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Stationen der jüngeren Geschichte der Ortographie und ihrer Reform seit 1933

Zur Diskussion, Texttradition und -rezeption . unter Mitwirkung von Kerstin Steiger

0320
2007
978-3-8233-7026-0
978-3-8233-6026-1
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Mentrup

Die vorliegende Studie beschreibt schlaglichtartig die jüngere Geschichte der deutschen Orthographie. Von den Bemühungen um eine Reform während des Nationalsozialismus über die Kontinuitäten und Reformbemühungen in den Dudenredaktionen Leipzig und Wiesbaden/Mannheim schlägt sie den Bogen bis zur amtlichen Neureglung der Rechtschreibung 1996/2000 und der nachfolgenden Kritik bis 2006. Die wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig inhaltsreiche, spannende Darstellung enthält zahlreiche historische Rückblenden, in denen die Kontinuität von Personen und Konzepten sowie die Texttradition und -rezeption im Wandel der Zeiten augenfällig gemacht wird. Die beiliegende CD-ROM stellt wichtige, in der Darstellung erwähnte Dokumente zur Orthographie und ihrer Reform als Faksimile zur Verfügung

<?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 29 <?page no="2"?> Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Ulrike Haß, Werner Kallmeyer und Ulrich Hermann Waßner Band 29 • 2007 <?page no="3"?> Wolfgang Mentrup Stationen der jüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform seit 1933 Zur Diskussion, Texttradition und -rezeption unter Mitwirkung von Kerstin Steiger gnw Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibhothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibhografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 ■ Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aher seiner Teile ist urheberrechthch geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Huberts Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6026-1 <?page no="5"?> Inhaltsübersicht Ausführliches Inhaltsverzeichnis 7 Vorwort 21 0. Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen 29 1. 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie während des Nationalsozialismus - Duden- Rechtschreibbücher; Erste Sichtung von Literatur über Rust (1944): Wertungen 45 2. Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 217 3. Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion ab 1933 - Reformbemühungen ab 1950; Rust (1944) alias Basler (1948): Kenntnisse der Dudenredaktion von Rust (1944)? 311 4. ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? Eigen- und Rollenverständnisse - Wie ist dies alles zu verstehen? 437 5. ‘Der Duden’: 2000 Neuanfang - 2006 Erster Rückfall? 551 6. Verzeichnis: Literatur - Dokumente 563 7. Anhang: Dokumente auf der CD-ROM 681 <?page no="7"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis Vorwort 21 0. Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen ... 29 0.1 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie während des Nationalsozialismus - Duden- Rechtschreibbücher; Erste Sichtung von Literatur über Rust (1944): Wertungen 29 0.2 Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 31 0.3 Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion ab 1933 - Reformbemühungen ab 1950; Rust (1944) alias Basler (1948): Kenntnisse der Dudenredaktion? 33 0.4 ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? Eigen- und Rollenverständnisse - Wie ist dies alles zu verstehen? 37 0. 5 ‘Der Duden’: 2000 Neuanfang - 2006 Erster Rückfall? 43 1. 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie während des Nationalsozialismus - Duden- Rechtschreibbücher; Erste Sichtung von Literatur über Rust (1944): Wertungen 45 1.1 1933 bis 1942(-1944) Steche und Rust: Bemühungen um eine Rechtschreibreform - Verbot der Fraktur; Duden-Rechtschreibbücher: Darreichungsformen der Orthographie - Ideologisierung 45 1.1.1 1933 Theodor Steche; Duden-Rechtschreibbücher: Darreichungsformen der Orthographie - Erste Beobachtungen zur Ideologisierung 46 1.1.1.1 1933 Theodor Steche: Reformvorstellungen - Verbesserungsvorschläge 47 <?page no="8"?> 8 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.1.1.2 Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-Soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) - Der Große Duden ( n 1934): Erste Bestandsaufnahme; Otto Basler: Mitarbeiter im Bibliographischen Institut, Leipzig 56 (1) Der Volks-Duden (1933) 56 (2) Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden- Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) 58 (3) Der Große Duden ( n 1934) 64 1.1.1.3 Duden Kleines Wörterbuch (1915), Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden- Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937), Der Kleine Duden ( 2 1939): Darreichungsformen der Orthographie - Mit Auswirkungen auf den Großen Duden 68 (1) Duden Kleines Wörterbuch (1915), Der Kleine Duden ( z 1939): Erste Bestandsaufnahme 70 (2) Die kleinen Dudenausgaben: Bestandteile und Gesichtspunkte ihrer Vorworte im Vergleich 73 (3) Die kleinen Dudenausgaben: Spielwiese (ortho)graphischer Gestaltung 80 1.1.2 Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937), Der Kleine Duden ( 2 1939): Ideologisierung - Mit Auswirkungen auf den Großen Duden 90 1.1.2.1 Ideologische Infiltration: Wortkomponente 92 (1) Regelteil - Zeichensetzung: (Wort-)Beispiele 92 (2) Wörterteil I: Sauer (1988), Müller (1994) und die kleinen Dudenausgaben 95 (3) Wörterteil II: Bildungen mit Volk- 98 (4) Wörterteil III: „Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung“ 104 1.1.2.2 Ideologische Überhöhung 108 <?page no="9"?> Ausfiihrliches Inhaltsverzeichnis 9 1.1.2.3 Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und in Folge ( 2 1939): Ideologischer Wegbereiter; Otto Basler: Parteigenosse in der Literatur 112 1.1.2.4 Führer-Rollen - Aspekte, Strukturen und Verfahren der Ideologisierung - Schule und Wissenschaft (Reichsminister Bernhard Rust)... 116 (1) Führerprinzip und Gleichschaltung 118 (2) Gleichschaltung - Dichotomien antagonistischer Größen 124 (3) Erziehung - Rassische Auswahl - Ausgrenzung und Selektion 126 (4) Nachbeleuchtung der Struktur und des Verfahrens 131 1.1.3 1936 bis 1942(-1944) Bernhard Rusts drei orthographische Initiativen - Verbot der Fraktur; Duden-Rechtschreibbücher 135 1.1.3.1 1936 Bernhard Rust (1. orthographische Initiative); Der Kleine Duden ( 2 1939), Der Große Duden ( 12 1941) in deutscher Schrift (Fraktur) 135 1.1.3.2 1941 Verbot der Fraktur - Bernhard Rust (2. orthographische Initiative) - Fritz Rahn; Der Große Duden ( 12 1942) in „Normalschrift“ (Antiqua) 141 (1) 1941 Verbot der Fraktur - Historische Rückblende: Fraktur vs. Antiqua 141 (2) 1941 Bernhard Rust (2. orthographische Initiative) - Fritz Rahn; Der Große Duden ( 12 1942) in „Normalschrift“ (Antiqua) 146 (3) 1942 Orthographisch-politisches Fazit 155 1.1.3.3 1944 Bernhard Rust (3. orthographische Initiative): Kurzer Hinweis 156 1.2 Erster sichtender Zugang zur Literatur: Insbesondere mit Blick auf Rust (1944) und auf das Vorgehen von Birken- Bertsch/ Markner (2000) 159 1.2.1 Zur jüngeren Vergangenheit 160 1.2.2 Zur „Tradition“ 1946 bis 1996 162 1.2.3 Kurze Überleitung 173 <?page no="10"?> 10 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.3 Was soll bzw. was will oder kann uns dies alles (eigentlich) sagen? - Insbesondere mit Blick auf Birken-Bertsch/ Markner: Unterschiedliche Interpretationen und Wertungen auch im Vergleich 173 1.3.1 Die Antwort von Birken-Bertsch/ Markner (2000): Urheber der Neuen Regelung (1996) = Verschweiger = Suggerierer der ideologischen Feme gegenüber dem Nationalsozialismus 173 1.3.1.1 Visionärer Auftakt und aktueller Hintergrund 174 1.3.1.2 „Die Schweigespirale“ (1. kreisförmige Schraubwindung): Zur jüngeren Vergangenheit 178 1.3.1.3 „Die Schweigespirale“ (2. kreisförmige Schraubwindung): Zur Tradition 187 1.3.2 Auskünfte der gesichteten Literatur 190 1.3.3 Interpretationen und Wertungen im Vergleich 194 1.3.3.1 Zugang A: Von den Texten aus 194 1.3.3.2 Zugang B: Von vorgegebenen Festsetzungen aus 198 1.3.3.3 Birken-Bertsch/ Markner (2000): Kennzeichnung ihres Vorgehens und ihrer Ergebnisse 203 (1) Merkpunkte => Abstrus-monströses Konstrukt 203 (2) Regelungsebene: Steche (1933) + Rust (1941) + Rust (1944) = Neue Regelung (1996) => Verhedderung - Übereinstimmungs- und diffuse Zweckfiktion 207 (3) Ideologische Ebene: Nationalsozialist Bernhard Rust = Verursacher der Neuen Regelung => Überstülpung und Verstiegenheit 209 (4) Birken-Bertsch/ Markner: Im Privatissimum ihrer Kronzeugen Ickler und Simon - „Auftragsforscher im schlimmsten Sinne des Wortes“ (Knobloch) 213 2. Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 217 2.1 Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) in den Schulen 220 2.1.1 Das authentische Werk - Erlasse als Hintergrund 220 <?page no="11"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 11 2.1.1.1 Rust (1944): Zur Herstellung - Textzusammenhänge 220 (1) Titel, Zulassungs- und Einfuhrungsvermerk - Autoren - Verantwortliche Zentralstellen - Verlag - Adressaten 220 (2) Organisatorische Betreuung - Lexikographische Werkstatt: Otto Basler 225 (3) Sekundärliteratur: Textzusammenhänge - Texttradition 228 2.1.1.2 20. Februar 1944 - Amtlicher Erlass: Amtliche Zulassung und Einführung 231 2.1.1.3 20. Mai 1944 - Amtlicher Erlass und weitere Erlasse: Versorgungsengpässe 234 (1) Probleme: Versorgung der Schulen mit dem neuen Orthographiebuch 234 (2) Kriegslembücher: Erweiterte Versorgungsprobleme - Erlasszusammenhänge 236 (3) Kriegswirtschaft: Notzeiten oder Zeitnöte 240 2.1.2 Zeitzeugen 243 2.1.2.1 Trausei (1944): Orthographiebuch mit Bezug auf Rust (1944) 243 2.1.2.2 Reumuth („Anfang 1944“/ Ende Juni 1944): Zeitungsberichte über Rust (1944) (nach S.L. 1953) 244 2.1.2.3 Wessely (1944/ 15.10.), N.N. (Anfang 1945): Berichte aus dem Ausland 247 2.1.3 Textzusammenhänge: Kollektive Formulierungs- und Argumentationsstruktur - Rust (1944): Unbestritten amtlich 250 2.2 Rust (1944): Letzte amtliche Festlegung und über 1944/ 1945 hinaus amtliche Norm (Sprachgesetz) in den Schulen 253 2.2.1 1955/ 56: Dudenredaktion (Paul Grebe) und Kultusministerkonferenz (KMK) 254 2.2.2 Böhme (1995) 260 2.2.3 Kopke (1995) 262 2.2.4 Heering (26.1.1997) 267 2.2.5 ‘DudenVKMK-Merkpunkte: Übersicht 268 <?page no="12"?> 12 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 2.3 Rust (1944): Eingestampft-Nicht durchgesetzt-Gescheitert....269 2.3.1 S.L. (1953): Kritik => Eingestampft, von der Durchführung abgesehen 271 2.3.2 Jellonnek (1979): Kritik => Eingestampft und gescheitert 273 2.3.3 Jansen-Tang (1988): Kritik => Eingestampft, von der Durchführung abgesehen - Völliger Untergang 275 2.3.4 Strunk (1992): Eingestampft - Verhinderung weiterer Diskussionen 277 2.3.5 Stanze (1994a und b): Versorgungsengpass - Scheitern, Widerstand => Eingestampft 278 2.3.6 Böhme (1995): Eingestampft - (! ? ) 280 2.3.7 Kopke (1995): Eingestampft - Rein faktisches Ereignis 281 2.3.8 eingestampft - Texttradition: Übersicht => Lücken der Darstellung: Böhme (1995) und Kopke (1995) 283 2.3.9 Bertelsmann (1996): Ickler vs. Nerius und Götze 287 2.4 Rust (1944): Als amtliche Norm (Sprachgesetz) zurückgezogen => „Zu den Akten“ 289 2.4.1 4.7.1944 Geheimbericht: Öffentliche Kritik - Im Visier des Reichspropagandaministeriums 290 2.4.2 (Vor dem) 18.7.1944 Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches bei dem damaligen Schulverlag: Statusfrage 293 2.4.3 18.7.1944 Antwort des Schulverlages an das Bibliographische Institut, Leipzig: In keiner Weise allgemein verbindlich 294 2.4.4 1947 Duden-Rechtschreibung 13. Auflage: Keine Berücksichtigung 297 2.4.5 21.12.1948 Amtliche Mitteilung des niedersächsischen Kultusministers: August 1944 offizielles Zurückziehen 301 2.4.6 Böhme (1995) und Kopke (1995): Argumentationsgebäude eingestürzt - Grebes Argumentation um 1955: Ins Zwielicht geraten und äußerst rätselhaft 305 <?page no="13"?> A usführliches Inhaltsverzeichnis 13 3. Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion ab 1933 - Reformbemühungen ab 1950; Rust (1944) alias Basler (1948): Kenntnisse der Dudenredaktion von Rust (1944)? 311 3.1 Kontinuitäten I: Die Leipziger Duden-Schriftleitung - Zwischenzeitlich zwei Dudenredaktionen 311 3.1.1 Basler > Grebe I: Linie der Leiter der Dudenredaktion - So, wie Kopke es 1995 konstruiert, ist es nicht gewesen 311 3.1.2 Die Leipziger Duden-Schriftleitung 1933 bis kurz nach dem Kriege 316 3.1.2.1 Otto Baslers Rolle im Zusammenspiel mit ‘dem Duden’ 317 3.1.2.2 Horst Kliens Rolle in der Dudenredaktion 321 3.1.2.3 Fazit - Baslers Rückblick aus dem Jahre 1958 325 3.1.3 Die Dudenredaktionen nach dem Kriege: Nachfolgen 327 3.1.3.1 Die Dudenredaktionen: 1945 Leipzig- 1947 Wiesbaden, 1959 Mannheim - Institut für Deutsche Sprache (IDS) 1964 327 (1) Die Dudenredaktion in Leipzig ab 1945 327 (2) Die Dudenredaktion in Wiesbaden ab 1947 und in Mannheim ab 1959; 1964 Gründung des IDS 332 (3) Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000): Verpasste Chance für die Fortführung der Linie einer Vermittlung von Wissen über Rust (1944) 335 3.1.3.2 Gründungsjahre: Dudenredaktionen und Deutsche Sprachberatungsstelle - Deutungen 335 (1) Dudenredaktion: Statt Leipzig 1936 schon Leipzig 1915? 336 (2) Dudenredaktion: Statt Wiesbaden 1947 schon Leipzig 1905? 337 (3) Deutsche Sprachberatungsstelle: Schon seit 1903? 339 3.1.3.3 Dudenredaktion: Erstes Aufkommen 341 3.2 Kontinuitäten II: Reformbemühungen ab 1950 - So, wie Kopke und Birken-Bertsch/ Markner es 1995 bzw. 2000 konstruieren, ist es nicht gewesen; ‘Der Duden’ 1955: Eingabe an die KMK- Rust (1944) letzte amtliche Verfügung 343 <?page no="14"?> 14 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 3.2.1 Basler > Grebe II: Linie der Reformbemühungen ab 1950 343 3.2.1.1 Ausgangskonstellation: Auch im Wandel 344 3.2.1.2 Fremdwortschreibung: Zentrales Begegnungsfeld Basler und Grebe - Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen 1955 bzw. 1959 347 (1) Fremdwortschreibung: Bis hin zu den Stuttgarter Empfehlungen 1955 348 (2) Fremdwortschreibung: Bis hin zu den Wiesbadener Empfehlungen 1959 351 (3) Nebenfelder: Aussprache - Zeichensetzung 357 3.2.1.3 Fazit: Personenbzw. Thema-bezogen 358 3.2.2 ‘Der Duden’ um 1955 und Rust (1944): Titelfragen 362 3.2.2.1 Titelvarianten: Erste Übersicht 362 3.2.2.2 mit statt und: Flüchtigkeitsfehler des Beamten Frank 1944? nebst statt und: Angleichungsirrtum in Stanze (1994a und b) 366 3.2.2.3 Falscher Titel: Eines der Rätsel in der Dudeneingabe von 1955 368 (1) Hering (1989): Stark abweichender Titel => Ein Versehen durch die Macht des Gewohnten 369 (2) Böhme (1995): Leichte Unterschiede im Titel => Wahrscheinlich ein Versehen durch die Macht des Gewohnten 372 (3) Ansonsten Fehlanzeige bis 1998 - Nachträge; Besuch Markners oder Birken-Bertsch' 1999 im IDS - Bei vertauschten Rollen: Klandestine Operation 373 3.2.2.4 Fazit und Übergang 375 3.2.3 Spätere Verfügungen und speziell Rust (1944)? - Inhaltliche Übereinstimmung ‘des Duden’ (Duden-Rechtschreibung 14 1954) mit Rust aus der Sicht der Literatur 377 3.2.3.1 Spätere Verfügungen: Schwindendes Wissen davon 377 3.2.3.2 Exemplar von Rust (1944): Auf der Suche danach 379 3.2.3.3 Inhaltliche Übereinstimmung: Allmählich schwindende Größe 384 3.2.3.4 Merkpunkte ‘Duden’: Deutungen - Grebe hat Rust (1944) höchstwahrscheinlich nicht gekannt 387 <?page no="15"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 15 3.3 Grebe: Kenntnisse von Rust (1944)? - Rust alias Basler! 394 3.3.1 Hätte Grebe (die inhaltlichen Regelungen in) Rust (1944) wirklich gekannt: Vieles wäre anders gelaufen, als es denn dann war 394 3.3.1.1 Regelungen im Vergleich: Diskussion bis hin zu Wiesbaden 1959 - Rust (1944) - Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) 394 (1) Vier Fallgruppen: Ihre Regelung bis hin zu Wiesbaden 1959 395 (2) Im Vergleich: Rust (1944) und Duden-Rechtschreibung ( 14 1954)... 399 (3) Zur Diskussion von Konstanz bis hin zu Wiesbaden 400 3.3.1.2 Schlussfolgerung I um 1955: Grebe kann Rust (1944) nicht gekannt haben 400 3.3.1.3 Schlussfolgerung II 1995: Böhme irrt - Eine weitere Frage an Kopke 403 3.3.2 Rust (1944) entnazifiziert alias Basler (1948) - Zu dessen Entstehung 404 3.3.2.1 Fremdwortschreibung Basler (1948) - Rust (1944) alias Basler (1948): Entnazifizierte Identität 405 3.3.2.2 Basler (1948): Entstehung - Zeitumstände 410 (1) 1945 Oldenbourg Verlag: Verhandlungen und Vertragsabschluss - Spätes Erscheinen 1948 410 (2) Zum Verfasser 414 (3) Zum neuen Titel 414 (4) Zum Inhalt 415 (5) Amtlicher Status: Amtlich verordnete inhaltliche Einschränkung 416 (6) Anpassungen: Bayerische amtliche Rechtschreibbücher 418 3.3.2.3 Historische Spuren 420 (1) Zur engeren Vorgeschichte 420 (2) Erinnerungsstücke 422 (3) Spuren weiter zurück 425 <?page no="16"?> 16 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 3.3.3 Basler > Grebe III: Linie der Inhalte; Baslers Verhalten(heit) - Grebes (Un-)Kenntnis - Rusts Fernwirkung 427 3.3.3.1 Otto Basler: Verhalten(heit) - Zurückhaltung - Enthaltsamkeit 428 3.3.3.2 Grebe kennt Rust (1944), aber er weiß es nicht 431 3.3.3.3 Kopke (1995): Kuriosa - Birken-Bertsch/ Markner (2000): Monströse klandestine Operation 433 4. ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? Eigen- und Rollenverständnisse - Wie ist dies alles zu verstehen? 437 4.1 ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Norm über die Zeit hin? 438 4.1.1 Regelung von Einzelfallen, Fallgruppen und Teilbereichen im Wandel der Zeit 440 4.1.1.1 Einzelfälle und exemplarische Fallgruppen 441 (1) in bezug aufmit Bezug aufich fahre Radiradfahren, ich fahre A uto/ A uto fahren 441 (2) Zwei Vokalbuchstaben für einen langen Vokal: Aal, Beere, Boot 442 (3) Drei gleiche Buchstaben bei Zusammensetzungen: Schiffahrt - SchifffrachC, Tee-Ernte seeerfahren 443 4.1.1.2 Größere Teilbereiche 446 (1) Worttrennung : Abend/ A-bend- Päd-agogik/ Pä-dagogik 446 (2) Fremdwörter - Varianten 447 (3) Groß- und Kleinschreibung 456 (4) Getrennt- und Zusammenschreibung - Zeichensetzung 458 4.1.1.3 Rückblick und Kommentar 460 4.1.2 Der Kleine Duden: Preußische Regeln als Regelteil - Der Große Duden und die Dudenredaktion im Wandel der Zeit 462 4.1.2.1 Der Kleine Duden: Anscheinend eine Ausnahme? 463 <?page no="17"?> Ausführliches Inhaltsverzeichnis 17 4.1.2.2 Der Große Duden: Teilbereiche im Regelteil im Vergleich mit Preußen (1902) 463 4.1.2.3 ‘Der Duden’ über die Zeit hin * ‘der Duden’ 466 (1) ‘Der Duden’: Die Duden-Regelung 466 (2) ‘Der Duden’: Die Dudenredaktion respektive ihre Leiter 469 4.1.3 Fazit - Zum Schreibbrauch - Überleitung 471 4.1.3.1 Die zweifelhafte (Berufung auf die) Amtlichkeit ‘des Duden’ 471 4.1.3.2 Sprach(ge)brauch und Orthographiebücher 472 4.1.3.3 Rückblick und Überleitung 476 4.2 ‘Der Duden’: Eigenverständnisse und Selbstinszenierungen seit 1954 476 4.2.1 Eigenverständnisse I ‘Dudens’ Rechtschreibregelung: Hüter der staatlich sanktionierten Einheitsschreibung bis hin zur obersten Sprachinstanz 477 4.2.1.1 niedergelegt / nicht(s) geändert: (1.1) „Hüter der staatlich sanktionierten Einheitsschreibung“ (Grebe 1962, S. 72; 1968, S. 21) 478 4.2.1.2 interpretieren: klären / ändern ausdifferenzieren / Normen neu bestimmen: (1.2) „verlängerter Arm des Staates“ (Drosdowski 1995/ 19.6., S. 108) 480 4.2.1.3 regulierend eingreifen / Normen setzen: (1.3) „oberste Sprachinstanz“ (Drosdowski 1996, S. 24) / „Dudenpapst“ (Duden-Wörterbuch 1976- 1981, Bd. 5, 1980) 485 4.2.1.4 Konrad Duden - Seine Vereinnahmung durch ‘den Duden’ 491 4.2.2 Eigenverständnisse II Kooperation: Im Einvernehmen mit dem IDS (1967-1980) bis hin zur Aufhebung dieses Einvernehmens (1984) 492 4.2.2.1 Grebe: Die Dudenredaktion gemeinsam mit dem IDS 493 4.2.2.2 Drosdowski: Platonische Beteuerungen * praktische Arbeit 494 4.2.2.3 Aufhebung des Einvernehmens 495 <?page no="18"?> 18 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 4.2.3 Eigenverständnisse III Rechtschreibreform: Bis hin zum ‘Anti-Kropf 495 4.2.3.1 Grebe: Auch die Dudenredaktion sinnvollen Reformen zugeneigt - Höchst aktive Mitarbeit insbesondere an den Wiesbadener Empfehlungen (1953 bis etwa 1970) 496 4.2.3.2 Drosdowski: Die dudenredaktion tritt dafür ein, die rechtschreibreform jetzt in angriff zu nehmen, den Wiesbadener empfehlungen entsprechend (1973 bis etwa 1985) 498 4.2.3.3 Drosdowski: Rechtschreibung reformieren? - Eher doch: Reformeiferer kurieren (ab 1987) - Gegen Substantivkleinschreibung 503 4.3 ‘Der Duden’: Wechselbäder zwischen scharfer Kritik und hohem Lob bis hin zu sakralen Weihen - Zu Grebes und Drosdowskis Verhalten, auch vor diesem dichotomischen Hintergrund 508 4.3.1 Scharfe Kritik am EigenVerständnis ‘Interpret der amtlichen Regelung’, auch zeitlich weit(er) zurück - Kritik an der Ideologisierung ‘des Duden’ - Blickpunkte aus der Sicht des Auslands 508 4.3.1.1 Hic Ansprüche ‘des Duden’ -Illic Widersprüche, auch in der Literatur: Wie ist dies zu verstehen? Nur Paradoxa? 509 4.3.1.2 Breite bedrohliche Phalanx allgemeiner(er) Kritik - Seit 1980 im Zuge der neuen Reformbemühungen durch systematische(re) Analysen verstärkt 512 4.3.1.3 Spezielle Kritik an der Ideologisierung ‘des Duden’ 515 4.3.1.4 Einige Blickpunkte aus dem Ausland 516 4.3.2 Amtlicher Segen und allgemeines hohes Lob einschließlich sakraler Weihen - Grandiose Ausweitung auf die Reihe „Der Große Duden“ 518 4.3.2.1 Amtlicher Segen: „In Zweifelsfällen [...] verbindlich“ (KMK November 1955) - Abgeschlagene Konkurrenz 519 4.3.2.2 Breite Palette allgemeinen hohen Lobes bis hin zu sakralen Weihen... 520 4.3.2.3 Ausweitung: „Der Große Duden“ - Das grandioseste Unternehmen ... 522 <?page no="19"?> A usführliches Inhaltsverzeichnis 19 4.3.3 Wechselbäder zwischen Kritik und Lob: Wie stellt sich, auch vor diesem dichotomischen Hintergrund, Grebes und Drosdowskis Verhalten dar? 524 4.3.3.1 Grebe: Ein in sich geschlossenes Bild seiner Rollen - Ausbalanciertes Gleichgewicht: Leiter der Dudenredaktion, erster Direktor des IDS, Reformer 524 4.3.3.2 Drosdowski: Sein heterogen zusammengesetztes Bild der Rollen - Diskrepanzen: Dudenpapst, als Reformer Vollzieher externer Anweisungen und Opfer mafiaähnlicher Machenschaften 528 4.3.3.3 Kurzes Resümee oder auch allgemeine Quintessenz 535 4.4 Drosdowski: Umsetzung der Neuen Regelung (1996) - Verkennung der Zeichen der Zeit - Konflikt mit der Amtlichkeit - Rüpelstück und Burleske 537 4.4.1 Wandel der Zeiten: Änderung der Zeichen der Zeit seit 1984 - Die Quasi-Amtlichkeit ‘des Duden’: Ein orthographisches Intermezzo 537 4.4.2 Drosdowski: Der Papst * Der Kropf- Amtliche Ebene: Heftiger Widerspruch, gefährliche Kritik - Drosdowski: Zum Gerangel um den Duden, zur Zwischenstaatlichen Kommission 539 4.4.2.1 Der Papst (Drosdowski) * Der Kropf (Zwischenstaatliche Kommission) - Unbeirrtes Beharren auf dem bisherigen Kurs 539 4-4.2.2 Hessisches Kultusministerium: Heftiger Widerspruch und eine für ‘den Duden’ und den Verlag gefährliche Kritik 545 4.4.2.3 Drosdowski: Gerangel um den neuen Duden - Zwischenstaatliche Kommission: Besetzung ein Rüpelstück, ins Haus stehende Burlesken 546 4.4.3 Wie ist das alles zu verstehen? Ein Versuch irrlichtender Deutungen nach des Volksmunds Art 548 <?page no="20"?> 20 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 5. ‘Der Duden’: 2000 Neuanfang - 2006 Erster Rückfall? 551 5.1 Der erste Abschnitt eines neuen Kapitels 551 5.2 Spekulationen über Zukünftig-Mögliches 557 5.3 Spät- oder Nachlese: 2006 560 6. Verzeichnis: Literatur - Dokumente 563 6.1 Chronologisch geordnetes Verzeichnis: Stationen über die Zeit hin 563 6.2 Alphabetisch geordnetes Verzeichnis: Autoren - Akteure 624 7. Anhang: Dokumente auf der CD-ROM 681 7.1 Zu Kapitell 681 7.2 Zu Kapitel 2 682 7.3 Zu Kapitel 3 685 7.4 Zu Kapitel 4 687 7.5 Zu Kapitel 5 687 <?page no="21"?> Vorwort 1) 1995 schlägt Wolfgang Kopke in seiner Studie „Rechtschreibreform und Verfassungsrecht“ einen weiten Bogen von dem Orthographiebuch, das 1944 vom Reichserziehungsminister Bernhard Rust herausgegeben wird und für die Schulen amtlich ist, u.a. über die Dudenredaktionen in Leipzig, etwa 1934 und 1947, und in Wiesbaden, etwa 1955, ab 1959 in Mannheim, mit Akteuren wie Otto Basler und Paul Grebe, über die 1950 einsetzenden und an Stuttgart 1955 sowie an Wiesbaden 1959 geknüpften Reformbemühungen, über die von Grebe 1955 behauptete Übereinstimmung ‘des Duden’ (Duden-Rechtschreibung 14 1954) mit Rust (1944) und seit Dudengedenken mit der amtlichen Regelung überhaupt, über die Kultusministerkonferenz (KMK) und deren Beschlüsse von 1950 und 1955 bis hin zu der amtlichen Neuregelung, die 1996 in Kraft tritt, und stellt durch z.T. konstruierte Kontinuitäten diese Größen in eine z.T. sehr eigentümliche Tradition, die eine Hauptstütze seiner Argumentation darstellt. Dies war für mich der Anlass, mich intensiver mit Rust (1944) und mit Kopkes Sicht der Dinge zu beschäftigen. Einbezogen war insbesondere auch Böhme (1995). Dies führte bis 1998 zu einer ersten Fassung, deren redaktionelle Fertigstellung ich aus verschiedenen Günden dann allerdings verschieben musste; sodass die Ankündigung dieses Bandes (vgl. Sprachreport 2/ 1998, S. 18) sich im Nachhinein als zu früh erweist. Und wie das dann ja so selten nicht ist: ln der Zwischenzeit ereignete sich einiges. 1998 im Mai, während der öffentlichen Anhörung zur Neuregelung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, setzt Christian Meier, damaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die Rustsche Regelung von 1944 und die neue amtliche Regelung von 1996 in der Tiefe des staatlichen Eingriffs in die Rechtschreibung gleich. Schon 1997 und dann auch 1999 stellt Theodor Ickler, wie zuvor schon Kopke 1995, eine Kontinuität der auf dem Reformfeld beteiligten Personen und Ideen fest <?page no="22"?> 22 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sowie die weitestgehende inhaltliche Übereinstimmung zwischen der Rustschen Reform von 1944 und der Neuregelung von 1996. 1998 bezieht Gerd Simon auch Rusts Reformvorschläge von 1941 und die Reformvorstellungen Theodor Steches von 1933 in diese Übereinstimmungsgleichung mit ein, sodass nunmehr drei inhaltlich inkongruente Reformvorhaben die Neuregelung von 1996 mit dem Anspruch auf inhaltliche Übereinstimmung nachgerade umstellen. 2000 erscheint, explizit als „Eine Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ ausgewiesen, der Beitrag „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“ von Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner. Diese ziehen die überkommenen Eingriffs- und Übereinstimmungsparallelen, gewissermaßen verstärkend, nach, ergänzen um den Primat der gesprochenen Sprache, um die, wie sie so schön sagen, ‘oralprimatistische’ Grundlegung als weitere Parallele und meinen, gestützt auf eine ihnen eigentümliche Argumentation, über all das hinaus noch eine ideologische Nähe der Urheber und Befürworter der neuen amtlichen Regelung, wie auch pauschal ihrer Vorgänger in der langen Tradition, zum Nationalsozialismus fest- oder herstellen zu können oder zu müssen. 