Sprachen und Sprachvarietäten oft stereotype positive oder negative Vorstellungen von bestimmten charakteristischen Eigenschaften ihrer Sprecher, die in der Sprache zum Ausdruck kämen, so dass sich, gemäß solcher Wahrnehmung, in der Sprache dann auch eine durch Gruppenzugehörigkeit geprägte Identität manifestierte (vgl. Quasthoff 1987). „Identität durch Spracl1e": Hier beschränkt sich der Blick auf die Identität von Personen, soweit diese durch Sprache und Sprachverwendung konstituiert oder mitkonstituicrt wird. Die Präposition durch impliziert, dass die Sprache instrumentell an der Identitätsbildung einer Person in ihrem Selbstverständnis und in der Außenwahrnehmung beteiligt sein könnte, lässt aber wiederum offen, ob die Identität selbst sich dann wesentlich im Sprachlichen zeigt. Welche Dimensionen ,der' Sprache für solch eine instrumentelle Aufgabe in Frage kommen und wie groß und wie zentral ihr Anteil neben anderen Faktoren sein mag, wäre zu untersuchen. Beide Fügungen, Sprachidentität und Identiläl durcli Sprache, sind im Titel zueinander in Bezug gesetzt und erschließen somit eine weitere Fragestellung: Inwieweit basiert Identität durcli Sprache darauf, dass Sprachen (als Gesamtsprache wie auch als Varietäten) von den Spre· ehern als klar voneinander abgegrenzt und abgrenzbar, ,identifizierbar', wahrgenommen werden? Und umgekehrt: Ist die Identität einer <?page no="11"?> S prac/ 1id entität - Id entität d11rc/ 1 Sprache. Eill Probl emaufriss 3 Sprache oder Sprachvarietät für die Sprecher selbst eventuell gerade damit verbunden, dass sie nach dem mehr oder weniger reflektierte n Vorverständnis von Sprachteilhabern mit konstitutiven nichtsprachlichen Bestandteilen der Identität einer Person korreliert? Insbesondere die letztgenannte Fragestellung ist nicht nur von sprachwissenschaftlichem Interesse. Sie könnte de r eigentliche Rahmen sein, in dem z.B. auch die öffentliche Diskussion über Sprache und Sprachverwendung vom europapolitischen Sprachenstreit über die Kritik am Eindringen des Englischen ins Deutsche bis hin zur vielfach empfundenen und beklagten Hierarchie zwischen Sprachvarietäten in unterschiedlichen Domänen der Sprachverwendung (etwa Schulen und Medien) beurteilt und verstanden werden muss. Ferner würde sich erklären, warum Sprachteilhaber oft ungern in die als ,eigene' beanspruchte und empfundene Sprache eingreifen lassen, sei es, in unterschiedlichen Schwerpunkten, z.B. durch eine Reform der Rechtschreibung oder durch Vorschriften zu einem bestimmten bisher nicht praktizierten ,politisch korrekten' Sprachgebrauch. Andererseits wird Sprache auch in der Weise als die ,eigene' beansprucht, dass man sie als Medium der Selbstdarstellung, und das heißt: der Präsentation der eigenen Identität, selbst gestaltet: durch Wahl, Verwendung und punktuelle Um· und Neugestaltung sprachlicher Mittel und Verfahren (vgl in jüngster Zeit zu Sprache und Identität der Hip-Hop-Szene Bierbach/ Birken-Silverman 2002, Streeck 2002). Schon 1987 konstatiert Lothar Krappmann im Handbuch Soziolinguistik in der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissen· schaft eine auffällig zunehmende Beschäftigung mit dem Thema Identität. Dem „ Verdacht [.„], die Beschäftigung mit Identität sei nur ein Modethe· ma", setzt er die Vermutung entgegen, dass das Interesse an diesem Thema „mit der Bedrohung des Individuums durch übermächtige Sachzwänge und mit dem Zerfall von Sinntraditionen zusammenhängen" (Krappmann 1987: 133). Wenn das Symposium und die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sich ebenfalls diesem Thema widmen, so schalten sie sich nicht nur ihrerseits in dessen Diskussion mit ein, sondern Wenden sich mit ihrem Blick auf die Sprache zugleich der Frage zu, wo sich möglicherweise aus der Perspektive von Sprechern deren eigene Vorstellungen von Identität mit ihrer Sprache wie auch der Sprache anderer berühren. Die oben skizzierten Verbindungslinien zwischen Sprache und perso· naler Identität beanspruchen nicht, in die tiefsten Schichten der Persönlichkeit hineinzureichen. Identitätsmerkmale umfassen allein deshalb, Weil sie sich sowohl aus dem Selbstverständnis einer Person als auch in <?page no="12"?> 4 Cliristin11e Tl1im-Mnbrey der Außensicht auf diese Person ergeben, Schichten der Persönlichkeit, die in durchaus unterschiedlichem Maß der persönlichen Einflussnahme sowie der Darstellung nach außen zugänglich sind. Insofern können auch solche sprachlichen Ausdrucksformen, die im Hinblick auf eine Person vorübergehend und äußerlich erscheinen, identitätsrelevant sein, sofern sie in der Wahrnehmung dieser Person selbst ihre Identität nach außen oder nach innen mitprägen oder dies in der Sicht anderer tun. Neuere sprachwissenschaftliche Arbeiten zeigen eine Reihe von Zusammenhängen zwischen beobachtbar empfundener und wahrgenommener - Identität und Sprache auf, vor allem den Zusammenhang von nationaler Identität und (eigener) Sprache, von nationaler, kultureller und sprachbezogener Identität (z.B. Bartholy 1992, Gardt/ Haß-Zumkehr / Roekke 1999, Rcichmann 2000), von personaler Identität im sprachlichen Kontext von Dialekt (z.B. Eßer 1983, Pümpel-Mader 2000), sozialer Hierarchie (Müller 2002, Schmitt 2002, Spranz-Fogazy 2002), Institutionen (Schulen), Alter (Fiehler 2002, Spiegel 2002, Streeck 2002) und Geschlecht (z.B. Nimrnervoll 1999}, schließlich auch die Aspekte von Identität als erzählter, selbst thematisierter und konstruierter Identität (z.B. Hahn 1987, Wodak u.a. 1998). Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich darüber hinaus unter dem Stichwort „Stil" mit der Sprache von Sprachteilhabergruppen, die durch gesellschaftliche oder biographische Lebens- und Konununikationsbedingungen unterschiedlichster Art geprägt sind (vgl. z.B. Keim/ Schütte 2002, Riecke 2002). Auch in solchen Spezifika gewinnt eine sprachliche Form, was als identitätsrelevante Kontur der betreffenden Sprachteilhaber gelten kann und in ihrem Selbstverständnis oder in den Augen anderer auch gilt. Ziel des Symposiums war es nun, zum einen aus verschiedenen sprachwissenschaftlichen Blickwinkeln zu untersuchen, welche möglicherweise identitätsrelevanten Züge im Fall der deutschen Sprache zu erkennen sind; ZUl! l anderen aber auch zu prüfen, ob und inwieweit ein sprachwissenschaftlicher Handlungsrahmen zu einem bei Sprachteilhabern und in der Öffentlichkeit empfundenen Handlungsbedarf entwickelt werden kann und muss. So wurden Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler aus unterschiedlichen Forschungsfeldern eingeladen, aus der Perspektive ihres Forschungsschwerpunkts einen möglichen Aspekt des im Titel umrissenen Themenkomplexes zu durchleuchten. Vorgegeben wurde nur die folgende Skizze des für das Symposium angestrebten thematischen Rahmens: <?page no="13"?> Spracltidentitiit ldentitt'it d11rcl1 Spmc/ 1e. Ei11 Proble111n11friss 5 Sprache bildet eine wesentliche Grundlage des Selbstverständnisses sowohl von Völkem und ethnischen Minderheiten als auch von kleineren und größeren, regionalen oder sozialen Gruppen . Sie kann als soziales, kulturelles oder politisches Mittel zur Identitätsstiftung und -vergewisserung oder im Konfliktfall zur Identitätssicherung verstanden und instrumentalisiert werden. Das Bedürfnis, sich auch auf einer sprachlichen Ebene repräsentiert zu fühlen, das Bedürfnis nach Identität durch Sprache und Sprachidentität, ist ein genuin menschliches, das sich im Zusammenleben mit anderen ergibt. Dadurch gerät es oft in den Blickpunkt öffentlicher Diskussionen wie z.B. um die Behauphlng der europäischen Einzelsprachen im EU-Sprachenstreit, um die sich auch sprachlich immer noch manüestiercnden Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, um die Rolle von Dialekten und Minderheitensprachen oder überhaupt bei politischen und gesellschaftlichen innerstaatlichen oder interstaatlichen Umwälzungen. Das Symposium soll daher einen Eindruck von der Breite möglicher Fragestellungen und Forschungserkenntnisse in nationalsprachlicher, soziolinguistischer, sprachpsychologischer, idiolektaler und varictätenspezifischer Sicht vermitteln und aufzeigen, in welchen Bereichen die Sprachwissenschaft in der öffentlichen Diskussion aktiv werden und Fragen von allgemeinem Interesse fundiert beantworten kann. Diese Rahmenkonzeption wie auch die einzelnen Vorträge des Symposiums umreißen bei weitem nicht das gesamte Feld der identitätsreievanten Aspekte von Sprache(n) dies zeigt sich schon bei der oben vorgenommen knappen Sichtung der vorliegenden Forschungsliteratur. Bewirkt wurde aber, dass mehrere Forschungsgebiete in einer gemeinsamen Fragestellung vernetzt wurden und dass dabei eine durchaus kritische Durchleuchtung der Fragestellung selbst erfolgen konnte, wie sie sich in einer monographischen Untersuchung eines speziellen Aspekts weniger aufdrängen mag. Eine Podiumsdiskussion zu Beginn, in der die deutsche Sprache im heutigen internationalen Kontext diskutiert wurde, stellte eines jener Themen in den Mittelpunkt, das auch in der öffentlichen Bewertung am explizitesten mit der Frage einer gefährdeten oder zu bewahrenden Identität verbunden ist, insbesondere im Anschluss an das „Jahr der Sprachen" 2001 und im Kontext von EU-Sprachenstreit, ,Leitkultur'-Debatte und einer in der Bevölkerung durch Vereine und Initiativen neu entfachten Sprachkultivierungs- und Sprachbehauptungsdiskussion. Das Rundgespräch weiterer geladener in- und ausländischer Fachvertreterinnen und Fachvertreter am Ende des Symposiums diente der Einschätz~ng des derzeitigen Handlungsrahmens, in dem sich die Sprachwissenschaft bewusst und problemorientiert einer Bringschuld der Geistes- und Kulturwissenschaften gegenüber einer europäischen Gesell- <?page no="14"?> 6 Clzristinne T/ iim-MabreiJ schaft und Öffentlichkeit stellen wilrde. Wenn der Identitätsproblematik mit Blick auf alltägliche Lebensbewältigung und gesellschaftliches Zusammenleben in Deutschland und Europa ein ausgesprochen hoher Stellenwert zuzuschreiben sein sollte, so hätte sich dies weitaus stärker als bisher in der germanistischen Lehre und Forschung niederzuschlagen. Deutlich wurde jedoch in diesem Rundgespräch, dass die unübersehbar gegebenen Verbindungen zwischen personaler (und kollektiver) Identität und Sprache(n) nur dann erfolgreich erforscht werden können, wenn nicht auch die Sprachwissenschaft der für ,Hochwertwörter' typischen Sogwirkung des meist vage und zugleich umfassend gehandhabten Begriffs ,Identität' erliegt. Es müssen also durchaus die vielfältigen in Frage kommenden Aspekte untersucht werden. Darüber hinaus ist aber auch ein Beitrag zu einer sinnvollen Begrenzung dieses Begriffs im sprachlich und sprachwissenschaftlich relevanten Kontext zu leisten. Daraus wiederum könnten Maßstäbe für mögliche Problemlösungen zum Beispiel in der Sprach- und Medienpolitik, der sprachlichen Erziehung und dem Sprachunterricht sowie im Hinblick auf die Bedingungen erfolgreicher und nicht erfolgreicher Kommunikationen abgeleitet werden. 2 Die deutsche Sprache im internationalen Kontext Die Frage, welchen Stand die deutsche Sprache im internationalen Kontext innehat oder innehaben sollte, war für die Podiumsdiskussion Diskutierenden aus Österreich, Ungarn, der Schweiz und Deutschland in der Annahme gestellt worden, dass sie aus einer ihnen vorab zugeordneten jeweils speziellen Perspektive unter Umständen zu unterschiedlichen Beobachtungen und Beurteilungen gelangen würden. Einschließlich der Tatsache, dass bereits die Perspektiven- (oder auch: Identitäts-)Zuweisungen an die Diskutanten selbst diskussionsbedürftig waren, entfaltet sich in den- Beiträgen von Csaba Földes, Margot Heinema'nn, Rudolf Haberg, Gunter Narr, Peter Wiesingerund, durch Peter Wiesinger vertreten, auch Heinrich Löffler in der Tat ein breites Spektrum an für die Identitätsthematik relevanten Aspekten, die sich überlappend mit nichtsprachlichen Faktoren teils unabhängig von der Sprache, teils aber auch in ihr oder im Bezug zu ihr manifestieren und nicht nur im Hinblick auf das Deutsche Geltung haben: So identifizieren sich Personen mit der deutschen Sprache aufgrund einer empfundenen engeren und weiteren kulturellen und politischen oder nationalen Zusammengehörigkeit, einer gemeinsamen literarischen Tradition, einer gemeinsamen geographischen Herkunft, die auch, aber <?page no="15"?> Spracliidentität - Identität durch Sprache. Ei11 Problemau/ riss 7 nicht inuner mit der gemeinsamen Sprache bzw. dialektalen Varietät verbunden ist. Demgegenüber stützt sich die Identifikation durch die Außenwelt primär auf die Sprache: Eine ,deutsche Identität' ohne muttersprachliche Kompetenz wird oft angezweifelt. Als Faktoren, die darüber entscheiden, welchen Stand eine Sprache wie das Deutsche im internationalen Dialog erlangen und bewahren kann, kamen die folgenden zur Diskussion: Existenz sprach- und zugleich sprechergruppenidentifizierender Bezeichnungen (wie z.B. deutsch und zunehmend österreic11isc11); Existenz einer Form der betreffenden Sprache auch für den mündlichen, alltäglichen Sprachverkehr und deren funktionale Integration im gesellschaftlichen Gefüge (z.B. in der Schweiz), eventuell verbunden mit einer Rangfolge im Fall von Zwei- und Mehrsprachigkeit; Existenz konkurrierender Identitätsparameter im persönlichen Selbstverständnis (z.B. Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit gemeinsamer Muttersprache versus Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Fachleuten mit einer anderen gemeinsamen Verkehrssprache); positive (oder negative) emotionale Bindung der Sprecher an die eigene Sprache; Grad der Kompetenz im Gebrauch der eigenen wie auch anderer Sprachen; bewusstes Interesse an der eigenen Sprache und ihrem ,Funktionie· ren'; Existenz einer sprachinteressierten Öffentlichkeit und von öffentlichen Einstellungen zur eigenen und zu anderen Sprachen; Einstellungen zur eigenen Sprache, hervorgehend aus a) ~iner Randlage im Sprachgebiet und der Nachbarschaft zu anderen Sprachen, b) der Beliebtheit der eigenen Sprache oder ihrer Verbreitung und Eignung als Verkehrssprache außerhalb des eigenen Sprachge· biets, c) der Verbreitung der eigenen und anderer Sprachen in verschiedenen Verwendungsdomänen (z.B. Bereiche von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft) und politischen bzw. Fachgremien, d) ihrem Imagewert in unterschiedlichen soziolinguistischen Konstellationen, e) einem Status als Minderheitensprache; Existenz sprachkultivierender Institutionen oder sprachpolitischer Reglements; kulturpolitische Maßnahmen in anderssprachigen Ländern; Präsenz einer konkurrierenden, dominanten anderen Sprache in internationalen Kontexten; <?page no="16"?> 8 Clrristia11e Tltim-Mabrey tatsächliche Attraktivität einer Sprache im Fremdsprachenunterricht sowie im Hinblick auf mögliche Gastaufenthalte. Diese Faktoren mit Ausnahme des zuletzt genannten können, einzeln wie auch zusammengenonunen, als Anhaltspunkte dafür dienn, wie stark und zum Teil in welcher Hinsicht Sprecher und Sprechergruppen sich mit ihrer eigenen Sprache identifizieren. Den internationalen Blickwinkel auf die deutsche Sprache und die sprachliche Prägung von Identitäten weitet die Untersuchung von Wilhelm Oppenrieder und Maria Thurmair hin zu vielfältigen Mehrsprachigkeitskonstellationen, in denen die Sicht auf die eigene Identität sehr stark mit dem Aspekt der Sprache verknüpft sein kann. Dies wird in dem nur scheinbaren ,Normalfall', dass ein deutschsprachiges Kind in deutschsprachiger Umgebung eine oder mehrere weitere Sprachen mit hohem Prestige und starker Funktionalität beherrschen lernt, weniger sichtbar als in dem auch international sehr viel häufigeren Fall, dass in einem Land bereits Mehrsprachigkeit herrscht oder dass außerhalb des muttersprachlichen Sprachgebiets eine andere Verkehrssprache erworben werden muss. In solchen Konstellationen wird die Beherrschung und Benutzung der einzelnen Sprache sehr häufig zum zentralen Symbol für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Konstitutiv für die Identität einer Gruppe sind die Formen und Regeln der Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern, wobei sprachlich-konununikative Beziehungen in einer einheitlichen Gestalt dazu beitragen, die Gruppenidentität nach innen zu stabilisieren, sogar zu definieren, und nach außen abzugrenzen. Gerade die abgrenzende Dimension der Sprache einer Gruppe führt nach Oppenrieder/ Thurmair aber dazu, dass sich im Selbstverständnis einer mehrsprachigen Person Gruppenidentitäten überlagern oder sogar in einen Konflikt zueinander geraten können, der als persönlicher Identitätskonflikt erlebt wird. Ob eine mehrsprachige Person die von ihr verwendeten ~prachen als persönlichen Identifikationsparameter oder bloß oberflächlich bleibendes Kommunikationsmittel einstuft, hängt von individuellen Bedingungen ebenso ab wie vom Typus der Mehrsprachigkeitssituation, in der sich die betreffende Person befindet. Die Autoren unterscheiden territoriale und durch Migration ausgelöste Mehrsprachigkeit, gruppenbezogene und individuelle sowie freiwillige, aufgezwungene oder unterdrückte Mehrsprachigkeit. Auswirkungen habe ferner der Grad der Kompetenz in den jeweiligen Sprachen, ihr Prestige in der Umwelt und die persönliche Einstellung zu ihnen, die stark auch von der eigenen Biographie geprägt sein kann, und schließlich das Maß, in dem die Sprachen den alltäglichen und privaten Lebensraum der Person <?page no="17"?> Sprachidentität - Identität durch Sprac/ 1e. Ein Problemaufriss 9 betreffen. Ist in einem konkreten Fall· keiner dieser Faktoren negativ besetzt, kann die Mehrsprachigkeit auch als positive Erweiterung der eigenen Identität oder als Spiel mit zusätzlichen Identitäten erfahren werden. 3 Identität der deutschen Sprache - Identität in der deutschen Sprache Der Begriff ,Sprachidentität' betrifft nun aber nicht nur die Personen, deren gruppenbezogene Identität über die Sprache dieser Gruppe festgelegt ist, sondern auch die Sprache selbst. Heinrich Tiefenbach arbeitet in seinem Beitrag heraus, welche Merkmale des Althochdeutschen, am Beginn der Geschichte der deutschen Sprache, Hinweise auf eine tatsächlich schon feststellbare Identität als eigenständige Sprache geben. Wiederum geht es dabei zum einen um die Abgrenzbarkeit zu einer benachbarten Sprache, das Altsächsische, und die Identifizierbarkeit dessen, was als althochdeutsch und nicht altsächsisch zu bewerten ist; zum anderen aber auch um den Blick der damaligen Sprecher auf das, was später Althochdeutsch genannt wurde: Inwieweit entwickelt sich im althochdeutschen wie auch im altsächsischen Sprachraum bereits das Bewusstsein von einer den jeweiligen Raum umgreifenden Sprache mit eigener Identität? Aus dem uneinheitlichen Vorgehen bei der Aufnahme von Wörtern in ein altsächsisches und in ein althochdeutsches Wörterbuch erschließt Tiefenbach zwei einander widersprechende Konzepte von der Identität der betreffenden Sprachen: erstens die Auffassung, dass altsächsisch nur das im Vergleich mit den althochdeutschen Formen - Andersartige (und damit in sich homogen Anderssprachige) sei, und zweitens, dass Althochdeutsch in sich gleichwohl Heterogenes beinhalten könne. Die allmähliche Herausbildung eines zusammenfassend-ilbergreifenden und zugleich nach außen abgrenzenden Namens für eine nicht mehr nur regional verstandene Sprachform weist die Richtung zu einem sprachbezogenen, sprachlich begründeten Bewusstsein von der Identität dieser Sprachform, das sich möglicherweise stark auf eine beim dichterischen Sprechen verwendete Sprache mit ihren in den altgermanischen Sprachen typischen Ausdrucksmitteln stützt. Selbst graphemische Eigentümlichkeiten können, wenn sie einheitlich auftreten, als Ausdruck einer Abgrenzung der eigenen Sprache nach außen gedeutet werden. Dass auch ein Sprachwechsel, wie er im niederdeutschen Raum durch die Übernahme des 1-lochdeutschen schon relativ früh beginnt, unter dem Gesichtspunkt der Sprachidentität gedeutet werden kann, entwickelt Tiefenbach in zwei Hypothesen: Entweder zeige sich darin eine geringe Selbstidentifikation· <?page no="18"?> 10 Christiane Thim-Mabrei; mit der (eigenen) Sprache überhaupt oder er sei die Folge einer Umorientierung hin zu einer neuen überregional verstandenen Identität mit einer gemeinsamen überregional verständlichen Sprache. Namen sind eine sehr ausgeprägte Komponente einer Sprache, deren Hauptfunktion in der Fixierung von Identitäten besteht. Wie schon im Zusammenhang mit dem Aufkommen eines Namens für die deutsche Sprache, können Eigennamen sogar zum Entdecken und Abgrenzen einer Einheit führen, die nunmehr auch anhand des Namens als solche unter anderen identifizierbar wird. Friedhelm Debus zeichnet in der geschichtlichen Entwicklung von Personennamen nach, wie stark besonders in mythischen und magischen Vorstellungen die Identität eines Menschen mit seinem Namen als wesenhaft verknüpft gesehen wurde. Noch im modernen Denken hat die Verleihung eines Namens an einen Menschen eine außerordentlich hohe Bedeutung: Erst der Name macht eine Person zu einem in der Gesellschaft identifizierbaren Einzelwesen mit einer einmaligen und fest bleibenden individuellen Identität, er stiftet, in diesem Sinne zumindest aus gesellschaftlicher Perspektive, Identität. Die allmählich einsetzende Entfaltung des Personennamens in eine zweiteilige Form dient einer genaueren Identifizierbarkeit, wobei die Form des Vor- und des Familiennamens neben die persönlich-individuelle eine zweite kollektiv-gruppenspezifische Identität stelle, die sich durch Heirat verschieben oder anreichern kann. Das System der Personennamengebung zeigt also, dass in der deutschen Sprache die beiden Dimensionen von Identität eine individuelle und eine in der Bindung an eine Gruppe bestehende kollektive Identitätzentral verankert sind. Eine Änderung des Namens impliziert nach Debus eine Änderung im Wesen der betreffenden Person. Eine neue Identität wird gestiftet und ersetzt vollständig oder teilweise (im Fall etwa von Pseudonymen und Tarnnamen für bestimmte Zwecke), in freiwillig-programmatischer Ausrichtung oder aufgezwungen (wie im Fall der Zwangsnamen für Juden im Dritten Reich), die mit dem ursprünglichen Namen verbundene Identität. Die Einstellungen zum eigenen alten wie auch neuen - Namen können ihrerseits vielfältig die Selbstwahrnehmung, das Selbstverständnis einer Person und damit ihre Identität beeinflussen, bis hin zur Ablehnung des eigenen Namens, mit dem man sich nicht identifizieren kann oder will. · <?page no="19"?> Sprachidentität - Identität d11rcli Sprad1 e. Ei11 Problemau/ riss 4 Identität durch Sprache - Selbstidentifikation mit Sprache verbale Identifikation 11 Nicht nur bei Namen, deren Fun~tion wesentlich in der Stiftung und Markierung von Identität besteht, sondern auch bei appellativen Wörtern aus bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen und regionalen Kontexten stellt sich für Sprecher vielfach die Frage, ob sie sich mit ihnen identifizieren oder nicht. Ingrid Kühn kann anhand einer Materialsammlung der Sprachberatungsstelle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aus den Jahren 1993 bis 1996 nachweisen, dass nach der Wende die Anfragen ostdeutscher Sprecher zu westdeutschen Ausdrücken dieses Problem häufig thematisierten. Nach Kühn mussten zweitausend bis dreitausend 11 Westwörter und ihre spezielle Bedeutung erlernt werden". Auch Namen von Straßen und Schulen, mit ihrer symbolischen Bedeutung und ihrem Angebot zur Identifikation mit ihnen und dem, was sie symbolisieren, wurden durch andere Identifikationssymbole ersetzt. Die Umbenennung von Geschäften und Berufen und selbst Veränderungen in den Konventionen für manche Textsorten mussten als Abwendung von bisherigen Lebens- und Alltagszusammenhängen hin zu neuen erscheinen und die Frage nach der freiwilligen oder unfreiwilligen - Identifikation mit ihnen aufwerfen. Aus Kühns Beitrag lässt sich der Schluss ziehen, dass Namen und appellative Wörter und Ausdrücke in geeigneten Kontexten gesellschaftlicher Interaktion zu Symbolen für Lebenstraditionen und Lebenswelten werden, mit denen sich Menschen identifizieren, an die sie ihr Ich-Gefühl binden. Bewusst wird dies unter Umständen erst in der Konfrontation mit neuen, sich dominant erweisenden Ausdrucksformen aus anderen Lebenswelten. Werden diese gerne angenonunen, so können sie ein neues Ich-Gefühl fördern und mitkonstituieren. Beratungs- (und Protest-) Bedarf entsteht freilich wohl eher im anderen Fall, der sogar dazu führen kann, dass die eigene Identität den Konfrontierten selbst weitaus stärker als vor solcher Konfrontation in den gewohnten Ausdrucksweisen verwurzelt erscheint. Ulla Fix untersucht, ob es eine kollektive DDR-Identität gegeben habe, von der man feststellen könne, dass sie sich in einem gemeinsamen Sprachgebrauch mitkonstituierte und von den Sprechern als ihre gemeinsame, wesentlich auch sprachlich konstituierte DDR-Identität empfunden Wurde. Anhand der Analyse von dreißig narrativen Interviews, in denen Sprachbiographien vor und nach der Wende thematisiert wurden, kommt. <?page no="20"?> 12 Christiane T/ 1im-Mabrey sie zu dem Ergebnis, dass eine solche Identität erst im Nachhinein und in der Abgrenzung von den neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen wie auch kommunikativen Strukturen, die nach der Wende in die neuen Bundesländer gelangten, konstruiert wurde. In einer Situation, in der man nicht nur mit Andersartigem umzugehen lernte, sondern sich selbst, durch die Augen anderer, als andersartig sah, war die eigene Identität stark in Frage gestellt. Zwar habe der offizielle Sprachgebrauch zu DDR- Zeiten selbst bei jenen, die der DDR positiv gegenüber standen, nie zur Identifikation eingeladen. Allerdings konnten sich in kleinen halboffiziellen und privaten Gruppen (z.B. von Kirchenangehörigen) ,Gegenidentitäten' herausbilden, die sich bewusst vom offiziellen Sprachgebrauch durch ihre eigene Ausdrucksweise abgrenzten. Als Gegenreaktion gegen die nach der Wende dominant gewordenen Strukturen beobachtet Fix, dass eine auf die ehemalige DDR-Zugehörigkeit bezogene ,Wir-Identität' konstruiert werde, in der die Sprache, mit einem starken Gewicht auf Dialekt und Regiolekt, symbolhafte Identifikationsfunktion erfüllt. Verschiedene Grade und Blickwinkel der Identifikation mit der eigenen Sprechweise, der eigenen Sprachvarietät deckt Robert Hinderling in Befragungen von Dialektsprechern auf. Deren Zweisprachigkeits-Situation ist in der Regel davon geprägt, dass die Standardsprache, das Hochdeutsche, durch den Einfluss der Schule als höherrangig und höherwertig, die eigene Mundart aber im Gefolge dessen oft als minderwertig erscheint. Überdies erlernen die Sprecher eine bewusste Reflexion der Sprache in der Schule am Beispiel des Hochdeutschen, so dass sie beinahe zwangsläufig deren Formen und Wörter als die jeweils ,richtigen' verbuchen. So beobachtet Hinderling unter anderem einen auffälligen ,Drang', nach der Nennung eines Mundartworts in der Befragung auch das hochdeutsche Gegenstück als das ,richtige' anzufügen. Nicht selten wird das Mundartwort unter Aspekten der Logik oder des Sprachwandels kritisch beurteilt. Schwierigkeiten haben Befragte ferner unter Umständen gerade damit, dass sie als Stellvertreter eines ,Wir' über dessen typische gemeinsame Sprech- oder Ausdrucksweise korrekt Auskunft geben wollen, sich aber untereinander etwa in Folge eines Generationenwechsels nicht einigen können. Unter dem möglichen Einfluss einer erworbenen Abwertung der Mundart gegenüber dem Hochdeutschen kommt es nach Hinderling zu drei verschiedenen Einstellungen gegenüber der eigenen Mundart: a) Man identifiziert sie (und sich) weitgehend mit dem Hochdeutschen und ignoriert die Unterschiede. b) Man distanziert sich von ihr und identifiziert sich nicht mit der Gruppe von Sprechern, für die diese Mundart <?page no="21"?> Spmcl1identität lde11titiit d11rc/ 1 Sprache. Ein Proble111n11friss 13 kennzeichnend ist. Diese werden vielmehr, auch verbal, zu ,den Anderen'. c) Man bekennt sich zu ihr, was sich auch darin äußern kann, dass standardsprachliche Ausdrücke ohne Weiteres in die mundartliche Sprechweise integriert werden. Dass eine dialektale oder regional gefärbte Sprechweise eine Person in der Perspektive der .Außenwelt, der Kommunikationspartner, individualisiert und zur von außen wahrgenommenen Identität dieser Person wesentlich beiträgt, wird auch in der Gestaltung literarischer Figuren sichtbar. Dieser Dimension der Sprechweise als ,Identifikationskonstante' geht Hans-Werner Eroms bei drei Schriftstellern der deutschen Gegenwartsliteratur nach, Günter Grass, Ulla Hahn und Martin Walser. Dabei gewinnt die Darstellung einer besonderen, nicht-hochdeutschen Sprechweise vor aHem ihre Funktion daraus, dass sie ganz bestimmten Personen in der. Figurenkonstellation oder einzelnen Passagen ein eigenes Profil verleiht, nicht also für alle Figuren eine durchgängige Sprachform in quasirealistischer Absicht konstruiert wird. So kann die besondere Sprechweise einzelner Figuren bestimmte im Figuren-Ensemble wichtige Identitätsmerkmale einer Person repräsentieren und diese dadurch von den anderen Figuren abheben; im Fall der untersuchten Figuren z.B. Unbeeinflussbarkeit oder ungezwungene Natürlichkeit, Reflexion der unterschiedlichen regionalen Sprechweisen in der Umgebung einer Figur und, schließlich, das Fehlen einer Identifikation mit der eigenen Sprachform, bis hin zu deren bewusster Abwahl, die in der Suche nach einer eigenen, sich von umgebenden Gruppenidentitäten abgrenzenden Identität erfolgt. Ebenfalls in einer stilisierten, in gewissem Sinn ,künstlichen' Form findet sich Identität sprachlich in Texten der Wahlwerbung für politische Parteien gestaltet, die Horst Dieter Schlosser analysiert. Sie thematisieren einerseits die spezifische {programmatische und ideologische) Identität der Partei, andererseits sind sie Angebote an die .Adressaten, sich mit der werbenden Partei und ihren Schlagworten zu identifizieren und sich von jenen abzugrenzen, die sich nicht damit identifizieren. Seit 1945 richtet sich nach Schlossers Analyse soziale Identifikation zunehmend an gruppenspezifischen und individuellen Lebensentwürfen statt an kollektiven Modellen aus. Dies schlage sich letztlich, nämlich seit dem Ende des Kalten Krieges, darin nieder, dass ideologische Positionen in den Wahlslogans weitgehend in den Hintergrund getreten seien und stattdessen unspezifische Hochwertwörter wie Sic11erl1eit (nun vornehmlich auf 'soziale Sicherheit' und 'sichere Renten' bezogen) die Slogans unterschiedlicher Parteien kennzeichnen. Je größer die verbale Übereinstimmung und je unspezifischer der Adressatenkrcis, der zur Identifikation mit dem Slogan <?page no="22"?> 14 Cliristiane Thim-Mabrey und der Partei angeregt werden soll, desto schwieriger wird es, sprachlich dennoch die je eigene Identität einer Partei darzustellen. Schlosser sieht bei den großen wie auch zunehmend bei den kleinen Parteien eine starke Tendenz, die Mitte der Wählerschaft erreichen zu wollen und deshalb die vorhandenen deutlichen Unterschiede zwischen den Parteien nicht zu akzentuieren. Die Folge dieser Strategie scheint zu sein, dass aus der Wahlwerbung für die Wähler keine unterschiedlichen und je eigenen Identitäten der Parteien mehr erkennbar sind, sondern vielmehr der Eindruck entstanden ist, es gebe keine echten Alternativen, zwischen denen sich zu wählen lohne. Eine Kommunikationssituation ganz anderer Art, in der gleichwohl ebenfalls die Identität eines Emittenten in seinen Äußerungen über sich selbst gesucht werden kann, ist das Anamnesegespräch zwischen Arzt und Patient. Albrecht Greule zeigt mit seiner Analyse eines solchen Gesprächs auf, wie der Patient im Reden über die eigene Lebensgeschichte seine ,Ich-Identität' nicht nur thematisiert, sondern in bestimmten Merkmalen seiner Ausdrucks- und Sprechweise gleichzeitig auch manifestiert. Analysiert wird unter diesem Gesichtspunkt die Frage der Signifikanz von Passagen der expliziten kh-Narration, von dialektalen Färbungen bestimmter Passagen des Gesprächs, von metasprachlichen Distanzierungen sowie, vor allem, von auffälligen Störungen des Satzbaus in Passagen, in denen der Patient Trance-Wahrnehmungen zu verbalisieren sucht, die mit einer gestörten kh-Wahrnehmung einhergingen. Ziel solcher Gespräche ist es, dem Arzt die eigene Identität so zutreffend zu präsentieren, dass die Chance, geheilt zu werden, steigt; zugleich versucht ein Patient, seiner eigenen, dem Arzt vorgestellten Identität in der Versprachlichung habhaft zu werden. So erlaubt es die Analyse solcher Gespräche, den bewusst gesteuerten wie auch den ungesteuerten Einsatz sprachlicher Ausdrucksmittel einer individuellen personalen Identität zu erforschen. 5 Plädoyers Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem abschließenden Rundgespräch prüften aus ihrer jeweils spezifischen Sicht als Inlands- und Aus· landsgermanisten, welche Aufgaben sich als Konsequenz der vielfältig nachweisbaren, aber noch nicht systematisch erforschten Beziehungen zwischen Sprache und Identität für die sprachwissenschaftliche Forschung und Lehre stellen. Folgende Plädoyers lassen sich aus den Beiträgen dieses Rundgesprächs ableiten: <?page no="23"?> Sprachidentität identitiit durch Sprache. Eill Probl e 1111111friss 15 Sprach- und Literaturwissenschaft habe sich als Kulturwissenschaft zu verstehen, mit der Aufgabe, "den Menschen zu sich selbst zu bringen", indem sie die Zusammenhänge zwischen Sprache, Kultur und Identität einer Sprachgemeinschaft in ihrer Tragweite und Werthaftigkeit in einer europäischen und internationalen Vielgestaltigkeit anderer Sprach- und Kulturgemeinschaften sichtbar macht. (Eckhard Meineke) Als Forschungsziele zeigten sich zum einen die Begriffsbestinunung von Sprachidentität, ferner die Untersuchung des Zusammenhangs von Sprachidentität und sprachlichen Normen, die in unterschiedlichem Maß identitätsstiftend wirken, und schließlich die Erarbeitung einer Theorie der Sprachpolitik, auf deren Basis die Defizite etwa der heutigen europäischen Politik in diesem Bereich überwunden werden könnten. (Dieter Nerius) · Nachdrückliche Empfehlungen und Begründungen für sprachpolitische Schritte in Europa seien von Seiten der Sprachwissenschaft bereits jetzt zu artikulieren: Gleichberechtigung aller europäischer Sprachen im offiziellen Schriftverkehr und Beschränkung des Englischen auf bestimmte, sachlich begründete Fälle, zweisprachige Ver· ständigung mit Einsatz von Dolmetschern auf europäischer Ebene, keine Übergabe eines sprachlichen Funktionsbereichs (z.B. einer Wissenschaft) an eine andere Sprache, Förderung einer Drei-Sprachen-Kompetenz in ganz Europa (Muttersprache, Englisch, Sprache eines Nachbarlands). (Stojan Bracic) Zu erforschen sei, worauf sich die Identitätswahrnehmung, soweit sie mit Sprache verbunden ist, stützt und wie sie gefördert werden kann, ferner, wie Sprache(n), Identität, Patriotismus, Erfolg, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit interagieren. Außerdem sei zu untersuchen, ob und aufgrund welcher Eigenschaften eine Sprache die europäische Identität bestimmen könnte und welche Rolle für die ,kleinen' Sprachen bliebe. Im Sinne einer w·unschenswerten europäischen Mehrsprachigkeit sei der Fremdsprachenerwerb ebenso wie die Pflege der eigenen Sprache und der Minderheitensprachen zu fördern. Für die universitäre Lehre wäre ein Studiengang zu konzipieren, der sich mit den Sprachen und Kulturen der europäischen Beitrittsländer sowie ihrer Nachbar- und Minderheitsgemeinschaften und -länder beschäftigt. (Eva Szeherovä) Identität, soweit sie mit Sprache verbunden ist, sollte in mindestens binationalan Seminaren diskutiert werden, um schon die Frage nach der Identität interkulturell zu perspektivieren. Ein zentraler Bereich <?page no="24"?> 16 Clzristia11e Tliim-Ma/ Jrey für diese Fragestellung sei die Übersetzungswissenschaft. Zu untersuchen wäre, wie und wie weit sich die ausländischen Germanisten mit der deutschen Sprache identifizieren. (Zenon Weigt) Schon im Fremdsprachenunterricht müssten die Sprachkenntnisse stark mit historischen, kulturellen und literarischen Kenntnissen verbunden werden, um dann zusammen mit Schüleraustausch und Auslandssemestern auch eine emotionale Bindung an die Sprache zu bewirken, die zu einer stärkeren Identifizierung mit ihr führt. Der Unterricht in der deutschen Standardsprache würde für die junge Generation der Ungarndeutschcn bedeuten, dass sie ihre verlorene Identität wiederfinden. (Peter Bassola) Erforscht werden müssten, durchaus auch kontrastiv, unter dem Gesichtspunkt der Identität Idiolekte, Soziolekte, Mundarten, Umgangssprachen und Standardsprache sowohl sprachgeschichtlich als auch gcgenwartssprachlich, sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache. Zu untersuchen sei ferner das sprachliche Verhalten von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Politikern, Sportlern usw. in der Öffentlichkeit, insoweit sie zu Wegbereitern einer neuen Sprachidentität werden können. Im universitären Sprachunterricht sollten die Varietäten des Deutschen stärkere Berücksichtigung finden. Oarmo Korhonen) Am Beispiel des Finnischen und des Schwedischen in Finnland lässt sich untersuchen und modellhaft aufzeigen, wie mit Mehrsprachigkeit innerhalb eines Landes umgegangen wird. (Dagmar Neuendorff) 6 Literatur Bartholy, Heike {1992}: Sprache, kulturelle Identität und Unabhängigkeit, dargestellt am Beispiel Maltas. Weiden. Bierbach, Christine/ Birken-Silverman, Gabriele {2002): Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung in einer Gruppe italienischer Migrantenjugemllicher aus der HipHop-Szene in Mannheim. In: Keim, Inken/ Schütte, Wilfried (Hrsg.), 187-216. Duden. 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Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion mit Statements von Gunter Narr, Csaba Földes, Margot Heinemann, Rudolf Hoberg, Heinrich Löffler und Peter Wiesinger Susanne Näßl Vorbemerkung Die Tagung „Sprachidentität - Identität durch Sprache" begann mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die Rolle der deutschen Sprache im internationalen Kontext". Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Wiesinger (Wien) diskutierten Prof. Dr. Csaba Földcs (Veszprem), Gunter Narr, (fUbingen; Narr Verlag), Prof. Dr. Margot Heinemann (Zittau) und Prof. Dr. Rudolf Hoberg (Darmstadt) nicht nur über die Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache und als internationale Sprache in den Kontexten der Politik und der Wirtschaft, sondern auch über Einstellungen zur Sprache, über die damit verbundenen Aspekte von Identität und nicht Zuletzt über die Frage, welchen Beitrag die deutsche Sprachwissenschaft leisten kann und soll(te), um die Rolle des Deutschen im internationalen Kontext zu stärken. Die Diskutierenden wurden im Tagungsprogramm mit Ausnahme Von Gunter Narr, der ein Einführungsreferat halten sollte, als Vertreter Verschiedener Sichtweisen angekündigt: Prof. Dr. Peter Wiesinger (Wien): Außensicht des deutschsprachigen Auslands/ Österreich auf die deutsche Sprache, Prof. Dr. Csaba Földes (Veszprem): Außensicht des nichtdeutschspra· ehigen Auslands und der Auslandsgermanistik auf die deutsche Sprache, Prof. Dr. Heinrich Löffler (Basel): Außensicht des deutschsprachigen Auslands/ Schweiz auf die deutsche Sprache, Prof. Dr. Margot Heinemann (Zittau}: Bundesdeutsche Sicht (Ost) auf die deutsche Sprache, <?page no="28"?> 20 Susanne Niißl Prof. Dr. Rudolf Hoberg (Darmstadt): Bundesdeutsche Sicht (West) auf die deutsche Sprache. Die Zusammenfassung der Podiumsdiskussion erfolgt anhand ihrer Aufzeichnung als Tonbandmitschnitt in Form einer thematisch gegliederten Darstellung. Dabei dienen jeweils kursiv gesetzte einleitende Abschnitte dazu, einen ersten inhaltlichen Überblick über die angesprochenen Themen und über die anschließenden, recte gesetzten Abschnitte zu geben. Diese sind ausführlicher und halten sich enger an den Wortlaut der getroffenen Aussagen, die jedoch nicht wortwörtlich wiedergegeben werden. Die Textsorte eines Berichts über eine Diskussion bringt es mit sich, dass ausschließlich Äußerungen der Teilnehmenden referiert werden. Dennoch wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit darauf verzichtet, den gesamten Text in indirekter Rede zu halten. Der Konjunktiv findet daher nur vereinzelt Anwendung (z.B. bei ausdrücklich bewertenden Passagen, Zitaten oder auch zur Erinnerung an die Gesprächssituation}. Die Teilnehmer auf dem Podium erhielten die Möglichkeit, die Zusammenfassung der Podiumsdiskussion vor der Veröffentlichung zu lesen und gegebenenfalls Korrekturen im Text vorzunehmen. Literatur, auf die die Teilnehmer in der Diskussion verwiesen, oder die sie schriftlich als weiterführende Literatur zum Thema angaben, findet sich im anschließenden Literaturverzeichnis. 1 Einleitende Statements Iu einer ersten Runde stellle11 die Teilnehmer siclz uud die F1111ktio11 1 i11 der sie i11 der Diskussion auftraten, kurz vor. P. Wiesi11ger iibcmalmt es dabei, auch die Position des ebenfalls als Dislmssionsteil1lelimer a11gekü11digteu, aber d11rcli Krankheit verhinderten Prof Dr. Heinrich Löffler (Basel) zu verlreten.1 Einige der im Tag1111gsprogramm genannten Funktionen der Teil11el1mer wie die Vertretung der „Außensicl1t des de11tschspracliigen Auslands/ Österreich bzw. Schweiz auf die deutsche Spraclie" und die Vcrtretrmg der „Bundesdeutsclien Sicht (Ost) bzw. (West) auf die deutsc11e Sprache" fülirten zu einer ersten Diskussion iiber den Aspekt von (gemeinsamer) Idcnfiläl. So betonte P. Wiesinger die Zugehörigkeit Österreic11s und der Schweiz zum gesamtde11tscl1en Sprachgebiet: Vo11 einer Außensicltt ka1111 man in diesem Si1111 nicht spreclren. t Die von P. Wiesinger referierten Aussagen wurden im folgenden Text durch die von H. Löffler schriftlich vorliegenden Statements ergänzt. Die übcmommcnen Abschnitte sind kursiv gekennzeichnet. <?page no="29"?> Die Rolle der deutschen Sprache im internationalen Kontext 21 Die U11terscheidu11g einer b1111desdeutscl1en Sicht Ost und West wurde von R. Haberg in Frage gestellt, der sielt als Vertreter des gesamtdeutschen Teils verstaud, und vo11 M. Heiue111a1m an spälerer Stelle noch einmal aufgegriffen. Den Abschluss der crsteu Diskussionsrunde bildete das Referat von G. Narr, das nls Ei11ft1lmmgsreferat Impulse fiir die folgende Diskussion gab. Im Mittelptmkt stand vor allem die Rolle des Deutsclieu im iutemafionalen Kontext und die Frage nacli den Möglicltkeiten der Sprachwissensclzaft, diese Rolle w stärken. G. Narr konslalierle den Riickgnug des Deutscl1e11 als Wisse11scllaftsspraclte und die Dominnuz des Englisclzen in diesem Bereich, aber a11cli dessen Vordringen iu der Alltagskommunikatio11. Die Aufgabe der Sprachwissenscl1aft sah er i11 erster Linie im Bereic11 des schulischen und universitären U11terriclits. Dieser soll, basierend auf aktuellen 1111d damit attraktiven sprac/ 1/ ic11e11 Themen, zu ei11em ftihigeu Umgang mit Spraclte ßihren. In der Fordenmg sc11ließlich, sielt wr eige11e11 Sprache z11 beke1111e11 1111d sie z11 vertreten, griff G. Narr deu Aspekt der Identität im Sinne des Verhält11isses des Spreclters zur Sprache auf P. W! ESJNGER (WIEN) äußerte, stellvertretend auch für H. LÖFFLER (BASEL), zunächst Kritik an der Formulierung, er solle die „Außensicht" des Deutschen vertreten. Er betonte nicht nur, dass aus sprachlicher Sicht Österreich und die Schweiz zum gesamtdeutschen Sprachgebiet gehören. Vielmehr liafle11 und ltaben sie bis lieulc ei11en markanten Anteil an der Hera11sbild1111g und Konstitution der deutscllen Spraclie (H. Löffler). 2 P. Wiesinger erinnerte ebenfalls in diesem Zusammenhang an die zahlreichen österreichischen und Schweizer Schriftsteller, die die deutschsprachige Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart maßgeblich geprägt haben bzw. prägen. Dessen ungeachtet nehmen in Verbindung mit der jeweiligen staatlichen Selbstständigkeit und dem Verständnis aus staatlicher und nicht mehr aus rein sprachlicher Sicht, die Schweiz, Österreich und Deutschland jeweils eine Eigenstellung ein. Unter diesem Bezugspunkt könne sich z.B. auch Österreich als „innen" und die anderen als „außen" empfinden. M. HEINEMANN (ZITTAU), im Osten Deutschlands lebend und lehrend, thematisierte vor dem Hintergrund der momentanen europäischen und deutschen Randlage des Ostens ebenfalls Fragen der Identität. In diesem Gebiet, das nach der Osterweiterung in der Mitte Europas liegen wird, Und vor allem im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien ist es eine besondere Herausforderung, Sprachidentitäten, Identität durch Sprache zu vertreten. Die Bedeutung des Deutschen als internationale Sprache i Siehe A1un. 1. <?page no="30"?> 22 S11san11e Näßl lässt sich in Bezug auf die osteuropäischen Länder daran ermessen, dass Deutsch z.B. in Polen mit 4 Millionen Deutschlernern eine beliebte Fremdsprache ist. Mit dem Hinweis auf die Jugendsprache erinnerte M. Heinemann an einen weiteren Bereich, in dem Fragen der Identität, Identifizierung und von Gruppenverständnis eine wesentliche Rolle spielen. R. HOBERG (DARMSTADT) stellte als Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) die Arbeit der Gesellschaft vor, deren Ziel es sei, durch öffentlichkeitswirksarne Aktionen sprachliche Themen in der Öffentlichkeit präsent zu halten. In der Diskussion wolle er das Thema Identität durch Sprache aus der Sicht der Öffentlichkeit betrachten, da die GfdS durch entsprechende Rückmeldungen und Konunentare die Einstellungen und Fragen der Öffentlichkeit kenne. In diesem Sinn verstand sich R. Hoberg auch als Vertreter einer gesamtdeutschen Sicht auf die Sprache und nicht als Vertreter einer bloß westdeutschen Sicht. CS. FöLDES (VESZPREM, WESTUNGARN) hob in Bezug auf Deutsch als Sprache im internationalen Kontext Westungarn als eine Region hervor, in der das Deutsche noch eine starke Position als Minderheitensprache, Fremdsprache und zum Teil auch als Verkehrssprache einnimmt. Somit bildet diese Region einen kleinen Gegenpol zum weltweiten Rückgang von Deutsch als Fremdsprache und zur zunehmenden Dominanz des Englischen. Die markante Präsenz des Deutschen ,vor Ort' bleibt nicht ohne Auswirkungen auf ,Sprachidentitäten'. G. NARR (TÜBINGEN) befasste sich im Rahmen seines Einführungsreferates mit der Rolle des Deutschen im internationalen Kontext und mit der Frage, wie die Sprachwissenschaft diese Rolle stärken kann. Er konstatierte zunächst den Rückgang des Deutschen als Wissenschaftssprache und als Publikationssprache, der sich für den Verleger darin zeigt, dass deutschsprachige Bücher auf dem internationalen Markt zunehmend schwieriger zu verkaufen sind, selbst in Bereichen wie der traditionell deutschsprachigen Theologie. Übersetzungen ins Englische sind nötig, damit Forschung international wahrgenommen wird. Bei dem zunehmenden Einfluss des Englischen differenzierte G. Narr zwischen einem aus den technischen Fachsprachen kommenden Einfluss, gegen den man sich nicht wehren könne, und einer freiwilligen Übernahme von bestimmten Elementen aus anderen Sprachen und besonders <?page no="31"?> Die Rolle der deutsclten Spraclte im internationalen Konte xt 23 aus dem Englischen, die vor allem von Jugendlichen als reizvoll und modern empfunden werden. Hier sollte, so G. Narr, auch die Arbeit der Sprachwissenschaft anset· zen, indem sie die Gründe, die zu Entlehnungen führen, deutlich macht und klärt, wie man damit umgeht. Dabei schließt die Forderung, sich zur eigenen Sprache zu bekennen und sie zu verlTeten, nicht den aufgeschlossenen Umgang mit anderen Sprachen aus: Wer die eigene Sprache liebt, lernt auch andere Sprachen lieben und verstehen, was zu einem besseren Umgang mit Sprache(n) führt. Die Attraktivität der eigenen Sprache einerseits und das Sprachgefühl andererseits müssen bereits in der Schule gefördert werden. Dazu sollten an den Universitäten Themen behandelt werden, die durch die Lehrer in die Schule weitergetragen werden können. Als geeignete, aktuelle Themen, die in Bezug zur konkreten Sprachwirklichkeit, zur alltäglichen Konununikation stehen, bieten sich beispielsweise Analysen von Zeitungs- oder Politikersprache an. 2 Identität durch Sprache 2.1 Gesamtdeutsche Sprachidentität nationale Sprachidentitäten Im Folgendm konzentrierte sich die Diskussion auf das Verlliiltnis vo11 Deutscltsprec11em zu ilrrer Muttersprache und aufdas Thema Identität durch Sprache. M. Hcinemmm und P. Wiesinger, letzterer auch stellvertretend für H. Löffler, gingen dabei noch einmal auf den Zusammenhang eines gesamtdeutschen Sprachraums und einer gemeinsamen sprachlichen Identität (auch vor dem Hintergnmd unterscliiedliclzer Varietäten des Bi1meude11tsc11en) und auf die Attsbildrmg tmterschiedlic11er (nationaler) Identitäten ein. M. Heinemann wies darauf hin, dass zehn Jahre nach der Wiedervereinigung eine Unterscheidung von Ost und West in Deutschland inuner noch nicht überbrückt sei und daher ,Deutsch' auch noch nicht als ein Deutsch angesehen werde. Sie erinnerte daran, dass es neben den zweifellos existierenden Unterschieden zwischen Ost und West auch Unterschiede zwischen Nord und Süd gibt. Eine Identifizierung mit etwas, z.B. mit einer Sprache, erfolgt nicht automatisch, etwa auf Grund einer gemeinsamen Herkunft aus dem ,Osten', sondern ist vielmehr unterschiedlich und unterliegt individuellen Prozessen. P. Wiesinger verdeutlichte an einem kurzen Blick in die Geschichte Österreichs die kulturelle und politische Verbundenheit mit dem deutsch· <?page no="32"?> 24 S11sa1111e Niißl sprachigen Raum und nannte in diesem Zusammenhang die Verankerung von Deutsch als Staatssprache in der Verfassung von 1920 und die immer wieder auftretenden Bestrebungen zwischen 1918 und 1938, Österreich dem deutschen Reich anzuschließen. Seit 1945 kommt es zu einem Umschwung und der politischen Förderung eines österreichischen Nationalgefühls. Dazu wird auch der Bereich der Sprache eingesetzt, wie P. Wiesinger am Beispiel des 1951 erstmals erschienenen Österreichischen Wörterbuchs und dessen Zielsetzung erläuterte, durch die Aufnahme von bewussten Austriazismen, umgangssprachlichen, aber dialektforncn Ausdrücken ein gutes schriftlich gebrauchtes Deutsch in Österreich zu dokumenHeren. Die Ergebnisse verschiedener Umfragen zeigen, dass sich ein solches Nationalgefühl durchgesetzt hat: In den 1990er Jahren bejahen 80% die österreichische Nation uneingeschränkt und 12% in gewissem Maß. Die 1991 im Rahmen einer Umfrage nach der Muttersprache gestellte Frage ergibt, dass sich „interessanterweise nur knapp 90% für Deutsch entscheiden" und gute 10% von einer österreichischen Sprache sprechen. Wenn die Frage im Konjunktiv gestellt wird, d.h. „könnte man die Sprache in Österreich auch Österreichisch nennen? ", dann ändern sich die Ergebnisse auffällig: 53 % antworten in diesem Fall mit / 1 ja". Dies und die Tatsache, dass Jüngere stärker zu dieser Antwort neigen als Ältere, deutet darauf hin, dass eine Identifizierung von Nation, Staat und Sprache zunimmt. Auch die Deutschschweiz kennt nach Löffler mit dem gesprochenen Schweizerdeutsch und dem geschriebenen Hochdeutsch zwei sprachbedingte Identitäten. Das Hochdeutsche wird aus Sicht der Schweizer in Deutschland hergestellt, sie partizipieren daran und bereichern es mit ihren Ausdrücken, um es für sich verwendbar zu machen. Das Hochdeutsche wird von 65% mündlich überhaupt nicht verwendet, als geschriebenes Deutsch aber sehr geliebt: Man hat zwei Versionen des Deulsclien, mit denen man sielt gleicl1en11aßeu identifiziert (... ). Beides sind Muttersprachen. Man möclile tmc11 korrekten Anteil an der de11lscl1en Hoclispraclte a1ts Deutschland nelmtetJ. (...) Man importiert die fel1lerfreie korrekte Form und reicltert sie mit sclrweizerischen Details an. Die Schweiz ist auch ein Zttlieferbetrieb für die Spracl1e der Gegenwart. (...) Schweizer Autoren und Medien prägen die deutsche Sprache mit: Tempolimit, Müsli, Traktanden, Alpen, Lawinen, Tumult, Aufstand wareu ursprünglich Sclnveizer Wörter. Man pflegt in der Schweiz mit verllaltenem Stolz die eigenen Varianten des Hochdeutschen: man schreibt ss statt ß und sagt -ig sfatt -i~, spriclrt kein stimmlzaftes s- und betont die Fremdwörter auf der ersten Silbe. Man benutzt iiberltaupt meltr Fremdwörter. Stolz ist man auch auf die eigene Diglossie- <?page no="33"?> Die Rolle der deutschen Sprache im intemationalen Konte xt 25 Situation. Man hat zwei Sprachen für die beiden großen pragmatischen Bereiche: offiziell-fönnlicli und inoffiziell-informell. 3 Den von M. Heinemann angedeuteten Gedanken von unterschiedlichen (regionalen) Sprachvarietäten des Deutschen griffen sowohl P. Wiesinger (Deutsch wird von vielen Befragten als Oberbegriff gesehen, es gibt keine einheitliche deutsche Sprache, 12% empfinden dieselben Unterschiede auch innerhalb Österreichs) als auch H. Löffler auf: Die Erkennt11is, dass die deutsche Standardsprache mehrere nationale Standard-Varianten und Zentren ltat, ist relativ neu mzd wird erst seit kurzem systematiscl1 umgesetzt. Die Außensicht auf die zentrale Spracl1e bringt auch fiir die 11Bim1e11deutscl1en" neue Erke1111tnisse. Aucli das Bi1mendcutsclte hat spezielle Wörter (feutonismen), die außerlialb Deutschlands nicht gebrauclzt werden. Die Deutsclieu si11d sich dessen jedoch kaum bewusst. Das Bin11e11det1tscl1e l1at von außen gesehen mehrere Standardvarianten imd Zentren: Es gibt ein Siiddeutsches Hocl1deutscli, ein bayerisches Hochde11lscl1, ein 11orddeutsc11es Hoclideutscll 1111d ei11 (ehemals) DDR-Hoclideutsch, vielleicht auc/ 1 ei11 Berliner Hoc11deutscl1, ein sächsisches HocJ1deutsc11 1 ein ehemals sclzlesiscltes Hoc11de11tscl1. 2.2 Deutsch im internationalen Kontext Wie die deutscl1sprac11ige Ölfe11tlic/ ikeit den Zustand des Deufscllen und seine Stellung im i11temationalen Kontext einsclliitzt, war ei11 weiteres Thema der Diskussion. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Dominanz des Englischen, die als ide11titätsbedrohe11d empfunden wird. Da11eben kam die Rolle des Deutscl1e11 im iutemationalen Kontext in zwei weiteren Zusamme11J1ä11gen wr Sprac he. So wurde unter den Stichpunkten ,Spracliioyalität' 1111d ,Liebe zur deutschen Spraclte' die Frage beleucl1tet, wie Deutsch von Mutlerspracltlem im i11tematio- 11ale11 Kontext venveudet wird. Unter rler Fragestellung, wie die Stellung des Deutschen gefördert werden ka11n, trat mit Deutsclz als Fremdspracl1e ein weiterer Aspekt des De11tsclre11 im intemationalen Kontext in den Vordergrund. 2.2.1 Bedrohung der Identität: Dominanz des Engliscl1e11 A.ls verantwortlich fiir den zimeltmenden Einfluss des Englisclzen auf das Deutsche wurden i1l erster Li11ie die Wirtschaft und die teclmisc11en Fac11spra cheu gesehen. R. Hoberg, M. Heinemann und P. Wiesinger stellten iibereinslimmeud fest, dass dieser Einfluss auf das Deutsche von der Öffe11tlicl1keit ebenso als Be- ~rolumg der Identität empfunden wird wie der Riickgang des Deutschen als lllternationale Wissenschafts-, Publikations- und Verhandlu11gsspracl1e i11 Wirt- 5~haft und Politik. Wie R. Haberg deutlich machte, wird auch diese internatio- , 3 Siehe Arun. 1. <?page no="34"?> 26 Susanne Niißl 11ale Te11de11z vo11 der Öfle11tlichkeit mit eiuer allge111 eille 11 Do111it1a11z des E11glischeu in Verbi11d1mg gebracl1t. Weiter forderte R. Hoberg, dass z1mäcJ1st einmal geklärt werden miisste, was in diesem Zusammenl1a11g unter ldmtität verstanden wird. R. Hoberg hob zunächst das große Interesse der Öffentlichkeit an Sprachfragen hervor: Knapp die Hälfte der Deutschen ist generell an Sprachfragen interessiert; es ist noch nie so viel über Sprache diskutiert worden wie zu der Wende des 20./ 21. Jahrhunderts. Unte r dem Stichwort ,Einfluss des Englischen' würde n in der deutschen Öffentlichkeit zwei Dinge vermischt: der Einfluss des Englischen auf das Deutsche und die Frage, welche Rolle das Deutsche in der Welt noch spielen könne. In beiden Bereichen sieht, wie auch aus Umfragen der GfdS hervorgeht, die sprachinteressierte Öffentlichkeit die deutsche Sprachidentität bedroht. R. Hoberg wies darauf hin, dass die Ansichten, was dies im Einzelnen heiße, weit auseinander gingen und im Grunde zunächst darüber diskutiert werden müsse, was Identität in diesem Zusammenhang bedeute. Er stellte die Frage, ob es so etwas wie eine deutsche Sprachidentität überhaupt gibt. M. Heinemann legte dar, dass der Einfluss des Englischen im Osten nicht erst seit der Wende zu bemerken ist, dass er ab diesem Zeitpunkt jedoch deutlich intensiver wird. Er sei weniger auf die freiwillige Übernahme durch Jugendliche zurückzuführen, sondern sei vielmehr durch die Wirtschaft und die Werbung erfolgt und könne in diesem Sinn nicht als freiwillige Übernahme bezeichnet w e rden. Auf der anderen Seite för· dert die neu gewonnene Mobilität und Reisefreiheit den Wunsch nach Englisch als einer brauchbaren Sprache. P. Wiesinger schloss sich M. Heinernanns Position an, dass nicht die Jugendlichen (ebenso wenig wie die Zeitungen) für den neuen englisch geprägten Wortschatz verantwortlich seien. Er verwies auf die internationalen Fachsprachen und griff als Beispiel den Bereich des österreichischen Fremdenverkehrs heraus, in dem englische Bezeichnungen dominieren, eine Praxis, die für überflüssig gehalten und gegen die u.a. von Sprach· pflegern auch öffentlich protestiert wird. 2.2.2 Spracltloyalität imd Identität Die Ei11stellung der deutschen Sprac11gemeinsc11aft zu ilirer Sprache wurde einleitend in der Fordenmg G. Narrs thematisiert, sich zur eigenen Sprache Zll bekennen und sie zu vertreten. Sie wurde iu der Diskttssio11 in der Fonmtlienmg „die Sprache lieben" wieder aufgegriffen, die konträr diskutiert wurde. Einig war man sicli jedoch, dass, wie R. Hoberg es fommlierte, „man den Deulsclien niclit <?page no="35"?