1998 veröffentlicht Hiltraud Strunk einen Aufsatz über die drei Reforminitiativen Bernhard Rusts (1936, 1941, 1944) und die Dokumentation „Die Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen“. Im März 2002, kurz vor Redaktionsschluss meiner Arbeit, wird mir die Untersuchung von Gunnar Böhme über ‘den Duden’ und die amtliche Regelung, erschienen 2001, zugänglich. 2) Einige der im obigen Abriss anklingenden Themen sind Gegenstand der hier nunmehr vorgelegten Untersuchung: - Reformbemühungen im 3. Reich und Gesichtspunkte der Ideologisierung u.a. der Orthographie auch in Duden-Rechtschreibbüchem - Rust (1944): Der über die Zeiten hin umstrittene Status (amtlich oder nicht? ) - Kontinuitäten in den Dudenredaktionen ab 1933 und während der Reformbemühungen ab 1950 bis in die jüngere Gegenwart - Das Verhältnis der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) zu Rust (1944) sowie ‘des Duden’ zur amtlichen Regelung über die Zeit hin <?page no="23"?> Vorwort 23 Über diese Sachebene hinaus geht es gleichermaßen um Ansichten, Deutungen und Wertungen, um Irrungen und Wirrungen und entsprechend auch um Verwirrungen und Irritationen, womit die beteiligten Akteure, ihre Eigenverständnisse, ihre Handlungen und Inszenierungen auf diesem Felde sowie deren Kritiker und dann wiederum auch deren Kritiker ins Spiel kommen und damit weitere Gesichtspunkte wie Kontinuität von Personen und Konzepten, wie Texttradition und Textrezeption aufgerufen sind. Die Zahl der verschiedenen Themen und das Miteinander-Verwobensein der damit angesprochenen Personen, Gegenstände und Sachverhalte führt, wie ich meine: zwangsläufig, dazu, dass nicht selten dasselbe in unterschiedlichen Zusammenhängen und damit mehrfach aufgerufen wird und so, anscheinend, eine gewisse Redundanz entsteht. Anders gesehen geht es, wie ich meine: notgedrungen, auch um eine große Menge fusseliger Einzelfakten, die jeweils einzupassen und auf die Linie der aufeinander folgenden Zeilen aufzufädeln ebenso mühsam war wie ihre Erfassung bei der Lektüre mühselig sein wird. Wenn auch nicht unendlich, so doch unbegrenzt scheinen die Möglichkeiten assoziativer An- und Verknüpfungen zu sein; wobei das Defragmentierungsprogramm (im Computer) in seiner Visualisierung eine Vorstellung davon zu vermitteln scheint, wie so etwas ablaufen könnte. Nicht selten zeigt sich, dass selbst banal erscheinende Einzelheiten und Kleinigkeiten zeitgeschichtliche Ereignisse indizieren, sodass auch dadurch der allgemeine Wandel der Zeiten und Dinge augenfällig wird und die historische Tiefe der Entwicklung sich abzeichnet. 3) Die dokumentative Komponente ist zweifach zusammengesetzt. Zum einen sind es die im Anhang zusammengestellten Dokumente, anhand derer dargestellte Sachverhalte und gezogene Schlussfolgerungen gegebenenfalls überprüft werden können. Zum anderen sind es die zahlreichen, z.T. bewusst ausführlichen und von Fall zu Fall aus stilistischen Gründen gehäuften Zitate, in denen insbesondere die jeweiligen Zeitzeugen auch in ihrer authentischen Sprache, gegebenenfalls explizit interpretiert, ausdrücklich zu Wort kommen (sollen). Wobei sich auch zeigt, dass gerade die kleinen Wörter, ob quantifizierend wie der, <?page no="24"?> 24 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform alle, einzig, kein, schon immer oder ob dispositiv wie wohl, dürfen, müssen und auch der Konjunktiv II, eine große Rolle spielen. Die recht häufige Verwendung fester Redensarten erklärt sich daher, dass sie, verstanden als sprachlich geronnene und oft bildhaft gestaltete Erfahrung eines Volkes mit den Wechselseiten des Lebens über viele Jahrhunderte hin, dass die alten Sprüche des Volkes, die sog. Volksweisheiten ins Auge gefasste Sachverhalte, gedankliche Konzepte oft sehr genau auf den Punkt bringen (lassen). Oder anders gesagt, nämlich wie ich in einem Film gehört und hier leicht abgewandelt habe: Was sich in Redensarten des Volkes fassen lässt, kann nicht ganz falsch sein; was natürlich nicht nur für das Deutsche gilt. So hat Peter Bruegel der Ältere im Jahre 1559 in seinem großen Gemälde „Die niederländischen Sprichwörter“ insgesamt 119 von diesen bildlich erfasst und auf diese Weise künstlerisch für die Nachwelt verewigt. Beispiele sind: „41 Immerzu an einem Knochen herumnagen (alles beständig durchkauen)“, „45 Viel Geschrei und wenig Wolle (viel Lärm um nichts)“, „75 a) Etwas mit der Laterne bei Tage suchen (etwas Unsinniges tun)“, „96 An den Federn erkennt man den Vogel (man sieht ihm an, wes Geistes Kind er ist)“ (Gemäldegalerie 1998, Kat. Nr. 1720). So verwendet Feuchtwanger in seinem Roman „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“ spanische sprichwörtliche Redensarten, Bauernregeln und Ähnliches als durchgängiges Stilmittel. Beispiele sind: „Zieh die Kutte an, und du kannst Latein“ (S. 139), „Wer schweigt, stimmt zu“ (S. 181), „Wo ein guter Knochen ist, sammeln sich die Hunde“ (S. 314), „Kein schlimmerer Narr als ein gelehrter Narr“ (S. 322), „Nur ein Narr ist zornig auf den Spiegel, der sein Bild wiedergibt“ (Feuchtwanger 3 1996, S. 574f), Wobei die eine oder die andere der vorstehenden Redensarten sich auch in dem nachstehend Dargestellten durchaus verwenden und auf beteiligte Akteure in bestimmten Situationen und Konstellationen anwenden ließe. Die nicht selten mit Hic - Illic markierte dichotomische und polarisierende Struktur erweist sich natürlicherweise auch hier als grundlegend und durch- <?page no="25"?> Vorwort 25 gängig; wobei das mit den kursiv gesetzten Wörtern Gemeinte nicht hier, sondern im Zusammenhang mit einer anderen Geschichte genauer zu erläutern wäre und erläutert ist (vgl. etwa Mentrup 2003). 4) Die ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit Kritikern der Neuregelung von 1996 wie Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) ergibt, dass der konsequente Verfolg der Argumentation bei Kopke zu Kuriosa und bei den zwei Autoren zu Monstrositäten führt. All dies als Verteidigung der Neuregelung oder als Plädoyer für diese zu verstehen, wäre unzutreffend; obwohl eine solche Deutung schon deshalb nahe läge, weil die in diesen Arbeiten kritisierten noch heute aktiven Reformer sich den genannten Kritikern gegenüber bisher (bis April 2002) in vornehmes Schweigen hüllen. 5) Ein Maßstab zur Bewertung einer Reform der Rechtschreibung ist, wie ich meine, der Grad der Systematisierung ihrer Regelung und ihre damit verbundene Vereinfachung. Diese ist wie auch die amtlich festgelegte Einheitlichkeit der Orthographie auf der 1. Orthographischen Konferenz von 1876 Programmpunkt und angestrebtes Ziel. Auf der 2., der entscheidenden Konferenz von 1901 wird der Gesichtspunkt der Einfachheit weitgehend unter den Tisch gekehrt. Gerechtfertigt und kompensiert wird dieser Kompromiss, dieses Zwischenziel mit der endlich erzielten Einheitlichkeit. Die Vereinfachung der Regelung wird der Zukunft anheim gegeben. Noch heute aktive Reformer sehen die Neuregelung von 1996 ebenfalls als Kompromiss auf dem kleinsten Nenner, als Reförmchen an: Mehr war nicht drin. Sie rechtfertigen das Ergebnis die Einheitlichkeit steht als Kompensationsgröße nicht mehr zur Verfügung mit der erzielten Vereinfachung der Regelung einiger Fallgruppen und kleinerer Teilbereiche. Eine gründlichere) Vereinfachung, auch in anderen Bereichen und generell, könne späterhin erfolgen. Ich meine: Zu einer vemünftige(re)n Reform gehören vor allem, wenn auch nicht nur, die Kleinschreibung der Substantive sowie die Aufhebung der Unterscheidungsschreibung das (Artikel, Pronomen) daß/ dass (Konjunktion) zugunsten von einheitlich das. Dieser Meinung war 1992 auch der Internationale Arbeitskreis für Orthographie (1992, S. XXIII, XVI). Doch aufgrund der politischen Konstellation kam es dann anders, was in der Konsequenz auch meinen Austritt aus dem Reformuntemehmen im Oktober 1993 erklärt. <?page no="26"?> 26 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Mit der 1996 etablierten Neuregelung ist der Weg zu einer solchen Reform für lange Zeit versperrt. Denn in absehbarer Zeit wird von der heutigen Generation der Beteiligten vor dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen wohl niemand einen neuen Vorstoß in Richtung auf eine durchgreifende(re) Reform unternehmen. 6) Doch bestimmte Argumentationen, die in den genannten Arbeiten der Kritiker vorgebracht werden, erscheinen auch gegenüber dem erzielten „Reförmchen“-Ergebnis als nicht angemessen und sind, und dies ist der eigentliche Punkt, grundsätzlich in Frage zu stellen. 7) Für Inhalt und Aufbau dieser Studie bin ich allein verantwortlich. Kerstin Steiger, bei der ich mich in besonderer Weise bedanke, hat in mühseliger Kleinarbeit, insbesondere mit jeweils spezifischem Blick auf Bernhard Rust, Otto Basler und Paul Grebe, den Baslemachlass im Institut für Deutsche Sprache, die Dokumentationen „Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938-1945“ (SD 1938-1945) und „Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940“ (SPD 1934-1940) sowie Arbeiten über den Nationalsozialismus auf einschlägige Dokumente, Fakten und Daten durchforstet und diese in eine (biographisch-)sachlogische Ordnung gebracht, sodass ich diese Materialien, in schöner und maniabler Weise aufbereitet, auswerten und einbeziehen konnte. Mein herzlicher Dank gilt auch Hagen Augustin, Christina Bankhardt, Michael Brodhäcker, Ilona Ewald, Kristine Fischer-Hupe, Heidrun Kämper und Norbert Volz für Hilfestellungen und Auskünfte unterschiedlichster Art; Jutta Reinisch für kritisches Gegenlesen des Manuskripts, Claus Hoffmann für das Einscannen der Dokumente des Anhangs sowie Monika Kolvenbach und Norbert Volz (alle IDS) für Korrekturen, für die Formatierung des Manuskripts und für die Herstellung des Bandes. 8) Hingewiesen sei auf einen in Vorbereitung befindlichen Band, in dem das Orthographiebuch Rust (1944) als Ausgangspunkt dient, von dem aus am Beispiel ausgewählter Teilbereiche die Regelung insbesondere auf den Linien der amtlichen Rechtschreibbücher zurückverfolgt wird: Spurensuche, Herkunftsbestimmung, Aufweis einer langen Regelungs- und Texttradition. Geht es in Mentrup (i.Vorb.) um Rusts orthographische Vergangenheit, so <?page no="27"?> Vorwort 27 geht es hier in diesem nunmehr endlich erschienenen Band u.a. um Rusts weiteres Schicksal nach Kriegsende, d.h. von Rust aus gesehen um seine Zukunft. Bezogen auf Schreibvarianten von Fremdwörtern, die nach der Neuregelung von 1996 amtlich zugelassen sind, verwende ich entsprechend der nahezu durchgängigen Schreibung in den alten und älteren Dokumenten und Quellen sowie in der neueren Literatur wegen der Konsequenz bei der Stammschreibung sowie mit Blick auf die Gleichförmigkeit der Wortbilder durchgängig die fremdsprachige Schreibung. Dies betrifft insbesondere Bildungen mit [-]graph[-] und [-]/ ? / zcw[-] wie etwa Orthographie bzw. Phonetik. Ist ausschließlich die eingedeutschte Schreibung zugelassen wie z.B. Telefon, dann verwende ich diese. Mannheim, 15. April 2002 (Abschluss des Manuskripts) Wolfgang Mentrup <?page no="29"?> 0. Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen 0.1 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie während des Nationalsozialismus - Duden- Rechtschreibbücher; Erste Sichtung von Literatur über Rust (1944): Wertungen Den Einstieg bilden Bemühungen um eine Reform der deutschen Orthographie während der Zeit des Nationalsozialismus. Entsprechend kommen (vgl. Abschnitt 1.1.1) 1933 Theodor Steche sowie (1.1.3) 1936, 1941 und (ausführlicher dann in Kapitel 2) 1944 Bernhard Rust ins Blickfeld und auch, in Verbindung mit dem Jahre 1941, das höchstinstanzliche Verbot der Fraktur und der Reformvorschlag von Fritz Rahn. Die politischen Hintergründe werden dabei, im Vergleich mit vorliegender Literatur, eher skizzenhaft dargestellt und in dieser Übersicht weitgehend ausgespart. Da es um die Orthographie geht, kommen auch in dieser Zeit nahezu zwangsläufig das Bibliographische Institut (BI) in Leipzig, die später Dudenredaktion genannte Institution sowie deren orthographischen Werke ins Blickfeld: Der Volks-Duden (1933); Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934), Der Große Duden ( n 1934) und Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937); diese vier Werke sind von Otto Basler bearbeitet, der in der Literatur bezüglich seiner Funktion im Zusammenhang mit ‘dem Duden’ sowie einer Mitgliedschaft in der NSDAP ein eigentümliches Schicksal erfahrt. Der Kleine Duden ( 2 1939) und Der Große Duden ( 12 1941) in Fraktur bzw. ( I- 1942) in der sog. Normalschrift, wobei im Zusammenhang mit dieser Auflage Horst Klien als Leiter der Dudenredaktion bzw. dort in verantwortungsvoll-leitender Position öffentlich in Erscheinung tritt. Die ausführliche Untersuchung der kleinen Dudenausgaben ist in ihrer bisher recht stiefmütterlichen Behandlung in der Literatur begründet. Ergebnis ist, dass sie so etwas wie eine Spielwiese experimenteller Gestaltung sind, mit z.T. erheblichen Auswirkungen auf den Großen Duden. <?page no="30"?> 30 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform So insbesondere in folgender Hinsicht (1.1.2): Die eigentliche Ideologisierung wird auf der Linie der Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) durchgeführt; die 11. und 12. Auflage des Großen Duden (1934 bzw. 1941) insbesondere die von 1934 seit Sauer (1988) und u.a. in Müller (1994) als ‘Nazi-Duden’ geführt sind hingegen eher als überzeugte Mitläufer anzusehen. Die Ideologisierung erfolgt durch Infiltration der Wortkomponente durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’ vor allem im Wörterteil und durch ideologische Überhöhung in Umtexten, so etwa in Abhandlungen. Die Regelung der Orthographie als solche wird dadurch ideologisch nicht eingetrübt, sie ist ideologisch-semantisch neutral. Ausweitend geht es, insbesondere unter Berufung auf Zeitzeugen unterschiedlichster Couleur, um Aspekte und Strukturen der Ideologisierung in den Bereichen, für die Bernhard Rust als Leiter des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zuständig ist. Mit Blick insbesondere auf das Orthographiebuch Rust (1944) folgt (1.2) eine Übersicht über grundsätzlich einschlägige Literatur, die sich, bezogen auf das Thema, jedoch als nicht besonders ergiebig erweist. Birken-Bertsch/ Markner (2000) schenken nun gerade Titeln dieser Gruppe ihre spezielle Aufmerksamkeit, sodass ich nach Erscheinen ihres Buches diese Liste erweitert und damit gleichzeitig die Materialgrundlage ihrer Argumentation verbreitert habe: Insgesamt eine spezifische Texttradition. Dieser Bestandsaufnahme folgen Interpretationen und Wertungen (1.3). Die zwei Autoren gehen von den Vorgaben aus, Rust (1944) und die Neue Regelung (1996) seien als Eingriff in die Rechtschreibung von gleicher Tiefe zu bewerten (nach Christoph Meier) und stimmten zudem inhaltlich weitestgehend überein (nach Theodor Ickler) wie dann auch die Reformvorstellungen von Steche (1933) und Rust (1941) mit denen von 1996 (nach Gerd Simon), sodass nunmehr drei inhaltlich inkongruente Reformvorhaben mit dem Anspruch auf inhaltliche Übereinstimmung die Neue Regelung (1996) nachgerade umstellen. Die Autoren ergänzen um den Primat der gesprochenen Sprache, um die ‘oralprimatistische’ Grundlegung als weitere Parallele. Ihre überhöhende Weiterführung: Die Urheber der Neuregelung, wie auch pauschal deren Vorgänger in der langen Tradition, verschweigen die inhaltliche Parallelität zu Rust (1944) (was auch heißt, dass sie davon wissen). Sie schweigen sich darüber aus, um eine möglichst große ideologische Feme zwischen ihrem <?page no="31"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen 31 Projekt und dem Nationalsozialismus zu suggerieren (was auch heißt, dass eine große ideologische Nähe besteht und dass ihnen auch dies klar ist). Ein anderer Zugang zu den Texten fuhrt allerdings zu differenzierteren Ergebnissen: Unterschiedliche Möglichkeiten der Textrezeption, der Textinterpretation. Verfolgt man den Ansatz der zwei Autoren auch nur halbwegs konsequent, was die Ausführlichkeit der Auseinandersetzung mit ihnen erklärt, so gewinnt das Konstrukt ihrer „Schweigespirale“ in ihrer Tradition und in ihrer ideologischen Überhöhung Schritt für Schritt die Dimension einer grotesken Monstrosität und endet im Absurden. Die Vorstellung von der inhaltlichen Übereinstimmung verheddert sich in der Dreizahl der Bezüge und erweist sich als diffuse Zweckfiktion. Zudem bringt sie die zwei Autoren unversehens selbst ganz schön ins ‘braune’ Zwielicht. Denn wenn die vermeintliche inhaltliche Übereinstimmung zwischen, ich schlage mal vor, Rust (1944) und der Neuen Regelung (1996) ein Indikator für ideologische Nähe der Beteiligten ist, dann besteht eine solche Nähe auch bei ihnen. Denn ihr Opus ist in der Antiqua geschrieben, die nach dem Jahrhunderte andauernden Schriftstreit mit der Fraktur ihren Sieg ja dem Führer höchstinstanzlich und höchstpersönlich verdankt. Und sollten sie auch noch die Autobahn benutzen ... - Wohin soll diese Geschichte nur noch fuhren? 0.2 Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? In einem ersten Schritt (2.1) wird das Orthographiebuch von 1944 aus dem Reichserziehungsministerium unter Bernhard Rust in seinem Umfeld vorgestellt. Nicht nur mit Auskünften über die lexikographische Werkstatt tritt Otto Basler, neben Karl Reumuth aus dem Ministerium Bearbeiter des Buches, in Erscheinung. Der Hintergrund wird u.a. anhand von Erlassen ausgeleuchtet, die die amtliche Zulassung für die Schulen und die erste sehr beschränkte Auslieferung an diese dokumentieren und in denen auch kriegsbedingte Versorgungsprobleme zur Sprache kommen: Auch hier eine spezifische Texttradition. Zeitzeugen bestätigen den damaligen amtlichen Status: Rust (1944) wird in dem Orthographiebuch Trausei (1944) als amtliche Quelle ausgewiesen; ein Aufsatz von Karl Reumuth in mehreren Zeitungen informiert Ende Juni 1944 die Öffentlichkeit in Deutschland; in Wessely (1944/ 15.10.) und in N.N. (Anfang 1945) wird im Ausland, genauer in der Schweiz, über diese Ereignisse berichtet. <?page no="32"?> 32 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Unterschiedlich wird in der Literatur bewertet, welchen Status amtlich (Sprachgesetz) oder nicht? - Rust (1944) nach Kriegsende hat. Die Auskunft (2.2), diese Regelung sei (a) die letzte amtliche Festlegung, (b) noch heute gültig und (c) vom ‘Duden’ 1954 inhaltlich übernommen, wird 1955 von der Dudenredaktion in einer Eingabe an die Kultusministerkonferenz (KMK) gegeben, womit Paul Grebe als Leiter der Redaktion in Erscheinung tritt. Die KMK schließt sich diesen Vorgaben an und fasst auf dieser Grundlage im November 1955 den viel diskutierten Beschluss, in Zweifelsfällen sei ‘der Duden’ verbindlich, womit ‘dem Duden’ der ebenso privilegierte wie lukrative Status der Quasi-Amtlichkeit verliehen ist. Auch Böhme (1995), Kopke (1995) und Heering (1997/ 26.1.) kommen, in je spezifischer Weise und aus unterschiedlichen Interessen, zu demselben Ergebnis, wobei Böhme und Kopke bei Punkt (c) zwar Einschränkungen machen, doch durch den KMK-Beschluss ihre Vorstellung insgesamt bestätigt sehen. Die gegenläufige Linie (2.3), Rust (1944) sei schon vor Kriegsende gescheitert und eingestampft worden, beginnt mit S.L. (1953). Dieser druckt auszugsweise einen der Reumuth-Artikel aus dem Juni 1944 ab, berichtet, offensichtlich als Insider aus der Retrospektive, über die öffentliche negativkritische Diskussion 1944 und über die Entscheidung des Ministers, dass er von der Durchführung des Vorhabens absieht, und bringt das eingestampß- Motiv ein. Gestiftet ist damit eine Texttradition, die über insgesamt sieben StatioNen bis 1995 verfolgt wird. Der Vergleich ergibt, dass Böhme und Kopke u.a. S.L. (1953) nicht berücksichtigen und dass sie aus der Gesamtmenge der Daten und Fakten in der von ihnen benutzten Literatur solche aussparen, die in ihr Konzept von der Weitergeltung der Rustschen Regelung nicht passen. Ob unbewusst oder Ergebnis-orientiert oder vielleicht auch beides, sei dahingestellt. Eine amtliche Bestätigung der offiziellen Zurücknahme ist das Bisherige nicht, deshalb eine weitere Linie (2.4). Die öffentliche negativ-kritische Diskussion Mitte 1944 wird vom Reichspropagandamininisterium argwöhnisch beobachtet und, S.L. (1953) in diesem Punkte bestätigend, in einem Geheimbericht vom 4.7.1944 festgehalten (nach Küppers 1984). Rust und seine amtlich verfügte Orthographie: nunmehr scharf im Visier des Goebbels- Ministeriums. Um dieselbe Zeit erkundigt sich das, wenn auch aus anderen Interessen, ebenfalls beunruhigte Bibliographische Institut (Leipzig) beim Deutschen <?page no="33"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in gmb(-senkrecht)en Zügen 33 Schulverlag (Berlin), wo Rust (1944) verlegt wird, nach dessen Status. Am 18.7.1944 gibt der Schulverlag, der es ja schließlich wissen muss, die Auskunft, die dort niedergelegte Rechtschreibung sei in keiner Weise als allgemein verbindlich anzusehen (nach Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.). Folgerichtig wird Rust (1944) in der Duden-Rechtschreibung ( 13 1947) in der Zusammenstellung der amtlichen Grundlagen nicht angeführt. 1948 wird in dem detaillierten Bericht aus Niedersachsen über die Ereignisse des Jahres 1944 vom dortigen Kultusminister, d.h. nunmehr von amtlich informierter Seite und die eingestampft- Linie bestätigend, festgestellt und endgültig bestätigt, Rust (1944) sei kurz nach Erscheinen von den zuständigen behördlichen Stellen offiziell zurückgezogen worden (nach Stanze 1994a). Werden die bisher zusammengetragenen Daten in Strunk (1998) und in Birken-Bertsch/ Markner (2000) auch präzisiert und ergänzt, so etwa um den Nachweis, dass die Zurücknahme auf Anordnung des Führers im August 1944 erfolgt, so bedurfte es jedoch dessen nicht, um durch Auswertung der bis 1995 erschienenen Literatur zu dem Ergebnis zu kommen: Die Punkte (a) letzte amtliche Festlegung und (b) bis in die jeweilige Gegenwart gültig treffen für Rust (1944) nicht zu. Punkt (c) vom ‘Duden’ 1954 inhaltlich übernommen ist noch offen, wenngleich er ins Zwielicht geraten ist. Entsprechend stellt sich die Frage, was Grebe über dieses Buch weiß und woher sein Wissen stammt, umso dringlicher. Bei der Klärung rücken die Dudenredaktionen auch in ihren geschichtlichen Bezügen sowie die 1950 einsetzenden Bemühungen um eine Reform der Rechtschreibung ins Zentrum. 0.3 Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion ab 1933 - Reformbemühungen ab 1950; Rust (1944) alias Basler (1948): Kenntnisse der Dudenredaktion? Nach Kopkes Vorstellung 1995 (3.1) ist Otto Basler von 1934 bis 1945 Leiter der Dudenredaktion in Leipzig und Paul Grebe sein Nachfolger, ob auch in Leipzig oder wo sonst, erfährt man nicht. Basler ist zudem Bearbeiter von Rust (1944). Dies erklärt, so Kopkes Schlussfolgerung, warum vermittelt auf der Dudenleiter-Linie - Grebe die Regelung in Rust (1944) kennt und von ihrer Verbindlichkeit ausgeht. Diese Verknüpfung führt in ihren Konsequenzen zu erheblichen Ungereimtheiten und Kuriosa, die allein schon zei- <?page no="34"?> 34 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform gen: So kann es nicht gewesen sein. Bestätigend ergibt sich: Von den von Kopke miteinander verknüpften Vorstellungen stimmt nur eine, nämlich die von der Mitarbeit Baslers an Rust (1944). Schlaglichter: Otto Basler ist Außenmitarbeiter des Bibliographischen Instituts in Leipzig, und zwar auf Honorarbasis (Arbeitsvertrag 13.6.1929 - Aufhebungsvertrag 7.5.1938). 1936 (nicht erst 1945, wie Sauer 1988 angibt) beginnt die Ära von Horst Klien (der von Kopke 1995 nicht erwähnt wird, obwohl dieser Sauer 1988 benutzt), und zwar als Leiter der Dudenredaktion bzw. dort in verantwortungsvoll-leitender Position. In seine Zeit fällt die Kuriosität, dass dieselbe Auflage einer Duden-Rechtschreibung, die 12., in zwei Schriften erscheint: 1941 in Fraktur wie alle vorherigen und 1942 (und nicht 1941, wie u.a. Birken-Bertsch/ Markner 2000 angeben) in Antiqua wie dann die folgenden: Auch dies ein Indikator für den Wandel der Zeiten. Klien bleibt in Leipzig über 1945 hinaus Leiter der Dudenredaktion bzw. dort in verantwortungsvoll-leitender Position zumindest bis 1965. Unter seiner ‘bewährten Oberleitung’ wird Wolfgang Ebert, vermutlich so zwischen 1952 und 1956, spätestens jedoch mit der Auflage der Duden- Rechtschreibung ( 15 1957) Leiter der Dudenredaktion. Nach drei aufeinander folgenden Neubesetzungen hat Dieter Baer dann von 1976 an diese Position inne. Paul Grebe kommt gegenüber Basler recht spät, erst 1947, und zudem anderenorts ins Dudenspiel, nämlich im Zusammenhang mit der Gründung und mit dem Aufbau der westdeutschen Dudenredaktion im Steiner Verlag in Wiesbaden (worüber bei Kopke wohl weil es nicht in sein Konzept passt? nichts zu finden ist). Grebe bleibt Leiter, ab 1959 in Mannheim (und nicht 1958, wie Sarkowski 1976 angibt) bis 1973. Sein Nachfolger ist Günther Drosdowski (1974 bis Mai 1995), dessen Nachfolger ist Matthias Wermke. Schon die oben angeführten Korrekturen zeigen, dass das mit historischen Daten so eine Sache ist. Doch wer weiß schon, welche neuen falschen Daten mit dieser meiner Untersuchung in die Welt gesetzt werden? Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) (3.2.1) sehen in den Bemühungen um eine Rechtschreibreform seit 1950 eine weitere personelle Kontinuität und eine Schiene der Vermittlung von Wissen über Rust (1944), die über die Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen (1955 bzw. 1959) letztlich bis 1996 reichen. Das zentrale Feld der langjährigen Diskussion und Auseinandersetzung zwischen Basler und Grebe ist hier die Fremdwort- <?page no="35"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen 35 Schreibung. Weder auf diesem Feld insgesamt noch im direkten Wechselspiel zwischen den beiden Protagonisten habe ich irgendeinen Flinweis auf Rust, Reumuth und das Orthographiebuch von 1944 gefunden; auch nicht im weiten Umfeld, das von Strunk (1992 und (Hg.) 1998) breit abgesteckt ist. Im Umfeld des KMK-Beschlusses von 1955 (Augst/ Strunk 1988) spielen das Orthographiebuch von 1944 und Grebe eine zentrale Rolle, doch Basler tritt als Akteur auf dieser Bühne nicht in Erscheinung. Die bisher verfolgten Spuren verlaufen im Sande. Wie es sich darstellt: Auf der institutionellen Duden-Schiene hat Grebe via Basler kein Wissen über Rust erworben; auf dem Reformfeld gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass es dort geschehen ist. Die Darstellung der drei Autoren wird nicht bestätigt und erscheint als unzutreffend. Es dürfte, wenigstens hoffe ich das, klar geworden sein, wie der Hase so läuft. Auch deswegen ändere ich hier das Verfahren und beschränke mich auf einige Ergebnisse, die sich auf dem langen Wege auch der Auswertung der Literatur und der Auseinandersetzung mit ihr teils durch Widerlegung von Ergebnissen, teils durch deren Korrektur, teils durch Weiterfuhrung bestimmter Überlegungen ergeben haben. Die erste Schlussfolgerung (3.2.2 und 3.2.3) beruht im Wesentlichen auf folgenden gesicherten Erkenntnissen: - Falscher Titel von Rust (1944) in der Dudeneingabe von 1955 - Nichtvorhandensein eines Exemplars von Rust (1944) in der Wiesbadener und späterhin Mannheimer Dudenredaktion (wie auch in der Leipziger Redaktion) ln der Darstellung der einschlägigen Literatur schwindende inhaltliche Übereinstimmung zwischen Rust (1944) und der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) Zum letzten Punkt dies: Böhme (1995) stellt einzelne Unterschiede bei der Interpunktion fest; nach Kopke (1995) hat ‘der Duden’ nur einige der Änderungen von 1944 übernommen; Birken-Bertsch/ Markner (2000) fixieren dann den Grad der Übereinstimmung auf den Einzelfall Kautsch, was, analog zu diesem, skurril anmutet und als absurd erscheint. Trotz aller Einschränkungen halten die vier Autoren jedoch daran fest, dass die Dudenredaktion respektive Grebe Rust (1944) kennt. Entsprechend ergibt sich das folgende, dispositiv mit einem Vorbehalt versehene Zwischenergebnis: <?page no="36"?> 36 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wahrscheinlich ist es so: - Grebe hat Rust (1944) bei der Erstellung der 14. Auflage der Duden- Rechtschreibung von 1954 nicht berücksichtigt. - Entsprechend ist seine Aussage von 1955, diese entspräche inhaltlich jenem, falsch. - Grebe hat (die inhaltliche Regelung in) Rust (1944) nicht gekannt. Verfolgt man (3.3.1) die von Böhme (1995) für die Ermittlung der Unterschiede bei der Interpunktion eingeschlagene Untersuchungsrichtung mit nur einiger Konsequenz bei weiteren Fallgruppen, so verengt sich der Anteil an inhaltlicher Übereinstimmung erheblich und schrumpft zusammen. Bezieht man die langzeitige Diskussion von Konstanz 1952 über Stuttgart 1954 bis hin zu Wiesbaden Oktober 1958 und Grebes Aktivitäten und Argumentationsweise mit ein, so ergibt sich, auf den zentralen Punkt gebracht, jetzt ohne jeglichen Vorbehalt und zudem noch verschärft: - Grebe hat (die inhaltliche Regelung in) Rust (1944) nicht gekannt. - Ja: Er kann sie gar nicht gekannt haben. Das könnte es dann eigentlich gewesen sein. Doch ist die Geschichte über Rust, Basler und Grebe damit immer noch nicht zu Ende, sondern wartet mit einer frappierenden Wende auf. Es scheint wohl nichts zu geben, was es in der Geschichte der Orthographie und den Bemühungen um ihre Reform nicht gibt. Die in Wiesbaden im Oktober 1958 verabschiedete Regelung der Fremdwortschreibung zeigt (3.3.2) deutlich Baslers Handschrift, jedoch auch erhebliche Änderungen durch Grebe; wobei die Regelung in der Duden- Rechtschreibung ( 14 1954) eine andere ist. Die genauere Prüfung zunächst dieses Bereichs und in Folge die weiterer Bereiche in Baslers „Deutsche Rechtschreibung“ (1948) ergibt, dass Basler Rusts Regelung nicht nur der Fremdwortschreibung, sondern insgesamt nahezu unverändert übernommen hat. Dies ist Anlass genug, Recherchen über die Entstehung seines Buches und über Zeitumstände anzustellen sowie ausweitend historische Spuren zurückzuverfolgen. Rust (1944) alias Basler (1948) entnazifizierte Identität: Offensichtlich von Basler verschwiegen und von niemandem entlarvt. Diese frappierende Kehre <?page no="37"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in groh(-senkrecht)en Zügen 37 (3.3.3) lässt vieles in einem neuen Licht erscheinen. Aus der Diskussion der Fremdwortschreibung geht hervor, dass Grebe die Regelung in Baslers Orthographiebuch genau(er) kennt und dass ihm auch dessen Wörterteil vertraut ist. Damit kennt Grebe nun doch auch Rust (1944), zumindest bestimmte inhaltliche Regeln und auch Schreibungen; aber nicht unter dem Namen Rust, sondern unter dem Namen Basler. Er kennt Rust, und er kennt ihn doch nicht. - Grebe kennt Rust (1944). Aber er weiß nicht, dass er ihn kennt. Er kennt ein nahezu getreues Abbild unter dem Pseudonym Basler. Es ist wie das Spiegelbild des Mondes in der Lagune, doch den Mond sieht Grebe nicht. Von dem Mond weiß Grebe nicht(s). Im Weiteren wird deutlich, dass auch oder gerade in diesem Zusammenhang mit Blick auf Kopke (1995) und auf Birken-Bertsch/ Markner (2000) Kurioses festzustellen ist bzw. eine monströse klandestine Operation grenzenüberschreitend den Raum zu beherrschen droht und dass auch sonst noch so allerlei in Erscheinung tritt. Da soll einer noch einmal sagen, die ja allenthalben als trocken und rundherum als langweilig verschrieene Orthographie habe keinen Unterhaltungswert. Selbst die ja oft beschworene Spaßgesellschaft hätte, würde sie sich denn mit der Orthographie beschäftigen und hätte man nicht neuerlich festgestellt: „Dass sie am Ende sei.“ 1 , sie hätte ihre helle Freude daran und würde sich, speziell in Bayern ein bzw. in Österreich eine, insgesamt ein(e) Gaudi daraus machen. 0.4 ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? Eigen- und Rollenverständnisse - Wie ist dies alles zu verstehen? Grebes Anspruch in der Eingabe von 1955 an die Kultusministerkonferenz (KMK): Übereinstimmung zwischen der Duden-Rechtschreibung (1954) und dem amtlichen Werk Rust (1944), hat sich in mehrerlei Hinsicht als unzutreffend, als falsch erwiesen. Doch Grebes Anspruch reicht noch weiter zurück und ist zudem allumfassend: ‘Der Duden’ stehe seit der Jahrhundertwende in allen Fragen der Rechtschreibung an keiner Stelle im Widerspruch i Bolz (2001/ 6.11.): Schock des Weltterrors. Wider die Pathosformeln der Neuen Ernsthaftigkeit. <?page no="38"?> 38 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform zu den amtlichen Verlautbarungen. Die kleinen Wörter spielen auch hier eine große Rolle. Und es stellt sich die Frage: Wie steht es denn nun um diesen globalen Anspruch? Gegenstand der einschlägigen Untersuchung (4.1.1) sind die von der Dudenredaktion über die Zeiten hin durchgeführten Änderungen der jeweiligen amtlichen Regelung von Einzelfällen wie radfahren, der Einzelfallgruppen um Aal und um Schiffahrt sowie bei den Teilbereichen Worttrennung {Abend - A-bend; Päd-agogik - Pä-dagogik) und Fremdwortschreibung. Bei anderen Teilbereichen wie Groß- und Kleinschreibung verweise ich zusammenfassend auf einschlägige Literatur (z.B. Jansen-Tang 1988). Ein Vergleich (4.1.2) des Aufbaus und Inhalts des Regelteils im Großen Duden mit den amtlichen Regeln ergibt in mehrerlei Hinsicht eine große Diskrepanz. Historische Schlaglichter zeigen exemplarisch auch hier: ‘Der Duden’ über die Zeit hin ‘der Duden’. Das Ergebnis (4.1.3): Die Änderungen entsprechen weder der jeweiligen amtlichen Regelung noch, zumindest in den meisten Fällen, dem mehrfach beschworenen Schreibgebrauch. Der Anspruch steht in krassem Widerspruch zum Befund (vgl. jetzt auch Böhme 2001, den ich in dieser Hinsicht nicht mehr auswerten konnte), was fast zwangsläufig zu der Frage führt: Wie steht es denn insgesamt um das Eigenverständnis ‘des Duden’? Das Eigenverständnis ‘des Duden’ definiert sich (4.2) seit Konrad Duden grundsätzlich durch Bezug auf die amtliche Regelung und im Verhältnis zu ihr. Im Gesamt(erscheinungs)bild der Eigendarstellung und Selbstinszenierung der Dudenredaktion durch ihre Leiter respektive ihrer Leiter, Paul Grebe (1947-1973) und dessen Nachfolger Günther Drosdowski (1974-Mai 1995), lassen sich zumindest drei Handlungsfelder abgrenzen. Diese sind ihrerseits, in deutlicher Abhängigkeit vom Wechsel in der Leiterposition und möglicherweise vom Wandel der Umstände, in je spezifischer Steigerung dreifach ausgefächert, was in den auf die Zeitlinie aufgefädelten Zitaten nachdrücklich zur Sprache kommt: Auch ein Bespiel für Texttradition. Insgesamt ergibt sich ein sehr facettenreiches Bild. Feld I: Auf diesem, dem Regelungsfeld (4.2.1), lassen sich drei verschiedenartige Bezüge ‘des Duden’ zur Amtlichkeit erkennen und drei Rollen mit je spezifischen Handlungen unterscheiden. Durchgängig ist die Berufung auf <?page no="39"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in grob(-senkrecht)en Zügen 39 Konrad Duden als Kronzeugen für die Qualität und als Garanten der Toleranz und der Tradition, was im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte jedoch immer fragwürdiger wird. Die drei Rollen und die damit verknüpften Handlungen sind: 1.1) Hüter der staatlich sanktionierten Einheitsschreibung: Die geltenden orthographischen Regeln sind im ‘Duden’ niedergelegt, an ihnen hat sich nichts geändert. 1.2) Verlängerter Arm des Staates: Vor dem Hintergrund der amtlichen Norm bzw. des geltenden Sprachgebrauchs geht es darum, Grenzfälle zu interpretieren, zu klären; bei neuen Wörtern und Wendungen die Regelung auszudifferenzieren und so Normen neu zu bestimmen. Hic passive Rezeption und Bewahrung - Illic aktive Interpretation im weit(est)en Sinne: Wie passt das zusammen? Das scheint förmlich nach einer überhöhend endgültigen Klarstellung der eigentlichen Rolle zu rufen, die Drosdowski dann seit 1980 trifft. 1.3) Oberste Sprachinstanz: Die Dudenredaktion greift regulierend in das Sprachgeschehen ein und setzt, wie schon immer, sprachliche Normen: In allen Fragen der Rechtschreibung und der Sprache generell maßgebend. Die Totalität und Absolutheit des Anspruchs der obersten Instanz verrät sich allein schon in kleinen Wörtern, so etwa in einzig ganz ~ schon immer generell gesamt ganz entscheidend. Ohne den Duden geht es nicht, und zwar nicht nur bezogen auf die Orthographie, sondern ausgreifend auf die Sprache insgesamt. Drosdowski kürt und inthronisiert ‘den Duden’, die Dudenredaktion respektive sich selbst zur ortho-sakralen Instanz bzw. in weiterer Überhöhung zur lingua-sakralen höchsten Instanz, zum „Dudenpapst“ (Duden-Wörterbuch 1976-1981, Bd. 5, 1980 unter dem Eintrag Papst). Feld II: Dieses betrifft (4.2.2) die Kooperation zwischen der Dudenredaktion und dem Institut für Deutsche Sprache (IDS), ausgewiesen durch die Zeile „Im Einvemehmem mit dem Institut für deutsche Sprache“ auf der Titelseite der Duden-Rechtschreibung ( 16 1967 über l7 1973 bis 18 1980). Für die Auflage von 1967 wird in Grebes Ära eine von der Dudenredaktion vorgelegte Aufstellung geplanter Änderungen der Kommission für Rechtschreibfragen des <?page no="40"?> 40 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform IDS vorgelegt und von dieser gebilligt. Doch dieses erste Mal ist auch das letzte Mal. 1983 erklärt Drosdowski unter Verwendung der polarisierten Formel ‘platonische Beteuerungen praktische Arbeit’: Wegen der Erfordernisse der praktischen Arbeit der Redaktion sei eine Konsultation der IDS-Kommission nicht möglich. Nach längeren Verhandlungen zwischen den Vorständen des IDS und des BI also auf höchster Ebene, was sowohl den Emst der Lage als auch die Wichtigkeit der Sache anzeigen mag wird 1984 das Einvernehmen aufgehoben: Insgesamt ein kurzes Intermezzo. Feld III: Dieses betrifft (4.2.3) das Bemühen um eine Rechtschreibreform. Grebe ist eine der treibenden Kräfte bei den Bemühungen um eine Rechtschreibreform im Sinne der Wiesbadener Empfehlungen (1959) und insbesondere ein glühender Verfechter der damals so genannten gemäßigten Kleinschreibung, der Substantivkleinschreibung. Dass auch hier zu jener Zeit ein Einvernehmen zwischen der Dudenredaktion und dem IDS besteht, zeigt die „Stellungnahme des Instituts für deutsche Sprache zur Rechtschreibreform“ (veröffentlicht am 18.4.1973). Drosdowski tritt hier 1974, und zwar in zweiter Hinsicht, in Grebes Fußstapfen und wandelt noch 1977 auch hier auf dessen, auf den Wiesbadener Spuren. Doch spätestens 1987 schwenkt er um und wechselt die Richtung. Zunächst speziell bei der Groß- und Kleinschreibung, wo er zwar einige Verbesserungen noch gutheißt, doch die Substantivkleinschreibung nunmehr ablehnt. Dann grundsätzlich, ausgedrückt in der rhetorischen Frage, ob es, statt die Rechtschreibung zu reformieren, nicht eigentlich dämm gehe, Reformeiferer zu kurieren. Drosdowski ist über diesen Zeitraum hin Mitglied der IDS-Kommission (bis zu ihrer Auflösung 1996), die in Zusammenarbeit mit anderen Arbeitsgruppen 1985 und 1989 u.a. ein Regelwerk zur Substantivkleinschreibung vorlegt und entschieden vertritt; wie dann auch der Internationale Arbeitskreis für Orthographie im Jahre 1992. Zu der Wirklichkeit (der Arbeit) ‘des Duden’ als des selbst ernannten Interpreten der amtlichen Regelung gehören extreme Wechselbäder entgegengesetzter, gegenläufiger Erfahrungen über die Zeiten hin (4.3). Einerseits, auf der negativen Seite (4.3.1), gibt es heftige Kritik unterschiedlichster Art. Der stereotyp über die Zeit hin wiederholte Anspruch, in Über- <?page no="41"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in grob{-senkrecht)en Zügen 41 einstimmung mit der amtlichen Regelung zu stehen, hat keine materielle Grundlage. Die Deutungen in der Literatur schwanken zwischen Versehen, Verwechslung; Irrtum aus Unwissen: <unbeabsichtigt> und Vortäuschen nicht vorhandenen Wissens, Irreführung: <bewusst>. Gegenüber dem gleichermaßen wiederholten Anspruch, Interpret, Veränderer und Neubestimmer der Normen zu sein, der der Wirklichkeit der Arbeit der Dudenredaktion entspricht, erscheint der Übereinstimmungsanspruch inhaltlich als leere Floskel, obwohl im Zuge der Werbung als werbewirksam immer wieder eingebracht. Scharfe Kritik einer anderen Art artikuliert sich in Kennzeichnungen wie Totschläger freier Sprachentwicklung, Popanz und Gott der eisernen Regeln, Rechtschreibdiktatur und Nazi-Duden sowie in einschlägigen Äußerungen aus der Schweiz und Österreich. Andererseits, auf der positiven Seite (4.3.2), steht der amtliche Segen durch den KMK-Beschluss von 1955 als ein offiziell ausgestelltes exquisites Gütesiegel für exklusive Qualität sowie aufbauend erhebendes Lob bis hin zu sakralen Weihen: Der unfehlbare Duden', Professor Günther Drosdowski: Der Rechtschreibpapst', ‘Der große Duden' - Das grandioseste Unternehmen. Der Interpretationsanspruch ist amtlich abgesegnet, abgesichert und zum Interpretationsmonopol erhoben und durch zusätzliche sakrale Weihen bestätigt. Das Verhalten ‘des Duden’ respektive seiner Leiter, Paul Grebe und Günther Drosdowski, stellt sich, auch vor dem Hintergrund dieser Dichotomie, sehr unterschiedlich dar mit dem Ergebnis: Leiter der Dudenredaktion =t= Leiter der Dudenredaktion (4.3.3). Mit Blick auf Grebe ergibt sich, aus meiner Sicht, ein in sich geschlossenes, ein rundes Bild. Grebe versteht es, seine unterschiedlichen Rollen - Leiter der Dudenredaktion, erster Direktor des IDS und engagierter Reformer miteinander zu vereinbaren und im ausbalancierten Gleichgewicht zu halten. Er ist dabei trotz allem offensichtlich im Einklang mit sich selbst, oder, wie der Volksmund sagt, mit sich selbst völlig im Reinen. Mit Blick auf Drosdowski ergibt sich, wie es (oder auch er) sich darstellt, ein heterogen zusammengesetztes, ein diskrepantes, dissonantes Bild. Drosdowski einerseits Dudenpapst, Rechtschreibpapst, der ex cathedra verkündet, was richtig oder falsch ist, und der die Kooperation mit dem IDS aufkündigt; andererseits als Reformer der Vollzieher, Vollstrecker einer Reform, die nicht die seine ist, und Opfer dubioser Machenschaften und Außenseiter. <?page no="42"?> 42 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die Frage ist, wie ‘der Duden’ respektive Drosdowski angesichts seiner Geschichte sich bei der Einführung der neuen amtlichen Regelung von 1996 verhält (4.4). Mit den Zeiten ändern sich schon seit längerem die Zeichen der Zeit; und stellen sich auf der amtlichen Ebene, auf der ja eigentlichen Entscheidungsebene, allmählich auf Sturm ein (4.4.1): - Ende 1995 hebt die KMK den Duden-Beschluss ihrer Vorgängerin vom November 1955 auf. Die Ära der Quasi-Amtlichkeit ‘des Duden’ ist amtlicherseits beendet. - Mitte 1996, als Faktum seit längerem absehbar, wird die Neuregelung der Rechtschreibung amtlich eingeführt. - Mitte 1996 wird die Einrichtung der Zwischenstaatlichen Kommission, die seit längerem im Gespräch ist und die Aufgabe hat, die Neuregelung zu betreuen, amtlich beschlossen. ‘Der Duden’ unter der Leitung Drosdowskis (4.4.2) nimmt diese Zeichen einer geänderten Zeit zwar wahr, aber er erfasst sie nicht als Zeichen (s)einer allmählich zu Ende gehenden Epoche. Drosdowski hält, wie er Mitte 1995 äußert, die neue Kommission für so überflüssig wie einen Kropf, bekundet, an der Arbeit der Dudenredaktion werde sich trotz allem nichts ändern, fährt auch 1996 in der 21. Auflage der Duden-Rechtschreibung mit der amtlichen Neuregelung auf dem eingefahrenen Gleis weiter und postuliert noch 1996 wie schon 1980: Die Dudenredaktion setzt sprachliche Normen. Hic Idealisierung der Exklusivität ‘des Duden’ und totale Fixierung auf ihn - Illic systematische Ausblendung des sich schon recht früh andeutenden Wandels der Dinge und dann der grundlegend neuen Situation. Das Kultusministerium Hessen (1996/ 7.10., Anmerkungen S. 1) sieht es so: „Wenn der Duden [in der 21. Auflage von 1996; WM] dennoch weiterhin von >Richtlinien< spricht, so soll dem Benutzer wohl ein weiterhin quasi amtlicher Charakter suggeriert werden.“ „Das verwirrende System des Dudens ist wohl nur dadurch zu erklären, daß der Redaktion der Abschied aus einer Ära schwer fällt, in der sie ein Interpretationsmonopol hatte.“ <?page no="43"?> Zu diesem Band: Inhaltliches in grob{-senkrechf)en Zügen 43 Opfer der eigenen langzeitigen Werbung über die Zeiten hin, bis über das eingetretene Ende der Zeit hinaus? Autosuggestion? Unbedingtes, starres, erstarrtes Festhalten, Sich-Klammem an der orthographischen und wirtschaftlichen Monopol- und Machtstellung? Psychisches Trägheitsgesetz? Zwangsläufigkeit? Zwanghaftigkeit? Deutungen nach des Volksmunds Art (4.4.3): mit dem Kopf durch die Wand wollen von allen guten Geistern verlassen sein alle seine Felle davonschwimmen sehen nicht aus seiner Haut (heraus)können Wer will oder kann das alles so genau schon wissen? ! . 0.5 ‘Der Duden’: 2000 Neuanfang - 2006 Erster Rückfall? Doch auch und selbst beim ‘Duden’ ändern sich die Zeiten. Mit der 22. Auflage der Duden-Rechtschreibung ändern sich 2000 nicht nur Melodie, Ton und Lautstärke der Begleitmusik, sondern auch zentrale Punkte bei der Umsetzung und Darreichung der neuen amtlichen Regelung, was sicherlich auf den neuen Leiter der Dudenredaktion, Matthias Wermke, und, so sehe ich das, noch mehr auf den Hauptbearbeiter der Duden-Rechtschreibung, Werner Scholze-Stubenrecht, und seine Projektgruppe zurückzuführen ist und insgesamt bei mir die Vorstellung einer bisher völlig ungewohnten, einer neuen Behutsamkeit assoziiert. Zudem werden mit dieser Auflage zwei weit zurückreichende Traditionslinien beendet, was, von der Orthographie her gesehen, um die es ja geht, nur zu begrüßen ist. Neu ist die Aufnahme der Wörter und Unwörter des Jahres. Haben diese mit der Orthographie als solcher auch nichts zu tun und kann man an dem Sinn dieser Wortspielereien trotz aller Medienträchtigkeit auch zweifeln, so sollte sich das vielleicht doch verschmerzen lassen. Insgesamt endet wenigstens diese eine Geschichte mit einem kleinen Happy End. <?page no="44"?> 44 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Und doch: In der 24. Auflage der Duden-Rechtschreibung ist die Zahl der von der Dudenredaktion empfohlenen Varianten insbesondere bei der Getrennt- und Zusammenschreibung gegenüber der neuen amtlichen Regelung erheblich erweitert, was amtlicherseits heftig kritisiert wird. Erstes Zeichen eines Rückfalls in alte Zeiten? Man wird sehen. <?page no="45"?> 1. 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie während des Nationalsozialismus - Duden- Rechtschreibbücher; Erste Sichtung von Literatur über Rust (1944): Wertungen In 1.1 werden für die Zeit von 1933 bis 1942(-1944) Bestrebungen, die Regelung der deutschen Rechtschreibung zu ändern, und Maßnahmen zur Abschaffung der Fraktur skizziert. Ausführlich einbezogen werden die Duden- Rechtschreibbücher dieser Zeit. In 1.2 folgt ein erster sichtender Zugang zur Literatur, insbesondere mit Blick auf das Orthographiebuch Rust (1944) und unter kritischer Berücksichtigung der im doppelten Sinne des Wortes eigentümlichen Sichtweise, durch die sich Birken-Bertsch/ Markner (2000) gegenüber dieser Literatur auszeichnen und sich besonders hervortun. In 1.3 wird deren (Be-)Wertung des Befundes vor- und dieser (m)eine andere gegenübergestellt. 1.1 1933 bis 1942(-1944) Steche und Rust: Bemühungen um eine Rechtschreibreform - Verbot der Fraktur; Duden-Rechtschreibbücher: Darreichungsformen der Orthographie - Ideologisierung In 1.1 wird, relativ kurz und in Auswahl was vom Thema dieser Untersuchung her begründet ist berichtet über das generell ideologisch überhöhte Bemühen um eine Änderung, Verbesserung, um eine Reform der überkommenen deutschen Rechtschreibung und über Maßnahmen zur Ablösung der Fraktur durch die „Normalschrift“ sowie, im Verein damit, über die zumeist offensichtlich von (außen)politischen Gesichtspunkten bestimmten jeweiligen (höchstinstanzlichen) Entscheidungen während der Herrschaft der Nationalsozialisten von 1933 bis 1945. In 1.1.1 gehe ich auf Theodor Steches Reformvorstoß im Jahre 1933 ein. In 1.1.3 geht es um die drei orthographischen Initiativen in den Jahren 1936, 1941 und 1944 von Bernhard Rust preußischer Kultusminister und zudem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Auf die dritte Initiative von Rust 1944 wird dabei nur kurz hingewiesen. Behandelt wird sie in den Kapiteln 2 und 3, und zwar im Rahmen recht unterschiedlicher Zusammenhänge und Handlungs- <?page no="46"?> 46 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform felder. 2 Durchgängig und ausführlich einbezogen werden die in mehrfacher Hinsicht recht unterschiedlichen Duden-Rechtschreibbücher; und zwar mit Blick auf die Darreichungsform der Orthographie (vgl. 1.1.1) und damit auch auf bestimmte Aspekte, die in den dann folgenden Kapiteln eine Rolle spielen werden, sowie mit Blick auf die Ideologisierung (vgl. 1.1.2). 1.1.1 1933 Theodor Steche; Duden-Rechtschreibbücher: Darreichungsformen der Orthographie - Erste Beobachtungen zur Ideologisierung Gegenstand der Darstellung sind zunächst Theodor Steches Vorstellungen von einer Reform der Orthographie und seine Vorschläge zur Verbesserung der geltenden Rechtschreibung (vgl. 1.1.1.1). In einer ersten Bestandsaufnahme geht es dann um drei Duden-Rechtschreibbücher aus dem Bibliographischen Institut Leipzig, die 1933 und 1934 erscheinen (vgl. 1.1.1.2), sowie auch im Vergleich mit zwei weiteren Dudenbänden von 1915 und 1939 um unterschiedliche Darreichungsformen der Orthographie insbesondere auf der Linie der kleinen Dudenausgaben (vgl. 1.1.1.3). Dass insgesamt in 1.1.1 auch Ideologisches zur Sprache kommt, ergibt sich zwangsläufig aus der Natur des Untersuchungsgegenstandes. Dies kann als Vorbereitung oder auch als Begründung des Abschnitts 1.1.2 verstanden werden, wo die Ideologisierung das zentrale Thema ist und worauf, im Vorgriff, schon hier hingewiesen sei. 2 Vgl. u.a. Jellonnek (1979a) (zu Dück 1933, Rahn 1941b, Faber-Kaltenbach 1944 und Rust 1944); Küppers (1984, S. 109-113) (insbesondere zu Rust 1944 und zur öffentlichen Diskussion); Jansen-Tang (1988, S. 79-84) (u.a. zu Steche 1933, Dück 1933, Rahn 1941b, Rust 1944 und Faber-Kaltenbach 1944); Kopke (1995, S. 35ff.) (insbesondere zu Rust 1944). Simon (1998, Zitat S. 86) („zu dem neben dem aus dem zweiten Weltkrieg bedeutendsten Anlauf zu einer Rechtschreibreform“ Rust 1944 unter dem „Spiritus rector: Theodor Steche“ 1933); Strunk (1998) („1.“ zu Bernhard „Rusts Initiative von 1936“ (S. 90), „2.“ zu seinem „neuen Vorstoß“ im Zusammenhang mit dem „Frakturverbot“ 1941 (S. 91) und „3.“ zu „1944: Neuauflage der amtlichen Regeln“ (S. 93)). Jetzt auch: Birken-Bertsch/ Markner (2000) (zu Steche 1933, Rust 1936, 1941, 1944 einschließlich Rahn 1941b, insgesamt eingebettet in einen im Ansatz übernommenen und ihnen eigentümlichen Interpretationsrahmen). <?page no="47"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 47 1.1.1.1 1933 Theodor Steche: Reformvorstellungen - Verbesserungsvorschläge Im Einvernehmen sowohl mit Rudolf Buttmann, Vorsitzendem des Deutschen Sprachvereins seit dem 1.9.1933 (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 27) und Ministerialdirektor in dem für sprachliche Fragen zuständigen Reichsministerium des Innern (Simon 1998, S. 90), als auch mit Hans Schemm, Gründer und Leiter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) und bayerischem Kulturminister (ebd., S. 87), schreibt 1933 Theodor Steche, u.a. Mitglied der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur (ebd., S. 86), seine Vorstellungen über die Rechtschreibung, über ihren gegenwärtigen Stand und über Möglichkeiten der Schreibungsverbesserung durch Vereinfachung nieder. Steches Ausgangspunkt ist: „Unsere jetzige deutsche Rechtschreibung ist sozial schädlich [... und] national schädlich“. Beide Gesichtspunkte werden von ihm des Langen und Breiten erläutert. Sozial schädlich bezieht sich auf die „handarbeitenden Volksgenossen mit einfacher Bildung“, die „im Schriftverkehr mit Behörden oder Geistesarbeitern aus Furcht, sich lächerlich zu machen, unsicher und befangen“ sind. 3 National schädlich zielt ab auf die „Angehörigen der deutschen Minderheiten im Ausland“ und auf die „Ausländer“, da beide Gruppen durch die Schwierigkeiten der Rechtschreibung davon abgehalten werden, deutsch zu lernen (Simon 1998, S. 87) insgesamt eine doppelte Perspektive, Inland und Ausland, die noch häufiger und anderenorts festzustellen sein wird. 3 Einerseits handarbeitende Volksgenossen andererseits Geistesarbeiter. Eine nicht selten aufgerufene Opposition. So 1934, wo es um die „Überwindung des Gegensatzes zwischen Hand- und Kopfarbeitern“ (Steche 1934b; nach Kämper-Jensen 1993, S. 163) geht; so 1934, wo dieses Ziel zunächst pauschal („Arbeitsfront (Organisator. Zusammenschluß aller schaffenden Deutschen)“ (Kleiner Duden 1934, S. XXVI)), und 1939, wo es dann spezifiziert erreicht zu sein scheint: „Deutsche Arbeitsfront (Organisation der schaffenden Deutschen der Stirn und Faust, DAF.)“ (Kleiner Duden 2 1939). Ein weiteres Beispiel: „Der Führer und Reichskanzler hat zum zweiten WHW [= Winterhilfswerk; WM], nämlich für den Winter 1934/ 35 aufgerufen und erwartet, daß sich alle Hand- und Kopfarbeiter daran beteiligen.“ (Bekanntmachung Oktober 1934 in Sachsen; SPD 1935/ 2.2.; Jg. 2, S. 192). Eine analoge Unterscheidung im Bereich des Militärischen: Heerführer bzw. Kriegsdenker {L'm&en 1940; nach Kämper-Jensen 1993, S. 158; Kursive insgesamt WM). <?page no="48"?> 48 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Mit seinen Hinweisen auf den „Rechtschreibplan von 10 Punkten“ der Buchdrucker in Erfurt 1931, 4 auf den „schweizerischen, seit 1924 bestehenden und sehr rührigen >Bund [...] für vereinfachte Rechtschreibung<“ sowie auf eine Reforminitiative der schweizerischen Regierung im Jahre 1932 5 bringt Steche die jüngere Tradition der Bemühungen um eine Rechtschreibreform (Simon 1998, S. 88) ins Blickfeld und zeigt damit, dass er sich selbst grundsätzlich in dieser Tradition stehen sieht. „Er war zumindest in der Endphase der Weimarer Republik durchaus an entsprechenden Initiativen beteiligt. Wenn man so will: er setzt seine Aktivitäten, lediglich nationalsozialistisch verpackt, später fort. [...] Seine Änderungsvorschläge ändern sich dabei nicht wesentlich.