> Die Rolle der deutsclten Sprach e im internationalen Kontext 27 vorwerfen kann, besonders spraclmatio11al zu sein". Als ha11ptsächlic'1er Kritikpunkt kristallisierte sic11 der freiwillige Verzicht deutscher Mutterspracl1ler auf Deutsch als i11tematio11ale Komm1111ikatio11ssprache lleraus, ohne dass dafiir eine Nohvendigkeit gege ben wäre. R. Hoberg stellte zunächst G. Narrs Forderung, man müsse seine Sprache lieben, die Ansicht gegenüber, Bezeichnungen wie miisseu und Begriffe wie Sprachloyalität, die einen Zwang implizieren, seie n nicht zutreffend. Es sei selbstverständlich, seine Sprache zu lieben. Dieser Ansicht widersprach Cs. Földes, der mit G. Narr eine bewusstere und loyalere Einstellung der Deutschen zur Muttersprache forderte. Sowohl R. Hoberg als auch Cs. Földes und P. Wiesinger gingen auf den freiwilligen Verzicht deutscher Muttersprachler auf Deutsch als internationale Kommunikationssprache ein; als Beispiel wurde die Praxis Von Politiker- und Wirtschaftsdelegationen angeführt, auch in Ländern, in denen eine gute germanistische Ausbildung existiert, Übersetzungsangebote zurückzuweisen, weil man Englisch könne. P. Wiesinger differenzierte hier zwischen Kontakten zu westlichen Ländern, in denen Englisch oder Französisch als Verhandlungssprache verwendet wird, und Kontakten zu östlichen Ländern, in denen Deutsch weiterhin die bevorzugte Verhandlungssprache ist. · Dass die Sprecher des Deutschen kejne besonders stark ausgeprägte sprachnationale Einstellung aufweisen, wie R. Hoberg feststellte, bestätigt auch H. Löffler für die Deutschschweiz, die damit im Gegensatz zum frankophonen Teil der Schweiz steht: Die Deutscl1scJ1weiz zählt sich nicht in derselben Weise zur intemafio11alen deutsclum Spracl1gemei11sd1aft wie die Welschschweiz zrtr Frankophonie: Es gibt kein Institut fiir deulsc11e Sprache in der Schweiz, auch eine Gen11anophonie-Ko11fere11z, wie es den Frm1kophonie- Gipfel gibt, wäre undenkbar. 2.2.3 Strategien zur Stärkttng des Deutschen Untersc11iedliche Ansatzpunkte ergaben siclz auf die Frage, was zur Stärkung der Stellung des Deutschen getan werden könne. Allgemein wurde an die Sprecher d~s De11tsc11en im Verlauf der Diskussion melirfaclt die Auffordenmg geric11tet, eine loyalere, bewusst positivere Einstellung zur eigenen Sprache zu zeigen (vgl. dazu oben Sprachloyalität und Identität). Weitere, konkretere Vorsc11läge, wie sie G. Narr in den einleitenden Statements angedeutet lralte, wurden 11ic11t mellr ge11a11nt. In Bezug auf die Fördenmg des Deutsclien im intemalionale11 Kontext wurden von R. Hoberg und P. Wiesi11ger die Stellung von Deutsch als Fremdsprac11e Und die staatlichen Aktivitäten i11 dieser Hinsiclit heworge l10ben. M. Hei11emam1 · <?page no="36"?> 28 S11sa1111e Näß/ 1111d Cs. Földes forderten in erster Linie von Politikem spracl1politisches Handeln eill, Cs. Földes wies in diesem Z11sa111111eultang darauf hin, dass eine tlieorefisc11 e Ftmdie nmg flir eine Sprach po litik fehlt. R. Hobe rg sah in d er schwach ausgeprägten sprachnationalen Einstellung de r Deutschen die Gefahr, dass dies den Mittlern der deutschen Sprache, z.B. den Überse tzern, und der Bedeutung des Fachs Deutsch als Fremdsprache schadet. Dadurch entsteht das Problem, dass trotz der hohen Qualität der Germanistik und des Deutschunterrichts im Ausland Motivationen zum Erlernen des Deutschen fehlen. Diese Motivationen müssen geschaffen werden. P. Wiesinger ging ergä nzend dazu auf die Kulturpolitik Österreichs ein, die viel Wert auf Außenwirkung legt und in diesem Rahmen auch den deutschen Fremdsprachenunterricht im Ausland fördert. M. Heinemann beklagte die fehlende Zusammenarbeit innerhalb Europas hinsichtlich der Förderung von Nationals prachen und berichtete in diesem Zusammenhang von den gescheiterten Bemühungen der Gesellschaft für Angewandte Linguistik, eine „Euro-GAL" einzurichten. Sie richtete die Aufforderung an die Politiker, sich innerhalb des europäischen Raums stärker für ihre Nationalsprachen einzusetzen. Cs. Földes schloss s ich der Forderung nach entschiedenerem sprachpolitische n Handeln an und wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass trotz umfangreichen Schrifttums über konkrete sprachpolitische Probleme eine schlüssige Theoriebildung allenfalls in Ansätzen vorliegt, also noch ein Desideratum ist. 2.3 Identität und Mehrsprachigkeit Der Begriff ,Identität' wurde in der Diskussion weitgel1e11d ohne Hiuterfragimg venvendet. Dass es sic11 bei ldmtität um ein komplexes Pilä11omen / tandelt, wurde elter iudirekl bei M. Heinemam1s Ausfiilmmgcri iiber die Bildung einer nationalen Spracllidentität deutlic11, die nicllt auto111atiscl1 erfolge, soudem bestimm· ten Prozessen unterliege (vgl. 2.1 Gesamtdeutsclie Spracl1ide11tifät - 11atio11ale Sprachidentitäten). R. Hobergs Anregung a11gesi cltts der Auss age, die deutsche Öjfeutlic11keit sehe ilire Itlentität bedroht (vgl. 2.2.1 Bedrolumg der Identität: Dominanz des Englisclien), drircli eine Diskussion auf eine Begriffsbestimmung von Identität im Z11samme11Jumg mit Sprache w kommen, wurde z1mäcl1st jedo ch nicltt mifgenommen. Die Notwendigkeit, den Zusammenliang zwischen Sprache und Identität differenzierter zu sehen, da Sprache (vor allem im Ral1meu von Zwei- und Melirspracl1igkeit) 111tr eine Ko111po11e11te der Identitätsbild1111g <?page no="37"?> Die Rolle der deutschen Sprache im internationalen Konte xt 29 sei, ltob sc/ 1ließlich Cs. Földes 11ervor. Er schlug vor, bei Melirspracl1igkeit zwischen Komm1mikationssprache und Ide11tifikatio11ssprac11e zu iwtersclteiden. Cs. Földes machte ausgehend von dem Zitat „,Wir sind doch slowakische Deutsche', sagte meine Mutter auf Ungarisch" 4 deutlich, dass bei der Herausbildung, Pflege und Transformation von Identitätsmustern Sprache eine wichtige Bedeutung hat, dass aber Sprache vor allem im Rahmen der Zwei- und Mehrsprachigkeit nur eine Komponente der Identität ist. So zeigen empirische Erfahrungen, dass kulturelle Traditionsmuster mit ihren sozial- und individualpsychologischen Implikationen oft fester und dauerhafter verankert sind als die zugehörige Sprachlichkeit. Cs. Földes nannte als Beispiel u.a. die Minderheitengruppe der Russlanddeutschen, die auf Grund einer erfolgten Sprachumstellung ihrer ethnischen Muttersprache nicht mehr oder nur noch rudimentär mächtig sind, sich aber dennoch kulturell eng mit ihrer ethnischen Gruppe verbunden fühlen. Nach Habermas müssen die Merkmale der Selbstidentifikation intersubjektiv anerkannt sein, d.h. die Identität kann sich nur auf Merkmale Stützen, die von der Umgebung als solche anerkannt werden. Außenstehende sehen und anerkennen meist Sprache als den wichtigsten ldentitätsmarker. Da aber die Sprache der genannten Minderheitenangehörigen nicht mehr bzw. nicht mehr primär das Deutsche ist, wird ihre deutsche Identität von der Außenwelt bezweifelt. Im Zusammenhang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit plädierte Cs. Földes daher zur besseren Markierung der Situation für eine Unterscheidung zwischen Kommunikationssprache und Identifikationssprache. Die Kommunikationssprache wird von dem tatsächlich stattfindenden Kommunikationsprozess bestimmt und umfasst die Sprache und die dazu gehörende Kultur, in der man meistens konununizicrt. Die Identifikationssprache wird kulturell gesteuert und korreliert mit der Ich-Identität des Sprechers, d.h. sie umfasst die Sprache und die dazu gehörige Kultur, mit der man sich am liebsten identifiziert. 3 Beiträge aus der öffentlichen Diskussion Im A11scltl11ss an die Podiumsdiskussion lzatte das P11bliku111 die Möglichkeit, sich in die Diskussion ei11z1tsc11alten. Beiträge kamen von Abbas Amin (Rege11sb11rg), Georg Braungart (Regensburg), Udo Hebel (Rege1tsb11rg), Wemer Holly ~ Titel eines Berichts einer Budapester Nachwuchswissenschaftlerin Ober einen mehrsprachigen Ort in Ungarn (Molnar 1997}. <?page no="38"?> 30 Susa11ne Näßl (Clzemnitz), Gundolf Keil (Würzburg), Jochen Mecke (Regensburg) und Dieter Nerius (Roslock). In der öffentliclzen Diskussioll konzentrierte sich das brleresse vor allem auf die Frage, auf welche Weise die Stellung des Deutschen gestärkt werden könne bzw. wie mit Mehrspracliigkeit im intemationalen Kontext umgegangen werden solle. U11tersclziedlicl1 bewertet wurde dabei der Vorscltlag aus den Tutzi11ger Thesen, passive Sprachkenntnisse zu fördeni (W. Holly, R. Hoberg, Cs. Földes, M. Heinemam1). Wieder aufgegriffm wurde die Fordenmg nach größerer Loyalität zur eigenen Spracl1e, die sich in der Diskussiou mm verstärkt an die Gen11a- 11iste11 riclttele (R. Hoberg, P. Wiesinger, D. Nerius). Beton/ wurde dabei, zum Teil anliand voll ko11krete11 Beispielen, die Bedeutung illdividuellen Eugagemenls. Ein ebenfalls stärker diskutierter Punkt war das Vordringen von Englisch an deutsc11e11 Universitäten, was sowohl negativ (im Sinne einer wmötigen Aufgabe der eigenen Spraclre; G. Narr, Cs. Földes, D. Nerius) als auch positiv (als lioclrsch11lpolitiscl1 nötiges Entgegenkommen att a11slä11disclie Studierende; G. Braungart, J. Mecke, R. Hoberg) bewertet wurde. Weitere Beiträge befassten sielt mit der Situation 11011 Deutsch als Wissensclraflssprache (G. Keil, R. Hoberg, P. Wiesitiger), Deutsch als Fremdsprache bzw. als Sprache der inteniationaleti Kommunikation (A. Amiu, U. Hebel) und mit Fragen der Identität. Dabei standen kritische A11111erkungeu in Bezug auf eine diu-clt Sprache geprägte 11atio11ale Identität im Vordergrund (]. Mecke, P. Wiesi11ger). 3.1 Möglichkeiten zur Stärkung des Deutschen W. Holly stellte die Frage nach Möglichkeiten, wie die Attraktivität des Deutschen im internationalen Kontext erhöht werden könne, vor allem vor dem Hintergrund einer mangelnden Sprachloyalität der Deutschen in dem Sinn, dass sie nicht zur deutschen als zur benutzenden Sprache stehen. Den Grund für die Wahl des Englischen als internationale Sprache versuchte er in einer Art soziolinguistischer Gesetzmäßigkeit festzumachen, nach der der Sprecher einer kleineren Sprache sich dem der größeren Sprache anzup~ssen hat. Im Falle des Englischen sei man damit immer auf der Seite der größeren Sprache. Alternative Modelle zu dieser Vorgehensweise seien im Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht ausreichend präsent. Als eine mögliche Alternative nannte W. Holly ein in den Tutzinger Thesen vorgeschlagenes Modell der Mehrsprachigkeit, in dem eine möglichst große Zahl von Konununikationsteilnehmern über passive Kompetenz in anderen Sprachen verfügen soll, die das Verstehen anderer <?page no="39"?> Die Rolle der de ut schen Sprache im intemationalm Kontext 31 Sprecher ermöglicht, wobei sie gleichzeitig als Sprecher in der eigenen Identifikationssprache bleiben können. Für R. Hoberg verkörperte dieses Modell eine ideale Vorstellung von Europa. Er stimmte mit W. Holly darin überein, dass das rezeptive Sprachverhältnis gefördert werden müsse, da passive Fremdsprachenkenntnisse auch die Kompetenz und Ausdrucksfähigkeit in der eigenen Sprache fördern. Er wies jedoch auch darauf hin, dass dieses Modell in den Schulen nicht praktiziert wird und daher wenig Erfolg habe. Die Tutzinger Thesen haben nach Ansicht W. Hollys zwar vordergründig nichts bewegt, abe r zumindest die Atmosphäre bei den Politikern verändert. Skepsis hinsichtlich der Anwendbarkeit des Modells äußerten Cs. Földes und M. Heim~mann. Cs. Földes betonte, dass das Modell des Sprechens der eigenen Identifikationssprache und des Verstehens der anderen Sprachen nur für die großen westeuropäischen Sprachen geeignet sei. Für die Sprecher kleinerer Sprachen ist die Vorstellung nicht realistisch, dass Inan die eigene Sprache spricht und in Europa verstanden wird. M. Heinemann, die das Modell grundsätzlich begrüßte, bezweifelte seine Praktikabilität. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der europäischen Politik ist es aus Gründen der Ökonomie und der Zeit nötig, sich auf eina bzw. einige wenige Arbeitssprachen zu beschränken. Im Alltag sei jedoch das Engagement des Einzelnen· gefordert: Wenn das Modell im Alltag bei Einzelnen funktioniert, überzeugt es auch andere, so argumentierte M. Heinemann. D. Nerius, der die Gründe einer fohlenden Sprachloyalität der Deutschen in ihrer Geschichte (Drittes Reich) sah, war ebenfalls der Ansicht, dass alle Maßnahmen klein, d.h. beim Einzelnen anfangen müssten. Die Bedeutung des individuellen Engagements hob auch R. Hoberg am Beispiel der New Yorker Germanistentagung „The Future of Tue German Language" hervor, bei der als Vortragssprache Englisch vorgeschrieben war. Hier wurde auf persönlichen Einsatz hin Deutsch zugelassen. Fast alle Teilnehmer konnten, wie sich zeigte, zumindest rezeptiv Deutsch. Ein von der GfdS bereitgestellter Übersetzungsdienst wurde kaum in Anspruch genonunen. Die Schwierigkeiten, konkrete und dauerhafte Veränderungen in größerem, d.h. europäischem Rahmen zu erreichen, machte P. Wiesinger deutlich. So fanden die auf dem Internationalen Germanistenkongress in Wien (2000) verabschiedeten Resolutionen, dass Deutsch in den Gremien der EU und in der Wirtschaft neben Englisch verwendet werden solle, bei <?page no="40"?> 32 Susanne Näßt der Politik eher positive, bei der Wirtschaft eher reservierte, bei den Medien keine Resonanz. Das Vorgehen der finnischen EU-Präsidentschaft, in ihrer Amtszeit auf Grund deutscher und österreichischer Interventionen wegen der Zulassung von Deutsch wenigstens in den kleineren Gremien schließlich alle Sprachen zuzulassen, um keine zu bevorzugen, blieb ebenso folgenlos wie Versuche der deutschen und österreichischen Regierung, Deutsch als weitere Sprache in den Hauptgremien durchzusetzen. Mit dem Wechsel der Regierung in Österreich im Februar 2001 wurden diese Versuche wieder eingestellt, Englisch neuerlich favorisiert und auf Deutsch wieder verzichtet. Dagegen, so P. Wiesinger, sollten Germanisten protestieren, nicht zuletzt deswegen, damit sie politisch glaubwürdig seien. Auch G. Narr forderte das Engagement der Sprachwissenschaftler, die als Experten Fragen der Sprachpolitik nicht allein den Politikern überlassen sollten. Der Entscheidung der Schweiz, in der die (nationale} Mehrsprachigkeit erhalten werden soll und muss, Englisch nicht als erste Fremdsprache zuzulassen, stellte er Bestrebungen in Deutschland gegenüber, Englisch möglichst früh, bereits im Kindergarten, als Fremdsprache einzuführen. 3.2 Englisch an deutschen Universitäten Bezugnehmend auf einen an einer deutschen Universität auf Englisch ausgestellten Studiennachweis für ein germanistisches Seminar, den Cs. Földes in der Diskussion als Beispiel für mangelnde Sprachloyalität präsentierte, übte G. Nerius Kritik an der Praxis deutscher Universitäten, Institute englisch zu benennen und Vorlesungen in Englisch zu halten. Auch G. Narr war der Ansicht, dass zumindest in der Germanistik Be· scheinigungen auf Deutsch ausgestellt werden soliten. R. Hoberg und G. Braungart hoben demgegenüber die Notwendigkeit hervor, ausländischen Studierenden in dieser Hinsicht entgegenzukommen. G. Braungart betonte ferner, dass Verwendung von Englisch als Unterrichtsprache (auch in germanistischen Veranstaltungen) nicht nur ein Entgegenkommen an ausländische Studierende ist, sondern auch die Attraktivität der Hochschulen erhöht und eine Reihe von Austauschprogrammen ermöglicht, die sonst auf Grund nicht ausreichender Deutsch· kenntnisse nicht stattfinden könnten. Hier auf Deutsch zu beharren, habe den Geruch von Provinzialismus. G. Braungart erinnerte in diesem Zu- <?page no="41"?> Die Rolle der deulsclzen Sprache im i11t ernalionalen Kontext 33 sammenhang auch an Zeiten, in denen Latein die Wissenschaftssprache an den Universitäten war, ohne dass dies in Frage gestellt wurde. In diesem Sinn plädierte J. Mecke filr Englisch als eine Iingua franca auch an den Universitäten und für eine andere (nationale) Verkehrssprache im Alltag. · R. Hoberg warnte ebenfalls vor Provinzialität und sah im Angebot englischsprachiger Veranstaltungen an den Universitäten und in der Förderung solcher Kurse durch den DAAD auch eine Möglichkeit, Interessierte nach Deutschland zu holen, die sonst auf Grund fehlender Sprachkenntnisse nicht gekommen wären. Ein Ziel solcher Angebote müsse es auch sein zu erreichen, dass diese Interessierten letztlich Deutsch lernen. Dagegen war Cs. Földes der Ansicht, dass für Germanisten und gerade aus der Sicht der Auslandsgermanistik die deutsche Sprache eine fachliche Identifikationssprache sei. Insofern sollte die Verwendung der deutschen Sprache als Fachsprache in der Germanistik nicht in Verbindung gebracht werden mit der Bezeichnung provinziell oder Provinzialismus. Er empfahl, daher nicht gegen Englisch, sondern fiir die Verwendung der deutschen Sprache im Bereich der Germanistik zu sprechen. Durch die Verwendung werde auch die Attraktivität gefördert. Im selben Sinn wies P. Wicsinger darauf hin, dass die Internationale Vereinigung für Germanistik (IVG) in ihrem SO-jährigen Bestehen seit jehl: ! r auf den Internationalen Germanistenkongressen, gleichgültig ob sie in Europa oder Übersee stattfinden, stets das Deutsche als Identifikationssprache mündlich wie schriftlich verwendet. 3.3 Deutsch als Wissenschaftssprache. G. Keil befasste sich am Beispiel der Medizin mit dem Rückgang des Deutschen als Wissenschaftssprache: In den Jahren von 1839 bis 1945 liegt der Anteil der Deutschsprachigkeit in Medizin und Naturwissenschaft zwischen 37% und 40%, wobei auch während des Zweiten Weltkriegs kein Rückgang zu verzeichnen ist. Zu einem Einbruch kommt es erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 1946 liegt der Anteil von Deutsch in Naturwissenschaft und Medizin bei 2%, bis 1973 steigt er auf 7,3%. Ein zweiter Einbruch erfolgt 1972/ 73, als auf Deutsch als Sprache in den europäischen Gremien verzichtet wird und sich die führenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Fachverlage aus der Deutschsprachigkeit zurückziehen. Derzeit liegt der Anteil von Deutsch bei 2,3%; damit steht Deutsch im naturwissenschaftlich-medizinischen Sektor als Publikationssprache an zweiter Stelle vor Russisch, Französisch und Latein. G. Keil konstatierte eine anteilige Zunahme; er nannte als Beispiel das Unter- <?page no="42"?> 34 S11snn11e Niißl nehmen La Reche, das nur in Deutsch publiziert, und die von ihm herausgegebenen medizinischen Fachzeitschrifte n, in der auch englischsprachige Forscher auf Deutsch veröffentlichen. Entgegen der Feststellung von M. Heinemann verwies er auf eine Reihe von Instituten, in denen Deutsch die Arbeitssprache ist, und auf Sonderforschungsbereiche, die vom Englischen zum Deutschen übergegangen sind. Gründe, warum sich das Deutsche in Medizin und Naturwissenschaft, klassischer Philologie und Philosophie als Wissenschaftssprache behaupten könne, sahen G. Keil und P. Wiesinger vor allem in der früheren führenden deutschsprachigen Forschung in diesen Gebieten. Hier hat sich nicht nur eine deutschsprachige Terminologie ausgeprägt, die zum Teil nicht adäquat übersetzt werden kann, auch maßgebliche umfangreiche Standardwerke und Enzyklopädien liegen nur auf Deutsch vor. Der eher optimistischen Sicht G. Keils widersprach R. Hoberg mit Verweis auf das in der Arbeit von Ulrich Ammon (1998) zum Deutschen als Wissenschaftssprache vorliegende statistische Material. Er sah jedoch in einem anderen Bereich Gründe für Optimis mus, denn im Internet steht Deutsch ebenfalls an zweiter Stelle nach dem Englischen mit steigender Tendenz. 3.4 Deutsch als Fremdsprache und internationale Kommunikationssprache A. Amin schilderte die Situation von Deutsch als Fremdsprache aus der Sicht eines ägyptischen Germanisten. Am Beispiel des Goethe-Instituts in Ägypten legte er dar, dass drastisch erhöhte Kursgebühren und englische Sprachtests als Aufnahmekriterien den Zugang zur deutschen Sprache erschweren und ihre Attraktivität mindern. Der in der Diskussion mehrfach angesprochene freiwillige Verzicht auf die Muttersprache zugunsten des Englischen macht sich auch in der ägyptischen Arbeitswelt bemerkbar. Da auch deutsche Firmen auf Englisch kommunizieren, gibt es aus der Wirtschaft keine Nachfrage nach Germanisten. Zu der in der Diskussion immer wieder auftretenden Gegenüberstellung von Deutsch und Englisch nahm U. Hebel aus der Perspektive der Amerikanistik Stellung. Zum einen wies er darauf hin, dass man zwi· sehen der Sprache und der Kultur (,das Amerikanische') trennen müsse, dass kulturkritische Implikationen hier jedoch nicht das Thema seien. Zum anderen machte er deutlich, dass die in der Diskussion zutage tretende Polarität Deutsch - Englisch in der Welt nicht als alleinige Polarität wahrgenommen wird. In Nordamerika beispielsweise konkurriert Deutsch mit dem Spanischen, sein Rückgang hängt mit dem Aufstieg des <?page no="43"?> Die Rolle der deutschen Sprache im intcmationalm Kontext 35 Spanischen zusammen. Die Attraktivität des Deutschen misst sich nicht an der Attraktivität des Englischen, sondern an der Attraktivität des Spanischen und vielleicht auch der anderer Sprachen. Es ist also zu fragen, Wie man Deutsch attraktiv für Studierende macht, die vor der Wahl zwischen Spanisch oder Deutsch stehen. 3.5 Bildung nationaler Identität durch Sprache Aus der romanistischen (spanischen) Außenperspektive wurde die bisherige Diskussion von J. Meckc als typisch deutsch bezeichnet. Er stellte sie einer völlig anders verlaufenden Diskussion in Spanie n gegenüber, in der die Auswüchse diskutiert werden, zu denen gerade die Kombination von Identität und Sprache geführt hat. Angesichts dieser Auswüchse des baskischen und katalanischen Nationalismus, die sich aus der Sprache heraus speisen, stelle sich die Frage, ob man der Sprache nicht zu viel aufbürde, Wenn sie die Verpflichtung haben soll, Identität zu bilden, oder ob es nicht sinnvoller sei, diese enge Verbindung von Identität und Sprache zu lösen. Dagegen betonte P. Wiesinger, dass es nicht darum gehe, einen Nationalismus in Bezug auf die deutsche Sprache zu vertreten. Der Grund für die auf dem internationalen Germanistenkongress beschlossenen Resolutionen war nicht der Wunsch, dem Deutschen zu größerer Anerkennung zu verhelfen, weil es das Deutsche ist. Grund war vielmehr, dass innerhalb Mitteleuropas und der EU Deutsch die stärkste Sprachgruppe ist, ihr aber im Gegensatz zum Englischen und Französischen als den kleineren Gruppen keine entsprechenden sprachlichen Rechte eingeräumt werden. 4 Schlussrunde In eiuer ScJ1/ ussnmde erhielten die Teillleltmer des Podiums Gelegenheit zu einer abschließenden kttrze11 Bemerkung. M. Heinemann nahm zunächst noch einmal Stellung zur Zunahme von Englisch als Unterrichtssprache an Universitäten: Es sei weder möglich noch angestrebt, diese Entwicklung unter dem Stichwort Globalisierung rückgängig zu machen. Die Identifikation mit Deutsch als Muttersprache, gerade im Hinblick auf die Größe der Sprechergruppe, sei jedoch auch in Europa möglich und legitim und schließe Pflege und Bewahrung der Sprache mit ein. <?page no="44"?> 36 S11s111111e Näßl R. Hoberg nutzte die Gelegenheit zu einem Blick in die Geschichte und machte an Zitaten, unter anderem aus Fontanes „Stechlin", deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Einfluss des Englischen nicht erst ein Thema des jüngsten Gegenwartsdeutsch ist. G. Narr thematisierte zum einen noch einmal die Notwendigkeit, deutsche Bücher, deutsche Literatur auch durch Übersetzungen im Ausland zu verbreiten, und wünschte ein größeres Engagement von Stiftungen bei der Finanzierung von Übersetzungskosten und Lizenzgebühren. Zum anderen nannte er die Schulen als die Orte, in die verstärkt die Beschäftigung mit Problemen und Inhalten der Sprache hineingetragen werden müsse. Das Interesse an Sprache könne durch aktuelle Themen mit Bezug zur alltäglichen Realität gefördert werden. P. Wiesinger schloss die Runde mit der Empfehlung, mehr Stolz auf das Deutsche zu zeigen. 5 Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen V; ; irietäten. Berlin, New York. Ammon, Ulrich (1998}: Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Berlin. Bickel, Hans (2000): Deutsch in der Schweiz als nationale Varietät des Deutschen. In: Sprachreport 4, 21-27. Földes, Csaba (2000): Was ist die deutsche Sprache wert? Fakten und Potenzen. In: Wirkendes Wort SO, 108-129. Földes, Csaba (2001): Deutsch in Ostmittel-, Ost-, Nordost- und Südosteuropa als eine Herausforderung für die Sprachpolitik. In: Deutsche Sprache 29, 349-369. Hoberg, Rudolf (2002): English Rules the World. Was wird aus Deutsch? In: Ders. (Hrsg.): Deutsch - Englisch - Europäisch. Mannheim, 171-183. 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Im dritten Punkt werden Einstellungen zur Mehrsprachigkeit auf dem Hintergrund bestimmter Vorstellungen zur Identität diskutiert. Noch einige begriffliche Spezifizierungen: Unter Vorkommen von Mehrsprachigkeit sollen hier nur die Fälle betrachten werden, bei denen verschiedene Diasysteme, d.h. Varietätcnbündel gemeint sind (und nicht Fälle von interner Mehrsprachigkeit); wir verstehen unter Mehrsprachigkeit alle die Fälle, bei denen 1 + n (mit n ~ 1) Sprachen beteiligt sind, also auch Fälle von Zweisprachigkeit. 1 Was heißt Identität? Identität im logischen Sinn meint die Gleichsetzung zweier Größen. Informativ ist eine sokhe Gleichsetzung nur dann, wenn die beiden in Beziehung gesetzten Größen sozusagen verschiedene Aspekte einer zugrunde liegenden Größe erfassen, wie es etwa bei der Verwendung des Gleichheltszeichens in der Mathematik geschieht. Auch im alltagssprachlichen ,psychologischen' Gebrauch in Bezug auf Personen geht es darum, hinter den verschiedenen Aspekten, unter denen sich eine Person zeigt, so etwas wie eine zugrunde liegende Größe zu erfassen. Die Anforderungen <?page no="48"?> 40 Wil/ 1elm Oppenrieder, Marin T/ 111miair an den Gebrauch des Identitätsbegriffs sind dabei weniger streng. Typischerweise ist eine Art Selbstähnlichkeit gemeint, die zeitliche ,Abschnitte' einer Person miteinander verknüpft, zeitliche Abschnitte, in denen sich die Person in irgendeiner Weise zeigt (z.B. durch Handlungen oder die Kundgabe von Einstellungen). Im AIIgemeinen wird der Begriff der Identität in diesem Bereich aber noch spezifischer verstanden. Eine Person bleibt nicht nur die gleiche durch die Zeit hindurch, sondern sie hat auch eine bestimmte Identität. Diese Verwendung zielt auf die Annahme ab, dass es bestinunte (zentrale) Eigenschaften gibt, die den gleich bleibenden harten Kern einer Person bilden. Von dieser Vorstellung aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der besonderen Interpretation, dass diese Eigenschaften auch ganz allgemein charakteristisch für die entsprechende Person sind, indem sie gerade weil sie durchgängige Zuge dieser Person bilden - Verhalten, Einstellungen und Gefühle weitgehend bestimmen, also hinter dem stehen, als was sich eine Person jeweils zeigt. Da es im sozialen Miteinander ganz wesentlich darauf ankommt, das Verhalten und die manifest werdenden Einstellungen und Gefühle anderer zu berücksichtigen, ist es von Vorteil, die dahinter stehenden durchgängigen Züge einigermaßen zu kennen und berücksichtigen zu können. Identität in diesem Sinn ist daher dasjenige, was einen Menschen zu dem macht, als der er sich zeigt. Dies ist zunächst einmal eine von außen zugewiesene Charakterisierung (übrigens erfassen auch Begriffe wie ,Charakter' oder ,Persönlichkeit' dieses Bündel aus längerfristig wirksamen einheitsstiftenden Zügen). Die entsprechende Einschätzung wird den so Charakterisierten jedoch häufig genug bekannt, und sie trägt zu dem Selbstbild dieser Personen bei. Denn gerade was die Erklärung eigenen Verhaltens, eigener Einstellungen und eigener Gefühle betrifft, greift man typischerweise auf bestimmte Vorstellungen von zentralen gleich bleibenden Eigenschaften zurück. Von einer solchen Eigenschaft kann man (immer, typischerweise, normalerweise, häufig usw.) auf ein Bündel von anderen Eigenschaften schließen, die für das Umgehen mit der entsprechenden Person von Belang sind (wobei die Spannweite natürlich von echten Verallgemeinerungen bis zu den verfehltesten Stereotypen reicht). Wenn etwa eine Person als sozial engagiert gilt oder Unternehmer ist, kann man abschätzen, wie sie sich in bestimmten Situationen (z.B. bei der Diskussion über die Erhebung und Verwendung von Steuergeldern) verhalten wird und was sie für Einstellungen hegt (auf ein bewussteres Niveau dieser alltäglich geübten Praxis begibt man sich, wenn man etwa Marktforschung betreibt). Neben diesem ,positiven' Aspekt der identitätsstiftenden Eigenschaften gibt es den weiteren, dass sie zur Abgren- <?page no="49"?> Sprachidentität im Kontext von Meltrspracliigkeit 41 zung gegenüber anderen Personen dienen. Dieser Aspekt wird insbesondere wichtig bei dem zweiten Fall von Trägern von Identitäten. Neben dem personenbezogenen ! YP von Identität gibt es nämlich auch so etwas wie gruppenbezogene ,Identitäten', also wesentliche Charakteristika, die eine Gruppe und das aus ihr hervorgehende Verhalten und die in ihr gehegten Einstellungen mitformen und gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen. Gruppenidentitäten manifestieren sich wiederum im Verhalten der Gruppenmitglieder, deren individuelle Identitäten im Rahmen einer Gruppe aufgebaut werdenl und von denen erwartet wird, dass sie sich als Gruppenmitglieder loyal verhalten, also die identitätsstiftenden Züge der Gruppe im Wesentlichen mittragen. Die verschiedenen Typen von gruppenbezogenen Identitäten (denn ein Individuum gehört zu verschiedenen Gruppen, ist etwa Deutsche, Münchnerin, Anhängerin des TSV 1860 München, Ärztin usw.) durchdringen und überlagern sich offensichtlich in der Bildung der oben erläuterten personalen bzw. individuellen Identität bis hin zu Loyalitätskonflikten mit den entsprechenden Brüchen, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt zwei Gruppen, denen sich ein Individuum zugehörig fühlt, in Konkurrenz zueinander treten (auf damit zusammenhängende Probleme gehen wir in 3.1 ein). Die individuelle Identität speist sich mehr oder weniger stark aus den Charakteristika der Gruppe(n), der/ denen man zugeordnet wird oder sich als zugehörig empfindet. Identitäten sind also zunächst einmal einheitsstiftende Konstruktionen, die es erlauben, Verhaltensweisen und· Einstellungen verstehbar zu machen. Dies gilt sowohl aus der Außenperspektive wie aus der Innenperspektive. Vor allem aus der Außenperspektive sind sie ein wichtiges Mittel, um bestinunte wieso- und wozu-Fragen zu beantworten. Sie sind Konstrukte, die für die Erklärung und Steuerung von Verhalten und Einstellungen zentral sind. Welchen Beitrag könnte die Sprache zur Bildung der so verstandenen Identität leisten? Gerade bezogen auf die eben erwähnten Gruppenidentitäten kann die Sprache sehr wichtig sein. Gruppen zeichnen sich durch ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern aus. Zentral sind dabei die kommunikativen Beziehungen, die typischer- Weise auf ganz bestimmte sprachliche Kompetenzen zurückgreifen. Be- 1 Dass der Aufbau individueller ldcntität nur über soziale Prozesse zustande kommt, Wird von den ,Klassikern' Mead {1973), Erikson (1961) oder Goffman (1969) betont; dass bei solchen ,partizipativen Identitäten' neben der ,positiven' Seite der Herstellung und Versicherung von Zugehörigkeit gerade auch die Abgrenzung wichtig ist, macht Hahn {1999: 73ff.) deutlich. <?page no="50"?> 42 Wilhelm Oppe11ricder, Maria Tl111n11air kanntlich ist zudem die sprachliche Selbst- und Fremdwahrnehmung ein wichtiger Baustein beim Aufbau und der Abgrenzung dieses ,Gruppen- Selbst'.2 Aber auch für das einzelne Mitglied einer Gruppe ist die Sprache häufig ein ganz zentraler Aspekt beim Aufbau der eigenen ,Identität' gerade als Mitglied bestinunter Gruppen.3 In beiden Fällen symbolisiert die Sprache typischerweise die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Allerdings ist die Sprache nicht das einzige Symbol einer Gruppe bzw. der Zugehörigkeit zu dieser, und in manchen Fällen fehlt aufgrund der mangelnden Kompetenz die Berufung auf die gruppenkonstitutive Sprache (etwa bei Russlanddeutschcn ohne entsprechende Deutschkenntnisse 4 ), in anderen Fällen mag die Sprache überhaupt nur eine schwache Rolle bei der Bildung einer personalen oder gruppenbezogenen Identität spielen (manche Niederländer sollen angeblich recht bereitwillig z.B. ins Englische wechseln, so dass dort für viele die eigene Sprache nicht unbedingt als zentraler Bestandteil ihrer Identität gilt). Sprache muss nicht konstitutiv für den Aufbau einer Identität sein, aber sie ist es sehr häufig. Insbesondere bei politisch-sozialen Großgruppen wie Nationen wird typischerweise offiziell eine einzige Sprache als identitätsstiftend angesehen (mit entsprechenden Manövern wie der Separierung des Serbokroatischen in zwei unterschiedliche Nationalsprachens, der Konstruktion des Kurdischen als ,Bergtürkisch' oder schon der Kreierung eines ,Österreichischen' 6 ). Die einheitliche Sprache hat zwar auch einen funktionalen Wert, indem sie eine bequeme Kommunikation 2 In der Folge können identitätsstiftende sprachliche Charakteristika vor allem in einer Gruppe mit starken intemen Bindungen ziemlich resistent gegen Wandel sein {vgl. Milroy/ Milroy 1997: 53). 3 Vgl. dazu Tabouret-Keller (1997: 317): „Language featurcs arc the link which binds individual and social identities together. Languagc offors both the means of creating this link and that of expressing it." • Der Ausspruch eines deutschen Aussiedlers: „Deutsch ist meine Muttersprache deshalb will ich sie Jemen! " (zitiert bei Rosenberg 1993: 113) zeigt das komplexe und äußerst problematische Verhältnis von Sprache und Identität bei dieser Gruppe, bei der einerseits die Bewahrung der deutschen Sprache entscheidend ist für die Identität der Menschen, andererseits aber die Sprachkompetenz oft weitgehend verloren gegangen ist (vgl. dazu neben Rosenberg 1993 auch Berend 1993 und Rösch 1995). s Vgl. dazu die Artikel zum Kroatischen, Serbischen und zum Serbokroatischen in Janich/ Greule 2002. 6 Vgl. dazu etwa Wiesinger 1988, Ammon 1995, Muhr/ Schrodt/ Wiesinger 1995; kritisch dazu Putz (im Ersch.). <?page no="51"?> Spracltidenlität im Kontext von Mehrsprachigkeit 43 innerhalb dieser Gebilde gestattet, vor allem aber symbolisiert sie die Einheitlichkeit dieses Gebildes selbst nach innen wie nach außen. Gerade dieser besondere Fall von ,Identitätsbildung', der sehr stark die Abgrenzung durch charakteristische Eigenschaften betont, scheint uns ein entscheidender Baustein für die sehr verbreitete Vorstellung zu sein, dass eine ,gesunde' sprachliche Identität auf Einsprachigkeit7 aufbaut (wobei normalerweise eine bestimmte Varietät als einzig legitime Ausprägung des Varietätenbündels gilt, aus dem Sprachen in diesem breiten Sinn bestehen; wenn im Folgenden von Sprachen die Rede ist, meinen wir immer solche Varietätcnbündel als ganze, wobei häufig eine dominante Standardvarietät vorhanden ist, die als einzige auch normiert und verschriftlicht ist). Damit die sprachliche Identitätsbildung auf der Ebene der Gruppe gelingt, muss nach dieser Vorstellung auch das einzelne Gruppenmitglied die identitätsstiftende Funktion der einen Sprache anerkennen identitätsstiftend sowohl auf der Ebene der Gruppe wie auf der des Individuums. Ohne eine Verbindung zur Identität im Sinn eines positiven Selbstbildes in Abgrenzung gegen ein fremdes Außen ist gar nicht verständlich, warum so sehr viel Wert auf die ,Reinhaltung' insbesondere der Muttersprache gelegt wird (gerade in der deutschen Geschichte haben ja einheitsstiftende kulturelle Züge und hier insbesondere eine allgemeingültige Standardsprache eine ganz überragende Rolle beim Aufbau einer deutschen Nation und ,Identität' gespielt). Mehrsprachigkeit bei den Individuen ist nach dieser gängigen Ansicht für den Verkehr zwischen den Großgruppen zwar notwendig, aber nur auf der sicheren Basis einer einzigen ,Muttersprache' und n~ch Möglichkeit kanalisiert durch gezielte Ausbildung. Damit wird deutlich, dass die Ansichten darüber, wie Sprache zum Aufbau einer Identität auf der Ebene des Individuums oder der Gruppe beiträgt, die Ansichten zu und das Umgehen mit Mehrsprachigkeit typischerweise ganz entscheidend beeinflussen. Wenn eine einzige Sprache als identitätsstiftend für eine Gruppe angesehen wird, so muss sie auch bei den einzelnen Mitgliedern als solche anerkannt sein (es handelt sich einfach um eine Frage der Loyalität gegenüber der Gruppe), andere Sprachen sind demgegenüber sozusagen nur geduldet, wobei Prestige und Funktionalität bzw. der ,Marktwert' 7 Ltidi (1996a) macht für die Einsprachigkeitsideologie zwei Traditionssträngc aus: «? inmal den Mythos vom Turmbau zu Babel, demzufolge die Menschen ursprünglich einsprachig waren und die Mehrsprachigkeit als Sprachverwirrw'g wie ein Fluch Gottes zu sehen ist; und zum anderen die bei der BildWlg der europäischen Nationalstaaten entstandene Vorstellung, dass Nationen von ,Nationalsprachen' . zusammengehalten werden. <?page no="52"?> 44 Willlelm Oppenrieder, Maria T/ 11m1111ir dieser anderen Sprachen entscheidend sind für die Anerkennung bzw. überhaupt Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit. (In der deutschen Bildungspolitik ist zwar von der frühen Förderung der Mehrsprachigkeit die Rede, aber es sind natürlich nur ganz wenige Sprachen, die derart förderungswürdig sind; gleichzeitig gewinnt man den Eindruck, dass die selbstverständliche Basis das Kind mit Deutsch als einziger ,Muttersprache' ist.) Der allgemeine Hintergrund für die Bewertung solcher Phänomene sind Vorstellungen über den Aufbau einer gelungenen Identität bei einer Gruppe oder einem Individuum. Zentral ist hierbei, in welchem Ausmaß heterogene Komponenten der Identität toleriert werden, d.h. in welchem Bereich die Grenze für Vielfalt gezogen wird, jenseits deren ein Zerfall der Identität befürchtet wird, mit den Folgen, dass auf der einen Seite die Gruppe nicht mehr ihre wesentlichen Funktionen erfüllen kann, auf der anderen Seite das Individuum nicht mehr in bestimmte Gruppen integrierbar ist. Hinter der genannten typischen Einschätzung der Mehrsprachigkeit steht eine recht unflexible und ,eindimensionale' Vorstellung von Identitätsbildung (wie sie sich auch im Begriff der ,Leitkultur' zeigt). Eine solche dominante Stellung .einer einzigen Sprache bei der Verwirklichung der allgemein menschlichen Sprachfähigkeit ist aber ganz offensichtlich nicht der Regelfall, wenn man über den Bereich der (großen) westlichen Nationalstaaten hinausgeht. Häufig findet man dann sowohl bei Gruppen wie auch bei Individuen die ,Koexistenz' einer mehr oder weniger großen Zahl von sprachlichen Systemen, die sich durchaus stark voneinander unterscheiden können. Mehrsprachigkeit in diesem Sinn prägt aber auch zunehmend alle Sprachteilhaber in einem sprachlich als sehr homogen gesehenen Bereich wie dem der Bundesrepublik (vgl. dazu auch Hinnenkamp 1998). Neben das Modell, nach dem man sich selbst zunächst als Sprecher seiner einen Muttersprache versteht bzw. als ein solcher angesehen wird, tritt in zunehmendem Maß für viele der Gebrauch von mehreren unterschiedlichen Sprachen, zu dem man sich allerdings unterschiedlich verhalten kann. 2 Mehrsprachigkeit: Dimensionen und typische Konstellationen Für die Charakterisierung von Mehrsprachigkeitssituationen spielen verschiedene Dimensionen eine Rolle: Eirunal lässt sich ausgehend von den Entstehungsbedingungen die territoriale von der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit unterscheiden. Ein zweiter Parameter bezieht sich darauf, ob Mehrsprachigkeit gruppenbezogen oder individuell vorliegt. Wei- <?page no="53"?> Spracliidentitiit im Kontext vo11 Mel1rsprac11igkeit 45 ter relevant ist die Dimension der funktionalen Differenzierung, d.h. die Frage, inwieweit die einzelnen Sprachen in einer Mehrsprachigkeitssituation funktionell abgegrenzt sind oder nicht, inwieweit also für bestinunte Funktionsbereiche oder Domänen nur eine oder mehrere Sprachen in Frage kommen. Dabei scheint besonders die Frage wichtig, inwieweit die Mehrsprachigkeit im Falle der nicht eindeutigen Funktionsabgrenzung in die alltäglichen und privaten Beziehungen der Sprachbenutzer eingreift oder nicht und inwieweit die beteiligten Sprachen in Konkurrenz zueinander treten. Eine weitere wichtige Dimension für die Analyse von Mehrsprachigkeitssituationen stellen die verschiedenen Kompetenzgrade dar (etwa die Unterscheidung in eine starke und eine (bzw. mehrere} schwache Sprache(n); vgl: dazu auch Apeltauer 2001); wobei wir die Frage, wie kompetent man in einer Sprache sein muss, damit überhaupt von individueller Mehrsprachigkeit gesprochen werden kann, nicht im Einzelnen diskutieren wollen: Als Minimalanforderung könnte man verlangen, dass kompetentes Umgehen mit der Sprache in wenigstens einem Funktionskreis gegeben ist (z.B. kompetentes Parlieren im italienischen Restaurant oder auch die Verwendung einer sterbenden Sprache in einem letzten Rückzugsgebiet, z.B. in der Kirche). 8 Weiter spielt natürlich das Prestige der beteiligten Sprachen in einer Mehrsprachigkeitssituation eine Wichtige Rolle, und zwar sowohl das von außen als auch das von innen, d.h. vom Sprachbenutzer selbst, zugeordnete Prestige. Und schließlich scheint auch die Frage, inwieweit die Mehrsprachigkeit beim Individuum und/ oder der Gesellschaft freiwillig ist oder nicht, relevant zu sein. Im Hinblick auf diese Dimensionen lassen sich als klassische Mehrsprachigkeitsvorkommen folgende fe~tstellen, die jeweils spezifische Bewertungen vor dem Hintergrund der identitätsstiftenden Funktion von Sprache zulassen: Zunächst gibt es die zahlreichen Fälle mehrsprachiger Gesellschaften, in denen jedes Individuum selbst mehrsprachig ist; normalerweise gibt es dabei im Bereich der einzelnen Sprachen eine Funktionsaufteilung. Die entsprechenden mehrsprachigen Gruppen und Individuen erscheinen lediglich aus dem Blickwinkel europäischer Nationalstaaten exotisch. So findet man etwa in Süd- und Südostasien oder in weiten Teilen Afrikas nicht nur ganz massiv vielsprachige Staaten, sondern auch die einzelnen Bürger verfügen häufig in ihrem Alltag über eine breite Palette an unterschiedlichen Sprachen. Als typisches Beispiel hierfür gilt die Sprachensi- 3 Zur Frage der Sprachkompetenz im Bilingualismusbzw. Mehrsprachigkeitskontext vgl. Romainc 1995: bes. 12ff., Lüdi 1996a: 234 und die dort angegebene Literatur oder Apeltauer 2001. <?page no="54"?> 46 Wilhelm Oppenrieder, Maria Tlmnuair tuation in Indien mit ca. 1650 Einzelsprachen (vgl. Kachru 1992: 182ff.; vgl. auch Coulmas 1985: 9Sff. und 210ff.), wo für jeden Sprecher die Formel 3 + / - 1 Sprache gilt (d.h. jeder Sprecher braucht und beherrscht mindestens zwei Sprachen; vgl. auch Apeltauer 2001: 634), oder die Situation in Ghana, wo der größte Teil der Bevölkerung zwei- oder dreisprachig ist (vgl. Kropp-Dakubu 1994: 1434f. und Apeltauer 2001: 634; zur tendenziell monolingualen Situation in Europa vgl. Haarmann 1993). Solche Fälle von sozusagen ,naturwüchsiger' Mehrsprachigkeit scheinen zumeist als weitgehend unproblematisch angesehen zu werden, insofern es keine Schwierigkeiten zu bereiten scheint, die Sprache n mit ihren jeweils zugeordneten Funktionsbereichen in einer stabilen Koexistenz zu verbinden. Eine Besonderheit hinsichtlich der Bewertung der einzelnen Sprachen von außen und im Anschluss daran auch von innen kann man sicher in all den Fällen feststellen, in denen die Sprache einer Kolonialmacht als Verständigungsmittel für bestimmte Domänen (Verwaltung, Erziehungswesen etc.) reserviert geblieben ist: In diesem Falle hat im Allgemeinen diese Sprache (bzw. die entsprechende lokale Variante) ein deutlich höheres Prestige als andere im jeweiligen Sprachbündel: sowohl in der Bewertung von außen als auch durch die Sprecher selbst (vgl. dazu genauer insbesondere auch zu Fragen der Sprachplanung z.B. Coulmas 1985: 113ff. oder Kotze 1996). Einen Sonderfall in diesem Zusammenhang stellen Sprachsituationen dar, in denen es zu echten Sprachmischungen und zur Ausbildung von Pidginbzw. Kreolsprachen gekommen ist. Hier kann sich wie dies z. B. in Jamaika der Fall ist eine Mehrsprachigkeitssituation entwickeln, an der eine so genannte Basissprache, in diesem Fall Englisch, und eine oder viele Kreolvarietäten beteiligt sind hier etwa: das Jamaika-Kreol -, die nicht mehr interkommunikabel sind. In diesem Falle herrscht immer ein extremer Prestigeunterschied zwischen den Sprachen, und die entsprechende Mehrsprachigkeit wird als äußerst problematisch gesehen und stark negativ bewertet, vor allem von den Sprechern selbst. Die Kreolvarietät kann nur bedingt identitätsbildcnde Funktion übernehmen; das Ziel vor allem aufstiegsorientierter Sprecher ist es, sich d er Basissprache und damit der Einsprachigkeit zu nähern (vgl. Coulmas 1985: 160). Mehrsprachigkeitssituationen liegen auch vor, wenn Gesellschaften mehrsprachig sind, die Individuen aber nicht notwendigerweise. Das setzt voraus, dass alle beteiligten Sprachen für alle Funktionsbereiche einsetzbar sind. Ein solcher Fall findet sich z.B. in der Schweiz, die sich zwar als mehrsprachig versteht, deren Einwohner aber sofern sie nicht Rätoromanen sind nicht mehrsprachig sein müssen, um an allen Berei- <?page no="55"?> Spracl1identität im Kontext von Mehrsprac11igkeit 47 chen des privaten und gesellschaftlichen Lebens teilnehmen zu können (vgl. Löffler 1995: 53); hier liegt also eine gesellschaftliche Mehrsprachigkeit vor, die auf dem Prinzip eines territorialen Monolingualismus basiert (vgl. dazu auch die Zahlen bei Apeltauer 2001: 633). Soweit sich das aus der Literatur entnehmen lässt, wird in diesen Fällen die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit auch in ihrer Auswirkung auf eine stabile Identität niemals negativ bewertet. Einen weiteren Fall von Mehrsprachigkeit liefert die klassische Migrationssituation: Ein Individuum (oder eine Gruppe) kommt in eine (typischerweise) einsprachige Gesellschaft, in der diese eine Sprache für alle Funktionen außerhalb des privaten Bereichs die zulässige ist, die eigene Sprache dagegen nur bestenfalls im Teilbereich der Kommunikation innerhalb der Migrantengruppe benützbar ist, d.h. das Individuum, das sich in die umgebende neue Großgruppe einfügt (bzw. die entsprechende Migrantengruppe), ist mehrsprachig, die Gesellschaft insgesamt zumindest offiziell nicht. Je nach Größe der Migrantengruppe kann man jedoch von einer de facto mehrsprachigen Gesellschaft sprechen, wie z.B. in bestimmten Teilen der USA, die spanisch-englisch sind, oder in bestimmten urbanen Regionen Deutschlands, die etwa deutsch-türkisch sind. Dabei gibt es natürlich graduelle Abstufungen dahingehend, inwieweit die Migrantensprache im gesellschaftlichen Leben (Medien, religiöse Einrichtungen, Schulen etc.) eine Rolle spielt. Was die Bewertung dieser Situationen betrifft, so wird sie meist von außen wie von innen eher als problematisch gesehen und dementsprechend tendenziell negativ bewertet. Die nicht-dominante Sprache stört sozusagen die Loyalität gegenüber der dominanten Sprache, die ihrerseits zu den identitätsbildenden Konstanten der umgebenden Großgruppe gehört. Diese Bewertung führt häufig zu einem Typ von Mehrsprachigkeitssituation, den wir ignorierte bis unterdrückte t: -"fehrsprachigkeit nennen Wollen: In diesem Fall gibt es Individuen, die mehrsprachig sind, deren Mehrsprachigkeit aber von z.B. offizieller Seite nicht anerkannt wird. Derartige unterdrückte Mehrsprachigkeitssituationen finden wir natürlich auch unabhängig von Migration, z.B. in Frankreich mit Sprachen wie Bretonisch oder Okzitanisch (vgl. dazu Cichon 1991) oder in der Türkei hinsichtlich der kurdischen Sprache; migrationsbedingt in gewisser Weise auch in Deutschland. Nun ist in Deutschland der Gebrauch anderer Sprachen natürlich nicht verboten 9 und insofern kann man nicht von einer 9 Sprachverbot lässt sich zum Beispiel für die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland feststellen, wo der Gebrauch des Polnischen quasi verboten war (vgl. <?page no="56"?> 48 Wil/ 1elm Oppenrieder, Mnria Tlumnair unterdrückten Mehrsprachigkeit sprechen, aber eine bestimmte Art von Mehrsprachigkeit wird (wie schon angesprochen) häufig schlichtweg ignoriert: Bei den Diskussionen um die Aufwertung von Mehrsprachigkeit, im Zusammenhang etwa mit dem frühen Fremdsprachenlernen im Bildungssystem, wird von offizieller Seite im Allgemeinen weitgehend übersehen, dass viele Schüler bereits bilingual (oder gar multilingual) sind: Die türkischen, russischen, kroatischen Kinder müssen, um korrekt und anerkannt mehrsprachig zu werden, genauso Englisch lernen wie ihre deutschen monolingualen Klassenkameraden. Es scheint sich hier um den Versuch zu handeln, zu einer geregelten, offiziell sanktionierten Mehrsprachigkeit zu kommen. Man darf fast vermuten, dass Mehrsprachigkeit an sich nicht das Ziel ist, sondern nur eine staatlich bestimmte Mehrsprachigkeit. Neben diesem Fall einer ignorierten bis unterdrückten Mehrsprachigkeit lassen sich noch als Extrembeispiele Fälle von Mehrsprachigkeit anführen, bei denen Individuen z.B. aufgrund von Verschleppung zwangsläufig zur Mchrsprachigkeit gezwungen werden, wie man dies etwa von Sklaven oder KZ-Insassen weiß. Eine demgegenüber absolut individuelle, freiwillige und selbst ge· wählte Mehrsprachigkcit liegt vor bei den meisten Fremdsprachenlernern, die ohne lebensnotwendige Zwänge sich eine Sprache ihrer Wahl aneignen. 3 Einstellungen zur Mehrsprachigkeit im Hinblick auf Identität Wie erwähnt ist es für die Einschätzung und Bewertung von Mchrsprachigkeit wichtig, ab wann Variabilität und Vielfalt als Bedrohung für die Identität einer Gruppe oder eines Individuums angesehen werden, wobei insbesondere die Vorstellung von Nationen als sozusagen natürlichsten Großgruppen typischerweise mit einer Art Einsprachigkeitsideologie gepaart ist. Die Vorstellungen über gelungene Identitätsbildung erklären unserer Ansicht nach weitgehend das Verhältnis zur Mehrsprachigkeit. Wesentliche Faktoren sind in diesem Zusammenhang, ob es sich um eine freiwillige oder nicht-freiwillige Mehrsprachigkeit handelt, und das Pres· tige der Sprachen: Freiwillige und damit kontrollierte Vielfalt ist eine deutlich geringere Bedrohung der Identität, prestigehohe Sprachen können leichter in ein positives Selbstbild eingebaut werden. Oenning 1996), oder für die Zeit des Faschismus in Italien, genauer: SOdtirol, wo der Gebrauch des Deutschen untersagt war (vgl. Eichinger 1996). <?page no="57"?> Sprachidentität im Kontext von Mehrspracliigkeit 49 3.1 Nicht-freiwillige Mehrsprachigkeit Im Falle der nicht-freiwilligen, also nicht-selbstgewählten, individuellen Mehrsprachigkeit lassen sich als extreme Pole zwei identitätsbezogene Einstellungen finden, die möglicherweise auch ein zeitliches Nacheinander darstellen: Mehrsprachigkeit kann einerseits ~ls identitätsbedrohend, andererseits aber auch als identitätsstiftend empfunden werden. Als ein Fallbeispiel dafür, dass Mchrsprachigkeit als identitätsbedrohend gesehen wird - und zwar vor allem vom mehrsprachigen Individuum selbst soll hier eine Teilgruppe unter den Migranten in Deutschland genauer beschrieben werden. Für deren Aussagen zur Mehrsprachigkeit, die wir in diesem Falle als eine nicht-freiwillige Mehrsprachigkcit betrachten, lassen sich literarische Zeugnisse heranziehen, die sich reflektierend mit dem Thema der Zwei- und Mehrsprachigkeit auseinander setzen, z.B. die Texte, die in dem Band "In zwei Sprachen leben" {1983a) versammelt sind. Die meisten Texte zu diesem Thema, die auf ein Preisausschreiben im Jahre 1983 zurückgehen, durchzieht die Ansicht, dass die Mehrsprachigkeit, hier ist es meist eine Zweisprachigkeit, als Preis einen Identitätsverlust nach sich zieht; in den meisten Texten kommt zum Ausdruck, dass zunächst in der neuen Sprache eine neue Identität gefunden werden muss, was den meisten nicht gelingt, und es wird die große Angst deutlich, dass dies den Verlust der ursprünglichen, der ,eigentlichen' Identität zwangsläufig nach sich zieht. Ein Textbeispiel: Manchmal frage ich mich, wer ich eigentlich bin und wozu ich lebe. kh gehöre einer Generation an, die zwischen traditionsgebundenem Familienleben uml der Hektik einer konsumbedachten Leistungsgesellschaft hin und her geschoben wird. In keiner Gesellschaft sind wir akzeptiert. In der BRD sind wir Gastarbeiter, Ausländer, noch schlimmer: die Türken. In den Heimatländern sind wir Deutschländer, die Alamannen, noch schlimmer: die Kapitalisten. Unsere Sprachen setzen sich aus mehreren Sprachen zusammen. Wir reden gemischt. Weder richtig Deutsch noch richtig Türkiscl1, Italienisch oder Griechisch. Wir sind in keiner Sprache mehr zuhaus. Wir sind auf der vergebliche11 S11clte nacl1 einer Antwort a11J die Frage, wer wir eige11tliclr sind. Dabei ist unsere Angst, die eigene Sprache zu verlieren, genauso groß wie die Angst, eingedeutscht zu werden. Wir müssen mit einer inneren Spaltung zwischen zwei Sprachen, zwei Kulturen leben und kämpfen. {HSM in: Ackermann 1983a: 14; unsere Hervorhebung; WO, MT) Die Erfahrungen mit der Zweisprachigkeit, so der generelle Eindruck bei der Lektüre dieser und anderer Texte, sind weitgehend problematische. Der Erwerb einer weiteren Sprache geschieht hier unfreiwillig, gezwungenermaßen, um das Überleben zu sichern. Spracherwerb kann dann aber <?page no="58"?> 50 Willtelm Oppenriedcr, Mnria T/ 111rmair - und das kommt in vielen Texten zum Ausdruck das Fremde bedeuten, das Bedrohliche, das die eigene Sicherheit aufbricht und gefährdet, die eigenen Gewissheiten in Frage stellt. Dabei gibt es verschiedene Ausdifferenzierungen in den Texten, die diese identitätsbedrohende Situation beschreiben bzw. die daraus entstehenden Konsequenzen. Häufige Motive in diesen wie in anderen Texten sind das „Dazwischen", das oft mit dem Gefühl der Zerrissenheit in Verbindung gebracht wird, das Motiv des Unterwegs-Seins, des ständigen Wanderers zwischen den Welten, außerdem die Bedrohung, die oft auch zu einem gänzlichen Verstummen führt (vgl. dazu auch Ackermann 1983a: 247ff. und generell zur Metaphorik in Migrantenliteratur Weigel 1992: bes. 217). Keiner der Texte in diesem Band hat auch nur eine neutrale, geschweige denn eine positive Haltung zum Phänomen der Mehrsprachigkeit. (Das Gleiche gilt auch für Texte anderer Autoren; vgl. etwa Ackermann 1984). Die Identitätsbedrohung durch Mehrsp~achigkeit lässt sich auch aus den Untersuchungen zum Code-Switching in den unterschiedlichsten Kontexten ableiten: Die meisten bilingualen Personen, die ,codeswitchen', also ihre Sprachen mischen, bewerten dies im Allgemeinen äußerst negativ (vgl. dazu z.B. bereits Gumperz 1982 oder Romaine 1995: bes. 294ff.).10 In der gleichen allgemeinen Situation nämlich der der Migranten (z.B. in Deutschland) kann aber auch eine positive Bewertung der Mehrsprachigkeit entstehen: dann nämlich, wenn der Erwerb der zweiten Sprache und der Erwerb einer zweiten Kultur nicht als Gefahr für die erste gesehen wird und nicht als Notwendigkeit, eine Identität durch eine andere abzulösen, sondern wenn die Mehrsprachigkeit und die Multikulturalität als Identitätsmerkmal gesehen wird. Dies scheint zumindest auf einen Teil der jungen späteren Migrantengeneration zuzutreffen: Diese sehen wie z.B. Hinnenkamp (2000) für deutsch-türkische Jugendliche gezeigt hat ihre Identität gerade in dieser Zweisprachigkeit und Bikulturalität. Demgemäß wird auch die Sprache das „Gemischtsprechen", 10 Lüdi {1996a: 243} sieht zwar die Untersuchungen zum Code-Switching im Zusam· menhang mit einem von ihm postulierten „Paradigmenwechsel", insofern als dem Code-Switching und allgemeiner den „transkodischen Markierungen" „nicht mehr aus einer überholten einsprachigen Ideologie heraus mit Mißtrauen begegnet [wird], sondern aus Achtung vor den Manifestationen einer reichen mehrsprachigen Persönlichkeit heraus mit Respekt". Dieses positive Urteil scheint W1S allerdings vor allem filr die untersuchenden Linguisten zuzutreffen; die meisten Sprachbenutzer (und viele Bilinguale selbst) betrachten Code-Switching und Sprachmischung ganz generell immer noch eher negativ; die anfangs beschriebene Einsprachigkeitsideologie ist noch lange nicht überwunden. <?page no="59"?> Sprachidentität im Kontext von Mehrsprac11igkeit 51 Wie Hinnenkamp es nennt als eine eigene, identitätsstiftende Sprachform gesehen. So konstatiert auch Lüdi (1996b: 324 unter Verweis auf Gumperz): {D)cr Entscheid von Migranten, „zweisprachig zu sprechen" [hat) klare identitäre Dimensionen, da er normativen Einstellungen sowohl der Herkunftswie auch der Aufnahmegesellschaft widerspricht. Transkodischc Markierungen werden dann auch von Arbeitsimmigranten nicht nur als stigmatisierend erlebt, sondern fungieren in zweisprachigen Siruationen als positiv bewertete, emblematische Spuren der zweisprachigen Identität, indem sie die Zugehörigkeit der Sprecher zu einer zweisprachigen Gruppe deutlich machen und gleichzeitig verstärken. linserer Ansicht nach kommt es im Falle der deutsch-türkischen Jugendlichen zu dieser neuen Bewertung der Mehrsprachigkeit durch ein allgemein gestiegenes Selbstbewusstsein dieser späteren Migrantengeneration, die zudem ihren Platz nicht mehr in den alten Heimatländern der ersten Migrantengeneration sieht. D.h. es ist auch nicht zufällig, dass die oben als Belege für die identitätsbedroliende Mehrsprachigkeit zitierten Texte alle älter sind und eher von Angehörigen der ersten Migrantengeneration bzw. älteren der zweiten Generation stammen, die identitätsstiftende Mehrsprachigkeit dagegen sich eher bei der dritten Generation findet. Dieses neue Selbstbewusstsein, die Ansicht, dass die kulturelle und sprachliche Identität eben nicht zwingend unteilbar, sondern gerade in einer Multikulturalität und Mehrsprachigkeit zu finden ist, scheint sich Vor allem dann einzustellen, wenn die mehrsprachigen Gruppen relativ groß und auch stabil sind.11 In Deutschland kann dies wohl am ehesten für die Türken gelten. Das setzt dann aber auch voraus, dass praktizierte Mehrsprachigkeit, wie sie z.B. in den verschiedenen Formen des Code- Wechsels/ Code-Switchings bzw. des „Gemischtsprechens" zum Ausdruck kommt, als etwas Positives gesehen wird (zumindest innerhalb der Gruppe). Allerdings ist unklar, wie stabil diese identitätsstiftende Mehrsprachigkeit ist gerade in einer (noch? ) dominant einsprachigen Gesellschaft - und inwieweit sie ihre Funktion vor allem zur Abgrenzung der Gruppe entfaltet. Ein weiterer Ansatz für eine (potentiell) identitätsstiftende Bewertung der Mehrsprachigkeit lässt sich in einem Projekt finden, das von Hans- Jürgen Krumm und anderen mit Kindern verschiedener Altersstufen durchgeführt wurde: Kinder (vor allem in Wien und in Hamburg, z.T. ll AL • ruuuich argumentiert Lüdi (1996a: 240), der vor allem für „urbane Situationen mit großer Mobilität der Bevölkerung" beobachtet, wie „mehrsprachige Identitäten sehr positiv erlebt werden können (.„) als auf Dauer konzipierte Lösung". <?page no="60"?> 52 Wil/ iel111 Oppenrieder, Maria Tltunnair auch in Schulen verschiedener anderer Länder) wurden gebeten, ein Sprachen-Porträt von sich selbst anzufertigen; sie sollten ihre Sprachen in einer je anderen, frei gewählten Farbe in ein Porträt hineinmalen. (Dabei blieb es den Kindern selbst überlassen, welchen Kompetenzgrad in einer Sprache sie haben sollten, um diese einzuzeichnen manche machten einen kleinen farbigen Fleck für die Kenntnis einiger Sprachbrocken.) Die Arbeit an diesen Sprachenporträts und die Reflexion darüber im Unterricht hat gezeigt, wie viel mehrsprachiges ,Potential' sich in den Klassen findet oft auch unbemerkt von der Lehrkraft - und dass Kinder durchaus stolz und selbstbewusst ihre Mehrsprachigkeit sehen können und sie auch als einen wesentlichen Bestandteil ihrer eigenen Identität betrachten (vgl. genauer Krumm/ Jenkins 2001). 