“ (Simon 1998, S. 87; Kursive WM). Das heißt aus Simons Sicht, die in diesem Falle auch die meine ist: Die Regelung der Orthographie als solche bleibt bei Steche im Wesentlichen unverändert. Neu und anders ist 1933 die Verpackung, der der Regelung übergestülpte oder aufgesetzte ideologische Überbau (vgl. Abb. 1). Weimarer Republik 1933 nationalsozialistisch (verpackt) Regelung der Rechtschreibung als solche im Wesentlichen unverändert Abb. 1: Theodor Steche: Nahezu gleichbleibende Änderungsvorschläge mit verändertem ideologischem Überbau Verallgemeinert bedeutet dies: Die Regelung der Orthographie als solche ist ideologisch-semantisch grundsätzlich neutral. Variabel über die Zeiten hin und in der Realität vielfach variiert ist der ideologische Überbau, der sich in bestimmten, dafür anfälligen (Textsorten als) Bestandteilen von Orthographiebüchem niederschlägt. Daraus folgt schon hier: Rein aus der inhaltlichen Übereinstimmung bis hin zur Identität zweier Regelungen als solchen lässt sich eine Gleichheit des ideologisch-politischen Überbaus, welcher Art dieser auch immer sein mag, nicht ableiten. 4 Erfurter Rechtschreibprogramm (1932). Dies Programm wird in der Literatur teils mit dem Jahr 1931 (in diesem Jahr wird es im August beschlossen), teils mit 1932 (dem Erscheinungsjahr) verbunden. 5 1932 „Auf anregung des >bundes für vereinfachte rechtschreibung< unternimmt der schweizerische bundesrat den versuch, mit der deutschen und österreichischen regierung über reformfragen ins gespräch zu kommen. Die vorsichtige initiative zeitigt keine ergebnisse.“ (Kaulen 1974, S. 33; vgl. auch Jansen-Tang 1988, S. 76-79). <?page no="49"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen im eine Reform der Orthographie 49 Steches orthographische w; v,v,v-Parole lautet: „Nicht >lauttreue Schreibung<, sondern ausnahmslose Schreibung< muß der Kampfruf heißen! “ Sein ideologisch-politisches Endziel ist so etwas wie unsterblicher, wie ewiger Walhalla-Ruhm für den „Nationalsozialismus und sein[en] Führer Adolf Hitler“. „Wenn einmal in späterer Zeit ein Deutschkundler oder Sprachwissenschaftler darauf hinweisen wird, wie segensreich die Rechtschreibverbesserung sprachlich und sozial gewesen ist, und wenn [...] gezeigt werden kann, wieviel leichter und einfacher nun das Lernen ist, dann soll man sagen: Diese Ruhmestat zum Besten der deutschen Sprache, des deutschen Unterrichts und des ganzen deutschen Volkes ist durchgefiihrt worden in der Zeit, als der Nationalsozialismus und sein Führer AdolfFlitler das Deutsche Reich regiert hat.“ (Steche 1933; nach Simon 1998, S. 89; Kursive der schon hier gebündelt auftretenden Leitbegriffe WM). Als erste von insgesamt zehn Rollen, die ‘der Führer’ einnimmt bzw. in denen er ins Spiel gebracht wird und die unten (vgl. 1.1.2.4) zusammengestellt sind, ergibt sich: • Der Führer I: Leit- und Orientierungspunkt für die Ausrichtung des Handelns, hier auf dem Felde der Orthographie. Die obige Zielsetzung wird sich auf einer völlig anderen Ebene, nämlich im Zusammenhang mit dem Ausbau der Autobahnen, der „Straßen Adolf Hitlers“ (vgl. unten 1.3.3.3 (3)), wiederholen. Verallgemeinert bedeutet dies: Wohl alle Gegebenheiten, welcher Art sie auch immer sein mögen, lassen eine Ideologisierung zu, welchen Inhaltes sie auch immer sein mag. Irgendjemand muss sie halt nur proklamieren, d.h., eine Gegebenheit ideologisch markieren, zudem über die Mittel, die Fähigkeit verfugen, für diese deutende Überhöhung Anhänger zu gewinnen, und/ oder auch die Macht besitzen, sie anderen mit welchen Mitteln auch immer aufzuzwingen. Ein bestätigendes Beispiel aus dem grauen Alltag. Victor Klemperer 6 berichtet am 14.7.1934 über die damals von ihm als „drollige Schwierigkeit“ empfundene Festsetzung, der wie bei ihm nachzulesen ist zahllose andere 6 „1919 a.o. Professor an der Universität München. 1920 erhielt er ein Lehramt für Romanistik an der Technischen Hochschule in Dresden, aus dem er 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde. [...] Ab 1940 Zwangseinweisung in verschiedene Dresdener >Judenhäuser<. Nach seiner Flucht aus Dresden im Februar 1945 kehrte Klemperer im Juni aus Bayern nach Dresden zurück. Im November wurde er zum o. Professor an der Technischen Hochschule Dresden ernannt.“ (aus der Kurzbiographie u.a. in Klemperer 1933-1934, S. 2). <?page no="50"?> 50 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform folgen sollten, die jedoch alles andere als drollig sind: „Die Bauvorschriften des Dritten Reiches verlangen >deutsche< Häuser, und flache Dächer sind >undeutsch<.“ (Klemperer 1933-1934, S. 120; 14.7.1934): Wertungs-Dichotomie als Folge der hier negativen Markierung einer Größe in einem bestimmten Felde und deren Aussonderung durch Verbot. Gleichzeitig mit der Stigmatisierung der flachen Dächer sind implizit spitze Dächer positiv als deutsch markiert und nunmehr allein genehmigungsfähig: Ideologische Ausrichtung und Gleichschaltung auch im Bereich des Banalen. Zurück zur Orthographie: Am 15. Juli 1933 findet ein Treffen von Vertretern u.a. des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (Friedrich Sammer), des Börsenvereins und des Kampfbundes für deutsche Kultur (Theodor Steche) in Leipzig statt. Auf Anregung des Reichsinnenministeriums ausgehend von allgemeineren Fragen zur Rechtschreibung (Simon 1998, S. 89) wird im Einzelnen 1. das Nebeneinander-bestehen-Bleiben von Fraktur und Antiqua empfohlen, mit Bevorzugung der Fraktur und gleichzeitiger Ablehnung der Abschaffung der Lateinschrift „des Auslandes wegen“ - Auslandsperspektive (! ); also 1933 die ausdrückliche Erhaltung dieser Schriften-Dichotomie, die acht Jahre später durch Abschaffung einer der beteiligten Größen aufgehoben wird (vgl. unten 1.1.3.2 (1)); eine Kurzfassung der Reformvorschläge Steches besprochen, die, im Vergleich mit Vorschlägen, die weiter unten vorgestellt werden, in vielen Punkten recht allgemein gehalten und damit unbestimmt gelassen sind: 2. die Zeichensetzung „im wesentlichen“ so belassen; 3. die „lautgetreue Rechtschreibung in der radikalen Form“ des Leipziger Lehrervereins 7 „abgelehnt“; 4. und ihr gegenüber das „Bestehenbleiben der stammtreuen Schreibung [...] als unbedingt nötig angesehen“; 5. verabredet, die „Unterscheidungsschreibung [...] ungefähr bei 50 Wörtern“ zu belassen, wobei unklar bleibt, welche Wörter im Einzelnen davon betroffen sind; 6. in Zusammenhang damit die Regelung einzelner Fallgruppen abgesprochen: u.a. weitgehende Abschaffung des Dehnungs-/ ? , Beibehaltung des ie\ Eindeutschung der Lehnwörter, keine Änderung der Schreibung der Fremdwörter; v in ver-, vor, von, aber Pater, i Leipziger Lehrerverein (1931). Dazu und zu ähnlichen Lehrerinitiativen 1929-1930 vgl. Jansen-Tang (1988), S. 74ff. <?page no="51"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 51 [7.] die kontroverse Diskussion über die Groß- und Kleinschreibung mit Steches Feststellung abgeschlossen: „nur bei Grenzfällen [sei] Kleinschreibung anzusetzen, im übrigen solle es aber bei der Großschreibung bleiben“; [8.] ein Plan für das weitere organisatorische Vorgehen auch in seiner zeitlichen Abfolge entwickelt, wobei eine Konferenz in München in Aussicht genommen, eine neue Auflage der Duden-Rechtschreibung mit in die Überlegungen einbezogen und eine Koppelung mit dem Termin der neuen Schulbuchreform Ostern 1935 ins Auge gefasst wird. (Simon 1998, S. 90f.). Eine ähnliche Koppelung, gewissermaßen zwei Fliegen auf einen Streich bzw. mit einer Klappe, findet sich bei der zweiten Rust-Initiative von 1941 und später dann bei Menzerath (1948), hier „leider“ unter ganz anderen Umständen (vgl. unten 1.1.3.2 bzw. 1.2.2, 1948 bis 1954). Dieses Motiv gibt es jedoch schon früher. Zunächst 1920: Der damalige Reichsminister des Innern hält den Zeitpunkt für eine Rechtschreibreform „für geeignet, da eine Neubearbeitung der Schulbücher durch die Umgestaltung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse immer dringender werde“ (Voigtländer 1921, S. 100; nach Jansen-Tang 1988, S. 71). Und noch weiter zurück, nämlich 1876: In der ersten Sitzung der später so gezählten 1. Orthographischen Konferenz, am „Dienstag den 4. Januar 1876.“, macht „[insbesondere [... der Geh. Regierungsrath; WM] Hr. Stauder darauf aufmerksam, daß im gegenwärtigen Augenblick eine große Anzahl neuer Schulbücher ihrer Einführung entgegensähen, und auf diesem Wege so wie durch anderweitige bindende Weisungen des Unterrichts-Ministeriums hinsichtlich des orthographischen Unterrichtes eine sichere Basis für die Gegenwart gewonnen und eine mit dem Neuen vertraute Generation erzogen werde.“ (Verhandlungen 1876, S. 82). Wie späterhin häufig bei Reformansätzen klingt dies im Juli 1933 zu Beginn sehr hoffnungsvoll und äußerst optimistisch, doch, wie dann späterhin oft sich wiederholend, folgt recht schnell das dicke Ende auf dem Fuße. Zur Groß- und Kleinschreibung zwei Schlaglichter: „Der Anregung von Herrn Summer, deutsch in jedem Falle groß zu schreiben, wird von Herrn Dr. Steche entgegengehalten, daß dies dem Ausland ge- <?page no="52"?> 52 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform genüber zu gefährlich sei und dort einen merkwürdigen Eindruck machen müsse.“ Man solle „zu diesem Punkt erst das Auslanddeutschtum [...] befragen. Entscheidend habe hier Herr Dr. Thierfelder mitzusprechen“; womit auch hier, bei diesem zwar recht speziellen, dabei aber Lexem-bedingt heiklen Einzelfall, die Auslandsperspektive ins Blickfeld rückt. „Die Groß- und Kleinschreibung der Dingwörter werde voraussichtlich der Führer selbst oder Minister Schemm entscheiden.“ (so Steche; nach Simon 1998, S. 90). • Der Führer II: Höchste Instanz für die Entscheidung in einer seit eh und je umstrittenen Frage, hier die der Regelung der Groß- und Kleinschreibung. Bezogen auch auf das letzte Zitat heißt es bei Simon (1998, S. 91): „Bemerkenswert scheint mir auch hier wie zuvor und noch heute die Leichtfertigkeit, mit der hier ein Sprachforscher seine Funktion, nach wissenschaftlichen Kriterien zu beraten, bereitwillig aufgibt und an die jeweils Mächtigen delegiert.“ Zu den von ihm gezogenen Parallelen einzelner Fälle zu verschiedenen Zeiten vgl. Abb. 2. Wilhelm II. der Führer bzw. Schemm „Steuber“ (richtig ist: Stoiber) Thron Groß- und Kleinschreibung heiliger => Heiliger Vater Wissenschaftler seinerzeit Steche 1933 Wissenschaftler 1995-1996 Abb. 2: Simons Parallelen: Aufgabe der Funktion der wissenschaftlichen Beratung Erscheint mir die syntagmatische Verknüpfung: seine Funktion, [...] zu beraten, [...] delegieren, auch nicht als angemessen, 8 sondern aufgeben allein als delegieren wäre hier nur dann angemessen, wenn die Sprachforscher gegenüber den ‘jeweils (politisch) Mächtigen’ eine noch höhere Position innehätten; was z.B. hieße, dass es neben oder über dem Führer so etwas wie einen wissenschaftlichen, für die Orthographie allein zuständigen (Ober-)Führer gäbe (vgl. „delegieren [...] 2. etw. (an jmdn.) d. als Weisungsberechtigter Aufgaben, Zuständigkeiten einem anderen (Gremium) übertragen [...]“; Handwörterbuch 1984). Doch die Rollenverteilung in dem Reformspiel ist natürlich anders und vielleicht eher so: ‘Das Problem einer Reform der Orthographie liegt darin: Die beteiligten Wissenschaftler haben zwar die Sachkompetenz, aber keine Ent- <?page no="53"?> 1933 bis 1942^-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 53 ausreichend, so ist doch das von Simon angeschnittene Thema: Grad der Konsequenz beim Verfolg von Reformplänen auf Seiten der Wissenschaft(ler), eine eigene Geschichte (wert), die hier zwar nicht erzählt werden kann, aber weiter unten (vgl. 4.1.1.2 (3)) noch einmal kurz zur Sprache kommt. Bezogen auf die Neue Regelung (1996) heißt es bei Simon pauschal: „Die Vorschläge von 1933 sehen den gegenwärtigen fast noch ähnlicher als die von 1941.“ (Simon 1998, S. 86). In dieser von ihm festgestellten oder vorgegebenen, komparativisch recht verschlüsselten Relation werden der Regelung von 1996 mit einem Schlage gleich zwei Vergleichs-, genauer: Ähnlichkeitsgrößen gegenüberbzw. zur Seite gestellt, die nicht die einzigen bleiben werden (vgl. unten 1.3.3.3 (2)). Formelhaft verkürzt ergibt sich: Steche (1933) <fast noch ähnlicher als> Rust 1941 = Neue Regelung (1996) Die Neue Leipziger Zeitung berichtet, bezogen auf das oben vorgestellte Treffen vom 15. Juli 1933 auffällig und vor dem Hintergrund der mir bekannten Literatur und der dort vermittelten Dokumente unerklärlich spät, am 8. November 1933 unter der Überschrift „Kommt die Kleinschreibung? Das Programm der orthographischen Konferenz“ recht detailliert über Steches Vorhaben (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 24f.). Doch zeigt die amtliche Mitteilung an diesen schon im Oktober 1933, „die Sache müsse wegen außenpolitischer Gründe verschoben werden“ (Simon 1998, S. 91), dass der Zeitungsbericht bereits an seinem Erscheinungstag nicht mehr dem aktuellen Hintergrundstand der Sache entspricht. Auf die dem Reichsministerium des Innern offensichtlich unerwünschte, missliebige Veröffentlichung in der Presse reagiert dieses am 11. November 1933 ebenso prompt wie entschieden. In einem offiziellen Dementi stellt das Ministerium klar, dass „eine Neugestaltung der deutschen Rechtschreibung [...] zur Zeit nicht beabsichtigt“ sei. Nach Birken-Bertsch/ Markner sind für Steches Scheitern außenpolitische Gründe ausschlaggebend, nämlich „die äußerst gespannten Beziehungen zur Scheidungskompetenz. Die beteiligten politischen Amtsträger hingegen haben zwar die Entscheidungskompetenz, aber keine Sachkompetenz.’ (Österreichischer Ministerialbeamterum 1980). <?page no="54"?> 54 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Republik Österreich [...], die Hitlers Regierung vorläufig daran hinderten, das Projekt einer Rechtschreibreform weiterzuverfolgen“ (Birken- Bertsch/ Markner 2000, S. 28). Nach Simon „liegen [die Gründe dafür] im Dunkeln“, doch „dürften [... die außenpolitischen; WM] kaum die eigentlichen Gründe gewesen sein“, wozu allerdings die von ihm selbst eingebrachte Mitteilung im Oktober 1933 an Steche (vgl. oben) nicht so recht zu passen scheint. Jedenfalls sucht Simon auf der innenpolitischen Ebene, mit drei gestaffelt disponierten Erklärungen und entsprechend spekulativ, Licht ins Dunkel zu bringen (zu disponiert vgl. am Schluss dieses Abschnitts): „durchaus möglich“-, „der geplante Übergang der Kompetenzen in Rechtschreibfragen vom RMT aufs REM“ (Reichsministerium des Innern, Reichserziehungsministerium); doch ein solcher Übergang hat, wie sich im Folgenden zeigen wird, dann doch wohl nicht stattgefunden; „denkbar“-, im Zusammenhang mit dem Bemühen um die Errichtung des Sprachpflegeamtes, das im April 1935 eingerichtet wird, Übertragung der Rechtschreibfrage an dieses Amt; doch hat sich dieses „[fjaktisch [...] nie mit dieser Frage befasst“; „Wahrscheinlicher ist, dass schon damals Flitler oder zumindest der Ex-Germanist Goebbels Desinteresse oder gar Widerstand signalisiert hat.“ (Simon 1998, S. 91f; Kursive WM). • Der Führer IIE Als höchste Instanz mutmaßlicher negativ eingreifender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. Insgesamt zeigt sich: Vom Standort späterer Generationen aus liegt zumindest manches im tiefen Dunkel der Vergangenheit und ist aus der Retrospektive vielfach deutbar - und auch entsprechend ihren Vor-Festsetzungen, in ihrem Sinne, leicht umzudeuten und Ergebnis-orientiert umzupolen; welch Letzteres weiter unten an einem eindrucksvollen Beispiel aufgezeigt wird (vgl. 1.2 und 1.3). Zu dispositiv usw.: In Anlehnung insbesondere an Polenz (1973; 1982a und b) unterscheide ich bei Sprachlichem als Zeichen für etwas anderes vier Funktionen: (a) kognitiv: Jemand teilt jemandem mit, was er wahmimmt, empfindet, meint usw.; Proposition: Referenz Prädikation {Arzt Arzneimittel jemandem verschreiben). Zudem bringt er zur Sprache (b) dispositiv: die Einstellung zum Ausgesagten, seine Sichtweise {Leider vs. glücklicherweise hat er ... verschrieben.)-, (c) illokutiv: die Art der sprachlichen Handlung {Warum hat er ... verschrieben? )-, (d) Signalfunktion: die wertende Ein- <?page no="55"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 55 Schätzung seiner selbst bzw. anderer Personen oder Dinge (Der Kurpfuscher hat mir armer Sau diese Chemiebombe verpasst.). Zu Orthographiebuch usw.: Oberste Kategorie: Orthographiedarstellung', unterteilt in praktische, denen die folgenden zugeordnet werden, und theoretische wie Nerius (Hg.) ( 2 1989) sowie Piirainen (1980) und Mentrup (2003), die hiermit ausgegrenzt sind; Oberkategorie: Rechtschreibbuch oder Orthographiebuch (ausgegrenzt: Orthographiedarstellungen als Bestandteil z.B. einer Grammatik wie in Heyse 3 1822); obligatorische Bestandteile: Regelteil und Wörterteil', ohne separate Zusammenstellung von Wörtern, ohne ‘Wörterverzeichnis’: orthographisches Regelbuch oder Orthographieregelbuch (wie Saß 1935); ohne separate Zusammenstellung von Regeln, ohne ‘Regelverzeichnis’: orthographisches Wörterbuch oder Rechtschreib-, Orthographiewörterbuch (wie Duden 1902, Preußen 1903, Duden 2 1908, Duden-Rechtschreibwörterbuch 1937); Umtexte („Außen- und Metatexte“; Haß-Zumkehr 2001, z.B. S. 209): einerseits Textsorten, die (vorwiegend) sachbezogene Informationen über das Werk enthalten wie standardmäßiges Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Hinweise zur Benutzung des Buches, Zusammenstellung der verwendeten Abkürzungen; andererseits solche, die von der Sache her weniger nahe liegen und, ich sage das mal so: weiterreichende Meinungsäußerungen darstellen wie Abhandlung (z.B. „Zur Geschichte der deutschen Sprache“), Geleitwort, Motto, Widmung; Regelkomponente'. Regeln im Regelteil und im Wörterteil; Wortkomponente'. (Wort-)Beispiele im Regelteil und Worteinträge im Wörterteil. Von der Zusammenstellung der im Buch verwendeten Abkürzungen als Umtext ist ein Abschnitt wie „Abkürzungen für Namen von Maßen, Gewichten, Münzen“ (so im Volks-Duden 1933, S. 19*-20*) zu unterscheiden, in dem es um deren Schreibung geht. Dort vorhandene Regeln sind Bestandteil der Regelkomponente, die angeführten Abkürzungen Bestandteil der Wortkomponente. 9 9 Auf die einschlägige Literatur (vgl. z.B. Kohrt 1991; Schaeder 1991; Herberg 1993; Böhme 2001, S. 15ff. und dort angeführte weitere Titel) gehe ich hier nicht ein. Anmerken möchte ich nur, dass mir in Böhme (2001), wo „versucht werden [soll], den >Typen-Dschungel< ein wenig aufzuhellen“, der bezüglich der „Klassifizierung von Typen des Orthographiewörterbuchs“ in der Literatur besteht (S. 18), der Sinn des Wechsels zwischen amtliche Regelwerke (so im Präpositions-defizitären Titel; u.a. bei 2.3 auf S. VII; 89ff; 153ff.), amtliche Orthographiedarstellungen (bei 2.3 auf S. 46 und auch ff.); preußisches, bayerisches usw. Regelbuch (S. 91ff), amtliche Regelbücher (S. 153ff.) und preußische usw. Schulorthographie (S. 101) nicht aufgegangen ist. <?page no="56"?> 56 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.1.1.2 Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch- Soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) - Der Große Duden ( n 1934): Erste Bestandsaufnahme; Otto Basler: Mitarbeiter im Bibliographischen Institut, Leipzig Während des kurzen Zeitraumes von 1933 bis 1934 werden von der „Bibliographisches Institut AG./ Leipzig“ gleich drei Duden-Rechtschreibbücher auf den Markt gebracht. Mein besonderes Interesse gilt dabei den Ausgaben des Kleinen Duden, die in der Literatur im Unterschied zum Großen Duden allgemein recht stiefmütterlich behandelt werden; was die Ausführlichkeit auch der Autopsien begründet. Mit einbezogen wird hier aus Gründen, die sich unten gewissermaßen von selbst erklären, die Ausgabe des Rechtschreibwörterbuches von 1937. Zur besseren Möglichkeit des Vergleichs werden im Folgenden mit Ausnahme des Titelblattes die Bestandteile der kleinen Dudenausgaben durchgezählt und die Gesichtspunkte der Vorworte mit Kleinbuchstaben markiert. Die synoptische Zusammenfuhrung findet sich in Abb. 3 bis 5. (1) Der Volks-Duden (1933) 1933 Der Volks-Duden / / Neues deutsches Wörterbuch / / Nach den für das Deutsche Reich, Österreich und die Schweiz gültigen amtlichen Regeln / / bearbeitet von / Dr. Otto Basler / und / Rektor Waldemar Mühlner 10 Als Bearbeiter werden Otto Basler, der in bestimmter (in Kapitel 2 und 3) noch zu klärender Weise mit dem Bibliographischen Institut, Leipzig, in Verbindung steht, und „der Bitterfelder Volksschuldirektor“ (Müller 1994, S. 119) Waldemar Mühlner genannt. Der Wandel der Zeiten kündigt sich punktuell darin an, dass „Deutschland“ (so im Titel der Duden-Rechtschreibung 10 1929) 1933 durch „das Deutsche Reich“ ersetzt ist. 1) „Inhaltsverzeichnis“ (Volks-Duden 1933, S. 5*; 6* Vakat). 2) Vorwort („Ziel und Aufgabe“; S. 7*; 8 Vakat): Undatiert, unterzeichnet mit „Verlag und Herausgeber“ (S. 7*). io In der Bibliothek des IDS befinden sich zwei Exemplare des Volks-Duden, die aus Otto Baslers Bibliothek stammen. Signatur LE 65 a und b. <?page no="57"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 57 a) Schwierigkeit, angesichts der „Wandlungen der lebenden Sprache“ eine gültige Rechtschreibung festzulegen. b) Adressaten: Die „Jugendlichen in Schule und Haus“ und die „Erwachsenen in Beruf und Leben“. c) „Die Grundsätze des Großen Duden waren für die Bearbeitung maßgebend.“ d) Berücksichtigter Wortschatz: (etwa 30.000 Stichwörter) (= Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934): „Grundsätzlich wurde nur belegtes Wortgut aus unserer Zeit aufgeführt.“ dl)„Der Wortschatz bringt das Alltagsgut der deutschen Sprache, das allen Schichten unseres Volkes geläufig ist“; der „Sachbereich im weiteren Sinne“ mitsamt dem „umgebenden kulturellen oder geistigen Bezirk“, die „Welt einer höheren und gewählten Sprache“, „der Umkreis fachlicher Ausdrücke aus den Berufs- und Standessprachen“, „die reiche Fülle mundartlichen Gutes“; „die Umgangssprache [...] insoweit [...], daß billigen Ansprüchen wohl Genüge geleistet ist“; d2)das Fremdwort, dem durch Worterklärung und Bedeutungsangabe „ein breiterer Raum zugemessen“ wird: so bessere Mitarbeit „an der Sprachreinheit und am Ausbau einer deutschen Sprache [...] als durch Übergehen des Fremdlings“. e) „Der Weitersuchende sei auf den Großen Duden (10. Aufl. [...] 1929) verwiesen. [...] das eigentliche Nachschlagewerk für die deutsche Rechtschreibung“. „Zu ihm will überhaupt unser Wörterbuch hinfuhren.“ f) Bitte um „Wünsche und Anregungen zur Ausgestaltung unseres Wörterbuches“. g) „Verlag und Herausgeber“. 3) „Zur Einrichtung des Wörterbuches“ (S. 9*-10*). „Vorbemerkungen“ (umfasst die folgenden Bestandteile 4 und 5). 4) Zusammenstellung der im Buch verwendeten Fachausdrücke mit Erklärungen (S. 11*-12*). 5) Regelteil („Zur Rechtschreibung“, „Satzzeichen“, „Einzelvorschriften“; S. 12*- 28*): Entspricht in verkürzter Form den gleichnamigen Abschnitten in der 10. Auflage des Großen Duden von 1929," die Zeichensetzung ist Funktions-orientiert 12 gegliedert. 11 In den Volks-Duden nicht übernommen sind die beiden grammatischen Abschnitte „II. Zur Sprachlehre“ und „III. Aus der Wortbildung“ (S. 30*-41*) sowie „V. Einzelvorschriften für den Schriftsatz“ (Duden-Rechtschreibung 10 1929, S. 49*-54*). 12 Funktions-orientiert nach Positionen: „12. Zeichen am Schlüsse des Satzes“ (S. 20*) - „13. Zeichen innerhalb des Satzganzen“ (Volks-Duden 1933, S. 21*). Eine andere Mög- <?page no="58"?> 58 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 6) Zweiseitige Abhandlung („Zur Geschichte der deutschen Sprache“; S. 29*-30*): Nicht unterzeichnet; 1934 in die 11. Auflage der Duden-Rechtschreibung übernommen. Ein Ausschnitt daraus findet sich weiter unten (vgl. 1.1.2.2) in Abb. 7. 7) Zusammenstellung der im Buch verwendeten „Abkürzungen“ (S. 31*; 32* Vakat). 8) Wörterteil (ohne Überschrift; S. 1-286; die Zählung ab 1 ist dadurch ermöglicht, dass der vorausgehende Teil mit arabischen Zahlen plus *, also etwa 10*, paginiert ist): Dieser hat zwar den Wörterteil der 10. Auflage von 1929 zur Grundlage, doch die dort traditionsgemäß angeführten Unterschiede zwischen den verschiedenen amtlichen Rechtschreibbüchem sind weitestgehend nicht übernommen. Dieser Wörterteil ist gewissermaßen eine Mehrzweckwaffe, denn er wird insgesamt dreimal eingesetzt, d.h. auch, dass er im Folgenden noch zweimal in Erscheinung treten wird. Sauer (1988) führt den Volks-Duden nicht. Nach Müller (1994) „kann“ dieser als „erstes ideologisch bearbeitetes Sprachlexikon [...] gelten“ (S. 117), dessen Wortbestand, „wenn auch nur ansatzweise, der neuen politischen Epoche angepaßt“ ist (ebd., S. 118), was ich nicht so sehe (dazu vgl. unten 1.1.2.1 (2)). Jedenfalls zutreffend ist ihre Feststellung: „Das Vorwort [...] enthält sich jedoch jedes ideologischen Kommentars“ (ebd.). (2) Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden- Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) 1934 Der Kleine Duden / / Reichsschulwörterbuch / der deutschen Rechtschreibung / / Für die Volksschule bearbeitet nach den für / das Deutsche Reich gültigen amtlichen Regeln / / von / Dr. Otto Basler / und / Rektor Waldemar Mühlner / in Verbindung mit der / Reichsleitung / des Nationalsozialistischen Lehrerbundes Wie beim Volks-Duden werden als Bearbeiter Otto Basler und Waldemar Mühlner genannt, allerdings nunmehr „in Verbindung“ mit einer höchst amtlich-politischen Größe, dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (N.S. L.B.). Als Geltungsbereich der zugrunde liegenden amtlichen Regeln findet sich, im Unterschied zu den Titeln der beiden anderen in diesem Abschnitt vorgestellten Werke, nur noch „das Deutsche Reich“, also nicht mehr Österlichkeit der Gliederung ist die Zeichen-orientierte. Dazu vgl. unten (2) Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934). <?page no="59"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 59 reich und die Schweiz. Diese Einschränkung, die, wie sich später zeigen wird, durch die ideologische Überhöhung von Reich eine extreme Ausweitung darstellt, korrespondiert augenscheinlich mit der Kennzeichnung / Avc/ ivschulWörterbuch und diese ihrerseits mit der in dieses Unternehmen eingespannten, sehr auffälligen Phalanx von zum größeren Teil bereits bekannten nationalsozialistischen Autoren und Institutionen und mit den ideologisch ausgerichteten Umtexten zu Beginn dieses Bandes. 1) „Zum Geleit“: Zwei Geleitworte (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. III). Das erste Geleitwort beginnt mit: „Ein Volk eine Sprache eine Schule, das ist eine der großen Linien, die das Einheitsbestreben unserer Nation kennzeichnen.“, stellt am Ende das Wörterbuch in den Dienst „der Erfüllung der großen Aufgabe, die das Schicksal unseren lebenden und kommenden Geschlechtern gesetzt hat: unserer Volkwerdungl“, grüßt mit „Heil Hitler! “ und ist unterzeichnet mit „Hans Schemm, Staatsminister, Reichsamtsleiter des N. S. L. B.“ (Kursive WM). Für das zweite Geleitwort, in dem u.a. begrüßt wird, „daß die Reichsleitung des NS.-Lehrerbundes sich entschlossen hat, einen Auszug aus dem großen Standardwerk für den Schulgebrauch herzustellen“, zeichnet „Dr. Rudolf Buttmann, Ministerialdirektor, Vorsitzer des Deutschen Sprachvereins“ verantwortlich. 