3.2 Die freiwillige Mehrsprachigkeit: Sprachenwahl und Sprachenabwahl Auch für eine freiwillige individuelle Mehrsprachigkeit gibt es die unterschiedlichsten Ausgangssituationen; allen gemeinsam ist aber vielleicht, dass die Mehrsprachigkeit und die damit mögliche Sprachenwahl von den Individuen selbst und normalerweise von anderen nicht als Bedrohung der Identität gesehen wird, sondern eher als Bereicherung, als Möglichkeit, die eigene Identität in einer bewussten Weise zu gestalten. Hierbei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass dadurch die enge Bindung an die eigene ,Sprachgruppe' gelockert und damit die Unabhängigkeit des Individuums gestärkt wird. (Zum Problem der persönlichen Identität durch Abgrenzung von gesellschaftlich vorgegebenen Identitätsangeboten vgl. Luckmann 1979.) 3.2.1 Sprac11emvalil Neben prominenten Beispielen für den positiven und identitätskonturierenden Charakter der Mehrsprachigkeit wie Elias Canetti oder Albert Schweitzer, die die Mehrsprachigkeit als einen wesentlichen Zug ihrer Identität betrachten (vgl. dazu Schweitzer 1931, Canetti 1979; auch Wandruszka 1979: 4lff.), ist hier im Prinzip auch jeder Fremdsprachenlerner dazuz.urechnen: Niemand, der Angst hat, dadurch seine Identität zu beschädigen, wird freiwillig eine andere Sprache lernen. Das freiwillige Erlernen einer Sprache scheint keinen negativen Einfluss auf die Identität des potentieH mehrsprachigen Individuums zu haben. (Negativ könnte eine selbst gewählte und vollkommen freiwillig erworbene Sprache überhaupt erst dann werden, wenn sie ungewollt zu tief in die Lebensbereiche des Individuums eingreift, zu viele Funktionsbereiche über- <?page no="61"?> Sprachidentität im Kontext von Mehrsprachigkeit 53 nimmt und in Konkurrenz zu anderen Sprachen tritt, womit aber dann die Freiwilligkeit im Sinne auch einer möglichen (Ab-)Wahl der Sprache nicht mehr gegeben ist.) Zu positiv bewerteten Fällen von Mehrsprachigkeit gehören auch solche, bei denen das Erlernen bzw. die Beherrschung einer bestimmteri Sprache positiv zur Identität beiträgt: Hier spielen dann das Prestige und der Marktwert dieser Sprache eine wichtige Rolle: So gehörte es bekanntlich zu einer bestinunten Zeit zur Identität des Adels, nicht nur die französische Hofkultur nachzuahmen, sondern auch mit seinesgleichen französisch zu parlieren. Heutigentags lässt sich eine Identitätserweiterung durch Mehrsprachigkeit feststellen beim Typ des ,Weltbürgers' oder ,globalen' Bürgers, der sich aufgrund seiner Kompetenz in prestigeträchtigen Weltverkehrssprachen eine spezifische ,globale' Identität verschaffen kann. Ähnliches eine Identitätserweiterung oder auch ein Spielen mit Identität kann man denjenigen Menschen zuschreiben, die sich durch ihre Mehrsprachigkeit einen Anstrich von Weitläufigkeit geben wollen oder die für zeitlich begrenzte Situationen, etwa im Urlaub eine mehr oder Weniger spielerische Identitätserweiterung bzw. Identitätsverschiebung anstreben: Spielerisch und durchaus erwünscht kann hier der Sprachen- Wechsel einen ,Identitätswechsel' bewirken. Dies setzt natürlich voraus, dass individuelle Identität nicht in allen Fällen mit dauerhaften Person- oder Charaktermerkmalen gleichgesetzt wird (den ,Prozesscharakter' gerade auch der sprachlichen Identität betont Haarmann 1996: 228ff.), sondern sozusagen auch schwächere Varianten zulässt. Wenn man die im ersten Abschnitt erläuterte Vorstellung von Identität als Erklärungs- Hintergrund für bestimmtes Verhalten und manifest werdende Einstellungen heranzieht sowie die Gruppenabhängigkeit bestimmter ldentitätsc~arakteristika berücksichtigt, dann scheint es uns aber nicht gerechtfertigt, solche Fälle von Spielen mit und Ausprobieren von Identitäten völlig Von einem ,ernsthaften' Identitätsverständnis zu trennen: Die entsprechenden Individuen wollen sich ja gerade eine Zeitlang nach anderen Mustern richten und auch in ihrer ,neuen Identität' anerkannt werden (z.B. im italienischen Restaurant trotz ihrer rudimentären ltalienischkenntnisse nicht auf Deutsch bedient werden). Diese erwünschte Veränderung bzw. Erweiterung der Identität macht ~a~ sich auch im Bereich der Fremdsprachenvermittlung zu Nutze: In estirnmten Ausformungen der Sprachvermittlungsmethode „Suggesto* Pädie" darf sich jeder Fremdsprachenlerner von Anfang an eine neue <?page no="62"?> 54 Wilfr e lm Oppe11rieder, Maria Tl11mnai r Identität in der Fremdsprache suchen und diese für den gesamten Sprachlernprozess übernehmen (vgl. dazu etwa Baur 1990, insbes. 94f.). Ein weiteres Beispiel für die positive Nutzung einer anderen Sprache sind die Schriftsteller, die aus welchen Gründen auch immer in eine andere als ihre Muttersprache wechseln, die also bewusst nicht ihre Muttersprache als literarische Sprache wählen. Zu nennen sind hier: Elias Canetti, der als literarische Sprache Deutsch wählt 12 statt seiner Erstsprache Ladino (bzw. Bulgarisch oder Englisch), Deutsch als eine wie Canetti schreibt - „spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache" (Canetti 1979: 86f.); zu nennen ist auch Samuel Beckett, der Französisch statt Englisch bzw. Irisch wählt, oder Jorge Semprun, der Französisch statt Spanisch wählt; zu nennen sind hier aber auch vielleicht weniger prominent die meisten Autoren der Migrantenliteratur (wie Franco Biondi, Gino Chiellino oder Rafik Schami) 13, die auf Deutsch, d .h. in der Sprache ihrer Lebensumgebung, schreiben und nicht in ihrer Erstsprache dies gilt vor allem für die Angehörigen der ersten Migrantengeneration; für die späteren Generatione n überwiegt oft ohnehin das Deutsche oder ist mindestens so stark, dass es auch als Literatursprache dient. Ein sehr häufig angeführter Grund für die Wahl einer anderen Sprache nicht nur im literarischen Bereich is t die Möglichkeit, die Fremdheit dieser Sprache produktiv zu nutzen; so wird von Elias Canetti berichtet, die deutsche Sprache sei gerade deshalb die Sprache seiner literarischen Prosa geworden, weil sie für ihn immer von einer Aura der Fremdheit umgeben geblieben ist (vgl. Ackermann 1983a: 1), und der französische Schriftsteller Michel Boiron meint: Das Gefühl, obwohl ich die Sprache jetz t gut beherrsche, daß alles, was ich in dieser Sprache sage oder höre, durch einen Filter geht. Einen Filter, der alles verfremdet. Das GefUhl, daß dieser Filter mir fehlen würde, wenn ich wieder in mein Land zurückginge. (Boiron 1983: 246} 12 In einer Rede vor d er Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1969) bezeichnet sich Elias Canetti selbst als „Gast in der deutschen Sprache" (vgl. Redder 1993: 49). t3 Für die Angehörigen der ersten Migrantengeneration sind es vor allem die türkischen Autoren wie Aras Ören oder YUksel Pazarkaya, die stärker an ihre Muttersprache gebunden bleiben und nicht Deutsch als literarische Sprache wählen, was Weigel (1992: 21 3} mit der ! ">0nderstellung der türkischen Migranten erklärt, die als größte Minoritä t ein Leben in eigenen kulturellen Zusammenhängen führen können. Vgl. dazu genauer auch Sö lc; ün 2000: 136ff. <?page no="63"?> Sprachidentität im Kontext von Mehrsprachigkeit 55 3.2.2 Spraclte11abwaltl Ein Sonderfall der bewussten Gestaltung der ldentität in einer Mehrsprachigkeitssituation ist Sprachenabwahl, wie sie sich etwa in folgenden exemplarischen Situationen findet: Sprachenabwahl lässt sich konstatieren bei Verfolgten des Naziregimes, die sich weigerten, Deutsch zu sprechen; sei es, dass sie als Flüchtlinge bzw. Emigranten nur noch die Sprache ihrer neuen Heimat gebrauchten,H sei es, dass sie als generell mehrsprachige Sprecher in Inehrsprachigen Gebieten (etwa im Elsass) nach dem Zweiten Weltkrieg kein Deutsch mehr sprechen wollten. Ein prominentes Beispiel ist Peter Weiss, der temporär das Deutsche abwählte (Redder 1991: 36 spricht hier Von Deutsch als einer „entfremdeten Sprache" im Unterschied zur „fremden Sprache" etwa bei Canetti) und es sich später wieder erarbeitet hat (vgl. genauer Weiss 1981: 678-680). Auch die bewusste Wahl einer Schreib- oder Literatursprache bei den schon erwähnten Schriftstellern bedeutet umgekehrt ja auch die Abwahl einer anderen Sprache z.B. aus politischen Gründen, wenn etwa Schriftsteller nicht in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren schreiben Wollen und bewusst eine andere (einheimische oder andere europäische) Sprache wählen. In den erwähnten Fällen der Sprachenabwahl symbolisiert eine Sprache stark negativ bewertete Verhaltens- und Einstellungskomponenten einer ,alten' Identität; die Sprachenabwahl signalisiert die Distanz dazu. Eine andere Form der Sprachverweigerung findet sich etwa bei einem Schriftsteller wie Oskar Maria Graf, der nach seiner Emigration in die USA an seiner Einsprachigkeit auch fo der anderssprachigen Umgebung festhielt, aus Angst davor, mit dem Sprachenwechsel auch seine schriftstellerische Identität zu verlieren. Die vorangegangenen Fälle von Mehrsprachigkcitssituationen machen folgendes Fazit deutlich: Das reine Faktum der Mehrsprachigkeit kann bezogen auf die Frage der ldentität(en) ein ganzes Spektrum von Folgen H t: azu auch Deutschkron (2001: 84): „Es gab auch Emigranten aus Deutschland, die sich geschworen hatten, nie wieder Deutsch zu sprechen. Für sie war die deutsche Sprache wie das Symbol des Bösen, das Deutschland von 1933 bis 1945 beherrscht hatte und ihnen im Nachkriegsdeutschland nicht verschwunden schien. So quälten sie sich redlich, so schnell wie möglich in der Sprache ihres neuen Landes zu kommunizieren." Die Tragik ist allerdings, dass auch die als Ausweg gewählte Sprache (~twa Englisch, Hebräisch) oft nur mangelhaft beherrscht wird (vgl. dazu ausführlich Deutschkron 2001). <?page no="64"?> 56 Willtelm Oppe11ri cdc r, M11ri11 Tl111rmair haben: von der grundlegenden Identitätsbedrohung bis hin zu einer lustvollen Ausgestaltung der eigenen Identität durch Mehrsprachigkeit, bewusste Sprachenwahl und Sprachwechsel. Die unterschiedlichen Bewertungen sind also wohl vor allem auf die äußeren Einflussfaktoren zurückzuführen - Identität und Mehrsprachigkeit sind damit nicht ohne ihren Entstehungs- und Gebrauchskontext und die dabei wirkenden extralinguistischen Faktoren zu beschreiben. Dieser Befund erinnert an die Ergebnisse der Bilingualismusforschung, die die Beziehung zwischen Intelligenz bzw. kognitiver Entwicklung und Zwei- und Mehrsprnchigkeit untersuchte: Die Ergebnisse reichen von der Feststellung eines negativen Einflusses auf die Intelligenz, ja gar Sehwachsinnigkeit, als Folge von Zweisprachigkeit bis hin zu einer hochgradig positiv bewerteten bilingual bedingten kognitiven Entwicklung. Auch hier scheinen die äußeren Faktoren wie Prestige der Sprachen, Freiwilligkeit oder überhaupt Ums.tände des Spracherwerbs eine wesentliche, wenn nicht die entscheidende Rolle zu spielen (vgl. Romaine 1995). 4 Fazit: Identität unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit Die Wahrnehmung und Einschätzung von Mehrsprachigkeit hängt so unsere These sehr stark davon ab, welche Rolle man Sprachen bei der Identitätsbildung (sowohl beim Individuum wie bei der Gruppe) zuer· kennt. Allgemeiner Hintergrund dazu sind die Vorstellungen über die für eine gelungene Identitätsbildung noch zulässige Heterogenität der Komponenten. Diesen Überlegungen steht das pure Faktum der Mehrsprachigkeit gegenüber, dem sich schlecht entkommen lässt. Insbesondere die westlichen Nationen als die klassischen Beispiele von sehr großen Kommunikationsräumen mit einer einzigen dominanten Sprache werden durch die zunehmende politisch-wirtschaftliche Ver· flechtung in der Welt und die damit einhergehenden Verschiebungen und Mischungen von Sprechern verschiedener Sprachen mit neuartigen Sprachmischungssituationen (und natürlich sonstigen kulturellen Melangen) konfrontiert. Die Rolle der Sprachen für die Identitätsbildung muss insbesondere dort neu eingeschätzt werden. Verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen, sind denkbar. Wenn man nicht davon ausgehen will, dass auf die Dauer eine einzige Sprache, etwa das Englische, dominiert (Haarmann konstatiert immerhin <?page no="65"?> Sprachide11liläl im Kontext von Mehrsprac11igk eit 57 als -„neuen Typ von Bilingualismus [.: .] die national-englische Zweisprachigkeit" (Haarmann 2001: 307)), dann darf man entweder die Rolle der Sprache als identitätsstiftender Faktor nicht zu hoch veranschlagen oder aber man muss Mehrsprachigkeit anders werten. Ein nahe liegender Fall ist die Situation in Europa. Wenn ·die Bewohner Europas so etwas wie eine europäische Identität entwickeln sollen, darf entweder die Sprache kein sehr dominanter Faktor sein oder aber es muss ein Verhältnis zur Mehrsprachigkeit gefunden werden, das die oben genannte typische Ein- .. Stellung überwindet, wonach (bezogen auf den deutschen Bereich) zu einer einzigen dominanten Sprache nur die üblichen prestigehohen und marktläufigen Sprachen wie Englisch, Französisch und vielleicht noch Spanisch hinzukommen, wohingegen das Verfügen über andere Sprachen jedenfalls nicht eindeutig positiv gesehen wird. Unsere Empfehlung: Werde der, der du bist - und zwar in möglichst vielen Sprachen! 5 Literatur Ackermann, Irmgard (Hrsg.) (1983a): In zwei Sprachen lebe n. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. Milnchen. Ackermann, Irmgard (1983b): Nachwort. In: Dies. (Hrsg.), 247-257. Ackermann, Irmgard (Hrsg.) (1984): Ttirken deutscher Sprache. Berichte, Erzählungen, Gedichte. München. Anunon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York. Apeltauer, Ernst (2001): Bilingualismus - Mehrsprachigkeit. In: Hclbig, Gerhard u. a. (Hrsg): Deutsch als Fremdsprache. 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Welche Grenzen gezogen worden sind, wird im Vorwort (ebd.: V) nur für die Glossen des Trierer Seminarcodex angedeutet, dessen „zweifelhafte Wörter" (gemeint sind die, die sprachlich ebenso als mittelfränkisch wie als altsächsisch bestimmbar sind) in einen Anhang (ebd.: 91-95) verwiesen werden. Hingegen nimmt er die heute meist als niederfränkisch betrachteten Windbezeichnungen des Londoner Einhardscodex (Cotton Tiberius C Xl) 1 ohne irgendeine Diskussion in sein sächsisches Corpus auf. Was Benutzer von F. Holthausens Wörterbuch ohne eingehende Prüfung nicht bemerken, ist das, was er stillschweigend ausgeschlossen hat, zum Beispiel einige interessante landwirtschaftliche Und brautechnische Ausdrücke aus dem Werdener Urbar (Kötzschke 1906: 17f.), die er, vermutlich weil sie Verhältnisse in fränkischen Besitzungen Werdens betreffen, wohl als nichtsächsisch angesehen hat. Ähnliches gilt für friesische Regionen. Noch unauffälliger ist es, wenn er zwar den Wortschatz eines Textzeugen aufnimmt,. aber einen Teil davon, gleichfalls stillschweigend, ausschließt. Nur wer sein Wörterbuch ganz genau mit Adam Kleczkowskis Glossar der altsächsischen Interlinearversion der Psalmen (Lubliner Psalter) (Kleczkowski 1926: 113-136) vergleicht, wird bemerken, dass ein Teil des Wortgutes nicht verzeichnet ist, nämlich alle die Wörter, die den so genannten hochdeutschen Restformen zugerechnet werden. Offenbar bestanden für F. Holthausen klare Vorstellungen darüber, was ,echt' altsächsisch ist und was nicht. Mit dieser Konzeption befand er 1 Cysseling 1980: Nr. 13. Die Handschrift vom Ende des 11. Jahrhunderts stammt aus Egmond; jüngste Beschreibung bei Tischler 2001: 1370-1392. <?page no="70"?> 62 Hei11ric/ 1 Tiefenbach sich völlig in Übereinstimmung mit der Forschung seiner Zeit. Und auch gegenwärtig kann man, um beim Beispiel des Lubliner Psalters zu bleiben, feststellen, dass es Konsens gibt über die Möglichkeit, in diesem Text Altsächsisches von Anderssprachigem zu differenzieren. So schrieb un· längst Arend Quak zu der Übersetzung von Psalm 32,20f. [s]ele 11ser bcidod drohtin Jma(n)ne 1 l1elpl1eri ende biscirmiri unser ist 1 [ll]uande an imu from1id herze unser: Diese Stelle ist nur mangelhaft ins Altsächsische umgesetzt worden. Im Grunde sind nur das anlautende / 1- und die Endung in den beiden Verbformen altsächsisch. Fand der Bearbeiter hier elwa eine vollständig ilbersetzte Stelle vor, die er nur notdürftig ins Altsächsische umsetzte? (Quak 1999: 204. Die Handschrift hat imu.) Derartige Urteile sind, wie die Formulierung deutlich macht, von der Erwartung geprägt, dass eine Sprachform w~e das Altsächsische eine homogene Einheit sei, die eindeutigen Gesetzen, zuallererst denen der historischen Phonologie, folgt. Als Bezugsrahmen wird man diese Sicht wohl auch nicht missen wollen. Zu fragen bleibt jedoch, ob alle in der sprachlichen Wirklichkeit des sächsischen Raumes im 10. Jahrhundert existierenden Kommunikationssysteme mit diesem Idealtypus deckungs· gleich waren. 2 Das Problem wiederholt sich, wenn man von der althochdeutschen Seite her auf das überlieferte Sprachmaterial blickt. Denn die Frage, was denn der Gegenstand eines althochdeutschen Wörterbuchs sei, kann zu vergleichbaren Problemen führen. Tief im Bairischen, im Alemannischen, im Südrhein.fränkischen und Ostfränkischen, wo eine bedeutende und umfangreiche Überlieferung angesiedelt ist, scheint das Problem weniger drängend zu sein. Die Identitätsfrage liegt hier eher darin begründet, aus welchem Grund alle diese sprachlich sehr unterschiedlichen Varietäten unter dem vereinheitlichenden Begriff ,althochdeutsch' gefasst werden dürfen, der ja kein Terminus der damaligen Zeit ist. Gründe für die Zusanunenfassung zu einer Einheit liefert auch hier zuerst die historische Phonologie. Eine Reihe von bedeutenden Denkmälern des Althochdeutschen, zum Beispiel das Wessobrunner Schöpfungsgedicht, das Hildebrandslied oder Teile der Tatian-Übersetzung, zeigt allerdings ebenfalls innerhalb derselben Quelle sprachliche Differenzen, die den Unterschieden im Lubliner Psalter in nichts nachstehen. Erst recht gilt das für die <?page no="71"?> Beginn einer vofkssprachigen Identität 63 Buntheit der Glossenüberlieferung. Gleichwohl ist noch keiner der Wörterbuchmacher des Althochdeutschen auf den Gedanken gekommen, dieses Material einfach aus seinem Lexikon wegzulassen. In der lexikographischen Praxis des großen Leipziger Thesaurus (Karg-Gasterstädt u.a. 1968ff.) wurde grundsätzlich der Weg eingeschlagen, dem Editionsprinzip zu folgen, so dass alles, was in den Editions- Werken der althochdeutschen Quellen publiziert ist, im Wörterbuch erscheint, auch wenn es sich evident um sächsische Denkmäler handelt, wie etwa die Essener Bekhte. Daneben sind auch Editionen sächsischer Texte mit einbezogen worden, so Elis Wadsteins Ausgabe der altsächsischen Sprachdenkmäler (Wadstein 1899}, der gesamte Lubliner Psalter, weiterhin der Wachtendonck-Psalter nicht nur in seinem mittelfränkischen, sondern auch in seinem altniederfränkischen Teil. Ausgeschlossen wurde . nur die altsächsische Bibeldichtung. Gekennzeichnet sind nicht-hochdeutsche Bestandteile durch [ ], allerdings gleichfalls nach dem Editionsprinzip. Keine Klammern sind verwendet, wenn die Belege etwa aus Elias Steinmeyers Editionen althochdeutscher Quellen (Steinmeyer/ Sievers 1879-1922; Steinmcyer 1916) stammen. So ist sprachlich klar sächsisches euurspiat aus den bei E. Steiruneyer publizierten Oxfordcr Vergilglossen nicht besonders markiert (Karg-Gasterstädt u.a. 1971-1985, III: Sp. 33), Wohl hingegen anfluzi (Karg-Gasterstädt u.a. 1968, 1: Sp. 420) aus den nur bei E. Wadstein abgedruckten Straßburger Glossen, trotz eindeutig althochdeutschem Konsonantismus. Auch das zuvor zitierte hochdeutsche herze des Lubliner Psalters steht in [] (Karg-Gasterstädt u.a. 1986-2002, IV: Sp. 1025), da nicht im Rahmen althochdeutscher Quellen ediert, nicht hingegen altsächsisches gudlianmn aus dem Hildebrandslied (ebd.: Sp. 478). Als (ebenfalls ungekennzeichnetes) Wörterbuchlemma fungiert für diesen Beleg fiktives grmdltamo, dem als Vergleichsform ein altsächsisches gütliltamo (dies auch bei F. Holthausen 1954: 29) beigegeben wird, und nur der gut informierte Benutzer weiß, das diese schöne Vielfalt auf dem einen einzigen Beleg des Hildebrandsliedes beruht. Innerhalb althochdeutscher Denkmäler, vor allem bei den Glossen, ist weiterhin altenglisches Wortgut überliefert. Hier verfährt das Leipziger Wörterbuch unterschiedlich. Im Falle von ae. bordrima ist der ganze Artikel in [ ] gesetzt (l<arg-Gasterstädt u.a. 1968, 1: Sp. 1262), während bei blödseax nicht einmal der Artikeltext einen Hinweis enthält (ebd.: Sp. 1241). Die Verfahrensweisen der Wörterbücher, auch das hier nur angedeutete Normalisierungsproblem, sind durch die Notwendigkeiten einer nachvollziehbaren Lemmatisierung mit bedingt und müssen für sprachli· ehe Analysen keine Stolpersteine bilden, wenn bewusst bleibt, dass die <?page no="72"?> 64 Heinrich Tiefenbncl1 letztlich nach etymologischen Grundsätzen regulierte Einheitlichkeit des Wörterbuch-Althochdeutschen eine wohl notwendige, aber doch nur virtuelle Ebene darstellt, die nicht mit der Sprachwirklichkeit verwechselt werden darf. Im Blick auf die reale Uneinheitlichkeit stellt sich die Frage nach der Identität solcher Sprachen freilich um so entschiedener. 3 Eine relativ triviale, sozusagen mechanische Erklärung von ,Mischungen' ist dann möglich, wenn sich aus textphitologischen Gründen das Verhältnis von Vorlage und Abschrift erweisen lässt, die aus dialektgeographisch unterschiedlichen Regionen herleitbar sind, also etwa im Falle der Kopie althochdeutscher Glossen im altsächsischen Raum oder umgekehrt. Die Vorlage kann ganz oder nur in Teilen sprachlich umgesetzt sein. Schwieriger wird es, wenn ,Mischung' als Resultat einer sprachgeographischen Randlage auftritt. Eine Unterscheidung von dem zuerst genannten Fall ist nicht immer leicht. Eine Variante dieses Erklärungsmusters stellt der sprachfremde Schreiber in einer anderssprachigen Umgebung dar, eine weitere Variante rechnet mit diastratisch statt diatopisch begründeter Verschiedenheit. Ein Beispiel aus dem Althochdeutschen für den Fall ,sprachgeographische Randlage' ist die Sprache Otfrids. „In der Grenzzone zum Alem. liegt Weißenburg (Südrheinfränkisch)", schreibt die Grammatik von Wilhelm Braune (Braune/ Eggers 1987: § 6b, Sperrung im Original) und meint damit nicht allein die topographische Lage, sondern impliziert auch eine Erklärung von Sprachzügen, die nicht im Fränkischen, wohl aber im Alemannischen anzutreffen sind (entsprechende Hinweise bereits bei Kelle 1869: XXIV). Für die Möglichkeit von Veränderungen durch anderssprachige Abschreiber sei die Freisinger Kopie von Otfrids Werk genannt, bei der bairische Sprachzüge eingedrungen sind (dazu jetzt Pivernetz 2000, II: 81ff.). Selbst in Fällen, in denen nur ein einziger Textzeuge vorhanden ist, wird mit vergleichbaren Kriterien eine Schichtenfolge von diatopisch unterschiedlichen Überarbeitungen konstatiert, etwa im Falle des Hildebrandsliedes, bei dem Ro se marie Lühr (Lühr 1982, zusammenfassend 1: 75) ein aus Fulda stammendes Original, eine bairische Abschrift und eine saxonisierte Fassung unterscheidet. Besonders schwierig ist der Nachweis diastratisch begründeter Sprachunterschiede, der Existenz und sichere Bestimmung entsprechender Sprachschichten voraussetzt. Eine Sondersprache unter definierbaren sprachsoziologischen Bedingungen ist wohl die deutsch-lateinische Mischsprache in Notkers Werken. Manche halten sie für einen Reflex <?page no="73"?> Beginn einer volkssprachigen Id entität 65 einer mündlich verwendeten Unterrichtssprache (dazu Sonderegger 2000: Sp. 1236). Der spezifische Rechtswortschatz der Leges barbarorum und anderer Quellen (dazu Schmidt-Wiegand 1998 mit weiteren Hinweisen) erlaubt den Nachweis, dass es auch innerhalb der Volksidiome in dieser Frühzeit Fachsprachen gegeben hat. Das Inventar der poetischen Formeln aus den wenigen erhaltenen Zeugnissen der einheimischen Stabreimdichtungen zeigt ferner, dass sprachliche Register dichterischen Sprechens existierten, die nicht mit der Sprache des Alltags identisch waren. Somit kommt zum diastratischen noch ein diaphasisches Moment. 4 Beim dichterischen Sprechen in der Frühzeit führt die Frage der Sprachidentität über die Einzelsprache hinaus. Es handelt sich nicht eigentlich um eine Sprache im Sinne eines Inventars grammatischer Mittel, sondern eher um eine artifizielle Sprachhaltung mit sprachlichen, vornehmlich lexikalischen, Gestaltungsmöglichkeiten, die wie die behandelten Stoffe allen altgermanischen Sprachen gemeinsam sind. Der Wortschatz ist durch das Kunstmittel der Alliteration, der Variation und der Verwendung von Metonymien und Metaphern gekennzeichnet, ferner durch ein archaisches Wortgut sowie inhaltlich durch ein Gefüge von Werten, das keineswegs unflexibel den jeweiligen Anforderungen folgen kann. So sind die an der dichterischen Gestaltung von Mannestugenden, Kampf und Festgelagen ausgebildeten Darstellungsformen durchaus fähig, auch christliche Inhalte zu vermitteln, wie die englischen und festländischen Stabreimdichtungen zeigen. Eine Bezeichnung wie mildi 1111mdboro im altsächsischen Heliand oder milde mundbora in der altenglischen Bibel~ dichtung2 ist auch eine geeignete poetische Bezeichnung für den christlichen Gott und den Heiland der Welt. Das hat gar nichts mit Fortleben heidnischer Inhalte zu tun, wofür es gelegentlich gehalten wurde. Ob gold endi godmmebbi die Waren der Händler im Tempel (Heliand 3762 3) oder in der altenglischen Exodus (588) gold and godweb die durch die im Roten Meer ertrunkenen Verfolger hinterlassenen Reichtümer bezeichnen, ob afries. gold eude goedewob im Prosatext der Magnusküren (Buma u.a. 1997: l30) die den Friesen angebotenen Gaben meinen, die sie zugunsten ihrer rechtlichen Freiheit ausschlagen, oder ob gulli oc gudvefiom die Aussteuer Man vergleiche das Formelverzeichnis der Heliand-Ausgabe von Sicvcrs 1935: 396 ~ (~.v. 'beschützer'). S1evers 1935: 443 (s.v. 'sch11tzc, rcichtum'). <?page no="74"?> 66 He i11rid1 Tiefenbadi der Gudrun für ihre Tochter Swanhild umschreibt (Gudn1narhvpt 16), stets steht diese Prägung der poetischen Tradition bere it. Die kosmologische Formel des althochdeutschen Wessobrunner Schöpfungsgedichts dat ero 11i 1was 11011 11J11imil findet sich in Variationen im Altsächsischen (Heliand 2885f. J111a11d J1 e l11it 1111eroldriki, erde endi uphimil selbo giuuarl1te) wie im Altenglisch en (Andreas 798 eordan eallgrme ond upl u: ofan) und ist noch in der altislä ndi schen Dichtung zu finden, wo die burleske r: >rymskvida die Spannweite der Ve rw endungsmöglichkeiten zeigt: er eigi veit / iardar lwergi / 11e upphimins: / ass er stolim1 liamri , was keiner weiß, auf der Erde nirgends, noch im Himmel: der Ase ist d es Hammers beraubt' (See u.a. 1997: 529 mit weiteren Hinweisen). Die Stabfähigke it ist, das kann der zuletzt genannte Fall zeigen, sogar durch ein.zelsprachliche Ve ränderungen wi e die u-Brechung in j(Jrd nicht berührt. 5 Die Frage nach d er sp rachlichen Id entität ist heute nur selten auf da s dichterische Sprechen dieser altgermanischen Tradition gerichtet, das di e ältere Forschung, beg innend mit den Anfängen einer wissenschaftlichen Ge rm anistik bei Jacob Grimm, außerordentlich interessie rt hat, nicht selten auch mit Blick auf die Identitätsfindung und Selbstvergewisserung in der eigenen Zeit. Un ter dem Stichwort ,Gesc hichte des Wortes deutsch' ist daneben eine reiche Forschungsliteratur' entstanden, die unter anderem der Frage gilt, welche Vorstellungsinhalte sich mit der Verwendung des sprachgeschichtlich vorausliegenden got. piudisko (Adverb), mlat. theodiscus, ahd. diutisc verbunden haben. Da ss in der älteren Zeit zunächst kein sp ra chlic her Standard im Sinne einer modernen Schriftsprache bestanden hat, ist ebenso deutlich wie die Tatsache, dass es regional geprägte und nur in einer bestimmten Variationsbreite schwankende Schreibnormen gegeben hat, die nicht in völlig beliebiger Ausprägun g auftraten. Diese flexible FestigkE; ! it macht es überhaupt möglich, von ale mannischem Einfluss auf das Rheinfr änk ische und Ähnlichem zu sp rechen. Markante Beispiele für die normativen Ordnungen, die solche Schreibsprachen aufweisen konnten, sind für die Frühphase des Althochdeutschen die Isido rübersetzung der Pariser Handschrift und für die Spätphase das Werk Notkers. In be iden Fällen sind Umsetzungen in ande re Regional· • Eine neuere Übersicht über die ständig wachsende Literatur zu dieser Thematik bieten Uoyd/ Lühr/ Springer 1998: Sp. 699-706. <?page no="75"?> Beginn einer volksspracl1igen lde 11tität 67 formen, hier ins Bairische, vorhanden, die deutliche Veränderungen von regionalen Charakteristika aufweisen. Fraglich ist jedoch, ob es ein sprachliches Identitätsbewusstsein gab, das die Benutzer der unterschiedlichen Regionalformen in irgendeiner Weise in dem Gefühl einte, sie sprächen oder schrieben ein gemeinsames ,Althochdeutsch'. In dem berühmten Eingangskapitel, in dem Otfrid seine Benutzung der Volkssprache begründet, verwendet er den Ausdruck i11 fre11kisgo11 (I, 1, 34). Das klingt eher regional. Dem entspricht aber in der lateinischen Überschrift bemerkenswerterweise der Begriff tlteotisce. Ein sehr auffälliges Indiz für ein gesamtalthochdeutsches Identitätsbewusstsein, das allerdings noch nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet worden ists, könnte die eigentümliche Schreibung für die Lautverschiebungsprodukte von germ. / t/ sein. Es versteht sich ja keineswegs von selbst, die phonologisch verschiedenen Größen Frikativa und Affrikata durch das gleiche Orthographiezeichen und dann ausgerechnet durch <z> wiederzugeben. Die in der lsidorübersetzung praktizierte Unterscheidung, die sich nirgends durchgesetzt hat, zeigt, dass aufmerksamen Zeitgenosscm der Mangel bewusst war, ähnlich wie die Differenzierung c/ z vereinzelt auch in anderen Quellen. Die z-Orthographie ist in allen althochdeutschen Denkmälern mit geradezu verblüffender Regelmäßigkeit vertreten Und beherrscht bis zur ihrer durch den Zusammenfall der s-Laute bedingten Ablösung auch noch das Mittelhochdeutsche. Gerne wüsste man, an Welcher Stelle sie entstanden ist und auf welchen Wegen sie sich durchgesetzt hat. 6 For den niederdeutschen Raum, in dem tl1iudisc gleichfalls gilt, ist das analoge Problem, was ,das' Altsächsische sei, noch kaum erörtert worden. Wieder kann das an den Gebräuchen veranschaulicht werden, die sich ~im Ansatz der Wörterbuchlemmata herausgebildet haben. Im Althochdeutschen ist dafür heute die Sprachform der Tatianübersetzung üblich. Begründen lässt sich das durch die sprachhistorische Folgeentwicklung. bem so genannten ,klassischen' Mittelhochdeutschen und der später e~tstehenden schriftsprachlichen Norm des Deutschen stehen die ostfrän· kischen Sprachformen des Tatian unter allen althochdeutschen Varietäten Braune/ Eggers 1987: § 157 konstatieren es nur als „ein(en} Mangel der ahd. Orthographie" und verweisen(§ Sb) auf das Fehlen einer zureichenden Erklärung. <?page no="76"?> 68 Heinricll Tiefenbacl1 am nächsten, ohne dass es, soweit erkennbar, eine kontinuierliche Entwicklungslinie zwischen diesen Größen gäbe. Eine ähnliche Option steht im Niederdeutschen nicht zur Verfügung. Gleichwohl lässt sich analog begründen, warum im Altsächsischen als grammatische Zitatform in der Regel die der Heliandhandschrift M gewählt wird. 6 An sie lässt sich die lübische Schreibnorm der mittelniederdeutschen Schriftsprache noch am leichtesten anschließen. Dass es überhaupt eine Stabreimdichtung ist, die für solche grammatischen Entscheidungen bestimmend wird, liegt in den Überlieferungsverhältnissen des Altsächsischen begründet, für das die Bibeldichtung das umfangreichste Sprachmaterial bietet. Sprachlich viel näher an dem erschlicßbaren Archetypus des Heliand als dem Monacensis stehen aber das ehemals Prager Fragment, das Vatikanische Exzerpt und der Cottonianus. Der Monacensis und mehr noch die Straubinger Fragmente sind offenbar sprachlich recht eingreifend verändert worden. Gleichwohl sind es nicht Handschriften wie der vor einiger Zeit sogar für das Altniederfränkische beanspruchte Cottonianus (Gysseling 1980: 29-38; kritisch dazu Klein 2001), die als Repräsentanten des Altsächsischen ausgewählt worden sind. 7 Die folgenden Bemerkungen sollen sich der Frage widmen, ob neben der klaren Regionalität des Schreibens, der gegenüber das Deutsche erst recht spät zur Etablierung einer überlandschaftlichen schriftsprachlichen Norm gelangt ist, nicht doch wenigstens Einzelerscheinungen auftreten, die als Wegmarken hin zu einer die Einzelsprachen übergreifenden Spracheinheit im deutschsprachigen Raum, hochdeutsch wie niederdeutsch, verstanden werden können. Dass es sinnvoll ist, danach zu fragen, zeigen Beispiele aus der Lexik. Ein allgemein bekannter Fall (dazu zuletzt Köppe 2001: 147} ist der missionssprachlkhe Ausdruck Heiliger Geist, der, offensichtlich auf dem Weg über die Kirchensprache, den konkurrierenden süddeutschen Begriff wilr ätum abgelöst hat und noch heute im Bairischen in der mundartlichen Realisierung der Diphthonge die Spuren seines Eindringens auf dem Weg über die Hochsprache an sich trägt (Kranzmayer 1956: § 20m). Solche Fälle machen deutlich, dass vielleicht auch das 6 Bei Holthausen (1954) mit Modifikationen in Bezug auf li und d, ftlr die v und tl1 verwendet werden, wodurch sich andere alphabetische Einordnungen ergeben. <?page no="77"?> Begi1111 einer volkssprachigen Identität 69 formal unsächsische lleilegan geiste des Lubliner Psalters anders erklärbar ,ist denn als Restform einer althochdeutschen Vorlage. Im niederdeutschen Bereich ist nun im Verlauf der Sprachgeschichte eine sehr markante Verschiebung der sprachlichen Identität eingetreten, die man versucht ist als Sprachwechsel zu bezeichnen. Ganz kurz sei das Problem verdeutlicht unter Inkaufnahme der durch die Verkürzung notwendigen Vergröberung. Im hochdeutschen Sprachraum existiert bis zum heutigen Tag ein nur schwer segmentierbares Kontinuum sprachlicher Ausdrucksformen von den Extremen des primär mündlich verwendeten engräumigen Basisdialekts einerseits bis hin zur schriftsprachnahen Realisierung andererseits. An diesem Kontinuum hat prinzipiell jeder der in diesem Raum Aufgewachsenen einen mehr oder weniger breiten Anteil. Grundsätzlich anders sind demgegenüber die Verhältnisse im niederdeutschen Sprachraum. Ein vergleichbares Kontinuum existiert nicht. Die schriftsprachnahe Norm gilt im Gesamtgebiet auch in der Alltagskommunikation und erhebliche Anteile der dort geborenen und aufgewachsenen Einwohner beherrschen ausschließlich diese. Eine Heimatbestimmung solcher Sprecher ist nur aufgrund suprasegmentaler Merkmale wie ~prachmelodie und Tonführung, auch einzelner Lexeme, möglich. Natürlich gibt es auch im niederdeutschen Raum Dialektsprecher. Aber bei diesem Dialekt handelt es sich hier nicht um die Variante auf einer Skala, ~andern um ein anderes Sprachregister. Unterschiede bestehen daneben in der Wertung der Verwendung. Jemand, der im hochdeutschen Raum eine mit starken Regionalismen eingefärbte Variante des Deutschen arti· kuliert, kann das dort bis hin in den öffentlichen Sprachgebrauch einer Hochschule tun. Entsprechende Varianten des Niederdeutschen stehen gar nicht zur Verfügung. Wer hier sein Sprechen in der Öffentlichkeit in gleicher Weise einfärben würde, geriete leicht in den Geruch der Unbildung. Darin besteht auch einer der Unterschiede zur Sprachsituation in der Schweiz, wo der Abstand der Systeme Schriftsprache - Schweizerdeutsch kaum geringer ist als zwischen den niederdeutschen Dialekten U~d der Standardsprache. Aber in der Schweiz stellt Schwyzertütsch gewissermaßen eine zweite Hochsprache der Binnenkommunikation im deutschsprachigen Teil dar, sozusagen ein Identifikationssignal der Landeskindschaft, was es im Niederdeutschen in vergleichbarer Form nicht gibt. . <?page no="78"?> 70 Hei11ricl1 Tiefenbac/ 1 8 Die Anfänge des Sprachwechsels im niederdeutschen Raum legen die Sprachgeschichten gewöhnlich in die Periode der frühen Neuzeit, parallel zur Etablierung und Festigung der neuhochdeutschen Schriftsprache überhaupt. Stichworte wie Buchdruck, Reformation und Luthersprache spielen auch hier eine Rolle (man vergleiche die Übersicht bei Sodmann 2000). Doch ist schon längst bemerkt worden, dass es bereits in der mittelhochdeutschen Periode auf niederdeutschem Gebiet eine hochdeutsche Schreibtätigkeit gegeben hat, für die es auf der Gegenseite das Pendant ,niederdeutsch schreibender Hochdeutscher' kaum gibt. Mehrere Beispiele (Sanders 1982: 123f.) Jassen sich für den Fall nennen, dass ein im niederdeutschen Raum beheimateter und wirkender Autor seine Werke in hochdeutscher (meist mitteldeutscher) Sprache verfasst hat. Ein recht früher Fall-ist der Oldenburger Wernher von Elmendorf, der in den Jahren 1170-1180, also noch vor der Hochblüte der staufischen Literatur, eine Adelslehre in hochdeutschen Reimen schrieb. Vielleicht gehört in die Reihe dieser Autoren sogar einer der bedeutendsten und einflussreichsten Dichter des niederländischen Sprachraums. Denn bei der von Theodor Frings und Gabriele Schieb mit großem Aufwand rekonstruierten altlimburgischen Eneide 7 des Heinrich von Veldeke handelt es sich womöglich um ein Phantom. Die erhaltene Überlieferung ist ausnahmslos hochdeutsch. Unbezweifelbar bleibt freilich, dass Heinrich seine Servatius- Dichtung in limburgischer Sprache geschrieben hat. 9 Somit liegen die Anfänge von Hochdeutsch im niederdeutschen Raum nicht erst in der frilhneuhochdeutschen Periode. Ohne eine Kontinuität postulieren zu wollen, können doch die früheren Ansätze, bei denen eigensprachliche Besonderheiten zugunsten einer überregional gültigen und verständlichen Sprache hintan gestellt worden sind, also gleichsam ein sprachlicher· Identitätsverzicht zugunsten einer größeren Reichweite geleistet wurde, als Stationen auf diesem Weg verstanden werden. Offen· bar konnte schon im Mittelalter jenseits der übernationalen Kommunika~ tionsgröße Latein ein über die eigene Region weiter hinausreichendes 7 Schieb/ Frings 1964: Text der ungeraden Seiten. Zum Problem zusanunenfasscnd Wolff/ Schröder 1981: Sp. 908·910. <?page no="79"?> Beginn einer volkssprachigen Identität 71 Schreiben in der Volkssprache versucht werden. Das bedeutete Aufgabe spezifischer Eigenarten und Verwendung der ,Sprache der anderen'. Für den niederdeutschen Raum könnten Indizien dafür zeugen, dass diese Erscheinung noch vor die niederdeutschen Dichter mittelhochdeutscher Werke zurückreicht. Schwierig ist freilich im Einzelfall der Nachweis, dass wirklich bewusste Wahl eines anderen Sprachregisters vorliegt Und nicht eine der zu Beginn genannten Ursachen wie hochdeutsche Vorlage oder hochdeutscher Schreiber im niederdeutschen Raum, an die dabei meist gedacht wird. Gewiss konnten sich auch auf solchen Wegen hochdeutsche Schreibformen im niederdeutschen Raum verbreiten. Zwei Beispielkomplexe mögen zum Abschluss unterschiedliche Formen des Phänomens vorführen und zugleich die Schwierigkeiten ihrer Deutung veranschaulichen. Am 21. September 937 stattet Otto l. das von ihm gestiftete Magdeburger Kloster St. Mauritius reich aus. Die Zustimmung König Rudolfs von Burgund und zahlreicher Erzbischöfe und Bi· schöfe des Reichs wird ausdrücklich erwähnt. Die Urkunde ist im Original erhaltens und nennt viele bis heute existierende Orte (Springer 2001) aus der Umgebung Magdeburgs, also aus sicher niederdeutschem Gebiet. Der für den (durch einen anonymen Schreiber [Poppo A] eingetragenen) Urkundentext verantwortliche cancellaritts Poppo (der spätere Bischof von Würzburg) gehörte einem fränkischen Geschlecht an (Fleckenstein 1966: 13, Anm. 42}. Ob das freilich die Ursache dafür ist, dass die deutschen Ortsnamen alle in althochdeutscher Schreibung notiert sind, sei dahinges~ellt: Fridumaresleba, Ruodltartesdorf, Hartaralesdorf, UUuala11es1meg, VUitinchesdorf, Lioboltesdorf u.a. Unter dem gleichen Poppo wird zwei Jahre später für dasselbe Kloster eine ebenfalls original erhaltene Schenkung9 ausgefertigt, die nunmehr konsequent -dorp verwendet, aber im Übrigen k: ine sächsischen Formen enthält (R11ed'1artesdorpe, Harteralesdorp, VUilen1iliesdorp, Fridemaresleba u.a.). Wiederum zwei Jahre später datiert eine Originalurkunde Ottos I. für Magdeburgto mit unzweifelhaft sächsischen ~chreibformen: Uplingi, Raresl1e111, Netlhorp, in pago Hardaga. Rekognoszent ist der jüngste Königsbruder Brun. Unter dessen Verantwortung sind Weitere Magdeburger Originale mit sächsischen Graphien und sächsischen Flexionseigentümlichkeiten (so a. 946 Makkiesstidi, Addesta11stidi 11 ) DO.J.14, Sickel 1879-1884: lOlf. Abbildung bei Puhle 2001: 349 (V.25), Katalogtext 9 von W[olfgang) H(uschner]. . 10 Do.1.21, Sicke! 1879-1884: 108f. Schreiber Poppo C. Do.l.41, Sicke! 1879-1884: 127. Schreiber Brun B. ll Do .l.74, Sickel 1879-1884: 153f. Zwei Originale (von einer Magdeburger ,Aushilfshand' und von Brun D, der Makkycsstcli schreibt). Lasch (1979, zuerst 1939: 120) hält <?page no="80"?> 72 Heinrich Tiefe11bac/ 1 zu verzeichnen. In den Originalurkunden Ottos I. finden sich sogar basisdialektale Saxonisrnen wie der Zetazismus Beuerbezire marca a. 944 12 in einem Diplom für Heimburg, die spätere Äbtissin von Hilwartshausen. Hochdeutsches in niederdeutschen Quellen ist also neben den zu erwartenden sächsischen Graphien eine schon zur Ottonenzeit gut erkenn· bare Erscheinung, was auch immer die Gründe dafür sein mögen. Die Autorität königlicher Urkunden mag den Vorbildcharakter solcher Schreibungen verstärkt haben. Genaueres müsste eine Gesamtuntersuchung des volkssprachigen Namenmaterials in den Diplomen der Otto· nen erbringen, die es gegenwärtig noch nicht gibt. Ein letzter Blick soll sich auf den zu Beginn genannten altsächsischen Lubliner Psalter richten. Die recht zahlreichen hochdeutschen Graphien dieses Denkmals gelten als Reste einer hochdeutschen Vorlage. Dass diese These fragwürdig ist, muss im Detail an anderer Stelle 13 gezeigt werden. Es fällt auf, dass der Text eine ganz konsequente, nirgendwo gestörte sächsische Flexion aufweist, auch bei den so genannten hochdeutschen Restformen. Hochdeutsch betrifft fast ausschließlich die Lautverschiebungsschreibungen und auch hier ganz allein die Fortsetzer von germ. / p/ und / t/ , niemals germ. / k/ (postvokalisch). Es fragt sich, ob dieses konsequente Bild wirklich mit dem mehr oder weniger zufälligen Stehenbleiben einzelner hochdeutscher Restformen zu erklären ist. Im Blick auf die Urkunden könnte auch daran gedacht werden, den Befund als Versuch zu deuten, hochdeutsche Graphien in einen sächsischen Text zu integrieren. Schriftsprache auf hochdeutscher Basis, so vereinzelt diese frühen Zeugnisse auch sein mögen und so wenig sie auf ein gezieltes Vorgehen deuten, hat also eine Geschichte, die nicht erst im 16. Jahrhundert beginnt. Das impliziert ein Bewusstsein von Volkssprache, das sich nicht in der Verschriftung der eigenen regionalen Variante erschöpft, sondern Verständlichkeit über den Bereich der engeren Sprachgemeinschaft hinaus anstrebt, frtdem man Sprach- und Schreibformen anderer verwendet. Möglicherweise sind damit erste Schritte zur Ausformung einer neuen Identität in einer überregionalen Schriftsprache gegeben. Wenn das so ist, reicht diese Entwicklung bis in die Anfänge der niede rdeutschen Schreib· ie für einen Palatalisicrungsbclcg, doch dürfte eher Bewahrung von j im ja-Stamm vorliegen. 12 DO.l.57, Sicke! 1879-1884: 139f. Schreiber Brun A; Lasch 1979: 154. 13 Im Druck befindet sich eine eigene Ui\tersuchung u11d Neupublikation des Textes im Rahmen des von Rolf Bergmann geleiteten Bamberger Kolloquiums ,Deutsch· lateinische Mischtexte und Textensembles'. <?page no="81"?> Beginn einer volkssprachigen Identität 73 tätigkeit zurück, wodurch vielleicht die Intensität ihres Durchdringens besser verständlich wird. 10 Literatur Braune, Wilhelm/ Eggcrs, Hans (1987): Althochdeutsche Grammatik. 14. Aufl. Ti.lbingen (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A 5). Buma, Wybren Jan/ Ebel, Wifhelm/ Tragtcr-Schubcrt, Martina (Hrsg.) (1977): Westlauwerssches Recht 1. Jus municipale Frisonum. Erster Teil. Göttingen (Altfriesische Rechtsquellen 6). Aeckenstein, Josef (1966): Die Hofkapelle der deutschen Könige. Teil II: Die Hofkapelle im Rahmen der ottonisch-salischen Reichskirche. Stuttgart (Schriften der Monumenta Gcnnaniae historica 16/ 11). 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Es ist das anthropologische Leitmotiv, wie es König Alkinoos dem gestrandeten Odysseus ge-· genüber intoniert: Sage, mit welchem Namen benennen dich Vater und Mutter Und die Btirgcr der Stadt, und welche rings dich um wohnen? Denn ganz namenlos bleibt doch unter den Sterblichen niemand, Vornehm oder gering, wer einmal von Menschen gezeugt ward; Sondern man nennet jeden, sobald ihn die Mutter geboren. (Odyssee VIH, 550-554) . Narnenlosigkeit ist gleichbedeutend mit Anonymität. Erst durch die Benennung wird der Mensch nam-haft gemacht, unterscheidbar und identifizierbar, als Einzelwesen mit eigener Identität existent. Gottfried Schramm (1957: 7) hat das vor dem Hintergrund germanisch-rechtsrelevanter Namengebungspraxis so formuliert: „der Name erst schafft seine Person. Darum ist der Name kostbarster Besitz, ohne den ein Mensch nicht wirklich leben kann." Von namhaft habe ich gesprochen bewusst in unserem Zusammenhang die alte Bedeutungsstruktur dieser Wortbildung in Erinnerung rufend. Diese ist in der heutigen Form nur noch schwach erkennbar: 1. (bes. als Künstler, Wissenschaftler o .Ä.) einen bekannten Namen habend: bekannt, berühmt. 2. groß, nennenswert, ansehnlich[...] 3. *jmdn., etw. n. machen (Papierdt.; jmd/ n., etw. ausfindig machen u. [be]nennen)." (Duden 2001: 1123) fn ahd. nama-/ 11amol1aft, mhd. 11am(e)haft steht dagegen die alte Bedeutung noch im Vordergrund, dass nämlich ein"Lebewesen mit einem bestimmt~n Namen be-Jtaftet wird, also der Name zum nomen proprium, zum Eigen-Namen wird. Gleichwohl ist auch schon für das Ahd. und Mhd. die Bedeutung 'berühmt' belegt, die sich offenbar über die ebenfalls bezeug- <?page no="86"?> 78 Friedllclm De b11s ten Bedeutungen 'w ichtig, bekannt' entwickelt hat. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man die herausragende Funktion des Benennungsvorgangs bedenkt. Geht man noch einen Schritt weiter zurück, wird dies greifbar. Durch die Semantik der adjektivischen Zweitkomponente hnft scheint das geradezu Zwingend-Fesselnde der ursprünglich mythische Züge tragenden Namengebung auf: ahd., mhd. J1aft bedeutet 'gefangen, gebunden, gefesselt, festgemacht, besetzt, behaftet'. In Verbindung mit namo, name wird verdeutlicht, dass mit der Verleihung des Namens einmalig und fest bleibend die individuelle Identität gestiftet wird. Der einmalig gegebene offizielle Name soll nicht geändert, ersetzt werden. Für die meisten germanischen Völker ist damit der Glaube verbunden, dass der mit der Namengebung ausgesprochene Heilswunsch erhalten bleiben müsse (Bach 1953: §490). Daneben sind es die grundsätzlich bedeutsamen Gründe, später zunehmend auch adminis trative Aspekte, die einer Namenänderung entgegen stehen - Gründe, die .mit Identität und Identifikation zu tun haben und die gleichermaßen auch für dennoch mögliche Namenänderungen Gültigkeit haben. Wir kommen darauf zurück Es gilt: Der Name als Eigenname stifte t Identität. Dieser Feststellung liegt die urtümliche, mythische Auffassung zu Grunde, dass Name und Namenträger eine wesenhafte Einheit darstellen, dass der Name für die Person steht und diese für jenen. Nicht nur Ernst Cassirer hat dies beschrieben, doch er tut es vom „ Wort" ausgehend in besonders eindringlicher Weise: Das gefom1tc Wort ist selbst ein in s ich Begrenztes, ein Individuelles: so ist ihm auch je ein besonderes Gebiet des Seins untertan, eine individuelle Sphäre gleichsam, über die es unumschränkt herrscht und waltet. Insbesondere ist es der Ei g c n n a m e, der in dieser Weise mit geheimnisvollen Banden an die Eigenheit des W c s c n s geknüpft ist. Auch in uns wirkt vielfach noch diese eigentümliche Scheu vor dem Eigennamen nach die ses Gefühl. daß er nicht äußerlich dem Menschen angeheftet ist, so ndern irgendwie zu ihm ,gehört'. Und hier zitiert Cassirer eine oft angeführte Stelle aus Goethes „Dichtung und Wahrheit", in der dieser den Namen mit der dem Menschen ange~ wachsenen Ha~t vergleicht (Goethe 1974/ IX: 407). Dazu fortfahrend Cassirer: Aber dem ursprünglichen mythischen De nken ist der Name noch mehr als eine solche Haut: er spricht das Innere, Wesentliche des Menschen aus und ,ist' geradezu dieses Innere. Name und Persö nlichkeit fließen hier in eins zusammen . (Cassirer 1994: 54) Diese urtümliche Einheit hat magischen Charakter. Die alte Vorstellung, Wissen und Nennen eines Namens verleihe Macht über den, der diesen <?page no="87"?> ldentitiitsstiflende Funktion von Personennamen 79 Namen trägt, das Rufen des Namens vergegenwärtige den Namenträger, diese Vorstellung lebt in mannigfacher Weise im Volksglauben oder in der Dichtung fort, ja ist in abergläubisch-tabuisierenden Umschreibungen bis heute bekannt-geläufig wenn etwa vom Gottseibeiuns statt vom Teufel die Rede ist. Es sind offensichtlich gerade die Dichter, die mit dem Namen solche Vorstellungen verbinden. Eine Dichterbefragung hat es deutlich werden lassen: Der Name wird in die Nähe der Magie gerückt, als Beschwörungsformel apostrophiert (Dcbus 2002), und Dieter Wcllcrshoff (1992: 108) formuliert kurz und einprägsam: „Indem man benannt wird, wird man auch gebannt." Elias Canetti hat in seinem autobiographischen Werk auffällige Beispiele hierfür geliefert (Debus 1998), nicht zuletzt auch mit Blick auf seinen eigenen Namen. "Ich gebrauchte ihn selten und ließ mich nicht gern bei ihm nennen." So bekennt er (Canetti 1981: 235), und in einem Gespräch erwähnt er eine besondere Scheu vor dem eigenen Namen und „eine wirklich magische Beziehung zu Namen" überhaupt (Canetti 1972: 105). Unsere bisherigen Überlegungen haben sich unausgesprochen wesentlich auf den eigentlichen, den individuell-persönlichen Eigennamen bezogen. Das betrifft aus heutiger Sicht und Terminologie den Vornamen (VN) oder gegebenenfalls mehrere VN, wobei dann der Rufname (RN) einen besonderen Stellenwert besitzt. Von VN können wir erst sprechen, seitdem sich das einnamige anthroponymische System zum zweinamigen entwickelt hat. In Regensburg z.B. setzt diese Entwicklung bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein (Kohlheim/ Kohlheim 2002), anderwärts teilweise erst sehr viel später (Debus 2001b). Das braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Doch zu unserem Thema gehört das Ergebnis dieser Entwicklung, dass · nämlich in unserem Kulturkreis jeder/ jede durch Vor- und Nach- oder Zuname eindeutig identifiziert ist Und sich damit die Identität des einzelnen Namenträgers in einen eher Persönlich-individuellen und einen gruppenspezifischen Teilaspekt differenziert; denn mit dem erblichen Nachnamen ist die Bindung an die Familie mit ihrem historisch gewordenen, durch die Familienangehörigen geprägten Profil schon bei der Geburt gegeben. Diese Gruppenbindung Wird daher durch den Terminus Familienname (FN) gekennzeichnet. Öffentlich-administrativ-rechtlich dienen VN und FN als Einheit stets zur Identifikation einer Person und dies nach streng festgelegten orthographischen Regeln (seit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900). Inoffiziell, in bestimmten .Kommunikationsgemeinschaften, etwa solchen eines Dorfes oder neuerdings verstärkt in erweiterten Bereichen, in denen das Siezen dem Duzen gewichen ist, spielt der FN kaum <?page no="88"?> 80 Friedltelm Deb11s oder gar keine Rolle, er ist oft nicht einmal bekannt was übrigens auch auf Bei-VN zutrifft. Die dominante Rolle des RN wird in der herkömmlichen Redewendung „ Wie heißt du und wie schreibst du dich? " greifbar, oder sie zeigt sich historisch gesehen etwa darin, dass in Schüler- und Studentenveri; eichnissen noch des 18. Jahrhunderts die Namenträger nur mit ihren VN aufgelistet und geordnet erscheinen können (Bach 1953: §343). Dass inoffiziell im täglichen Umgang neben der ursprünglich gegebenen Namenform Varianten derselben oder in bestimmten Situationen und Gruppenkonstellationen auch andere (Zusatz-)Namen (Kose-, Spitz-, Neck-, Spottnamen u.Ä.) verwendet werden können, ändert nichts an der grundsätzlichen Feststellung, dass der einmal gegebene Name fester Bestandteil einer Lebensgeschichte bleibt. Nun gibt es freilich, wie erwähnt, sehr wohl Namenänderungen. Berühmte Beispiele können genannt werden: Sa11l11s wurde zum Paulus, wobei es sich nicht um bloße Lautvarianz handelt, sondern um eine semantische Neubestimmung: Saul1ts ist 'der Erbetene', Paulus 'der Kleine, Geringe', wozu übrigens der Apostel auf seine Identität anspielend sagt: „Denn ich bin der geringste unter den Aposteln" (1 Kor 15,9; ähnlich Eph 3,8); Simon, Jonas Sohn, wurde in Kep! Jas/ Petnis umbenannt CToh 1,42) oder Jakob erhielt den neuen Namen Israel (1 Mose 32,29). Dass Mönche und Nonnen den Eintritt in einen Orden durch die Annahme eines anderen Namens dokumentieren, hat sich erst allmählich eingebürgert (Bach 1953: §439), und auch der Papst nimmt ja nach seiner Wahl einen neuen Namen an. Wie ist eine solche Umbenennung angesichts der Feststellung von der Konstanz des einmal gegebenen Namens zu erklären? Wir haben gesehen, dass nach alter und neuer Vorstellung Name und Person eine Wesenseinheit darstellen. Hier liegt der Schlüssel für die Erklärung. Eine Änderung des Namens der durch Beispiele angesprochenen Art soll die Änderung im Wesen des Benannten signalisieren. Die bewusste Umbenennung. sei's von außen, sei's aus eigenem Antrieb und nach eigener Wahl, dokumentiert die neue Identität. Ob in all solchen Fällen eine Wesensänderung wirklich erfolgt ist, mag dahin gestellt sein. Auf jeden Fall ist damit der Eif\trilt in eine neue Daseinsform namentlich angezeigt, die programmatischen Charakter trägt. Der Umbenannte strebt fortan danach, dem Anspruch des Namens gerecht zu werden. Der neue Name stiftet die neue Identität, nomen wird zum omeu. Neben solchen religiös motivierten Namenänderungen gibt es weitere, so vor allem künstlerisch und politisch motivierte. Hier sind die mannigfachen Ausprägungen der Pseudonyme zu nennen, die zwar in der Mehrzahl neben den ursprünglichem Namen existierten oder existieren, <?page no="89"?> ldenlitiitss tiftende Funktion von Personennamen 81 gelegentlich auch nur zeitweise. Aber es gibt genug Beispiele dafür, dass sich Pseudonyme durchgese tzt un d die eigentlichen Namen verdrängt haben (vgl. Seibicke 1982: 34-48). Das i st bei Künstlern oder Schriftstellern nicht selten der Fall. Wer we iß e twa, dass Ha11s Fallada e igentlich Rudolf Ditzen ode r Joacllim Ri11gel11at z in Wahrheit Hans Bötticlt er hieße n! Wilfried Seibicke (1982: 35) merkt an: Selbs t im Privatleben hat bei vielen der selbstgcwähltc Name den originalen völlig verdrängt. Aus der Sic ht der Mitmenschen und der Nachwelt kommt dies einer Namensänderung gleich. Das gilt ähnlich für politisch m otivier te Pseudonyme. So nannte sich z.B. Herb ert Emst Karl Fr a/ 1 111 im Jahr 1933 in Willy Brandt um und Wladimir lljit sc1 1 Ulja11ow seinerzeit in Leuin. Alle diese Namen sind selbst gewählt. Fremdbes timmt sind dagegen z .B . die zum Schutz vor lebensbedrohlicher yerfolgung für bestimmte Pe rsonen gegebenen Tarnname n, die eine neue irreführe nde Identität stiften solle n. Fremdbestimmt sind a uch die zahlreiche n Decknamen für Informanten der Stasi gewese n, die allerdings geheim und zu r Verbergung der wahren Identität geführt wurden (vgl. Kühn 1995). Auf ein besonders tragisches Kapitel ist da z u hinz uweisen, nämlich a uf die den Juden zum Zwecke der eind eu tigen Identifikation aufoktroyierten Namen, was in d er N az ize it noch dur ch ein besonderes Reichsgesetz v on 1938 s tigm at isierend verschärft wurd e. Danach hatten Jude n, d ie keinen der vom Reichs minis t er des Inneren au fgelisteten jüdischen VN trugen, ab dem 1. Januar 1939 den zusätzlichen VN Israel (bei männlichen) und Sara (bei we iblichen Personen) anzun e hm en (vgl. Seibicke 198 2: 142). Solche von außen ve rfügten Zwangsnamen mussten bei den Betroffenen zu furchtbaren Ide ntitätskonflikten führe n, zumal nicht W en ige Juden schon vorh er dur ch die Führung typisch d eutscher Vornatnen ih re deutschgesinnte Ide ntität öffentlich zu demonstrieren suchten. Rechtlich geregelt ist schließlich auch die Führung des FN für die verheiratete Frau. Bis zur Reform d es FN-Rechts im Jahre 1994 (vgl. Seutter 1996) gab die Frau bei der H e irat ihren „Mädchennamen" auf und erhielt den FN ihres Mannes. In der Regel wurde dies wohl von den Betroffenen als „normal" empfunden und nicht weiter hinterfragt. Gleichwohl war Und ist dieser Namenwechse l eine die Identität betreffe nd e, e ine neue Zusammengehörigkeit signalisierende und gewöhnungsbedü rftige Ver- ~nd erung. Es gibt Beispiele dafür, dass hierbei Probleme und ldentitäts- NOnflikte en tstanden was zugle ich die ~edeutung des einma l zugelegten amens für den Mensch en unt e rs treicht. Die neue Regelung, den „Mädchenna men" behalten zu können, vermeidet solche Probleme, ruft aber neue hervor, etwa bei der Identifizierung von außen; z.B. ist d an n vom <?page no="90"?> 82 Friedli elm D~b115 FN her nicht erkennbar, ob es sich um Verheiratete handelt. Auch kann bei Kindern Verunsicherung aufkommen, wenn die Eltern unterschiedliche FN tragen. Es stellt sich grundsätzlich die identitätsrelevante Frage, wie es „sich lebt" mit unterschiedlichen FN in einer Ehe. Nachträgliche FN-Änderungen deuten offenbar darauf hin, dass es hinsichtlich des Zusanunengehörigkeitsbewusstseins Schwierigkeiten geben kann. All dies lässt es wünschenswert erscheinen, eine Langzeitbefragung durchzuführen, die auch die durch Bindestrich verbundenen Doppel-FN einbeziehen sollte. Es zeigt sich also, dass bei der Frage nach der idcntitätsstiftenden Funktion von Eigennamen die Außen- und Innenperspektive zu unterscheiden sind. Die Außenperspektive betrifft die Motivation der Namengebung und die Namenverwendu ng der Umgebung, die Innenperspektive die Einstellung zum eigenen Namen und die Selbstnennung. Was die Namengebung betrifft abgesehen ist dabei von Benennungen im Zusammenhang mit Namenänderungen -, so stellt sie sich im Laufe der Zeit als aufschlussreiche Mentalitätsgeschichte dar, was allerdings bisher nur ansatzweise aufgearbeitet ist (vgl. Kohlheim 1995). Dazu können hier nur einige Hinweise gegeben werden, die notgedrungen weitergehender Dif· ferenzierungen entbehren müssen: Nach und neben der heilswunschgeprägten germanischen Namengebung orientierte sich die in den Quellen dokumentierte oberschichtliche Namengebung des Frühmittelalters we· sentlich an familialen, gentilen oder regnumspezifischen Gesichtspunkten. Das zeigt sich an Nachbenennungen, der Verwendung gleicher Namenglieder oder an miteinander alliterierenden Namen.1 Karl Bosl (1973: 24f.) bemerkt dazu: Familie und Name machen den Adel aus. ,Nomen' ist in der merowingischen Hagiographie Inbegriff des hohen gesellschaftlichen Prestiges eines Adligen. [ ... ] Nach der Vorstellung des Mittelalters übernahm und überkam man mit dem Namen bestimmte Eigenschaften, ja das Heil des früheren Trägers eines bestimmten Namens. Genus und nomen sollen ebenso übereinstimmen wie genus und mores (.„J. Die adelige Geburt verpflichtet dazu, die qualifizierte Herkunft durch vit11 nobilis und actio s11blimis zu bestätigen und zur persönli· chcn oder individuellen nobilitas zu steigern. Der Name repräsentiert und „lebt" also die familial-gentil verankerte Identität mit verpflichtendem Anspruch. Auch in der mittelalterlichen Literatur spiegelt sich dieser Sachverhalt, so im Heldenlied z.B. im „Hildebrandslied" mit Hildebrand, Had11brand, Heribraud oder im „Nibe- 1 Vgl. besonders Härtel 1997, Gcucnich/ Haubrichs/ Jamut 1997 und 2002 - ; e...; e ilS mit einschlägigen Beiträgen. <?page no="91"?> Identitätsstiftende Funktion vo11 Personennamen 83 lungenlied" mit Gunther, Gemot, Glselher -, dann auch in der den Bauernstand betreffenden Dichtung z.B. im „Helmbrecht", in dem das Traditionsbzw. Nachbenennungsmotiv ebenfalls über drei Generationen hin aufscheint mit dem Namen Helmbrecht (Debus 2001a). Gerade hierbei spielt aber, wie auch anderweitig, das eine Rolle, was Ernst Robert Curtius {1969: 486) für das Mittelalter mit der Formulierung „Etymologie als Denkform" beschrieben und Wolfgang Haubrichs (1975, 1989) beeindruckend untersucht hat. Mit der dem Namen innewohnenden Wortbedeutung verbindet der Namengeber einen für die Identitätsstiftung wirkmächtigen Intentionswert. Dass dieser Aspekt auch sonst bei der Nachbenennung mitspielt, jedenfalls bei der ursprünglichen Benennung der Namenvorbilder wichtig war, darf vorausgesetzt werden. Doch tritt er mehr und mehr in den Hintergrund, weil die vorbildhaften Namenträger mit ihren Eigenschaften für die Namengebung bestimmend werden, Was auch für die nach dynastischen Vorbildern gegebenen Namen in Weiteren Bevölkerungsschichten zutrifft. Der personale Bedeutungsaspekt bzw. die durch einen Namenträger geprägte Bedeutsamkeit eines Namens wird dann beherrschend für die seit dem 12. Jahrhundert eintretende umwälzende Neuerung durch die hagiologisch orientierte Namengebung. Geradezu sintflutartig verbreitet sich diese Namengebungssitte Und führt zur gravierenden Reduzierung der bis dahin gängigen Namen- Vielfalt und entsprechend zu ansteigender Gleichnamigkeit. In Verbindung mit weiteren Faktoren werden daher zur Sicherung der Identifikation des Einzelnen Beinamen nach individuellen Merkmalen hinzugefügt. ~ach deren Festwerden als FN wird künftighin neben dem VN also auch die familiale Identität für jede Einzelperson bestimmend und von außen für die identifizierende Zuordnung und Einschätzung wichtig, nicht selten durch Vorurteile positiver oder negativer Art gesteuert („Der gehört ~och zu dieser Familie! "). Gleichwohl bleibt der VN weiterhin der eigentliche PN, der mentalitätsbestimmt individuell vergeben wird. Und diese N~mengebung verharrt noch bis in die Barockzeit und verstärkt in dieser bei der fremdbestimmten Namengebung. Gottfried Wegener, der Hera~sgeber des Martin Luther zugeschriebenen „Namenbüchleins", beklagt dies 1674 ausdrücklich: Mein Vater heißt Martim1s, meine Großvaeter Bartliolomneus und Nicola11s, meine Aelter-Vaeter / ol11mnes und Ceorgi11s, meine Mutter Maria, meine Großtnuetter Mnrgarctlla, und Barbara, Ja alle deren Kinder / und Vorfahren [...] ha- <?page no="92"?> 84 Fricdfielm Deb11s ben allesammt frembde und auß laendische Namen geha bt / mir aber allein ist de r schoene Deutsche Name/ Gottfried/ gegeben worden .2 Wege ner plädiert veheme nt für die Vergabe von d e utsch en Namen, was im Z usammenhang mit d e n auf Sprachreinigung bedac hten deutschen Sprachgesellschaften des 17. J ahr hunderts zu sehen ist. Entwicklungsgeschich tlich ist nach einer Phase erneuter Hinwendung zu deutschen VN allerdings wieder ein tief greifender Wandel in der Gegenwart eingetrete n. Germanisch-deutsche VN haben in der heutigen Namengebung Seltenheitswert. Für manche Eltern können offenbar di e für ihre Kinder gewählten VN nicht fremd genug sein. Damit hat sich der Göttinger Namenrechtsexperte Uwe Diederichsen 1989 in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Untertitel „Vom Eigensinn und Tiefensinn bei der Vornamengebung" kritisch auseinande r gesetzt und polemisch gefragt: Ist nicht die Vornamensexotik nur Wiederholung de r Exotik unseres Urlaubser lebens? Das Kind nicht nur ein Exponat unserer eigene n Disposition als Elte rn? Haben wir nicht mit dem Vornamen endlich ein Mittel in der Hand, in unseren Alltag etwas Exotisch es, Fremdlltndischcs, überseeisches, etwas fremdartiges, Geheimni svolles, Eso terisches zu bringen? Kurz: dem Leben - und sei es auch nur über dj e Kinder eine besond ere Bedeutung zu verleihen? (Diederichsen 1989: 337) Angesichts solcher Entwicklung en fragt es sich , ob d er Vorname Oberhaupt no ch seine Funktion als Id entifikationssymbol erfilllt oder ob er nicht vie lmehr sehr häufig durch die Eltern für funktionswidrige Zwecke mißbraucht wird, so daß de r Vorname im Extremfall gar nicht mehr den Namenträgcr selbst bezeichne t, sondern quasi z um Pseudonym für die Eltern des Kindes wird. (Ebd.) Die derichsen, der solche Fes ts tellungen keinesfalls und zu Recht verallgemeinert wissen will, bringt eine Reihe von Extrembe ispielen und stellt fest, dass bei den immer zahlreicher werdenden Prozessen, die Eltern wegen der standesamtlichen Ablehnung solcher gewünschten VN anstrengen abgelehnt wurd en z .B. die Namen Agfa, Bierstiibl, Atomfried, zugelassen Pepsi-Carola, Pi111111ckl, Windsbraut -, auch se hr unterschiedli· ehe, ja widersprüchliche Ge richtsurteile ergangen sind. Man hat, so Die· derichsen, 2 Wegener 1674, Vorrede (unpaginiert). Die Namen sind im Original durch andere Schriftgröße hervorgehoben, außerd em sind die Umlaute durch übergesetztes J<lei· nes „e" gekennzeichnet, bis auf Bn rt/ 1 0/ o mae11s mit Ligatur. - Nach Kunze (1998: 41) waren „ im 15./ 16. Jh. vielerorts über 90% des Rufnaznen-Schatzcs" Fremdnamen. <?page no="93"?> Id entitätsstifte nd e Funktion von Personennamen 85 den Eindruck vollkommenster Willkür in d e r Vornamensgebung, völliger Ori· entierungslosigkeit in der Motivation der Namenswahl bei den Eltern und einer Pseudoverwissenschaftlichung der Auswahlkrite rien bei d e n Gerichten. (Diedcrichsen 1989: 338) „Narzistische Selbstbespiegelungen der Eltern" (ebd.: 369) finden sich zunehmend auch in Texten der Geburtsanzeigen, worüber schon 1987 eine umfangreiche Abhandlung mit dem Titel / 1 Wie Eltern von sich reden rnachcn" erschienen ist (Frese 1987}. Kinder werden gleichsam zu Werbeträgern degradiert. Die Bedeutsamkeit des Namens für das / 1 Wohl des Kindes", das für die Namengeber höchstes Gebot sein sollte und das auch die Standesbeamten nach ihren Richtlinien zu beachten haben, gerät dabei völlig aus dem Blick. Wie können Kinder später mit solch ausgefallenen Namen zurechtkommen? Schließlich sollen sie sich ja doch mit ihnen identifizieren können! Damit sind wir unversehens zur Innenperspektive, zur Frage der identitä.tsstiftenden Funktion des PNs aus der Sicht des Namenträgers gelangt. Mannigfache Beobachtungen und namenpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Beschäftigung besser: die Auseinandersetzung mit dem eigenen Namen eine erhebliche Rolle im Prozess der Ausbildung der Identität eines Menschen spielt. „Die Selbstidentifikation mittels des Namens", so Wilfried Seibicke (1982: 83) vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses, „macht diesen zu einem Kristallisationspunkt für die khfindung, die Entwicklung des Selbst." Diese „E i n , h e i t des Ich, das sich mit sich selbst identisch weiß" (Ammann 1962: 72), wird individuell unterschiedlich im Verlauf der Lebensphasen erreicht, wobei die Pubertät von besonderer Bedeutung ist. Rosa Katz und andere haben an Beispielen gezeigt, dass Kinder mit ausgefallenen bzw. Unbeliebten Namen große Schwierigkeiten hatten und teilweise sogar ~sychisch erkrankten (Katz 1964: 100ff., Seibicke 1982: 83ff.). Eigene empirische Untersuchungen bei Kindern, jungen Erwachsenen und Senioren haben solche Befunde prinzipiell bestätigt. Nachgewiesen wurde dabei z: B., dass sich Kinder mit den gegebenen Namen sehr oft nicht identifizierten und stattdessen unauffällige, gängige VN haben wollten (Bringer 19~1). Auch die Einstellung zu den recht zahlreichen Übernamen zeitigte bei den Kindern vergleichbare Ergebnisse (Rudolph 1992). Angesichts der ~on Diederichsen beschriebenen Situati<? n kann seine Empfehlung an die tandesbeamten gewiss gutgeheißen werden: Namen etwa, die völlig neue diakritiscl\c Zeichen erforderlich machen, wie die Schnalzlaute afrikanischer Eingeborenenstämme, oder die wir mangels sprachlichen Zugangs und infolge mangelnder kultureller Beziehungen und <?page no="94"?> 86 Friedltelm Deb11s gewachsenen Austauschs überhaupt nicht auszusprechen in der Lage sin<l, die mehr zu Fragen, Mißverständnissen und Witzen Anlaß geben, als daß sie wirklich zur Kennzeichnung eincr Person geeignet sind, die sollten wir als Vornamen nicht zulassen. (Diederichsen 1989: 372) Doch es gibt nicht nur fdentifizierungsproblcme mit VN, auch mit seinem FN hat so mancher Schwierigkeiten. Betroffen sind hierbei im Wesentli· chen die so genannten Übernamen. Was gibt es nicht für eigentümliche Vertreter dieser Kategorie! Jeder l<ennt solche und mag sich fragen, wie Namenträger damit umgehen; vielleicht hat jemand gar selbst Erfahrun· gen damit gemacht. Kürzlich war in den „Kieler Nachrichten" die Todes· anzeige eines Kapitäns Fleiscltfresser und auf derselben Seite diejenige einer Frau Rindfleisch zu lesen. Wie mag die Befindlichkeit der Menschen mit solchen FN sein, wenn sie sich z.B. vorstellen und sie die verhaltene und mehr oder weniger irritierte Reaktion ihres Gegenübers wahmeh· men? Der FN Zufall ist im Vergleich mit den genannten gewiss nicht so ausgefallen, doch in Verbindung mit dem VN Reiner ist er schon auffällig. Das gilt auch für den FN Bel/ e11baum, den eine Studentin mit dem VN Mira führt. Dieter Wellershoff hat einleitend in einem Essay zur literari· sehen Namengebung, wozu ich eine Umfrage durchgeführt hatte (Debus 2002), einen Fall beschrieben, der hier zur Illustration wiedergegeben sei: Immer, wenn das Gespräch auf Namen kommt, fällt mir wieder jener mittel· große, untersetzte Mann ein, der in einer Gesellschaft, in der er vermutlich so fremd war wie ich selber, auf mich zutrat, mir seine Hand entgegenstreckte und mit gedämpfter Stimme ,Frauenfeind' zu mir sagte. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte das auf mich wie ein düsteres Geständnis, und erst nach diesem kurzen &: hock begriff ich, daß er sich vorgestellt hatte, und nannte ihm auch meinen Namen. Natürlich vergaß er ihn sofort, während ich mich an seinen vermutlich bis ans Ende meiner Tage erinnern werde. Ich blickte hinter ihm her, wie er von Person zu Person und von Gruppe zu Gruppe ging, seine Hand ausstreckte und ,Frauenfeind' murmelte, als gebe er die Losung des Abends aus. Einen unsichtbaren Wirbel ironisch-heiteren Befremdens zog er hinter sich her. (Wellershoff 1992: 102) In der Literatur, insbesondere in der schöngeistigen, begegnen zahlreich Äußerungen, die von der prägenden Kraft des einmal gegebenen Namens handeln (vgl. i.B. Bergmann 1934, Sonderegger 1987: 18f.}. Dazu wenige Beispiele. 1840 beginnt Eduard Boas eine Abhandlung in folgender pathetischer Form: Etwas Tiefes, Vielbedeutendes ist der Name. Er feuert an zu kühnen Thaten und giebt den Muth zu w·ilden Unternehmungen; oft hebt er zum Tiuone em· por, oft stürzt er in den Abgrund des Lasters. Es liegt eine geheimnißvolle Macht in diesen Klängen, die den Menschen leiten und gelcitcm von der Wiege <?page no="95"?> Identitätsstiftende Funktion von Personennamen 87 bis in' s Grab. [ .. .] Die Römer wuß ten das rec ht gut , und da r um klingt beim Worte ,nome n' gleich wie ein sybillinisches Echo ,ome n' hinterher. (B oas 1840: 5) Bie r wird also a uf die positive und negative Wirkung von Namen abgehobe n und auf die viel zitierte Fo rme l 110111en est omen hinge wiesen, die auf di e Formulierung 11omen atque 0 111 e 11 des Plautus (Pe rsa IV, 4, 73) zurückgeht. In aller Regel sind es jedoch die durch ihre Wortbedeutung, Klangästhe tik oder durch andere Merkmale positiv konnotie rt en Namen, deren Wirkkraft hervorgehoben wird so recht ausführlich durch den schon genannten Gottfried Wege ner mit seinem deutschen VN. Gleich zu Beginn seiner „ Vorrede" kommt er darauf zu sprechen: Ich habe von Jugend auff / Auffrichtiger u nd sehr geliebter Leser / e ine so nd erlich e Lus t und Liebe zu den Deutsc he n Namen gehabt und bißh cr ge tragen / nicht so eben darumb / weil ich einen Deutsche n Namen und Zuname n habe und luehre / sondern weils bill ic h und e hrlich/ da ß ein De ut sche r/ Deutsche Namen liebe. Wiewol ich doc h auch beke nnen muß / daß d e rselbe mein · liebe r Name / solche Liebe n ic ht wenig vem1ehret / immerd ar unt erhalten / und gle ichsam von neuen ang ez uc nde t / indem Er mir manc hmah l g ute Gcdancke n an die Hand gegeben / od er ich von Ihm ne hm en und schoepffen koennen / so daß ich fast achte / als wenn mir derselbe durch sonderbare Schickung gegeben sey. (Wegener 1674: Vo rr ede; vgl. Anm. 2) Bemerkenswert ist, dass Wegener hier von seinem VN als seinem „Namen" spricht und den FN al s zus ä tzlich en Namen („Zunamen") kennze ichnet. Gottfried ist also sein eigentlicher Name, und dies en umkreist er nachfolgend, indem er dessen Komponenten Gott und Fri ede als die sein Wes en bestimmenden Richtwerte beschre ibt. Knapp ist demgegenüber die Aussage, die Thomas Ma nn seine n Felix l<rull üb er den ihm gegeben en VN machen lässt: Oft hö rt e ich aus dem Munde d e r Meinen, daß ich ein Sonntags kind sei, und obgleich ich fern von allem Abe rglauben erzogen w orden bin, habe ich doch dieser Tatsache, in Verbindung mit m einem Vornam en Felix [...] immer eine geheimnisvolle Bedeutung beigemess en . Ja, d e r Glaube an m ein Glilck und daß ich ein Vorzugskind des Himmels sei, ist in meinem Inners ten ste ts lebendig gewesen, u nd ich kann sagen, d aß er im ganzen nicht Lllgcn ges traft word en ist. (Mann 197 5: X, 9) R~cht hä ufig sind vergleichba re Belege 3, doch es gibt auch zweifelnde Stimmen. Mir scheint, dass The odor S torm mit seinem Gedicht „Zur Taufe" dies z utreffend in Worte gefasst hat. und zudem einen ze ntralen Ge- 3 Vgl. Bach 1953: §492, Lamping 1983: 177 ff, Debus 2002. <?page no="96"?> 88 Fried/ ielm Deb11s danken meiner Ausführungen gleich zweifach unterstreicht; ich zitiere abschließend: Zur Taufe Ein Gutachten Bedenk es wohl, eh du sie taufst! Bedeutsam sind die Namen; Und fasse mir dein liebes Bild Nun in den rechten Rahmen. Denn ob der Nam' den Menschen macht, Ob sich der Mensch den Namen, Das ist, weshalb mir oft, mein Freund, Beschei<l'ne Zweifel kamen; Eins aber weiß ich ganz gewiß, Bedeutsam sind die Namen! {...) (Storm 1951: II, 999) Literatur Ammann, Hermann {1962): Die menschliche Rede. Sprachphilosophische Untersuchungen. Teil I und 11. Darmstadt [darin Kap. 6: Der Name, 66-76). Bach, Adolf (1953): Deutsche Namenkunde 1: Die deutschen Personennamen. Bd. 2. Heidelberg. Bergmann, Karl (1934): Familien· und Vornamen in ihrer Wirkung auf Geist und Seele des Menschen. Zugleich ein Beitrag zur Familienkunde. 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Nachhilfe-Telefon für Ostdeutsche, Deutsch-deutsches Verständigungsprojekt, Übersetzungsdienst, Abteilung Sprachrecht, Sprachschutz, Zertifikatsberatung, Nachhilfe für Schüler, Ratgeber für die Bewältigung der veränderten Lebensumstände von allem ein bisschen sollte die Sprachberatung leisten. In der Presse wurde 1993 diese neue Beratungstnöglichkeit mitunter als Servicestelle fiir. richtiges Deutsclt oder Dol111etscl1er- Service Ost-West bezeichnet. Die Reaktion aus der Bevölkerung war prompt: „ Vermögensberatung, Küchenfachberatung, Unternehmensberatung und, und, und. Jetzt auch noch eine Sprachberatung. Wir sollen wohl richtig sprechen lernen. Wir sprechen nicht schlechter als im Westen." · „Die Sprache, die wir von unseren Eltern übernommen haben, ist wohl nicht mehr gut genug? " „Man traut uns wohl nicht zu, dass wir selbstständig umlernen können. Das ist wieder so eine Art von Bevormundung." Diese Anrufe blieben aber Ausnahmen. Hilfe bei Sprachproblemen, sprachkritische Anmerkungen, Gedankenaustausch zur normgerechten Gestaltung eigener Texte so begreifen und begrüßen die meisten Anrufer die Beratungsstelle (Kühn/ Almstädt 1997). . Aus sprachwissenschaftlicher Sicht werden die Sprachgebrauchsveränderungen benannt. So heißt es: Vom We11de-Deutscl1 zum Gesamtdeutsch! ~Stdeutsc11 + Westdeutscli = Gesamtdeutscli. Wer spricht das walire Deutsch? 0 m Kollektiv zum Team! Vou der P/ amuirtscJiaft zw· Markhvirtsc11aft! Sprechen wir gemeinsam imtersclriedliclt? Deutsc11-deutsche Kommimikalionserfahrungen zelm Jahre 11ac11 der Wende. Das sind Überschriften von Büchern und· <?page no="100"?> 92 lflgrid Kilim Artikeln von Sprachwissenschaftlern und Journalisten, von Sozial- und Politikwissenschaftlern, die sich in den letzten zwölf Jahren mit dem sprachlichen Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschen beschäftigt haben. Es gibt eine Wende-Bibliografie von Manfred W. Heilmann {1999), in der über 700 Artikel zum Thema aufgelistet wurden. Linguistische Analysen zu Kommunikationserfahrungen stehen neben soziologischen Darstellungen zur Verschiedenartigkeit von lcbcnsweltlichen Kulturen (Wagner 1999). Sprache und sprachliches Verhalten sind zu beobachten, aber auch zu bewerten. Gesellschaftliche und kommunikative Andersartigkeit sind oft mit eigenen Erfahrungen verbunden. Das Erzählen der Biografien, das Wahrnehmen von Veränderungen im sprachlichen Alltag wird in Sprachgebrauchsgeschichten im veränderten Diskurs analysiert (Fix/ Barth 2000). Die ersten Nachwende-Romane sind entstanden, die Rückblicke auf das Leben in der DDR zeigen Lebensweltdifferenzen. So schreibt Alexander Osang in seinem Roman „die nachrichten": ... er sortierte die Urkunden aus. Für jeden Mist hatte es eine Urkunde gegeben. Er war für »gutes Lernen« ausgezeichnet worden, für Kulturprogramme, Tischtennisturniere der Tausend, und einmal hatte er mit seiner Klasse Jen zweiten Platz bei der Stadtbezirksmeistcrschaft der Jungen Sanitäter belegt, er halte das Touristenabzeichen gewonnen und das Abzeichen für gutes Wissen, die Lessing-Medaille in Silber und die Arthur-Becker-Me<laille. Er hatte vergessen, wofür. {Osang 2000: 373) Veränderungen in der Lexik werden schnell wahrgenommen. 2000-3000 Westwörter und ihre spezielle Bedeutung mussten erlernt werden. Von der Sprache der Wende ging es zur Wende in der Sprache. Die sprachliche Last lag eindeutig in den neuen Bundesländern und nicht nur, wenn es in der FAZ (19.12.1996) heißt, dass es der gute „Ossi" erst noch lernen muss, sich durchzusetzen. Ob Mittelstand oder Susi's Shop - Führungserfahrung und Konfliktfreudigkeit waren gefragt. So wie Christa Wolf am 4. November 1989 auf der großen Kundgebung in Berlin feststellte: „Die Sprache springt aus dem Zeitungs- und Ämterdeutsch .„ die Sprachlosigkeit ist überwunden .„ es beginnt die Suche nach einer neuen Sprache .„", kann man zunächst fragen: Was bleibt? Einmal die DDR als abgeschlossenes Sammelgebiet, nicht nur von Briefmarken, sondern auch von typischer DDR-Lexik, die schon in Wörterbüchern, wie etwa von Birgit Wolf „Sprache in der DDR" (2000), festgehalten wird, von AWG über Mach-mit-Stiitzpunkt bis Zielprämie. <?page no="101"?> Spracliberal11ng als Hiifcll? istung im Id entifikationsprozess 93 Zum anderen bleibt die selbstverständliche Mischung von Ost- und West-Sprachgebrauch in den letzten zwölf Jahren wie die Einrichtung der Volkssolidarität aus DDR-Zeiten oder die Hattsgemeinscltaft mit einer nur ihr eigenen Lebenswelt. Ostdeutsch-Westdeutsch - Abweichung und Norm? DDR oder ehemalige DDR? Es gibt keine Grenztruppen der DDR mehr und keine Gnmdorga11isalio11 der SED, dafür aber noch den grünen Pfeil und vielleicht noch oder wieder Fleißbienchen im Kindergarten, der jetzt KITA heißt. Zwölf Jahre nach der Wende gibt es Kommunikationskonflikte? Gibt es Konfliktpotential? Gibt es einen Alleinvertretungsanspruch auf die Norm? Hat sich die PrestigeNarietät „ Westdeutsch" durchgesetzt? Wo ist Anpassung notwendig? Wo sind Varianten im Sprachgebrauch landes- Und landschaftstypisch? Diese Fragen wurden seit der Wende häufig gestellt, gestellt auch an die Sprachberatung des Germanistischen Institutes in Halle. Und diese Fragen bildeten häufig die empirische Basis für die Überlegungen zu möglichen AnhAJorten. Auf jeden Fall gibt es das Bedürfnis nach Identität durch Sprache. Dazu können die fo1genden Fragen als Beispiele dienen, die an die Sprachberatungsstelle in Halle seit ihrer Gründung im Februar 1993 gestellt wurden und die den Weg von scheinbarem Identitätsverlust zu neuem Selbstbewusstsein markieren. 2 Straße, Schule, Geschäft überall neue Namen 2.1 Straßennamen Kind nicht mit dem Bade ausschütten [...] Daß die Namen von Politikern ausgemerzt werden, die unsere vergangenen 40 Jahre wesentlich mit zu verantworten hatten, finde ich notwendig. Aber das Kind mit dem Bade ausschütten? Die Umbenennung des Platzes am Steintor finde ich pietätlos. Marx und Engels sind historische Persönlichkeiten, die auch bei Andersdenkenden, nicht nur außerhalb der Grenzen Deutschlands, Achtung genießen. Ihr Gedankengut ist nicht mit DDR gleichzusetzen. E.SchUtze (Mitteldeutsche Zeitung, 17.1.1991) Mehr Souveränität im Umgang mit unserer eigenen Vergangenheit, weniger Umbenennungen! [ . „] (Es) werden wohl auch Nichtkommunisten beispielsweise einen Thälmannpark akzeptieren können. Straßennamen sollen schließlich die Namensträger nicht vergöttern, sondern erinnern, gedenken und ll'lahnen. [...] Tobias Licbert (Mitteldeutsche Zeitung, 1.9.1991) <?page no="102"?> 94 Ingrid Ki'i/ 111 Problem jetzt ruhen lassen? Noch einmal zum Thema Straßennamen Karl Melchior, Weißenfels, Burgwerbener Straße 14: Ich bin ein alter Weißen· felser. Bei diesem Thema geht mir langsam, aber sicher der Hut hoch. Gibt es denn momentan tur die Abgeordneten nicht etwas Wichtigeres zu tun? Wer soll das alles bezahlen, zumal jetzt die Finanzen knapp sind? (Mitteldeutsche Zeitung, 12.9.1990) Die symbolische Bedeutung von Eigennamen das Verhältnis von Potential und Muster zur möglichen Identifikation wird durch Namensverleihung aufgebaut und häufig in ihrer Auswahl begründet (Kühn 1996). Ob Platon, Einstein, Majakowski, Marx, Lenin oder Marenko - Namen haben eine semiotische Dimension, wobei Sozialwissen und Alltagserfahrungen gruppenspezifisch unterschiedlich identitätsstiftend sind (Mattheier 1995). Aus kultureller Sicht sei vor allem auf Assmann zu Fragen des ,kulturellen Gedächtnisses' als Sammelbegriff für vielfältige Formen ,identitätsstiftender Erinnerungsinhalte' hingewiesen (Assmann 1992). Dabei treffen die Ausführungen über die Relation von ,Herrschaft und Gedächtnis' sowie ,Herrschaft und Vergessen' verbunden mit der Symbolsprache eben auch auf die Problematik der Namengebung zu. Es gehört zum Straßenbild jeder Stadt, dass Personennamen die Straßen bezeichnen. Die symbolische Bedeutung von Eigennamen zur möglichen Identifikation wird durch Namensverleihung aufgebaut und häufig in ihrer Auswahl begründet. Schleiermacher, Händel oder Martin Luther haben zunächst eine Beziehung zur Stadt, zur Straße, die den entsprechenden Namen trägt. Propria als Namengeber zu benutzen und damit nicht nur die Person als Gründer, Stifter, Förderer zu ehren, sondern auch Geisteshaltungen festzuschreiben, das entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert besonders, und so ist lttslabilifät von Benennungen mehrfach vorprogrammiert. Der Verfall politischer Systeme bedeutet auch den Verfall bestimmter Zeichensysteme, alte Leitbilder gehen verloren, veränderte Motivation veranlasst die Nmnengeber, neue Namen einzusetzen (Bauerfeind 1997). Nur ansatzweise sind solche Umbenennungswellen noch im Gedächtnis. So schreibt Milan Kundera in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", wie 1968 nach den1 Einmarsch russischer Truppen in die damalige Tschechoslowakei mit den Straßennamen umgegangen wurde: . .. es gab eine Stalingradstraße, eine Leningradstraßc, eine Rostowstraße, eine Nowosibirskstraße, eine Kicwstra..ße und eine Odessastraße, es gab ein Kurhaus Tschaikowski, ein Kurhaus Tolstoi und ein Kurhaus Rimski·Korsakow, es gab ein Hotel Suworow, ein Kino Gorki und ein Kaffeehaus Puschki; ,. Alle Namen waren der Geographie und der Geschichte Rußlands entnommen. Te· <?page no="103"?> Spracltberatung als Hilfeleistung im ldentijikationsprouss 95 resa dachte an die ersten Tage der Invasion z urück. In allen Städten hatte man die Straßenschilder und die Wegweiser mit den Namen der Städte abgerissen. Über Nacht war da s land namenlos geworden. (Kundcra 1999: 158) Mit Straßennamen einen berühmten Mitbürger zu ehren, der sich um die Stadt Verdienste erworben hat, ist oft schwer zu entscheiden, hat doch jede historische Epoche ilm Sicht publik gemacht. Die Sicht auf Verdienste unterliegt so historischen Schwankungen. Thälmann, Liebknecht oder Clara Zetkin wurden unterschiedlich behandelt. Kahlschlag der DDR-Geschichte oder nicht so wurde häufig gefragt. Die Sprachberatung gab Auskunft über alte oder neue Namen: Zum Tag der Forschung auf dem Marktplatz in Halle wurden Vorschläge für die Benennung neuer Wohngebiete diskutiert. Listen mit alten und neuen. Straßennamen wurden mit der Arbeitsgruppe „Straßenumbenennungen" der Stadt Halle beraten, wobei auch orthografische Hilfestellung gegeben Werden musste. Sagt man Kaiserslauterer oder Kaiserslauferner Straße? Die Bürger der Stadt sprachen mit dem Sprachberater Dr. Klaus Almstädt und einer studentischen Projektgruppe über mögliche neue Straßennamen. lieimische Pflanzen, Harzstädte oder etwas mit Musik in Assoziation zu Halle als Händelstadt das waren Bürgerwünsche, die von den Studierenden aufgenommen wurden. So entstand eine Vorratsliste an Straßennamen (Kühn 2000). Die Arbeitsgruppe der Stadt Halle zu Straßennamen und Straßenverläufen bat die Germanisten um Vorschläge und weitere Zusanunenarbeit 1 nit dem Stadtplanungsamt und dem Stadtarchiv. In dem Wohngebiet Heide-Süd entstanden kleine Einfamilienhaussiedtungen. Die Studenten schlugen Tier-, Pflanzen- und Gesteinsnamen Vor, die der Flora und Fauna des Bebauungsgebietes entsprachen. Im Baugebiet Wörmlitz entstanden ebenfalls Einfamilienhäuser. Eine Studentengruppe hat im sprachwissenschaftlichen Seminar 1998 eine Liste für Straßennamen erarbeitet und der städtischen Arbeitsgruppe empfohlen. Als Motivgruppen wurden Vogelarten, Orte der Straße der Romanik, die an Halle entlangführt, sowie Musiker und Musikinstrumente - Halle ist ja auch Händel-Stadt empfohlen. Aber auch Künstler und Förderer der Stadt stehen auf der Liste. Die Diskussion mit interessierten Bürgern und der Sprachberatungsstelle riss dabei nicht ab. <?page no="104"?> 96 lllgrid Kiilm 2.2 Schulnamengebung „ Wie wird das Wort betont? Oberscl111l11111t oder Obersclmlamt? Gibt es wieder Oberschulen? " Bei einem Überblick über die Namenvielfalt der Schulen in Thüringen (Schütze 1994) und Sachsen-Anhalt {Ströter 1998) (vormals die Bezirke Erfurt, Halle und Magdeburg) ; (Kühn 1999) sowie Darstellungen von Mecklenburg-Vorpommern (Sommerfeldt 1994) zeigt sich, dass von den 250 erfassten Schulnamen von Sachsen-Anhalt 225 Schulen Namen von Persönlichkeiten trugen (Ströter 1998). Im Thüringer Raum wurden 305 Schulen mit ihren Namen aus der DDR-Zeit erfasst. Auch hier trug der größte Teil der Schulen einen ehrenden Personennamen (Schütze 1994). Vergleicht man die Ziele und ideologischen Motivationen bei der Vergabe von Schulnamen, so muss man auf die Analogien bei der Straßennamengebung hinweisen. Namenspendende Persönlichkeiten für Schulen waren: Vertreter der nationalen und Internationalen Arbeiterbewegung (Karl Licbknecht, Georgii Dimitroff), Widerstandskämpfer (Geschwister Scholl, Anne Frank), Weltanschauliche Vorbilder (Lenin, Karl Marx), Persönlichkeiten sozialistischer Staaten (M.S. Kirow, K. Swicrczewski), Politiker der DDR (Hermann Matern, Werner Lamberz). Die Beispielreihe lässt sich fortsetzen und fand ihr Pendant in der Straßennamengebung in allen Dörfern und Städten der DDR, so dass man die hier genannten Namen zum festen politisch-kulturellen Auswahlkanon von DDR-Benennungsvarianten zählen kann. Diese Überrepräsentation ständig wiederkehrender „Heldenverehrung" macht auch verständlich, warum in der Nach-Wende-Umbenennungszeit häufig Toleranz zu vermissen war. Untersuchungen zu Umbenennungen zeigen, dass nun Identifikationsmuster durch regionale Bezüge dominieren. Auch die Widerspiegelung von Werthaltungen als konnotierte Assoziationen werden symbolhaft involviert. Endlich hat unsere Schule einen Namen, freute sich ein Schüler der Sekundar· schule in Gröbers. ,Das war ganz schön blöd, wenn man immer nur sagen konnte: Ich lerne in der &hule Gröbers.' (Mitteldeutsche Zeitung, 28.2.1998) Die Schule hat jetzt den Namen von Professor Otto Sclm1eil. Ihren Namen Wladimir Iljitsch Lenin hatte sie 1991 abgelegt. Der Biologe Otto Sch_meil wurde 1860 in einem Nachbarort geboren; er lehrte in Halle und Magde· burg und wurde als Schulbuchautor weltbekannt. <?page no="105"?> Sprachbernlimg als Hilfeleist1111g im Identifikationsprozess 97 ' Bildungsschwerpunkte, kindgemäße Namen, regionale Bindung das sind Namengebungsmotive. So wurde zu dem Schulnamen Aslrid Liudgreu mitgeteilt: Viele Kinder identifizieren sich mit den Figuren aus den Büchern der Schriftstellerin, welche die für die behinderten Kinder besonders wichtigen Werte wie kindliche Naivität, menschliche Wärme und gegenseitige Achtung assoziieren. (Amtsblatt, 19.5.1995) Onyme haben als sprachliche Mittel ein hohes Identifikationspotential. Sprachliches Alltagswissen, subjektive Erfahrungen, politische Optionen, lokale Identität immer ist der Name mehr als nur Orientierungshilfe, wenn auch die neuen Schulnamen, wie ebenfalls bei den Straßennamen zu beobachten ist, ihren Platz in der Kommunikation erst behaupten müssen. Viele Schüler, die in der DDR-Zeit die Wil11elm-Pieck-Scliule oder die Maxim-Gorki-Sclmle besucht haben, werden sie auch heute noch so nennen und der viel befahrene Tliälma11nplatz wird erst allmählich von den Hallensern als Riebeckplatz bezeichnet. 2.3 Vom Konsum zum Kondi „Können Sie mir berühmte Paare für mein Bekleidungsgeschäft nennen? " Neue Geschäfte werden eröffnet. Werbung und Kontakt sollen im Namen enthalten sein, so dass die Boutique dann Adam und Eva oder Romeo 1111d Julia heißt. . Der prozesshafte Verlauf der Namengebung erforderte parallel einen 1 °'tnensen Lernprozess von den Rezipienten bei der Dekodierung der Sprache in der Öffentlichkeit. So wie Piktogramme zu entschlüsseln sind, lnüssen neue Kommunikationskonventionen und der semiotische Cha- ~~kter. von Alltagskultur, wie er durch die Kommunikation in der Öffenttc: hke1t zu rezipieren ist, erlernt werden. A B: sonders auffällig ist der hohe Anteil an schwer entschlüsselbaren nghzismen, die oft in der Sprachberatung nachgefragt wurden. „Ist Wellness ein englisches Wort? Wir finden es in keinem Wörterbuch." „~n einem Prospekt lese ich gerade Air-Pot-Ka1111e und Fit for F1m. Muss ich emen Englisch-Kurs besuchen, damit ich verstehe, was im Kaufcenter angeboten wird? " ~eugier wecken, zum Kauf anregen, auffallen durch Ausgefollenhcit in Cer Benennung, das sind neue Hauptmotive für die Namensuche bei esc: häftsgründungen. Dabei war der Rat am Sprachtelefon gefragt. <?page no="106"?> 98 Ingrid Kll1111 Das traf ebenso bei Gaststättennamen zu, die zwischen Regionalität und Globalisierung gewählt wurden. Namen wie Slta11gl1ai, Mykonos, Bella Italia, Irisl1 Corner oder Jasmin Tai-Pan wollen Kunden einen Vorgeschmack auf Spezialitäten von Essen oder Interieur bieten. Umbenennungen nach Besitzerwcchsel können vielfach dokumentiert werden. DDRtypische Gaststättennamen wie Klubllaus der Gewerkschaften, Klubl1aus der Werktätigen, Wolmgebietsgaststätte oder Broilergastställe sind häufig verändert worden. Ob Hartmut's Nudelstube oder Srtsi's Eck' der Apostroph hat Konjunktur manchmal konnte die Sprachberatung zu viel Individu· alität verhindern. „ Welches Reiseunternehmen ist zu empfehlen? " Fährt man mit TU/ , Neckermanll, Alltours, ITS, Novasol, Olimar oder „. Früher gab es das Reisebüro und den FDGB-Feriendienst. Orientierungshilfe bei den vielfältigen Angeboten ist notwendig, denn Erfahrung fehlt. 3 Neue Berufsbezeichnungen verunsichern „Flir Klempner wird jetzt oft Spengler, Flasclmer oder Blecliner gesagt. Waren das nicht einmal eigenständige Berufe? " „Die Firma ARTES sucht für die Händel-Halle Tiscltier und Schreiner. Sind das nicht nur zwei regionale Varianten für ein und denselben Beruf? " „Unterscheiden sich Feinkoslmetzgerei und Fleisclterei wie Ko11ditorei und Bäck~rei? " Varianten im Sprachgebrauch regionale Besonderheiten irritierten häufig die Sprachteilhaber. Missverständnisse und Wissensdefizite verunsi· cherten. Sprachliche Vielfalt beunruhigt. Da war die Sprachberatung hilf· reicher Partner. Berufsbezeichnungen sind neu: Akademischer Rat, Amtsarzt, Assessor, Beamter, Bedieusteter, Dienstherr, Geselle, Immobilienberater, Landesbediensteter, Landrat, Makler, Mi11isterialbea111ter, Oberpostdirektor, Privatdozent, Stadt· sclireiber, Studienrat, Stadtkämmerer. Von der Bundesanstalt für Arbeit wurde bereits 1990 eine VergleichS· darstellung zur Bezeichnung von Ausbildungsberufen in der DDR und BRD zur Herstellung von Kompatibilität bzw. zur Anerkennung vo.rt Zeugnissen herausgegeben. Die Benennungen nach dem Muster Faclr.ar· beiler für .„ (145-mal in den verglichenen Ausbildungsberufen) waren irt der Alltagssprache kaum üblich, wie etwa: Facharbeiter fiir Fleisclterze11g· 11isse - Fleischer; Backwarenfac11arbeitcr(i11) - Bäcker(in); Facharbeiter für Werk· zeugmascl1illen - Dreher. <?page no="107"?> Sprachberatung als Hilfeleistung im Identifikatiollsprozess „Ist der Begrüf stlidtisc11e Kämmerei noch zeitgemäß? " „ Was bedeutet Beamter 11.L. ? " 99 Beamte, Mittelstand oder Privatpatient gehören zur Alltagssprache. In der DDR gab es nur den Standesbeamten. Dazu schrieb die Sprachwissenschaftlerin V. Schmidt 1979: Alle Bemühungen, es auch hier zu tilgen, waren umsonst, da uns nichts Besseres dafür einfiel als Beauftragter ft'lr Personensta11dswesen. Die alte Bedeutung 'Angestellter auf Lebenszeit, ausgestattet mit sozialen Vorrechten' ist jedoch veraltet [.„]. Die Archaisicrung ist als starke Tendenz ausgeprägt. Die davon betroffenen Wörter sind noch bekannt oder noch relativ erschließbar. Sie werden in der Kommunikation über historisch Vergangenes eingesetzt. Noch einmal Beispiele aus dem Gesundheitswesen: Privatarzt, Kassenarzt und Kas- . se11patient. (Schmidt 1979: 132) „Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Bli11den- 1111d Se/ 1scl1wacl1enverb1111d statt Blinden- 1111d Se/ 1beilindertenverba11d sage. Zu DDR-Zeiten sagten wir auch Sprac/ 1l1eilscl111le statt Sc/ 111le für 5pracl1belli11derte." „Bei Benifsgenossenscl1aft denke ich immer an eine Handwerkervereinigung. Gemeint ist aber ein Träger einer gesetzlichen Versicherung." „Es ist nicht leicht, sich die Berufsbezeichnung Unterstufeulelrrerin (jetzt Gnmdsc/ 111/ lehrerin) abzugewöhnen. Der Leiter einer Grundschule heißt auch nicht inehr Direktor. Die amtliche Bezeichnung lautet Sd111lleiter." „Frühere Fac/ 1iirzte ft'ir Stomatologie führen jetzt wieder die offizielle Berufsbezeichnung Zalmiinte." „Womit beschäftigt sich ein Salcs-pro111otcr? " „Was bedeutet Rekids? " (=Landesverband Regionale Kinderinitiativen Sachsen-Anhalt) „Wer weiß genau, was sich hinter der Berufsbezeichnung Hair-Stt; list verbirgt? Gibt es überhaupt noch einfache Friseure? " "Womit befasst sich ein Komm1mikationswirt? " Das alles sind Fragen an die Sprachberatung. Ein Dauerthema für die Sprachberatung ist Halle und Sacltsen-A11/ 1alt: „Unser Besuch aus Westfalen nannte uns die Haller. Für Halle in Westfalen trüft dies zu, wir sind aber die Hallenser." 11 lch las kürzlich eine Meldung über die an/ 1alti11iscl1et1 Radwege. In den alten Bundesländern wird kaum a11l1allisc/ 1 verw! .! ndct." ~itenweise lassen sich Beispiele für unterschiedlichste Gebrauchsvarianten in der Alltagssprache auflisten: Anlialtiner Blumen, aultalli11iscl1e Wurst; <?page no="108"?> 100 Ingrid Kii/ in Hallenser wissenschaftliche Beiträge, lrallisches oder l1al/ esches od er l1allensisc1 1es Musikfest (Kühn/ Almstädt 1997: 201). Viele Anrufer in der Sprachbera tung wünschen sich eine u nd nur eine richtige Benennung. Der Sprachbe rater soll entscheiden . Überschriften in d er Tageszeitung unterstütze n solc he Wünsche, wenn sie lau te n: Richter im Streit um Punkt und Komma . Beratung d e r ha llcsc hcn Universität hilft selbs t inte rnational. Abe r auch Beratung für die eigene Universität ist dann und wann gefrag t. Zum Beispiel, wenn zu kl ä ren ist, was d enn nun in Kü rze gefeie rt wird : Die 500-Jahrfeier? Die 500-Jahr-Feicr? Die 500J ahrfeier? Oder die 500-Jahresfeier? Almstädt sagt, 500-Jahr-Feier sei korrekt, und 500-Jahrfeier auch nicht falsd1. Solche Antworten machen die Frager nicht unbedingt g! U cklich . Sie wollen e indeutige Antworten, Kühn spr ic ht von der ,Suche nach d er No rm'. Wo die Sprache verschiedene Möglichkeiten zulasse, werde der Sprachberater zur Normierungs-Instanz, ha t s ie fes tgestellt. Almstädt: ,Gibt es z wei Möglichkeite n, fragt der Anrufer mit Sicherheit z um Abschluss: Und wie würden Sie es schreiben? ' Was schon desh alb nicht unvers tändlich ist, weil Almstä dt oft als Schiedsrichter genutzt wird zum Beispiel im Stre it z wischen Chef und Sekre tärin um die Schreibwe ise von , E-Mail-Adrcsse'. (t-.füteldeutsche Zeitung, 26 .2 .2001) 4 Neue Lexik neue Texte „Alle Welt kopiert jetzt. Liege ich sehr verkehrt, wenn ich noch ablic/ 1ten oder vcrviclfällig c11 sage? " „ Dafür werden Kräfte vorgellnlte 11. Was bedeutet das? " „ Kann man zum Fis chereis chein auch A11gelschei11 sagen? Woz u gibt es noch e in en „Fisc/ 1ereierlnub11i ssc11eir1 ? " „ Wie wird der Begriff Tn gcsmutter definiert? " „Kann man sagen, dass ein Geldbetrag hitlftig ausgezahlt wird? '' „Nachdem für Beurtei/ 1111g das Arbc it sze 11gnis eingeführt wurde, so ll n un in Sachs en von Lehrern wie der e ine 8e11rt eilrmg erstellt we rd en, we nn es um den Berufsaufstieg geht." „E l1r e11n mtlic/ 1e Tätigkeit (das Ehre namt) ist nicht mit d er gesells c/ 1nftlic1 1c11 Arbeit z u DDR·Zeiten gleichzusetzen.'' „ Ist es ratsam, sich die veralte te A dr essenangabe mit c/ o noch a nz ugc wö hneri? Auf Briefen aus den alten Bund eslä ndern liest man di ese Abkürz ung gelc· ge ntlich noch." „ Wes ha lb wird zwischen Fortbild1111g und Weiterbild1 111g unterschieden? " <?page no="109"?> Sprachb eratung als Hilfeleistung im Identifikationsprozess 101 „ Warum nennt man eine Ne11ba11siedl1111g jetzt Wof111park? " Verwunderung über elirenamllicl1e Tätigkeit, Anpassung bei Fortbildung und Weiterbildung, Hin und Her im Gebrauch von Beurteilung - Arbeitszeugnis - Beurteilung die Bürger in den neuen Bundesländern müssen westdeutsch geprägten Sprachgebrauch in vielen Bereichen übernehmen. Ob Arbeitszeugnis oder Lebenslauf, Stellenanzeige oder Bewerbung die gesellschaftlichen Veränderungen führen zu Veränderungen im Textmuster (Kühn 1995). Zahlreiche Anfragen in der Sprachberatung in Halle zeigen, dass bei diesen Textsorten für Sprecher aus den neuen Bundesländern besondere Schwierigkeiten bestehen. Immer wiederkehrende Fragen sind beispiels- Weise: „Kann man die Wendung icli 111öcl1te mich verä11dem noch gebrauchen? " Oder: „kh lese nur noch suche ne11en Wirkungskreis oder s11clie bemjlicl1c Herausfordenmg. Was muss man darunter verstehen? " Fragen zur „richtigen", neuen Gestaltung eines Lebenslaufes werden gestellt. „ Wie ausführlich soll ich mich zu wichtigen Umständen in der FacniJie äußern? " Zu DDR-Zeiten waren diese Angaben im Lebenslauf selbstverständlich und notwendig. „Kann ich schreiben, dass ich das Abitur an der EOS (Erweiterte Obersc1111le) abgelegt habe? Muss ich dafür jetzt Gymnasium einsetzen? " (Kühn/ Almstädt 1997: 203f .) „Was gehört alles in ein Referenzschreiben? " Form und lnhalt von Bewerbungen mit Lebenslauf bilden unter dem objektiv vorhandenen oder ~bjektiv empfundenen Anpassungsdruck zur Übernahme des perfekten estdeutsch häufig den Gegenstand weiterer Anfragen. Dabei wurde <leutiich, dass die große Zahl von Ratgeberliteratur häufig unbekannt war, denn Ratgeberliteratur gab es in der DDR kaum, und beim heutigen Nachschlagen sind nicht nur Form, sondern vor allem Inhaltshinweise Unbrauchbar. B . Neue Anredeformen klingen fremd, das Ausrufezeichen hinter der rtefanrede wird schnell durch ein Komma ersetzt. Anreden an Behörden machen hilflos, Firmen mit Sehr geelirte Damen und Herren anzureden, erweckt Ungläubigkeit. „Warum sollte Werter Herr nicht mehr verwendet werden? Bei selir geehrter Und se/ ir verelirter stört mich schon das Wort se/ ir. Diese Verstärkung ist bei längerem Kontakt akzeptabel, bei fremden Personen gefällt mir werter be sser." <?page no="110"?> 102 Ingrid Kalm „ Woher weiß ich, dass ein Geschäftsbrief tatsächlich an seltr gee/ 1rte Damen 1111d Herren gelangt? Vielleicht empfängt ihn nur eine Person? kh schreibe lieber an einen zuständigen und namentlich bekannten Ansprechpartner." Grußformeln am Briefschluss zwar ritualisiert, aber doch variationsrei· eher werden beim Sprachberater abgefragt. Soll mit kollegialem Gruß nun durch mit bester Empfelilung oder mit freimdliclten Gnlßen ersetzt werden? Der erlernte Wissensvorrat reicht nicht mehr aus, und der Schreiber orien· tiert sich beim Sprnchberater, um neue Kommunikationsforme{l)n zu erlernen. Hilfeleistung im Gebrauch ungeübter Muster, Beseitigung eines gewissen Defizitbewusstseins, das verbunden ist mit dem nicht zu übersehenden Fremdheitsgefühl in der eigenen Muttersprache durch die Dominanz westdeutsch geprägter Kommunikationsformen dazu gab es unmittelbare Angebote der Sprachberatung in den Jahren bis 1996. Dabei bleibt die Diskussion zum Anglizismengebrauch ein Dauerthema auch für die Sprachberatung und besonders in den neuen Bundesländern, wo der Gebrauch von englischer und amerikanischer Lexik weit geringer war als in den alten Bundesländern (Fink 1997: 119). „FUr tiltere Leute, die keinen Englischunterricht hatten, ist das Lesen des Fern· sehprograrnms eine Zumutung. Beispiele: Best Direct, Talk-Show, Movie, Met· ting live, News, Regal Sliop usw. Man sollte sich doch sclmellstcns wieder der deutschen Sprache bedienen." „In einem Werbeblatt steht: ,Bestellen Sie über unsere Hotline das Fn'il1st11cks· center filr Kids! ' Wurum schreibt man nicht: Bestellen Sie telefonisch die Brot· büchse/ Frühstücksdose für Schulkinder/ SchUler? " „ Warum heißen unsere Kinder jetzt Kids? " „In unserer Stadt sollen City-Ligl1t-Boards aufgestellt werden. Was versteht man darunter? " Alltagserfahrungen im Sprachgebrauch wecken Sympathie oder Befrent· den da möchten viele Bürger die Meinung des Sprachberaters hören. 5 Anpassung und Regionalität Man kann mit dem Plasfebeutel in die Kaujllalle gehen, kauft HalloreW Kuge/ 11, Rotkäppchen-Sekt, einen Kassler-Broiler, fragt den Lehrling nach Kathi-Kttcl1enmelll. Ostprodukte - Ostalgie werbewirksame Umkodierung. So werden aus KIM-Eiem, der Abkürzung für Kombinat i11dustrielle Mast, heute KIM-Eier mit der Unterschrift köstlicll immer marklfrisc11. <?page no="111"?> Sprachberatung als Hilfeleistung im Identifikationsprozess 103 Gewachsenes Selbstbewusstsein spiegelt sich nicht nur in der Rückbesinnung auf Ostprodukte oder Produkte aus der Heimat wider. So gibt es nicht nur Unverständnis bei Benennungen, sondern die zugrunde liegen· den Sachverhalte stoßen auf Kritik, wie das folgende Beispiel zeigt: „In der Zeitung steht, dass in Halle die einzige Poliklinik in Sachsen-Anhalt wiedereröffnet wurde. Sie erhielt den Namen Poli-Reil. Warum sind die DDR- Polikliniken eigentlich in Ärztehäuser umbenannt worden? " „Sanierte Häuser werden bei uns nach wie vor als Reko-Häuser bezeichnet (z.B. Rekonstruiertes Gebäude am Universitätsring brannte)." Als letztes Beispiel ein Brief vom Januar 2002 an die Sprachberatung: „kh spreche eigentlich noch wie vor 12 Jahren, verwende nicht die westdeutschen Ausdrucke ... am Sttick; ja gut; % vor 10; davon gehe ich <ius; Plastik (für Plaste); sag' ich mal; denk' ich mal; 2 Stück Torte sind iiber aber auch nicht gesamtdeutsch in 1999, a11 Ostern, a11sbezal1lt oder das macht keinen Sinn." Notwendige sprachliche Anpassung wurde geleistet man fährt mit dem Personenzug, dann schon mit dem Regionalexpress oder auch mit dem Intercity - und ein paar regionale Besonderheiten werden auch Anrufern aus den alten Bundesländern in Zukunft weiter auffallen. So wurde von Anrufern aus den alten Bundesländern gefragt, empfohlen, angeregt: „Plastebwtel und Plasteabfätlc haben ein zähes Sprachleben. Dabei wäre doch schon Plastbcrttel korrekter." „Jn den neuen Bundcsländem sind Komposita mit Fugen-e häufig anzutreffen: Aujlwleprozess, Nac11f1olespiel, Bri11gedic11st." „Vorsicht bei / ägcrscl111itzel! In Halle.bekam ich gebratene Jagdwurst. Ich hatte mich schon auf ein Fleischgericht gefreut." „Weshalb wird rekonstntieren immer noch im Sinne von 111odemisiere11 bzw. 11111ba11en verwendet? " „Die Versorgung des territorialen Facli/ ia11dels ... Ist es nicht eindeutiger, vom regionale11 Facl1handel zu sprechen? " „Ziele setzt man sich selbst, daher Zielsetz1111g; eine Zielstellung wird einem von außen vorgegeben." Anrufer aus den alten Bundesländern, Sekretärinnen, Ämter, Behörden Oder Schulverwaltungen, Tageszeitungen oder Rundfunk, Deutschlehrer ~Us dem Ausland - Ratsuchende am Telefon und jetzt immer häufiger l'\ternetbenutzer per E-Mail fragen den Sprachberater, wollen Bestätigung oder Recht bei Streitfragen, weisen auf sprachliche Besonderheiten Oder Unzulänglichkeiten hin. Die Sprachberatungsstelle in Halle erteilt <?page no="112"?> 104 Ingrid Kühn Rat und als Einrichtung an der Universität haben Studierende und Forschende die Möglichkeit, Sprachgebrauchsveränderungen wissenschaftlich zu begleiten. 6 Literatur Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Bauerfeind, Bettina (1997): Geplante Alltäglichkeiten. Straßennamen als politische Symbole. Symposium via Internet. Fink, Hermann u.a. (1997): Anglizismen in der Sprache der neuen Bundesländer. Frankfurt am Main. Fix, Ulla/ Barth, Dagmar unter Mitarbeit von Franziska Bcyer {2000): Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews. Frankfurt am Main u.a. Hell.mann, Manfred W. (1999): Wende-Bibliografie. Literatur und Nachschlage· werke zu Sprache und Kommunikation im geteilten und vereinigten Deutschland ab Januar 1990. Mannheim. Kühn, Ingrid (1995): Alltagssprachliche Textsortenstile. In: Stickel, Gerhard (Hrsg.): Stilfragen. Berlin, New York. Kühn, Ingrid (1996): Von Clara Zetkin zu Dorothea. Straßennamen inl Wandel. Jn: Reiher, Ruth/ Läzer, RUdiger (Hrsg.): Von „Buschzulage" und „Ossinach· weis". Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Berlin, 186-205. Kühn, Ingrid (1999): Schulnamengebung im politisch-kulturellen SymbolkanOJl· In: Muttersprache 109, 136-143. Kühn, Ingrid (2000): Objektnamengebung als Zeitgeistrcflexion. In: Beiträge zur Namenforschung 35, Heft 1, 1-35. KUhn, Ingrid (2001): Sprachgebrauchsveränderungen in den neuen Bundestän· dem . In: Der Deutschunterricht 4, 60-67. Kühn, Ingrid/ Almstädt, Klaus (1997): Rufen Sie uns an - Sprachberatung zwi· sehen Sprachwacht und Kummcrtclefon. In: Deutsche Sprache 3, 195-206. Kundera, Milan (1999): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Frankfurt al11 Main. Mattheier, Klaus J. (1985): Ortsloyalität als Steuerungsfaktor von Sprachgebrauch in örtlkhen Sprachgemeinschaften. In: Besch, Werner/ Mattheier, Klaus J. (Hrsg.): Ortssprachenforschung. Beiträge zu einem Bonner Kolloquium. Ber· lin, 139-157. Osang, Alexander (2000): die nachrichten. Frankfurt am Main. Schmidt, Veronika (1979): Probleme der Archaisierung deutscher Wörter, darg~stellt am Beispiel von Personenbezeichnungen. In: Linguistische Studien, Ret· he A, Heft 6, 130-136. <?page no="113"?> Sprachberatung als Hilfeleistung im Identifikationsprozess 105 Schütze, Corinna (1994): Motivation bei der Benennung von Schulen im Land Thüringen. Germanistisches Institut der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg, wissenschaftliche Hausarbeit. Sommerfeldt, Karl-Ernst (1994): Schulnamen in den neuen Bundesländern nach der Wende. In: Sommerfcldt, Karl-Ernst (Hrsg.): Sprache im Alltag. Beobachtungen zur Sprachkultur. Frankfurt am Main, 221-231. Ströter, Nicole (1998): Identifikation oder Abgrenzung - Sprachgebrauchswandel bei Objektnamen am Beispiel von Schulnamen in Sachsen-Anhalt. Germanistisches Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wissenschafllichc Hausarbeit. Wagner, Wolf (1997): Kulturschock Deutschland. Hamburg. Wolf, Birgit (2000): Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin, New York. <?page no="115"?> Identität durch Sprache eine nachträgliche Konstruktion? Ulla Fix 1 Vorbemerkung Aus der Einladung zum Symposium wurde deutlich, dass bei dem Stichwort ,Identität' nicht das psychologische Verständnis der Kategorie im Sinne von ,Man-selber-sein' - Stichworte ,Selbstkonzept' und ,Selbstwertgefühl' im Blick war, sondern vielmehr das Konzept von ,sozialer Identität' (Dittmar 1997: 81, 133f.) bzw. von ,kollektiver Identität' (Barbour/ Stevenson 1998: 133). Aus soziologischer Perspektive und unter dem Aspekt des Umgangs mit Sprache gilt nun der klare Grundsatz, dass es eine Identität oder die Identität gar nicht gibt und geben kann.1 Da soziale Identität immer an Gruppen gebunden ist und da wir alle in mehreren, meistens sogar in vielen Gruppen agieren, ist auch klar, dass wir uns U~d unsere soziale Identität über 111el1rere Gruppenzugehörigkeiten definieren (müssen und wollen), zu denen im Fall der Ostdeutschen neben a~deren Gruppenidentitäten auch, so könnte man jedenfalls vermuten, e~ne DDR-Zugehörigkeit und DDR-Identität gehört. Schließ~kh ist von ~~er solchen der vorhandenen oder der verlorenen in der öffentlichen •skussion ja auch immer wieder die Rede. '--·Dies waren die Ausgangsüberlegungen, die die Richtung meiner Arveit bestinunten. ~auch Löffler (1998: 19): „Identität und Identifikation, die mit Sprache verknüpft smd, beziehen sich immer auf eine Gruppen-Identität, auf mehrere Menschen also, \veiche gemeinsame Merkmale besitzen und die sich auf Grund dieser gemeinsa- : en Merkmale als zusammengehörig, als Gruppe fühlen. Ein solches Merkmal arm eben auch die Sprache sein. Nach dieser Auffassung hat jeder von WlS mehrebo re Identitäten und manche davon nicht alle sind sprachlich markiert und symlisiert." <?page no="116"?> 108 Ulla Fix 2 Zielstellung Es wird mir also um den Bezug auf Sprache als „gruppengebundenes, soziales Mittel zur Identitätsvergewisserung und -sicherung" (Zitat aus dem Einladungspapier) gehen. Zum einen will ich der Frage nachgehen, ob sich die Bevölkerung der DDR insgesamt durch eine gemeinsame Sprache identifiziert gesehen hat im Sinne von ,mit seiner Gruppe, mit der DDR eins sein'. Eine solche Fragestellung, die auf die Existenz einer großen einheitlichen politisch konstituierten - Gruppe abzielt, scheint mir für die Betrachtung des Sprachverhaltens der DDR-Bevölkerung angesichts der zentral gelenkten und institutionell entdifforenzierten Form des Zusammenlebens in diesem Staat nahe zu liegen. Die eine Fragestellung ist also die nach der DDR als einer großen Gruppe mit einheitlicher Identität. Zum anderen will ich prüfen, ob es innerhalb der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern interne, durch die Spezifik der DDR bedingte Gruppenbildungen gegeben hat und gibt, die sich auch sprachlich konstituieren. Und ich will herausfinden, welche es im gegebenen Falle gewesen sind. Selbstverständlich kann dies hier nicht umfassend und endgültig beantwortet werden. Es handelt sich bei dem, was ich untersucht habe, uJtl Stichproben, deren Fragestellung und deren Methode durch das mir vorliegende Material, Interviews über Sprache, die ich später noch vorstellen werde, bestimmt ist. Die Beschäftigung mit meinem Gegenstand hat ein viel differenzierteres Bild ergeben, als es die bewusst zugespitzte und zugleich aber auch offen als Frage formulierte Arbeitshypothese im Thema vermuten lässt: „Identität durch Sprache in der DDR eine nachträgliche Ko11struktio11 ? " Interessant ist, so viel will ich schon vorausschicken, dass sich DDR- Identität durch Sprache, wie mein Korpus und andere Beobachtungen zeigen, wohl tatsächlich erst im Nachhinein und in der Abgrenzung herausgebildet hat. 3 Arbeitsprinzipien und Materialgrundlage Wie kann man das Erleben von sozialer Identität oder Nichtidentität erforschen, wenn es um deren sprachliche Manifestationen geht? Es liegt nahe, sich der Instrumentarien der Soziologie zu bedienen und Befragungen durchzuführen. Freilich muss man sich dabei immer im Klaren sein, dass die Antworten subjektiv sind, möglicherweise Konstruktionen desldentitiit <?page no="117"?> durch Sprache eine 11ac/ 1träglicl1e Konstruktion? 109 sen, was die Befragten gern sähen bzw. woran sie sich gern erinnern möchten. Bekanntermaßen kann man diesem Problem entgehen, indem tnan statistisch abgesicherte Befragungen in quantitativen Interviews durchführt. Eine solche hat das Institut für deutsche Sprache unter der inhaltlichen Leitung von Gerhard Stickel 1997 als bundesweite Repräsentativerhebung durchgeführt. Es ging um Meinungen und Einstellungen der Bundesbürger zur deutschen Sprache, und zu den Fragen gehörten auch solche zur sprachlichen Ost-West-Wahrnehmung. Es ist aufschlussreich, dass die Befragten keine gravierenden oder gar alarmierenden Sprachdifferenzen feststellten. Gerhard Stickel hat das bei Gelegenheit einer Wittenberger Disputation zum Ost-West-Sprachgebrauch in der folgenden Weise kommentiert: Dass derzeit Westdeutsch und Ostdeutsch als zwei ausgeprägte, relativ beständige großregionale Varietäten der deutschen Sprache wahrgenommen werden, ist durch die Umfrage nicht bestätigt worden. Die Mehrzahl der Befragten lässt in den mitgeteilten Einstellungen und Meinungen keine markante Identifikation als Ostdeutsche bzw. Westdeutsche erkennen. Mit Ausnahme weniger ,DDRismen' wie dem Broiler werden als Merkmale sprachlicher Varianz eher die Eigenschaften herkömmlicher Dialekte und regionaler Umgangssprachen wahrgenommen. (Stickel 2001: 62) Man müsste nun schlussfolgern, dass die beiderseitigen Sprachgepflogenheiten so wenige Differenzen aufweisen bzw. so wenig Aufmerksamkeit wecken, dass sie zur Identitätsbildung nicht allzu viel beitragen. Andererseits weiß man aber aus Erfahrung, dass schon ein einziges Wort wie z.B. Broiler, auf das Stickel auch hinweist, oder eine einzige typische Wendung wie dreiviertel tfrei zur Identifikation und im Gefolge damit ~anchmal zur Stigmatisierung ausreichen. Diese Mittel wirken, obwohl sie statistisch nicht signifikant sind, ganz offensichtlich prototypisch und signalhaft. Es scheinen wenige Mittel zu genügen, um die eigene Identität zu verdeutlichen: „Ich benutze das Wort Broiler, weil ich hierher gehöre", Oder um Identität bzw. Zugehörigkeit von anderen zugeschrieben zu bekommen: „ Das ist einer aus dem Osten. Der sagt dreiviertel drei". Das heißt, mit statistischem Material ist trotz aller mit der Quantifizierung verbundenen Absicherung für die Beantwortung meiner Fragen nicht viel ? ewonnen. Viel eher bieten sich die Ergebnisse narrativer Interviews an, in_ denen man im Gespräch z.B. den Gründen für den Gebrauch oder Nichtgebrauch einzelner sprachlicher Mittel nachgehen kann, ebenso den Hintergründen der Urteile, der Einordnung der Befragten in ihren bio- &raphischen und sozialen Kontext u.a. Bei einem solchen Vorgehen wird Z.B. deutlich, dass die Bewertung der Dialekte, die Stickel auf einer ganz <?page no="118"?> 110 Ulla Fix anderen als der Ost-West-Ebene ansiedelt, doch sehr viel mit Ost und West und daraus abgeleiteten Vorurteilen zu tun haben können. Darauf komme ich später zurück. kh beziehe mich in meinen Ausführungen auf ein Korpus, das im Rahmen eines DFG-Projekts unter dem Namen „Sprachbiographien" in den Jahren 1994 bis 1996 erhoben wurde. Es wird durch Aussagen aus vier Interviews ergänzt, die gleichermaßen zu Vergleichszwecken in einer zweiten Etappe des Projekts in den Jahren 1998 bis 2001 geführt worden sind. Ergebnisse des Projekts von 1994-1996 sind dreißig qualitative, nämlich narrative und diskursive Interviews, also solche, in denen die Befragten als Experten ihrer selbst über ihr Leben und ihre Erfahrungen relativ ungelenkt erzählen können. Einbezogen waren Menschen, die die DDR bewusst erlebt haben und die zum Zeitpunkt der Befragung in den neuen Bundesländern lebten. Sie wurden befragt nach ihren sprachlichkommunikativen Erfahrungen vor und nach 1989. Die Interviews sind von anderthalbstündiger bis zweistündiger Dauer. Sie wurden nicht mit dem Ziel statistischer Auswertbarkeit erhoben, sondern in der Absicht, jeweils einen exemplarischen, d.h. einen gesellschaftlich möglichen Fall zu erfassen, einen Ausschnitt aus einer Sprachbiographie, die zwar jeweils individuell, aber wie jede Biographie doch auch von gesellschaftlicher Bedeutsamkeit war. Die Zahl von dreißig Interviews gewährt „mitt· Iere Repräsentativität" (Schröder 1992: 111), d.h. das Material erwies sich als ausreichend, um eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was es aus der Sicht des Einzelnen an Beschreibenswertem gab, und vor allem von dessen Haltung dazu. Die Interviews wurden nach verschiedenen Gesichtspunkten analysiert (vgl. Fix/ Barth 2000). Zunächst ging es um das Erfassen der Inhalte, d.h. der Beobachtungen von Sprachgebrauch, von Befindlichkeiten und Bewertungen in diesem Zusammenhang, kurz uJT\ Sprachbewusstseinsinhalte. Verallgemeinerungen erwiesen sich als möglich, weil sowohl von den Inhalten als auch von den Strategien ihrer Darstellung her zwei große Gruppen von Jnterviewpartnern deutlich wurden, unt~rschiedlich in der Art, die Vergangenheit und Gegenwart wiederzugeben. Es zeichnete sich zum einen die ,Erinnerungsgemein· schaft' und ,Deutungsgemeinschaft' (Burke 1993: 298f.)2 derer ab, die sich selbst als Involvierte sahen und die Strategie des RECHTFERTIGENs in ihrer Darstellung bevorzugten, und zum anderen die Gemeinschaft derer, die sich als Nichtinvolvierte verstanden und als eher Distanzierte das 2 Der Kulturgeschichtler Burke weist darauf hin, dass inan außer den von Fish so benannten ,lnterpretationsgemeinschaflen' auch ,Erinnerungsgemeinschaften' irrt Blick haben sollte. <?page no="119"?