2) Vorwort („Was der Kleine Duden will“; S. IV): Undatiert, unterzeichnet mit „Verlag und Herausgeber“. a) „Wir schicken den Kleinen Duden, eine für die Jugend gekürzte, volkstümlich bearbeitete Ausgabe des Großen Duden mit der Absicht hinaus, [...]“; Weiteres zu den Adressaten: deutsche Schule, deutsche Jugend: gmndlegendes, inhaltreiches, preiswertes Hilfsmittel für die Spracherziehung; (weitere) Kreise des deutschen Volkes: brauchbares Wörterbuch. b) „Mit dem Kleinen Duden wollen wir, die Reichsleitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, die Bearbeiter und der Verlag, Erziehungsarbeit im Sinne Konrad Dudens und des Deutschen Sprachvereins leisten. Das Buch wird dadurch zum Vorkämpferfür die Vereinheitlichung unserer Schrift- und Sprachformen.“ (Kursive WM). Ist die Erstnennung der „Reichsleitung [...]“ etwa im Vergleich mit der anderen Abfolge auf der Titelseite dieses Buches (vgl. oben) auf den ersten Blick auch auffällig - Götze dazu: „Den Kleinen Duden [...] hat der NS-Leh- <?page no="60"?> 60 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform rerbund unter seine Fittiche genommen.“ (1934, S. 428) — und rücken dadurch die für den Band eigentlich Verantwortlichen auch ins zweite und dritte Glied, so werden die Beteiligten durch das alle vereinnahmende wir doch zu einer (ver)trauten Gemeinschaft zusammengeschlossen oder auch, im Stile der neuen Zeit, zu einer Kampfgemeinschaft zusammengeschweißt; was auch bedeutet, dass Konrad Duden sich nunmehr in einer weniger illustren als eher äußerst gemischten Gesellschaft befindet, ihr einverleibt, von ihr vereinnahmt ist; was sich, wenn auch in anderen Konstellationen, wiederholen wird. c) Berücksichtigter Wortschatz: „etwa 30 000 Stichwörter“. cl)„das deutsche Wortgut der Gegenwart, c2) daneben das Fremdwort „in einem für den Tagesgebrauch ausreichenden Umfang“; „bringt nicht nur die Rechtschreibeformen, sondern fuhrt zugleich in den Geist und in die Bedeutung der Wörter und der Wortformen ein“. d) „Wer mehr sucht, [...] sei auf den Großen Duden [...] hingewiesen“; als „Hilfsbücher“ empfohlen: Mühlner (1934a) (für Schüler) und (1934b) (für Lehrer). e) „Das Reichsministerium des Innern und die Unterrichtsverwaltungen der Länder haben die Absicht des Buches begrüßt. Wir danken den Reichs- und Staatsbehörden für die Unterstützung unseres Planes und hoffen, daß ihr Urteil dem Buche den Weg ebnen wird.“ (Kursive WM). f) „Verlag und Herausgeber“. Die Punkte b) und e) zeigen, wie auch der Titel {Reichs-) und die zu Wort kommenden Autoren, die Strategie des BI, möglichst viele Organisationen und auch Personen in ihre orthographischen Unternehmungen einzubinden und so in die Werbung einzuspannen. Grundsätzlich neu ist dies nicht, wie die Phalanx der Sprach-, Buchdrucker- und Korrektorenvereine auf der Titelseite z.B. der 9. Auflage des Großen Duden von 1915 zeigt. Neu und der neuen Zeit angepasst ist der durchgehend nationalsozialistische Hintergrund der beteiligten Größen. Demgegenüber sind die anderen Punkte ideologischpolitisch neutral. 3) Dreiseitige Abhandlung („Volk und Sprache“; S. V-VII): Adressaten „Deutscher Volksgenosse, [...] in irgendeinem Gau unseres Vaterlandes [...oder; WM] als Auslandsdeutscher in der Fremde [...]“ auch hier die schon oben beobachtete doppelte Perspektive: Inland und Ausland. Ein Ausschnitt daraus findet sich unten (vgl. 1.1.2.2) in Abb. 7. Unterzeichnet ist mit „Eduard Rothemund, Leiter der Reichsstelle <?page no="61"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 61 für das Jugendschrifttum bei der Reichsleitung der Nationalsozialistischen Lehrerbundes Bayreuth“. 4) Regelteil („Was Du von der deutschen Rechtschreibung wissen mußt“; S. VIII- XXII): Im Unterschied zum Volks-Duden (1933) und zum Großen Duden ( n 1934) ein Abdruck „der letzten [...] Fassung“ (S. VIII) aus dem preußischen Rechtschreibbuch (Preußen 1933 oder 1934? ), aber abweichend von diesem um die Zeichenorientiert 13 gegliederte Zeichensetzung ergänzt (S. XIX-XXII). Diese wird in die Ausgabe des Kleinen Duden ( 2 1939) übernommen. 5) Benutzungshinweise („Worauf Du bei der Benutzung des Kleinen Duden achten mußt“; S. XXII-XXIV). 6) „Verzeichnis der im Kleinen Duden verwendeten Abkürzungen“ (S. XXV). 7) Spezialverzeichnis („Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung (mit Anhang [...])“; S. XXVI-XXXII): Teil des Wörterteils. 8) Haupt-Wörterteil (ohne Überschrift; S. 1-286; die Zählung ab 1 ist hier dadurch ermöglicht, dass der vorausgehende Teil mit römischen Zahlen paginiert ist): Mit dem Wörterteil des Volks-Duden (1933) identisch, worauf Müller (1994, S. 118) hinweist; entsprechend sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen amtlichen Rechtschreibbüchem auch 1934 weitestgehend nicht verzeichnet. Der Wörterteil besteht hier aus zwei Bestandteilen, nämlich aus dem Verzeichnis der NS-Ausdrücke mit Anhang und dem entsprechend sog. Haupt-Wörterteil. Im Reichsschulwörterbuch 14 ist die Ideologi(si)e(rung) in den beteiligten Personen und Institutionen gewissermaßen personifiziert, institutionalisiert, physisch greifbar; sie meldet sich u.a. schon in den kurzen Auszügen aus den zwei Geleitworten unüberhörbar zu Wort sowie dann auch insbesondere im Spezialverzeichnis „Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung“ samt Anhang und in der Abhandlung „Volk und Sprache“. Dazu insgesamt unten ausführlicher (vgl. 1.1.2). Noch ein Wort zum (Haupt-)Wörterteil als Hinführung zum Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937): 13 Zeichen-orientiert nach den einzelnen Zeichen: „1. Der Punkt“ (S. XIX) über „5. Der Beistrich (das Komma)“ (S. XX) bis hin zu „9. Die Klammem“ (Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. XXII). Zur Funktions-orientierten Gliederung vgl. oben (1) Der Volks-Duden (1933). 14 Kopke (1995, S. 67) schlägt von dem Reichsschulwörterbuch (1934) und seinem Umfeld aus einen weiten recht abenteuerlichen Bogen zu den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz in den Jahren 1950 und 1955 (dazu vgl. unten 2.2.3). <?page no="62"?> 62 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Dieser Wörterteil tritt im Reichsschulwörterbuch (1934) im Verein u.a. mit den preußischen Regeln auf und im Volks-Duden (1933) im Verein mit der verkürzten Form der Regelabschnitte in Duden-Rechtschreibung ( lü 1927); wobei sowohl die Seitenzahl (S. 1-286) als auch der Satzspiegel übereinstimmen. Doch mit dieser zweifachen Verwendung ist es noch nicht getan. In Sarkowskis Bibliographie werden die beiden Bände unter der Rubrik „35 Sprachen, Wörterbücher a Duden, deutsch“ geführt (Sarkowski 1976, S. 263f). Unter der Rubrik „42 Berufsbildung“ findet sich u.a. „Kleines Fortbildungswerk für politisch-soldatisches Wissen. 4 Bände“ (Kleines Fortbildungswerk 1937). 15 Wie andere in der Rubrik 42 genannte Titel auch ist das Fortbildungswerk „von Militärdienststellen in Auftrag gegeben und [...] nur für den Dienstgebrauch bestimmt. Die einzelnen Teile entstammen entweder Rohbeständen oder wurden nach vorhandenen Platten gedruckt.“ Der erste Band (Kleines Fortbildungswerk 1937, I) enthält neben „(1) Emst Pfaff: Der sprachliche Ausdruck“ und „(2) Rudolf Weinmeister: Deutsche Kurzschrift“ zudem „(3)“ „Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung. Bearb. von Otto Basler und Waldemar Mühlner (Der Kleine Duden)“ (Sarkowski 1976, S. 272). Geleitet oder, wie sich später zeigte, verleitet durch die genannten zwei Bearbeiter insbesondere auch im Verein mit dem Zusatz „(Der Kleine Duden)“ nahm ich zunächst an, dass Der Kleine Duden (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) mit dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) identisch sei und als dessen neue Ausgabe (aus vorhandenen Rohbeständen) bzw. als dessen erster Nachdruck (nach vorhandenen Platten) bezeichnet werden könne. Die Kennzeichnung 2. Auflage bliebe damit der Ausgabe des Kleinen Duden von 1939 Vorbehalten, die unten in 1.1.1.3 (1) vorgestellt wird. 15 „Kleines Fortbildungswerk für politisch-soldatisches Wissen“ - Klein! Nun denn. In den vier Bänden sind insgesamt 16 jeweils für sich paginierte Werke untergebracht, die in den Inhaltsverzeichnissen der Bände von 1 an durchgezählt sind. Das ‘Kleine Werk’ umfasst insgesamt ca. 1.580 Seiten und erscheint von daher weniger als klein, sondern eher als ein Mammutwerk. Angemerkt sei, dass die Inhaltsverzeichnisse der vier Bände wie auch die Angaben in Sarkowski (1976, S. 272) mit den jeweiligen Titelblättern nicht immer übereinstimmen. <?page no="63"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 63 Der spätere Blick in das authentische Fortbildungswerk (ein Exemplar befindet sich nunmehr als Neuanschaffung in der IDS-Bibliothek) ergab als vollständigen Titel, und zwar ohne „(Der Kleine Duden)“: 1937 Wörterbuch / der deutschen Rechtschreibung / / Bearbeitet / nach den für das Deutsche Reich gültigen amtlichen Regeln / / von / Dr. Otto Basler / und / Rektor Waldemar Mühlner“ (Duden-Rechtschreibwörterbuch 1937, Titelseite) Dem Titelblatt (Rückseite vakat) folgt das „Verzeichnis der im Kleinen Duden verwendeten Abkürzungen“ (Rückseite vakat). Die Überschrift ist die gleiche wie im Kleinen Duden (1934, XXV; Kursive WM) und begründet die Zuordnung in die Reihe der kleinen Duden. Das Verzeichnis ist identisch mit dem von 1934 und dem im Volksduden 1933, 31*, Überschrift hier: „Abkürzungen“. Es schließt sich an ein Wörterverzeichnis (ohne Überschrift; S. 1- 286; die Zählung ab 1 ist hier dadurch ermöglicht, dass die vorausgehenden zwei Blätter bzw. vier Seiten unpaginiert sind). Die Seitenzahl und auch der Satzspiegel sind identisch mit denen im Kleinen (1934) und im Volks-Duden (1933). Gegenüber den beiden Rechtschreibbüchem von 1933 und 1934 mit wenn auch unterschiedlichem Regelteil und mit Wörterteil liegt 1937 eine Textsortenänderung vor zum Rechtschreibwörterbuch ohne separaten Regelteil. In der von mir benutzten Literatur wird dieses Wörterbuch nur in Sarkowski (1976, S. 272) und in Steiger (2003, S. 94) angeführt. Die Änderungen im Titel - Reichsschulw w örterbuch der deutschen Rechtschreibung, Für die Volksschule bearbeitet [...] von [...] erklären sich zwanglos aus der Ehnbestimmung des Zweckes und des Adressatenkreises dieser Ausgabe. Die neue Zweckbestimmung und Zielrichtung heißt auch, dass der identische Teil der drei Ausgaben didaktisch mehrfach funktionell, gewissermaßen als Vielzweckwaffe, eingesetzt wird: Zum Einen für das Volk und speziell für die Jugendlichen in Schule und Haus (1933), zum Zweiten für die Volksschule (1934) und zum Dritten für die Fortbildung des politisch-soldatischen Wissens; was insgesamt allerdings, nach Anbruch der neuen Zeit und gemäß ihrer Ideologie, als durchaus kongruent und als höchst kompatibel angesehen wird. Befindet sich in Band I das Rechtschreibwörterbuch (3) mit dem sprachlichen Ausdruck (1) und der deutschen Kurzschrift (2) in einer von Aspekten <?page no="64"?> 64 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform der Sprache her begründeten und von daher durchaus plausiblen Nachbarschaft, so wird mit der Nationalpolitik, der Geschichte des deutschen Volkes und dem Ringen um Europa (Band II, (4) bis (6)), mit einigen wichtigen (Wehr-)Gesetzen, mit der Wehrmacht des Dritten Reiches, mit dem Geländezeichnen, der Strategie des ersten Weltkrieges und des Atlasses dazu (III, (7) bis (11)), mit den deutschen Kolonien, dem Raum und der Wirtschaft sowie mit dem Rechnen, der Algebra und der Geometrie (IV, (12) bis (16)) die Gesellschaft sukzessive vergrößert und erweist sich am Ende als extrem illuster; was allerdings durchaus als ein Zeichen der neuen Zeit verstanden werden kann, in der die rechte Ideologie als das gemeinsame Band auch das anscheinend Auseinanderliegendeste einschließt und alles miteinander verbindet. (3) Der Große Duden (' 1 1934) 1934 Der Große Duden / / Rechtschreibung / der deutschen Sprache und der / Fremdwörter / / Mit Unterstützung des Deutschen Sprachvereins, des / Deutschen Buchdruckervereins E.V., des Haupt- / Verbundes der graphischen Unternehmungen Öster- / reichs, des Schweizerischen Buchdruckervereins sowie / der deutschen und österreichischen Korrektorenvereine / / nach den für das Deutsche Reich, Österreich und die / Schweiz gültigen amtlichen Regeln / / bearbeitet von Dr. Otto Basler / unter Mitwirkung der Fachschriftleitungen / des Bibliographischen Instituts / / Elfte, neubearbeitete / und erweiterte Auflage. 16 Als Bearbeiter wird auch hier Otto Basler genannt, unterstützt von den Fachschriftleitungen (im Plural) des BI. 16 Sauer berichtet, dass im Titel der 11. Auflage von 1934 gegenüber dem der 10. von 1929 nur das Wort „Deutschland“, so in der 10. Auflage, durch „Deutsches Reich“ ersetzt ist (Sauer 1988, S. 121). Wie oben schon festgestellt, findet sich diese Umstellung auch und bereits im Titel des Volks-Duden (1933) und auch im Titel des Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934). <?page no="65"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 65 Das „Vorwort“ ist datiert mit „Berlin-Steglitz, im Juli 1934“ 17 und unterzeichnet mit „Dr. Otto Basler“ (Duden-Rechtschreibung "1934, S. 3*-4*). Es folgt das „Inhaltsverzeichnis“ (S. 5*; 6* Vakat). Gegenüber der 10. Auflage neu und aus dem Volks-Duden übernommen ist die Abhandlung „Zur Geschichte der deutschen Sprache“, die auch hier nicht unterzeichnet ist (S. 7*-8*). Bezogen auf die weiteren Bestandteile ist hier festzuhalten: Die Zeichensetzung ist wie in der Duden-Rechtschreibung ( l0 1929) und im Volks-Duden (1933) Funktionsorientiert gegliedert. Im Wörterteil sind, der Tradition des Großen Duden gemäß, die Unterschiede zwischen den verschiedenen amtlichen Rechtschreibbüchem verzeichnet. Dem Bearbeiter der vorhergehenden 10. Auflage von 1929, Theodor Matthias, bescheinigt Sauer gewissermaßen in Form eines leicht relativierten Persilscheins, sich „bei der Verarbeitung des politischen Wortschatzes seiner Zeit im großen und ganzen zurückgehalten [...und] einen meutralen Kurs< gesteuert“ zu haben (Sauer 1988, S. 123); was Müller (1994, S. 112) übernimmt und damit auch aus ihrer Sicht als zutreffend bestätigt. Als Einzelfälle an „konservativem oder völkischem Sprachmaterial“ pickt Sauer (1988, S. 122) Schmachfrieden (von 1919), Entjudung und fremdvölkisch aus dem Wörterteil auf; wobei in der 9. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1915 die beiden letzten tatsächlich nicht verzeichnet sind und das erste aus zeitlichen Gründen noch nicht verzeichnet sein kann. Über die stufenweise erfolgende Durchmischung, Durchsetzung oder, was mir als besser erscheint: Infiltration des Wörterteils durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’ zunächst in der 11. Auflage 1934 und dann fortgeführt in der 12. Auflage 1941 des Großen Dudens berichten Sauer (1988, S. 120- 133) sowie ausführlich Müller (1994, S. 134-204). Diese stellt zudem einschlägige Beispiele aus den Regelteilen zusammen (S. 121-123). Insgesamt 17 Es spricht viel dafür, dass der Große Duden ( n 1934) später als das Reichsschulwörterbuch ausgeliefert worden ist. Bei dessen Vorwort ist kein Datum angegeben. In der Zeichensetzung findet sich in einem Beispiel das Datum „21. April 1934“. Das Datum „Juli 1934“ unter dem Vorwort der 11. Auflage kann man so verstehen, dass zu diesem Zeitpunkt zumindest der erste Bogen noch gedruckt und der Band insgesamt noch gebunden werden musste, bevor er ausgeliefert werden konnte. Mühlners drei flankierende Veröffentlichungen zum Reichsschulwörterbuch fallen in das Jahr 1934, Hermanns und Victors Besprechungen der 11. Auflage in das Jahr 1935; Götzes Besprechung des Reichsschulwörterbuchs und der 11. Auflage erscheint im Dezember 1934. <?page no="66"?> 66 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform verweise ich pauschal insbesondere auf die Arbeit von Müller. Einige Ergebnisse werden unten (vgl. 1.1.2.1) mit einbezogen. Sauers Interpretation zweier Zitate, je eines aus der Abhandlung und aus dem Vorwort der 11. Auflage, und die Verknüpfung des nach ihm ideologischen Inhaltes mit der Einarbeitung spezifisch nationalsozialistischer Ausdrücke in den Wörterteil (1988, S. 122) hat mich nicht überzeugt. Bestätigt fühle ich mich durch Müller (1994). Dort ist Ähnliches nicht zu finden. Zudem noch das Folgende: Zum Vorwort: „Nimmt man die Tatsache der grundsätzlichen Ideologisierung des Wortschatzes im NS-Duden zur Kenntnis sowie, daß der Duden das deutsche Rechtschreibbuch per se darstellt, und geht davon aus, daß politische Äußerungen in Vorworten zu NS-Nachschlagewerken durchaus üblich sind, so ist erstaunlich, wie wenig ideologisch-politisches Potential das Vorwort in DU.11/ 1934 enthält.“ (Müller 1994, S. 113). Und auch bei Sauer heißt es an anderer Stelle: „Der vorsichtige Ton des Vorwortes von 1934 [...]“ (1988, S. 127). Zu einem Vergleich mit dem Vorwort der Duden-Rechtschreibung ( 12 1941) vgl. unten 1.1.3.1, dort auch Abb. 13. Zur Abhandlung: „Obwohl eine Sprachauffassung vertreten wird, die [nicht nur; WM] der NS-Sprachwissenschaft eigen ist, fehlt die spezifisch politische Komponente, wie sie [... anderenorts durchaus; WM] üblich ist“ (Müller 1994, S. 114). Zu einem Vergleich mit der Abhandlung aus dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) vgl. unten (1.1.2.2), dort auch die Abb. 7. Übergreifend: „Im Duden selbst werden in Vorwort und Eingangstext [= Abhandlung; WM ...] keine politischen Ideen angeführt. Dennoch bringen die NS-Wissenschaftler dieses Wörterbuch mit Sprachpolitik in Verbindung.“ (Müller 1994, S. 115). Das heißt wohl: Die ideologische Überhöhung dieser Ausgabe findet außerhalb statt, wird ihr von (dr)außen angetragen, angedient. 18 18 Nach Müller (1994) - „fuhrt [die 11. Duden-Auflage 1934; WM] eine für ein Rechtschreibwörterbuch ungewöhnlich lange Liste von verantwortlichen Organen an, die bei der Erstellung <?page no="67"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 67 Zurück zu Sauer: Man sollte vielleicht doch nicht immer gleich versucht sein, allerorts die braunen Flöhe husten zu hören. Wer kann schon wissen, was aus einem selbst im Dritten Reich geworden wäre und was du selbst alles wie geschrieben hättest. Wobei dies nicht der einzige Grund wäre oder ist, bei Zuweisungen und Kennzeichnungen solcher Art behutsam(er) zu sein. Jedenfalls wird die Duden-Rechtschreibung ( ll 1934) allgemein als der ‘Nazi-’ oder ‘NS-Duden’ angesehen und bezeichnet in Übertragung dann auch die 12. Auflage 1941. Zu weiteren Überlegungen dazu und auch zu einer Relativierung dieser Einschätzung vgl. unten (1.1.2). Ein kleiner Seitenblick: Nach Müllers Einschätzung „scheint“ Hübners Redeweise von der „[...] >vorsinthflutlichen englischen [...] Orthographie< [...]“ gegenüber der italienischen (Hübner 1936, S. 224) als „Seitenhieb auf das Englische, das eine inferiore Stellung einnehme gegenüber der Sprache der faschistischen Nachbarn, [...] eindeutig politische Gründe zu haben“ (Müller 1994, S. 116). Das mag man für Hübner (1936) vielleicht so sehen können, doch ist Hic die englische und auch die französische Orthographie (vgl. auch Götze 1934, S. 428) - Illic die italienische und auch die spanische Orthographie seit langem in der Orthographiediskussion eine beliebte Opposition zur Demonstration des unterschiedlichen Zustandes von Orthographien: Von Rudolf von Raumer 1837 in seiner Erstveröffentlichung als „historische“ vs. „phonetische Schreibung“ auch terminologisch unterschieden (Raumer 1837, S. 13f, mit einer einschlägigen Korrektur in einer Fußnote aus dem Jahre 1863), mehrfach von diesem wieder aufgegriffen (z.B. 1855, S. 110) und 1856 mit „althistorisch“ vs. „phonetisch“ präzisiert, um mit dem nunmehr beteiligt sind“ (S. 111). Das ungewöhnlich mag, bezogen auf die damalige Wörterbuchlandschaft, zutreffen, doch auf der Linie des Großen Duden hat dieser ansatzweise barocke Titel seit der 9. Auflage von 1915 Tradition, die ihrerseits auf die des Buchdrucker-Duden ( 2 1907) und (1903) zurückgeht. findet sich die Abhandlung ‘Zur Geschichte der deutschen Sprache’ „lediglich“ in der 11. Auflage von 1934, „in keine der vorausgehenden Ausgaben [wurde sie] in ähnlicher Form aufgenommen“ (S. 114). Wie oben gezeigt, findet sie sich bereits im Volks-Duden von 1933, dort allerdings nicht als „Eingangstext“ nach Vorwort und Inhaltsverzeichnis und dort an 1. Position wie 1934, sondern auf den Seiten 29*-30* ziemlich versteckt erst nach dem Regelteil und entsprechend im Inhaltsverzeichnis an 4. Position. Möglicherweise ist dies Müller schlicht entgangen. <?page no="68"?> 68 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform verfügbaren Oppositionsterminus „neuhistorisch“ die Richtung eindeutiger als bisher) abgrenzen zu können, die die Schreibung gemäß der geschichtlichen Fortentwicklung festgelegt wissen will (Raumer 1856, S. 214f.); womit schon hier die Vielfalt orthographischer Richtungen im 19. Jahrhundert aufscheint. Zwei Zufallserinnerungen nach der Struktur: Da war doch noch was? , für einschlägige Fundstellen mit dem Vergleich unterschiedlicher Orthographien: Die eine (Freyer 1722, S. 4) vor Raumer und ohne phonetisch u.Ä.; die andere (Duden 1872, S. 6f.) nach Raumer mit phonetisch und historisch. Auch dies zeigt den Wandel der Dinge. Doch nun ein vergleichender Blick auf die kleinen Dudenausgaben insgesamt. 1.1.1.3 Duden Kleines Wörterbuch (1915), Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden- Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937), Der Kleine Duden ( 2 1939): Darreichungsformen der Orthographie - Mit Auswirkungen auf den Großen Duden Der Blick richtet sich hier auf die Bestandteile der kleinen Ausgaben mit besonderem Augenmerk auf das Vorwort; insgesamt unter dem Gesichtspunkt der Darreichungsform der Orthographie und mit der Fragestellung: Bestehen Abhängigkeiten, stukturelle und inhaltliche Entsprechungen und damit auch hier eine Texttradition speziell zwischen welchen dieses bunten Quintetts? Die Begründung für diesen Abschnitt (und auch für unten 1.1.2) ist, dass dieses kleine Feld in der Literatur wenig systematisch bearbeitet ist und in verschiedensten Hinsichten als dunkel oder unübersichtlich erscheint; wobei die Erhellung bestimmter Zusammenhänge auch einiges betrifft, was bisher auf dem Feld der Großen als so klar erschien. In Rede stehen hier die beiden aus oben 1.1.1.2 schon bekannten kleinen Ausgaben von 1933 und 1934 + die von 1937; zudem eine schon frühe Ausgabe von 1915 (3. Neudruck 1925) und eine 2. Auflage von 1939, die vom Zeitablauf her unten in 1.1.3.1 einzuordnen ist, doch zum Vergleich hier bereits mit herangezogen wird. <?page no="69"?> 1933 bis 1942(-l 944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 69 Bevor von den beiden zuletzt genannten die noch ausstehende Autopsie vorgestellt wird, ein kurzer Überblick zur Situation der kleinen Dudenausgaben in der hier herangezogenen speziellen Literatur: Berger (1967/ 22.10.) verzeichnet nur die Ausgaben des Großen Duden. Sauer fuhrt von den oben angesprochenen fünf Ausgaben nur zwei, nämlich die von 1915 (1988, S. 224) und die von 1934 (Reichsschulwörterbuch; S. 225); wobei als Zufallsfund vermerkt sei, dass neben der (auf Seite 222) genannten 2. Auflage des Buchdrucker-Duden ( 2 1907) dessen Erstausgabe (1903) fehlt. All dies, wenn auch nicht nur dies, überrascht in dieser Spezialstudie „Der »Duden«.“, in diesem nach Böhme so genannten - „[...] ‘Standardwerk’ zur Dudengeschichte“ (Böhme 2001, S. 3) schon sehr. Zumal in diesem Falle Sarkowski in seiner Verlagsgeschichte des Bibliographischen Instituts sowohl die beiden Berufsausgaben als auch die vier kleinen Rechtschreibbücher - und darüber hinaus das Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politischsoldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) in seiner Bibliographie erfasst hat (Sarkowski 1976, S. 251; 264; 272) und Sauer unter „Literatur“ (S. 176) Sarkowski durchaus führt und ihn auch praktisch benutzt hat (Sauer 1988, S. 120). In Heller (1989) findet sich nur die Ausgabe von 1915 (S. 99). In Hering (1989) werden die Ausgaben von 1937 und 1939 nicht genannt (S. 348). Die Ausgabe von 1915 bezeichnet er mit „Kleiner Duden“ (2. berichtigter Neudruck 1918 und 1920; 3. berichtigter Neudruck 1925) (S. 113). Laut mündlicher Auskunft von Klaus Heller (IDS; Ende 2001) erscheint der 2. berichtigte Neudruck erst 1920 und dann 1922. Müller (1994) berücksichtigt die vier Rechtschreibbücher von 1915, 1933, 1934 und 1939 (z.B. S. 257f.). Böhme (2001) bezieht seine Untersuchung auf die Linie des Großen Duden unter Berücksichtigung des Buchdrucker-Duden (1903, 2 1907). Steiger nennt in ihrem biographischen Artikel über Basler (2003, S. 94) themagerecht die drei von diesem im Verein mit Mühlner bearbeiteten Bände aus den Jahren 1933, 1934 und 1937. 19 19 Zur Vervollständigung der sog. ‘Kleinen’: Als auch vom Format und Umfang klein angesehen werden kann Duden (1902) (129 Seiten; Sarkowski 1976, S. 251), dessen „Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage“ 1908 (160 Seiten) und deren 4. Neudruck (nach Heller 1989, S. 99) 1911 erscheint. Bei diesem Büchlein handelt es sich um ein reines Wörterverzeichnis, um ein Orthographiewörterbuch. Die 2. Auflage von 1908 ist darin begründet, dass in Preußen (1907) der bisherige Wörterteil ersetzt wird durch das Amtliche Wörterverzeichnis für die Kanzleien (Preußen 1903), in dem die meisten der bisher geführten „Doppelschreibungen“ getilgt sind (Bach 9 1970, S. 401). <?page no="70"?> 70 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (1) Duden Kleines Wörterbuch (1915), Der Kleine Duden ( 2 1939): Erste Bestandsaufnahme 1915 Duden / / Kleines Wörterbuch der deutschen / Rechtschreibung / / Nach den für Deutschland, Österreich und die / Schweiz gültigen amtlichen Regeln / / bearbeitet von / Dr. Alfred C. Schmidt Als Bearbeiter wird Alfred C. Schmidt genannt, der letzte Bearbeiter der Duden-Rechtschreibung ( 9 1915). Die Angabe des Geltungsbereichs der zugrunde liegenden amtlichen Regeln hält sich bis hin zur 10. Auflage des Großen Duden 1929. 1) „Vorwort“ (S. III): Datiert mit „Leipzig, im Februar 1915“, unterzeichnet mit „Dr. Alfred C. Schmidt“. a) Schmidt bezieht sich auf das „alte >Orthographische Wörterbuch von Duden< [...]