> Identität durch Spra c lte eine naclttriiglic he Konstruktion? 111 ERKLÄREN/ OFFENLEGEN (zeigen, wie es damals war) bevorzugten. Auf diese zwei Gruppen werde ich mit meinen Beispielen Bezug nehmen. Die inhaltliche Analyse der Aussagen zu Sprache und Sprachgebrauch Unter Berücksichtigung der Argumentationen und Topoi, auf di~ sich die Befragten beziehen, wurde im Projekt in einem zweiten Schritt ergänzt durch eine ausschnittweise Analyse der verwendeten sprachlichen MittcL So wurde in einer oberflächen- und tiefenstrukturellen Analyse die Verwendung von Pronomina zur Referenz auf das eigene Agens der Erzählung untersucht (vgl. Barth in Fix/ Barth 2000). Es wurde deutlich, dass auch die Art der Sprachverwendung der Selbstdarstellung und dem Ausdruck von Identität dienen ·kann (z.B. der wir-Gebrauch).3 Bezogen auf das Thema ,Identität' ergibt sich für die Analyse zweierlei: . 1. Man kann das Thema nicht behandeln, ohne die Metaebene, die Ebene der Reflexion also, einzubeziehen. Dies deshalb, weil Identität erst dann existiert, wenn man sie reflektiert und kommentiert. „Das Individuum wird sich seiner Identität erst bewusst, wenn es sich mit den Augen des anderen sieht." (Abels 2001: 24). 2. Am bewusstesten wird Identität wohl immer dann, wenn sie in Frage gestellt wird. Wenn also jemand anderes gleichsam mit dem Finger auf die Identitätsmerkmale der (anderen) Gruppe zeigt, zu denen auch deren Sprachgebrauch gehört, und wenn er Unverständnis bzw. Nichtakzeptanz der Handlungsweisen des Anderen zum Ausdruck bringt und damit dessen Identitätsgefühl beschädigt. Mit dem Bewusstwerden setzt das Selbstbeobachten und Reflektieren ein. Das genau ist die Situation der in ~er DDR Aufgewachsenen nach ·1989. Die Übernahme nicht nur der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, sondern auch der kulturellen, einschließlich der kommunikativen, wie sie sich nach der Vereinigung in den neuen Bundesländern vollzieht, bringt für viele Gefühle kultureller Fremdheit mit sich. Sie werden plötzlich in Distanz zu sich selber gestellt, gleich ob sie Gewinn oder Verlust empfinden; Die Selbstverständlichkeiten der bisherigen Lebenswelt, auch die sprachlichkomrnunikativen, sind in Frage gestellt. Dass dies zu einer besonderen Sensibilität gegenüber sprachlichen Veränderungen führt, muss nicht Verwundern. Dies bildete eine gute Grundlage für die Befragungen. Die 'Etrnittlung von Beobachtungen zum Sprachverhalten und von sprachreflexiven Äußerungen in der DDR und in den neuen Bundesländern ist also ein wichtiger methodischer Schritt, um sich ein Bild von Identität 0 der Nichtidentität zu machen. Spätestens bei der Analyse von reflektie- 3 Darauf kann ich aus Zeitgrilnden hier nicht eingehen. <?page no="120"?> 112 Ulla Fix renden Äußerung en wird deutlich, dass nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch aus der Art, wie über Vergangenes und Sprachliches gesprochen wird, aus der sprachlichen Form selbst also Schlilsse auf die Identitätsvorstellungen der Einzelnen gezoge n werden können, die bisweilen klarer als die inhaltsbezogenen sein können. 4 Theoretische Grundlagen Theoretisch liegen dem, was ich heute vortrage, drei Ansätze zugrunde. Der erste ist der der Ethnomethodologie (Schütz 1962; Patzelt 1987, 1989). Dieser Ansatz beruht, wie wir wissen, auf der Vorstellung, dass wir mit Praktiken unsere n Alltag bewältigen, die als selbstverständlich unterstellt und als unumstößlich sowie als von allen geteilt erfahren werden. Eine solche Vorstellung bietet den geeigneten Zugang, wenn man untersuchen will, wie es sich mit der Identität von Mitgliedern einer Sprach- und Kulturgemeinschaft verhält, wie es um das Selbstgefühl der Beteiligten steht, wenn ihre Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn viele Alltagspraktiken, die das Leben bis dahin bestimmt und gesichert haben, abrupt und kompromisslos „abgesetzt'' und durch bisher fremde, die in einern anderen Kulturkontext ausgehandelt worden sind, ersetzt werden. Er· greift man de shalb freudig die Muste r, die Praktiken der neuen Kultur, weil es das ist, was man eigentlich schon immer gewollt hat? Tun dies, falls es überhaupt geschieht, alle? Oder scheiden sich hier die Geister? Und worin äußert sich dies? Dass mit dem Verlust der Selbstverständ· Iichkeiten, sogar der ungeliebten (Wagner 1996: 109), Stabilität und Orien· tierung verloren gehen, trifft auf die Gruppe der so genannten ,Involvier· ten' ganz sicher zu. Und ihre Aussagen sowie die Strategien der Darstellung sind von daher zu verstehen. Mir geht es hier vor allem um die mak· rosoziologischen Praktiken der „Ordnung des Diskurses", die ich in den folgenden Fragen ausdrücke: Wer darf wann öffentlich reden? Wer darf öffentliche Themen bestimmen? Wer hat Einfluss auf den Wortgebrauch? Gab es die politisch begründete Notwendigkeit, mit „mehreren Zungen" zu sprechen? Wie stark unterschieden sich offizieller und privater Sprachgebrauch? Gab es Sanktionen für Abweichungen von diesen Regelungen? Ich beziehe mich außerdem auf Erkenntnisse der interpretativen So· ziologie (Mead 1973), vor allem auf die dort gegebene Bestimmung, dass das Individuum sich seiner Identität erst bewusst werde, wenn es sich mit den Augen des Anderen sieht. Wichtig ist mir hier der Zusammenhang <?page no="121"?> Identität durch Sprache eine nacliträgliclze Konstruktion? 113 Von Identität und Reflexion. „Das reflektierte Ich repräsentiert die gesellsch<; 1ftliche Dimension der Identität." (Abels 2001: 33} Außerdem ist die wissenssoziologische Auffassung von sozialer Wirklichkeit als Konstruktion, wie sie Berger und Luckmann (1966) entwickelt haben, grundlegend für meine Untersuchung. Denn'schließlich ist bei der Analyse inuner zu beachten, dass die Äußerungen nicht objektiv Gegebenes widerspiegeln, sondern die vom Einzelnen konstruierte Welt. Dieses Wissen entwertet die Analyse nicht, sondern setzt Akzente in der Weise, dass man untersucht, wie der Einzelne und in Übereinstimmung mit wem er seine Wirklichkeit konstruiert oder rekonstruiert, wie er also möglicherweise innerhalb einer Gruppe (s)eine Identität aufbaut. Dabei sind die Bemerkungen, die Berger und Luckmann zur primären Internalisierung Von Sprache machen, von Bedeutung: Die speziellen Inhalte, die mit der primären Sozialisation internalisiert werden, sind nattlrlich von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Einige allerdings sind überall zu finden. Vor allem ist es die Sprache, die internalisiert Werden muß. Als Sprache und mittels Sprache werden beliebige institutionell festgesetzte Begründungs- und Auslegungszusammenhänge internalisiert. (Berger/ Luckmann 1993: 145f.) Ebenso relevant sind ihre Aussagen zur sekundären Sozialisation, in der sprachlich verfestigte Begründungs· und Auslegungszusammenhänge Vermittelt werden, nun aber in der Verteilung von Wissen für bestimmte Rollen und Gruppen, als Basis für deren Identitätsgefühl. s Empirischer Teil: Analyse der Interviews Wie wurden die Interviews filr dieses Thema ausgewertet? Alle Texte ~Urden noch einmal gelesen, Äußerungen, die explizit oder implizit zu ~entität gemacht werden, wurden zusammengestellt. Ich habe mich Inüht, Strukturen zu erkennen, diese Strukturen, dem ethnomethodo- ~Ogischen Ansatz entsprechend, zuzuordnen und sie auf soziale Gruppen, ans solche erkennbar waren, zu beziehen. Die dabei gefundenen Beispiele werden im jeweiligen Argumentationszusammenhang angeführt. Fragen zu den Interviews lauteten also z.B.: a} Thematisieren die Befragten Identität überhaupt? Was ist der Anlass dafür? (Befragt wurden sie von den Interviewern dazu nicht.) b) Welche Verfahren/ Aktivitäten zur sprachlichen Herstellung von Identifikation werden als prägend beschrieben? Was hat Identität <?page no="122"?> 114 Ulla Fix ermöglicht (z.B. Offenheit im Kollegenkreis, keine Konkurrenz im Gespräch u.Ä.)? c) Mit wem identifiziert man sich? Von wem grenzt man sich auch sprachlich ab? d) An welche Konununikationsverfahren, -weisen, -aktivitäten erinnert man sich gern, an welche ungern {vertraute offizielle Gespräche)? Die Analyse widerlegt die am Anfang genannte Annahme von einer durch Sprache hergestellten DDR-Identität und führt zu folgenden The· sen: 1. Eine von der Sprache her begründete DDR-Identität gab es für die Befragten offensichtlich nicht. Es finden sich keine Äußerungen, die eine solche durch Sprache hergestellte Identität erkennbar thematisieren. Auch die Interviewten, die eine positive Haltung zur DDR zeigen, kritisieren deren Sprache und Sprachgebrauch. 2. Während man von einer über Sprache konstituierten DDR-Identität nicht sprechen kann, hat sich in der Zeit der DDR jedoch in kleinen inoffiziellen oder halboffiziellen Gruppen im Sinne der (eigenen) Konstruktion von Wirklichkeit eine Gegenidentität durch Sprache gebildet. Die gemeinsame Weise zu sprechen hält die Gruppen zusanuncn.4 Hier wird deutlich, dass es sich bei Identität jeweils um ein Bewusstsein von sich selbst handelt, das für andere, mit anderen und in Abgrenzung von ande· ren entwickelt wird. 3. Im Nachhinein, d.h. in den Jahren nach 1989, hat sich eine Art DDR-Identität gebildet, die sich über Sprache konstituiert. Die kommuni· kative Wirklichkeit der DDR wird rekonstruiert und dabei wohl zuweilen auch idealisiert. Man vergleicht die alten mit den neuen Kommunikati· onspraktiken und stellt durch die entsprechende Wertung eine positive Beziehung zur DDR her. Ein positiver Bezug auf die Sprache der DDR wird aber auch von Per· sonen hergestellt, die nicht nachträglich eine DDR-Identität suchen, son· dem die sich einfach gegen die Vereinnahmung in einen neuen, von ih· nen nich~ selbst gewählten Sprachgebrauch, den es aus ihrer Sicht gibt, wenden. Hier kann von DDR-Identität nicht die Rede sein. 4. festzustellen sind auch bewusste Absagen an Identität überhaupt. Denen stehen Äußerungen gegenüber, die ein Weiterbestehen der Sprache der DDR feststellen. 4 Die in Arbeitskollektiven, Sportgemeinschaften, Hausgemeinschaften und anderen Kleingruppen hergestellte Identität war nicht ,DDR-bezogen' (s.u.). <?page no="123"?> Id enti tät du rch Sp ra d 1e eine n ach träglic lt e Kons tniktion? 115 hn Fol ge nden erläutere ich die Thesen: I<onune ntar zu These 1: Dass di e offizielle Sprache der DDR kein Bezugspunkt für die H erstellung Von Ide ntität war, lässt sich gut nachvollziehen: Als Basis für Identitäts- ? ilctung, also für das Gefühl, mit e iner Gruppe eins zu sein, das ja wohl unmer positiv gefärbt sein mu ss, w a r der offizielle Sprachgebrauch der DDR ungeeignet. Er bot abs trakt, sperrig, farblos, un d ifferenziert, nichtssage nd , unrhetorisch, teilweise von falschem Pathos erfüllt wenig Ans atzmöglichkeiten für die Entwicklung positiver Einstellungen, keine Möglichkeit für die H erstellung von Gefühlen wie Zugehörigke it, gar von Sto lz und Patriotismus. Die Aussagen in den Interviews sind in dies em Punkt ziemlich übereinstinune nd . Diese Sprache konnte man weder mit Interesse hören noch lesen, geschweige denn selber überne hm en. Man musste s ich ihr entziehen. Äußerungen dieser Art werden von beiden Gruppen, denen, die sich als Involvierte sehen, und denen, die sich als Beobachter fühlen, gemacht.S (1) Freie politische Diskussionen im Kollegium waren faktis ch nicht möglich. Ich habe das erlebt '68 im Zusa mmenh ang mit der Entwicklung in d er Tsche· choslow ake i. (Pl : W.B„ Historiker, s. 347) (2) De r Gebrauch der Sprache in der p olitischen Öffentlichke it war eigentlich armselig, von der Wortwahl über S at zkonstruktion bis hin zur um das Ge· gens tuck zu gebrauchen zu e ine m s chwülstigen Verwenden von Bildern, a uch dort, wo sie gar nicht hinp assen, wo es kitschig wurde [„.]. (Pt: W.B., Historiker, S. 350) (3) Nur wer von seiner Stellung he r verpflichtet war, der las mit Lineal und Rots tift und pickte sich dann di e Sätze 'raus, die er weitergebe n mußte oder Wollte, wenn er darüber reden wollte ansonsten hat das, im allgemeinen hat da s nie mand gelesen, weil das so langweilig war und so [„.]. (M. : H .G., Musikwissenschaftler, S. 279) (4) Das [Doppelz üngigke it , U.F.] gab 's bei mir eigentlich gar nicht, weil, w ie gesagt, diese offizielle DDR-Sprache nie meine Sprache war und ich sie auch so g ut wie nie angewendet habe. (Pl: A.C., S. 366) Wer d e r DDR an sich kritisch gegenüberstand, übertrug diese Haltung natürlich ohnehin auch auf ihre Sprache und die implizite wie explizite Ich bezeichne im Folgenden Bei spiele aus d er ersten Projektpha se (1 994-1996) mit PI, Belege aus der zweiten Phase (1 998-2002) mit P2 <?page no="124"?> 116 Ulln Fix Regelung der Kommunikation. DDR-Identität hat sich wohl eher über Lebensbereiche wie kollektives Arbeiten und kollektives Freizeiterleben, über gemeinsame, nicht nach dem sozialen Status differenzierte und zugeteilte Teilhabe an Kultur und Sport konstituiert. Kommentar zu These 2: Vielen war bewusst, dass sie sich durch den Gebrauch der Sprache sozial wie politisch entweder anpassen oder abheben konnten. Und so bildeten Einzelne, aber auch Gruppen, Strategien der sich abgrenzenden Sprachverwendung aus und entwickelten auf diese Weise durch den gemeinsa~ men Gebrauch der vom Üblichen abweichenden Mittel eine spezifische Gruppen- und Gegenidentität. Eine gemeinsame Welt wurde konstruiert. Dies konnte sich u.a. in der Familie, im Kollegen- und Freundeskreis und in kirchlichen Kreisen vollziehen. · (5} Beispiel: Familie · Frage zur sprachlichen Anpassung Weißte, in dieser Uniformiertheit dieser sozialistischen Gesellschaft da bleibt uns nichts weiter übrig, als daß wir von der Stange die Klamotten kaufen, da bleibt uns nichts weiter übrig, als daß wir das tun, was man von uns verlangt, aber man kann sich durch die Körperhaltung, daß man sich nicht gelten läßt, und durch die Sprache und durch das Benehmen, da kann man sich absetzen, und daran erkennen wir uns dann wieder und halten wieder zusammen. (Pl: M.K., Zitat innerhalb eines Interviews, das die Meinung eines Familien· mitgliedes, Lehrstuhlinhaber und Dekan an einer Technischen Hochschule wiedergibt, S. 296) (6) Beispiel: Kollegenkreis: Frage nach offizieller und nichtoffizieller Sprache Ja, z.B. in der von vielen belächelten Praxis, daß wir Kollegen, die wir (... )also in den fünfziger Jahren studiert haben, daß wir untereinander immer beifl\ ,Sie' geblieben sind. Auch also ,Herr Kollege' und ,Sie'. Das war etwas, was [...] eine ganz deutlich spürbare, aber nicht formulierte Kritik an dem ,Du' der Genossen. Die SED-Genossen waren ja im Grunde genommen zum ,Du' fast verpflichtet, die mußten also auch ,Genosse Minister, Du' sagen, wenn's drauf ankam {...) und daß unsere Sprachregelung [...] also auch unter bestimmten Studenten schon üblich gewesen war, die sich auch dem FDJtum nicht so ohne weiteres anschließen wollten, ja? Das war und ist zu beobachten. Das hat sich also zum Teil eben wie bei uns erhalten[...). (Pl: H.G., Musikwissenschaftler, S. 273f.) Aus den Interviewkontexten wird deutlich, dass sich diese Gruppenbil· dungen inuner gegen die DDR-Konventionen richten. <?page no="125"?> ldentitiit durch Sprache eine nachträgliche Konstruktion? 117 Eine Anmerkung zur sprachlichen Form: [n der sprachlichen Umsetzung zeigt sich, dass die, die sich für Nichtinvolvierte halten, von wir sprechen in Bezug auf kleinere Gruppen, den Freundes- oder Kollegenkreis z.B., der ihnen geholfen hat, „sich herauszuhalten" und der ihre Identität ausgemacht hat. Die, die sich parteikonform verhielten, werden auch als Gruppe sprachlich markiert: „wir Kollegen, die wir [...] also in den fünfziger Jahren studiert haben" und im Gegensatz dazu „die SED- Genossen untereinander" „die Leute aus der Parteigruppe" (HG., S. 273f.). (7) Beispiel: Kirche Und in der Kirche war es natürlich möglich, über Metaphern zu verklausulieren und eh „Wir beten für die Gefangenen in den Gefängnissen" [zu sagen], und dann war natürlich klar, welche gemeint waren. „. So über Metaphern War 'ne ganze Menge möglich [...] Es wurde in der Kirche, und das lmt sich verändert dann '89, auch sehr viel direkter dann [...} gesprochen. je stärker sich die Kirche also auch dazu bekannt hat, etwas also zu verändern in der DDR, desto genauer wurde auch darilber gesprochen. (P2: H.S„ freie Journalistin und Dozentin, S. 9f.) (8) Nun red' ich von der evangelischen Kirche wiederum. [„.] Es ist ja von dem alten Bürgertum nur die evangelische Kirche hier geblieben. [...} was es so in den Kirchenkreisen gab, das war so eine gewisse Altertümlichkeit in der Formulierung, die Sätze sind so mehr Kohlhaas-Sätze gewesen, also dieser Trend zu den kurzen Sätzen, der war noch nicht so da [„.] Redewendungen, die eigentlich etwas angestaubt sind. (Pl: R.G., Beobachter von außen, aus einer Leipziger Familie stammender Politikwissenschaftler, nach 1989 nach Leipzig umgesiedelt, S. 549) Das Beispiel zielt auf die sprachlich hergestellte Identität von Kirchenangehörigen, die durch Beibehalten überkommenen Wortschatzes, nach meiner Beobachtung auch durch Übernahme z.B. westlicher philosophischer Terminologie ihre Gruppe gegenüber anderen markierten. In den Beispielen wird deutlich, dass Identität nicht anders als durch den zeitweise übernommenen Blick des Anderen und damit durch Ab- &renzung möglich ist. I<: onunentar zu These 3: Wenn ich von der nachträglichen Herstellung einer DDR-Identität spre- ~he, habe kh nicht nur das Festhalten an alten Bezeichnur: tgen im Blick (s. ), sondern die damit verbundene bewusste Herstellung eines Wir- Gefühis als ehemalige Bürger der DDR. Dafür steht der Gebrauch der oft als Beispiele angeführten Wörter wie Kmtflzalle statt Sttpenuarkt, Broiler <?page no="126"?> 118 Ulln Fix statt Braf11älmche11, Kollektiu statt Team in Fällen, wo nicht Gewohnheit wirkt, sondern wo der Gebrauch reflektiert ist und mit dem Wunsch nach Identität begründet wird. Diese Identität wird zu einer Zeit, wo es ihre vermeintliche - Basis, den DDR-Staat, nicht mehr gibt, im Gespräch wiederhergestellt. Geschaffen wird auf diese Weise die Identität einer Gemeinschaft, die durch das gemeinsame Schicksal, den gemeinsamen Verlust geprägt ist selbst der Verlust von etwas Ungeliebtem kann ja als Verlust an Identität (und Stabilität) empfunden werden (Wagner 1996: 109). Diese Gemeinschaft wird teilweise auch als Gegengemejnschaft gegenüber den „ Westdeutschen" hergestellt. Zum Teil wird im Nachhinein auch Identität hergestellt, indem man sich auf der Metaebene z.B. der gruppenbildenden Kommunikationsstile erinnert, die nach Meinung der Befragten in der DDR möglich, typisch und für die Beteiligten angenehm waren. Gemeint sind z.B. Offenheit, Vertrautheit, Unprätentiosität im Gespräch mit Kollegen, ja mit Vorgesetzten, und im Freundeskreis. Interessant ist, dass diese Art von positiver Identität immer in Abgrenzung zu jetzigen Verhältnissen hergestellt wird. Das, was man jetzt vermisst und früher vielleicht gar nicht bewusst geschätzt hat, schafft diese nachträgliche Übereinstimmung. Man hat sozusagen gar nicht gewusst, „was man an dieser Art von Umgang miteinander hatte". (9) [„.) das war alles ein unheimliches Zusammenhalten, und ich denke da bloß an meine Arbeit. Was haben wir für wunderschöne Abende gemacht [„.), wo alle noch sagen, die schönen Zeiten kommen nie wieder .... Da kann wart doch jetzt nicht sagen, daß die DDR Mist war [...) Weißt du, da konnte jeder mal mit jedem sitzen, und die Männer haben sich unterhalten, das hat un· heimlich die Atmosphäre[...) wieder eine Stufe höher gebracht. (Pl: LN., Kindergärtnerin, S. 263f.) (10) (...) die Parteiversammlungen, Parteilehrjahr, Schule der sozialistischell Arbeit oder ganz einfach in der Kaffeerunde, das is' ja heute auch nich' mehr üblich, wenn Sie sich jetzt zusammensetzen, mehrere Leute und 'n Täßchell Kaffee trinken, dann kommt schon einer vorbei und sagt: Ihr habt wohl nich~ zu tun? ja? Das heißt, man ist in allem viel isolierter, auch mit seiner Me 1• nungsbildung ist man viel mehr auf sich aUcingelassen [„.). (Pl: M.Z., Mitarbeiterin in einem Energieunternehmen, S. 318) (11) Kommunikationsverhalten Aber das ist schon richtig, man muß heute up to date sein, ne, so heißt Jas doch. Also das ist nicht mein Fall. Das war in der DDR nicht so nötig. Das war in der Beziehung unkomplizierter. Ich hab' auch den Eindruck, die Mcnschefl waren schlichter, unkomplizierter, nicht so sehr auf Renommee und was <?page no="127"?> Identität durch Sprache eine nachträgliche Ko11struktion? 119 weiß ich - Prestige aus. (Pl: H.K.S., Schuldirektor, 223) (12) Aber in den kleineu Gruppen, Arbeitsgruppen oder Kleingartengruppen oder sonst was, da gab's Formen von 'nem Miteinander, die ich, wenn ich so, äh ja, in den sogenannten Westen gucke, äh nich finde. Da is' es wesentlich anonymer, und jeder macht so'n bissel scins und läßt die anderen och nich' reingucken. (P2: A.F., Diplomreligionspädagogin, Sozialarbeiterin, S. 6) (13) Aber wehe dem [...] ein Westdeutscher trifft auf eine kleine Gruppe von Ostdeutschen, die sich vielleicht vorher och nkh so sonderlich gut verstanden hätte oder sich geöffnet hätte, dann is' man plötzlich 'ne homogene Gruppe, dann kennt man sich und dann kennt man wieder seine geheimen Zeichen un' dann kennt man seine Sprache un' dann bitte schön lieber Wessi bleib mal schön draußen. Also es is' nich' immer so, natürlich, is' eigentlich auch nich' überall so, aber es si.n' Dinge, die man sehr oft erlebt. Das funktioniert dann aber perfekt. [lacht ironisch] (P2: A.F., Diplomreligionspädagogin, Sozialarbeiterin, 5. 10) (14) Ich kann viel in diesem Land nicht leiden, aber in dem Moment, wo es heißt: Die Menschen in der DDR sind faul, da bin ich plötzlich DDR-Bürger. Weil wir beide, mein Mann und ich, und aus unserem Bekanntenkreis eigentlich alle ihre Arbeit ernstgenommen haben, tüchtig geschuftet haben, nie gefragt haben nach dem Gehalt, sondern es muß gemacht werden, also machen Wir's. (Pl: M.K., Studium eines technischen. Faches, später Museumsmitarbeiterin, S. 305) (15) Das war eins [...) also der ersten Erlebnisse, daß ich gemerkt habe, das, Was hier is', das is' viel Schein, und das zeigt sich in der Sprache. Da wird was vorgegeben, un' dahinter is' ganz wenig. Also da hatte ich in der DDR 'ne ganz andere Tiefe erlebt [... ]So bestimmte Worte, z. B. ,nett', ist in der DDR eher ironisch gebraucht worden, wie der „nette junge Mann von nebenan", is' zwar ganz nett, aber sonst is' nischt dahinter. Und eh ,nett' wird im Westen pur verwandt. Ja, alles is' irgendwie nett. Das hat aber auch mit dieser Weltsicht zu hm, alles ist irgendwie nett und schön und freundlich und eh, also diese Oberflächensprache, die is' [...] mir vor allem aufgefallen. {P2: H.S., freie Journalistin und Dozentin, S. 10) {16) Frage: Haben Sie den Eindruck, daß Ihre Sprache reicher geworden ist nach der Wende? Nein, die ist schlechter geworden nach der Wende. Das liegt einfach daran, daß diese Gesellschaft mir keine Zeit mehr läßt zum Lesen, daß diese Gesellschaft mir keine Zeit mehr läßt, in.Ruhe einen Vortrag anzuhören, einen gut gesprochenen. Ich werde bloß noch mit dem kurzen, knappen, geschäftlichen, sachlichen Stil konfrontiert. Um das zu kompensieren, was man da den gan- <?page no="128"?> 120 Ulln Fix zen Tag ltir Papier um die Ohren kriegt, müßte man abends eigentlich mal eill Buch lesen. Da könnte man vieles besser machen. Aber dazu läßt uns diese Gesellschaft keine Zeit. So gesehen, wird auch die Sprache in der Bundesrepu· blikänner. (PI: W.H., selbständiger Handwerksmeister, S. 338) Identität und Abgrenzung wird im Nachhinein auch durch die Dialekte bzw. durch Regiolekte erreicht: (17) Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bei mir deutliche Verschiebun· gen au( der Beliebtheitsskala der deutschen Dialekte bewirkt. Die einst gern gehörten süddeutschen Dialekte (bayrischer, schwäbischer Dialekt) bringen gcrndczu eine Alarmglocke zum Klingen. Das in diesen Dialekten Gesagte wird garantiert einer sehr kritischen Prüfung unterzogen. Dagegen stellt sich beim Klang des Sächsischen oder Thüringischen eine Art Zugehörigkeitsge· fühl ein, das mir bislang unbekannt war. Als anmaßend empfinde ich es, wenn ein bayri sc her Unternehmer in se in em Leipziger Betrieb anstelle der „Fru~stückspause" die „Brotzeit" ansetzt. Westliche Dialekte sind bei mir zur Zeit eindeutig negativ konnotiert, wobei es naturlich im einzelnen zu differenzieren gilt. (Pl: E.E., Dolmetscherin, später selbständige Buchhändlerin, S. 211) Das, was frilher nicht der Herstellung von Identität dient das Sächsische z.B., wofür man sich gelegentlich genierte -, wird nun zum Mittel der nachträglichen Konstruktion von Identität gebraucht. Hinzu kommt, dass Dialekte und Regiolekte nun als Ausweis der Loyalität gegenüber der DDR, der DDR·ldentität, benutzt werden und nicht mehr zur Ioka· len/ regionalen Abgrenzung. Und sie dienen, wie das folgende Beispiel zeigt, zur Herstellung einer neuen Art von Zusammengehörigkeit derer, die bisher nicht zusammentreffen durften. (18} Situation der Grenzöffnung (im Harz) [„.] Da kam dann der Bürgenneister von der einen Seite [sie beginnt zu wei· nen] und der Bürgermeister von der anderen Seite, viele Menschen, wir kann· ten uns alle nicht, aber die Leute, die kamen aus dem anderen Zug, sprachell platt miteinander. Ob das intuitiv die geschichtliche Verbundenheit demons· triercn sollte, ich weiß es nicht, aber: LU, wat'ne Freude! Keiner hat gesagt: Leute, was tor'ne Freude - Lü, wat'ne Freude! Plattdeutsch! Das ist unglau1'lich gewesen. {.„] Auf einmal waren die im Plattdeutschen und durch das Plattdeutsche[...) wissen Sie, das war erhebend. Das hat mich eigentlich daßll auch veranlaßt, da noch was zu tun [plattdeutsche Kolumnen schreiben f(it die Lokalzeitung). (Pl: M.K., Studium eines technischen Faches, später Museumsmitarbeiterin, 5. 307) <?page no="129"?> Identität durch Spracl1e eine nachträgliche Konstruktion? 121 (19) Bekenntnis zum Sächsischen [...]Schwäbisch kann auch lächerlich sein, finde ich. Und die schwäbeln dahin, und ausgestandene Männer, also, da finde ich das wirklich richtig lächerlich. Also, warum sollten wir nicht zu dem stehen? Zumal die Schriftsprache in Meißen entwickelt wurde und daher kommt. Und daher hab' ich (... ),ich hab' da überhaupt keine Minderwertigkeitskomplexe. In keiner Weise. (Pl: R.ß., Pressesprecher in verschiedenen Institutionen, S. 465) Dass die Dialektzugehörigkeit (bzw. Umgangssprache) normalerweise gerade nicht als staatliche Identität erlebt wird, liegt auf der Hand; denn ~bgesehen davon, dass kaum jemand im tatsächlichen sprachlichen Alltag ~n die Lage kommen wird, sich vor sich selber als Bürger seines Landes zu tdenttfizieren, wird er seine Identität als Staatsbürger schon gar nicht Ober seinen Dialekt konstruieren. Wohl aber tut er dies, wie in unserem Falle, abls Reaktion gegen "Angriffe" auf seine Identität und den Staat DDR, esser vielleicht: für die darin erlebte Gemeinsamkeit. Viele wollen sich das Recht auf die alten Wörter nicht aus Gründen d: r „ Verteidigung der DDR" bewahren, sondern weil sie ihren grund· s~tzlichen Anspruch auf Anderssein, ihren Anspruch auf ihre eigene Sozialisation und Kultur ihre Ethnomethoden ganz unabhängig von P~litischer Bewertung nicht in· Frage gestellt sehen wollen. Sie können nicht einsehen, wieso andere die westdeutschen Kolleginnen und }( 0 rnmmtoninnen z.B. ihren ' Sprachgebrauch, beispielsweise das lokal geprägte dreiviertel zwölf statt Viertel vor zwölf, abwertend betrachten. Wie ~II~, so meinen sie, haben auch sie das Recht auf ihre Selbstverständlicheiten und deren Akzeptanz durch die Mitglieder anderer Kulturen. Vor ~el\\ Hintergrund der Infragestellung der eigenen Selbstverständlichkei· en durch die anderen, die Westdeutschen, zeichnet sich eine allmählich entstehende Gruppenidentität auch bei Befragten ab, die der DDR kritisch ~ege~Uber s tanden und -stehe n. Sie bauen nun aber mit Blick auf die neue t eahtät, sozusagen in der Ernüchterung, eine vorsichtige, bruchstückhafe DDR-Identität rückläufig auf. l\ 0 1llrnentar zu These 4: ~hließlich muss als ein Aspekt berücksichtigt werden, dass Identitätsbit· ....,\: Ing bzw. das Beharren auf Identität vom Einzelnen auch abgelehnt s erden kann. Diese Meinung will ich abschließend, als eine Art der Löttng des Problems, zitieren. (20) Also sagen wir mal, innerhalb meiner sozialen Sphäre habe ich schon das Gefühl, wir verstehen uns auch, weil wir aus dem Osten kommen. Und be- · <?page no="130"?> 122 Ulla Fix stimmte Dinge fallen uns eben auf, und an bestimmten nehmen wir Anstoß, während selbst Linke, Grüne, junge Westintellektuellc bestimmte Dinge an· ders sehen. Aber ich meine, da so einen harten Schnitt zu machen, finde ich auch albern. Wenn ich sozusagen aufgefordert bin zu definieren, warum mei· ne Ostidentität doch was ganz Bewahrcnswertes ist, dann ist das ja eigentlich eine Aufforderung, mich abzugrenzen von einem Gespräch, sozusagen. W; ,· rum soll ich das tun. Ich versuche mich produktiv einem Problem anzunähern, und wenn ich das schaffe, ist mir egal, mit wem ich was tue, ob mit einem Westdeutschen oder mit einem Ostdeutschen, und also bin ich überhaupt nicht scharf auf meine Ostidentität. kh bin so, wie ich bin. (Pl: T.A., Germanist, Verlagslektor, S. 586) (21) Ich glaube, daß Sprachunterschiede und Sprachbarrieren mittlerweile nicht mehr was mit den Systemen oder mit den verschiedenen Bundesl11ndel1l zu tun haben, sondern mehr mit den verschiedenen Lebensstilen oder äh Bevölkerungsschichten [...] Und ich glaube, daß ein Kölner Arbeiter, glaube ich zumindest, sich relativ schnell mit 'nem Leipziger Arbeiter einig werden könnte, trotz der Dialektunterschiede [„.] und ich glaube, daß (lacht) 'ne Westvermieterin von der höheren Sorte, wie wir sia so haben, mit verschiedenen Immobilien und verschiedenen Werten, sich mit diesem Arbeiter schwer tun würde und er sich auch mit ihr, sprachlich gesehen. {P2: A.F., Diplomreligionspädagogin, Sozialarbeiterin, S. 25) (22) kh denke, daß die bleiben wird. Wenn man einigermaßen ehrlich ist, die Lebensbedingungen, Sprache und Leben hängen ja (...] mit zusammen, und auch diese schnellen Überläufer der ersten Zeit und so weiter, die hat's ja so'n bißchen schon wieder zurtickgestuft, ja? Also ich denke doch, daß da, solan~e man hier lebt, auch die DDR-Sprache letztendlich bleibt. Und [„.] zumindest J.ll der nächsten Generation ist die noch da. kh glaube nicht, daß jetzt irgend jemand hier S11permnrkt sagen wird. Das ist ja ein Sprachverhalten, nicht nur einzelne Worte, dieser Umgang mit Sprache, das sind gewachsene Gewohn· heiten [...] Und jetzt findet leicht abgewandelle DDR statt. (P2: S.S., A.S., S. 419) 6 Literatur Abels, Heinz (2001): Interaktion, Identität, Präsentation. Wiesbaden Barbour, Stephen/ Stevenson, Patrick (1998): Variation im Deutschen. Soziolingu· istische Perspektiven. Berlin, New York. . Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas (1993): Die gesellschaftliche Konstrukt1° 11 der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main. . Burke, Peter (1993): Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Assmann, Ale•· da/ Harth, Dietrich (Hrsg.): Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main, 298-304. · <?page no="131"?> I de n tität durch Sprache ei ne nach träglic/ 1c Kon s truktion? 123 Dittmar, N orbert (1 997): Grundlagen d er ·Soziolinguistik - Ein Arbeits bu ch mit Aufgabe n. Tübingen. Fix, Ulla (1997): Die Sicht der Be troffene n. Beobachtungen z um Kommunikation swand el in den neuen Bundeslände rn. In: Der Deutschunterricht l, 34-41. Fix, Ulla (1999): Autorität als Topos. In: Fohrmann, Jürgen/ Kaste n, Ing rid/ Neula nd, Eva (Hrsg.}: Autorität der in Sprache, Literatur, Neue n Medie n. Vor- , trage <l es Bonner Germanistcntags 1997. Bd. 1 . Bielefeld, 59-78. FlX, Ull a/ Ba rth, Dagmar, unter Mita rbeit von Franziska Beye r (2000): Spra chbiogra phien. Sp rache und Sprachgebrauch vo r und nach der Wende von 1989 im Erinnern un d Erl eben von Zeit ze ugen au s d er DDR. Inhalte und Analysen n ar ra tiv-diskurs ive r Interv iews. Frankfurt a m Main, Berlin, Be rn. Löffl er, Heinrich (1994): Germanistische Soziolinguistik. Berlin. Mead, George H erbert (1973): Geis t, Identität und Gesellschaft. Fra nkfurt am Main. Patze lt , We rn e r (1987): Grundlagen d er Ethnornethodologie. Theorie, Empirie und politikwissensclmftlicher Nut zen eine r Soziologie des Alltags. MUnchen . Patzelt, We rner (1989): Methoden politischen Sprechens. Die ethnome thodologi- . sehe Pers pektive. In: Forum für inte rdisziplin11re Forschung 2, 58-68. ~eih e r, Ruth / Kramcr, Undine, (Hrsg.) (1 998) : Sprache als Mittel von Ide ntifikation und Düf erenzierung. Frankfurt a m Main, Berlin, Bern. Sc hröder, Ha ns -J oa chim (1992 ): Die ges tohlen en Jahre. Er z11 hlgesc h ic htcn und Cesc hichtserz.'ihlung im Interview. De r zwe ite Weltkrieg aus d er Sicht ehemaliger Mannschaftssold aten . Tübingen. ~.h utz, Alfred (1 96 2): Collected P ape rs. Bd. 1 . Den Ha ag. hckel, Gerha rd/ V olz, Norbe rt (1999): Meinungen und Einstellungen z ur d eutsch en Sp rac he . Ergebnisse ein er bu ndesw eiten Repräsenta tivc rh ebung (ama- S . des 2). ttckcl, Ger hard (2001): Ost- und wcstde ut scl1e Spracheinstellungen. In: Kühn, Ingrid (Hrsg.): Ost-West-Sprachgebrauc h zehn Jahre nach d er We nde. Opla- W d en, 51 -64. agner, Wolf (1996): Kulturschock Deutschl a nd . Hamburg. <?page no="133"?> Wej ntir sog'n. Sprache und Identität des ~undartsprechers in Nordostbayern. Erfahrungen bei der Erhebung des Materials für den Sprachatlas von N ordostbayernl Robert Hinderling 1 Von der Schwierigkeit der Befragung ~on unseren Dialektsprechern erwarten wir nichts Geringeres, als dass sie steh über ihre Mundart äußern können, d.h. aus der Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs heraustreten und die eigene Alltagssprache Z~tn Objekt machen. Zwar helfen wir ihnen, so gut es geht, indem wir zu einem großen Teil über Geräte und Werkzeuge sprechen, die ihnen wohl- Vertraut sind. Wir haben auch ein .Bilderbuch' dabei, in welchem die Wkhtigsten Gegenstände, von denen wir sprechen, abgebildet sind. Und gelegentlich war es sogar möglich, an den noch vorhandenen, zum Teil sogar noch benutzten Geräten und Werkzeugen selbst auf die Teile zu Zeigen, nach deren Benennung wir sie befragen wollten. Aber diese Befragungsart lässt sich nicht durchhalten. Wir fragen ja nicht nur nach Sachen, sondern auch nach Verben, Adjektiven und bei Substantiven auch nach dem Plural. Letztere Fragen können zu Schwierigkeiten führen, wenn die Sachen, um die es sich handelt, vorwiegend im Singular ~Orkommen, wie z.B. Bach. Hier verweigern viele die Antwort oft mit der egründung „bei uns gibt's nur einen Bach". Diese Antwort zeugt m.E. Von einer gewissen geistigen Trägheit, denn die Sprache ist ja ein Werk· Zeug, das nicht nur die konkrete dörfliche und häusliche Welt erschließt, ~nd viele haben mit dieser Frage auch kein Problem, gleichgültig ob es im ihorf mehrere Bäche gibt oder nicht. Die Leute leben ja auch nicht nur in rern Dorf, sondern sie kennen auch die Umgebung und die nächst gele- ~ene~ Märkte und Städte. Und so müsste es möglich sein, auch von einem tlch im Plural, von zwei Kirchtürmen usw. zu sprechen. In WUN 10 ant- 'Wortete dementsprechend ein alter Mann auf die Frage „Und wenn es Ohne die unermüdliche Hilfsbereitschaft und Geduld von MA Jürgen Krappmann llnd phil. mag. Anne Marie Hinderling wäre der Artikel nicht fertig geworden. <?page no="134"?> 126 Robert Hi11derli11g mehrere Gänge sind? ": „Da woan 11iad miiiem gar]''. Richtig ist allerdings, dass man in solchen Fällen gerne auf den hochdeutschen Plural aus· weicht, also eher von Bäc11e spricht als von btJx. Bei den Verben wollen wir nicht nur die Infinitive kennen, und hier gibt es dann Schwierigkeiten, die die zuvor erwähnten sogar noch übertreffen. Zwar ist es leicht, den Infinitiv, die , Vergangenheit' und die 3. Sg. und PI. abzufragen. Großes Kopfzerbrechen bereiten aber die 1. und vor allem die 2. Sg. und PI. Dabei zeigt sich ein Geschlechterunterschied. Die Frauen meist auch jünger als ihre Männer haben beim Flektieren nur selten Probleme. Bei Männern sind sie im Allgemeinen umso größer, oft unüberwindbar. Auch bei den Richtungsadverbien, wo sowohl im Nordbairischen wie im Ostfränldschen fast in allen Fällen zwischen l1ill und l1er unterschieden werden kann (und muss! ), stellen sich große Schwierigkeiten ein. Die Richtung 'von sich weg' ist zwar leicht zu bekommen, also l1im111s (naus, bair. asse), llinein (nai, äine), l1i11auf (naiif bzw. affe) usw. Schwierig sind aber die For· men, die die Her-Richtung bezeichnen. Nochmals übertroffen werden die Schwierigkeiten bei den Richtungsadverbien von denen der Ortsadver• bien. Auch bei drinnen, draußen, droben usw. muss bei uns nämlich unter· schieden werden zwischen drim1e11 usw. beim Sprecher und drinnen vont Sprecher entfernt, z.B. zwischen drina und ltina, zwischen drö'm und Juf1 11 usw. Da mein Gewährsmann mit mir in der Stube saß, waren wir beide · liiua ('bei uns drin'). Aber wie konnte ich Jiaus11, d.h. 'bei (uns) draußen' bekommen, wenn wir doch gemütlich drinnen saßen? Alle Versuche über Deixis am Phantasma schlugen fehl, und es blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Gewährsmann zu bitten, mit mir nach draußen zu geheJ\· Die gewünschte Form kam dann spielend. Nun könnte man einwenden, dass das Arbeiten mit dem Fragebuch überhaupt der verkehrte Weg sei. Man sollte nur aufschreiben, was itJl spontanen Gespräch geäußert wird. Gegen diese Auffassung ist vor alleJll einzuwenden, dass man für eine solche Erhebung sehr viel Zeit benötigeJl würde und auf diese Weise zwar eine Monographie über die Mundart eines oder einiger weniger Orte schreiben könnte, aber sicher nicht daS Material für einen Sprachatlas zusanunenbrächte. Natürlich achten auch wir sehr sorgfältig auf ,Spontarunaterial', wie es uns oft der Zufall ztl· spielt. Vor etlichen Jahren konnte ich so in einem Dorf bei Regensbu: g folgende für mich unschätzbare Beobachtung (man möchte von ,BeobhÖ" rung' sprechen) zu den Richtungsadverbien machen: Die Katze hatte sie~ unbemerkt in die schöne Stube geschlichen und schlief dort zufrieden a~ dem Sofa. Da wurde sie von der empörten Bäuerin jäh aufgeweckt, d~e der Katze zornig befahl: gellst assa ! ('mach dass du raus kommst'). D 1 e <?page no="135"?> Sprache und Identität des Mundartsprechers in Nordostbayeni 127 Katze erhob sich widerwillig und lustlos und ging von ihrem warmen Plätzchen aufreizend langsam in Richtung Stubentür, auf deren Schwelle die zornige Bäuerin stand, ununterbrochen ihr gellst assa fauchend. Sowie die Katze die Schwelle überschritten hatte und an der Bäuerin vorbei war, stellte diese von gehst assa auf gehst assi, also von „geh heraus" auf „geh hinaus" um. Denn im Vergleich zur Katze war sie nun dri1111eu, die Katze aber auf dem Weg nach draußen. Der Sammler der Daten für einen Sprachatlas, so sagten wir, muss also ein anderes, schnelleres Verfahren wählen als der Forscher, der eine ~rtsmonographie im Sinne hat. ln unserm Fall war die Zeit, die wir für einen Ort verwenden konnten, auf eine (knappe) Woche begrenzt. Im genannten Zeitraum kann man das gesamte Fragebuch abarbeiten und bekommt außerdem in der Regel noch sehr viel SpontanmateriaJ, das oft zurn Wertvollsten einer Erhebung gehört, so wie das erwähnte Katzenbei~ spiel zeigt. 2 Heilsame Missverständnisse Attch das einfache Abfragen des Fragebuchs kann für Überraschungen sorgen und die Kenntnis der Mundart in ungeahnter Weise erweitern. Hierzu ein Beispiel: Da das Substantiv Stecke11 und das Verb stecken auf unterschiedliche mhd. Vokale zurückgehen, bastelten wir den Satz (oder ~as Satzteil): „einen Stecken in den Boden stecken". Der Stecken hat germ. e, das Verb stecken dagegen Primärumlaut. Wir kamen uns sehr schlau vor Und glaubten ein schönes Minimalpaar zu bekommen, doch hatten wir die Rechnung ohne den Wirt (oder den Bauern) gemacht. Der Satz war in der gewünschten Weise nicht zu übersetzen. Stattdessen wurde sleckeu übertragen als sltl11 'schlagen' HO 27 oder äistoujii AS 10 oder äil1011a AS 21. Was hinter dieser unerwarteten Verweigerung steckte, war nicht ohne 'Weiteres zu erkennen. Es gab Exploratoren, die. fast verzweifelt versucht~n, den Satz zu retten. Es spricht für die Güte unserer Gewährsleute, dass sie auf diese Rettungsversuche nicht eingingen, sondern noch so vielen lll.undgerecht gelieferten Übersetzungsvorschlägen widerstanden. All· lllählich wurde uns klar, dass bei Überwindung eines Widerstandes, die beim. Einschlagen des Steckens im Erdreich notwendig ist, das Verb slec~n nicht passt. Einen länglichen Gegenstand, einen Schlüssel zum Bei· 5 P•el, kann man dagegen sehr wohl in die Ritze eines Holzhauses stecken, \vei] hierfür kein Widerstand überwunden werden muss. Und plötzlich dämmert uns auch, wie das Verb verslecken hier dazugehört. Es ist ein <?page no="136"?> 128 Robert Hinderling Präfixverb wie verlegen in der Bedeutung 'an eine andere als die sonst übliche Stelle legen und deshalb nicht wiederfinden' (Duden Wörterbuch). Bei stecken handelt es sich also um ein lockeres irgendwo Anbringen oder Hineinschieben, was im Falle des Bodens nicht möglich ist, es sei denn es handelt sich um lockeres Erdreich, in das man Bohnen oder Kar· toffeln steckt. So helfen uns gerade die selbständigsten Gewährsleute und nicht diejenigen, die auf die Erwartungshaltung der Exploratoren eingehen, welche vom Hochdeutschen oft zu stark geprägt sind, dabei zu erkennen, dass viele Wörter der Mundart einen ganz scharf umrissenen konkreten Sinn haben, während die Wörter der Schriftsprache oft etwas unbestimmt sind, oft schon fast Funktionsverbcharakter zu haben scheinen. Es geht bei unseren Befragungen also keineswegs nur um Laute und vielleicht noch Formen (Pluralbildung usw.), sondern ganz zentral urn Wörter und Bedeutungen. Was wir da zu Tage fördern können, setzt die Gewährsleute oft selber in Erstaunen, wie zum Beispiel jenen Bayreuther Beamten, dem seine Mundart plötzlich als „total andere Sprache" erschien, in der praktisch „kein einziges Wort" mit dem entsprechenden hochdeutschen übereinstimme. Wir haben es eben vielfach mit Facl1spra· c11e zu tun, Fachsprache des Bauern, der Bäuerin, des Handwerkers, und die kann für Überraschung sorgen. Hierher gehört z.B. auch die Vorrich· tung, womit bei ungleich starken Tieren das schwächere einen „ Vorteil'' (oder vortl) bekommt bzw. bekam, d.h. einen längeren Hebelarm aJll Waagbalken. Da man sich das ganz bildlich vorstellen kann und da beiJll Bedeutungswandel immer von anschaulichen Verhältnissen auszugehen ist, wie Jost Trier (1981) meisterhaft gezeigt hat, dürfte auch dieser Begrif{ ursprünglich rein konkret aufzufassen sein, als das Teil, das weiter vor· steht.2 Auch Fachbegriffe des Handwerkers zeigen entsprechende Begriff~· bildung, z.B. in AS 18 der Setzllammer des Küfers, mit dessen Hilfe dte ") Eisenreifen am Fass odrim, 'hinuntergehämmert' (wörtlich „abgetrieben werden können, oder der soang Sarcli (Sehmeiler II, 325) 'best. Schutzvor: richtung bei der Mühle' oder die gof 'Einfülltrichter bei der Mühle GojJ(en) (Schmeller 1, 949) 'Auffüllkasten in der Mühle'. Alle Einsichten, die auf diese Weise zu Tage gefördert werden können, sind nur möglicJl, wenn die Gewährsperson den Befrager versteht und wenn ihr vermittelt 2 Das Wort ist auch ein Beispiel dafür, wie das Fragebuch im laufe der Erhebtlflge~ ständig verändert, vor allem erweitert wurde. Vergleiche zur Etymologie des Wot tes Vorteil aber auch das DWb. mit der Bedeutung „das, was jemand vor anderet1 bekommt" 12, Sp. 1724. <?page no="137"?> ~clic und Identität des Mundartspreclters in Nordostbayern 129 'Werden kann, dass sie (bzw. er) über ein Wissen verfügt, das dem Befrager fehlt. Es ist also ,sokratische Hebanunenkunst' notwendig, d.h. man ~Uss versuchen, den Gewährsmann auf die richtige Spur zu bringen, und ihm, wenn er seine ,sprachliche Schatztruhe' öffnet, durch ungeheuchelte, ehrliche Anteilnahme danken und auch da taktvoli reagieren, wo landläufige ,Billigware' aufgetischt wird. Nicht nur Neugierde, auch das griechische Sichwundern kann zu kleinen Entdeckungen führen. Hierzu ein Beispiel: Im Ostfränk. wird / x/ + / s/ zu / ks/ nicht nur in den Fällen, wo wir die Entwicklung auch im Nhd. haben (in Fällen wie wachsen), sondern auch über Morphem- und Wortgrenzen hinweg. In Bayreuth gab es ein Kino namens Reichsltof, das aUgemein / miksltof/ (also mit ks) gesprochen wurde. Auch der Ab- ~hie~sgruß macl1's gut wird / mnksgii.d/ gesprochen. Als ich zum ersten l al z ksia (11imma goud) für 'ich sehe („.)' hörte, dachte ich, dass dieses autgesetz offenbar auch in dieser Stellung zum Tragen komme, also/ ix/ ~/ sia/ -+ / i ksia/ . Allerdings lautet das Pronomen der 1. Sg. in dem Ge- . iet, wo die erwähnte Erscheinung beobachtet wurde, gewöhnlich nicht ~.t, sondern i, und noch entscheidender: Wir finden die Erscheinung auch 1 ~ der 2. Sg., also auch du ksiasd (nimmer gut). Die Vermutung kann also llic: ~t richtig sein, vielmehr liegt offenbar ein präfigiertes Verb g-sea, 1. Sg. g-sia usw. vor, das an schweizerdt. gse 'sehen' erinnert. Nur hat in den ~treffenden Mundarten bei uns das g-sea das einfache sea nicht ersetzt; es ~bt vielmehr ein Verbpaar sea und gsea, und die beiden Verben sind nicht ~deutungsgleich. Wenn ich z.B. von einem Reh am Waldrand sage sias 11 'tld, dann bedeutet das 'ich sehe es nicht, ich kann es nicht erkennen' ~\.veit ich z.B. in die falsche Richtung gucke). Im Gegensatz dazu bedeutet 8 .er Satz i gsia 11i111a go11d ,ich kann nicht mehr gut sehen, meine Augen bnd schwach geworden'.3 Und an dieser Stelle fällt uns ein, dass bei Verc~labstrakta von Sinneswahrnehmungen dieses Präfix in der Schriftspra- G e auch vorhanden ist, man vergleiche das Ge-l1ör, Ge-fiil1l, den Ge-mcli, a e-schmack. Und auch das Ge-sicl1t hatte ursprünglich die entsprechende : deutung (DWb. IV 1, 2, 4087). Einen anderen Fund machte eine Kolle- ~n ganz im Süden des Landkreises Regensburg mit dem Adjektiv sOdt ~ad, für das Sehmeiler die Bedeutung in so unübertrefflicher Weise wie ~ tt angegeben hat: ein Tag, „an welchem die Sonne, ohne daß es regne, ~·c t Oder nur abwechselnd durch die Wolken bricht" (Sehmeiler 1, 1420). n'n anderer Explorator erkannte,. dass man nur von einem liegenden i\1.! rn das Adjektiv lang verwenden kann; ein stehender ist dagegen ltocli. Ein dem g-sea entsprechendes •gel1ören ist allerdings nicht belegt. <?page no="138"?> 130 Robert Hinderling überrasche nd auch das Wort Itisttn 'freie Zeit nach der Heuernte' (AS 15) USW. Beim Erfragen des Wortschatzes korrunt eine besondere mctasprachliche Figur zum Einsatz, die ich Metaspraclre am Beispiel genannt habe.• Wenn der Bauer aus dem Landkreis Kulmbach sagt: „mir pjligg'12 1<1111a äpfl", dann will er nicht sagen, dass man bei ihnen die Äpfel stattdessen schüttelt oder hängen lässt. Das wird schon durch die Betonung im Satz deutlich: der Hauptton liegt auf dem Verb, das damit in Opposition zu möglichen anderen Verben des Pflückens gesehen wird. Der Sinn des Satzes ist also: Wenn wir die Äpfel ernten, so sagen wir dazu nicht pjlt1· cken, sondern wie sich aus dem Zusammenhang ergibt reißen. Die Wörter, die auf diese Weise metasprachlich in den Blick rücken, sind meistens Verben, müssen es aber nicht unbedingt sein. Im Satz aus BA 18 11 mir folir'n misd", ist das Objekt in diesem Sinne metasprachlich· kontrastiv betont. Die Bedeutung des Satzes ist: Wenn wir Gülle auf del'I Feldern ausbringen, dann sagen wir dazu nicht }a11clre oder sdnids Jollr' 111 sondern bei uns heißt es Mist Jal1re11.s 3 Mundart und Schule Unsere Mundartsprecher sind aJle in gewissem Sinne zweisprachig. Al· Jerdings sind die zwei Systeme, das Hochdeutsche und die jeweilige nordbairische oder ostfränkische Mundart in unterschiedlichem Grad~ bewusst. Indem im und am Hochdeutschen Lesen und Schreiben gelefll' wird, wird diese Schrift- und Kultursprache geradezu bewusst, zum O~ jekt, zum wichtigsten Lehr- und Lerngegenstand in der Grundschule. pie Erreichung des Lernziels ist so scheint es in gewissem Sinne davoJI abhängig, dass es gelingt, den Lerngegenstand zu isolieren, d.h. als etwas Eigenes klar von den bisherigen sprachlichen Erfahrungen der ((inder abzugrenzen. Die Mundart geriet dabei ins Blickfeld nicht als das Attdere, . ehe, sondern als das weniger Gute oder gar als das Schlechte, das Unlogis_ h Willkürliche, Unordentliche bis hin zum Hässlichen und sogar morah 5' Minderwertigen. In Norddeutschland, WO Dativ und Akkusativ im rr; ; nomen der 3. Sg. (seit altsächsischer Zeit! ) zusammengefallen sind, .wur • Vgl. Hinderling 1996. ill' 5 Nach Erich Scidclmann (1995: 182) konunt diese metasprachlkhe Figur audt 1 si Material des Südwestdt. Sprachatlasses vor. Sein Beispiel lautet: ts. Ha11er .„ saS~S'' wörtl. 'im Dorf Hänner sagen sie', d.h. sprechen sie das Verb sagen nicht als s sondern als sage aus. <?page no="139"?> ~ehe und Identität des Mundartsprechers in Nordostbayern 131 der tödliche Spruch geprägt: „ Wer zwischen mir und mich nicht unterscheiden kann, kann auch zwischen Mein und Dein nicht unterscheiden." Eine solche geradezu rassistische Einstellung dürfte in vielen Fällen den ~chulalltag auch der Leute geprägt haben, die wir 50 bis 80 Jahre später interessiert nach den Wörtern ihres Dialekts befragten. Sie sind oft geprägt davon, dass man ihre Haus- und Elternsprache der Lächerlichkeit Preisgegeben hat, und fühlen sich darum immer wieder dazu gedrängt, nach der Ne1mung des Mundarhvortes auch das hochdeutsche zu bringen, um anzudeuten, dass sie sich in der Welt des Seins auskennen, dass Sie nicht unwissend, nicht dumm sind. Sie nennen zwar das Wort scl1111ecf<en für 'riechen', schieben aber nach, dass dies „richtig" nur von der Zunge gesagt werde. Dieser Drang, nach der Nennung des Mundartworts auc: h das des Hochdeutschen zu nennen, macht auch bei rein landwirtschaftlichen Wörtern nicht Halt. Die Zipfel am Euter der Kuh heißen 5 trich'n, aber „genau sind es die Zitzen" (KU 12). Das 'Streichbrett am Pflug' heißt in AS 22 mollbred, „in Wirklichkeit" aber ristcr. Der Handwerker, der die Fässer herstellt, ist ebenda der biener, „in Wirklichkeit" aber der Biittner. Weicht das Mundartwort von dem des Hochdeutschen nicht ab, Wird oft gesagt, es sei „geblieben". Beim Aufzählen der Jahreszeiten nennt der Informant in AS 23 denfrölling, summer und den liierst und fügt ~a~ offensichtlich befriedigt hinzu „aber der winder, der is blim". In BT d~labd die Wasserlache, in KU 12 bläbd das Sauerkraut usw. Beim Bemühen, •1 e Unterschiede zwischen den zwei Systemen herunterzuspielen, um ~t<: h so nah wie möglich von der ,Glucke Hochdeutsch' geschützt zu füh- ; n, Werden kleinere Unterschiede in Kauf genommen, d.h. unberücksichd~~ gelassen. Und so heißt es, dass der ztilt (Zahn) bleibe; und ebenso lrpp'm, der braidic11am, d'schissl usw. bleiben. Das Erhaltenbleiben wird auc: h durch andere Wendungen ausgedrückt. Ein humorvoller Mann sagt \>oll\ Maulwurf: „den Ioss'mer bestimm" (den lassen wir beisammen). Da : an die Mundart geradezu als „falsch" ansieht, kann es auch heißen, ~s etwas „nicht verdreht" wird. „Die ganz Nacht" ist in diesem Sinn ~eh~ vedrad, der Dezember nicht viel g'm11dlt 'umgemodelt' worden (AS · Ein alter Mann in WUN 10 kritisierte seine Mundart wie folgt. Zuerst ~annte er das gewünschte Mundartwort (z.B. sdroufgrom), fügte aber l\ 0 Pfsc: hüttelnd dazu: „da hätte man ja gleich Straßengraben sagen kön- ~·n". Noch feindseliger klang das Urteil eines Mannes: „immer dieses <l tsc: ~zeug" (BT 22). Neben Mundart und Hochsprache tritt oft auch eine aiw1schen liegende Umgangssprache (die Belege dafür im Folgenden <?page no="140"?> 132 Robert Hiuderling gesperrt geschrieben) auf. Auf die Frage nach dem Plural von Fucl1s wur· de geantwortet: „wem1's meltrer f i c „ s Sfltl, dann saus fi1cl1s't1 11 (NEW 23). Ähnlich erklärt unser Mann aus KU 12 den Ausdrnck zwu ki11 1 zwei Kühe' (mit der femininen Form des Zahlworts) so: „also dessen z w a kill", in AS 12 wird zufos 'Fass' ergänzt: „allerhand f ö s sind fosser'', in AS22 „we11n's melirer f ö 11 a sind, dan11 sind es ßma", ähnlich bei der Steigerung: „wenn er gloiner ist, isa gleucr'' (WUN 14), und in BT 3 wird die Bedeutung eines Richtungsadverbs wie folgt erläU· tert: „no hasd immer n 11 / 1 da". Viele Wörter sind heute so gut wie ausgestorben und werden nur noch als Erinnerungsformen genannt. 11 Kloider-kast11 sagt heute kein Mens~h mehr", so die Befragten in BT 9. Nicht mehr sagt man in AS 13 Jieize/ 11 fil. 1 das 'Schleifen auf dem Eis', nicht mehr flodem für das 'Spillen der Wä· sehe' in AS 11 (was auch mit Sachwandel zu tun hat, denn das Flodert 1 geschah am Bach; heute besorgt es die Waschmaschine). Der besonders kritische Mann aus HO 10 konunentierte unsere Fragen bzw. seine j\nt· worten mit einem verächtlichen „Jahrhundertwende". Aber auch weiter südlich wird der Sprachwandel erkannt. Die alten Ausdrücke sind schj „a weng verlor'll", sagte man in BT 22. „Dej junge läid wiss'n des nimttt~ oder 11 g'l1ert liobis vo main laitn" 'von meinen Eltern' (AS 12). Und eine unvergessliche Frau aus AS 9 sagte bedauernd: „di 11ama kmuma o" 'V~ schwinden, sterben aus'. Eine andere Per son sagte: „die ganzen ausdrt tl tun sielt a weng verhochdetttsclzen" (BT 3). Den Sprachwandel erkennt tl'll J\ auch an den Reaktionen der jüngeren Familienmitglieder, die oft an de, Befragungen teilnehmen. Gelegentlich kommt Bewunderung zum A~~ druck wie bei der Enkelin, die nach einer Befragung sagte: "Von al e 1 diesen Wörtern habe ich bisher kein einziges gehört." Man erlebt a~: 1 andererseits auch Zurechtweisung der Alten durch die Jungen. In g Nähe des Truppenübungsplatzes (Grafenwöhr), wo die „Verbalendll! ljt -ein noch -lau lautet, also nagla11 für 11agel11, befragte ich in Anweseolte <?page no="141"?> ~he und ldenlität des Mundartsprechers in Nordostbayern 133 Von Sohn und Schwiegertochter einen 90-jährigen Mann. Bei nageln angelangt, fragte ich, ob man auch 11agla11 gesagt habe. Der alte Mann war gerade dabei dies zu bejahen, als ihm die Schwiegertochter über den ~Und fuhr und sagte: „na, na opa, des song mir 11iad! ". Er hat seine Form ~Grab mil·genommen „. Nicht weit entfernt davon versuchte ein Enkel die Aussage seines Großvaters „grob zu verhindern", wie der Explorator ~hrieb. Angehörige können die Gewährsperson aber auch zu besserer Undart anhalten. Die aus der Bamberge r Gegend stammende Ehefrau korrigierte die Aussprache Weib ihres Oberpfälzer Mannes mit den Worten „ba sagt ihr nicht" (NEW 6). Der Mann gehorchte und sagte „wai'". 1 Es gibt aber auch Sprachwandel, der gar nicht wahrgenommen wird. "fn FO 9 sagte die alte Bäuerin: „mid 1mnan katzan semmer zefried11." Ihre lJ 0 chter sagte dazu: „So sage ich auch, mid mma katw semmer zefriedn." ih nd schließlich fiel auch noch die Enkelin ein und wiederholte den Satz Ster Mutter. Keiner der drei Personen war aufgefallen, dass sich die pfrache der Großmutter in einem wesentlichen Punkt (Endung des Dat. .) markant unterscheidet. Sprecher und Sprache ~iel~ der von uns Befragten werden im Laufe der Aufoahme zu kleinen Prachwissenschaftlem. Wir haben gesehen, dass sie über einen Begriffsapparat verfügen und zum Beispiel von „Vergangenheit" und „Mehr- Z~hl" sprechen. Dabei können die Begriffe allerdings gelegentlich durch- ~nander geraten. Zum Infinitiv dresche11 wurde spontan ergänzt: „die \\t ehrzahl ist droSti". Die Übersetzung der Vorgabe 'mit den Zähnen' ObUtde mit der jüngeren Form miti tse wiedergegeben. Auf die Nachfrage, M ll\an auch mit'u tsenaii sagen könne, wurde geantwortet: „ja, in der z ~h.~zahl". Ein tolles Missverständnis war die spontan genannte „Mehrda 1 ~Form öl1e1Ja 'anhängen' zu „Einzahl" öbind'n. Dachte der Befragte (\aran, dass man bei einer Mehrzahl von anzubindenden (großen) Tieren netten benötigt (die Tiere also a1111ii11gen muss), während man ein einzel- ; : .s 1'älblein mit dem Strick anbinden würde? Wie fein das Verständnis ? \ •n kann, scheint mir das folgende Beispiel zu belegen. Bei der Frage ; eh dem Ga11g (im Kuhstall) nannte der Bauer ohne Zögern gäl} und a~änzte dann „g'11J wären es in der Mehrzahl" und schien mir damit ~e Udeuten, dass der Plural bei diesem Wort selten, vielleicht sogar un- \li '~öhnlich ist (vgl. oben). Vor allem ist für uns eine große Hilfe, dass e e Leute buchstabieren können. Das Wort für den Honig (hil)k) wurde <?page no="142"?> 134 Robert Hinderling als „h-i-n-k" buchstabiert, 'heuen' (l1ae11) ist „h-e-g-n", Roltr (räuua) ist „r-a-o-a", die Ac11selhöJtle (JieL) ist „h-e-1", Buttermodel (modl) wfrd als „mo-r-d-1" buchstabiert, und Butter (huren) sollte „mit tswä r" geschrieben werden. Auch einzelne Wortbestandteile werden entsprechend benannt. Der Komparativ teifa 'tiefer' wird „mit tswä f' 'mit zweif geschrieben, der Dental in li11ksl1enta „mit zwei d" und sibä wird mit ä gesprochen (NEW 6). Auch Endsilben können so benannt werden. Es können auch einzelne Wortteile kritisiert und mit kontrastiver Betonung richtig gestellt werden. Es heißt nicht Vater, sondern vola. Oft wird auch nur festgestellt, dass die Schwierigkeit der Schreibung der eigenen Wörter den Sprechern sehr wohl bewusst ist. Der mehrfach erwähnte Mann aus KU 12 sagt: „ich gläb, ich ke1111t's gor ned scl1rei'111". Natürlich schauen uns die Befragten beim Transkribieren über die Schultern, machen auch Verbesserungsvorschläge. Ein humorvoller Mann kommentierte meine Schreibversuche mit einem spöttischen „braung mer widder l1ieroglypl1'11? " (BT 7). Besonders willkommen sind Bemerkungen zur Lautung bei den Kon· sonanten. Der Reibelaut im Plural 'Fische' (fisS) werde „schärfer betont" als im Singular (AS 34), dafür hat mül 'Milch' bloß holwads (halbes)/ . Auch nur latente Elemente werden genannt. Bei bi'Biene' ist das „d davor", d.h. es ist strukturell / d'bi/ 'die Biene'. Zur Aussprache setempa 'September' sagt die befragte Person: „mia liii11 as pi as" und verwendet dabei den bai· rischen Buchstabennamen, wofür die Franken „liardes be" sagen. Überhaupt sind „ausgelassene Buchstaben" besonders leicht zu benennen. In moila 'Mädchen' wird das d nicht ausgesprochen und in deastes 'darfst es' fehlt das f. Ein besonders kluger Gewährsmann, dem auch der Begriff Nasal bekannt war, sagte zum Plural nama 'Namen', da sei „a we11g a Umlaut drin" (AS 15). Als Grundmerkmal gilt, dass in der Mundart alles okirzt ,abgekürzt' wird, wie dem Gewährsmann am Gegensatz von beck und Bäcker klar wird (AS 23). Auch Homonyme sind bekannt und geben zu Scherzen Anlass. „Häid ltobi g'ackert" 'heute habe ich geackert' könnte auch eine Henne von sich sagen (BT 7). Auch die Mundart kennt Stilschichten. „Dej 1ieg'11 ist ! ! ! .ro! dialekt als sie Iieg'n" (AS 17), und a·grouffa 'angerufen' ist nach der Gewährsfrau in AS 16 nicht richtige Mundart (sie erwartet schwache Flexion). Die sprachliche Identifizierung mit der eigenen Mundart ist ohne Zweifel schwierig. Immer lauern die Verächtlichmachung und der Spott, und die Sprecher antworten darauf mit Unsicherheit. Dabei kann man, glaube ich, drei Haltungen unterscheiden, die die Sprecher solchen An· fechtungen gegenüber einnehmen. Die erste möchte ich ,Anbiederung' nennen. Man stellt den Unterschied zum Hochdeutschen als nicht vor· <?page no="143"?