“ (Duden 8 1905), das „einem großem Werke [...hat] Platz machen müssen“, nämlich der Duden-Rechtschreibung ( 9 1915). Dessen Bearbeitung qualifiziere ihn neben anderen, von ihm recht ausführlich dargestellten Zeitumständen in besonderer Weise, auch diese kleine Ausgabe herauszugeben. Die Duden-Rechtschreibung aus dem Jahre 1951, in Leipzig als „Vollständig neu bearbeitete Ausgabe“ der 13. Auflage von 1947 folgend und im Vorwort der 15. Auflage als „kleinere Ausgabe des Dudens“ gekennzeichnet (Duden-Rechtschreibung l5 1957, S. V), firmierte, wohl vorwiegend in der DDR, als „der sogenannte kleine Duden“ (8. Nachdruck 1956; Heller 1989, S. 98). Diese Ausgabe trägt zwar keine Auflagenzählung, doch bildet sie, so die eine Deutung, die Übergangsform zu der ihr folgenden Auflage ( l5 1957). Als Platzhalter der Position 14 des Leipziger Duden steht sie in dessen Tradition und sichert deren Lückenlosigkeit. Entsprechend ordne ich sie als Duden-Rechtschreibung ( l4 1951) in die Linie des Großen Duden ein. Die andere Deutung ist, dass das Bibliographische Institut in Leipzig aus verlagspolitischen Gründen mit der 15. Auflage an die „von unserem westdeutschen Lizenznehmer“ neu bearbeitete und „1954 als 14. Auflage des Dudens herausgebracht[e]“ Ausgabe (Duden-Rechtschreibung 15 1957, S. V (Vorwort)) anknüpft, was Böhme (2001, S. 147) für wahrscheinlicher hält. Ebenfalls als klein können später erscheinende Bände aus den Bibliographischen Instituten angesehen werden. In Mannheim: Schülerduden (1969) (Rechtschreibung) (Sarkowski 1976, S. 287), mit der die Reihe „Schülerduden“ eröffnet wird (Sauer 1988, S. 226 gibt trotz Sarkowskis Jahresangabe 1978 an, doch die Erstausgabe ist 1969 erschienen, wie ich aus meiner Mitarbeit daran weiß); innerhalb der Reihe „Duden- Taschenbücher“ (Sarkowski 1976, S. 285) auch über Teilbereiche der Orthographie als Eröffnungsband Berger (1968) (Zeichensetzung); Mentrup (1968) (Rechtschreibung), Mentmp (1969) (Groß- und Kleinschreibung), ln Leipzig: Ewald/ Nerius (1988) (Groß- und Kleinschreibung); Herberg/ Baudusch (1989) (Getrennt oder zusammen? ). <?page no="71"?> 1933 bis 1942{-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 71 b) Für diese Bearbeitung sei ihm Dudens Wörterbuch „ein guter und ergiebiger Führer gewesen“. c) Ausführlich beschreibt er die Grundsätze für die Berücksichtigung „der letzten Drucke der amtlichen Rechtschreibbücher“ und für die Behandlung der voneinander abweichenden Schreibungen und Formen und betrachtet all dies als einen weiteren „[Schritt] aufdem Wege der Einheitsschreibung“ (Kursive WM). d) Geleitwunsch: „Möge dieser >Kleine Duden< so schnell und so allseitig beliebt werden wie seine größeren Vorgänger! “ e) Bitte um „Beiträge, die in den Rahmen des Buches passen“, sowie um „Berichtigungen“. Für beides werde er „stets dankbar sein“. f) „Leipzig, im Februar 1915.“ „Dr. Alfred C. Schmidt.“ 2) „Einrichtung des Buches“ (S. IV). 3) Zusammenstellung der verwendeten „Abkürzungen“ (S. IV). 4) Regelteil („Vorbemerkungen 1 “; S. V-XXIV): Für diesen gilt, anders als für das „alte [...] Wörterbuch“ von Konrad Duden: „' Wörtlich nach den [...] amtlichen Regeln des preußischen Regelbuches“ (S. V). Wie in diesem ist eine Zeichensetzung nicht vorhanden. 5) Wörterteil (ohne Überschrift; S. 1-192): Wie im Vorwort erörtert und entsprechend der Grundlage Duden ( s 1905) sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen amtlichen Rechtschreibbüchem verzeichnet. „Summe der Stichwörter: 21.000“ (Sauer 1988, S. 224). 1939 Der Kleine Duden / / Für die Volksschule bearbeitet / nach den für das Deutsche Reich gültigen amtlichen Regeln / / von der / Fachschriftleitung / des Bibliographischen Instituts AG. / / Zweite, / neubearbeitete und erweiterte Auflage Gegenüber dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) ist der Flaupttitel verknappt auf „Der Kleine Duden“. Im Unterschied auch zum Volks-Duden (1933) und zum Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) werden einzelne Bearbeiter, wie etwa Otto Basler, nicht genannt, sondern allgemein die „Fachschriftleitung“ (im Singular). Als Geltungsbereich der zugrunde liegenden amtlichen Regeln findet sich, wie schon 1934 und 1937 ausschließlich „das Deutsche Reich“. 1) „Vorwort“ (S. III): Datiert mit „Leipzig, im Dezember 1938.“, unterzeichnet mit „Bibliographisches Institut AG.“ <?page no="72"?> 72 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform a) „Wir schicken die vorliegende zweite Auflage des Kleinen Duden [...]“ nach der von mir kursiv gesetzten Aktualisierung folgt wörtlich der Punkt a) aus der Ausgabe von 1934 (Reichsschulwörterbuch). b) „Mit dem Kleinen Duden wollen wir, die Rcichslcitung des Nationalsozialist! sehen Lehrerbundes, die Bearbeiter und der Verlag, die Erziehungsarbeit im Sinne Konrad Dudens und des Deutschen Sprachvereins leisten. Das Buch wird dadurch zum Vorkämpfer für die Vereinheitlichung unserer Schrift- und Sprachformen.“ (Kursive WM). Die durchgebzw. unterstrichenen Teile zeigen die Änderungen gegenüber dem Punkt b) in der Ausgabe von 1934 (Reichsschulwörterbuch). Diese Änderangen korrespondieren mit dem Fehlen dieser amtlich-politischen Größe und wohl auch der Kennzeichnung „Reichsschulwörterbuch“ im Titel von 1939 gegenüber dem von 1934. c) Berücksichtigter Wortschatz. cl)„Der Wortschatz des Kleinen Duden bringt das Alltagsgut der deutschen Sprache, das allen Schichten unseres Volkes geläufig ist“; „Von dem starken und schöpferischen Sprachleben einer eroßen Zeit zeugen die Erweiterungen, die das Werk gegenüber der ersten Auflage erfahren hat.“ der „Sachbereich im weiteren Sinne“ mitsamt dem „umgebenden kulturellen oder geistigen Bezirk“, die „Welt einer höhe ren und gewählten Sprache“, „der Umkreis -fachlicher Ausdrücke aus den Berufs und Standessprachen“, „die reiche Fülle mundartlichen Gutes“; „die Umgangssprache [...] insoweit [...], daß billigen Ansprüchen wohl Genüge geleistet ist“ (Kursive WM). Die durchgebzw. unterstrichenen Teile zeigen die Änderungen gegenüber dem Punkt cl) in der Ausgabe von 1933 (Volks-Duden). c2)Der folgende Passus über das Fremdwort usw. entspricht nahezu wörtlich dem Punkt c2) von 1934 (Reichsschulwörterbuch). d) Der Hinweis auf den Großen Duden entspricht in aktualisierter Form nahezu wörtlich dem Punkt d) von 1933 (Volks-Duden), selbst wenn er wie 1934 mit „Wer mehr sucht [...]“ beginnt. e) Entspricht wörtlich dem Punkt e) von 1934 (Reichsschulwörterbuch). f) Entspricht wörtlich dem Punkt e) von 1933 (Volks-Duden). g) „Leipzig, im Dezember 1938.“ „Bibliographisches Institut AG.“ Die Punkte b) und e) dokumentieren trotz des Fehlens des N.S.L.B. in b) (wie auch im Titel) weiterhin die Verbindung mit einschlägigen Institutionen. Die Phalanx der ideologischen Beiträge und deren Autoren sind im Unterschied zu 1934 nicht im Spiel, wie auch nicht im Titel „Reichsschulwörterbuch“. Die neue Redeweise von einer großen Zeit usw. in Punkt cl) <?page no="73"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 73 ist als Anspielung sicher eindeutig, aber das ist es dann auch. Die anderen Punkte sind ideologisch-politisch neutral. 2) „Inhaltsverzeichnis“ (S. IV). 3) „Zur Einrichtung des Wörterbuches“ (S. V-VII). 4) „Verzeichnis der im Kleinen Duden verwendeten Abkürzungen“ (S. VIII-IX). 5) Regelteil („Zur Rechtschreibung“; S. X-XXV): Entspricht „dem preußischen Regelbuch“, hier datiert mit [Preußen] 1937 (S. X), aber abweichend von diesem um die Zeichen-orientiert gegliederte Zeichensetzung aus dem Reichsschulwörterbuch ergänzt (S. XXII-XXV). 6) „Übersicht der deutschen und fremdsprachigen Fachausdrücke für die Sprachlehre (S. XXVI-XXX), und zwar „A. Deutsch-Fremdsprachig“ (S. XXVI-XXVIII) und „B. Fremdsprachig-Deutsch“ (S. XXVIII-XXX). Dabei geht es insgesamt um Fachausdrücke, „die nach dem Erlaß (31. Dezember 1937) des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Deutschunterricht anzuwenden sind“ (S. XXVI). 7) Wörterteil: Titelblatt „Wörterverzeichnis“ (ohne Seitenzahlen) und dann (S. 1- 416): Entsprechend der Grundlage der 11. Auflage des Großen Duden von 1934 sind die Unterschiede zwischen den Rechtschreibbüchem Bayerns, Österreichs und Preußens in Fußnoten angegeben. (2) Die kleinen Dudenausgaben: Bestandteile und Gesichtspunkte ihrer Vorworte im Vergleich Abb. 3 (vgl. dort) gibt eine synoptische Übersicht über die Bestandteile der kleinen Ausgaben, und zwar der vier Rechtschreibbücher. Das Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘ Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe ’) (1937), als reiner Wörterteil, bleibt hier außen vor. Zu der Übersicht einige Bemerkungen. In all den Zeilen, deren Markierung in der linken Spalte fettgedruckt ist, sind die Felder durchgängig besetzt. Im Titel-Bereich (ß bis t 5 ) überrascht dies zunächst nicht. Die Einschränkung durch zunächst deshalb, weil in der Praxis Autoren oder Bearbeiter dann doch nicht so selten nicht genannt sind (vgl. z.B. Bayern '1903 bis Bayern 52 1940) und, wenn auch seltener, das Erscheinungsjahr fehlt (vgl. z.B. Bayern 1954 oder später). Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen <?page no="74"?> 74 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sind Titel und Angabe des Verlags obligatorisch. 20 Wie wichtig Titel sind und welche Spekulationen eine falsche Titelangabe auslösen kann, wird weiter unten an einem eindrucksvollen Beispiel aufgezeigt (vgl. 3.2.2). Die weiteren durchgängig geführten Bestandteile werden offensichtlich von allen Autoren als wichtig angesehen, und zwar mit Blick u.a. auf die Situierung (c), auf den Inhalt (g und k) und auf den Gebrauch (e und f) des Orthographiebuches. Das Gegenstück bilden die sechs Zeilen mit nur einem besetzten, jeweils durch Fettdruck markierten (Teil-)Feld. Von diesen betreffen allein fünf die Ausgabe von 1934, deren Besonderheit auf diese Weise auch augenfällig bestätigt wird; das sechste betrifft 1933. Schon die Singularität zeigt an, dass es sich um Bestandteile handelt, die nicht von der Orthographie als solcher her begründet und begründbar sind, sondern in einer wie auch immer gearteten Wirkungsabsicht des Autors. Es sind gewissermaßen individuell begründete Extras. 20 Der Titel dient der Identifizierung eines Buches; dies selbst dann, wenn auf der Titelseite stünde „Ohne Titel“. Die Angabe des Verlages liegt allein schon in dessen Eigeninteresse als Empfänger des Rechnungsbetrages; zudem dient sie als Adressat bei Reklamationen, was dem Verlag wohl weniger wichtig sein dürfte. <?page no="75"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie ' ■ T3 s*» 3 c« c sc c g .11JE; Ö Ä Q g a g 3 D c t: O o 73 § ^ > Q vi 4) Oß e 1 j o: •s & 12p Pi N 'o 41 •p ^ 4) GO QÄ 4> 5 S -rt 23 - OJ G § ca 4> « t T3 u CA £1 O B - 0 E “ c 1 § C SS 0) O< 'S io <D ^ 5 ps5; . . x 4> , £l cd G d £ *3 ^: X) O Gf s X X< e0ß 1 ■ g Su r- + : c i'p p Q "SOß -ÖP Q Öß a : ) I a ü - 4> ) > I o £ Abb. 3: Kleine Dudenausgaben: Bestandteile Die am Anfang der Spaltenzeile stehende Ziffer (n) gibt die Position des einzelnen Bestandteils innerhalb der in der Autopsie von 1 bis maximal 8 durchgezählten Abfolge an. = auf der Grundlage von. grundsätzlich entsprechend => übergegangen in, übernommen von => + vorhanden nicht vorhanden <?page no="76"?> 76 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Das Fehlen eines Inhaltsverzeichnisses (vgl. Abb. 3, Zeile (a), 1915 und 1934) mag vielleicht überraschen, doch ist das auch und vor allem im 19. Jahrhundert und dort insbesondere auf den amtlichen Linien so selten nicht, wenn nicht gar die Regel. So werden, und dies als Schlaglicht, auf der 2. Orthographischen Konferenz am 17. Juni 1901, d.h. gleich an dem ersten von insgesamt drei Sitzungstagen, "[g]egen die von Sachsen-Anhalt gewünschte Aufnahme eines Inhaltsverzeichnisses [...] keine Bedenken geltend gemacht“ (Beratungen 1901, S. 334); was auch heißt, dass sämtliche vorausgehenden preußischen Ausgaben seit 1880 ein solches nicht hatten. Die zentralen Bestandteile, um die sich alles dreht, sind Regelteil (g) und Wörterteil (k). Insbesondere diese beiden dienen, neben dem Titel, der Identifizierung der jeweiligen Ausgabe und, wie auch das Vorwort, der Klärung von Entsprechungen und Abhängigkeiten innerhalb dieser bunten Vier. Abb. 4 (vgl. dort) stellt einen Ausschnitt aus Abb. 3 dar. Bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Ausgaben sind jeweils graphisch markiert. Bezug darauf nehme ich weiter unten; deshalb hier nur dies: In t 2 fallt auf, dass die Ausgaben seit 1933 im Titel den bestimmten Artikel Der fuhren, mit dem, auch im Sinne der Werbung und analog zu ,JDer Große Duden“, dies zum ersten Mal in Duden-Rechtschreibung ( I0 1929), alles andere ausgegrenzt und die eigene Einzigartigkeit herausgestrichen wird; was die später durchgeführte Werbekampagne mit dem Slogan und dieser mit dem zusätzlich verstärkten Artikel „Nur der Duden ist der Duden.“ in Erinnerung bringt. Abb. 5 (vgl. dort) gibt eine synoptische Übersicht über die Gesichtspunkte der Vorworte. Entsprechungen sind kursiv gesetzt, auf wörtliche Übereinstimmungen der Auflage ( 2 1939) mit den vorangegangenen Ausgaben wird in Klammem hingewiesen. <?page no="77"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 77 QJ U r- V -d «4^ 3 cö C<v -Q G ~ Ol C < ' 1 ÖC c .5 i: o w s; s 05 II c > « 7 3 s -e § <D -O »C ai cj 2s i2 ä g § ^ ■ g<ü 05 : 3 ^ ■ 2 ^2 3 ■ i ■ a ■ § N 'S 5 O cn o; ^ I ^ T3 i Ü 3 3 ^ ^ XJ 05 ü ^ §v> o .a tü ■ S -d C 2 iS ^ ä ’S -g ^ iS § 3 ^ a> x: Q .y p o g ■ g -S Oß o 1 3 oä ? i i 3 G C ■ 2^1 " 3 @ “ o 3 S ca a J -3 co i *G* ^ § ^ s ^ 'Tn CQ _o rsT 'S o ^ u N ^ 2 •n X! w W .2 CG 3 OS p-, v Tt ä w ^c« 1 a N N a u g ft Abb. 4: Kleine Dudenausgaben: Titelseite und zentrale Bestandteile - Übereinstimmungen <?page no="78"?> 78 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Gesichtspunkte der Vorworte Erscheinungsjahr 1915(3. Ndr. 1925) 1933 1) zur Situation a) Duden fl 905) -»Duden ( 9 1915) a) Sprachwandel <-> Festlegg. gültiger RS 2) Adressaten b) Jugendliche, Schule + Haus, Erwachsene Beruf + Leben 3) 4T Grundlage b) Dudens Wb guter ergiebiger Führer c) Grundsätze des Großen Duden maßgebend amtl. Schreibungen c) Bearbeitg. Unterschiede amtl. Rechtschreibbücher = Schritt zur Einheitsschreibung 5) NS-Einbindung 6) Wortschatz [21.000 Stichwörter] [ca 30.000 Stichwörter] 6.1) allgemein dl) dt. Alltagsgut allen Schichten geläufig Sachbereich im weiteren Sinne, höhere Sprache fachliche Ausdrücke Fülle mundartl. Gutes Umgangssprache ■■ 6.2) Fremdwort d2) Worterklärung für Bedeutungsangabe breiterer Raum, Ausbau dt. Sprache kein Übergehen des Fremdlings 7) Hinweis auf mehr Informationen e) Großer Duden ( lu 1929) zu ihm will überhaupt unser Wb hinführen => R. 9) NS-Einbindung Geleitwunsch d) „Möge dieser >Kleine Duden< [.,.] 10) Bitte um e) Beiträge Berichtigungen 0 Wünsche Anregungen; 11) Ort Datum f) Leipzig Februar 1915 12) unterzeichnet mit f) Pr, Alfred C. Schmidt g) Verlag + Herausgeber Der am Anfang der Spaltenzeile stehende Buchstabe n) gibt die Position des einzelnen Bestandteils innerhalb der in der Autopsie von 1 bis maximal 12 durchgezählten Abfolge an. => übergegangen in, übernommen von =>; nicht vorhanden Abb. 5: Kleine Dudenausgaben: Gesichtspunkte der Vorworte - Übereinstimmungen <?page no="79"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie Gesichtspunkte der Vorworte 1934 1939 a) dt. Schule dt. Jugend volkstümliche Spracherziehung dt. Volk => => a) die zweite Auflage des Kleinen Duden (ansonsten wörtlich 1934) b) Reichsleitung N.S.L.B. Erziehungsarbeit Dt. Sprachverein Vorkämpfer Vereinheitlichung Schrift Sprache => => b) Reiehsleitung-N-S.L.B. (ansonsten wörtlich 1934) ca 30.000 Stichwörter cl) dt. Wortgut der Gegenwart => c\) dt. Alltagsgut allen Schichten geläufig schöpferisches Sprachleben große Zeit Erweiterungen Fülle mundartlichen Gutes Umgangssprache. (Kursives wörtlich 1933) c2) für Tagesgebrauch ausreichender Umfang, Rechtschreibformen führt in Geist und Bedeutung der Wörter, der Wortformen ein => c2) (nahezu wörtlich 1934) d) Großer Duden Hilfsbücher (Miihlner) => d2) Großer Duden ( 1937) 1. Neudruck (ansonsten nahezu wörtl. 1933) e) beteiligte Behörden ■ ■ e) (wörtlich 1934) ■ f) (wörtlich 1933) g) Leipzig Dezember 1938 f) Verlag + Herausgeber g) Bibliograph. Institut AG. <?page no="80"?> 80 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Zu Abb. 5 hier nur dies: Die Besonderheit des Reichsschulwörterbuchs von 1934 zeigt sich auch hier in dem nationalsozialistischen Hintergrund schon bekannter Größen (Zeilen 5 und 8), was sich 1939, leicht modifiziert, wiederholt. Auch die Angaben in den Zeilen 2 und 6.2 von 1939 sind Anleihen aus 1934, während die in den Zeilen 6.1, 7 und 10 mit denen im Volks- Duden (1933) übereinstimmen. Das Vorwort von 1939 erweist sich, so der erste Eindruck, als Kompilation oder auch als Konglomerat von Teilen aus den Vorworten aus den Jahren 1933 und 1934. (3) Die kleinen Dudenausgaben: Spielwiese (ortho)graphischer Gestaltung Einige allgemeinere Feststellungen und Folgerungen auch vor dem Hintergrund der Abb. 3 bis 5. n+1 Neubearbeitung oder 2. Auflage von n: Nach Müller (1994, S. 118) „handelt [es] sich [beim Volks-Duden (1933); WM] um eine Neubearbeitung“ des Bandes „Duden. Kleines Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung“ von „1915 letzte Auflage“, dessen 3. Neudruck 1925 erscheint. Als bestätigendes Indiz könnte man, wenn auch nur mühsam, vielleicht noch den Untertitel von 1933 ,JVeues deutsches Wörterbuch“ (Kursive WM) heranziehen. Doch das Vorwort von 1933 enthält nicht nur keinerlei Rückbezug, sondern klingt wie ein Neuanfang. Zudem sind die zentralen Bestandteile mit Blick auf Darreichungsform, Umfang und Inhalt sehr unterschiedlich. Ein ähnlicher Vorbehalt ist anzumelden, wenn Götze in anderer Richtung meint, der Kleine Duden von 1934 sei „innerlich gegen den Volksduden kaum verändert“ (1934, S. 428) und wenn 60 Jahre später Müller, bezogen auf diesen, variiert: „Unter Beibehaltung des gleichen Wörterverzeichnisses, aber mit neuem Titel (und Vorwort) wird das Buch 1934 neu auf den Markt gebracht“ (1994, S. 118). Das mag angesichts des gleichen Duos der Bearbeiter ja nahe liegen und bezogen auf den Haupt-Wörterteil ist es auch zutreffend, doch auch hier gibt es im Vorwort keinerlei Rückbezug und die Regelteile sind sehr unterschiedlich. Zudem ist die Ausgabe von 1934 politisch völlig anders situiert, ideologisch-innerlich völlig anders, d.h. der neuen Zeit gemäß eingestellt. Eindeutig als „die zweite Auflage des Kleinen Duden“ stellt sich die Ausgabe von 1939 vor. Die Anleihen aus dem Vorwort des ebenfalls „Kleinen Duden“ von 1934 (Reichsschulwörterbuch) im Vorwort von 1939 sind ge- <?page no="81"?> 1933 bis 1942{-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 81 genüber denen aus dem Vorwort von 1933 (Volks-Duden) nicht nur vom Umfang her größer, sondern auch vom Inhalt her entschieden gewichtiger einschließlich der ideologisch-politischen Passagen. Die preußischen Regeln in den Regelteilen 1934 und 1939 sind gleich wie nahezu auch die Regelung der Zeichensetzung. Der Geltungsbereich der zugrunde gelegten amtlichen Regeln wird übereinstimmend mit „das Deutsche Reich“ abgesteckt. Unterschiedlich nicht nur vom Umfang her sind die beiden Wörterteile. Während nur 1939 die Unterschiede der amtlichen Rechtschreibbücher aufwändig verzeichnet sind, enthält 1934, neben der Phalanx einschlägiger Autoren mit ihren stark ideologischen Texten, das Verzeichnis der nationalsozialistischen Ausdrücke. Jene treten 1939 nicht auf und auch das separate Verzeichnis gibt es nicht; trotzdem ist, wie sich weiter unten zeigen wird, die ideologische Nähe zwischen den beiden Ausgaben weitaus größer, als sie bei diesem ersten Befund erscheint. Rückblickend sei angemerkt: Aus Müllers oben referierter Sicht ergibt sich als Trias der Abfolge und der Stufen der Bearbeitung: Kleines Wörterbuch (1915); Neubearbeitung —> Volks-Duden (1933); Gleiches Wörterverzeichnis, aber mit neuem Titel (und Vorwort) neu auf den Markt gebracht —> Kleiner Duden (1934). In der Fortsetzung wäre Der Kleine Duden ( z 1939) die vierte Stufe, doch auf diese „Zweite [...] Auflage“ geht sie in diesem Zusammenhang (Müller 1994, S. 117-121) nicht ein. Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe'’) (1937) lässt sich gegenüber den beiden Rechtschreibbüchern von 1933 und insbesondere von 1934 als Reduktion rein auf den Wörterteil verstehen mit einer Textsortenänderung als Folge. Amtliche Rechtschreibregelung: Alle Werke sind „nach den [...] gültigen amtlichen Regeln“ bearbeitet, wie die Titelseiten einhellig angeben; wobei der Geltungsbereich dieser Regeln in den Ausgaben von 1915 und 1933 auch Österreich und die Schweiz umfasst, in denen von 1934, 1937 und 1939 jedoch ausschließlich das Deutsche Reich. In den vier Vorworten erfährt man nur in der Ausgabe von 1915, dass es eine amtliche Rechtschreibregelung gibt. In den drei anderen dominiert als empfohlene Bezugsgröße und mit dem Hinweis auf mehr Informationen im Hintergrund der Große Duden ( 10 1929) bzw. ("1934). Im Regelteil kommt die orthographische Amtlichkeit 1915, 1934 und 1939 mit dem Abdruck der als solche ausgewiesenen preußischen Regeln authentisch ins Spiel; 1933 werden (im Vorwort) die Grundsätze des Großen Du- <?page no="82"?> 82 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform den ( 10 1929) zwar explizit als maßgebend bezeichnet, doch werden, wie in diesem, anfangs des Regelteils die amtlichen Regelungen in Preußen, Bayern und Österreich als „Unterlage der Rechtschreibung“ vorgestellt. So wie es sich bisher darstellt: Auch die kleinen Dudenausgaben repräsentieren durchgängig, wenn 1933 auch in Duden-spezifischer Darreichung mit dem einschlägigen Anspruch, die amtliche Regelung; was 1915 und 1939 auch für den Wörterteil gilt, in welchem die Unterschiede der zugrunde gelegten amtlichen Rechtschreibbücher minutiös in einer Fülle von Anmerkungen verzeichnet sind. Doch im Volks-Duden (1933) und in Folge im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und im Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politischsoldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) ist dies anders. In deren Wörterteilen habe ich Hinweise auf amtliche Unterschiede nur durch Zufall gefunden (so im Wortartikel Zepter „B. [= Bayern; WM] auch: Szepter“; vgl. auch unten „Neue Wörter“). Durch die weitestgehende Ausblendung der amtlichen Regelungsunterschiede erscheint 1933 und 1934 wie auch 1937 der Wörterteil als Duden-autark. Dies ist deshalb besonders hervorzuheben, weil der Wörterteil der wichtigste Bestandteil für den Benutzer ist, denn dieser sucht seinen Zweifelsfall, der gewöhnlich die Schreibung eines Einzelwortes betrifft, in der Regel durch das Nachschlagen im Wörterteil zu lösen; wobei er hier nicht erfährt, dass es so etwas wie eine amtliche Regelung gibt. Damit ist auf der Linie der kleinen Dudenausgaben im Wörterteil das vorweggenommen, was auf der Linie des Großen ca. 20 Jahre später, nämlich 1951 in Leipzig und in Folge 1954 in Wiesbaden jeweils in der 14. Auflage, in allen Bestandteilen durchgeführt und konsequent vollendet wird. Laut-Buchstaben-Zuordnungen: Mit dem Abdruck der preußischen Regeln in den kleinen Dudenausgaben von 1915, 1934 und 1939 wird auch die ausführliche Darstellung der Phonem-Graphem-Korrespondenzen komplett übernommen. Dies ist insofern bemerkenswert, als die jeweiligen parallelen Auflagen des Großen Duden aus diesem umfangreichen Teilbereich praktisch nur die Fallgruppe um Schißfifahrt regeln, was seit Duden (1880) vorgegeben ist und auf der westdeutschen Dudenlinie von ( l3 1947) über ( l4 1954) bis in die Gegenwart beibehalten wird. <?page no="83"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 83 Für die Leipziger Auflage ( 14 1951) stellt Böhme (2001, S. 143) eine „deutliche Zunahme an Regelexplikationen“ auch für diesen Bereich fest. „Erstmals in der Dudengeschichte stand der Umfang der Kodifikationen zu den PGB [Phonem-Graphem-Beziehungen; WM] denen im pRb [preußischen Regelbuch; WM] 1902/ 41 kaum noch nach.“ Dies ‘erstmals 1951’ trifft nur für die Geschichte des Großen Duden in Leipzig zu. Auf der Linie der kleinen Dudenausgaben fallt das ‘erstmals’ bereits in das Jahr 1915. Zeichensetzung: Im Kleinen Duden (1915) ist sie nicht behandelt, was auf der Dudenlinie von ( 8 1905) zurück bis (1880) Tradition hat, und auch auf vielen der amtlichen Linien wie etwa Preußen (1880) bis (1941) und längere Zeit auch bei den Bemühungen um eine Reform. Die Interpunktion: „Stiefkind der Orthographie und ihrer Reformer“ (Mentrup 1983, S. 6). Wie im Großen Duden ( 9 1915) und ( lw 1929) ist im Volks-Duden (1933) und dann im Großen ( n 1934) die Anordnung der Regeln Funktions-orientiert nach Positionen. Im Kleinen Duden (1934) und entsprechend der Übernahme in ( 2 1939) ist sie hingegen Zeichen-orientiert nach den einzelnen Zeichen. Auch hier ist der Kleine Duden Wegbereiter des Großen; denn in dessen Auflage ( l2 1941) ist diese Anordnung dann ebenfalls durchgefuhrt und in der Auflage ( 13 1947) beibehalten. Auf der westdeutschen Dudenlinie hält sie sich bis ( 17 1973). 21 Neue Wörter - Schreibvarianten: Gegenüber der 10. Auflage des Großen Duden von 1929 sind mir im Volks-Duden (1933) und entsprechend auch im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und im Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) als neuer Eintrag Couch sowie als neue Schreibvarianten Kraul und kraulen neben bisher nur Crawl und crawlen aufgefallen. Alle drei finden sich dann im Großen Duden ( ll 1934). Gleiches gilt, das zeigt eine systematische Untersuchung weiter unten, u.a. für Völkerball, Volksherrschaft sowie für Arbeitsdienst. Bei Creme wird gegenüber der seit Duden ( 3 1887) bis Duden-Rechtschreibung ( lü 1929) geführten Bedeutungsangabe ‘Schaumgericht; das Beste, Erlesenste’ im Volks-Duden (1933) wie im Kleinen Duden (1934), (1937) und ( 2 1939) „Creme (Schaumspeise; Pomade; das Erlesenste)“ -gericht durch -speise ersetzt, das Beste gestrichen und mit Pomade das Be- 21 Vgl. ausführlicher Mentrup (1983, S. 2-6; 1985b, S. 71-76; 1989a, S. 93f.). <?page no="84"?> 84 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform deutungsspektrum erweitert, mit Auswirkung auf die Auflagen des Großen Duden: ( n 1934) „Schaumspeise; Toilettensalbe; das Erlesenste“. In ( 12 1941) und in ( 13 1947) ist Toilettensalbe durch Hautsalbe ersetzt. Im Kleinen Duden ( 2 1939) ist für Weinbrand nur noch die Schreibung Kognak und nicht mehr Cognac verzeichnet, wie dann in Folge auch in den Auflagen des Großen Duden ( 12 1941) und ( 13 1947). Ein Zufallsfund in Böhme (2001), dessen detailliertes Kapitel 5 ich nicht mehr berücksichtigen konnte, hat mich auf die Varianten Kupon und Kusine neben den amtlichen Schreibungen Coupon und Cousine gebracht. Von Duden ( 8 1905) an bis zur Duden-Rechtschreibung ("1934) und im Kleinen Duden ( 2 1 93 9) 22 sind die Cow-Schreibungen als (noch) amtlich bzw. die entgegen der amtlichen Festlegung hinzugefügten K«-Schreibungen als (noch) nicht amtlich ausgewiesen. Nach Böhme „werden die integrierten Formen in D[uden; WM] 12 1941 [... dann; WM] als gleichberechtigte Varianten zu Coupon und Cousine aufgeführt“ (Böhme 2001, S. 387). Dies trifft nur für Cousine - Kusine (wie auch für Coupe - Kupee) zu, denn bei Coupon findet sich noch 1941 die Fußnote „So noch amtlich.