> Sprache und Identität des Mundartsprechers in Nordostbayern 135 handen oder jedenfalls gering dar. Hierzu gehören die erwähnten Aussagen, dass man „genau so" spreche wie im Hochdeutschen oder „nicht anders" und dass die Wörter „bleiben'', dass man so und so „schon auch" sage. Herz „so heißt es, das ist schon das Herz", Mälidresclter „Juisd sclw mäidre5a". Von vielen Wörtern, die nur wenig von der hochdeutschen Umgangssprache abweichen, heißt es: „Das sagen wir nach der Schrift" usw. Die zweite Haltung möchte ich ,Abschieben' nennen. Man übernimmt das negative Urteil, lastet es aber den Anderen an. Wenn es um eine bestimmte Form oder Aussprache geht, wird gesagt: „Ja, so sagen sie" (also die Anderen). Die Verachtung der eigenen Sprache gegenüber war einmal so widerwärtig stark, dass ich die Erhebung abbrach und trotz heftigen Schneegestöbers wegging. Die dritte Haltung ist dann das ,Bekenntnis' zur Mundart, von der schon oben die Rede war. Zwei etwa 15-jährige Mädchen hatten so erkannt, dass es für das Adjektiv narsd1 im Hochdeutschen eigentlich keine Entsprechung gebe. Man findet auch erstaunliche Anpassungen des Kulturwortschatzes in der Mundart, die Adolf Bach lediglich als Besonderheit des Schweizerdeutschen kannte (roti bluetkörperli). In ähnlicher Weise sprach eine Person in AS 33 von Bloudvergifling. Weit verbreitet ist auch die W? ring 'Währung', gemeint die 'Währungsreform' von 1948. 5 Sprache und Konfession Verstärkt wird die idcntitätsstiftende Kraft der Sprache, wo sie mit anderen soziologischen Gegebenheiten parallel geht. Eine solche Konstellation fanden wir in Dörfern, in denen es zwei konfessionell bedingte Varianten gibt, was wir Konfessiolekt genannt haben. In folgenden Erhebungs-orten konnten wir solche Sondermundarten antreffen: Hinterkleebach BT 18, Funkendorf (Ortsteil von Prebitz BT 20), Höfen BT 31 und Postbauer NM 7. ln Postbauer sind die zwei lautlich deutlich unterschiedlich sprechenden Männer beide alteinheimisch und stehen als Nachbarn in ständigem Kontakt miteinander (es herrschen also keineswegs nordirische Zustände). Die evangelischen Einwohner holten sich ihre Ehepartner meist aus Mittelfranken bzw. dem Nürnberger Umland, was ihre oft stärker fränkisch geprägte Sprechweise verständlich macht. Deutlich unterschiedlich ist zum Beispiel die Bildung der 2. Pl. des Verbs, wo die evangelischen Cewährspersonen die Endung -ts nach Verschlusslaut zus vereinfachten, also: (ihr) jlejks 'fliegt', kums 'konunt' usw. gegenüber katholisch (ihr) <?page no="144"?> 136 Robert Hinderli11g säc/ its 'seht', souc11ts 'sucht', lejkts 'lügt' usw. Die evangelische Gewährsperson hat auch ostfränkische Lenisierung der Konsonanten (also wasa gegenüber wäfa). Im FaHe von Hinterkleebach haben nur die evangelischen Gewährspersonen die Entrundung, während die Katholiken wie die westlich anschließenden Gebiete ö, ü und öu bewahrt haben, also sehe gegenüber sc11li, müsd gegenüber misd 'müsste', nai 'neu' gegenüber 11oe 'neun'. Außerdem hat die katholische Gewährsperson meist helles a, während die evangelische oft leichte Verdumpfung zeigt. Die konfessionell bedingten Varianten hängen offensichtlich mit der bayerischen Einrichtung der Konfessionsschule zusammen (die bei der ersten in Bayern durchgeführten Volksabstimmung 1968 abgeschafft wurde). Wo die Dörfer konfessionell gemischt waren, mussten die Angehörigen der einen oder beider Konfessionen in Nachbarorten unterrichtet werden, die diese konfessionsgeprägte Unterweisung gestattete. In Höfen (BT 31) gingen die evangelischen Kinder in die Schule und Kirche nach Plech {BT 30), die katholischen nach Neuhaus/ Pegnitz (südlich von BT 31}. In Hinterkleebach liegen die Kirchen, die von den Gemeindemitgliedern besucht werden (Lindenhardt bzw. Poppendorf), immerhin sechs Kilometer Luftlinie auseinander. Das erklärt das Hineinwachsen in unterschiedliche Mundartvarianten. Mit der Abschaffung der Konfessionsschulen ist diesen besonderen Mundarten der Boden entzogen worden. 6 Literatur Grimm, Jakob und Wilhelm (1854-1954): Deutsches Wörterbuch. Bd. 1-16. Leipzig. Hinderling, Robert {1996}: Wir pflücken keine Äpfel. In: Zeitschrift filr Dialektolo· gie und Linguistik 63, 176-179. Schmeller, Johann Andreas (1985): Bayerisches Wörterbuch. 1-11. Sonderausgabe der von G. Frommann bearbeiteten 2. Ausgabe 1872-77. München. Seidelmaim, Erich (1995): Z BUslinge i de Hörgass. In: Harnisch, RUdi· gcr/ Eichingcr, Ludwig M./ Rowiey, Anthony (Hrsg.): „ ... im Gefüge der Spra· ehe". Studien zu System und Soziologie der Dialekte. Stuttgart, 177-187. Trier, Jost (1981): Wege der Etymologie. Berlin. <?page no="145"?> Identität durch Sprache in der neueren deutschen Literatur Hans-Werner Eroms 1 Einleitung Ich möchte in meinen Überlegungen zu sprachlichen Identifikationsmustern in der deutschen Gegenwartsliteratur zwei Fragen nachgehen: Eintnal, in welcher Weise Roman- und Erzählungsfiguren in ihrer Sprech- Weise so gezeigt werden, dass diese nicht als bloßes Kolorit erscheint, sondern die Individualität unterstreicht. Da dies weit über die Möglichkeiten des Linguisten hinausgehen wurde, beschränke ich mich zweitens auf den Dialektgebrauch und zwar in Konfrontation zu anderen Sprachhaltungen. Dialektale oder regionale Sprechweise ist in der Literatur zwangsläufig immer ein sti.listisches Merkmal. Wir unterstellen dabei allerdings die Homogenität der Standardsprache. Wenn etwa in den Bttddenbrooks einzelne Figuren niederdeutsch oder bairisch sprechen, so werden sie damit zweifach charakterisiert, einmal als einer bestinunten Region, andererseits einer sozialen Schicht zugehörig. Ihre regionale Einbettung gibt dem Roman regionales Kolörit.1 Einen etwas anderen Stellenwert hat das durch den Dialektgebrauch vermittelte regionale Kolorit in Werken, bei denen die Personen durchgängig und ausnahmslos im Dialekt sprechen, wie etwa die Rumpelllam1i von Lena Christ. Hier wird die natürliche Sprechsituation simuliert, der Dialektgebrauch hebt nicht einzelne Personen hervor, sondern bildet die Sprache einer Region ab. Zeitliches Kolorit wird in den Buddenbrooks etwa durch die „gehobene", Archaismen aufweisende Sprechweise der Figuren vermittelt. Was die Schichtenzugehörigkeit betrifft, so ist sie an die Figurencharakteristik gekoppelt. Diesem Phänomen möchte ich im Folgenden für einige wichti- Stilistisches Kolorit wird in der Auffassung von Riesel/ Schendels {1975) durch konnotative Faktoren vermittelt. Es ist ein wichtiges stilistisches Potential. In einer Markiertheitshierarchie ist der Einsatz von dialektalen Merkmalen nur in natürlichen Sprachsituationen, d.h. in der gesprochenen Sprache einer bestinunten Region neutral. Er gibt hier einen Stilwert ab. In allen anderen Funktionalstilen ist der Dialekt markiert, d .h. er ist auffälliges, durch stilistische Waltl erklärbares expressives. Phänomen. (Zu Stilneutratität, Stilwerten und Stileffekten vgl. Eroms 1995). <?page no="146"?> 138 Hans-Werner Eroms ge Schriftstellerfnncn der deutschen Gegenwartsliteratur nachgehen: Gilnter Grass, Martin Walser und Ulla Hahn. Meine Aussagen sind damit sicher nicht repräsentativ für die Charakterisierung der deutschen Nach· kriegsliteratur schlechthin, doch zeichnet sich eine Tendenz deutlich ab, der man genauer nachgehen müsste: Der Einsatz des Dialekts zur Figu· renkennzeichnung ist ein je spezifisches autortypisches Mittel, er ist konform mit anderen stilistischen Mitteln der Autoren. Dies ist ein Ergebnis, das unter allgemeiner stilistischer Perspektive nicht überrascht. Genauer zu ermitteln wäre aber generell: Wie sprechen eigentlich die Figuren überhaupt? Sind sie individuell in ihrer Sprechweise charakterisiert, oder reden sie so, „wie der Erzähler sprechen würde"? 2 Bei Günter Grass finden sich häufig solche Passagen. Ich gehe noch kurz darauf ein. Pauschal lässt sich sagen, dass das Mittel der dialektalen oder regionalen Kennzeichnung nicht sehr extensiv genutzt wird. Um so auffälliger ist es, dass sich überhaupt ein markierter dialektaler oder regionaler Sprachgebrauch findet; er wird eingesetzt, um die Figuren hervortreten zu lassen. Ob und wieweit sie sich mit ihrer Regionalsprache identifizieren, ist wiederum sehr unterschiedlich. Unter meinen drei Autorinnen ist es einzig Ulla Hahn, die die Problematik der Sprachwahl thematisiert. Der Selbstfindungsprozess ihrer Heldin ist eine Auseinandersetzung mit der Sprache, in die sie hineingeboren ist. Bei Martin Walser bietet sich an, seine metasprachlichen Aussagen mit der Sprechweise der Figuren seines <Euvre zu konfrontieren. Bei Günther Grass ist ein weiteres interessantes Faktum zu konstatieren: Am Danziger Dialekt, besser am Festhalten daran, wird eine Konstante in seinem Werk sichtbar. Ihm wende ich mich zunächst zu. 2. Günter Grass 2.1. Im Krebsgang In seinem jüngsten Werk Im Krebsgang begegnet uns die vor allem aus den Hundejahren bekannte Tulla Pokriefke wieder. Sie ist inzwischen Großmutter, lebt in Schwerin, ihr Leben seit der Flucht aus Danzig wird gerafft erzählt; sie ist mit der Nachkriegszeit mitgegangen. Ihre Danziger Sprache hat sie aber vollständig bewahrt. 2 Sprachwissenschaftlidle Analysen von Dichtung sind immer noch selten. Hier s~ auf Lerchner (1986), Nikula (1990), Luukkainen (1997) und Betten (1998) sowie a die Sammelbände von Wellmann (1993) und Fix/ Wellmann (1997) verwiesen. vas Defizit wird auch von Crossc (1998} beklagt. <?page no="147"?> Identität durch Sprache in der neueren deutsclten Literatur 139 Im Krebsgnug sind die Personen nicht wie häufig bei Grass über ihre Sprache identifiziert. Die Erzählersicht hier ist es der Sohn der Tulla Pokriefke dominiert so stark, dass die Personen nicht in einer möglicherweise spezifischen Sprachhaltung hervortreten. Sie gewinnen ihre Kontur über ihre Aktionen, allenfolls über den Gebrauch sprachlicher Versatzstücke, wie etwa bei Konny, Tullas Enkel, der die Rechte-Szene- Sprache übernimmt. Aber es gibt eine markante Ausnahme. Das ist Tulla selber. Sie spricht fast durchgängig Langfuhrer Dialekt und ist darin gleichsam auch die Portsetzerin der Anna Koljaiczek aus der Bleclitro111111el, der Kaschubin.3 Da Tulla ständig im Buch präsent ist und nur sie es ist, die Dialekt oder Uberhaupt nur ·eine deutlich individuell gefärbte Sprechhaltung aufweist, erscheint sie damit als dominante Hintergrundfigur und transportiert auf diese Weise die Danziger Sprechweise, die ja am Ort allenfalls noch in Resten existiert, für die deutsche Sprachgemeinschaft aber vergangen, fossifiert ist, in die unmittelbare Gegenwart. Tulla hat den Untergang der 'Wilhelm Gustloff" überlebt und während der Katastrophe ihren Sohn geboren. Die etwas aufdringliche Symbolik lasse ich auf sich beruhen. - Tulla kommentiert im Zitat durch ihren Sohn alle wichtigen Stationen des Untergangs, immer aber nur in kurzen Passagen: „Kam alles ins Rutschen. Kann man nich vcrgässen, sowas. Das heert nie auf. Da träum cch nich nur von, wie, als Schluß war, ain aiitziger Schrei ieberm Wasser losjing. Oml all die Kinderchen zwischen die Eisschollen ..." (S. 57) Was den Dialekt betrifft, so weist er die generell ostmitteldeutschen Eigenschaften auf, etwa die Entrundung oder die Spirantisierung von g, ~azu die spezifischen niederpreußischen, vor allem die Senkung von kurz 1 Und u zu e und o. Ihr Sohn sagt: Ich weiß nur, wie Mutter gerettet wurde. „Glaich nachem letzten Bums jingen bai mir die Wehen los ..." Sobald sie, als ich ein Kind war, davon erzählte, glaubte ich, eine lustige Abenteuergeschichte zu hören. „Na, ond denn hat miä der Onkel Dokter schnell ne Spritze verpaßt „." Vor dem „Pieks" habe sie richtig Angst gehabt. „Aber mitte Wehen war Schluß denn." (S. 138) Wie man an solchen Stellen sieht: Die dialektale Sprechhaltung Tullas Wird im Zitat angeführt. Nur vor Gericht redet sie Hochdeutsch (S. 179) 0 t: ! er wenn sie über das sowjetische U-Boot spricht, das die 'Wilhelm ~Ustfoff' versenkt hat (S. 140); dann verwendet sie sogar die offizielle b: R~Sprachhaltung. 3 Ft ine längere Dialcktpartie z.B. S. 345. <?page no="148"?> 140 Hans-WemC? r Eroms Es gibt in der Novelle aber doch noch eine weitere ,individuelle' Sprechweise. Der Erzähler zitiert mehrfach und dann in einer längeren Passage gegen Schluss ,ihn'. Er sagt: "Niemand weiß, was er dachte und weiterhin denkt. Jede Stirn hält dicht, nicht nur seine. Sperrzone. Für Wortjäger Niemandsland. Zwecklos, die Hirnschale abzuheben. Außerdem spricht keiner aus, was er denkt. Und wer es versucht, lügt mit dem ersten Halbsatz. Sätze, die so begjnnen: Er dachte in jenem Augenblick .„ oder: In seinen Gedanken hieß es ... sind immer schon Krücken gewesen „ .. " (S. 199) Das ist die vorn Erzähler im Hintergrund gehaltene letztlich steuernde Erzählinstanz, der Danziger Chronist. Wenn also über mehrere Vermittlungsinstanzen Tullas authentische Sprechweise direkt zitiert wird, gewinnt sie damit ungeheure Plastizität: Sie ist die eigentliche Hauptfigur in der Novelle. So will sie auch die Schuld für den Mord ihres Enkels auf sich nehmen. „Jicbt kainc Jerechtichkait mehr. Nich das Jungchen, mich hätten sc ainlochcn jemußt. Na ja doch, cch binnes jewcsen, die ihm erst das Computerding und dann das Schicßaisen auf vorletzte Ostern jeschenkt hat, weil se main Konrad· chen persccnlich bedroht ham, die Glatzköppe." (S. 198) In jedem Fall wird die niederpreußische Sprechweise hier bewahrt. Sie wird von Tulla selbstverständlich eingesetzt, aber auch durchaus bewusst. Bei ihr könnte man sagen, dass sie nur gezwungenermaßen vom Dialekt abweicht, der ihre Identität ist. 2.2 Bemerkungen zu anderen Werken von Günter Grass Es ist nicht nur Anna Koljaiczek, die durch die Sprechweise von Tulla wieder aufgenommen wird, auch in den Unkennifen kommt ja eine West· preußin zu Wort, genauer eine Kaschubin, die Erna ßrakup. Sie ist dafür ausersehen, das Zeitgeschehen aus der ,Froschperspektive' zu kommen· tieren. Ein Beispiel möge genügen: 4 „So isses schon cmmer jcwcst. Wenn de Härren da oben nuscht nech mä wi.Ssen, denn machen se Kriech. Ärst habbech jedacht, se z.'lichen ons Feicrwerch, wie frieher war, wänn Dominik jing zuänd. Abä denn habbcch jcmerkt, das~c auf Daibel komm raus alle Arabers mechten kaputt machen. Ond ech hab nuä jefragt, warum man bloß. Is doch och Mänsch, son Araber. Och wänna falsch jemacht häd womeeglich. Wer auffe Welt macht nech falsch! Das frag ech ih· nen, Härr Professä. ls denn noch emmer nech kein Äbannen? " (S. 189) 4 Sprachstilistische Beobachtungen zu den Unke11rufe11 bei Eroms (1993) und Hyväri• nen (1998). <?page no="149"?> lde11tität durch Sprnclze in der neu eren deutschen Literatur 141 Ihre Sprachhaltung steht in Kontrast zu der von Alexander Rcschke, der ein umständlich-korrektes Deutsch spricht und damit deutsche Ordnung, Planung, Gründlichkeit sprachlich vorführt, und Ale xandra Piqtkowskas Sprechweise, die dies kritisch reflektiert und in d e r ähnlich wie bei Walsers ungarischem Mathematiker, auf den ich noch zu sprechen komme, ihr muttersprachliches Substrat durchschlägt. Sie nicht. Alexandra PiC}tkow ska wollte die Sache auf den Punkt gebracht s e-hcn. „Was soll heißen da s, könnte, sollte, dürfte! Ist schöne Konjunktiv. Hab' ich gelernt schon. Aber besser is t: Kann, soll, darf! Wir werden machen sofort da s. Und werden sagen laut, wo Politik aufhört und Me nsch anfängt, nämlich wenn tot ist und nichts mehr in Tasche hat, nur letztes Wunsch noch, wie hat Mama gesagt und Papa, bis zu End' ging, weil si e sind fremd geblie ben, auch wenn Mama bei Ausflug in kaschubische Berge hat gerufen manchmal: Hier ist schön wie z u Haus! " (S . 38f.) Sie manifestiert damit Natürlichkeit, Ungezwungenheit, auch Weiblichkeit gegenüber der etwas starren Männlichkeit Reschkes. In jedem Fall sind diese Sprachhaltunge n elaborierte und zum Teil recht gekünstelte. Auch der westpreußische Dialekt der Kaschubin ist nicht einfach ,natürlich', wie bei Günter Grass praktisch alle stilistischen Charakteristika seiner Figuren in ein verzweigtes System von Funktionen eingefügt sind. Immerhin ist der westpreußische Dialekt hier wie in den anderen Werken Grass', wo er eingesetzt wird, die Sprechweise derjenigen, die in keiner Weise angepasst sind oder unter Zwängen stehen. In den Hrmde1altrc11 1 in denen Tulla eine der Hauptfiguren ist, spricht sie durchgehend den westpreußischen Dialekt, wie auch andere Personen, etwa Walter und Amsel (S. 16). Vorher in der Blechtrommel ist es außer Anna Koljaiczek auch Maria, die mit Oskar im Dialekt redet (etwa S. 220), was allerdings nur selten begegnet. Andere Dialcktformen wer· den durch Korneff (S. 364ff.) repräsentiert, etwa: Meine Frage war nicht nur höflich: „Beschäftigen Sie denn Lehrlinge? " Korncff führte Beschwerde: „Fönf könnt ich atme Arbeit halten. Sin aber kein zu krie· gen. De lern' heut all Schwarzhandel, de Jäck! " (5. 364) In der Blecltlrommel, so hat man den Eindruck, wird Dialekt gewählt, um Lokalkolorit zu zeichnen. Erst in späteren Werken bekommt der regionale Sprachgebrauch die Funktion, als Identifikationskonstante zu fungieren. Das Fazit für Günter Grass ist mithin: Einzig die Personen, die eine ausgeprägte Unbeeinflussbarkeit zeigen, sprechen auch in einer ausgc· Prägten Sprachform. Es sind ke ine Ober· oder Mittelschichtpersonen. Aber bei Grass dominieren ja häufig die unteren Schichten. Aus ihrer <?page no="150"?> 142 Ha11s-Wemer Eroms Perspektive wird die Handlung fokussiert oder auf sie hin zentriert, wie es im Krebsgn11g besonders deutlich wird. Über di e Funktion im Werk hinaus wird der untergehende westpreußische Dialekt auf diese Weise lite rarisch konserviert. 3 Martin Walser Unter den deutschen Nachkriegsschriftstellern ist es wohl Martin Walser, der die bewussteste Einstellung zum Dialekt hat. In seinem Essay Be111erk1mgen über unseren Dialekt von 1967 definiert er den Dialekt - und das ist immer der kleinräumige Sprachgebrauch als die eigentliche Sprache, als „die erste Sprache" (S. 51), als lebendigste, als „das äußerste Gegenteil einer toten Sprache" (ebd.). „Diese Muttersprache" werde man „keinesfalls" los, und sie gibt für ihn offe nbar die Folie ab, „das Unhaltbare" zu entlarven {S. 54), wenn man etwa standardsprachlich fachgebundene Sätze in den Dialekt zurücküber se tzt. Walser tut das mit einigen Beispielen aus der politischen Sprache. Wer in einem „uralten Dialekt aufgewachsen ist, [...] dem entsteht z wischen seiner Muttersprache und der hochdeutschen Sprache eine lebenslängliche Spannung" (S. 55), wobei der Dialekt immer die wahre, echte Ausdrucksmöglichkeit abgibt. Er ist „schwer bestechlich", bringt „das Hochstaplerische" der Hochsprache zum Vorschein (S. 56). So ist er "eine Art Goldreserve", die „dem hoch· deutschen Papier" zugrunde liegt (S. 57}. In diesen Formulierungen kommt eine Hochschätzung des Basisdia· Iekts zum Ausdruck, die, so beachtenswert sie ist, doch als ein wenig konventionell verstanden werden könnte. Denn das sind unbezweifelbare Einsichten über die Primärsprache, die die Folie für alle späteren Sprech· weisen abgibt. Aber es wäre verfehlt, Walser der Unoriginalität zu zeihen. Schon in dem Essay werden die sprachlichen Verhältnisse differenzierter angesprochen. Er beginnt nämlich folgendermaßen: Am Bodensee, zwischen Lindau und Fischbach, kann jeder studieren, wie Sprache sich nach politischen Verhältnissen zu richten hat. Wer in den letzten 150 Jahren hier etwas gelten wollte, hat die zugezogenen Münchner oJct Stuttgarter Beamten imitiert. Münchner Bairisch und Stuttgarter Schwät>isch sind zu bürgerlichen Standesmerkmalen geworden. Das Alemannische d~t Eingeborenen wurde zu einem Ausweis für mangelnde Erzogenhcit unJ B! l· dung, die Imitation des Bairischen und Schwäbischen zu einem Karriere-Ind 1Z· Eine Chance hat das Alemannische vielleicht noch auf der badischen Streelce, weil sich hier die bürgerliche lmitationssucht auf eine alemannische Hofhai· tung bezog. (S. 51) <?page no="151"?> Identität durch Sprache in der neueren deutschen Literatur 143 3.1 Ein spri11ge11der Brtmneu Hier wird also das Aufeinanderprallen verschiedener, auch regionaler Sprechweisen thematisiert. Das nun wird in seinem autobiographischen Roman Ei11 spriugeuder Bmmrcn literarisch gestaltet. Auch hier ist der Bodenseedialekt die Basis, aber in Johanns Heimatort kommen viele Menschen zusammen: Aus dem innersten Bayern und sogar aus Franken sind Dialekte importiert worden, denen man dann im Ort jeden Tag hat begegnen können. Frau Hopper hat die Tür zum Postraum aufgerissen und gerufen: Schnöi a Bockl aafgemm. Die Postfrau hat gewußt, daß dieser Satz erst in der Welt ist, wenn er Hclmcrs Hcrmine übergeben worden ist. (S. 124) Damit soll gesagt werden, dass alles, was im Ort gesprochen wird, herumgetragen wird, und zwar vor allem durch Personen, die dazu in der Sicht der Ortsbewohner legitimiert sind, durch Einheimische. Diese Helmers Hermine kommt überall herum, sie ist Putzhilfe und trägt das Gesagte weiter. Und Hclmers Hemtine spricht nur Hochdeutsch. Gut, statt sachte sachte sagt sie hofclc-hofclc, aber das sind auch, außer Redensarten, denen im Hochdeutschen die Luft ausginge, die einzigen Dialcktwörtcr, die von ihr überliefert sind. {S. 126) Unter den nicht aus dem Ort stammenden Personen ist es ein Buxtehuder, Dulle genannt (5. 92), der seine Sprechweise bewahrt. Er hält sich an die „Prinzessin", die alles, was im Dialekt gesprochen wird, sofort für alle ins Hochdeutsche übersetzt, besonders Sprüche und Sprichwörter. „Dr seil hot g'seet, a Wieb schla, isch kui Kunscht, abr a Wieb it schla, deesch a l<unscht." [ ... ) Ein Weib schlagen, ist keine Kunst, aber ein Weib nicht schlagen, das ist eine Kunst (S. 99f.) Hier wird also der umgekehrte Weg wie in Walsers Essay eingeschlagen, nicht aus der Hochsprache in den Dialekt, sondern aus dem Dialekt in die Hochsprache übersetzt. Die Prinzessin ist aber eher Mediator, sie erscheint weder negativ noch besonders positiv durch diese Marotte, wie das Buch ja bekanntlich sehr realistisch Johanns Jugendzeit darstellt. Die Figuren leben aus ihrer spezifischen Sprachhaltung, der Dialekt wird nicht als überlegen, primär oder gar als eigentliche Sprache dargestellt. Daher wirkt das Nachwort, das Walser dem Buch "als Vorwort" (S. 407) beigibt, etwas apologetisch. Hier nämlich filhrt er, genau wie in seinem Essay, ein Plädoyer für den Dialekt, indem er den Satz "Ihr werdet Euch Wundern, Vater, wie es Euch da ring wird um die Brust" (S. 409) in Bezug auf das Wort ring analysiert: <?page no="152"?> 144 Ha11s-Wemer Eroms Heutigem Sprachgebrauch folgend, hätte Johanns Vater zu seinem Vater sagen müssen: wie es Euch leicht wird um die Brust. Aber ring ist mehr, darin ist nicht nur leicht, sondern auch weit und wohl. (S. 409) Das kommentiert Walser weiter u.a. so: Warum das Hochdeutsche dieses Wort ausste rben läßt. ohne ein gleichwertiges anzubieten, ist schwer zu begreifen. Das, was als gering jetzt zur Verfil· gung steht, deckt ja nur einen winzigen Teil dessen ab, was ri11g einmal hat s<t· gen können. (S. 409) kh belasse es bei diesen Beispielen. Wenn sich Walser metasprachlich äußert, begibt er sich auf eine Position, in der die Wortfeldtheorie, die etwa den Stellenwert von Ieiclrt in der Gegenwartssprache bewerten können würde, oder die Funktionaistilistik, mit der sich die Funktion der Sprachregister erfassen ließe, nicht vorkommen. Im Roman können die Menschen auch in andere Sprachhaltungen wechseln, etwa wenn die Nazi-Vokabeln verwendet werden müssen. Johanns Mutter allerdings spricht nur Dialekt: Die Mutter benutzte nie ein hochdeutsches Wort. Beim Vater gab es [„.] Mundartwörter nur zum Spaß. Er hatte in der Königlich-Bayerischen Real· schule in Lindau eine andere Sprache gelernt. Und in der Kaufmannslehre in Lausanne noch einmal eine andere. Und im Krieg noch eine ganz andere. (5. 18) Da Johann ein viel engeres Verhältnis zum Vater als zur Mutter hat, wäre es unangemessen, dem Dialekt eine pauschale Höherwertigkeit in der Sicht des Kindes zuzumessen. Johann registriert die Tatsachen. Walser hat häufig gesagt, dass er das als wichtigste Voraussetzung für den Schriftsteller ansieht. 3.2 Dorfe imd Wolf In fast allen Werken Martin Walsers wird Sprache, Sprachgebrauch und Sprachbewertung thematisiert, aber es ist meist kein zentrales Motiv. So ist das Hauptsymbol in der deutsch-deutschen Spionagegeschichte Dorle und Wolf die ,Halbierung'. Halbierte sind die Menschen jeweils in Ost und West oder besser, sie müssten sich eigentlich so empfinden, tun es aber nicht. „Aber er wunderte sich, warum es keiner ausrief: Wir sind Halbier· te. Und er am meisten." (5. 55), heißt es über Wolf. In diesem Roman kommt der Ungar Ujfalussy vor, der bei EigentüJll· lichkeiten seiner Sprache bleibt, obwohl er seit langem in Deutschland lebt. Er entlarvt Wolf als Spion: · <?page no="153"?> Identität durclt Sprache in der neueren deutschen Literatur 145 Als Wolf schon auf die Wohnungstilr zuging, hörte er Herrn Ujfalussy rufen: Herr Zieger, haben Sie Moment Zeit. Das wird er beibehalten, auch wenn er es längst anders weiß und könnte, dachte Wolf. Aus Anhänglichkeit an sein Vaterland. Wolf be neidete Herrn Ujfolussy um sein unvcrbrauchbarcs, nicht anzuzweifelndes Ungartum. Wolf solle sich setzen. Er h~bc, artikellos und erstsilbenbetont, Überraschung für Wolf. Wolf sagte, er sei in Eile wie noch nie. Oh bitte, rief der Ungar, wo er doch ERgebnis habe, mit mathematischlogische MEthode: ein Mnnn, der spielt KLAvicr ja so gut, aber nicht wagt zu spielen, hat ja Angst vor UMgcbung, und wer hat Angst vor UMgcbung, wenn er sonst ist NORmal? Der SPion! Herr Zieger, nach MA! hcmatischlogischc MEthodc sind Sie ja ein SPion. {S. 112) Wolf und Dorle sprechen kaum ihren heimischen Dialekt. Die westdeutschen und die ostdeutschen Sprachvarianten in allen ihren Fa~etten, vor allem in der Behördensprache, werden durchgängig verwendet, um die Politische Situation zu markieren, nicht um zu zeigen, wie sich die Menschen mit ihrer Sprache identifizieren oder über ihre Sprache zur Identität finden. Wolf missversteht darüber hinaus den Gerichtsvorsitzenden in seiner Sprachhaltung, indem er von dessen ostpreußisch gefärbter, anheimelnder Redeweise auf Zugänglichkeit und Wohlwollen schließt. Der Richter kennt aber keine Gnade. So ist es in dieser Novelle Walsers der Ungar, ähnlich wie bei Grass in den Unke11mfen die Polin, der seine nationale Identität über die Sprache, Und zwar die fremde, erlernte Sprache, aber mit den unverwechselbaren Elementen der Muttersprache zum Ausdruck bringt. 3.3 Der Lebenslattfder Liebe ·· In seinem jüngsten großen Roman, Der Lebenslauf der Liebe, spielt der ~ebrauch des Dialekts ebenfalls zwar keine zentrale, aber doch eine signifikante Rolle. Der Roman beschreibt das Leben der Susi Gern, die in ll: \ehrfacher Hinsicht mit Belastungen leben muss: Ihr egomaner Ehemann Zwingt sie zu einer Lebensweise, in der sie sich mit anderen Männern il~gibt, ihr Sohn Alexander ist extrem labil und ihre Tochter Conny hat eine Behinderung, sie ist nicht zur Selbstkontrolle fähig. Trotzdem nimmt Susi Gern alles an, was ihr auferlegt ist, und gibt insbesondere der Tochter die nötige Zuwendung und Liebe. Diese Conny nun ist trotz ihrer Behinderung äußerst sprachbegabt, sie spricht Fremdsprachen, schreibt ~edichte und erfindet eine Geheimsprache. Vor allem setzt sie den Diaekt der Stadt, in der die Familie lebt, Düsseldorf, ein, um prägnante Statements abzugeben, wie z.B. „Ejal, wat do kütt" (S. 83). <?page no="154"?> 146 Hans-Wcmer Eroms Das Buch hat drei Teile, die wiederum aus mehreren Kapiteln bestehen. Im zweiten und dritten Teil zieht Walser die Conny heran, um ihr an den Kapitelenden gleichsam ,das letzte Wort' zu geben. Im zweiten Teil ist dies jedesmal ein Dialektausspruch. So endet das erste Kapitel des zweiten Teils: Susi küsste sie auf die Stirn und sagte: Du bist überhaupt die Heldin der Welt. Auf dich bin ich am allerstolzesten . Weiß er das auch, fragte Conny. Susi zu Edmund: Ob du das weißt? Edmund zu Susi: Sag ihr, er weiß es. Susi zu Conny: Er weiß es. Und Conny: Dat kutt mech zepaß. (S. 243) Das zweite Kapitel endet so: Als Xandra den Nachruf laut vorgelesen hatte, sagte Conny: Sach ech et nich, hä is de jröttste. (S. 305) Diese Sätze sind eher allgemeine Aussprüche. Besonders deutlich wird dies äm Schluss des dritten Kapitels: Morje es et ooch noch schön, gell. (S. 357) Im letzten Teil des Romans wird dieses Motiv noch etwas abgewandelt· Kapitel 1 endet mit dem im ganzen Buch begegnenden Ritual der Bestäti· gung der gegenseitigen Zuneigung von Mutter und Tochter: Susi sagte: Ich liebe dich. Und ich erst dich, sagte Conny. (S. 382) Am Ende von Kapitel 2 spricht Conny in ihrer geheimnisvollen Privat· sprache. Der neue Ehemann der Mutter, den sie nach dem Tode des ers· ten geheiratet hat, fragt: Was war das für eine Sprache: Und Susi, in Zimmerlautstärke: Ihre eigene· Und Conny: Et kiltt so sinn. (S. 431) Und ganz am Schluss heißt es: ·Dann sagte Conny zu ihr und Khalil herauf: Mer blewe zusamm wie Kätil<e und Tätzke bes zom Lewejottsdach. Susi nickte, konnte sich aber, solange fJ blitzte und knallte und läutete, nicht regen und sich schon gar nicht von l(ha f' lösen. Und er sich offenbar auch nicht von ihr. Conny sagte zu ihnen her~ll ' kh li e~e euch beide. Jetzt lösten beide ihre Münder von einander, ohne ihr; Arme von einander zu lassen, und sagten beide zugleich zu Conny hin: tJit wir erst dich. (5. 525) <?page no="155"?> Identität durch Sprache in der neueren de ut schen Literatur 147 Auch hier sind Connys letzte Worte ein Sprichwort. Susi und Khalil haben mit dem allerletzten Ausspruch das Bestätigungsritual vereinigt; es begeg ne t nun in der wir-Form. In diesem Roman gibt es weitere Stellen, die den Sprachgebrauch, die Sprachc nwahl und die Sprachenproblematik berühren, worauf ich hier nicht we iter eingehen kaim. So überlegt Susi, was man im. Englischen besser ausdrücken könnte als im Deutschen.s De r Dialcktgebrauch jedenfalls, so sporadisch er vorkommt, steht an zentrale n Stellen: Conny sagt ,das Wesentliche', auch wenn es Ve.rsatzstticke und Sprichwörter sind in die schließlich die Volksweisheit eingegangen is t-, in der Mundart. 4 Ulla Hahn: Das verborgene Wort Ulla Hahns Roman Das verborge11e Wort beschreibt die Jugend eines Mädchens, das in einem ländlichen Vorort von Köln aufwächst. Ihre gesamte Dmgebung ist traditionell-bodenständig. Trotz eben erst überstandener Nazi- und Kriegszeit ist es eine festgefügte ,heile' Welt, gesprochen wird ausschli eßlich der heimische Dialekt, auch Hildegard kennt nichts anderes a ls d en Kölner Umgangsdialekt, nur die Sprache der Kirche ist hochdeutsch. Aber die kleine Hildegard hat einen eigenen Kopf. Va ter, Mutter Und Großmutter halten sie für einen „Düvelsbrode" (S. 19), während der Großvater sie mit einem „lommer jon" (S. 21) an den Rhein mitnimmt Und ihr die „ Wortsteine" zeigt, di e man „lesen" kann: Sie enthalte n verborgene Worte, eine geheinmisvolle Zauberwelt, die das Kind für das Enträtseln der Wörterwelt empfänglich macht. Als Hildegard das richtige les en lernt, ist sie sofort fasziniert von a llem Geschriebenen. „ Mit Schreiben und Le sen fängt eigentlich das Leben an" ist auch das Motto des Buches, eine Eintragung auf einer Wachstafel aus Mesopotamien aus dem 4.- S. Jahrhundert n.Chr. Aber mit der Schriftwelt beginnt für Hildegard ein Kampf mit der Sprache; Gesprochenes und Geschriebenes sind zwei nicht zu. vere inbarende Welten. Auf dem Papier gab es keinen Unterschied zwischen isch und ich, Kirche und Kiresche. Las ich, wurde ich eine von denen, die in den Büchern sprachen, hatte nichts mehr zu schaffen mit dem Mädchen aus der Altstraße zwei und liil! r a chlagel\ Wa\sers Spr11chrllfll! )<io nel\ durch, W1? 1'\J\ N •II! wclkr sngt'•' \: Isst: „Schon diese Fonnulierung: ,Eine gewisse Ausstrahlung'. Weg damit. Seit im letz· len Jahr Tschernobyl explodiert war, konnte man das Wort nicht mehr verwenden." (S. 47). <?page no="156"?> 148 Hans-Werner Eroms erst recht nicht mit dessen Beherrschern. Aber die Wörter wollten mehr. Wollten nicht nur richtig geschrieben und gelesen werden. Sie wollten gespro· chcn sein, richtig gesprochen, schön gesprochen. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Mein Fluchtweg aus der Wirklichkeit behindert, beinah verstellt. Es gelang mir kaum noch, Siitze zu lesen, Sinn zu erfassen, so sehr biß ich mich an den Wörtern fest. Jedes ich, mich, dich, jedes das und was hielt mich beim Schlafittchen, bis ich es laut aussprach. Laut und richtig. Ich stellte das Lesen ein. Ich stellte das Sprechen ein. Verzog mich, um meine Ruhe zu haben, weiterhin mit einem Buch hintcm Hühnerstall und blickte trostlos und trot~ig in die Lettern. Wäre nicht Doris an meiner Seite gesessen mit Plisseerock, Hochdeutsch und Bolero, ich hätte mich mit der stummen Seite der Sprache, der Schrift, für immer begnügt. (S. 173) In einem Gewaltakt eignet sie sich die hochdeutsche Aussprache an und wird dafür von der Lehrerin bewundert. Der Preis dafür aber ist die totale Entfremdung von ihren Eltern. Lommer bäde, sagte die Großmutter und bekreuzigte sich. Kumm, Herr Jesus, sei unser Jast un seschne wat de uns bescheret has. Ich betete mit. In meiocrn reinen Hochdeutsch w.ir Jesus unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen. Der Vater sah mich an. Wat sull dat? Das ist richtig, sagte ich. Ach, nä, äffte er. Dates rcschtcsch, un wie mer kalle, dat es nit reschtesch. Nein, sagte ich. Dat heesch: Nä! Die Stimme des Vaters begann zu zittern, Nä heesch dat! Nä! Nä! Nä! Der Bruder lachte un<l machte Mäh, mäh, mäh. Ruhe, brüllte der Vater, wat jidd et do ze lache! Nä heesch <lat, han esch jesäät! Nein, sagte ich. Josäff, sagte die Mutter. Nu aß doch jet. Du häs doch Honger. He häs de da: Bruut un de Woosch. Der Vater griff zu. Wat denks de ejentlich, wer de be 5 · Denks de, dat de jct Besseres bes? Denk jo nit, dat de jet Besseres bes. JaniX bes de, janix! (S. 175f.} Aber das Mädchen weiß sich doch bald zu helfen: Hanni, sagte ich und zupfte die Cousine am Ärmel. Isch weiß wat. Ich hau.e mir angewöhnt, mit Eltern, Verwandten und Nachbarn eine unbestimmte Nt•· schung aus Kölsch und Hochdeutsch zu sprechen. Kölsch filr Belanglose~ Hochdeutsch fürs Wichtige. Reines Hochdeutsch für den Widerspruch. ( · 197) Und so bewegt sie sich zwischen den beiden Polen Bildung/ Hochsprache und Unbildung/ Dialekt. Denn eine echte Vermittlung kann es nicht ge· ben, jedenfalls nicht aus der Perspektive des heranwachsenden Kindes, <?page no="157"?> Identität durch Spracl1e in der neueren deutschen Literatur 149 Und die Entfremdung, die notgedrungen eintreten muss, ist so gefährlich, dass sie mit ihrem Hochdeutsch zwar immer wieder einen Schritt heraus aus der engen Dorfwelt findet, aber damit sich auch in gleichem Maß von . der heimatlichen Geborgenheit entfernt. Geborgenheit bekommt sie selber nach dem Tode des Großvaters in ihrer Familie aber kaum, doch bemerkt sie die Kraft der heimatlichen Sprache, wenn die Cousine Hanni mit deren krebskranker Schwester im Dialekt spricht: Maria, Hanni rtlttelte die Schwester zärtlich an der Schulter. Maria, mir sin doch och noch do. Mir sin doch bei dir, Kenk, sagte die Tante, und ich wunderte mich, wie weich ihre Stimme klingen konnte. Kenk, nächste Woch bes de doch widder dohccm! Bei diesen Worten schluchzte Maria noch lauter, setzte sich aber auf. (S. 335) lJnd sie spricht dann auch ganz natürlich selber im Dialekt: Hanni, sagte ich beim Abschied. Dat mit der Mötz för dat Maria war jut. Ja, sagte Hanni, Ävvcr et hät jo nit janz jeklappt. Ävver die Peröck war nit schlcsch. Wat mens de? (S. 336) Sie kann die Aussagekraft des Dialekts empfinden: Auf einer Theaterfahrt amüsiert sie sich, wie eine Düsseldorferin die 'Nathan'-Aufführung kommentiert: Im breiten Singsang der Düsseldorfer tat sie ihren Abscheu vor den Kostümen, den Kulissen, den Schauspielern kund. Un dat Stuck, sagte sie gedehnt sie hatte gemerkt, dass man ihr zuhörte, und genoß es, während die Frau hinter mir mit eingezogenem Kopf zu Boden sah -, Un dat Stuck, nä, was soll denn unsereins in der modernen Welt mit so >nem alte Jüd un Tempelherrn, und dann auch noch mit nem Scheisch! Wat meinst du, Therese? Un wie die rumlaufen! Dä Schlabber! Konnt mer denen nit wenijstens wat Anständijes anziehen? Dat is doch nit zeitjemäß. Oder? Therese, sag doch auch mal wat dazu? Und dann dat Mobilijar. Wo sc dat nur herhan? Einfach schäbbisch! Dabei hat der doch Jeld, der Nathan, denk isch, Jütische han doch immer jet an de Föß, Pinkepinke, wat Theresjen? Nä, da fahr isch doch lieber nächstes Jahr wieder nach Bad Kissingen. Da jab et dieses Jahr die >Gräfin •.: arizza<. Die Küstüme! Ein Jedischt! Un die Stimmen! >Jem hab ich die Fraun jeküßt<, wat Therese? Am liebsten jing isch hier jetz nach Hause. Wie lange dauert et dann noch? Therese? ! Meinst du, isch halt dat noch aus? Dat Abbo hier, dat wird jekündischt, dat kann meine Mann morjen seiner Sekretärin sagen. Wat, Therese? (S. 341f.} Mit einem Nachbarskind, dem Peter, spricht Hildegard, die sich jetzt nur noch Hilla nennen lässt, beide Sprachen. Peter ist ein Pflanzenkenner. Es war schön, Peter zuzuhören, wenn er von Pflanzen sprach, die er kannte. Was über eine Blume im Buch seines Großvaters stand, konnte er Wort für <?page no="158"?> 150 Hans-Werner Eroms Wort wiederholen. Auf Hochdeutsch mit einem kaum wahrnehmbaren An· flug von Dialekt. Doch er hatte, was er aufsagte, auch begriffen. Fragte ich nach, so erklärte er mir alles noch einmal mit eigenen Worten. Mischle dabei Wendungen aus dem Großvaterbuch und botanische Fachausdrücke iJl\ reinsten Hochdeutsch in seiner Mundart, als spräche er zwei verschiedene Sprachen . {S. 377) Die Mutter hofft, dass die beiden Kinder sich näher kommen und viel~ leicht einmal später heiraten, und ist enttäuscht, dass Hildegard mit dern Peter nur über Pflanzen geredet hat. Die Mutter schaute mich an, als sei ich nun reif fUr Jcckes. Es dat alles? stieß sie ärgerlich heIVor. Wat soll dä Verzäll, wovon habt ihr jcsprochcn? Mit Hochde utsch versuchte die Mutter stets, mich gesprächig zu stimmen (S. 378) Mit ihrer dialektal-hochdeutschen Zweisp1·achigkdt riskiert Hilla nun noch erheblich mehr. Als sie in den Ferien in der Fabrik arbeitet, läuft das Band so schnell, dass die Frauen nicht mehr nachkommen und aus Protest die Arbeit niederlegen. Hilla solidarisiert sich mit dem Arbeiterinnen und dichtet Verse wie Lööf dat Band ze flöck, wäde me r verröck (S. 391) und Dat Band muß langsam Joofe, mir losse us nit för domm verkoofc. (S. 391) Das trägt ihr schweren Tadel der Geschäftsführung ein. Der Prokurist lässt sie kommen, herrscht sie an in Hochdeutsch: Wissen Sie denn nicht, wo Sie hingehören? Da gehören Sie doch einfach nicht dazu! (S. 395) Als sie zu den anderen Arbeiterinnen zurückkommt, fragen die: Wat hät he jewollt? - Dat weeß dä sltlver nit, erwiderte ich in brcilestelll Kölsch. Dä Drisskääl. [=Mistkerl) (S. 395) So gibt es dann auch wieder eine Annäherung an die Eltern. Der Vater fährt eines Tages mit ihr nach Köln. „Ich freute mich und hatte Angst. Wie ·sollte ich mit dem Vater sprechen? Hochdeutsch? Plattdeutsch? Huhdüksch met Knubbele? " (S. 462) Es läuft auf diesen Kompromiss hinaus. · Darin wird sie sogar mehr oder weniger ungewollt durch eine Auto~tät bestätigt: Die Familie hat jetzt ein Fernsehgerät und sieht regelrnäf'SIS die Tagesschau: Politiker sahen alle gleich aus, sprachen wie Lehrer und langweilten. N~' Adenauer gefiel mir. Der, dachte ich, macht es wie ich, spricht nicht richllß <?page no="159"?> Identität du reit Spraclte in der neueren deutschen Literatur 151 h ochdeutsch und nicht richtig kölsch, so verstehen ihn die huhe Diere un Je kleine Lock. Was immer er sagte, klang harmlos und gemütlich. (S. 472) So geht die Jugendgeschichte gut aus. Nach einem Umweg und einem letzten Zusammenstoß mit den Eltern konunt sie doch noch auf's Gymnasium, in die Welt der Bildung aber ihre Schlussworte zum Aufbruch sind „Lommer jonn" (S. 592), die Worte des Großvaters, der ihr mit dem lesen der Wortsteine doch den eigentlichen Zugang zur Welt der verborgenen Wörter eröffnet hat. Auch hier hat der Dialekt, wie in Walsers Le- ~enslauf der Liebe, ,das letzte Wort', wenn dies auch eine stilisierte Aussage tst. Auch Hilla ist eine eigenwillige Person. Aber indem sie sich allmählich auf ,differenzierte Mehrsprachigkeit' einlässt, kommt sie mit sich ins Reine. 5 Fazit Es lässt sich feststellen, dass der Einsatz dialektaler und regionaler Sprachformen in der deutschen Gegenwartsliteratur, wenn es über die bloße Vermittlung von lokalem Kolorit hinausgeht, wichtige Schichten der jeweiligen Werke betrifft. Besonders die Hilla im Verborgenen Wort reibt sich an ihrer heimischen Sprechweise. Ihre Identität findet sie zunächst in der radikal entgegengesetzten Sprachschicht, der Hochsprache. ~ber ihr Selbstfindungsweg läuft auf einen Ausgleich hinaus. Bei Walser l~t es auffällig. dass seine theoretischen Äußerungen zum Dialekt nur e~nen Teil seiner Nutzung im Werk abdecken, wo die Sprachgebräuche die Figuren ganz unterschiedlich charakterisieren. Doch hat der Dialekt häufig eine prägnante Funktion. Es sind fast immer herausgehobene Passagen, die im Dialekt stehen. Bei Grass schließlich fällt auf, dass der Dia- ~kt eingesetzt wird, um einen für das Werk wichtigen Charakterzug der 1_ 1 guren zu zeigen: Hartnäckigkeit, Unbeeinflussbarkeit und Selbständig- "'eit. Insgesamt aber ist mir aufgefallen, dass weder von literaturwissen- ; chaftlicher noch von sprachwissenschaftlicher Seite die jeweiligen Prechweisen der Romanfiguren exakt untersucht worden sind. In keil\ern literarischen Werk sprechen die Menschen ja ,natürlich', sondern S~lisiert, auch und gerade dann, wenn damit natürliche Sprechweise Sttnuliert wird. <?page no="160"?> 152 Hans-Wern er Eroms 6 Qu elle n Christ, Lena (1970): Rurnpelhanni. München. Grass, Günter (1963): Die Blechtrommel. Roman. Frankfurt am Main, Hamburg. Grass, Günter (1968): Hundejahre. Roman. Hamburg. Grass, Gi.lnter (1992): Unkenrufe. Eine Erzählung. Göttingen. Grass, Günter (2002): Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen. Hahn, Ulla (2001): Das verborgene Wort. Roman. Stuttgart, München. Waiser, Martin (1968): Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt am Main. Walser, Ma rtin (1990): Dorle und Wolf. Frankfurt am Main. Walser, Martin (1998): Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt am Main. Walser, Martin (2001): Der Lebenslauf der Liebe. Roman. Frankfurt am Main. 7 Literatur Betten, Anne (1998): Thomas Bernhards Syntax: keine Wiederholung des inuner Gleichen. In: Donhauser, Karin/ Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.): Deutsche Grammatik - Thema in Variationen. Festschrift für Hans-Werner Eroms zunt 60. Ge burtstag. Heidelberg, 169-190. Eroms, Hans-Werner (1993): Ansätze zu einer linguistischen Analyse der ,Unken· rufe' von Günter Grass. In: We llmann, Hans (Hrsg.): Grammatik, Wortschatz und Bauformen der Poesie in der stilistischen Analyse ausgewählter Texte. Heidelberg, 25-41. . Eroms, Hans-Werner (1995): Syntax und Stilistik. In: Jacobs, Joachim/ von 51? "" chow, Arnim/ Sternefold, Wolfgang/ Vennemann, Theo (Hrsg.): Syntax. Eln internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin, New Yor~ 1528-1545. Fix, Ulla/ Wellmann, Hans (1997): Stile, Stilpr5gungcn, Stiigcschichte. Über EpO· chen-, Gattungs- und Autorenstile. Sprachlkhe Analysen und didaktische AS· pektc. Heidelberg. . Grosse, Siegfried (1998): Lyrik und Linguistik. In: Kämpcr, Hcidrun/ Schnndt. Hartmut {Hrsg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. ßet· lin, New York (Institut für deutsche Sprache. Jahrbuch 1997), 43·58. Hyvärinen, lrma (1998): Zur lcitmotivischen Lexik in Günter Grass' Erzählull~ ,Unkenrufe' und der finnischen Übersetz ung ,Kellosammakon hunto'. fll. Donhauser, Karin/ Eichi.nger, Ludwig M. (Hrsg.): Deutsche Grammatil< ~ Thema in Variationen. Festschrüt filr Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 203-214. • Lerchner, Gotthard (1986): Sprachform von Dichtung. linguistische UntersuchUJl gen zu Funktion und Wirkung literarischer Texte. Berlin, Weimar. . • Luukainen, Malti (1997): These, Antithese, Synthese. Zu Wandel und 6eständ 1 S keit des Sprachstils im Werk von Christa Wolf 1961·1996. Hamburg. <?page no="161"?> Identität durcli Spraclte in der neueren deutschen Literatur 153 Nikula, Henrik (1990): Warum sind literarische Texte linguistisch interessant? Vaasa. Riese), Elise/ Schendels, Eugenie (1975): Deutsche Stilistik. Moskau. <?page no="163"?> Wenn sich die Parteien in der Mitte drängeln. Von Erfolg und Misserfolg politischer Identifikationsangebote Horst Dieter Schlosser Einleitung „Noch ist De11tsclila1td 11i clzt verloren! " so titelte die BILD-Zeitung am 24.6.1974 nach der Niederlage der bundesdeutschen Fußball-Elf gegen die DDR-Nationalmannschaft am Tag zuvor. Ein besseres Beispiel für den Erfolg eines politischen Identifikationsangebots kann man kaum finden. Endete doch De11tscl1la11d im Bewusstsein vieler westdeutscher Politiker '1nd ihrer Werbestrategen schon lange vorher an der Zonengrenze. Schon fünf Jahre zuvor, 1969, hatten sich in auffälliger Übereinstimmung Kam- I>agnen sowohl politischer als auch kommerzieller Werbung auf dieses Restdeutschland beschränkt, nämlich als für das Henkel-Produkt Persil ~it dem Slogan geworben wurde: „Deulscl1la11tis Wäsc11e atmet auf' und <he SPD mit festem Blick auf die geplante sozialliberale Koalition ihr Wahlziel formulierte: „ Wir scl1affe11 das moderne De11lscl1lamf" - und das bei ~er gleichzeitigen Strategie, die DDR als eigenständigen Staat zu akzeptieren, der dann ja logischerweise nicht mehr Teil Deutschlands sein konnte! Die DDR konterte gleichsam mit der 1969 / 70 eingeleiteten Stra- ~egie, die Wörter De11tsclila11d und de11tsclt, wo immer möglich, in offizielen Titeln gegen DDR auszutauschen, bis hin zur Verfassungsänderung ~on 1974, als es dann in der Präambel hieß: „Die Deutsche Demokratisc11e 1 ep11blik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter 1111d Bauern.'' (In der erst 9 68 eingeführten zweiten Verfassung hatte man sich immerhin noch " 50 Zialistiscller Staat de11tsc11er Nation" genannt. 1) Schlosser 1999: 51. - Für das Problem, dass man nun zur Bezeichnung der neuen „nationalen" Verhältnisse kein adäquates Adjektiv mehr zur Verfügung hatte, fond Stefan Heym die ironische Lösung: DDRsc/ 1. <?page no="164"?> 156 Horst Dieter Sc/ 1losstr 1 Vom Großdeutschen Reich zu Deutschland Damit war die Nachkriegsph ase endgültig abgeschlossen, in der die Deutsche n in allen Besatzungsz onen hatten Abschied nehmen müssen von den hypertrophen Identifikationsformeln, mit denen sich der NS- Staat seine n Untertanen und d e r Welt nicht nur (wie seit 1871} als Deulsd1es Reich präsentiert hatte, so ndern sogar als Großde11ts ches Reic11 oder gar wie in der Proklamation Hitlers zum 30.1.1943 als Germanisches Reidl deutsc lr er Nation firmieren wollte. Das Reic/ 1 war nun zerschlagen und ging mit le tzte n Belegen etwa in den frühen Parteiprogrammen bis 1949 auch sprachlich endgültig unter. 2 Mit fast gleicher Emphase aber hatte man sich in dieser Zeitspanne, zunächst in West wie Ost, dem unverfäng· Jicheren, weil Grenzfragen ausklammernden Begriff De11tsclila11d zugewandt, zumal man der sich abzeichnenden Ost-West-Spaltung wenigs· tens verbal noch einen Gemeinschaftsappell entgegensetzen wollte. Der früheste Verfassungsentwurf für einen künftigen (gesa~t)· deutschen Staat, den die SED schon im Herbst 1946 vorlegte, sprach e1Jl· leitend wie die DDR-Verfassung, die diesen Entwurf 1949 sanktionierte von Deutsc/ ila11d, und SBZ-Parteien, die den gleichen Namen wie ih~e Westschwestern trugen, waren offiziell mit einem zusätzlichen D fur Deutscli/ a11d gekennzeichnet, z.B. CDUD oder LDPD. Die zumindest ver· bal gesamtdeutsche Perspektive der ostdeutschen Kommunisten über· dauerte wie schon angedeutet die Gründung zweier verschiedener Staaten von 1949 um mindestens zwei Jahrzehnte, bis 1969/ 70. In der ersten Bundestagswahl waren sich in gesamtdeutscher Perspel<· tive CDU und SPD ebenfalls durchaus einig. Einer ihrer entsprcchen~e~ Slogans war sogar völlig identisch: „Das ga11ze Deutscliland soll es se11t ' plakatierten beide Seiten, und auch die FDP meinte 1949: 11 Es gelil 11111 De11tscltla11d", was sie vier Jahre später noch einmal mit dem Slogan un_ter· strich 11 FDP mft das ganze Deutscl1l1md 11 • Aber schon bei dieser zweite~ Bundestagswahl, 1953, fing die CDU an, den Deutsc11lat1d-Begriff a~: Westdeutschland einzuschränken, als sie mit dem Slogan wa\ "peulschland wäl1ll Adenauer". Wiederum vier Jahre später, 1957, versuc ~ te sie diesen ,Territorialverlust' durch e ine Ausdehnung in eine ander. Richtung gleichsam wieder wettzumachen: „Ein/ reit flir Deutsc11la11d / frei~ Jreit für Europa/ Friedeu in der Welt". Das Ei11J1eits-Gebot des Grundgesetze t verkam dabei bekanntlich mehr und mehr zum Lippenbekenntnis, ers 2 Das zeitweilige Aufflackern eines imperialistischen Rcic11s-Anspruchs in parl~ namen wie Dc 11tsc11c Rcic11sparlci (DRS) und Sozi111istisc/ 1c Rcicl1sp11rtci (SRl'J crloS dann sogar im Namen der Nachfolgepartei NPD. <?page no="165"?> ~n Erfolg und Misserfolg politisc lz er Jd c11tifikalio 11sangcbotc 157 recht, als du rch den Mauerbau vom August 1961 die territoriale Beschränkung westde utscher Politik im wahrsten Sinne des Wortes für jederm ann sinnfällig zementiert worden war. Was die CDU 1953 mit ihrem Slogan „ De11tsc/ -t/ a11d wäl1/ l Adenrmer" vorexerziert hatte, vollzog die SPD acht Jahre später nach, als sie 1961 forderte „Deut sd 1lmul bra11cl1t eine 11e11e Regierung [...} Darum muß Willy Brandt Bi111deska11z/ er werde 11 ". Ich wage die These, dass dur c h diesen parteienübergreifenden (we nn auch sicher in mancher Hinsicht erzwungenen) Abschied von eine m umfassend en De11tscl1la nd-Begriff (vgl. auch Latsc h 1994) dem Nationa lbewusstsein der (West)Deutschen ein erster Schlag versetzt worden is t, der mindes tens so kräftig war wie d ie Erinnerung a n die Kriegsschu ld, d ie bis Ende der sechziger Jahre überd ies immer wieder verdrä ngt werden konnte. Jed enfa ll s i st noch m indestens bis in die späten fünfziger Jahre in der Bundesrepublik wenig von einem gebrochenen nationalen Selbstbewusstsein zu spüren. Die Kontinuität des antikommunis tischen Feindbildes über 1945 hinaus machte es möglich! Die Verhältnisse in der SBZ und DDR bedürfte n einer eigenen Betrachtung, aber auch für die im Osten ebenfalls ma ngelhafte Aufarbeitung der NS-Vergangenhe itl müsste das Wort des Historikers M. Stürmer gelten, wonach die Deutschen im Zuge des Kalten Krieges in West wie Os t gleichsam z u „Siegern ehrenha lber" gemacht worden waren. 2 Wie Hochwertwo rt e z u wahltaktisch em Kleingeld werden Zur Verdrängung d e r jür.gsten Ve rgange nh e it trugen aber im Verein ll"lit den we ltpolitischen Erfahrunge n der fünfziger Jahre (u.a. Koreakrieg l9S0-53, Niederschlagung d e r Volksaufstände in der DDR 1953 und in Un garn 1956) auch andere Motive bei, die das politisc he Bewuss tse in der Wes tdeu tschen entscheidend geprägt hatten. Im Spiegel der Wahlka.rnpfslogans sind dies bis in die siebziger Jahre v.a. die Themen Sichert1.t, Frieden und Freilieit. Am ebenfalls häufig beschworenen Thema Ei11zt lässt s ich noch am deutlichsten die semantische Entleer ung von Politische n Schlüsselbegriffen nachweisen. 4 Wie un e hr lich und wirkungslos der im Osten st aa tlich verordnete A11tif11sc/ 1is 11111 s < llnd l11t e m11 lio 11alism11s letztlich war, zeigte sich vielfach erst n ach 1989. E: ine reiche Sammlung und Kommentierung von Parteiparolen fin det sich bei Totnan-Bnnke 1996, worauf ich in den folge nden Zi taten neben anderen (auch privaten) Qu ellen dankbar zurllckgcgriffcn habe. <?page no="166"?> 158 Horst Dieter Scltlosser Wie schon gesagt war spätestens nach dem Mauerbau von 1961 die Wied('n•('rei11ig1111g zum frommen Wunsch geworden, und sie wurde nur noch traktiert mit Rücksicht auf die nicht eben kleinen Wählergruppen, die sich als SBZbzw. DDR-Fllichtlinge oder als von der Teilung persön· lieh und familiär Betroffene mit den Gegebenheiten nicht abfinden woll· ten. Auch die wählerstarken Verbände der Ostvertriebenen konnten mit der Forderung nach Wieden1erei11ig1111g wenigstens verbal beschwichtigt werden, weil eine Zementierung der Zonengrenze und die damit ver· bundene Tolerierung der DDR die Ansprüche auf die vormaligen Hei· matgebiete entscheidend treffen musste; hatte doch die DDR die Oder· Neiße-Linie inzwischen fei e rlich als Fricde11sgrenze und den endgültigeJl Verlust der deutschen Ostprovinzen als unverrückbares 1 ,Ergeb11is des Zweitm Weltkriegs" akzeptiert. Was aber sollten die übrigen Wählerinnen und Wähler mit der Ei11/ ieits-Par0Ie anfangen, die sich nicht mit den Wil11' sehen und Forderungen von Vertriebenen und Flüchtlingen identifizieren mussten, weil sie ihre Heimat nicht verloren hatten und in vertrauten Umgebungen wieder ganz passabel leben konnten? - Die Qualität eines Slogans sowohl der politischen wie der kommerziellen Werbung bemisst sich nach dem Grad seiner semantischen Offenheit, was weniger euphe· mistisch formuliert heißt: nach dem Grad einer größtmöglichen Unbe· stimmtheit, die möglichst vielen trotz oft höchst divergierender InteresseJl eine Identifikation ermöglicht. Und das Schlagwort von der Ei11lieit karJ1 eben nicht nur konkreten 11 außenpolitischen" Interessen entgegen, so~· dem auch einem wohl urmenschlichen Harmoniestreben, das in der Poll· tik jeweils um so stärker ist, je weniger das Gezänk zwischen den ParteieJl noch nachvollzogen werden kann. Trotzdem hat eine solche semantische Entleerung ihre natürliche Grenze. Das Thema Einlieit wurde wie ande~e Wahlkampfthemen letztlich semantisch ,überdehnt' und verschwand 1' 15 1989/ 90, als es pcinlicherweise ,von außen', nämlich von den r-=voltie· rendcn Deutschen in d e r DDR den bundesdeutschen Werbestrategefl wieder zugeführt wurde. So wurde etwa aus Helmut Kohl, der von Jet Wucht der ,friedlichen Revolution' genauso überrascht wurde wie seitle . Kontrahenten, die aber die Wieden•erei11ig1111g sogar schon ganz aus ihr~ri' politischen Wortschatz gestrichen ha tten, plötzlich ein K1111zler der Eiul1ed· Ähnliche semantische Entwicklungen lassen sich auch bei den scnofl erwähnten anderen Themen nachweisen. Siclterlteit etwa stand in d~f hohen Zeit des Kalten Krieges für das fundamentale Bedürfnis, vor inih' tärischen Bedrohungen durch den Ostblock gefeit zu sein. Man denke t1LI~ an die Kuba-Krise 1962, die auch in Westdeutschland größte Furcht v? einem atomaren Krieg ausgelöst hatte. Aber sehr bald ist zumindest 111 <?page no="167"?> Vo11 Erfolg und Misserfolg politischer Identifikationsangebote 159 der Wahlwerbung von diesem konkreten militärpolitischen Motiv nichts mehr zu entdecken; die Wörter sicher und Sic/ 1erl1eit nehmen eine Aller- Weltsbedeutung an. So wirbt etwa die CDU wie die CSU 1965 mit dem Vieldeutigen Slogan „ Unsere Siclierlieit", gleichzeitig versteigt sich die SPD zu der tiefsinnigen Formel „Sicher ist siclrer". Völlig leer erscheinen bereits 1969 auch CDU-und CSU-Slogans wie „Sicl1er i11 die 70er Jal1re", die noch 1994 in einem CDU-Slogan wie „Sicher in die Z11k1111ft" ihre Fortsetzung finden werden. Man ist leicht geneigt, solche Sprüche einfach zu belächeln, weil doch nichts so sicher ist wie die Zukunft; aber es handelte sich bei Licht betrachtet wohl doch um Reflexe einer interessanten Zwischenstufe der semantischen Entwicklung von sicher und Sfrl1erlleit, da inzwischen an die Stelle des Wunsches nach militärischer Sicherheit längst der nach sozialer Sicherheit getreten war. Und dieser Akzent lässt sich auch in der Gegenwart durchaus immer noch einmal reaktivieren, man denke nur ~n das zweifelhafte Versprechen, dass die Renten sicl1er seien. Eine wie Ich allerdings meine nur ephemere Wiederbelebung militärischer Assoziationen hat uns der 11. September 2001 beschert, da nun plötzlich alle lnehr Sicherlieit, diesmal vor terroristischen Anschlägen, forderten und auf höchster Ebene eiligst mehrere Sic11erheilspakele geschnürt wurden. Das aber wäre schon jetzt als generelle Erkenntnis festzuhalten: Je weiter man sich von einer ideologisch aufgeladenen Zeit entfernt, sei es von der des Nationalsozialismus, sei es von der des ideologischen Konflikts Zwischen Ost und West, um so weniger taugen die Hochwertworte für Umfassendere Perspektiven; jedoch behalten sie einen Teil ihrer appellati- "en Funktion, wenn man sie gleichsam als semantisch kleine Münze auf konkrete Situationen und Bedürfnisse anwendet. Dahinter steht natürlich ilUch ein fundamentaler Wandel sozialer Identifikationen seit 1945: das Vordringen gruppenspezifischer und individueller Lebensentwürfe zu lasten kollektiver Modelle. Dass sich der soziale Aspekt, der mehr gruppen- und individuumsspezifisch orientiert ist, zunächst noch sehr gut mit kollektiven Perspektiven verbinden ließ, bewies die CDU 1980, als sie „Freiheit d11rcl1 soziale Siclzerlieit" versprach; man denke auch an den lange Zeit penetrierten C: DU,ßasisslogan „sicher, sozial und frei". Wenn man bedenkt, was heute ~ell'\ allgemeinen Bewusstsein als Freiheit gilt, wollen einem die frühen ~<: hkriegsevokationen von Freiheit geradezu schon als pathetisch und lnittlerweile verstaubt erscheinen. Den in der Bundesrepublik sehr lang- ~iltn, über Jahrzehnte vollzogenen, kaum merklichen Bewusstseinswandel ; n Puncto Freiheits-Begriff kann man im Übrigen sehr gut in einer aktueleren Parallelentwicklung nachvollziehen, die sich im Nordosten <?page no="168"?