“ Zudem sind auch hier der Volks-Duden (1933) und entsprechend der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und das Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) Vorläufer, z.B. Coupon, Kupon - Kupon s. Coupon. Dadurch angeregt ergab eine Stichprobe: Die von Böhme (2001, S. 392) in Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) gegenüber Preußen (1940) und dem Großen Duden ( 12 1941) beobachtete Streichung der amtlichen Schreibungen Comptoir und Ordre und damit die Reduktion auf Kontor und Order hat ihren Vorläufer im Volks-Duden (1933) und damit im Kleinen Duden (1934) und (1937), und zwar hier gegenüber Duden ( 20 1929) und Preußen (1932). Entsprechend auch im Leipziger Duden ( 14 1951). Grammatisches: Im Volks-Duden (1933) sind die grammatischen Abschnitte aus der Vorlage, dem Großen Duden ( 10 1929), nicht in den Regelteil übernommen. Die Bearbeiter sind, wie übrigens auch die Bearbeiter der amtlichen Rechtschreibbücher seit jeher, offensichtlich der Meinung, dass ein Orthographiebuch auch ohne Grammatisches auskommt, zumindest was den 22 Bei diesem sind nach meinem Eindruck in diesem Bereich bestimmte Fußnoten verrutscht. <?page no="85"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 85 Regelteil betrifft. Und es ist ja auch wirklich so, dass z.B. die Deklination der Adjektive und der Substantive mit der Orthographie als solcher nichts zu tun und diese mit jener nichts am Hut hat. Das sehen offensichtlich auch die Bearbeiter der drei anderen kleinen Ausgaben von 1915, 1934 und 1939 so, die die preußischen Regeln einfach übernehmen und in dieser Hinsicht so belassen. Halten sich die von Konrad Duden 1880 grundgelegten grammatischen Abschnitte auf der Linie des Großen Duden auch bis zur 21. Auflage von 1996 hin, so schließen sich, wenn höchstwahrscheinlich auch unbewusst, die Bearbeiter des Großen Duden erst über 60 Jahre bzw. 85 Jahre später in der 22. Auflage von 2000 der Meinung ihrer frühen Vorgänger an. Einzelvorschriften für den Schriftsatz: Ein entsprechender Abschnitt findet sich als eine Hinterlassenschaft aus dem Buchdrucker-Duden ( 2 1907) auf der Linie des Großen Duden seit der Auflage ( 9 1915). In allen vier kleinen Dudenausgaben ist ein solcher nicht vorhanden, was man mit dem praktischen Gesichtspunkt des handlichen Umfangs in Verbindung bringen kann und sich auf jeden Fall aus der in dieser Hinsicht berücksichtigten Interessenlage der angepeilten Benutzergruppen erklärt. Am bewusstesten mag der Verzicht auf diesen Abschnitt im Volks-Duden (1933) erfolgt sein, da die Bearbeiter von der Duden-Rechtschreibung ( 10 1929) ausgingen. Wenn Böhme (2001, S. 143) diesen Verzicht auch in der 14. Leipziger Auflage von 1951 feststellt und ihn als neu kennzeichnet, so ist dies auf der Linie des Großen Duden zutreffend; doch vorgegeben ist auch dies auf der Linie der kleinen Ausgaben seit 1915 und insbesondere im Volks-Duden (1933). Druckbild und Anordnung der Lemmata: Bezogen auf den Volks-Duden (1933) hebt Matthias hervor: „Die Seiten des Wörterverzeichnisses zeigen einen Spiegel von seltener Klarheit: Fettdruck für die Schlagwörter und übersichtliche, streng abeceliche Gliederung beigefügter [...] Ableitungen und Zusammensetzungen“ (1933, S. 199); wobei durch den Fettdruck „[ejinzeln stehende Stichwörter und jeweils das erste Stichwort jeder Wortgruppe [...] hervorgehoben [sind]“ (Volks-Duden 1933, S. 9*). Nach Götze behält die Ausgabe des Kleinen Duden (1934) „in Druckbild und Gliederung die vorbildliche Klarheit von 1933 bei“ (Götze 1934, S. 428); was allerdings nicht überraschen kann, da 1934 der Wörterteil von 1933 so, wie er vorlag, schlicht übernommen ist, was sich in der Reduktion auf ihn im Duden- Rechtschreibwörterbuch (1937) dann fortsetzt. <?page no="86"?> 86 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Vergleicht man exemplarisch den Artikel Volk im Volks-Duden (1933) mit dem in der Duden-Rechtschreibung ( 10 1929) (vgl. im Folgenden Abb. 6 die jeweils entsprechenden Spalten), so zeigt sich schnell, dass im Volks-Duden neben dem Fettdruck (Merkmal a) und neben der streng alphabetischen Anordnung (b) als drittes hinzukommt, dass alle Stichwörter ausgeschrieben sind (c). 23 Auch auf der Linie des großen Duden ändern sich im Verlauf der Zeit Druckbild und Anordnung, doch erinnert all dies sehr stark an die Geschichte von dem Hasen und dem Igel. Geben dem Großen Duden ( n 1934) dessen „Verbesserungen in der Druckanordnung auch fürs Auge den Vorzug vor allen älteren“ (Victor 1935, S. 55), so besteht dieser Vorzug in den fettgedruckten Einzel- und Erststichwörtem, was als Merkmal (a) 1933 und 1934 bereits vorgegeben ist. Wenn Müller für den Großen Duden ( 12 1941) feststellt: „Das Wörterverzeichnis, das bisher nestalphabetisch aufgebaut war, ist nun in strikt alphabetischer Lemmatisierung angeordnet“ (Müller 1994, S. 116) 24 , und wenn in derselben 23 So neu sich das auch darstellt, manches Neue ist dann doch so neu nicht. So zeichnen die Merkmale b) strikt alphabetisch und c) Stichwörter ausgeschrieben schon Duden (1880; Orthographisches Wörterbuch) aus. Vertraut man in diesem Falle einmal Sauer (1988), so hält sich hier das Merkmal b) bis Duden ( 3 1887) und das Merkmal c) bis Duden ( 8 1905) (Sauer 1988, S. 57-63). Beide Merkmale finden sich dann auch oder noch in Duden ( 2 1908; Orthographisches Wörterverzeichnis) und auch in der kleinen Dudenausgabe (1915, 1920 und 1925). 24 Die Verkleinerungsformen auf -chen und -lein, als gleichberechtigte Wortformen durch ein Komma getrennt wie Völkchen, Völklein, werden in der Auflage ( 12 1941), anders als in (" 1934) und ( 10 1929), nur noch an der alphabetischen Stelle der ersten, nämlich Völkchen, geführt, und nicht mehr auch an der von Völklein. In Sauer (1988) erscheint mir einiges als merkwürdig. So versteht er unter „markiertem Eintrag“ (auf S. 26) „ab >Duden 10< [auch; WM] halbfettgedruckte [...] Wörter“, die jedoch, auch nach ihm (auf S. 65, 66), auf der Linie des Großen Duden nicht in ( 10 1929), sondern erst in der Auflage (' 1 1934) zu finden sind. So ordnet Sauer (auf S. 28) die strikt alphabetische Anordnung erst der 14. Auflage von 1951 (Leipzig) bzw. der von 1954 (Wiesbaden) zu. Bezogen aufjene behält er (auf S. 69) diese Kennzeichnung bei, bezogen auf diese spricht er jedoch (auf S. 70) nur von alphabetisch; wie auch mit Bezug einerseits auf die Auflagen ( 10 1929) und ("1934) (S. 65, 66) und andererseits auf den Kleinen Duden (1934) (S. 225). So kennzeichnet er die mit zwei senkrechten Strichen markierten Wörter als dem Haupteintrag, dem Hauptstichwort untergeordnete Wörter (u.a. S. 26-27, 59-68), während in den <?page no="87"?> 1933 bis 1942{-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 87 Auflage der Anfangsbuchstabe des zweiten Bestandteils die Einrichtung von kleineren Stichwortgruppen mitbestimmt, so ist beides als Merkmal (b) bzw. (d) schon seit 1933 und/ bzw. 1939 vorhanden. Und wenn Sauer (1988, 27) für den Leipziger Duden ( 14 1951) zutreffend feststellt, dass alle Stichwörter ausgeschrieben sind, so ist auch dies, und zwar als Merkmal (c), seit 1933 auf der Linie der kleinen Dudenausgaben durchgeführt. „De Lehre [... auch; WM] uut disser Geschieht is“: „Ick bün all hier.“ (Brüder Grimm 2 1985, S. 712). Werbung: „Der Volks-Duden“: Der Duden für das Volk - Dieses Motiv wird in der damaligen Zeit auch im Sinne der Werbung mehrfach variiert (vgl. unten 1.1.2.3). Dass auch nach dem Kriege Volksnähe, und diesmal vom Großen Duden (1951) in Leipzig und ( 14 1954) in Wiesbaden, gesucht bzw. für diesen beansprucht wird, wird weiter unten eingespielt (vgl. 3.1.3.1). An Allgemeinem lässt sich Viererlei feststellen: Die kleinen Dudenausgaben von 1915 bis 1939 bilden nicht nur eine Linie in zeitlicher Abfolge, sondern sie stiften darüber hinaus eine eigene strukturelle und inhaltliche Tradition. Deren Stabilität hat natürlich viel mit dem gemeinsamen Gegenstand, mit der amtlich festgelegten Rechtschreibung auch in der auf der Dudenlinie bearbeiteten Form, zu tun und ist in dessen vorgegebener immanenter Sachlogik be- oder gegründet. Dudenbänden von den Stichwörtern innerhalb der Wortgruppen die Rede ist, die auf diese Weise getrennt werden (vgl. u.a. Kleiner Duden 2 1939, S. V). So konstatiert Sauer: „[...] das Prinzip, Wortgruppen zu bilden, ist 1951 völlig aufgegeben worden“ (Sauer 1988, S. 28); doch heißt es noch 1954: „Manche Stichwörter sind in Wortgruppen, die denselben Wortstamm haben, zusammengefaßt. Gelegentlich sind längere Wortgruppen der Übersichtlichkeit wegen in kleinere zerlegt.“ (Duden-Rechtschreibung 14 1954, S. 2). <?page no="88"?> 88 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Großer Duden ( 10 1929) Volks-Duden (1933) Kleiner Duden Großer Duden ( ,l 1934) Volk* volkarm IlVölkchen, Völklein* Völkerubund, ukunde, urecht, uschlacht usw. IlVölkerbundsupolitik, utagung, [...] Ilvolkhaft HVolkheit llvolkheitlich llvölkisch llvolklich IlVölklein, Völkchen* volkurcich HVolksudichümg, uentscheid, ufreund, ugunst, uhochschule, ukirche, ukommissar, ukomtnissariat, ukunde, ukundler, ulied, umasse, unähe, upartie, uschule, ustoff, ustück, uverband, uverbundenheit, uweise, uwirtschaft, uzählung usw. Ilvolkskirchlich llvolkskundlich llvolksmäßig HVolkstum IlVolkstümlichkeit HVolkswirtschaftsulehre, urat usw. (1934) + (1937) Volk »Völkerball »Völkerbund IlVölker-kunde IlVölkerleben »Völkerrecht »Völkerschlacht »Völkerwanderung »Volkheit llvölkisch (volklich) llvolklich »Volksabstimmung »Volksbegehren »Volksbuch »Volksentscheid IlVolksherrschaft »Volkshochschule »Volkskunde llvolkskundlich »Volkskunst »Volkslied »Volksschule »Volksschüler »Volksschülerin »Volksschullehrer »Volkstum »volkstümlich »Volkstümlichkeit »Volksvertreter »Volksvertretung »Volkswirtschaft »volkswirtschaftlich »Volkszählung Volk* volkarm »Völkchen, Völklein* Völker ball, ubund, ukunde, uleben, urecht, uschlacht, uwanderung usw. [...] Ilvolkhaft »Volkheit llvolkheitlich llvölkisch, aber: Völkischer Beobachter (Zeitung) llvolklich IlVölklein, Völkchen* volkreich llvolksukirchlich, ukundlich umäßig, unah, usprachlich, utümiich, uverbunden, uwirtschaftlich IlVolksubildung, ubuch, udichte, udichtung, uentscheid, ufeind, ufreund, ugeist, ugemeinschaft, ugenosse, ugericht, ugerichtsbarkeit, ugesundheit, uheer, uhochschule, ukirche, ukunde, ukundler, ukunst, uleben, ulied, unähe, upartie, urecht, uschädling, uschule, uschüler, uschülerin, uschullehrer, usprache, ustück, utracht, uverband, uverbundenheit, uweise, uwirtschaft, uwohl, uzählung usw. »Volkstum IlVolkstümlichkeit »Volkstum[s]kunde »Volks= und Staats / eind IlVolkwirtschaftsulehre usw. IlVolkwerdung Auslassungen etwa grammatischer Angaben und Änderungen, die der Systematik entsprechen, sind nicht gekennzeichnet. * = Der folgende Absatz ist bedingt durch ein ‘vofc-frerndes’ Zwischenstichwort, das hier ausgelassen ist. Abb. 6: Auszug aus dem Artikel Volk. Graphisches <?page no="89"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie Kleiner Duden ( 2 1939) Großer Duden ( 12 1941) Volk* Volk llvolkarm HVölkchen, Völklein llvolkeigen Völkerball IlVölkerbund HVölkerbundstagung HVölkerkunde [...] volkhaft HVolkheit llvolkheitlich völkisch ; -er Staat, aber: Völkischer Beobachter (Zeitung; Abk. VB.) Ilvolklich Völklein, Völkchen Ilvolklich, völkisch Volksabstimmung HVolksaufklärung Volksbegehren IIvolksbewußt I (Volksbildung HVolkbildungswerk volksdeutsch ; -es Blut IlVolksdeutsche (die zum deutschen Volk gehörigen Bewohner der Erde) [...] Volksempfänger [...] HVolksentscheid Volksfeind; Volks= und Staatsfeind llvolksfremd IlVolksfremde [...] Volksganze IlVolksgasmaske (Abk.: VM.) HVolksgeist HVolksgemeinschaft [...] Volksheer (auf der allgemeinen Wehrpflicht aufgebautes Heer) HVolksherrschaft HVolkshochschule L...| Volksinsel (Sprachinsel) Volkskameradschaft IlVolkskanzler IlVolkskunde HVolkskundler [...] Volksleben HVolkslehre [...] HVolkslied volksmäßig llvolksnah HVolksnähe Volksordnung (Gesamtheit der Maßnahmen gegen den Verfall eines Volkes) Volksrecht (dem gesunden Rechtsempfinden des Volkes entsprechendes Recht) Volksschädling HVolksschule HVolksschüler HVolksschülerin [...] Volkstanz HVolkstod IlVolkstracht HVolkstum [...] Ilvolkstümlich [...] Volksverband llvolksverbunden [...] Volkswagen HVolkswagenlehrling HVolksweihnacht IlVolkswirtschaft [...] Volkszählung Volkwerdung (Zusamtnenfinden zu einem von einheitlichem Willen beseelten Volk) volkarm HVölkchen, Völklein* Völkeruball, jbund, HVölkerbundsutagung HVölkerukunde [...] volkhaft HVolkheit llvolkheitlich HVolkheitskunde völkisch; aber: Völkischer Beobachter (Zeitung; Abk. VB.) Ilvolklich* volklreich Volksuabstimmung, uaufklärung Volksubegehren, ubeglücker, ubeglückung llvolksubewußt, [...] volksdeutsch (dem Volkstum [nicht der Staatsangehörigkeit] nach deutsch) [...] Volksuempfänger [...],uentscheid, Volks feind llvolksfremd HVolksufremde Volksuganze, ugasmaske (Abk.: VM.), ogeist, ugemeinschaft, ugenosse (Abk.: Vg.), ugericht [...] Volksuheer, uheld. uherrschaft uhochschule, uinsel Volkswkanzlcr, ukartei, ukirche IIvolkskirchlich HVolks^kunde [...] Volks jleben. jlied volksmäßig HVolksumittelschule, umund llvolksnah HVolksnähe Volksuordnung, opflege. upflegerin, urecht Volksuschädling, uschauspiel, uschule. uschüler, uschülerin [...], Ilvolkssorgerisch [...] Volksutanz, utod, utracht, utum Ilvolkstümlich Volksuverband llvolksverbunden [...] Volksuwagen HVolkswagenwerk HVolksuweise [...] Volkszählung Volkwerdung (Zusammenfinden zu einem von einheitlichem Willen beseelten Volk) <?page no="90"?> 90 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Innerhalb des auf diese Weise eingezäunten Feldes, auf dieser ‘Spielwiese’, werden bestehende Freiräume in größerem Umfange als beim Großen Duden, der in diesem Zusammenhang irgendwie als ‘alte Tante’ erscheint, auch experimentell genutzt für die Gestaltung der Darreichungsform; was zu einer relativ großen strukturellen, inhaltlichen und formalen Variabilität führt und zu unterschiedlichen Abhängigkeiten und Entsprechungen der Ausgaben vonbzw. untereinander. Es werden auf dieser Linie der kleinen Ausgaben durchgespielte Darreichungsvarianten und über die Zeit hin entwickelte Verbesserungen auf der Linie der großen übernommen, so u.a. bei der Zeichensetzung und beim Druckbild in der 12. Auflage von 1941. Insbesondere beim Volks-Duden (1933) und entsprechend beim Kleinen Duden (1934) und (1937) deutet sich hinsichtlich des Wörterteils ein großer Einfluss auf den Großen Duden an, den systematisch zu untersuchen ebenso reizvoll wäre wie es hier zu tun nicht möglich ist. Jedenfalls wird, bezogen auf die Ideologisierung, der starke, ja: maßgebende Einfluss des Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) unten im folgenden Abschnitt nachgewiesen. Die kleinen Dudenausgaben: In mancherlei Hinsicht Wegbereiter des Großen Duden. Und wenn es im Vorwort des Volks-Duden (1933) und entsprechend durch die Übernahme in dem des Kleinen Duden ( 2 1939) heißt: „Zu ihm [dem Großen Duden; WM] will überhaupt unser Wörterbuch hinführen.“, so lässt sich diese Absichtserklärung vor dem oben gezeichneten Hintergrund als hintersinnig und, ja eben: als hintergründig auslegen. Die Frage ist, wohin das alles auf Dauer noch fuhren kann oder auch führt. Wir werden sehen. 1.1.2 Der Volks-Duden (1933), Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) + Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politischsoldatische Fortbildungsausgabe’) (1937), Der Kleine Duden ( 2 1939): Ideologisierung - Mit Auswirkungen auf den Großen Duden Sauer (1988) und Müller (1994) konzentrieren sich bei der Bearbeitung des Themas „Die Nazifizierung des Dudens“ (so Sauer 1988, S. 120) auf die beiden Auflagen des Großen Duden ( n 1934) und ( i2 1941) auch im Vergleich mit der Auflage ( 10 1929) und stellen insgesamt einen starken Anstieg der <?page no="91"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 91 Ideologisierung fest, demonstriert an der größeren Zahl ideologisch besetzter Ausdrücke in der jeweiligen Folgeauflage. Entsprechend wird im Anschluss an Sauer (1988) in der Literatur die Duden-Rechtschreibung ( u 1934) allgemein als der ‘Nazi-’ oder ‘NS-Duden’ gekennzeichnet, so aus der Reihe der Bände des Großen Duden in besonderer Weise hervorgehoben und stigmatisiert und dies dann insbesondere auch auf die Auflage ( l2 1941) übertragen. Die kleinen Ausgaben spielen in diesem Zusammenhang allenfalls eine marginale Rolle. Müller berücksichtigt, neben Wörterbüchern aus anderen Verlagen, nur gelegentlich auch den Volks-Duden (1933), den Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939), während Sauer sich hier mit dem von 1934 begnügt. 25 Bezogen auf die kleinen Ausgaben und unter Berücksichtigung der Ergebnisse von Sauer und Müller geht es im Folgenden zum einen um die über die Zeit hin stufen- oder schubweise erfolgende Durchsetzung durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’, um die ideologische Infiltration der Wortkomponente (vgl. 1.1.2.1); im Weiteren um die ideologische Überhöhung, um den der Orthographie als solcher in Umtexten übergestülpten nationalsozialistischen Überbau (vgl. 1.1.2.2). Das Ergebnis ist, dass der sog. Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) dem großen Bruder aus dem gleichen Jahr in ideologischer Hinsicht nicht nur das Wasser reicht, sondern ihm nachgerade den Rang abläuft, ihm gewissermaßen den ideologischen Schneid ab- 25 Glunk beschränkt sich in seiner Studie über die nationalsozialistische Sprachlenkung bezüglich der Dudenwerke jener Zeit in dem ersten und dritten von insgesamt 12 Folgeartikeln an insgesamt fünf Stellen ausschließlich auf die Auflage ( n 1934) und offenbar auf die Normalschriftausgabe ( ,2 1942) und bezieht zum Vergleich auch die Auflage ( 10 1929) mit ein (Glunk 1966, S. 67; 1967. S. 86, 89, 94, 101). Diese Informationen verdanke ich Ilona Ewald (IDS). Flaß-Zumkehr (2001) nennt, auch sie neben Wörterbüchern aus anderen Verlagen, „den Großen Duden Rechtschreibung von 1941 und 1942“ (S. 209), d.h. die 12. Auflage als Ausgabe in Frakturschrift bzw. in Normalschrift. Wenn sie einerseits Einträge wie Frauenschaft, Volksempfänger und Hitlergruß als im Wörterteil von 1941 „verzeichnet“ führt (S. 211) und andererseits solche wie Volkwerdung, Volksschädling und Kriegsschuldlüge dem Wörterteil von 1942 zuordnet (S. 212, 215), so entsteht der Eindruck, als habe es auch zwischen diesen beiden einen weiteren Anstieg der Nazifizierung gegeben; doch inhaltlich sind beide nahezu identisch (zur Erklärung des nahezu vgl. unten 1.1.3.2 (2)). Bezogen auf den Großen Duden ( n 1934) legt sie die Auskunft, in diesem seien „[...] >auch Buchstabenwörter wie NSBO [...] aufgenommem [...] (zit. in Senya Müller 1994, S. 112)“, dem Bearbeiter Otto Basler in den Mund (Haß-Zumkehr 2001, S. 212), doch stammt sie aus der Rezension Vietor (1935) (vgl. Müller 1994, S. 113). <?page no="92"?> 92 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform kauft wie in der Fortführung dann auch der Kleine Duden ( 2 1939) dem Großen von 1941 (vgl. zusammenfassend 1.1.2.3). Die insgesamt festgestellte Fülle ideologischer Leitbegriffe sowie die verschiedenen Rollen, die ‘der Führer’ in diesem orthographischen Spiel einnimmt bzw. in denen er ins Spiel gebracht wird, sind Anlass genug, allgemeinere Aspekte und Strukturen aufzuzeigen, die mit dem Phänomen der Ideologisierung Zusammenhängen auch zu verstehen als schlaglichtartige Erhellung des ideologischpolitischen Hintergrundes von weiter unten dargestellten Ereignissen und Zusammenhängen (vgl. 1.1.2.4). 1.1.2.1 Ideologische Infiltration: Wortkomponente Der hier ideologische Infiltration 26 genannte Sachverhalt bezieht sich auf die Wortkomponente der Orthographiebücher und zielt ab auf deren jeweils spezifischen Anteil an nationalsozialistischem ‘Wortgut’ als Resultat; wobei die Wortkomponente, so die Vorstellung, die (Wort-)Beispiele im Regelteil und die Einträge im Wörterteil umfasst. (1) Regelteil - Zeichensetzung: (Wort-)Beispiele Beispiele aus den Regelteilen der Auflagen ("1934) und ( 12 1941) des Großen Duden hat Müller (1994, S. 12Iff.) untersucht. Doch anders, als es sich bei ihr darstellt, beginnt die ideologische Aktualisierung durch neu aufgenommene nationalsozialistisch geprägte Beispiele auf dieser Linie im Grunde erst in der Auflage ( 12 1941). Die vier von Müller eingangs angeführten vermeintlichen Erstbelege (S. 12lf.) aus der Auflage ("1934) sind in dieser nicht neu und damit für sie nicht spezifisch. Drei von ihnen finden sich im Volks-Duden (1933), alle vier im Großen Duden ( 10 1929) und einer von ihnen lässt sich gar zurückverfolgen zumindest bis zum Buchdrucker-Duden 26 Interessant sind bei Infiltration der Wortkomponente die präpositionalen Anschlüsse: [...] mit ns-Audrücken indiziert ein persönliches Agens, [...] von [...] indiziert die ns-Ausdrücke als Agens, während [...] durch [...] beides einschließt. Norbert Volz (IDS) danke ich für eine klärende Diskussion. <?page no="93"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 93 (1903), 27 sodass drei von ihnen als dunkle Flecken auf der nach Sauer ideologisch nahezu weißen Weste des Bearbeiters der Auflage ( 10 1929), Theodor Matthias, auszumachen wären. So verbleiben für ( n 1934) nur die zwei, die Müller aus dem Abschnitt „Schreibung von Straßennamen“ im Zusammenhang mit Beispielen aus ( 12 1941) anführt: Adolf-Hitler-Platz und Horst- Wessel-Straße (Müller 1994, S. 122). Auch hier ist der Kleine Duden Vorreiter und Wegbereiter des Großen, und zwar mit der 1934 im Reichsschulwörterbuch gegenüber der Duden-Rechtschreibung ( 10 1929) und dem Volks-Duden (1933) neu gestalteten Zeichensetzung. 28 Dort finden sich u.a. folgende einschlägige (von mir kursiv gesetzte) Beispiele für den Gebrauch: a) des Punktes am Ende eines Aussage- (Erzähl-)satzes: "/ )/ .s der Führer das Zeichen gab, fiel die Hülle.“',nach Ordnungszahlen: „Der Tag der nationalen Arbeit wird am 1. Mai (oder am 1. 5.) gefeiert. Berlin, den 30. 1. 1933.“', nach Abkürzungen: ,JD.R. (Deutsches Reich)', d. J. (dieses Jahres)“; b) des Ausruftmgszeichens nach einem Gruße und nach einer bedeutungsvollen Anrede: „Heil! , Heil Hitler! , Grüß Gott! “ bzw. „Lieber Freund! Sehr geehrter Herr! Mein Führer! “ (S. XIX, das (fehlende) Komma entspricht dem Text); 27 Entsprechend der Abfolge in Müller (1994) hier durchnummeriert und mit einem Leitbegriff versehen: 1) „die große Zahl im Ausland lebender Deutschen“: ("1934), S. 32* < ( 10 1929), S. 36*; dass dieses Beispiel im Volks-Duden (1933) nicht steht, ist darin begründet, dass der entsprechende grammatische Abschnitt aus Duden-Rechtschreibung ( l0 1929) nicht übernommen ist; 2) „>Folgt mir zum Sturm! < erschallt des Führers Ruf“: (" 1934), S. 44* < Volks-Duden (1933), S. 26* < ( l0 1929), S. 48* < ( 9 1915), S. XU < Buchdmcker-Duden ( 2 1907), S. XXX1I1 < Buchdrucker-Duden (1903), S. XXVI; 3) Betonung des Gemeinschaftsgedankens und Ablehnung des Individualismus: ("1934), S. 39* < Volks-Duden (1933), S. 22* < ( l0 1929), S. 43*; 4) „[...] die Einschätzung des nordischen hochgewachsenen, langschädligen, schmalgesichtigen, hellblonden und helläugigen Menschen“: ("1934), S. 39* < Volks-Duden (1933), S. 22* < ( 10 1929), S. 43*. Manches oder vielleicht auch vieles, was 1934 in einem besonderen Licht erscheint, gibt es offensichtlich schon früher. 28 Der im Kleinen Duden (1934) enthaltene Abdruck der letzten Fassung der preußischen Regeln ist in seinen Beispielen unverändert, der neuen Zeit speziell nicht angepasst. Voraus geht der Satz: „Viele Menschen nahmen an der Einweihung des Denksteines teil.“ 29 <?page no="94"?> 94 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform c) des Doppelpunktes vor der wörtlich angeführten Rede und vor Aufzählungen: „Friedrich der Große sagt: >Ich bin der erste Diener meines Staates^ Adolf Hitler lehrt uns: '»Gemeinnutz geht vor Eigennütze“ bzw. „Gliederung der SA. und der SS.: Schar, Trupp [... bis hin zu; WM] Gruppe, Obergruppe. Verbände des Reichheeres: Kompanie [... bis hin zu; WM ] Division.“ (S. XX); d) des Beistrichs bei Orts- und Zeitangaben: „Donnerstag, den 21. März 1933, fand in der Gamisonkirche in Potsdam die erste feierliche Staatshandlung des Neuen Reiches statt. München, den 21. April 1934. “; zwischen Sätzen einer Satzverbindung: „Der Führer sprach, die Zuschauer lauschten gespannt, am Schlüsse jubelte ihm alles zu“’, e) der Anführungszeichen bei wörtlichen Anführungen, bei Buchtiteln und Gedichtüberschriften: „Bismarcks Wort: >Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts in der Welt< gilt heute noch wie zu der Zeit, als es gesprochen wurde. Adolf Hitlers Bekenntnis »Mein Kampf gehört zu den grundlegenden Werken des Nationalsozialismus. Daq Lied »Deutschland über alles«, dichtete Hoffmann von Fallersleben im Jahre 1841 aufder Insel Helgoland.“ (S. XXI). (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934) Im Großen Duden ( n 1934) ist so etwas nicht vorhanden. Übernommen wird die Regelung im Kleinen Duden ( 2 1939). Entsprechendes findet sich dann auch in der Zeichensetzung im Großen Duden ( 10 1941); an Übereinstimmendem ist mir bei einem eher flüchtigen Vergleich aufgefallen: Heil Hitler! (S. 61*) und das Beispiel oben unter d) mit den am Schluss dem Führer zujubelnden Zuschauern (S. 54*). Insgesamt, so mein nicht systematisch überprüfter Eindruck, ist hier der Anteil an einschlägigen Beispielen im Kleinen Duden (1934) und entsprechend ( 2 1939) erheblich größer als im Großen Duden ( 12 1941). 30 • Der Führer IV: Höchstes nationalsozialistisches Vor- und Leitbild in Lehr-Beispielen und Zitaten zur Exemplifizierung des rechten Gebrauchs, hier von Interpunktionszeichen, und allgemein des rechten Verhaltens. 30 In Müllers Zusammenstellung der Beispiele aus „DU.12/ 1941: ]...]“ (Müller 1994, S. 122f.) sind die dem Doppelpunkt folgenden Seitenzahlen in den von mir zum Vergleich nachgeschlagenen Fällen regelmäßig um 2 bis 3 höher als in der von mir benutzten Ausgabe in Fraktur von 1941. Die Erklärung ist, dass ihre Seitenzahlen mit denen der „Normalschriftausgabe“ von 1942 übereinstimmen. So umfasst „IV. Satzzeichen“ 1941 die Seiten 50-64, 1942 die Seiten 52-67. <?page no="95"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 95 Angemerkt sei allerdings, dass zumindest diese dem Führer, im Übereifer (? ), angediente Rolle ihren Träger doch stark ins Komische abgleiten lässt eine Folge ideologischer Betriebsblindheit? Stellt Köpke (1934) auch fest, „daß man sich zu keiner Lebensfrage mehr äußern könne, ohne sich auf den Führer zu beziehen“, so hält er aufgrund der von ihm ermittelten 80%- Fehlerquote bei Führerzitaten im Schrifttum deren „scharfe Beobachtung [...] durch die Parteiamtliche Prüfungskommission“ doch für „notwendig“ (nach Kämper-Jensen 1993, S. 157). Hier böte sich eine weitere Kommissionsaufgabe an, nämlich zu überprüfen, in welchen Textsorten Hitlerzitate verwendet werden und welche Funktion sie dort haben. Trotz aller Führer- und analoger Beispiele: In exemplarischer Weise macht allein schon die Gruppe oben unter b) deutlich, dass die Regelung dort auch dann gilt, wenn ausschließlich die recte gesetzten Beispiele stünden und die Ideologie-trächtigen fehlten. Generalisiert: Die Regelung der Interpunktion als solche wird durch eingeschleuste, ideologisch geprägte Beispiele nicht eingetrübt. Dies ist auch in der großen Entnazifizierungswelle nicht nur von Orthographiebüchem nach 1945 auf breiter Linie dokumentiert, d.h. durch die schlagartige und flächendeckende Tilgung nationalsozialistischen ‘Wortgutes’ unter Beibehaltung der Regelung als solcher (dazu vgl. auch Sauer 1988 und Müller 1994, die entsprechend auch Auflagen nach 1945 auswerten; und unten 3.3.2.1). Soweit die Beispiele aus dem Regelteil als einem Bestandteil der Wortkomponente. Wie steht es nun um den Wörterteil als weiteren Bestandteil? (2) Wörterteil I: Sauer (1988), Müller (1994) und die kleinen Dudenausgaben So, wie es sich in Sauer (1988) und Müller (1994) darstellt, findet die Nazifizierung des Wörterteils auf der Dudenlinie nahezu ausschließlich auf der Linie des Großen statt; selbst wenn es in je einer ihrer Äußerungen zu kleinen Ausgaben zunächst auch anders klingt. Der Volks-Duden (1933) „kann“ nach Müller (1994) als „erstes ideologisch bearbeitetes Sprachlexikon [...] gelten“ (S. 117), dessen „Wortbestand [...], wenn auch erst ansatzweise, der neuen politischen Epoche angepaßt“ ist (ebd., S. 118). Doch diese Einschätzung steht irgendwie im luftleeren Raum. <?page no="96"?