> 160 Horst Dieter Schlosser Deutschlands ab 1989 gleichsam im Schnelldurchlauf ereignet hat. zunächst ging es wie im Westen ab 1945 um Freilteit von ideologischer und politischer Bevormundung. Mit steigendem Wohlstand, freilich auch mit dessen Schattenseiten, verblasste der Glanz dieses Hochwertworts, das irn Nordosten ebenfalls weitgehend nur noch als semantisches Kleingeld in beliebigen, oft sehr kleinkarierten Kontexten überdauern kann. 3 Freiheit contra Sozialismus Bevor es zu dieser semantischen Degradierung kam, gab es im Westen Deutschlands aber eine parteipolitische Zuspitzung des Freilzeiis-Begriffs, die der CDU / CSU sowie ihrem Koalitionspartner FDP viele Jahre lang einen politischen Bonus verschaffte. Obwohl auch die SPD von Anfang an für ein freies, d.h. nichtkommunistisches Deutschland warb, verstand es die CDU/ CSU die planwirtschaftliche, sozialistische Perspektive der SPD bis zum Godesberger Programm von 1959 in die Nähe kommunistischer Politik zu riickcn. Berühmt-berüchtigt war insbesondere das CDU-Plakat von 1953 mit einer lauernden Bolschewistcnfratze und der Parole "Affe Wege des Marxismus fi11irm 11acli Moskau".s Von dem Pauschalverdacht gegen die SPD einmal abgesehen ging es den ,bürgerlichen' Parteien aber ganz konkret um den wirtschaftspolitischen Gegensatz zur SPD und ih· ren Sozialisierungsplänen. Frei/ teil bedeutete in diesem Kontext v.a. wirt· schaftliche Freiheit. Das hieß 1953 auf eine Wahlkampfformel gebrach~: „CDU sclditzt vor E11teig111111g". Und schon 1949 hatte die FDP u.a. Jllll einem Slogan geworben, den man ob seiner plattdeutschen Fassung ! eich~ erst der Dialektwelle der siebziger/ achtziger Jahre zuschreiben kön~te. „ Weun Haudel, Wautfel wedder golm, / wat l1ebbt de Sozis dorbi do11? / Nix! f Immer 1111r / CDU - FDP". Da halfen dann alle gegenteiligen Betcuerunge~ der Sozialdemokratie nichts, weil sie von vornherein als „sozialistisch und damit kommunistennah stigmatisiert erschienen, etwa 1949 „Gestt~lder Wettbewerb durch Sozialisierung" oder „ Für Frieden, Freilleif, Sozialis· mtts! " · Noch 1976 versuchte die CDU die jahrzehntelang erfolgreiche J(ontrastierung von Freil1eit und Sozialismus zu nutzen: „Aus Liebe zu De11tscfilattd: Freil1eil statt Sozialismus." kh erinnere mich allerdings auch an einen während des 76er-Wahlkampfs auf zahlreichen Autos prangenden paro· 5 Dieses Motiv wurde 1969 noch einmal von einem NPD-Wahlplakat aufgcgriffe~ nun allerdings mit ,aktualisiertem' Text und eindeutig gegen die sozialliberale os politik gerichtet. <?page no="169"?> Von Erfolg und Misserfolg politisclter Identifikationsangebote 161 distischen Aufkleber „Frei b i e r statt Sozialismus! ", womit die Diskriminierung des SPD-Schlüsselbegriffs Sozialismus durch die CDU, der durch ~ie Godesberger Reform des SPD-Grundsatzprogramms von 1959 eigentlich schon obsolet geworden war, lächerlich gemacht werden sollte. Spätestens jetzt war man in den Wahlkämpfen an einen Punkt gelangt, an dem der politische Gegner eigentlich nur noch durch Scheinalternativen getroffen werden ko1mte. Denn der 1976 amtierende und wiedergewählte Helmut Schmidt war nun alles andere als ein Verfechter des Sozialismus irn traditionellen oder gar kommunistischen Sinne. Das hinderte die CDU freilich nicht daran, noch 1980 zu reimen „Mit Optimismus gegen Sozialisn111s'', Und die CSU beschwor im gleichen Jahr filr ihren Kanzlerkandidat~n Franz Josef Strauß gar noch das Gespenst von der Volksfront ( 11 E11dstalto11 Volksfront/ Es ist Zeit für 1ien Wechsel ... "). 4 Der Abschied von kollektivistischen Perspektiven Bevor ich auf die Bedeutung verbaler Konstanten in politischen Identifikationsangeboten noch einmal grnndsätzlich eingehe, sei auf einen Wandel aufmerksam gemacht, der bei Sichtung älterer und neuerer Wahlwerbung sowie der Grundsatzprogramme der Parteien unbedingt auffällt. In dem Maße, in dem sich zumindest CDU und SPD zu großen Volksparteien entwickeln konnten, verlieren sich in deren Propaganda die anfangs l\och häufiger anzutreffenden Ansprachen einzelner Zielgruppen in der ~äh! erschaft. Die Feststellung einer solchen zielgruppenspezifischen erbung scheint auf den ersten Blick der vorhin aufgestellten Behauptung zu widersprechen, dass sich erst im Laufe der Geschichte bisheriger Wahlkämpfe gruppenspezifische und individuelle Lebensentwürfe all- 1\\ählich als Einflussfaktoren sprachlicher Gestaltung durchsetzten, währ: nd in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher kollektivistische Perspek- ~ven eine Rolle spielten und die Sprachwahl bestimmten. In diesem I> link~ ist tatsächlich insofern zwischen SPD und den nichtsozialistischen Farte1en zu differenzieren; denn kaum die SPD, sondern CDU, CSU und Dp sind es, die v.a. 1949 noch gezielt Cliristen, Bauern, Heimkehrer, Kriegs- 0P[er, Heimatvertriebene, Bombeugesclrädigte, Altbürger und Flüclltli11ge, ja \vie die FDP sogar so genannte Staatsbarger ansprechen, die sich die „ScJ1ra11ke der Entnazifizierung" fortwünschen. Gleichzeitig jedoch operie- ~en diese Parteien auch mit den kollektivierend wirkenden Hochwertworen, schaffen damit also jene geradezu dialektische Verklammerung zwisc~en dem ,Großkollektiv' deutsches Volk und den in ihrem Eigenwert \vie in ihren Eigennöten ernst genommenen Individuen. <?page no="170"?> 162 Horst Dieter Sc/ ilosser Diese Dialektik lässt sich im Übrigen auch in den Programmen der bürgerlichen Parteien der frühen Nachkriegszeit nachweisen, die sich darin von den immer noch den Klassenzusammenhalt der Arbeiterschaft predigenden Grundsätzen der SPD stark unterscheiden. Was sich also als genereller sozialer Wandel von kollektivistischen Perspektiven zu einem heute teilweise extremen Individualismus erweist, verdankt sich v.a. einer nichtsozialistischen Politik, der die SPD erst relativ spät beitritt und die sie inzwischen mindestens ebenso fördert wie die traditionell bürgerlichen Parteien. Welch schwierige folgen daraus den um eine spezifische Identität ringenden Parteien erwachsen, muss am Ende dieser Ausführungen noch beleuchtet werden. 5 Verbale Konstanten in der Wahlwerbung und die Angst vor Veränderung Die verbalen Konstanten, die sich immer wieder über die Jahrzehnte der bundesdeutschen Wahlwerbung zeigen, sind selbstverständlich cbcnfaHs differenziert zu betrachten; denn nicht jede verbale Übereinstimmung zwischen den Parteien oder seitens ein und derselben Partei in zeitlich unterschiedlichen Wahlkämpfen bedeutet auch eine inhaltliche Übereinstimmung. Ganz abgesehen davon, dass gerade Schlagwörter der Werbung bewusst jene schon angedeutete semantische Offenheit (oder Unbestimmtheit) haben müssen, damit sich möglichst viele mit ihren oft divergenten Wünschen und Bedürfnissen darin wiederfinden können, hängt die Bedeutung eines Wortes bekanntlich stark vom Gebrauchszusanunenhang ab. Ein fast schon klassisches Beispiel für die Kontextabhängigkeit formal identischer sprachlicher Äußerungen ist etwa die Verwendung des CDU- Slogans „ Wol1lstand fiir alle" im Bundestagswahlkampf 1957 und im Wahlkampf zur letzten DDR-Volkskammer 1990. Was im Westen längst als ,alter Hut' gelten konnte, hatte in der Noch-DDR eine ungemein große Attraktivität (vgl. Schlosser 1999: 190f.). Auch Slogans wie „Es gelit ums Ga11ze 11 hatten unter dem Eindruck der noch frischen Teilung Deutschlands eine ganz andere Bedeutung als später, da man damit mehr oder weniger nur noch den Machterhalt einer Regierungspartei oder Regierungskoalition meinte. Dennoch zeigen auch solche verbalen Kontinuitäten mindestens ein Doppelgesicht: Einerseits sind wie gesagt kontextbedingte Unterschiede zwischen den verschiedenen Gebrauchsfällen zu beachten, andererseits sollen sie nicht selten gerade filr eine verlässliche programmatische <?page no="171"?> Von Erfolg und Misserfolg politischer Identifikationsangebote 163 Kontinuität stehen, vom äußerlichen Wiedererkennungseffekt ganz abgesehen. Was solche gleich bleibenden Parolen bei der umw orbenen Wählerschaft tatsächlich bewirken, is t nur schwer einzuschätzen, wie man von der Werbung, auch der konunerziellen, überhaupt nur weiß, dass es schadet, wenn sie gar nicht erfolgt; was sie aber ·effektiv leistet, bleibt meist der Spekulation überlassen.6 Es spricht allerdings einiges dafür, da ss e ine allzu kreative Werbung mit immer neuen Sprüche n eher verwirrt als Handlungsorientierungen zu geben. Von ander en Fehlern abgesehen hat der CDU im letzten Wahlkampf nicht zuletzt geschadet, dass sie ohne erkennbare Konzeption alle möglichen Punkte aufgegriffen hat, von den roten S ocke n über den 5 DM-Literpreis für Benzin bis hin zu auße npolitischen Themen. Ein schweres Manko wa r dabei a uch der sowe it ich sehe erstmalige Verzicht auf einen Basisslogan; dass die Person von Helmut Kohl diesen Mangel nicht mehr ausgleichen konnte, war schon lange vorher absehbar. Was man inzwischen Corporate Identity ne nnt und was die CDU in früheren Jahren durch ihr en Basisslogan „sicher, sozial rmd frei" erfolgreich realisiert hatte, fehlte di eser Partei 1998 völlig. Inwiefern die SPD in diese Lücke stoßen konnte, so ll an Hand einer ebe nfalls historischen Be trachtung reflektiert werden. Der m.E. erfolgreichste Slogan der SPD 1998 lautete: „Wir maclien nicht alles anders, aber vieles besser". Damit war das für die Stimmungslage der Bundesdeutschen wohl ·wichtigste Wahlmotiv unmittelba r getroffen. Und das war keineswegs ein Spezifikum der endneunziger Jahre, sondern Beleg für eine politische Konstante seit vielen Jahrzehnten. Heute macht man sich oft lustig über jenen CDU-Slogan von 1957 „Keine Experime nte/ Ko11rad Adenauer/ CDU ". Aber schon der zeitgenössische Erfolg dieser Parole verriet sehr viel über ein tief sitzendes Misstraue n d er Deutschen gegen grundstürzende Änderunge n ihrer Lage, was sich sogar schon für die sehr viel bewegtere Zeit der Weimarer Republik nachweisen lässt. (Was schätzen ältere Deutsche teilweise noch heute an de r Nazi-Diktatur? - „R11T1e 1111d Ordmmg"! ) Die CDU-Parole von 1957 verschleierte im Übrigen das hohe Maß an sozialen und politischen Reformen, das die frühe Adenauer-Ära de facto dur chau s zustande gebracht hatte, das aber nicht eigens erwähnt werden durfte, um die Menschen nicht zu verunsichern. Man kann im Übrigen gleichsam die Gegenprobe aufs Exempel machen. Zwar gelangte die FDP 1969 zusammen mit den Soziald emokraten wieder an die Macht, nachde m man die Große Koalition in der Oppositi· on überdauern musste; ~ber im Wähleranteil schnitt di e FDP gerade 1969 o Dennoch scheinen Wahlentscheidungen anderen Gesetzen zu folgen als Kaufentschlilsse; vgl. diverse Be iträge in Dömer/ Vog t 2002. <?page no="172"?> 164 Horst Diclcr Scltlosser außerordentlich schlecht ab; in jedem Fall schlechter, als man es angesichts ihrer Rolle als einzige Opposition gegen den politischen Stillstand der Großen Koalition unter Kiesinger erwartet hatte.7 Auch hierfür war m.E. das politische Beharrungsvermögen der Deutschen maßgeblich, das nicht zuletzt dazu führte, dass auch in dieser besonders denkwürdigen Wahl die CDU/ CSU mit 46,1 Prozent sehr wohl stärkste Kraft blieb und nur durch die überraschende Koalition von SPD und FDP in die Opposition verdrängt werden konnte. Schaut man sich die FDP-Slogans des 69er- Wahlkampfs an, wird man obendrein darin bestätigt, dass die Deutschen nichts weniger zu schätzen scheinen als risikoreiche Veränderungen. Weder wurde der FDP honoriert, dass sie sich als „Die treibende Kmfl" anpries, noch fand es ein Großteil der Wählerschaft attraktiv, dass mit der FDP die alten Zöpfe abgeschafft werden bzw. fallen sollten. Es scheint sogar so, dass ein verbaler Frontalangriff der FDP gegen die herrschende Ordnung manche Wähler verängstigt hat; der lautete nämlich: "Sie kö1111eu De11tscltla11d verä11der11. Maclien Sie Schluß mit der großen Koalition. FDP". [m Stimmenanteil war allerdings auch der SPD 1969 trotz erstmaligen Überschreitens der 40-Prozent-Linie (42,7 Prozent) noch kein durchschlagender Erfolg beschieden, nachdem sie außer den Allerweltsparolen „Die beste Zukunft, die Sie wä/ 1le11 kö1111eu." und „Damit Sie auch morgen in Frieden leben können - SPD"& ausdrücklich aber im Vergleich zur FDP-Werbung noch relativ verhalten verheißen hatte: „ Wir schaffen das modeme De11tsclrla11d ... " Das war fast möchte man sagen: ausnahmsweise einmal sehr wohl ernst gemeint; denn im Ergebnis dieser Wahl wurden ja tatsächlich auf vielen Gebieten zahlreiche Innovationen, v.a. in der Deutschland-, Bildungs- und Sozialpolitik, ins Werk gesetzt. 7 Sie rutschte damals mit 5,8 Prozent (1965 noch 9,5 Prozent) erstmals nah auf die Fünf-Prozent-Grenze zu. 8 Vgl. die Zahnpastawerbung „Damit Sie a11clt morgen 11ocli kmftvo/ T zubeißen kö1111e11 ••• H - Echte Plagiate kommen natürlich auch vor, z.B. war der SPD-Slogan von 1998 „Die Kraft des Neum" der Siemens-Werbung ,entlehnt' und musste d eswegen zurückgezogen werden. Öffentlich unentdeckt blieb dagegen die Herkunft des gleichzeitigen CDU-Slogans „Mitten im Lebe11N; damit hatte der Südwestfunk vor seiner Fusionierung mit dem SOddcutschen Rundfunk zum SWR für sein 1. Progranun geworben. <?page no="173"?> Von Erfolg un d Misserfolg politischer l den tifika tiomangebote 165 6 Wie sich die SPD in die Mi tte drängte Seitd em sich die CDU/ CSU mit vielen di eser Innovationen, nic ht zule tzt m it einem neuen Verhältnis z ur DDR und zu den ander en Ostblockstaaten, abgefunden hatte, ging es ihr pointiert gesagt wie de r SPD nach Godesbe rg 1959, als die SPD d e m Marxismus und dem Widers tand gegen die Wes tbindung der Bundesre publik abgeschworen hatte: Die richtun gsweisenden Positionen blieben ab 1969 auf lange Ja hr e von der st ä rk s t en Regierungsfraktion, di esmal von der SPD, bese tz t, die damit auch im Be wusstsein der Bevölke run g das Ansehen der Meinungsführerschaft besaß. Und nac hdem es von außengesteuerten Einbrüchen wie den Ölkris en der siebziger Jahre abgesehen keine fundamentalen Vers org un gsmängel oder sonstigen eklata nten Defizite zu be klagen gab, m ac ht e sich in der Wählersch af t das beruhigende Gefühl breit, d ass die SPD das Regierungsgeschäft a uch nic ht schlechter als einst die C DU/ CSU vers ta nd. So rückte die SPD, du rch Godesberg programma tisch gestützt, fast a utomatisch in die Rolle einer „bürgerlichen" Partei, in de r die traditionelle SPD-Klientel in der Arbeiterschaft, nicht zuletzt auch durch die Strukturveränderungen im Arbeits leben bedingt, keine beso ndere Aufm erksa mkeit mehr erforderte (von gelegentlichen Streicheleinheiten für die Gewerks chaften einmal abgesehen). N un entfielen zumindes t in öffentlichen Selbstdarstellungen fast alle wichtigen ideologischen Untersch ie de zwischen Links und Rec hts , w ie sie sich noch bis zur Großen Koalition v on 1966 aus d em e in en od er anderen ve rb ale n Identifikationsangebot von SPD und CDU/ CSU herauslesen lassen. Das soll nicht heißen, d ass se itdem jegliche linke od e r rechte Akzentuie rung in einzelnen Äuße rung en führender Parteienve rtre ter unterblieben; immer noch gibt es zahlreiche Felder der praktische n Politik, auf de ne n s ich die beiden großen P ar teien deutlich voneinander unterscheiden. Aber das können sie nur no ch am Rande zugebe n, weil man die Mitte der Wählerschaft be halten oder gewinnen mu ss, un d d iese Mitte, d .h. d er weit überwiege nde Teil der Wäh lerinnen und Wähle r, ist allzu deutlichen Abweichungen vom Ge wohnten abh o ld . Das ü be rlässt man m e hr oder wenig er den Grün en und se it 1990 auch der PDS. A be r a uch in diesen Partei en wi rd der Drang zur Mitte imm er deutlicher bemerkbar. Die Grünen haben nicht zuletzt durch ihr e Re gierungsbe teilig ung und ganz besonders dur ch die Zwänge der Außenpolitik ihr einsti ge s Profil als Alternative fast ganz aufgegeben. Ein äuß e res Anzeichen für diese EntwicklUng war u.a. schon die Entscheidung z um Bund es tagswahlkampf 1998, die bis dahin stark sprachlich arg um entative <?page no="174"?> 166 Horst Dieter Scltlosser Werbung zu Gunsten von Kandidatenporträts einzuschränken, was sich im Bundestagswahlkampf dieses Jahres in der Fokussierung der Plakatwerbung auf ,den' grünen Spitzenpolitiker, Joschka Fischer, noch intensiviert hat.9 Die PDS ist ebenfalls durch Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und ihre langjährige Tolerierung der SPD-Regierung in Sachsen-Anhalt ideologisch schon weitgehend gezähmt, und sie ist im Regierungsbündnis für das Land Berlin intensiv dabei, ihre sozialpolitisch sozialistische Unschuld zu verlieren. Das heißt aber, dass sich inzwischen die beiden großen Konkurrenten SPD und CDU/ CSU, von FDP und Grünen umschwirrt, in einer imaginären Mitte drängeln, wobei die SPD die jahrzehntelang von der CDU/ CSU erfolgreich beanspruchte Position einer „Partei der Mitte" inzwischen auch verbal (mit)eingenommen hat, explizit durch ihren wahltaktischen Coup von 1998, sich die „Partei der Ne11eu Mille" zu nennen (was sich mit geometrischer Rationalität kaum nachvollziehen lässt).10 Wie sehr diese Neudefinition CDU/ CSU traf, ließ sich aus zahlreichen, teilweise wüten· den Abwehrversuchen von Unions-Politikern schließen. Doch ging und geht es dabei keineswegs um belanglose Wortkämpfe, sondern um ein seit Gründung der Bundesrepublik erfolgreiches politisches Identifikationsangebot, das der stillen Sehnsucht in der deutschen Wählerschaft nach einem politischen „Mittelmaß", nach Harmonie und innerem Frieden entgegenkommt. Der Alleinvertretungsanspruch auf dieses politische Ziel ist nun allerdings der CDU/ CSU entwunden, zumal ihr im Gefolge des sozialen Wandels, nicht zuletzt der weit fortgeschrittenen Säkularisation und konfessionsfeindlichen Individualisierung der Deutschen, die christliche Fundierung ihrer Mitte-Position abhanden gekommen ist (vgl. dazu die treffende Analyse von Dürr 2002). Aber auch die SPD hat gewisse Schwierigkeiten nachzuweisen, mit welchen theoretischen, gar weltanschaulichen Argumenten sie den Anspruch auf die Neue Mitte aufrechterhalten kann. Immerhin ist aber ihre eigene Basis nach einer von der Partei selbst in Auftrag gegebenen Analyse von Anfang 2002 durch den neuen Begriff keineswegs ideologisch irritiert (obwohl viele damit nichts Rechtes anfangen können! ); aber die SPD- Mitgliedschaft scheint sich nach dieser Umfrage mehrheitlich in der Mitte- 9 Eine zaghafte Rückbesinnung auf die politische Herkunft unternimmt 2002 ein Slogan unter Jem Fischer·Porträt: „A11ße11 Mi11ister, i1111e11 grii11H. 10 Eine Anregung zu dieser neuen Standortbestimmung ging natürlich von der Wc: ihlkampfstrategie der britischen l..abour Party aus, die sich kurz vorher erfolgreich als Netu Lnbour präsentiert halte. <?page no="175"?> Von Erfolg und Misserfolg polilisclter Identifikationsangebote 167 Position einer Regierungspartei doch recht wohl zu fühlen.11 Das heißt: Auch hier spielen weltanschauliche Positionen längst keine Rolle mehr. Eine deutliche Strategie der SPD-Wahlkampfführung, der „Kampa 02 11 1 läuft stattdessen darauf hinaus, dem CDU/ CSU-Kandidaten Stoiber nachzusagen, er spalte die Deutschen, eine Wortwahl, die sehr genau dem SPD-Anspruch entspricht, eine auf die Mitte, eben die Neue Mitte zentrierte Mehrheit der Deutschen zu repräsentieren. Eines der SPD-Plakate mit einem Vollbild Gerhard Schröders trägt denn auch die Überschrift „Der Kanzler der Mitte" (Juni 2002). Aber auch die CDU/ CSU versucht, Terrain zurückzugewinnen, indem sie mit ihrem Ko111pelenzteam12 eine biirgerliche Mitte ansprechen möchte 13; dies wiederum soll wohl die sperrigere, zugleich ideologisch ebenfalls wenig aussagekräftige Formulierung Schröders biirgerlic11e Zivilgesellschaft aus dem Feld schlagen. Den von der SPD aufgebauten Gegensatz modem (Schröder) contra konseroativ (Stoiber) versucht das Wahlkampfteam von CDU/ CSU, die 11 Arena 2002", durch eine Imagekosmetik ,ihres' Kandidaten zu unterlaufen, die von Insidern bezeichnenderweise E11tbayerimg Stoibers genannt wird.14 7 Pappkameraden als politische Gegner Wenn aber die demokratischen Pa~teien noch weniger unterscheidbar werden, als sie es in den letzten Jahren schon geworden sind, dann tritt eine Situation ein, in der sich die Parteien zwecks Selbstvergewisserung ihre Gegner gleichsam selbst erfinden müssen, und zwar nicht mehr mit bloßen Unterstellungen wie in der Vergangenheit, sondern durch echte Pappkameraden. Ich will die Realität einer rechten Gefahr keineswegs leugnen oder auch nur herunterspielen; aber was im Zusammenhang des NPD-Verbotsantrags nach und nach ans Licht gekommen ist, hat geradezu Orwell'sche Qualität: Wie in „1984" die Geheimpolizei die Oppositi- 11 Laut Bericht Frankfurter Rundschau, 5.4.2002. 12 Nur Wortklauberei wird in der Betonung von Ko111pctc11z dieses Teams nicht nur Distanzierung von der amtierenden, angeblich inkompetenten Regierung sehen wollen, sondern auch eine unfreiwillige nachträgliche Kritik an früheren Teams von CDU/ CSU, denen dieser Ko111petc11z-Preis noch nicht zugebilligt worden war. Allerdings spricht einiges dafür, dass damit auf Dauer der bisher übliche Begriff Schaf· te11k11bi11ett dem Untergang geweiht ist; tatsächlich strahlt Ko111pete11zfea111 mehr Optimismus aus als der ,umschattete' traditionelle Terminus also eine werbepsychologisch geschickte Wortwahl! 13 So ausdrücklich Edmund Stoiber auf dem Frankfurter CDU-Parteitag am 18.6.2002. 14 ARD-Sendung „Die Wahlka111pf11111c/ 1cr" vom 28.8.2002. <?page no="176"?> 168 Horst Dieter Sc/ 1losser onsschrift gegen das Regime des Großen Bruders selbst erfunden hat, so stammen bekanntlich nicht wenige Zeugnisse gegen die NPD vom Verfassungsschutz, der dabei offenbar so gut gearbeitet hat, dass die Gewerkschaft der Polizei öffentlich erklären konnte, schon das intellektuelle Niveau einiger dieser Belege spräche gegen die Urheberschaft eines echten NPD-Funktionärs. Nachdem obendrein der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) die Empörung der CDU/ CSU-Vertreter im Bundesrat anlässlich · der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz so offenherzig als irisze- 11iert und als Theater charakterisiert hat, sind die von den Parteien noch anzubietenden politischen Identifikationsangebote fast völlig wertlos geworden. Wen wundert es da noch, dass in einer Umfrage vom Frühjahr 2002. nur noch fünfzehn Prozent der Deutschen Vertrauen in die Parteien hatten! Das Ende politisch-inhaltlicher Argumentation und damit aller seriösen Identifik<itionsmöglichkeiten, die über eine Entscheidung zwischen verschiedenen Schokoladensnacks hinausginge, markiert inzwischen zweifellos die FDP mit einem blauen Plakat, das außer dem unscheinbar gedruckten Parteinamen nur eine große blaue 18 in einem runden gelben Feld enthält.tS Die einzige Aussage, die man diesem Plakat noch entnehmen kann, ist die angestrengte Hoffnung dieser Partei, in der bevorstehenden Wahl 18 Prozent der Stimmen zu erhalten wofür (außer einer Regierungsbeteiligung), wird leider nicht gesagt. Westerwelle präsentiert sich zwar auf anderen Plakaten als „Der Kanzler fiir me11r Netto, mel1r Bildung, meltr Arbeit", was er aber selbst mit 18 Prozent Stimmenanteil kaum werden dürfte. Und die neuen Basisslogans von CDU/ CSU „Zeit für Taten" oder SPD „Für ein modemes Deutscl1la11d" 16 täuschen auch noch kaum über die allgemeine Konzeptionslosigkeit hinweg. Nicht zufällig haben professionelle Wahlkampfbeobachter übereinstimmend festgestellt, dass 2002 sogar noch wenige Wochen vor dem Wählerentscheid der langweiligste Wahlkampf in der Nachkriegsgeschichte geführt werde, bei dem überdies brennende Zeitprobleme fast völlig ausgeklammert blieben bis t5 Peinlicherweise steht die Zahl 18 in rechtsextremen Kreisen für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet: A und Hund damit filr die Initialen von Adolf Hitler! (Ob Herr Möllemann das wusste? Jedenfalls ist seinem Wahlkampfmanager, der schließlich die gesamte FDP-Kampagne übernommen hat, diese Reduktion von Politik auf zwei nackte Ziffern zu verdanken.) Allerdings ist auch die Geometrie dieses Plakats, heller Kreis mit einem symbolischen Signal in der Mitte, wenn auch mit anderer Umgebungsfarbe, durchaus noch in schlechter Erinnerung! 16 Vgl. den SPD-Slogan von 1969: „Wir sclraffen das moderne De11tsc/ 1Jm1d". <?page no="177"?> Von Erfolg und Misserfolg poliliscl1er lde11lifikatio11sa11gcbote 169 schließlich im August 2002 die große Flut kam und von allen Lagern (finanz)politische Kreativität verlangte! Das erste Fernsehduell zwischen Schröder und Stoiber am 25.8.2002 sah beide Seiten dagegen schon wieder beim langweiligen· Tanz um die Mitte.17 Selbst der von der Regierung kurzfristig einberufenen „Hartz- Ko111111issio11111 die Konzepte zur Behebung der Arbeitslosigkeit erarbeiten sollte, wurde in Meinungsumfragen (August 2002) von einem Großteil der Bevölkerung unterstellt, dass sie nur ein Wahlkampftrick sei; so gering ist inzwischen das allgemeine Zutrauen in die Sachkompetenz der Parteien. Und erst recht die im August veröffentlichte „S/ 1cll-Sl11die 2002" belegt v.a. die dramatisch gesunkene Bereitschaft von Jugendlichen, sich überhaupt mit der Politik von Parteien zu beschäftigen, geschweige denn zu identifizieren. Etwas bitter möchte man darum resümieren: Wenn sich alle nur des Machterhalts wegen in der Mitte drängeln, bleibt in diesem imaginären Raum kaum noch Platz für eine überzeugende Sachpolitik. Und: Wenn sich einmal die Lebensumstände für größere Teile der Bevölkerung deutlich verschlechtern sollten, können die Identifikationsangebote von politischen ,Rändern' durchaus ernst zu nehmende Chancen erhalten, wie die Verhältnisse in einigen östlichen _Bundesländern schon jetzt zeigen. 8 Literatur Bergsdorf, Wolfgang (1983): Herrschaft und Sprache. Studie zur politischen Ter· minologic der Bundesrepublik Deutschland. Pfullingen. Dörner, Andreas/ Vogt, Ludgera (Hrsg.) (2002): Wahl-Kämpfe. Betrachtungen Uber ein demokratisches Ritual. Frankfurt am Main. Dürr, Tobias (2002): Helmut Kohl und die Capri-Fischer oder: Sehnsucht nach der Mitte. Überlegungen zum Parteienstreit um einen strategischen Begriff. In: Frankfurter Rundschau, 30.3.2002, 8. Eroms, Hans-Werner (1989): Von der Stunde Null bis nach der Wende. Zur Ent· wicklung der politischen Sprache in der Bundesrepublik Deutschland. In: Forum für interdisziplinäre Forschung 2, 9-18. Klein, Josef (Hrsg.) (1989): Politische Semantik. l3c\tcutungsanalytischc und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen. Latsch, Johannes (1994): Die Bezeichnungen fllr Deutschland, seine Teile und die Deutschen. Eine lexikalische Analyse dcutschlandpotilischer Leitartikel in bundesdeutschen Tageszeitungen 1950-1991. Frankfurt am Main. 17 Das für den 8. September 2002 geplante zweite Fernsehduell konnte in diese vorher abgeschlossene Betrachtung noch nicht einbezogen werden. <?page no="178"?> 170 Horst Dieter Sclilosscr Liedtke, Frank/ Wengeler, Martin/ Böke, Karin (Hrsg.) (1991): Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. Opladen. Schlosser, Horst Dieter (1999): Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen. Köln. Stötzcl, Georg/ Wengeler, Martin (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik. Berlin, New York. Toman-Banke, Monika (1996): Die Wahlslogans der Bundestagswahlen 1949-1994. Wiesbaden. <?page no="179"?> ...irge ndwie' 11. anderer Mensch Identität und Sprache am Beispiel eines · Anamnesegesprächs Albrecht Greule 1 Hypothese Nach der lapidaren Definition in Meyers Taschenlexikon von 1996 ist Iden tit ät „die als 'Selbst' erlebte inn ere Einheit der Person (Ich-lde 11t ität)". Wie kommt diese Identität sprachlich z um Ausdruck? Mit Hilfe welcher Merkmale können Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler die Identität identifizieren? Ich gehe, um die Frage einer ers ten Antwort zuzu führen, von der Hypoth ese aus, dass im Arzt-Patiente n-Gespräch, in dessen Mittelpunkt die Anamnese steht, der Patient die Ich-Iden tität als Reaktion auf die Fragen des Arztes mit den ihm in der au genblicklichen Lebenssituation zur Verfügung stehenden Mitte ln versprachlic hen muss . Im Folgenden soll die se H ypothese an einem Anamnesegespräch verdeut li cht werden . Das Gespräch wurde von Verena Eschlwöch im Rahmen ihrer Seminararbeit mi t dem Thema "Untersuchung ärztlicher Fragestellung im Arzt- Patienten-Gespräch" ,(Sonunersemester 2002) nach einer Aufzeic hnung auf Bild- und Tonträger verschriftlicht. Um die Anonymität der am Gespräch Beteiligten zu wahren, verzichte ich a uf genaue re Angaben zu r Quelle und zu den Pers onen. Der Patient ist m ä nnlich und 25 Jahre alt. Das Gespräch dauert knapp 45 Minuten. Es entspric ht genau dem Typus des Interviews. Die formale Gliederung und Nummerierung de r Transkription erfolgt na ch Sprecherbeiträgen. Auch bei de r inhaltlichen Strukturi erung s tü t ze ich mich auf die Vorarbeit in der oben genannten Arbeit von Verena Eschlwöch. 2 Anamnesegespräche Theoretisch umfasst das ·Anamnesegespräch zehn Schritte: e rs te ns Begrüßung, zweitens ,Botsclznft', in welch er der Arzt seine Anteilnahme und sein Inte resse am Patienten ausdrückt. Die ersten beiden Schritte wu r den bei <?page no="180"?> 172 Albrec/ 1t Greule dem zu untersuchenden Gespräch ausgespart; es setzt erst beim dritten Schritt, der ,offenen Frage', ein: „ Weswegen sind Sie zu uns hergekommen? " Durch diesen Schritt soll der Patient veranlasst werden, frei von sich zu erzählen. Nicht mehr nur die Krankheit ist das Thema, sondern auch der Patient und seine Lebensgeschichte. Mit dem vierten Schritt beginnt der Arzt gezielt, beispielsweise nach den Bescltwerde11 des Patien· ten, zu fragen. Im konkreten Fall des Analysebeispiels beginnt der Patient allerdings zunächst nicht mit der Beschwerdeschilderung und der Arzt muss wiederholt nachfragen. Unter Schritt fünf versteht man die Scllildenmg früherer Kra11klteite11 durch den Patienten. Im Fallbeispiel schildert der Patient seine psychischen und physischen Probleme. Der sechste Schritt soll sich der Theorie nach mit den Kra11kl1eiten der A11geliörige1t befassen, die im Fallbeispiel nicht thematisiert werden. Schritt sieben zielt auf die persö11liclle E11hoickl1mg, Schritt acht auf die soziale Lebe11ssil11alio11 des Patienteu. lm transkribierten Gespräch werden beide Schritte in umgekehrter Reihenfolge gegangen. Schritt neun betrifft die Organsysteme, ist aber ohne Berücksichtigung im Fallbeispiel. Im zehnten Schritt sollen (und werden auch tatsächlich} bislang ungeklärte fragen noch einmal aufgegriffen werden. Der Gesprächsbeendigung wird im Unterschied zur Gesprächseröffnung (s.o.) in der Theorie kein eigener Schritt zugedacht; im Fallbeispiel erfolgt sie konventionell mit dem performativen Verb und einem Dank: (Arzt: ) Glaub, dann können ma's beschließen, oder? (Patient: ) Ja, okay. (Arzt: ) Guad. Dann danke ich Ihnen. 3 Sprache der Identität 3.0 Ich-Narration Um Indikatoren des sprachlichen Ausdrucks der Identität des Patienten zu eruieren, genügt es nicht, was nahe läge einfach die ich-Passagen der reinen Narration des Patienten, also der Erzählung von Ereignissen der Vergangenheit, deren es genug im Transktipt gibt, • auch wegen ihrer Distanz zur ego--hic-nunc-Origo des Patienten aufzulisten; ein Signal für diese Distanz dürften die Erzähltempora, also Präteritum und Perfekt, sein, z.B. (4) Warum ich bei Professor X war, war wieder'n anderer Grund. Und zwar kannte ich den über meine Mutter. Und er meinte ... <?page no="181"?> Identität und Sprache am Beispiel eines Anamne segespräclis 173 Vielmehr scheinen mir die Formulierungen, in denen es wirklich um die Beschreibung des eigenen Ichs, seiner Beschwerden, die Schilderung der psychischen und physischen Probleme sowie der sozialen Lebenssituation hie et nunc geht, wesentlich aussagekräftiger. Besonderes Augenmerk sollte auf Stellen gerichtet werden, wo die Jch-ldentität gleichsam ins Wanken gerät. Es wäre interessant zu wissen, ob damit auch die sprachHche Formulierung ,ins Wanken gerät'. 3.1 Sprachebenen Der Patient gebraucht überwiegend bayerischen Substandard mit kurzen basisdialektalen Einschüben und schriftsprachlichen Passagen. Dieser Registermischung passt sich der Arzt dezent an. Scheinbar als Signal der fdentifizierung mit seiner Heimat, einer „ländlichen Gegend" (67), setzt der Patient ganz knapp Basisdialekt ein: (67) .„wei mia simma zugezogen. Sieht man genauer hin, dann ist diese Passage nahezu ein Zitat aus dem Mund der ,Ureinwohner', das interessanterweise eher Distanz als fdentität mit der ländlichen Herkunft des Patienten ausdrückt. Man kann demnach nicht sagen, dass der Patient sich über die Mundart definiert und sich mit ihr identifiziert 3.2 Beschreibung der Beschwerden und der Lebenssituation Die Schilderung der Beschwerden wird vom Patienten selbst in eine Beschwerdegeschichte,. die mit einer Geschicht<? der Therapieversuche verquickt wird, eingebettet. Insofern muss meine Aussage oben, Erzählungen als Indices der Ich-Identität auszuklammern, revidiert werden. Es zeigt sich im Verlauf des lediglich durch Fülllaute wie ä/ 1 und durch metasprachliche Distanzierungen (s.u.) unterbrochenen - Berichts, dass der Patient sich als Folge einer langen Krankheitsgeschichte, mit der er sich identifiziert, gut mit der medizinischen Fachsprache auskennt (z.B. Gelbsuclztsymptome (12), Bilirubimoert (27, 32), allergisc/ 1 reagiert (35), konzentrative Störungen (38), lialluzi11oider Zusta11d (42), Regeneration (46}) und dass e1· ferner in der Lage ist, durch geeignete Metaphorik seine Zustände zu schildern (mir der Boden unter den Füssen weggezogen worden is (32), des Gfi'ihl gl1abl, wie wenn Adem im Körper platzen (35), ins U11lerbewusstsei11 eintauchen (42), geschlafen wie ei11 Ratz (45), wie we1111 i111111er so leicllle Blitze durcltgehe11 (50)). <?page no="182"?> 174 Albrecht Gre11le Im Unterschied zur Beschreibung der Beschwerden kann sich der Patient bei der Beschreibung seiner Lebenssituation allerdings nicht an medizinische Terminologie klammern; hier muss er aus eigenen Stücken beschreiben und zeigt sich darin, wohl als Folge von starker Selbstreflexion, erstaunlich gewandt. Hier eine Beispielauswahl: (52) ich hab immer drauf geachtet Freunde zu finden, die zu einem halten (53) ich muss schon aufpassen den Anschluss nicht 7-U verlieren (53) es is immer wieder'n Schnitt, äh, dass man sich auch dann von meiner Seite aus von von gewissen Leuten trennt (54) jetzt jetzt is des des Ziel alleine zu leben (56) des des des war eben manchmal eben so, dass ich dann auch mit den Gedanken irgendwie abgeschwebt bin (57) Ich bin jemand, der sich permanent im Leben wandelt (58) des Interesse, des is mehr oder weniger erloschen (58) des hat so zwar in meiner Person bisher ned gepasst (81) Und von daher is is plötzlich'n ungeheurer Ehrgeiz ausgebrochen bei mir (65} Und ich hab mich dann relativ schnell ins Studium gestürzt (66) ich hab ganz einfach ungeheure Schwierigkeiten und Probleme. Auch hier fällt die eigenständige Metaphorik ins Auge: mit den Gedanken abschweben, das Interesse ist erloschen, Ehrgeiz ist ausgebrochen, sich ins Studium stürzen. 3.3 Metasprachliche Distanzierung Im Verlauf der gesamten Beschreibungen des Patienten tauchen immer wieder in charakterisierender Häufigkeit - Formeln auf, die rein semantisch interpretiert eine Reflexion über die Sprachverwendung signalisieren. Es handelt sich um die umgangssprachlichen Routineformeln sagen wir 'mal (sagn m'amoi), ic/ 1 sag mal (i sag amoi), sag iclr a mal, wil' ma11 so sogt (30) oder ich wr'ird mal sang (67) und sozusagen. Diese so genannten Heckenausdrücke bzw. Vagheitsindikatoren signalisieren einerseits Schwierigkeiten bei der Formulierung, andererseits schwächen sie ähnlich den Mod~lpartikeln, die der Patient ansonsten sparsam einsetzt (lediglich in Redebeitrag 34 wird in zwei Sätzen dreimal die Partikel eigeullicl1 verwendet), auch den Gültigkeitsgrad der Aussage ab. Dass der Patient aber tatsächlich über eine über Formulierungsschwierigkeiten und formelhaften Ausdruck dafür hinausgehende auffällige Sprachdistanz verfügt, die er auch metasprachlich zum Ausdruck bringen kann, geht aus folgenden Passagen hervor: <?page no="183"?> Identität und Sprache am Beispiel eines A11an111esegespräclts 175 (12) Also, ich bin, wie ma's im Sprachgebrauch sagt, äh, ; a dann regelrecht ausgerastet, sozusagen . (47) ...ja, also, des des is dann eben so ne, ich will's ned Traum nennen, sondern ne Erfüllung praktisch. (66) Und, ja, des, ich will des deswegen ned als Angst bezeiclmen (lacht), die ich hab da durchzufallen ... 3.4 Krise der Identität Anzeichen dafür, dass die Identität des Patienten auch ins Wanken geraten kann, sind Äußerungen wie (35) Des is doch so a bisschen wie wenn do an anderer Mensch vor Ihnen is (im Zusammenhang mit der Erwähnung von Halluzinationen) und (57) kh bin jemand, der sich permanent im Leben wandelt. Krisenhafte Züge nimmt die Beschreibung aber an der Stelle an, wo er von Selbstversuchen, mittels Trancccassette in sein Unterbewusstsein einzutauchen, berichtet und die Bilder beschreiben soll, die ihn „richtig schockiert ham": (43) Ja, da hab ich mich selber, sozusagen, gesehen... „ Im Zusammenhang mit dem Versuch zu beschreiben, welche Bilder er dabei gesehen hat (des ka1111 ma so so gar ned bescl1reibe11), gerät auch die Sprache buchstäblich aus den Fugen. Präfixe werden vertauscht: (43) ... das Bewusstsein zu beändern und zu vercinflusscn ... und die sonst relativ sichere Syntax läuft an derselben Stelle völlig aus dem Ruder: (43) Äh, und ich bin dazu übergegangen cbn, ja, song ma moi, mit Hilfe von andern und auch selber, äh, eben Musik, Meditation, Trance, äh, eben das Unterbewusstsein zu beändem und zu vcrcinflussen. Und so hab ich zum Beispui amoi meine ganzen Schlafprobleme, des was ja ein Manko is, i konnte a dann ohne Tabletten nicht mehr schlafen, äh, hab ich weg bekommen und auch eine ganze ... (Redeabbruch). 4 Konsequenz Unter dem Eindruck des hier nur ansatzweise an! tlysierten Anamnesegesprächs erhärtet sich die Hypothese, dass der sprachfähige Mensch gerade dann seine Identität vcrsprachlicht, wenn er, um geheilt werden zu <?page no="184"?> 176 Albre c/ 11 Greule können, gez wungen ist, ohne Verstellung über sich zu reden. Obwohl ich weit davon entfernt bin, aus der Analyse eines einzigen, dazu noch vermutlich nicht absolut typischen Anamnescgcsprächs verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen, wage ich dennoch die Behauptung, dass die Sprachwissenschaft in dieser und ähnlichen menschlichen Extremsituationen etwas über die Sprache als Ausdruck der Identität erfahren kann. Im konkreten Einzelfall bewegt sich die Versprachlichung der Identität zwischen Schablone und ich-authentischer, stellenweise als kreativ zu bezeichnender Sprache. Und wir können über das Schwanken der Sprache zumindest beobachten, dass auch die Identität des Ichs ins Wanken gerät. Bewusst verzichte ich darauf, hier die Möglichkeiten anzudeuten, die die Analyse der Sprache des Patienten unter dem Aspekt des Ausdrucks seiner Identität dem therapierenden Arzt bieten kann. <?page no="185"?> ,Sprachidentität' in der germanistischen Forschung und Lehre. Resümee und Ausblick. Zusammenfassung eines Rundgesprächs mit Statements von Peter Bassola, Stojan.Bracic, Jarmo Korhonen, Eckhard Meineke, Dieter Nerius, Dagmar Neuendorff, Eva Szeherova und Zenon Weigt Nina Janich/ Susanne Niißl Vorbemerkung Zum Abschluss der Tagung 11 Sprachidentität - Identität durch Sprache" kamen Inlands- und Auslandsgermanisten zu einem Rundgespräch zusammen. Sie waren als ,Beobachter' geladen, die die Vorträge und Diskussionen unter folgenden Fragestellungen verfolgen sollten: 1. Welchen Stellenwert hat das Thema ,Sprachidentität' im Vergleich zu anderen sprachwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkten? 2. Müsste es hinsichtlich seiner Relevanz zukünftig nicht in besonderer Weise in Forschung und Lehre berücksichtigt werden? 3. Wie könnte/ sollte das geschehen? Unter der Diskussionsleitung von Dr. Nina Janich (Regensburg) nahmen am Rundgespräch teil: Prof. Dr. Peter Bassola (Szeged/ Ungarn), Prof. Dr. Stojan Braci<: (Ljubljana/ Slowenien), Prof. Dr. Jarmo Korhonen (Helsinki/ Finnland), Prof. Dr. Eckhard Meineke Q'ena), Prof. Dr. Dieter Nerius (Rostock), Prof. Dr. Dagmar Neuendorff (Abo/ Finnland), Doz. Dr. Eva Szeherova PhD (Bratislava/ Slowakei), Prof. Dr. Zcnon Weigt (l6dz/ Polen) und als Ehrengast Prof. Dr. Albrecht Greule (Regensburg). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verfassten für diesen Beitrag nach Ende der Tagung schriftliche Stellungnahmen, in denen sie aus der besonderen Sicht ihrer Länder Ansichten über Sprachidentität und Perspektiven für Forschung; Lehre und Politik entwickelten. Dass dabei das Deutsche und seine Stellung in der Welt oft im Vo ~ dergrund steht. liegt an der germanistischen Ausrichtung der Tagung und der durch den Ein- <?page no="186"?> 178 Ni1111 }1111icl1 / S11sa11ne Nitßl fluss des Englischen sich teilweise dramatisch verändernden Situation der Auslandsgermanistik. Die Reihenfolge der Statements versucht inhaltlichen oder regionalen Schwerpunkten gerecht zu werden: E. Meineke äußert sich allgemein und prinzipiell zum Stellenwert von Kultur und damit auch von Sprache und Sprachkultivierung filr unser alltägliches Leben. D. Nerius ergänzt diese allgemeinen Überlegungen durch konkrete, aber prinzipielle (d.h. sprach- und kulturübergreifende) Forderungen nach wissenschaftlicher Konkretisierung des Identitätsbegriffs, nach Klärung der Rolle von Normen und nach Grundlegung einer fundierten Sprachpolitik. Es folgt ein Osteuropa-Schwerpunkt, den St. Bracic mit der slowenischen Perspektive und an E. Meineke anknüpfenden Forderungen an eine europäische Sprachenpolitik einleitet, die nur auf der Basis der Gleichberechtigung der europäischen Sprachen und einer ausgewogenen Fremdsprachenpolitik eine europäische Identität entstehen lassen könne. E. Szeherova schließt mit persönlichen Überlegungen zum Wert einer solchen europäischen Identität aus der Perspektive einer slowakisierten Minderheit an und skizziert ein Programm für Lehre und Forschung. Besonders der Perspektive der Lehre und des universitären Austauschs widmen sich P. Bassola aus der Sicht eines ungarischen und Z. Weigt aus der Sicht eines polnischen Germanisten. Beide skizzieren den besonderen Wert der interkulturellen Herangehensweise an die Identitätsproblematik, durch die kulturelles Wissen und die Perspektive des Anderen stärker einbezogen werden können. Die Stellungnahmen schließen mit den beiden Beiträgen von J. Korhonen und D. Neuendorff, die die finnische bzw. finnlandschwedische Sicht darstellen. J. Korhonen skizziert an Beispielen aus Fennistik und finnischer Germanistik die Verantwortung der Forschung für die einzelsprachliche Sprachförderung, während D. Neuendorff im Rahmen einer Fallstudie Zweisprachigkeit als Perspektive erwägt. Abgerundet werden die Statements durch eine Synthese in Form einer knappen Zusanunenfassung des Rundgesprächs, die Ausgelassenes aufgreift und die Beiträge des Publikums ergänzt. Außer den oben genann· ten ·Fachvertreterinnen und Fachvertretern äußerten sich ausführlicher noch H. Schumacher (Paris) und R. Hoberg (Darmstadt). Ein abschließendes Literaturverzeichnis versammelt die Literaturverweise der einzelnen Teilbeiträge. <?page no="187"?> ,Sprachidentität' in der germanistischen Fors chung und Lehre 1 Eckhard Meineke (Universität Jena): Kulturelle und sprachliche Identität: Vielfalt der Kulturen - Vielfalt der Muttersprachen 179 No1Icliala11l 1 lässig, cool wie die Jugend sein will od.er zu sein glaubt, jede Jugend, auch in der Sprache soll man sich so zur Muttersprache überhaupt verhalten? Hat die Muttersprache einen Wert als Teil oder gar Grundlage kultureller Identität? Die Frage nach dem Wert der Muttersprache ist nicht auf rein wissenschaftlichem Weg zu beantworten. Es geht um Erkenntnis, aber auch um kulturelles Interesse und sich daraus ableitendes kulturpolitisches Wollen und vor allem Handeln. Handeln, das nicht unreflektiert, vordergründig ideologisch motiviert oder schlicht schlecht beraten sein sollte. Handeln, dem nicht der Rotstift seinen Willen diktiert. Die deutsche Sprachgeschichte ist zugleich eine Sprachkultivierungsgeschichte. Sprachkultivierende Bestrebungen sind spätestens seit den Tagen Karls des Großen belegt, hier sozusagen von höchster Stelle. Aber di e se Bestrebungen werden von wenigen Bekannten wie von sicher ungleich mehr weniger Bekannten verfolgt. Wenn es nun über eintausend Jahre dauerte, bis unsere Muttersprache für alle Bereiche des Lebens überhaupt brauchbar geworden ist, dann sollte man sie dementsprechend als wertvolles Kulturgut behandeln, wie das beispielsweise bei Werken der Literatur, bei Kunstschätzen und Architekturdenkmälern der Fall is t, aber natürlich auch bei immateriellen Größen wie z.B. der Aufklärung, der Gleichberechtigung, der Demokratie. Damit ist nicht museale Hätschelei durch selbst ernannte Sprachpfleger gemeint, sondern bedachter Gebrauch der Sprache mit ihren vielfältigen morphologischen, semantischen und syntaktischen Möglichkeiten. Was von Generationen aufgebaut wurde, kann wie alle Kultur in wenigen Jahren oder in einem Augenblick wieder zunichte ge macht werden. Dafür gibt es im 20. Jahrhundert und auch bereits im 21. Belege genug. Von daher verbietet sich ein leichtfertiger Umgang mit unserer Sprache ebenso wie die neuerdings zu beobachtende eilfertige Bereitschaft, in bestimmten Wissenschaftsgebieten, nicht zuletzt der Sprachwissenschaft, das Deutsche zugunsten einer aus historischen Gründen weit verbreiteten wissenschaftlichen Weltsprache, die als solche von unbestreitbarem Nutzen ist, nicht mehr zu verwenden. Eine Haltung, die nicht wenige ausländische Wissenschaftler unbegreiflich finden . Einige begründen diese Haltung sogar mit der Auffassung, bestimmte wissenschaftliche Begriffe könnten nur noch im Englischen zutreffend <?page no="188"?> 180 Ninn / anicl1 / S11san11c Niißl gebildet werden, nicht mehr im Deutschen. Das ist ein folgenschwerer Irrtum wie manch anderer sprachphilosophischer Trugschluss, der gerade bedeutende Wissenschaftler und ihre Schulen in geistige Hamsterräder gebracht hat und bringt. Etwa die Auffassung, dass außerhalb des sprachlich begründeten Erkenntnisuniversums des Menschen keine noch nicht erkannte und versprachlichte Welt angenommen werden kann und braucht. Hier drehen ihre eigene begrenzte Erkenntnisfähigkeit als Maßstab setzende Leute das Rad der Geschichte zurück. Eine Kultur, die ihre Sprache nicht schätzt, wird sie verlieren, das ist geschichtlich belegt und für die so genannten bedrohten Sprachen vielfache Gegenwart. Damit aber verliert eine solche Kultur ohne eigene Sprache auch den unverstellten Zugang zu ihrer literarischen und sonstigen kulturellen Tradition. Andere Kultur- und Sprachgemeinschaften wissen das und handeln entsprechend, wenngleich sicherlich da das Angemessene vom Übertriebenen unterschieden werden muss. Das Beharren auf eigener Identität, eigener Kultur, eigener Sprache ist nicht rückschrittlich. Es kann g e rade sehr weltoffen sein. Und es ist sogar die Voraussetzung dafür. Denn das kulturelle Leben der Welt kann nur dann in maximaler Varietät und Tiefe existieren, wenn es eine Vielzahl und Vielfalt der Kulturen gibt, die sich gegenseitig austauschen und anregen - und tolerieren, nicht dominieren. Am besten wissen das die Leute, die wirklich auf der ganzen Welt zu Hause sind. Ein Zitat aus dem Hotel Guide der Best Western Hotels des Jahres 1998: „ What makes the world so fascinating is its endless variety. The variety of peopla and cultures, of landscapes and architectures, of languages and cuisines". Selbst hier kommt die Sprache vor dem Essen. Eine weltweite Einheitskultur auf niedrigstem gemeinsamen Nenner, auch sprachlich, dient niemandem. Für sie gilt das gleiche wie für die Schuhcreme, die Multicolor heißt. Die ist bekanntlich farblos. Daraus ergeben sich Folgerungen für Wissenschaft und Politik. Sprach- und Literaturwissenschaft ist Kulturwissenschaft, und Kultur ist das, was menschliche Gesellschaften hervorbringt, sinnvoll macht, des Lebens wert macht und erhält. Nicht nur als Zitatenspender filr Festreden. ·Man sagt: Die Natur des Menschen ist Kultur. Kulturwissenschaften tragen demnach dazu bei, den Menschen zu sich selbst zu bringen. Das haben die Zeitgenossen des dritten Jahrtausends zweifellos auch nötiger denn je. Gerade hier liegt eine Kernaufgabe für die universitäre Ausbildung. Eine Aufgabe, die nicht veraltet. Angesichts des teilweise dramatisch zurückgehenden Interesses am Erwerb und Sprechen des Deutschen im Ausland ergibt sich daraus auch <?page no="189"?> ,Spracliidentität' in der germanistischen Forschung und Lehre 181 eine klare Aufgabe für die kulturelle Vertretung unseres Landes nach außen. Es wäre fatal, wenn dort der Eindruck entstünde, dass die deutsche Sprache für deren primäre Sprecher eine qua11tite oder vielmehr qualite 11egligeable ist. 2 Dieter Nerius (Universität Rostock): Sprachidentität allgemeine Forschungsperspektiven und -ziele In dem Begriff Sprachidentität lassen sich viele Aspekte sprachwissenschaftlicher Forschung bündeln, was unter anderem bedeutet, dass dieser Begriff auch in mehreren Teilbereichen der Linguistik in der Lehre angesprochen werden kann. Bevor man ihn aber als eigenen Gegenstand in die akademische Lehre einbezieht, muss über seinen Inhalt und seine Verortung noch genauer nachgedacht, d.h. geforscht werden. Ich sehe hier auf den ersten Blick vor allem drei Fragestellungen als besonders wichtig an: Die erste betrifft die Begriffsbestinunung von Sprachidentität. Es handelt sich bei der Sprachidentität sicher um einen komplexen und differenzierten Begriff. Subjektiv erweist er sich nui· in der Konfrontation mit anderen Sprachidentitäten als relevant, und zwar in abgestufter Weise je nach der betreffenden Konfrontationssituation und dem Identitätsverständnis des Sprachteilnehmers, also etwa in der Identitätsbeziehung zu einer Gesamtsprache wie Deutsch oder Französisch, aber auch in der Beziehung zu einer regionalen Umgangssprache oder einem Dialekt bzw. zu einem Soziolekt oder einer Gruppensprache. Objektiv verbindet sich dieser Begriff, und das möchte ich als die zweite Fragestellung ansehen, mit der Bestimmung und Differenzierung der sprachlichen Normen in diasystematischer, vor allem in diatopischer und diastratischer Hinsicht. Dabei geht es auch um die Frage, welche Nonnen in besonderem Maße als identitätsstiftend in Bezug auf die verschiedenen regionalen, sozialen und anderen Differenzierungsformen innerhalb einer Gesamtsprache anzusehen sind oder angesehen werden. Schließlich halte ich das Problem der Sprachidentität drittens für eine wichtige Fragestellung in einer noch auszuarbeitenden Theorie der Sprachpolitik. Hier gibt es gerade mit Blick auf das zusammenwachsende Europa noch große Defizite. Man hat zwar die wirtschaftliche und politische Vereinigung Europas weit vorangetrieben, aber leider den dabei auftretenden kulturellen und sprachlichen Problemen wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Auf jeden Fall kann und darf die Entwicklung einer europäischen Identität nicht in der Verdrängung der nationalen kulturellen und sprachlichen Identitäten bestehen, denn sie machen doch gerade <?page no="190"?> 182 Nina Jrmich / S11sa1111e Nitßl den Reichtum unseres Kontinents aus. Es wird also eine wichtige Aufgabe künftiger, noch zu entwickelnder europäischer Sprachpolitik sein, die Notwendigkeit einer effektiven internationalen Kommunikation mit dem Erhalt und der Förderung der Einzelsprachen als Trägern der nationalen Kultur und Identität zu verbinden. 3 Stojan Braci<~ (Universität Ljubljana): Vielfalt in Europa - Perspektive einer „kleinen" Sprache Die Sprachidentitätsprobleme, mit denen sich in der jetzigen Situation des vereinten Europas große Nationen wie Deutsche, Franzosen, Spanier, Italiener u.d.m. konfrontiert sehen, sind uns Slowenen, die wir eine kleine Nation darstellen, schon seit langem bekannt. Die Existenz unseres Volkes war in der Geschichte immer auf's Engste mit der Nationalfrage verbunden, mit dem Recht, seine Sprache in allen Funktionsbereichen des Lebens, besonders im Amtsverkehr und in der Schule verwenden zu dürfen. Auch im ehemaligen mehrsprachigen Jugoslawien gab es in der alltäglichen Praxis Tendenzen, das Slowenische trotz Verankerung im Grundgesetz als nicht gleichberechtigte Sprache zu behandeln (und sie in einigen Tätigkeitsbereichen zu verdrängen). Was die slowenische Nationalminderheit im österreichischen Kärnten anbelangt, ist zur Zeit die Debatte um das Ausmaß der Aufstellung von zweisprachigen Ortstafoln politisch brisant. Die slowenische Minderheit in Italien pocht darauf, dass in anerkannt zweisprachigen Gebieten weiterhin zweisprachige Stimmzettel bei den Wahlen ausgestellt werden, wogegen sich die Behörden wehren. Lauter „Kleinigkeiten", die der nationalen Minderheit und deren nationalen Identität offenbar jedoch viel bedeuten; dessen scheinen sich auch die Behörden bewusst zu sein. Im heutigen Europa besteht bekanntlich die Gefahr, dass das Englische in allen Tätigkeitsbereichen dermaßen die Oberhand gewinnt, dass um es ein bisschen zugespitzt auszudrücken alle anderen großen und kleinen europäischen Sprachen nur mehr im Bereich des privaten Smalltalks ·verwendet werden. Dem ist entgegenzutreten. Es reicht nicht aus, dass mit gewissen ,Tricks' Fachleute etwa nach Deutschland gelockt werden (um Stipendien kann man sich in englischer Sprache bewerben), sondern es muss vor allem folgenden Gesichtspunkten Rechnung getragen werden: 1. Von vornherein musste die Gleichberechtigung aller europäischen Sprachen in offiziellen Akten klar definiert und gesichert werden. <?page no="191"?> ,Spracliidentität' ill der germanistischen Forsc111mg und Lehre 183 Dem Englischen sollte dabei nur in ganz seltenen Fällen der Status einer ling11n franca zuerkannt werden, wo es im Interesse der Sache liegt, sie zu verwenden. 2. In allen bHatera]en Kontakten innerhalb der europäischen Union sollte weiterhin darauf geachtet werden, dass man sich nicht automatisch auf Englisch verständigt, sondern zweisprachig (nach Bedarf mithilfe von Dolmetschern}. 3. Alle Nationen sollten sich weiterhin um konkurrenzfähige Leistungen in allen Lebensbereichen bemühen. Nicht (in erster Linie) aufgrund der auf Englisch verfassten Informationsmaterialien sollte sich jemand etwa für das Studium in Deutschland entscheiden, sondern wenn dort das Shldium gut organisiert ist und neue Perspektiven für die wissenschaftliche und persönliche Entwicklung gewährt. Ein solcher Standpunkt löst automatisch auch das Problem, ob die Wissenschaftssprache nur mehr das Englische sein soll. Progressive Wissenschaft bringt genügend Motivation zum Erlernen einer Fremdsprache mit sich. Das hat die Geschichte, auch die deutsche, schon mehrfach bewiesen. Denn wenn eine Sprache nicht mehr den wissenschaftlichen FunktionalstiI pflegt, ist es so, wie wenn in einem Organismus ein Organ nicht mehr funktioniert und abstirbt. Die Folge ist bekanntlich ein Vegetieren. 4. Jeder Europäer/ jede Europäerin sollte neben seiner/ ihrer Muttersprache und neben dem Englischen in der Schule noch eine dritte Fremdsprache erlernen, nach Möglichkeit die eines Nachbarlandes. Und warum dieses Bemühen um die Gleichberechtigung der Sprachen? Weil sonst in wenigen Jahrzehnten aus Europa ein zweiter amerikanischer ,melting pot' wird. Die Größe und Stärke des vereinten Europas besteht hingegen darin, aus der Vielfältigkeit und der Tradition seiner Nationen zu schöpfen. Das geht einher mit der Originalität, Prosperität und Toleranz. Der Kampf um die gleichberechtigte Verwendung der deutschen Sprache ist somit auch der Kampf für das Slowenische und für alle anderen europäischen Sprachen. Jeder müsste in Europa das Recht haben, ohne Vorurteile und bedingungslos seine Muttersprache verwenden zu können, ohne gleich zum Englischen zu wechseln. Dies mag in gewissen Fällen etwas teurer und umständlicher ausfallen, ist aber langfristig eine gute Anlage. Eine solche Sprachpolitik ist nämlich eine Voraussetzung für jene Qualität, ohne die es kein Europa geben kann die europäische Identität. · <?page no="192"?> 184 Nina fa11icli / Susanne Näßl 4 Eva Szeherova (Universität Bratislava): Europäische Identität als Brücke - Mehrsprachigkei t als Chance Das höchst aktuelle Thema der vielfältigen Problematik des Begriffes Identität im Kontext der Mehrsprachigkeit, das als ein Phänomen der neueren und neuesten Zeit anzusehen ist, und die von den Teilnehmern der Tagung vorgestellten interessanten, anregenden und nicht einmal widersprüchlichen Versuche, die präsentierten Fragen zu lösen, haben mich tief berührt und zu einer intimen, inneren Selbstreflexion geführt. Die Ausgangsthese des Symposiums, dass die Identitätsfrage im neu gestalteten Europa in ihren Wechselbeziehungen mit der Sprache gerade auch im Kontext von Mehrsprachigkeit ihre schon immer prägende Rolle bei der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins behält, findet auch in dem von fünf Millionen Bürgern bewohnten Beitrittsland Slowakei ihre Bestätigung, was mit dessen immer noch nicht bewältigter Vergangenheit, der verschiedenartig identitätsgeprägten Geschichte (Österreich-Ungarische Monarchie) und der Machtverteilung der Länder zusammenhängt. Von durchaus ernst zu nehmendem Interesse sind in dem Zusammenhang die Ergebnisse der neuesten Umfrage (Domino-Porum, 21. 11. 2000) bezüglich der Auffassung zu Problemen wie: Stolz auf das eigene Land bzw. nationale Zugehörigkeit, Patriotismus und Identitätsbewusstsein, die ein großes inhaltliches Defizit bei diesen Begriffen deutlich machen die Hälfte der Befragten empfindet nichts und ein Viertel schämt sich, Slowake zu sein„. Das sind offensichtlich auch die Folgen der von äußeren Umständen bestimmten Entwicklung der Nation, die an ihrer Geschichte sei es vor 1918, nach der Gründung der Tschechoslowakei, nach dem Zweiten Weltkrieg und auch der Teilung des gemeinsamen tschechoslowakischem Staates nicht aktiv hat teilnehmen und sich ihrer individuellen Identität bzw. Zugehörigkeitsidentität kaum hat bewusst werden können. In der sozialistischen Ära sind hier, wie in jedem Ostblockstaat, nur die kollektivbezogenen, inhaltlich entleerten oder die übertriebenen, nationalistischen Auffassungen von Identität reflektiert worden - oder aber sie wurde völlig ignoriert. Das persönliche Schicksal meines Werdegangs ist das der Angehörigen einer slowakisierten Minderheit, die nach dem Muster einiger soziopsychologischer Formationen der ,akischen' Identität (Respekt, Anerkennung dem Größeren gegenüber), der ,Zugehörigkeitsidentität' (Berufschancen) oder ,Gruppenidentität' (nach Zimmermann 1992) aus pragma- <?page no="193"?> ,Sprac11idmtilät' in der germanis tischen Forschung und Lclrre 185 tischen Überlegungen heraus und freiwillig dazu veranlasst wurde, ihre herkömmliche Identität aufzugeben, sich ohne das ursprüngliche Land zu verlassen die Sprache des Landes und damit auch eine ,neue' Identität anzueignen. Die Frage ist, wie viel man verloren hat, während die Identität neu aufgebaut werden musste: Zwar nicht in einem Zustand sprachlichen und sozialen Niemandslands (wie es bei Immigranten der Fall ist}, doch in Anbetracht der aus Minderwertigkeitskomplexen erfolgten Reflexion ist keine echte Zweisprachigkeit entstanden, sondern man hat in vielen Fälle n wegen der schon erwähnten soziokulturellen Prägung ein differenziertes Sprachverhalten entwickelt. Mit der Aneignung weiterer Sprachen (Russisch, Deutsch) entstand eine Diskrepanz in den Identitätsdimensionen, bezogen auf gelebte Normen und Werte. Später hat man dann in der leistungsorientierten, auf Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft die Leistungsmotivation als für die eigene Identität prägenden Faktor akzeptiert, sich sogar mit der Kultur der ,großen' Nation (Deutschland) identifiziert (Prestigefrage). In einer Welt, wo man sich weder als Ungar noch als Slowake fühlt, vielleicht eher so wie d e r namenlose Ausländer in Deutschland (von M. Thurmair auszugsweise zitiert; vgl. Oppenrieder / Thurmair in diesem Band), stellt man sich wie er d.ie Frage „ Wer bist du eigentlich? " und flüchtet dann in die Arn: i.e der ,europäischen' Identität, die vielleicht eine gewisse Geborgenheit und Sicherheit für die zu Hause von innen und außen gefährdete Existenz darstellt: als eine ambivalente, neutrale, aber auch interkulturelle Daseinsform, deren Kraft nicht von der Vollkommenheit der Sprache determiniert ist und auch als Flucht und Vision wahrgenommen wird, die gleichzeitig aber mit einer vorsichtig artikulierten Angst gegenüber· ,fremden' Identitäten und vor weiteren Verlusten verknüpft ist. Erst nach dieser Erfahrung wird es wohl möglich sein, eine Rückkehr zu der Identität zu verwirklichen, die mit dem Ort verbunden ist, an dem man gelebt und gearbeitet hat, wo die Sprache als wichtiges Interaktionsmittel dient. Diese Identität wird durch ein reifes interkulturelles Selbstbewusstsein getragen werden. Welche Rolle bei dieser Identitätswahrnehmung den Sprachwissenschaftlern zukommt, welche Sprache das Gefühl der europäischen Identität determinieren könnte bzw. welche Rolle die ,kleinen Sprachen' im Kontext der europäischen Kultur spielen dies und vieles andere ist noch zu untersuchen. <?page no="194"?> 186 Nina / 1111ic/ 1 / S11sm111e Niißl Das Konzept der europäischen Mehrsprachigkeit, die zu einer ,harmonischen' Identität in einer erweiterten EU beitragen könnte, sollte mehrere Aspekte berücksichtigen: 1. Neben der unbestritten notwendigen Förderung der Aneignung mehrerer Sprachen sollten die Beitrittsländer ihre eigene nationale und ihre Minderheitensprachen im Bereich von Bildung und Wissenschaft pflegen. 2. Die Verwendung von Fremdsprachen als Arbeitssprachen (mit Ausweitung des Kanons der Arbeitssprachen nach Maßgabe großräumiger regionaler Bedürfnisse und auch im Rotationsverfahren gehandhabt) sollte unterstützt werden. 3. Für die Wahrnehmung einer Reflexion über Identität ist eine Reform des Sprachunterrichtssystems erforderlich, unter Berücksichtigung von Nachbar-, Minderheiten- und Begegnungssprachen (dabei Bevorzugung der deutschen Sprache), wie auch die Konzipierung von universitären Ausbildungs-/ Studiengängen, die sich mit den Sprachen und Kulturen der Beitritts-, Nachbar-, Minderheitsgemeinschaften und -länder beschäftigen (wichtig sollten dabei Deutschlandstudien bleiben). 4. Eine curriculare Mehrsprachigkeit mit der Nutzung von Synergieeffekten bei der zweiten und dritten Fremdsprache sollte herbeigeführt und gefördert werden. 5. An den Universitäten sollten in den entsprechenden Sprachübungsformen Identitätsfragen auch unter linguistischen Aspekten behandelt werden. 6. Auch die Rolle des künftigen Lehrers als transkulturelfom, universellem, multifunktionellem Vermittler von Mehrsprachigkeit zusammen mit lnterkulturalität sollte überdacht werden er scheint mir mit diesen Aufgaben überfordert zu sein. Die auf der Tagung erörterten Themen sollten zu einer allseitigen und tief gehenden Erforschung der interaktiven Dimensionen zwischen Sprache(n) - Identität - Patriotismus - Erfolg lnterkulturalität - Mehrsprachigkeit durch Sprachwissenschaftler ,großer' und ,kleiner' Länder anregen. Trotz vielfacher Skepsis und durchaus nicht zu leugnender Tatsachen ist nicht zu bezweifeln, dass die deutsche Sprache ihre Stellung innerhalb der europäischen Wissenschaft bewahren wird. Die Motivation für ihren Erwerb sollte aber erhöht (auch Spaß und Freude an der Wissenschaftssprache) und die Hegemonie des Englischen nicht als Konkurrenz, son- <?page no="195"?> ,Sprachidentität' in der germanistischen Forsc hung und Leltre 187 dem als eine Möglichkeit betrachtet werden, sich auf solche Kursangebote zu konzentrieren, in denen die Spezifik der deutschsprachigen Diskussion zu übertragen, zu transponieren, zu übersetzen gelernt wird: Der wissenschaftliche Diskurs benötigt die kulturspezifisch-inhaltliche Einbindung in das kommunikative Verhalten, d.h. die besondere deutschsprachige Kulturspezifik, die auch in universitären Bereichen gefördert werden sollte. 5 Zenon Weigt (Universität L6dz): Sprachidentität interdisziplinär und interkulturell. Deutsch-polnische Anmerkungen Während des ersten Tages des Symposiums haben wir uns zahlreiche Referate und Aussagen von Diskutanten angehört, die das Thema Ide11filät unter vielen interessanten Aspekten dargestellt haben. Alle Aussagen haben deutlich gemacht, dass das Problem der Identität sehr vielseitig ist und nicht nur eng als Sprachidentität gesehen werden sollte, dass die Identität durch Sprache eng mit verschiedenen anderen Disziplinen, z.B. mit der Kultur verbunden aufgefasst werden muss. langjährige Erfahrung in der Unterrichtspraxis zeigt, dass man sich bei der Erlernung der Sprache allzu oft auf die grammatische Korrektheit und auf den Ausdruck konzentriert. Dies betrifft vor allem den Fremdsprachenerwerb auf der universitären Ebene. Im Gcrmanistikstudium ist eine zu große Zersplitterung der Fächer zu beobachten. Die behandelte Problematik gibt dem Studenten manchmal wenig Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Fächern zu sehen. Genauso ist es mit dem Problem der Identität. Zu begrüßen wären Wahlfächer, die dieses Thema genauer und gründlicher behandeln könnten. Es wäre auch für Studierende interessant, die vielseitigen Aspekte dieses Problems jeweils in einem anderen Fach kennen zu lernen. Erwünscht wären auch gemeinsame Diskussionen von polnischen und deutschen Studierenden, um noch einen zusätzlichen Akzent in die Betrachtung des Problems einzuführen: die Interkulturalität. Dies würde dazu führen, das Problem nicht nur mit eigenen Augen zu sehen, sondern zu deutlicheren und reicheren Reflexionen zu gelangen, indem man sich dieser Problematik in Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Anderen bewusst wird. Um die andere Sichtweise mit der eigenen konfrontieren zu können, sind Besuche von deutschen Studierenden und Lektoren erforderlich. Es gibt bei den deutschen Studierenden noch zu wenig Interesse für internationale Forschungs- und Aus- <?page no="196"?> 188 Ninn fn11ic/ 1 / S11sa11nc Näßl tauschprogramme mit dem Osten; immer noch zu wenig deutsche Lektoren arbeiten in Polen. Die englische Sprache ist an dieser Stelle besser vertreten. Man könnte sich die Frage stellen, ob die Deutschen selbst genug tun, um sich der zunehmenden Welle von Amerikanismen und Anglizismen entgegenzustellen. Eine große Rolle in dieser Hinsicht hat auch die deutsche Presse zu spielen, die oft fremde Sprachgewohnheiten festigt und verbreitet. Der Andrang der englischen Sprache ist auch im deutschen Fernsehen und im Rundfunk zu sehen. Zu wenig Platz bleibt für die Pflege der deutschen Sprache vor allem jn Deutschland und im Ausland. Für bilaterale und multilaterale Beziehungen sind auch Universitäts· partnerschaften zwischen Universitäten aus benachbarten Ländern von Bedeutung, die gemeinsame Forschungen führen. Z.B. pflegt die Universität L6dz Partnerschaftsbeziehungen mit der Justus-Liebig-Univcrsität Gießen. Die German'.istiken haben ein gemeinsames Forschungsthema Spuren deutscher Spraclre in L6di (im Rahmen des Projekts Germanistische l11stitutspartnerscl1aft), das eine gute Grundlage für die Erarbeitung des Themas Identität bieten könnte. Unter anderem wird hier auch die deutsche Presse vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts analysiert. Die Literaturwissenschaftler untersuchen den Einfluss der deutschen Kultur und Literatur auf die Koexistenz von vier Nationen, die die Stadt t.ödz gemeinsam bewohnt haben; nicht ohne Bedeutung bleibt in diesem Kontext das Problem der Minderheiten. Alles dies gehört zu dem breit gefassten Problem der Identität. Interessant wären auch Forschungen auf dem Gebiet der Translatorik, um eventuelle Relationen zwischen Identität/ Originaltext und ldenti- Uit/ Übersetzung aufzudecken. Genauso wkhtig ist das Thema, inwieweit und wie sich die ausländischen Germanisten mit der deutschen Sprache identifizieren. Für die Propagierung der deutschen Sprache eignen sich besonders Gesellschaften und Institutionen, die sich mit der deutschen Sprache beschäftigen (wie der DAAD, die Goethe-Institute usw.) und deren Arbeit und Engagement in dieser Problematik zu unterstützen wäre. Es gibt zahlreiche (auch außeruniversitäre) Anlässe, um über die deutsche Sprache und das Thema Identität zu diskutieren, z.B. den Europäisclten Sprachentag (29. September). <?page no="197"?> ,Sprac11ide11tität' i11 der ger111a11islisclten Forscl11111g 1111d Lc11re 6 Peter Bassola (Universität Szeged): Die Stellung der deutschen Sprache in Ungarn 189 Das höhere Prestige der deutschen Sprache in Ungarn ist zum einen auf einen historischen Grund, zum anderen auf einen wirtschaftlichen und geographischen Grund zurückzuführen. Seit Jahrhunderten spielte die deutsche Sprache in Ungarn eine besondere Rolle: Neben Latein war die deutsche Schriftlichkeit maßgebend, durch die Einführung der Schulpflicht im 18. Jahrhundert wurde die deutsche Sprache ebenfalls protegiert. Bis zum 2. Weltkrieg war in Ungarn Deutsch die erste Fremdsprache und die Intelligenz benutzte das Deutsche als Verkehrssprache. Nach dem 2. Weltkrieg versuchte die politische Macht diese Stellung durch das Russische zu ersetzen und bevorzugte diese Sprache institutionell auf allen Ebenen. Das Paradoxon war aber, dass alle anderen Sprachen in der Anwendung bessere Chancen h<1tten als Russisch. Je nachdem, welche Möglichkeiten (verhältnismäßig geringe Reisemöglichkeiten), wirtschaftliche oder kulturelle Interessen etc. die Einzelnen hatten, lernten sie überwiegend Deutsch oder Englisch, oder aber eine neulateinische Sprache wie Französisch, Spanisch oder eben Italienisch (vgl. dazu Bassola 1992). Dabei ist besonders die geographische Nähe der deutschsprachigen Länder hervorzuheben, da die meisten Touristen aus diesen Ländern kamen und immer noch kommen. Außerdem sind sie die wichtigsten Wirtschaftspartner Ungarns. Zum höheren Prestige der deutschen Sprache tragen auch die leider in immer kleinerer Zahl existierenden - Ungarndeutschen bei. Nach dem politischen Wechsel in Ungarn hat sich auch die sprachliche Situation verändert: Zwei Sprachen, Englisch und Deutsch, beherrschen das Gebiet mit etwa 85% bei der Sprachenwahl im schulischen Unterricht. Im Wettkampf der beiden Sprachen hat Englisch in den letzten zwölf Jahren auf Kosten des Deutschen etwas zugenommen (vgl. Basso! a 1997 und 2002). Auf Grund des oben Gesagten stellen sich die Fragen: 1. Muss mit der Globalisierung auch eine sprachliche Vereinheitlichung einhergehen? Ist der Vormarsch des Englischen ein positives Zeichen dafür? 2. Zeigt sich diese Tendenz auch in Europa bei der Erweiterung der Europäischen Union? Ist auch hier das Englische die lingua franca, die die Kommunikation erleichtert? Oder spielen noch andere Sprachen eine Rolle in der europäischen Konununikation? Gibt es hie und da <?page no="198"?> 190 Ni11a / 1111icl1 / Susanne Niißl Regionen, in denen die eine oder andere Sprache eine besondere Stellung einnimmt? 3. Welche Strategie soll man verfolgen, um eine optimale Lösung zu finden? 6.1 Stellung des Englischen in der Welt Die erste Frage kann durch die immer stärker werdende Tendenz einfach beantwortet werden: Die Globalisierung verlangt eine einfachere, schnelle und unkomplizierte Kommunikation, die am leichtesten durch das Englische erreicht werden kann. Englisch kann heute schon als Weltsprache betrachtet werden, denn sie ist praktisch überall als zuverlässiges Kommunikationsmittel anzuwenden. Aber gerade deshalb erfährt das Englische gewisse Nachteile. Die zahlreichen Sprecher beherrschen das Englische auf ganz unterschiedlichen Niveaus, die von sehr wenigen Kenntnissen bis hin zu Englisch.als Muttersprache reichen. Und in den meisten Fällen spricht man Englisch mit Nichtmuttersprachlern, die ebenfalls gewisse Fehlertypen automatisch mitbringen. Mit dieser Sprache der Nichtmuttersprachler ist oft auch keine besondere kulturelle Kenntnis verbunden, so dass diese Sprache ,ohne Gesicht' nur als Kommunikationsmittel dient, das keinen kulturellen oder emotionalen Wert hat. 6.2 Deutsch in Europa Zwar ist die Stellung des Englischen auch in bestimmten Ländern Europas so in den skandinavischen Ländern, in den Niederlanden und immer stärker auch in Italien, Griechenland u.a. besonders stark, aber Französisch und Deutsch können in vielen Gegenden als Alternativkommunikationsmittel betrachtet werden. Traditionell stark vertreten ist Deutsch vor allem in Mittel- und Osteuropa. Englisch erscheint auch hier als Weltsprache, aber in bestimmten Kreisen spielt Deutsch doch noch eine größere Rolle in der Kommunikation. 6.3 Strategien Die Sprachidentität ist in meiner Auffassung eng mit Kenntnissen verbunden, die durch diese Sprache getragen und bewahrt werden. Das sind die historischen, kulturellen, literarischen u.a. Kenntnisse des jeweiligen Landes bzw. der jeweiligen Nation. Jede Person hat einen gewissen Bezug zur eigenen Muttersprache, welcher sich unterschiedlich realisiert, je nachdem, welche und wie tiefe Kenntnisse durch diese Sprache bewahrt <?page no="199"?> ,Sprachidentität' in der gernumistischen Forschung und Lclirc 191 sind. Diese Sprachidentität ist in jeder Person durch die Schulausbildung in der Muttersprache vorhanden, die man vielleicht ,muttersprachliche Identität' nennen könnte. Wenn die fremdsprachlichen Kenntnisse ein gewisses Niveau erreicht haben, kann die schulische Ausbildung oder ein Teil dieser Ausbildung in der Fremdsprache erteilt werden. Der Fremdsprachenunterricht in der Schule soll durch Schüleraustauschprogramme effektiver gemacht werden, was nicht nur die Fremdsprachenkenntnisse, sondern auch die Fachkenntnisse und durch die freundschaftlichen Beziehungen auch die emotionalen Bindungen stärken kann. Bei höheren Studien soll auch die Möglichkeit geboten sein,·ein bis zwei Semester im Land dieser Zielsprache zu studieren. Das Ergebnis eines solchen Ausbildungsweges ist dann eine gewisse Zweitsprachidentität, die je nach Niveau der Sprachkenntnis bzw. der Sach- und Fachkenntnis, welche. durch diese Sprache erworben worden ist und auch noch zu beziehen ist, stärker oder schwächer sein kann. Diese Personen mit der Zweitsprachidentität sind dann Vermittler zwischen den beiden Kulturen und beiden Nationen, so wie das György Sebestyen (1988: J5f.) über die Ungamdeutschen von damals festgestellt hatte: Die Ungarndeutschen sind [...] Katalysatoren, sind ethnische Medien eines Strömens, das Ungarisches zu den Deutschen und Österreichern und Deutsches und Österreichisches zu den Ungarn bringt, sind bewusste und freiwillige Vermittler geistiger Inhalte. Durch die günstige Situation für die deutsche Kultur und deutsche Wirtschaft hat das Deutsche in Ungarn wie in den meisten anderen MOE- Ländem eine gute Chance, als Zweitsprache zu fungieren. Da die Ungarndeutschen in der Nachkriegszeit durch Aussiedlung und politischen Druck die eigene Sprache, d.h. den Dialekt, in großem Maße und in schnellem Tempo verloren haben, besteht heute nur die Möglichkeit, dass sie ihre Identität durch das Standarddeutsche wiederfinden. Sie müssen dabei mit bewusster Sprachpolitik in Schule und Partnerschaft mit deutschen und österreichischen Ortschaften unterstützt werden. Die oben von György Sebestyen genannte Vermittlerrolle soll nun von anderen mit Deutsch als Zweitsprache übernommen werden, die dabei je nach Ausbildung und Sprachkenntnis eine unterschiedliche Rolle spielen. Deutschlehrer sind als wichtigste Vermittler zu betrachten. Sie vermitteln nicht nur die SpracJ: te, sondern auch die Geschichte, Kultur und Literatur. In ihrer Ausbildung sollen diese Fächer, welche traditionell schon immer die Grundpfeiler bildeten, weiterhin beibehalten werden. Ihre <?page no="200"?> 192 Nina / 1111id1 / S11sn1111e Näßl Ausbildung darf nicht auf das Niveau eines Managers gesenkt werden. Im Wettkampf bei der Sprachenwahl ist über das Aneignen der Kommunikationsstrategien hinaus auch die Vermittlung von Kenntnissen in der Schule von großer Bedeutung. Dazu sollen Deutschlehrer vorbereitet werden, die nicht nur Grammatik, sondern auch Literatur, Geschichte, Landeskunde usw. unterrichten. Die Frage, wie die germanistischen Institute profiliert sein müssen, ob wissenschaftlich oder eher ,dienstleistungsorientiert' (vgl. Diskussion über die LKZ 2001: 411), ist eindeutig mit ,wissenschaftlich' zu beantworten. Die germanistischen Institute dürfen nicht auf dem Niveau einer Sprachschule tätig sein, denn gerade durch die wissenschaftliche Arbeit können sie sich ständig erneuern und den Studierenden das anspruchsvolle Arbeiten, das Streben nach dem Wissen von Neuem beibringen. Das Alter spielt bei dem Grad der Sprachidentität eine wesentliche Rolle. [n der Muttersprache werden wir aufgezogen, von klein auf sprechen wir diese Sprache und in dieser Sprache beziehen wir die Grundinformationen und in der Schule alle wesentlichen Kenntnisse. Diese Sprachidentität der Muttersprache ist selbstverständlich am stärksten. Je früher aber die erste Fremdsprache unterrichtet wird, je früher in dieser Sprache auch schon neue Kenntnisse vermittelt werden, desto fester wird eine neue Sprachidentität, die einer Fremdsprache. Diese Zweitsprachidentität soll ständig durch die Vermittlung von neuen Kenntnissen über diese Sprache, die Geschichte und Kultur dieser Nation oder Nationen, und darüber hinaus durch Schulpartnerschaften, Besuche usw. gestärkt werden. Das Ziel des Zweitsprachenunterrichts ist es, die Sprachkenntnisse auf ein Niveau zu bringen, das den/ die Lcrncndc(n) befähigt, neue Informationen seiner/ ihrer Bildung entsprechend einzuholen. Auf der Hochschulebene sollte auch fachbczogener Unterricht in der Zweitsprache möglich sein. Bei einem solchen Programm müssten Partnerschaften, Besuche im Gastland o.Ä. staatlich oder durch Sponsoren gefördert werden, denn nur die Finanzkraft weniger Familien erlaubt es, diesen Bildungsweg zu gehen. Auf niedrigeren Stufen des Deutschunterrichts ist es auch erfolgreich, wenn Kenntnisse der deutschen, österreichischen und/ oder Schweizer Geschichte, Kultur, Geographie u.a. in der ungarischen Metasprache vermittelt werden, die dann später in deutscher Sprache wiederholt besprochen werden können. Dann können diese neuen Kenntnisse durch die Fremdsprache gestärkt werden und die Kenntnisse wiederum stärken die Sprachidentität. In diesem gegenseitigen Verhältnis wirken auch bei den Ungarndeutschen die Kenntnisse über diese Volksgruppe und die <?page no="201"?> ,Sprachidentität' in der gemtanistischen Forscliu11g und Lehre 193 Sprache aufeinander ein. Durch die Aussiedlung der Ungarndeutschen und die die meisten Fremdsprachen unterdrückende Sprachpolitik in den Nachkriegsjahren ist es zum starken Sprachverlust der Ungarndeutschen gekommen. Nur mehr die Alten sind es größtenteils, die der eigenen Muttersprache noch mächtig sind. Durch den Unterricht der deutschen Standardsprache an die junge Generation der Ungarndeutschen kann aber die zum Teil verlorene Identität wiedergefunden und durch die Sprachidentität erweitert werden. Aus den oben genannten Gründen müssen die MOE-Länder, so auch Ungarn, bei der Einschätzung der Situation der deutschen Sprache speziell beurteilt und behandelt werden. Hinzu kommt noch das besondere [nteresse für Deutsch: In der achtklassigen Grundschule wird noch etwas mehr Deutsch gewählt als Englisch, in den höheren Schultypen immer mehr Englisch. Ungarn hat durch seine besondere Sprache und die relativ niedrige Zahl seiner Bevölkerung eine besondere Situation im Fremdsprachenunterricht. Es soll erreicht werden, dass immer mehr Ungarn nicht nur eine, sondern zwei oder mehr Fremdsprachen auf Kommunikationsniveau beherrschen. Hier stelle ich mir eine gewisse Abstufung vor: eine Sprachidentität zur eigenen Muttersprache auf höchster Ebene eine Zweitsprachidentität mit einer sicheren Sprachkenntnis und einer hohen Kenntnis von Informationen über das jeweilige Land und die Bevölkerung eine Sprachidentität von (einer) weiteren Sprache(n) mit weniger Sprach- und Kulturkenntnis. 7 Jarmo Korhonen (Universität Helsinki): Die Verantwortung der Wissenschaft - Vorschläge und Perspektiven Für mich besitzt das Thema „Sprachidentität" sowohl sprachpolitisch als auch sprachwissenschaftlich einen hohen Stellenwert. In sprachpolitischer Hinsicht ist die Diskussion um die Rolle der deutschen Sprache im internationalen Kontext den Germanisten in Skandinavien sehr willkommen, denn in den einzelnen skandinavischen Ländern hat das Interesse für Deutsch als universitäres Studienfach in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Ein Grund für diese Entwicklung ist sicherlich die zentrale Rolle des Englischen und des Französischen in der EU, aber es ist auch durchaus möglich, dass die zurückhaltende Sprachpolitik Deutschlands dazu geführt hat, dass sich immer weniger Studenten in Nordeuropa für das Studium der Germanistik entscheiden. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass Deutsche nicht besonders sprachnational sind (darauf wurde auch in der öffentlichen Podiumsdiskussion des Symposiums hin- <?page no="202"?> 194 Ni11a / m1icl1 / Susanne Näßl gewiesen). So wären aus der Sicht der Auslandsgermanistik eine loyalere Einstellung der Deutschen zu ihrer Muttersprache und entsprechende Bemühungen deutscher Politiker sehr zu wünschen (diese sollten sich entschlossen für eine Stärkung der institutionellen Präsenz der deutschen Sprache in internationalen und europäischen Organisationen und Gremien einsetzen). Um den für die deutsche Sprache so negativen Trend zu stoppen, sollten die Inlands- und Auslandsgermanisten gemeinsam handeln. Sie sollten unermüdlich auf deutsche Politiker einreden, damit diese einsehen, wie wichtig es ist, auch alte Posten (etwa in West- und Nordeuropa) z.B. in Form von Goethe-Instituten und DAAD-Lektoraten zu bewahren. Sowohl in den deutschsprachigen Ländern als auch im Ausland wäre eine Sympathiewerbung für Deutsch dringend erforderlich. Im Ausland sollten die Germanisten gemeinsam mit DAAD-Lektoren sowie Vertretern der Goethe.Institute und verschiedener deutscher Organisationen und Institutionen bereits in der Schule für Deutsch werben. Dabei sollte man solchen Klischees wie, Deutsch sei eine schwere Sprache, mit aller Entschiedenheit entgegentreten. überhaupt wäre es sehr wichtig, für Deutsch sowohl als Schulwie auch als Studienfach ein positives Image zu schaffen. Rein sprachwissenschaftlich stellt Sprachidentität ein sehr weites und vielseitiges Thema dar. Perspektiven, die sich hier für die Forschung eröffnen, sind u.a. Sprachgebrauch von Individuen (d.h. Rolle von Idiolekten) sowie sprachliches Verhalten von verschiedenen soziologischen Gruppen (d.h. Rolle von Soziolekten), größeren Bevölkerungsteilen (d.h. Rolle von Mundarten und Umgangssprachen) und von ganzen Nationen (d.h. Rolle der Standardsprache). Das alles kann einmal sprachgeschichtlich und gegenwartsbezogen und zum anderen unter dem Aspekt der gesprochenen und der geschriebenen Sprache betrachtet werden. In der auslandsgermanistischen Forschung wäre es nahe liegend, die Rolle von Idiolekten, Soziolekten usw. in einem deutschsprachigen Land und in anderen Ländern vergleichend zu untersuchen. Es wäre interessant zu recherchieren, wie sich bestimmte Persönlichkeiten (Schriftsteller, Wissenschaftler, Politiker, Sportler usw.) in verschiedenen Ländern in der Öffentlichkeit sprachlich verhalten. In Finnland zum Beispiel ist eine deutliche Beeinflussung der geschriebenen Sprache durch die gesprochene Sprache zu beobachten, was auf eine Auflockerung der Normen durch das offizielle Sprachbüro im Forschungszentrum für die Landessprachen Finnlands zurückgeht. Dazu hat wohl auch die Tatsache beigetragen, dass Wissenschaftler selber nicht selten in gesprochenen Texten Formen ver- <?page no="203"?> ,Sprac ! 1id er: tität' in der gen11ar: istische 11 Forschung wid Le/ 1re 195 wenden, die standardsprachlich nicht zugelassen sind. So könnte das umg angssprachliche Finnisch von Politikern, Staatspräside nt en und sonstigen Pe rsönlichkeiten des öffentlich en Lebens als Wegber eiter einer neuen Sprachidentität angeseh en werden, zu der sich dann w eitere Sprachträge r bekennen. Für den Sprachgebrauch größerer Bevölkerungsteile ist in Finnland ein Boom der Mundarten zu verzeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden eine Reihe kleinerer Mundartwörterbücher, aber auch ein großes Wörterbuch mit a uthentischen Belegen zum Helsinkier Slang, die sicherlich für viele als Verstärker einer bestinunt en Sprachidentität fungieren. Im Bereich der Lehre könnte Sprachidentität als eigen er Titel ins Curric ulum aufgenommen werden. Unter dieser Rubrik könnten verschiedene Lehrveranstaltungen zusamm engeführt werden, die in den e in zelnen Abteilungen germanistischer Ins titute in Deutschland us w. angeboten werd e n (falls eine Abteilung nicht imstande ist, diesen Komplex allein zu vertre ten). Im Thema „Sprachidentität" ist wohl auch eine Möglichkeit zu sehen, das Germanistikstudium für die Studenten attraktiver zu gestalten, da hier a n gesprochener, auth entischer und damit leb end er Sprache gearbeite t wird. In Finnland würden Germanistikstudcnten di eses Thema ohne Zweifel begrüßen, da hier schon länger für sprachverwendungsbezogene Gesichtspunkte ein größeres Interesse besteht als fü r die Betrachtun g von Sprachstrukturen. Nicht zuletzt gibt das Tagung s thema den finnischen Germanisten insofern zu denken, als die germanistische Lehre und der D eu tschunterricht bis h eute viel zu sehr am Nord s tandard orientiert waren. Das Gleiche gilt für die praktische Lexikografie Deutsch-Finnisch und Finnisch·Deutsch. Hier so llte dem Südstandard bzw . der süddeutschen Sprachidentität viel besser Rechnung getragen we rden als bislang. Unter and erem in dem Großwörterbuch Deutsch-Finnisch, das unter meiner Leitung in Helsinki ents teht, wird dies auch der Fall sein (vgl. Korhonen 2001). 8 Dagmar Neuendorff (Universität Abo Akademi): Zweisprachigke it in Finnland eine Fallstudie 1 Durch seine Siedlungsgeschichte und seine lange historische Verbindung zum Königreich Schweden hat Finnland zwei Landessprachen, Finnisch und eine spezielle Form des Schwedischen, die sich in einigem von dem 1 Das Stateme nt wurde in Zusammena rbeit mit Annika Hafr~n und Tina Ös tcrholm verfass t. <?page no="204"?> 196 Nina fa11icl1 / S11sa1111e Näßl in Schweden gesprochenen 'riksvensk' (Reichsschwedisch) unterscheidet. Die in Finnland anzutreffende Variante des Schwedischen wird heutzutage nicht im ganzen Land als Muttersprache gesprochen, sondern findet sich in unterschiedlich starker Ausprägung im Süden des Landes und entlang des Bottnischen Meerbusens. Der Anteil der schwedischsprachigen Bevölkerung wird heute auf 7-10% geschätzt. Im folgenden sollen einige Zahlen einen Eindruck von der Verteilung des Finnischen und des Schwedischen in ausgewählten Orten geben: Einwohner schwedischsprachig % Nykarleby 7.756 7.066 91,1 Ekenäs 11.353 9.392 82,7 Vaasa 53.364 14.541 27,2 Helsinki 490.629 38.544 7,9 Tampere 171.561 1.025 0,6 (Ung och finlandssvensk: 6) Finnisch und Schwedisch werden in Finnland beide als Landessprachen angesehen und in sprachlich gemischten Gebieten garantiert das Grundgesetz den Mitbürgern das Recht, Finnisch oder Schwedisch bei Kontakt mit Ämtern usw. zu verwenden. Diese Konzession ist akzeptiert, immerhin wird sie von 85% der finnischsprachigen Mehrheit unterstützt. Dies ist daher wichtig, da sie sich (in der Praxis eventuell mit nicht ausreichenden Sprachkenntnissen) mit dem Problem der Minderheitensprache konfrontiert sieht (für die Sprecher der Minderheitensprache ist das Problem insofern anders gelagert, als der Umgang mit der Sprache der Mehrheit häufig einen Teil ihres Alltags ausmacht). Finnisch und Schwedisch werden von den jeweiligen Nicht-Muttersprachlern schulisch nicht als Fremdsprache, sondern als zweite Landessprache gelernt. Der Erwerb der jeweiligen zweiten Landessprache ist in den Schulen obligatorisch. Er kann zudem über ein gemischtsprachiges Elternhaus, durch eine gemischtsprachige Umgebung sowie die Trennung der Schulsprache von der Sprache des Elternhauses und/ oder der Umgebung erfolgen. Filr die Frage der Mehrsprachigkeit sind die Gebiete von besonderem Interesse, in denen die beiden Landessprachen nebeneinander existieren und ihre Sprecher im Alltag miteinander zurechtkommen müssen. Wie unterschiedlich dies in der Realität aussieht, zeigt die Studie "Ung och finlandsvensk". Hier wird aufgezeigt, wie die Einstellung zur finnischen <?page no="205"?> ,Sprac11identitiit' in der germanistischen Forscliu11g und Lehre 197 Sprache jeweils aussehen kann und dass sich der Umgang mit finnischsprachigen Muttersprachlern in den oben angeführten Orten sehr unterschiedlich gestaltet. Zwar sei die Prozentzahl der schwedischen Muttersprachler in Ekenäs und in Nykarleby sehr hoch, doch sei die Bereitschaft Finnisch zu lernen in Ekenäs vorhanden, in Nykarleby aber kaum. In den großen Städten Tampere und Helsinki benutzten die schwedischen Muttersprachler im Alltagsleben immer Finnisch und ein großer Teil des Freundeskreises sei finnischsprachig. In Vaasa dagegen seien die schwedischsprachigen Muttersprachler eine starke Minderheit, die stolz auf ihre Sprache sei, aber die finnische Sprache als ein Plus für das Berufsleben ansehe (Ung och finlandsvensk: 6f.). Das sind wichtige Feststellungen, doch schienen sie uns zu allgemein gehalten. A. Hafren und T. Österholm fragten sich daher, wie schwedische und finnische Muttersprachler konkret in einem sprachlich gemischten Gebiet miteinander kommunizieren. Daher befragten sie 16 Finnen, von denen 12 nach ihrer Angabe Schwedisch und 3 Finnisch 2 als Muttersprache hatten, nach ihrer Verwendung der beiden Landessprachen in verschiedenen Situationen. Die Befragten gehören unterschiedlichen Altersgruppen an, unterscheiden sich im Geschlecht und kommen aus unterschiedlichen sprachlichen und sozialen Milieus. Etwa 2/ 3 sind Studenten. Alle Befragten waren der Meinung, dass sie wenigstens zufriedenstellende Kenntnisse in der zweiten Landessprache besitzen, drei Personen bewerteten ihre Kenntnisse als ausgezeichnet. Die zentrale Frage war: „In welcher Situation benutzen Sie Finnisch bzw. Schwedisch? " Die folgende Tabelle zeigt die Resultate: Schwedisch Finnisch beide Sprachen a) Studienort3 11 4 1 b) zu Hause 12 4 c) Heimat 13 2 d) außerhalb der 3 5 8 Heimat e) Freunde 8 1 7 f) Arzt 9 3 4 g) Behörden 2 6 8 2 Der Unterschied zwischen der Anzahl der schwedischen und finnischen Muttersprachler ergab sich aus dem ßcfragungszcitpunkt (Semesterende) und Ort. 3 Fünf der Befragten stehen im Arbeitsleben. 4 Das Resultat war zu erwarten, ist doch der Studienort die schwedischsprachige Universität Finnlands Äbo Akademi in Turku. <?page no="206"?> 198 Nina / a11ic/ 1 / Susmine Näßl h) Anred e von 4 9 3 Unbe kannten i) Einkauf 3 7 6 j) Hobbies 5 1 10 k) Arbe it 5 5 6 Aus der Untersuchung geht hervor, dass die Minderheitensprache Schwedisch als Muttersprache vorwiegend zu Hause, am Studienort und bei Arztbesuchen verwendet wird. Die meisten wechseln ins Finnische, wenn sie außerhalb der Heimat sind und wenn sie mit Behörden zu tun haben. Allerdings ist hier zu differenzieren. In beiden Fällen werden beide Sprachen verwendet (8), ebenso wie im Bereich der Hobbies. Am wenigsten stark besetzt ist die Verwendung des Schwedischen außerhalb von a)-c), eine Dominanz des Finnischen zeigt sich jedoch nur beim Einkauf und bei der Anrede von Unbekanntem. Die am intensivsten besetzte Kategorie außerhalb von a}-c) ist die der Verwendung beider Landessprachen. Hier zeigt sich die eigentliche kommunikative Leistung der Sprecher d e r Minderheitensprache. Es wurde deshalb weitergefragt, ob eine Mischung der beiden Landessprachen stattfindet. Acht der Sprecher bestätigten dies, acht waren der Ansicht, dass sie die Sprachen stets getrennt halten. Schließlich wurde die Frage angesprochen, welche Sprache in einer Situation gesprochen werde, in der Muttersprachler des Finnischen und des Schwedischen kommunizieren. Acht der Befragten gaben an, immer Schwedisch zu sprechen, fünf Finnisch und drei sagten, dass sie beide Sprachen verwenden. Hieraus ergab sich das interessante Phänomen, dass durchaus nicht selten Gespräche stattfinden, in denen die muttersprachlichen Sprecher der beiden Landessprache jeweils in ihrer Muttersprache miteinander kommunizieren. Die Frage, ob sie an solchen Gesprächen teilgenommen hätten, beantwortete die Hälfte der Befragten (8) positiv. Es handelte sich um Gespräche in der Familie, mit Freunden oder am Arbeitsplatz. Zusammenfassend läs~t sich feststellen: ln Finnland ist Zweisprachigkeit ein ,altes' Phänomen. Heutzutage stellt die schwedische Sprache eine Minderheitensprache dar, sie hat jedoch a ls Landessprache die gleiche juristische Stellung wie die finnische Sprache der Mehrheit der Bevölkerung. Regionale Unterschiede sind im Gebrauch der Landessprachen vorhanden, besonders ausgeprägt ist Zweisprachigkeit an der Küste und in den südlichen Teilen Finnlands. Bei der Verwendung des Schwedischen sind Domänen zu erkennen, d.h. es ist üblich, dass die Sprache an Personen und Orte gebunden verwendet wird. Hervor~uheben sind Kommunikationssituationen außerhalb von a)-c), wo muttersprachliche <?page no="207"?> ,Spracltidcntitiit' in der germanistischen Forschung und Lehre 199 Sprecher des Finnischen und des Schwedischen in jeweils ihrer Muttersprache miteinander kommunizieren. Vielleicht könnte dies ein Weg für ein mehrsprachiges Europa sein, denn schließlich schreiben A. Hafren und T. Österholm (2002: 6}: Zweisprachigkeit ist im Vergleich zu einer Fremdsprache ziemlich leicht z u erwerben, da sie nicht vom schulischen Erwerb gesteuert wird, sondern ohne große Mühe gelernt werden kann. 9 Synthese: Zusammenfassung des Rundgesprächs Als ein zentrales Problem kristallisierte sich im Lauf der Tagung die Definition von ,Identität' und die Art ihres Bezugs zur Sprache heraus: Was ist Identität? - Was hat Identität mit Sprache überhaupt zu tun, bürdet man der Sprache damit nicht zu viel auf? - Ab wann hat man eine Sprachidentität und wie verbreitet und elaboriert muss eine Sprache sein, um Basis von Identität sein zu ' können (bzw. wie gut muss man eine Sprache sprechen können, um auf ihr eine (Sprach-)ldcntität aufzubauen)? - Hat man nur eine (Sprach-)ldentität bzw. wie verhalten sich verschiedene (Sprach-)Identitäten zueinander (hierarchisch, überdachend, parallel im Sinne eines Identitätswechsels)? - Welche Rolle spielt die Reflexion eines Identitätsbewusstseins? · Dementsprechend wurden diese Aspekte auch im Rundgespräch thematisiert: Weitgehender Konsens herrschte in dem Punkt, dass erstens weitere Forschung zur Klärung des Identitätsbegriffs nötig sei, dass dies zweitens jedoch keine genuine oder alleinige Aufgabe der (germanistischen) Sprachwissenschaft sei. Eben weil Identität nicht nur auf Sprache basiere, sondern auf einem viel weiter gehenden, kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühl (bzw. weil sie oft subjektiv nur dann bewusst werde, wenn es zu Konflikten und zu einem Aufbrechen von Identität komme, z.B. in Migrationssituationen), müsse das Identitätsthema stärker interdisziplinär angegangen und dürfe der Begriff der Identität nicht überdehnt werden (z.B. wenn eigentlich Stereotype, Interessen, Kulturen, Heimat, Patriotismus o.Ä. gemeint seien). Die Frage nach der Bedeutung von Sprache im Rahmen von Identität sei eine soziolinguistische: Insbesondere die Auslandsgermanisten/ -germanistinnen vertraten die Ansicht, dass vor allem die Lehre bisher einen zu großen Schwerpunkt auf die systemJinguistische Beschreibung von Sprachen (in diesem Fall: des Deutschen) gelegt habe, anstatt an authentischer Sprachverwendung die Bedeutung von Varietäten und <?page no="208"?> 200 Nina Janic/ 1 / S11sn11ne Näßl Sprachniveaus unter Aspekten wie Prestige, Gruppen- und Subidentitäten in den Blick zu nehmen. Das heißt für die Auslandsgermanistik konkret: Zu dominant sei der Standard des Hochdeutschen, unberücksichtigt blieben oft nationale Varietäten, Dialekte und Soziolekte, die für das kulturelle Verständnis des deutschsprachigen Raumes wichtig seien und außerdem die derzeit nachlassende Attraktivität des Deutschstudiums {zugunsten des Spanischen und Französischen) im Ausland wieder beträchtlich erhöhen könnten. Im fremdkulturellen Zusammenhang sei die Funktion einer Sprache, vor allem Interesse für eine Kultur zu wecken; Sprachenlernen müsse mit dem Erwerb von Kulturkenntnissen einhergehen. Damit war die Brücke zur Sprachpolitik geschlagen, an die hohc Erwartungen formuliert wurden. Viele Gesprächsteilnehmer vermissten ein sprachpolitisches Konzept insbesondere für die Sprachförderung des Deutschen und sahen dessen noch ausstehende wissenschaftliche Fundierung mit der Identitätsproblematik verknüpft (Prestige und Marktwert von Kulturen/ Sprachen, Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden). Wie die vorangegangenen Statements zeigen, herrschte weitgehend Konsens · in der Forderung nach Erhalt der kulturellen (und damit auch der sprachlichen) Vielfalt in Europa, trotz und gerade im Sinne der Forderung nach einer europäischen Identität. Eine solche Vielfalt könne jedoch nur durch gezielte einzelspracheninterne Sprachkultivierung, eine nach außcn gerichtete politische Sprachförderung und eine sinnvolle Fremdsprachenpolitik im gesamteuropäischen Rahmen erreicht werden. Strittig blieb, ob die Identitätsproblematik trotz der definitorischen und methodischen Probleme möglichst bald universitärer Lehrstoff sein solle oder ob die Einbindung in die Lehre in der jetzigen Situation angesichts der noch herrschenden theoretischen Defizite nicht Gefahr laufe, zu einer Modeerscheinung abzusinken. Die Lösung liege möglicherweise in Forschungs- und Lehrprojekten in größerem soziolinguistischen Rahmen, die die Frage der Identität a11cli berücksichtigen, aber nicht in den Mittelpunkt stellen. Viel versprechende Fragestellungen seicn dabei zum Beispiel die Untersuchung von Mehrfach- oder wechselnden Identitäten und ihre soziokulturellen Bedingungen, von Diskrepanzen zwischen Kommunikationssprache und kulturellem Zugchörigkeitsgefühl, des Verhältnisses zwischen Identität und Heimat, der Auswirkungen von Sprachverlustängsten und Bedrohungsgefühlen auf das Idcntitätsbewusstsein. Einig waren sich Plenum und Podium, dass ,Identität' nicht als Hypcrthema missverstanden werden dürfe, dass die Tagung jedoch wichtige Impulse gegeben habe, sich mit dem Identitätsbegriff wissenschaftlich <?page no="209"?> ,Spracliidentität' in der germanistisclten Forschung 1111d Lehre 201 auseinander zu setzen und individuell in Forschung und Lehre darauf zu reagieren. 10 Literatur Bassola, Peter (1992): Deutsch in Ungarn im Spiegel des (Fremd)- Sprachenunterrichts. In: LemSprachc Deutsch 1, 9-26. Zweitveröffentlichung in: Ders.: Deutsch in Ungarn in Geschichte und Gegenwart. Heidelberg, 229- 246. 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Frankfurt am Main. <?page no="211"?> Grußwort und Tabula gratulatoria <?page no="213"?> Grußwort des Dekans der Philosophischen Fakultät IV für Sprach- und Literaturwissenschaften, Universität Regensburg Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine seh1· verehrten Damen und Herren, lieber Herr Greule, man hat mich gebeten, ein Grußwort zu Ihrem Internationalen Symposium zu sprechen - und ich komme dieser Bitte nicht zuletzt wegen des Anlasses gerne nach: Es ist der 60. Geburtstag, den Herr Prof. Grcule vor einer Woche gefeiert hat. Dazu noch einmal meine herzlichsten Glückwünsche. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass man dem Jubilar dieses Alter freilich in keiner Weise ansieht. Es ist mir als Dekan der Philosophischen Fakultät IV für Sprach- und Literaturwissenschaften wie auch als Kollege ein besonderes Anliegen, mit meiner Gratulation die wissenschaftliche Leistung Albrecht Greules zu würdigen. Damit hat er das Profil der Universität Regensburg regional, national und international geschärft. Ob es seine Beiträge zur Onomastik sind, einer Disziplin, die ja heute noch in einem Vortrag zur Sprache kommen wird, seine grenzüberschreitenden linguistischen Kontakte, besonders zu Tschechien, die das erst jüngst aus der Taufe gehobene ,Europaeum' unserer Universität bereichern, oder sein publikumsträchtiges Mitwirken bei der Krönung des „ Unworts des Jahres", der Name Albrecht Greule und die von ihm vertretene Germanistische Sprachwissenschaft sind weit über Regensburg hinaus zu einem festen Begriff geworden. Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, eine persönliche Bemerkung anzuschließen. Ich habe mit Herrn Greule seit vielen Jahren in den verschiedensten akademischen Gremien zusammengearbeitet und halte gerade jetzt mit ihm in seiner Funktion als Prorektor unserer Universität einen engen Kontakt. Bei allen Gelegenheiten habe ich ihn als einen praktisch denkenden Menschen und Organisator mit bewundernswerten Manager-Qualitäten schätzen gelernt. Für diese konstruktive, von Sachlichkeit und Respekt getragene und immer mit Humor gewürzte Kooperation, danke ich Ihnen, lieber Herr Greule, ganz besonders. Wie könnte man die wissenschaftliche und persönliche Ausstrahlung Albrecht Greules besser würdigen als durch ein Internationales Symposium, dessen Teilnehmer aus nah und fern ich an dieser Stelle recht herzlich begrüße. Die Themenstellung „Sprachidentität - Identität durch Sprache" <?page no="214"?> 206 Grußwort scheint mir gerade in unserer Zeit besonders aktuell, in der die übermächtige Weltsprache Englisch auch das Deutsche mehr und mehr in eine Randposition zu drängen scheint. Das bringt auch mich als Anglisten in ein Dilemma, stehe ich doch immer wieder auf's Neue vor der Frage, ob ich meine Beiträge in deutscher oder englischer Sprache publizieren soll. Dass die durch Sprache geschaffene kulturelle Identität gerade in einem enger zusammenwachsenden Europa ein erhaltenswertes nationales Gut ist, kann man in unseren Tagen oft hören. So ist dieses Symposium ein wichtiger Beitrag zu der von vielen Disziplinen betriebenen Identitätsforschung. Die heute und morgen aus linguistischer Sicht angebotenen Diskussionsbeiträge analysieren den Identitätskomplex in den verschiedensten Kontexten: aus der Sicht der dialektalen, regionalen und nationalen Varietäten ebenso wie aus der Sicht der Mehrsprachigkeit, mit Fokus auf die Namensforschung und auf frühere Sprachstufen, und nicht zuletzt in seiner pragmatischen Auswirkung auf Literatur, Psychologie und Politik. Wenn ich im Programm dennoch etwas vermisse, so ist dies ein Beitrag zur orthographischen Identität des Deutschen. Die Orthographiereform von 1996, die in den vergangenen Jahren die öffentliche Diskussion bundesweit erregte, hat ja die Oberflächenidentität des Deutschen in einer charakteristisch postmodernen Weise dekonstruiert, so dass man heute . als Leser, beispielsweise von studentischen Referaten, manchmal gar nicht mehr in der Lage ist zu entscheiden, ob es sich um die alte oder die neue Rechtschreibung handelt oder ganz einfach um orthographische Inkompetenz. Doch diese Lücke in dem ansonsten thematisch weit gespannten Programm des Symposiums ist im Sinne eines geburtstäglichen Harmoniebemühens sicherlich verständlich. Ich freue mich mit den beiden Organisatorinnen, dass es ihnen gelungen ist, ein so imposantes Programm zusammenzustellen und wünsche dem Internationalen Symposium einen ertragreichen Verlauf. Prof. Dr. Dieter Berger (Dekan) 19. April 2002 <?page no="215"?> Tabula gratulatoria Herrn Prof. Dr. Albrecht Greule zum 60. Geburtstag gratulieren ganz herzlich: Abelen, Marion (Regendorf) Aigner, Stefan (Regensburg) Altmann, Hans (München) Altner, Helmut (Regensburg) Ammon, Ulrich (Duisburg) Annuß, Walter (Regensburg) Arcamone, Maria Giovanna (Pisa, Italien) Arnold, Rainer (Regensburg) Arsan, Christian (Regensburg) Atzenbcck, Claus (Wildenberg) Auer, Johann (Dünzling) Babenko, Natalija 5. (Moskau, Russland) Bachmann, Armin (Bayreuth) Barokova, Jana (Brno, Tschechische Republik) Barz, Irmhild (Leipzig) Bassola, Peter (Szeged, Ungarn) Beck, Jan-Wilhelm (Regensburg) Becker, Ulrich (Regensburg) Beer, Matthias {Regensburg) Berger, Dieter A. (Regensburg) Bergmann, Rolf (Bamberg) Betten, Anne (Salzburg, Österreich) Biadun-Grabarek, Hanna (Bydgoszcz, Polen) Bierling, Stephan (Regensburg) Bilut-Homplewicz, Zofia (Rzesz6w, Polen) . Bleicher, Michaela (Regensburg} Blomeyer, Christian (Regensburg) Bogack, Jaroslaw (Opole, Polen) Böhm, Karl (Straubing) Bok, Vadav (Ceske Bud~jovice, Tschechische Republik) Bokova, Hildegard (Ceske Bud~jovice, Tschechische Republik) Bonin-Brumbaugh, Angelika H. von (Waitsficld, USA) Bouterwek, Elisabeth (Wien, Österreich) Bracic, Stojan (Ljubljana, Slowenien) Braun, Christian (Berlin) Braungart, Georg, (Regensburg) Braungart, Wolfgang (Bielefeld) Brckle, Herbert E. (Regensburg) Breuer, Toni (Regensburg) Castritius, Helmut (Darmstadt- Arheiligen) Dahmen, Wolfgang Gena) Dallmeier, Martin (Regensburg) Debus, Friedhelm (Kiel) Dirmeier, Artur (Lappcrsdorf) Dohmen, Christoph (Regensburg) Drascek, Daniel (München) Drmlova, Dana (Praha, Tschechische Republik) Drumm, Hans Jürgen (Regensburg) <?page no="216"?> 208 Dünninger, Eberhard (Regensburg) Durco, Peter (Bratislava, Slowakei) Ebli, Heike (Regensburg} Egginger, Josef (Winhöring) Eichhoff-Cyrus, Karin M. (Wiesbaden) Eichinger, Ludwig M. (Kiel) Eichler, Ernst (Leipzig) Eilcrs, Helge (Darmstadt) Eiscnbciß, Ulrich (Regensburg) Enunerling, Sonja {Regensburg) Endres, Rolf (Ergoldsbach) Engel, Ulrich (Heppenheim) Ernst, Gerhard (Regensburg) Ernst, Peter (Wien, Österreich) Eroms, Hans-Werner (Passau) Fabellini, Simona (Regensburg) Feistner, Edith (Regensburg) Fischer, Roswitha (Regensburg) Fix, Ulla (Leipzig) Földes, Csaba (Veszprem, Ungarn) Fölling-Albers, Maria (Regensburg) Forgacs, Tarnas (Szeged, Ungarn) Foschi-Albert, Marina (Pisa, Italien) Franz, Kurt (Regensburg) Frühwald, Wolfgang (München) Fuchs, Franz (Würzburg) Fuchs, Stefanie (Nürnberg) Fürst, Renee Christine (Wien, Österreich) Gaisbauer, Stephan (Linz, Österreich) Gajek, Bernhard (Lappersdorf) Gärtner, Kurt (fricr) Tnb11ln gmtulatorin Gerabek, Werner E. (Würzburg) Gerhards, Albert (Bonn) Gerhardy, Roger (Würzburg) Geuenich, Dieter (Duisburg) Gloyer, Henning (Regensburg) Goetz, Hans-Werner (Hamburg) Golonka, Joanna (Rzcsz6w, Polen} Gömmel, Rainer (Wendelstein) Grabarek, Jozef (Bydgoszcz, Polen) Große, Rudolf (Leipzig) Gruber, Hans (Regensburg) Grünewald, Lothar (Mainz) Günther, Antonia (Heiligenstadt) Gutschmidt, Karl (Berlin) Gvodzanovic, Jadranka (Mannheim} Hack, Achim Thomas (Regensburg) Hägermann, Dieter (Bremen) Hahn, Gerhard {Bad Abbach) Hammwöhner, Rainer (Regensburg} Hampel , Anja (Rostock) Hanamann, Rudolf (Neufahrn) Haubrichs, Wolfgang (Saarbrücken) Haunerland, Winfried (Würzburg) Hausberger, Karl (Regensburg) Hausner, Isolde (Wien, Österreich) Heid, Helmut (Regensburg) Heimrath, Ralf (Pielmühle) Heinemann, Margot (Zittau) Hengst, Karlheinz (Leipzig) Henkel, Nikolaus (Hamburg) Herbrand, Sandro P. (Wolfsegg) <?page no="217"?> Tabula gratulatoria Herrmann, Susanna Oena) Herrn.leben, Thomas (Regensburg) Hiley, David (Regensburg) Hinderling, Robert (Bayreuth) Hoberg, Rudolf (Darmstadt} Hochholzer, Rupert {Regensburg) Holly, Werner (Chemnitz) Holzfurtner, Birgit (Regensburg) Hösch, Edgar (München) Janich, Nina (Regensburg) Janikova, V~ra (Bmo, Tschechische Republik) Janka, Wolfgang (Regensburg) Janko, Anton (Ljubljana, Slowenien) Jarnut, Jörg (Paderborn) Javor BriSki, Marija (Ljubljana, Slowenien) Jilek, August (Regens~urg) Jindra, Theresa (Regensburg} Kahle, Cordula (Regensburg) Kaltwasser, Karin (Regensburg) Kanz, Ulrich (Regensburg) Kappas, Elisabeth (Rüsselsheim) Karolak, Czesfaw (Poznan, Polen) Karvela, loanna (Athen, Griechenland) Kazzazi, Kerstin (Eichstätt) Keil, Gundolf (Würzburg) Keinästö, Kari (f urku, Finnland) Kessel, Jörg (Lupburg) Kirn, Dong-Uk (Regensburg) Kleiber, Wolfgang {Mainz) Klein, Thomas (Bonn) Klingenschmitt, Gert (Regensburg) Kneip, Heinz (Regensburg) 209 Knipf-Komlosi, Elisabeth (Budapest, Ungarn) Köglmeier, Georg (Bad Abbach) Kohlhäufl, Michael (Regensburg) Koller, Martina (Burglengenfeld) Korhonen, Jarmo (Helsinki, Finnland) Koschmal, Walter (Regensburg) Koß, Gerhard (Weiden) Kovaf, Jaroslav (Brno, Tschechische Republik) Kovarova, Alena (Brno, Tschechische Republik) Kozmova, Ruzena (Bratislava, Slowakei) Krämer-Neubert, Sabine (Würzburg) Kretterova, tudmilla {Nitra, Slowakei) Krcutzcr, Hans Joachim (Regensburg) Krummacher, Hans-Henrik (Mainz) Kühn, Ingrid (Halle) Kully, Rolf Max (Solothurn, Schweiz) Kunze, Konrad (Freiburg) Küper, Michaela (Mainz) Kurzke, Hermann (Mainz) Landthaler, Michael (Regensburg) Lang, Manuela (Kirn/ Nahe) Lasatowicz, Maria Katarzyna (Opole, Polen) Lebsanft, Franz (Bochum) Lehner, Robert (Regensburg) Leinsle, Ulrich Gottfried (Regensburg) Leitncr, Evelyne (Regensburg) <?page no="218"?> 210 Lelc-Rozentale, Dzintra (Vent sp ils, Le ttland) Löffler, Heinrich (Basel, Schweiz) Löffler, Katja (Lupburg) Lohfink, Norbert (Frankfurt a.M.) Luttenbe rger, Albrecht P. (Regensburg) Macha, Jürgen (Münster) Mala, Jföna (Brno, Tschechische Republik) Mancuso, Sebastian (Regensburg) Manske, Dietrich (Regensburg) Marenbach, Dieter (Sinzing) Masarik, Zdenek (Brno, Tschechische Republik) Mayer, Mathias (Regensburg} Mayerova, Erika (Bratislava, Slowakei) Mehlich, Diane (Regensburg} Meier, Jörg (Bochum) Meineke, Eckhard CTena) Menke, Hubertus (Kiel) Mieder, Wolfgang (Burlington, USA) Mikulova, Anna {Brno, Tschechische Republik) Minarikova, Marina (Pizen, Tschechische Republik} Mitterbauer, Heidi (Regensburg) Müller, Wulf {Boudry, Schweiz) Munzar, Jfü (Brno, Tschechische Republik) Musebrink, Dorthe (Regensburg) Muzikant, Mojmir (Brno, Tschechische Republik) Nail, Norbert (Marburg) Tabula grntulatoria Narr, Gunter (Tübingen) Näßl, Susanne (Regensburg) Nekula, Marek (Regensburg) Neri, Sergio (Regensburg) Nerius, Dieter (Rostock) Ncuendorff, Dagmar (Abo, Finnland) Ne uland, Eva (Wuppertal) Neumann-Holzschuh, Ingrid (Regensburg) Niller, Hans-Peter (Regensburg) Nishijima, Yoshinori (Kanazawa, Japan) Nonn, Ulrich (Bonn) Norkaitiene, Irena Marija {Vilnius, Litauen) Nilbling, Damaris (Mainz) Oppenrieder, Wilhelm (München) Pahl, [rmgard (Wetter/ Ruhr) Pani, Gabriele (Regensburg) Papsonova, Maria (Presov, Slowakei) Pavidis, Silvija (Riga, Lettland) Pekarovieova, Jana (Bratislava, Slowakei) Petri, Heinrich (Regensburg) Pfister, Max (Saarbrücken) Piirainen, Elisabeth (Münster) Piirainen, Ilpo Tapani (Münster) Plate, Bernward (Regensburg) Plomer, Elisabeth (Regensburg) Polajnar, Janja (Regensburg} Pongö, Stefan (Nitra, Slowakei) Post, Rudolf (Freiburg im Breisgau) Praß! , Franz Karl (Graz, Österreich) Prinz, Michael (Regensburg) Probst, Manfred {Vallendar) <?page no="219"?> Tabula gratulatoria Pustet, Friedrich (Regensburg) Ramge, Hans (Gießen) Reichmann, Oskar (Heidelberg) Reimann, Sandra (Parkstetten) Reiter, Josef (Mainz) Reitzenstein, Wolf-Armin Frhr. von (München) Richter, Sigrun (Regensburg) Richter-Haas, Katja (Heusenstamm) Ridder, Klaus (Regensburg) Riecke, Jörg (Gießen) Riedl, Peter Philipp (Regensburg) Rintala, Päivi (furku, Finnland) Ritt, Hubert (Regensburg) Ronneberger-Sibold, Elke (Eichstätt) Rösler, lrmtraud (Rostock) Rowley, Anthony R. (München) Ruberg, Uwe (Mainz) Sadzinski, Roman (l: .6dz, Polen) Sahr, Michael (Regensburg) Schabus, Wilfried (Wien, Österreich) Schaller, Helmut (Marburg) Scharnhorst, Jürgen {Berlin) Scherf, Fritz-Peter (Oelsnitz/ Erzgebirge) Scherm, llona (Chemnitz) Scheuerer, Franz X. (Regensburg) Scheuringer, Hermann (Wien, Österreich) Schlögel, Herbert (Regensburg) Schlosser, Horst Dieter (Frankfurt a.M.) Schmid, Hans-Ulrich (Regensburg) Schmid, Peter (Regensburg) 211 Schmid, Wolfgang P. (Göttingen) Schmitt, Heinz (Karlsruhe) Schmitt, Sigrid (Mainz) Schmatz, Karl (Deggendorf) Schmude, Jürgen (Regensburg) Schneider, Edgar W. (Regensburg) Schöller, Wolfgang (Regens· burg) Schroeder, Friedrich-Christian (Regensburg} Schroedl,Markus(Regensburg) Schröter, Dorothee (Eichwalde) Schröter, Ulrich (Eichwalde) Schubert, Helga (München) Schuh, Robert (Nürnl: >erg) Schuller Anger, Horst (Sibiu / Hermannstadt, Rumänien) Schuster, Elisabeth (Wien, Österreich) Schweickhard, Wolfgang (Saarbrücken) Schwitalla, Johannes (Würzburg) Seibicke, Wilfried (Heidelberg) Seidelmann, Erich (Freiburg im Breisgau) Seidelmann, Roswitha (Freiburg im Breisgau) Seigfried, Adam (Regensburg) Sichova, Katerina (Regensburg) Sime~kova, Alena (Praha, Tschechische Republik) Simmler, Franz (Berlin) Sisak, Ladislav (Presov, Slowakei) Skala, Emil (Praha, Tschechische Republik) <?page no="220"?> 212 Smith, Brenda (Gainesville, USA) Spieß, Karl-Heinz (Greifswald} Springer, Matthias (Magdeburg) Sramek, Rudolf (Brno, Tschechische Republik) Stahl, Thomas (Regensburg) Stanovska, Sylvie (Brno, Tschechische Republik) Steinhauer, Anja (Wiesbaden) Stein-Kecks, Heidrun (Erlangen) Steinkühler, Johanna (Regensburg) Stellmacher, Dieter (Göttingen) Stickel, Gerhard (Mannheim) Strunk, Horst (Regensburg} Stuflesser, Martin Süß, Ulrike (Mainz) Szeherova, Eva (Bratislava, Slowakei) Tanzer, Harald (Regensburg) ten Venne, Ingmar (Rostock) Thim-Mabrey, Christiane (Regensburg) Thomas, Alexander (Regensburg) Thönnes, Dietmar (Münster) Thurmair, Maria (Regensburg) Tiefenbach, Heinrich (Regensburg) Till, Dietmar (Regensburg) TiSerova, Pavia (Stod, Tschechische Republik) Toman-Banke, Monika (Reutlingen) Trost, Klaus (Regensburg) Udolph, Jürgen (Sieboldshausen) Vajil'.kova, Maria (Bratislava, Slowakei) Tab11la grah1latoria Vankova, Lenka (Orlova- Lutyne, Tschechische Republik) Veith, Werner H. (Mainz) Vennemann, Theo (München) Vielberth, Johann (Regensburg) Völkl, Ekkehard (Regensburg) Vollmann-Profe, Gisela (Eichstätt) Voß, Rudolf (Mainz} Wagner, Andreas (Mainz) Wallner, Birgit (Landshut) Wanderwitz, Heinrich (Regensburg) Waser, Erika (Littau, Schweiz) Watzin, Klaus (Regensburg) Weber, Eckhard (Regensburg) Weber, Erika (Dresden) Weber, Horst (Dresden) Wegera, Klaus-Peter (Bochum) Wegstein, Werner (Würzburg) Weibel, Viktor (Schwyz, Schweiz) Weigt, Zenon (L6dz, Polen) Wermke, Matthias (Mannheim) Wetzei, Hermann (Regensburg) Wichter, Sigurd {Göttingen) Wiesinger, Peter {Wien, Östcr· reich} Wiktorowicz, J6zef (Warszawa, Polen) Wildfeuer, Alfred (Regensburg) Winkler, Eberhard (München) Wögerbauer, Christine (Regensburg) Wolf, Norbert Richard (Würzburg) Wolff, Armin (Regensburg) Zametzer, Eva {Kareth) Zehetner, Ludwig (Regensburg) Ziegler, Arne (Münster) <?page no="221"?> Tabula gratulatoria Zinuner, Alf (Regensburg) Zinunermann, Reinhard (Regensburg) 213 Zorger, Ha ns-Hagen (Oberhinkofen) <?page no="223"?> Sprachwissenschaft Nina Janich Albrecht Greule (Hrsg.) Sprachl<ulturen in Europa Ein internationales Handbuch 2002, 368 Seiten, 16 Seiten Karten, geb.€ 59,-/ SFr 97,50 ISBN 3·8233-5873-1 In diesem Handbuch sind alle europäischen Einzelsprachen versammelt und von entsprechenden Fachlcutcn in ihrem sprachkulturellen und sprachpolitischcn I<ontext dargestellt. Ein grundsätzlich ähnlicher Artikelaufbau macht dieses Nachschlagewerk zugleich zu einem geeigneten Hilfsmittel für systematische Vergleiche der Sprachkulturen und Sprachsituationen in Europa. Neben Informationen zu Ausbreitung, Sprecherzahl und Status in den jeweiligen Nationalstaaten findet sich ein knapper sprachhistorischer Abriss, der den Erklärungshintergrund für die heutige Sprachsituation abgibt. Im Zentrum der einzelnen Artikel stehen jedoch die sprachkultivierenden und sprachpflegerischen Aktivitäten, Institutionen und Initiativen innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaften. Die Artikel vermitteln einen Eindruck von der zentralen Wichtigkeit der Sprache für nationale und kulturelle Identität sowie für die politische Bedeutung aller sprachfördernden Maßnahmen. Das Handbuch bietet daher nicht nur einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen von Sprachkultivierung, sondern entwirft erstmals auch ein Bild der (oft politisch geprägten) Sprachensituation in Europa zu Beginn des neuen Jahrtausends. Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerwcg 5 · 72070 Tübingen Fax: (07071) 75288 · E-Mail: info@narr.de <?page no="224"?> Der Sammelband basiert auf den Ergebnissen eines internationalen Symposiums an der Universität Regensburg im April 2002. Ausgangsthese des Symposiums war, dass „Identität" für den Alltag des Einzelnen ebenso wie für das gesellschaftliche Zusammenleben eine zentrale Rolle spielt und dass Sprache daran einen wichtigen Anteil hat. In verschiedenen Beiträgen von In- und Auslandsgermanisten/ -innen werden daher die verschiedenen Facetten sprachlicher und sprachlich vermittelter Identität diskutiert und Konsequenzen für Forschung und Lehre gezogen. Behandelt werden historische, dialektale, onomastische, literarische, fremdsprachendidaktische und politisch-gesellschaftliche Aspekte von „Sprachidentität". Mit Beiträgen von Peter Bassola, Stojan Bracic, Friedhelm Debus, Hans-Werner Eroms, Ulla Fix, Csaba Földes, Albrecht Greule, Margot Heinemann, Robert Hinderling, Rudolf Hoberg, Nina Janich, Jarmo Korhonen, Ingrid Kühn, Heinrich l.: öffler, Eckhard Meineke, Susanne Näßl, Gunter Narr, Dieter Nerius, Dagmar Neuendorff, Wilhelm Oppenrieder, Horst Dieter Schlosser, Eva Szeherova, Christiane Thim-Mabrey, Maria Thurmair, Heinrich Tiefenbach, Zenon Weigt, Peter Wiesinger. ISBN 3·8233·5761-1