> 96 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Belege dafür bringt Müller nicht, sondern ausschließlich assoziative Verknüpfungen: So die des Erscheinungsjahres des Volks-Duden (1933) mit der „[...] >Machtergreifung< wobei die Anführungszeichen (bei mir) den Eindruck erweckten, als stünde dieser Ausdruck in der dann bemühten Rezension dieses Buches von Matthias, was jedoch nicht zutrifft. So die Verknüpfung des Zitats „>Der Volksduden ist auf seinem Gebiete wirklich ein Volksbuchs“ (aus der Rezension von Matthias 1933, S. 199) mit der Vorstellung der Gebrüder Grimm von ihrem Deutschen Wörterbuch 31 als einem Haus- oder Volksbuch, die, wenn auch nicht Matthias, so aber doch Müller selber den Titel Volksduden „in einem anderen, ideologischen Sinn“ erscheinen lässt (Müller 1994, S. 118). Die von ihr aus dem Volks-Duden herangezogene „Beschreibung zu Volk [...] >Gemeinschaft; Staatsgemeinschaft; Masse< [...]“ und ihre eigene Interpretation dazu (ebd., S. 139) stützen jedenfalls ihre Gesamteinschätzung nicht. Sauer hält einen Vergleich des Wörterteils des Reichsschulwörterbuches (1934) mit dem der beiden Auflagen des Großen Duden ( n 1934) und ( 12 1941) für „nicht möglich, da es weniger als die Hälfte an Stichwörtern als diese enthält, etwa 30.000 [...]. Auch die Bedeutungserklärungen sind von geringerem Umfang als in den Hauptausgaben.“ Das „weniger als die Hälfte“ ist natürlich eine fadenscheinige, 32 wenngleich wirkungsvolle Begründung insofern, als Sauer sich damit der Mühe einer genaueren Untersuchung dieser Ausgabe selbst enthebt. Doch scheint für ihn eine solche offenbar auch nicht nötig zu sein. Schon an drei herausgepickten Beispielen, nämlich an arisch, Faschismus und Nation, wird nach ihm „sofort deutlich, daß der >kleine Dudem dem Anspruch von >Verlag und Herausgeber [d.h. im Klartext: den Ansprüchen der neuen Zeit; WM] völlig entspricht“ (Sauer 1988, S. 125). Doch so deutlich ist dies nicht. 31 In einer „Verfügung des Herrn Reichsministers des Innern“ Ende Mai 1934 wird „auf die hohe nationalpolitische Bedeutung des Grimmschen Deutschen Wörterbuchs hingewiesen [...] und die Kultusminister der Länder [werden] gebeten, die Anschaffung des Werkes zu empfehlen“ (Maurer 1934, S. 216). 32 Fadenscheinig deshalb, weil man ja auch bei unterschiedlich großem Stichwortbestand wie etwa 30.000 (Kleiner Duden 1934) gegenüber etwa 68.000 (Großer Duden "1934; Sauer 1988, S. 198) die prozentuale Relation zwischen der Anzahl der ideologischen Ausdrücke insgesamt und dem gesamten Wortbestand oder auch bei den Bildungen etwa mit Volk zwischen Ideologie-trächtigen und Ideologie-neutralen Ausdrücken berechnen könnte. <?page no="97"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 97 Bei Sauer klingt das so, als handele es sich bei den drei Beispielen um ideologisch geprägte Neuaufnahmen spezifisch für 1934. Doch da der Wörterteil dieses Bandes mit dem des Volks-Duden (1933) identisch ist, sind die drei Beispiele allenfalls als spezifische Neuheiten in diesem gegenüber dem Großen Duden ( l0 1929) anzusehen. Doch dies trifft nur für „arisch (auch: reinrassisch)“ zu. 33 Faschismus findet sich auf der Dudenlinie zum ersten Mal im Großen Duden ( l0 1929) mit Bezug auf Italien 34 wie dann auch im Volks-Duden (1933) und entsprechend im Kleinen Duden (1934). Nation wird seit Konrad Dudens Wörterbuch (Duden 1880) als Stichwort geführt, ab Duden (’ 1887) mit der Bedeutung „Volk, soweit es nach Abstammung und Sprache zusammengehört“ bis Duden-Rechtschreibung ( 9 1915). In der Auflage ( 10 1929) ist „Abstammung und Sprache“ durch „>Geburt<“ ersetzt. Im Volks-Duden (1933) und damit auch im Kleinen Duden (1934) findet sich, und dies ist ja nun wirklich ideologisch völlig harmlos, „(Volk; Stamm)“. Wenn überhaupt, wären Nation und Faschismus dem Bearbeiter der 10. Auflage, Theodor Matthias, anzulasten, wie es Sauer anderenorts im Zusammenhang mit der Ausstellung des Persilscheins für jenen (Sauer 1988, S. 122; vgl. auch oben (1.1.1.2 (3)) u.a. mit Schmachfrieden ja tut. Sauer (1988) und Müller (1994) stellen aus dem Wörterteil des Großen Duden ( n 1934) nationalsozialistisches Vokabular zusammen. Sie untersuchen 33 Vielleicht hat dieser Eintrag Müllers Einschätzung des Volks-Duden (1933) als „ansatzweise [...] angepaßt“ (mit) beeinflusst, doch in dem einschlägigen Abschnitt (Müller 1994, S. 180-204) fuhrt sie ihn, wenn ich nichts übersehen habe, nicht an. 34 Sauer selbst führt dann fünf Seiten später (1988, S. 131) Faschismus als Beispiel für „völlige Bedeutungsveränderungen“ an, bei denen „neue Bedeutungen bereits bekannter Wörter [entstehen]“, und zitiert die Bedeutungsangaben aus den Auflagen des Großen Duden, und dabei auch die aus der Auflage ( l0 1929): „1929: (Rücksichtsloser Nationalismus (in Italien)...)“ [(radikal-nationalistische und autarkische politische Richtung [Italiens]) (Volks-Duden 1933, Kleiner Duden 1934); WM] „1934: (schärfste nationale Emeuerungsbewegung (in Italien)...)“ „1941: (die von Mussolini begründete italienische nationalstaatliche Bewegung).“ Die Frage ist, wo in diesem Fall die „völlige Bedeutungsveränderung“ erreicht ist. Für Sauers Argumentation müsste diese bereits 1933 im Volks-Duden und damit auch im Kleinen Duden (1934) vollzogen sein. Doch das kann ich so recht nicht sehen. <?page no="98"?> 98 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform etwa am Beispiel Volk die Zahl und speziell Müller, nach semantischen Feldern geordnet, die Art der Zusammensetzungen und Ableitungen, vergleichen diesen Befund mit dem der Auflagen ( lü 1929) und ( 12 1941) und stellen insgesamt einen starken Anstieg der Infdtration und dies insbesondere für 1941 fest; sichtbar gemacht auch an der wachsenden Zahl der Bildungen. Für Volk geben sie an (Sauer 1988, S. 128; Müller 1994, S. 140): Großer Duden ( 10 1929): Sauer 50 / Müller 48; ( n 1934): Sauer 70 / Müller 71; ( 12 1941): beide 115. Müller berücksichtigt zudem gelegentlich „[alternativ zu DU. 11/ 1934 und DU. 12/ 1941“ (1994, S. 139) den Volks-Duden (1933) bzw. den im [Haupt-] Wörterteil gleichen Kleinen Duden (1934) und dessen Nachfolgeauflage ( 2 1939); doch eben nur alternativ, nämlich dann, wenn der Große an Bedeutungen nichts hergibt; so bei Volk (Volks-Duden 1933; Kleiner Duden 1934; 2 1939; Müller 1994, S. 139); Volksordnung, Volkwerdung, Volksrecht, Volksfeind (Kleiner Duden 2 1939; Müller 1994, S. 147, 151f., 156). Sauers Äußerung, „die Bedeutungserklärungen“ im Kleinen Duden seien „von geringerem Umfang als in den Hauptausgaben“ (1988, S. 125), ist schon hierdurch konterkariert. (3) Wörterteil II: Bildungen mit Volk- In Dokument 1.01 (#1.01) sind die Bildungen mit Volk aus den drei Ausgaben des Großen Duden ( 10 1929), ( u 1934) und ( 12 1941) sowie die aus dem Volks-Duden (1933), dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und ( 2 1939) in chronologischer Abfolge synoptisch zusammengestellt. In den kleinen Ausgaben von 1933 und 1934 (wie dann auch von 1937, die hier ausgespart bleibt) ist der (Haupt-)Wörterteil identisch. Doch 1934 enthält zudem das Spezialverzeichnis: „Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung (mit Anhang [...])“ (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. XXVI-XXXII), das neben dem Haupt-Wörterteil (Hwt) ebenfalls dem Wörterteil zuzurechnen und entsprechend zu berücksichtigen ist; dieses Verzeichnis führt 15 Bildungen mit Volk. Meine Zählungen haben insgesamt ergeben: Großer Duden ( 10 1929): 47 (" 1934): 74 ( 12 1941): 122 Differenz: 27 48 <?page no="99"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 99 kleine Duden-Ausgaben (1933): 32 (1934): (32+ 15)= 47 ( 2 1939): 110 Differenz: 15 63 Erscheint der rein quantitative Anstieg auf der Linie des Großen Duden auch als beachtlich, so gilt dies auf der Linie der kleinen Ausgaben insbesondere für ( 2 1939) gegenüber (1934) bzw. (1933) umso mehr. Ins Auge fällt, dass die Zahl der Bildungen in der kleinen Ausgabe ( 2 1939) gegenüber der in der großen ("1934) ein Plus von 36 aufweist und dass sie sich der in ( 12 1941) bis auf 12 annähert. 35 Diese ‘nackten’ Zahlen zeigen zwar einen quantitativen Trend an, doch über den Grad der ideologischen Infdtration sagen sie nichts aus. Denn in gleicher Weise werden gezählt: ideologisch geprägte {Volksschädling) und neutrale Stichwörter {Volkslied), (neue) Grundwörter (Volks/ e/ W) wie (neue) Ableitungen von schon vorhandenen Grundwörtern {Völkerkundler, völkerkundlich zu Völkerkunde) und (neue) Komposita von schon vorhandenen Typen {Volksgenossin zu Volksgenosse). Die Zahl der 15 Bildungen aus dem Spezialverzeichnis 1934 erscheint gegenüber allen anderen Zahlen zwar als recht klein; doch da es sich insgesamt um nationalsozialistische Ausdrücke handelt, ist sie bezüglich der Ideologisierung präzise und eindeutiger als alle anderen großen Zahlen zusammen; weshalb sich insbesondere bei diesen 15 die Frage aufdrängt, welchen weiteren Weg sie nehmen. Für die Bildungen mit a) Rasse und b) Reich ergibt sich (zum Großen Duden vgl. Sauer 1988, S. 128; zu Rasse auch Müller 1994, S. 165): a) Großer Duden ( 10 1929): 10/ 11 Differenz: kl. Dudenausgaben (1933): 0 Differenz: b) Großer Duden ( 10 192 Differenz: kl. Dudenausgaben (1933): 24 Differenz: ("1934): 12/ 13 2 (1934): (0 + 2) = 2 2 35 ("1934): 60 25 (1934): (24 + 24)= 48 24 (‘-1941): 38/ 42 26/ 29 ( 2 1939): 32 30 ( l2 1941): 141 81 ( 2 1939): 89 41 Auch hier ist, insbesondere bei Rasse, der Kleine Duden ( 2 1939) sehr beteiligt. Bei Reich kommen im Kleinen Duden (1934) über das Spezialverzeichnis gleich 24 nationalsozialistische Ausdrücke zusätzlich ins Spiel. Die weitere Aufdröselung dieser beiden Paradigmen wie bei Volk wäre zwar sehr reizvoll, doch muss sie hier unterbleiben. <?page no="100"?> 100 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Folgt man der Chronologie der großen und kleinen Ausgaben und betrachtet man die Einträge, die gegenüber den insgesamt vorhergehenden Ausgaben neu aufgenommen sind, 36 so ergibt sich folgende quantitative Verteilung, wobei für den Kleinen Duden ( 2 1939) der größte Schub festzustellen ist: Großer Duden ('°1929) Neueinträge: Kleiner Duden (1933 + 1934) 15 Verzeichnis (1934) 12 Großer Duden ("1934} 15 Kleiner Duden ( 2 1939) 41 Großer Duden ( l2 1941) 20 Die Auswertung (vgl. dazu in Dokument #1.01 die rechten Auswertungsspalten 1 bis 6) 37 beginne ich sozusagen am Ende. Die für den Großen Duden ( 12 1941) spezifischen 20 neuen Einträge sind: Völkerkundler, völkerkundlich (zu überkommenem „Völkerkunde“); Völkerraum-, Volksbeglücker, -beglückung (jener und diese scheinen den Zeitläufen entsprechend allmählich wohl notwendig zu werden); volksbildend (neben überkommenem „Volksbildung“); Volksdeutung, -etymologies Volksheld, -kartei, -mittelschule, -mund, -Schauspiel, -vermögen, -wirt (neben überkommenem „Volkswirtschaft“ usw.). Zudem Volkswagenwerk als Zusammensetzung mit dem überkommenen „Volkswagen“. Das sind zunächst 16. Es verbleiben, von Müller (1994, S. 144ff.) in den Tabellen geführt und entsprechend als Ideologie-trächtig bewertet, insgesamt vier: 36 Die jeweiligen Neuzugänge von 1933 an sind im Dokument 1.01 fett markiert. Auf das Verschwinden von Einträgen in einer der folgenden Auflagen wie z.B. Volksfreund (nur l0 1929, 11 1934), Volksgunst (mix l0 1929), Völkerschlachtsdenkmal, Volksgenossin, Volkslehre (nur Kleiner Duden 2 193 9) gehe ich nur gelegentlich ein. 37 Zu den Notierungen in den Auswertungsspalten in Dokument #1.01 einige Anmerkungen und eine Korrektur. Die Zeile unter Völkischer Bebachter bedeutet: Müller (1994, S. 147) gibt für Duden-Rechtschreibung ("1934) auch „Abk. VB“ an, doch diese findet sich hier nicht; entsprechend die doppelte Notierung in Spalte 4 „/ + [-]“. Volks- und Staatsfeind und Volksverrat werden nach Müllers Tabelle 7 in Duden-Rechtschreibung ( 10 1929) und ("1934) geführt. Im vorausgehenden Text datiert sie zutreffend die Aufnahme des ersten auf 1934 und die des zweiten auf 1941; entsprechend die Notierangen in Spalte 1 und 4. Für Volksfeind sagt die Tabelle 7 zu Unrecht aus, dass dieses in der Dudenauflage ( n 1934) nicht geführt wird (Müller 1994, S. 156); die entsprechende Notierang, in Sauer (1988, S. 129) als vorhanden und in Müller fälschlich als nicht vorhanden notiert, müsste in der Spalte 4 lauten: +/ - [+]. <?page no="101"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 101 Volkheitskunde und Volkstumsforschung (wohl statt Volktum[s]kunde, so im Großen Duden 11 1934; vgl. auch Müller 1994, S. 142) sowie Volkspflege und -pflegerin. Uber den durch Müllers Tabellen abgesteckten Vergleichsrahmen hinaus wären oben aus der ersten Gruppe Völkerraum mit Blick auf die Parole „Volk ohne Raum“ sowie die Merkwürdigkeiten Volksbeglücker, Volksbeglückung, also 3 neue Einträge, als Ideologie-verdächtig 1941 zu verbuchen. Alle anderen Fälle, die im Großen Duden ( u 1934) nicht verzeichnet und in den Tabellen (Sauer 1988, S. 129; Müller 1994, S. 144ff.) wie oft auch im Text als ideologische Novitäten für ( l2 1941) ausgewiesen sind, finden sich bereits im Kleinen Duden ( 2 1939). Im Kleinen Duden ( 2 1939) gegenüber allen vorausgehenden Ausgaben 23 neue Einträge (von insgesamt 41): volksbewußt, Volksbildungswerk (mit Bedeutung; in i2 1941 ohne), Volksboden, volksdeutsch (ohne Bedeutung; in l2 1941 mit), Volksempfänger (VE.), volksfremd. Volksfremde, -game, -gasmaske (VM.), -gerichtshof -insei (mit Bedeutung; in l2 1941 ohne), -kanzler, -Ordnung (mit Bedeutung; in 12 1941 ohne), -seele, -tod\ Volkstumsinsel, -kämpf -pflege', Volksverrat, -Verräter, Volkswagen', Volkswohlfahrt, NS-Volkswohlfahrt (NSV.); Im Kleinen Duden ( 2 1939) und schon im Haupt-Wörterteil des Kleinen Duden (1934) und des Volks-Duden (1933) 1 Eintrag: Volksabstimmung', Im Kleinen Duden ( 2 1939) und schon im Verzeichnis (1934) 3 Einträge: Volksbund, Volksbund für das Deutschtum (VDA); Volksdeutsche (1934 und 1939 mit Bedeutung; im Großen Duden 12 1941 ohne). Das sind insgesamt 27. Bezogen auf die hier durch Sauer und Müller definierte Menge ergibt sich als Verhältnis ideologischer Neuwörter: Kleiner Duden ( 2 1939): Großer Duden ( 12 1941) = 23 : 4. Von den im Kleinen Duden ( 2 1939) verbleibenden (41 minus 23 =) 18 Neueinträgen finden sich weitere 5 ebenfalls im Großen Duden ( 12 1941), die in Sauers und Müllers Listen nicht geführt werden: Volksaufklärung, -bücherei, volkssorgerisch, Volksstaat, -tanz. Über die Vergleichsmenge hinaus wären von diesen fünfen drei als Ideologie-trächtige Neueinträge 1939 einzustufen und entsprechend zu verbuchen. Mit Volksstaat konkurriert völkischer Staat, das sich als Wendung im Spezialverzeichnis von 1934 und im Kleinen Duden ( 2 1939) findet; Volksaufklärung bringt das Goebbelsche „Reichsministerium für Volksaufklärung und <?page no="102"?> 102 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Propaganda“ in Erinnerung; zu volkssorgerisch (ein wirklich schönes Wort) stellen sich assoziativ Volksbeglücker, -beglückung von 1941. Die restlichen 13 sind innerhalb der Ausgabenfolge ‘orthographisch-lexikographische Eintagsfliegen’ und finden sich nur im Kleinen Duden ( 2 1939), von denen zumindest 6 als Ideologie-trächtig zu verbuchen sind. 38 Berücksichtigt man die über die Vergleichsmenge hinaus in beiden Ausgaben festgestellten neuen Ideologie-trächtigen Einträge, so ergibt sich als Quotient: Kleiner Duden ( 2 1939): Großer Duden ( l2 1941) (23 + 3 + 6 =) 32 : (4 + 3 =) 7 Die für den Großen Duden ( n 1934) spezifischen 15 neuen Einträge sind: Völkerrechtslehrer (neben überkommenem "-kundler“), Volksbildung, -dichte', Volksgericht, Volksgerichtsbarkeif, Volkssprache, volkssprachlich', Volkstracht, volksverbunden (zu überkommenem „Volksverbundenheit“), Volkswohl. Das sind zunächst 10. Es verbleiben, von Sauer und/ oder Müller in ihren Tabellen als Ideologieträchtig bewertet, insgesamt 5: Völkischer Beobachter (die Abkürzung „VB.“ findet sich dann im Kleinen Duden 2 1939 und im Großen Duden 12 1941), Volksgeist, Volksleben, volksnah (neben überkommenem „Volksnähe“), Volkstum[s]kunde. Von den anderen 9 Fällen, die im Großen Duden ( l0 1929) nicht verzeichnet und in den Tabellen (Sauer 1988, S. 129; Müller 1994, S. 144ff.) wie oft auch im Text als ideologische Novitäten für ("1934) ausgewiesen sind, finden sich 8 im Spezialverzeichnis des Kleinen Duden (1934): Volksfeind, -gemeinschaft, -genösse, -gesundheit, -recht (mit Bedeutung; im Großen Duden 11 1934 ohne; im Kleinen Duden 2 1939 mit; im Großen Duden 12 1941 ohne), -Schädling, Volks- und Staatsfeinde, Volkswerdung (mit Fugen-s und Bedeutung; im Großen Duden 11 1934 ohne beides; im Kleinen Duden 2 1939 und im Großen Duden l2 1941 ohne Fugen-s, mit Bedeutung). 38 Die restlichen 13 sind: volkeigen, Völkerschlachtsdenkmal, Volksdiener, -genossin; Volksgruppe (mit Bedeutung), Volksgruppenschutz; Volkskameradschaft, -lehre (mit Bedeutung), -Verkehrsmittel, -Verschiebung, Volkswagenlehrling, Volksweihnacht, -Wohnung, von denen ich zumindest die 6 kursiv gesetzten als Ideologie-trächtig ansehe. <?page no="103"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 103 Das ebenfalls einschlägige volkstümlich ist im Volks-Duden (1933) und im Haupt- Wörterteil des Kleinen Duden (1934) verzeichnet. Zu ihrem weiteren Weg vergleiche Dokument 1.01 (#1.01). Bezogen auf die hier durch Sauer und Müller definierte Menge ergibt sich als Verhältnis ideologischer Neuwörter: Kleiner Duden (1934): Großer Duden (' 1 1934) 8 : 5. Von den im Spezialverzeichnis von 1934 verbleibenden (12 minus 8 =) 4 Neueinträgen sind 3 bereits oben im Zusammenhang mit dem Kleinen Duden ( 2 1939) und dem Großen Duden ( 12 1941) behandelt worden. Das vierte ist Volksheer (mit Bedeutungsangabe), das in Sauers und Müllers Listen nicht geführt wird. Im Großen Duden ("1934) findet es sich ohne Bedeutungsangabe, im Kleinen Duden ( 2 1939) mit und im Großen Duden ( 12 1941) wieder ohne. Diese unterschiedliche Ausstattung bezüglich der Bedeutungsangabe, in kleinen Ausgaben mit und in den großen ohne, gilt insgesamt für Volk selbst sowie für Volksbildungswerk, Volksheer, Volksinsel, Volksordnung, Volksrecht und für Volkshochschule und Volkstum, die seit 1929 durchgängige Stichwörter sind. Das erste erhält im Kleinen Duden ( 2 1939) eine Bedeutungsangabe, das zweite im Spezialverzeichnis (1934), die im Kleinen Duden ( 2 1939) wiederholt wird. Der Bedeutungsangabe bei volksdeutsch im Großen Duden ( 12 1941) geht die bei Volksdeutsche im Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) voraus. Von den im Volks-Duden (1933) und entsprechend im Haupt-Wörterteil des Kleinen Duden (1934) festgestellten 15 Neueinträgen sind mit Volksabstimmung und volkstümlich oben im Zusammenhang mit dem Großen Duden ( 12 1941) bzw. ( u 1934) bereits 2 aufgerufen. Weitere 2 finden sich dann auch im Kleinen Duden ( 2 1939) und im Großen Duden ( 12 1941), weitere 8 sind, abgesehen vom Spezialverzeichnis (1934), durchgängig bis 1941, die restlichen 3 erreichen diese End-Marke nicht. 39 39 Die 2 weiteren sind: Volksbegehren, -herrschaft. Die 8 durchgängigen sind: Völkerball, -Wanderung; Volksbuch, -kunst; Volksschüler, -Schülerin, Volksschullehrer; volkswirtschaftlich. Die restlichen 3 sind: Völkerleben ("1934, 2 1939); Volksvertreter, -Vertretung <?page no="104"?> 104 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Zumindest für dieses Paradigma der Bildungen mit Volk gilt: Die beiden Ausgaben des Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) sind bezüglich der Infiltration des Wörterteils mit nationalsozialistischem ‘Wortgut’ Wegbereiter des Großen Duden ( n 1934) und ( l2 1941). Anders gesagt: Die Nazifizierung des Duden findet, so wie es sich bisher darstellt, zunächst und dabei intensiv auf der Linie der kleinen statt. (4) Wörterteil III: „Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung“ In auffälliger, sich aufdrängender Weise ist die Nazifizierung dokumentiert in dem Spezialverzeichnis „Aus dem Wortgut der nationalsozialistischen Bewegung“ im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934). Es enthält in kompakter Darreichung auf sieben Seiten ca. 330 einschlägige Ausdrücke, von denen mehr als die Hälfte eine Bedeutungsangabe hat, und (im Anhang) ca. 100 offizielle systematisch angeordnete „Amtsbezeichnungen der PO.“, wobei im Verzeichnis bei einschlägigen Einträgen auf den Anhang verwiesen wird (#1.02). Die separate Einrichtung des Verzeichnisses erkläre ich mir aus praktischtechnischen und zeitlichen Gründen. Der Haupt-Wörterteil 1934 ist, so wie er ist, aus dem Volks-Duden (1933) übernommen, gewissermaßen kopiert bis hin zu den übereinstimmenden Seitenzahlen 1 bis 286. Statt das nationalsozialistische ‘Wortgut’ einzuarbeiten und so einen zeitaufwändigen neuen Umbruch und Neudruck durchführen zu müssen, haben die Bearbeiter das Verzeichnis dem Haupt-Wörterteil vorausgestellt. Weder Sauer (1988) noch Müller (1994) gehen auch nur mit einem Wort auf dieses Verzeichnis ein, was mir völlig unerklärlich ist. 40 Hier eine Auswahl ( 2 1939). All diese werden in Sauers und Müllers Tabellen nicht geführt und hier nicht weiter behandelt. 40 Es könnte natürlich sein, dass Sauer und Müller das Verzeichnis schlicht übersehen haben. Ein Inhaltsverzeichnis, in dem man die Bestandteile im Überblick vor sich hat, gibt es im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) nicht. Doch kann man bei einer solchen Themenstellung wie der ihren so ein Kompaktangebot wirklich nicht bemerken? Oder hatten sie Exemplare, aus denen das Verzeichnis nach dem Kriege im Zuge der Entnazifizierung herausgenommen war? Was technisch nicht schwierig gewesen wäre, da es die letzten mit römischen Zahlen paginierten Seiten umfasst. So eine Überlegung von Ulrike Haß-Zumkehr (IDS). Doch dann hätte man auch die nationalsozialistisch über- <?page no="105"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 105 an Stichwörtern aus ihm (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. XXVI-XXXI), die zeigt, in welchem Maße die Ideologie vorherrscht (den Ausdrücken mit * folgt im Verzeichnis eine einschlägig ideologische Bedeutungsangabe): Ahnenreihe, Ahnentum*, Arier*, entmannen, erbgesund*, Erbgut*, Eugenik*, Nichtarier, Rassenhygiene*, Sterilisation, Volksgesundheit, Arbeitsfront*, Reichsnährstand*, Volksbundfür das Deutschtum im Ausland (Abk.: VDA), Volksheer*\ Greuelmärchen*, Kolonialschuldlüge*, Kriegsschuldlüge*, Novemberling*, Zinsknechtschaft*', blutgebunden *, Blut und Boden *; Einheitsstaat*, Führerprinzip*, gleichschalten, Gleichschaltung*, Heil Hitler! , Konzentrationslager*, Machtergreifung, Nationalsozialismus*, NSDAP, totaler Staat*, Totalität des Staates*, Unitarismus*: (aus oben (3) bereits bekannt: ) volkhaft, völkisch, Volksdeutsche*, Volksfeind, Volksgemeinschaft, Volksgenosse, Volksrecht*, Volksschädling, Volkstum*, Volks- und Staatsfeinde, Volkswerdung* (im ersten Geleitwort von Schemm findet sich Volkwerdung ohne Fugen-s wie auch im Großen Duden 11 1934, l2 1941 und im Kleinen Duden 2 1939); „Anhang“ u.a.: „Gliederung der SA. und SS. HJ. DJ.“ (S. XXXI-XXXII). Schon das Beispiel der Bildungen mit Volk hat gezeigt, dass die Einarbeitung von Stichwörtern aus dem separierten Verzeichnis ins Alphabet im Großen Duden ( n 1934), im Kleinen Duden ( 2 1939) und über diese(n) auch im Großen Duden ( 12 1941) erfolgt. Dies gilt auch für weitere Ausdrücke. Sauer stellt unter der Überschrift „Ideologiespezifische Stichwörter aus den ns Duden“ 50 solcher Wörter zusammen und markiert, welche von ihnen „nur im [Duden; WM] 12“ bzw. „im Duden 11 und 12 enthalten“ sind (Sauer 1988, S. 126). Von diesen sind 47 im Dokument 1.03 (#1.03) zusammengestellt 41 und von mir um weitere 20 Haupteinträge, mit # markiert, ergänzt. Insgesamt sind damit 67 Ausdrücke im Spiel. Im Großen Duden ( I0 1929) ist keiner dieser Ausdrücke verzeichnet, im Volks-Duden (1933) und im Haupt-Wörterteil des Kleinen Duden (1934) nur höhten Geleitworte wie auch die Abhandlung herausnehmen und auch Teile auf der Titelseite streichen müssen. Doch auf all dies beziehen sich Müller und Sauer durchaus. 41 Die drei aus Sauers Tabelle ausgesparten sind: eindeutschen, das nun wirklich nichts hergibt, da es seit Duden ( 9 1915) durchgängig geführt wird ohne jede Bedeutungsangabe; Sippenhaft, das bei Sauer fälschlich für das Adjektiv sippenhaft (so in den Dudenausgaben) steht; Völkischer Beobachter, das oben bei Volk bereits behandelt ist. <?page no="106"?> 106 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Arbeitsdienst. Entsprechend sind das Spezialverzeichnis des Kleinen Duden (1934), der Große Duden ( u 1934) und ( 12 1941) sowie dazwischen der Kleine Duden ( 2 1939) im Dokument 1.03 (# 1.03) berücksichtigt. Die quantitative Verteilung der gegenüber den jeweils vorausgehenden Ausgaben neu aufgenommenen Ausdrücke ergibt die größten Schübe für den Kleinen Duden (1934) (Verzeichnis) und ( 2 1939): Großer Duden ( 10 1929) Neueinträge: Kleiner Duden (1933 + 1934) 1 Verzeichnis (1934) 30 Großer Duden ( n 1934) Kleiner Duden ( 2 1939) 25 Großer Duden ( 12 1941) Auch hier beginne ich mit der Auswertung beim Großen Duden ( l2 1941). Von den 28 Haupteinträgen, die im Großen Duden ( n 1934) nicht verzeichnet und in Sauers Tabelle als ideologische Novitäten für 1941 ausgewiesen bzw. die nach seinem Ansatz als solche anzusehen sind, sind im Vergleich mit dem Kleinen Duden ( 2 1939) insgesamt nur die folgenden 5 neu: Ahnenbuch, Ariernachweis, Asphaltliteratur, Blockwart, Weltjude-, wobei, den Neuwert gewissermaßen relativierend, im Kleinen Duden ( 2 1939) Weltjudentum und, wie schon im Verzeichnis (1934), Blockleiter, Blockwart verzeichnet sind. „Jud (Schimpfwort)“ findet sich ebenfalls schon 1939, 1941 erweitert zu „Jud, Jüd (Schimpfwort für: Jude)“. Alle anderen 23 sind im Kleinen Duden ( 2 1939) vorgegeben und ( 12 1941) übernommen, die folgenden mit (nahezu) gleicher Bedeutung: Alljuda, Arbeitsmaid, entraßt, erbtüchtig, Gestapo (1941 mit einer zusätzlichen Aussprachevariante), Napola, Novemberverbrecher, Ordensburg, Systemzeit, Umvolkung, Verfügungstruppe. Erst 1939 neu verzeichnete Bedeutungen oder Abkürzungen bei überkommenen Einträgen finden sich dann 1941 bei: Arbeitsdienst, Jungmädel, Kraft durch Freude, SS, System“. Bezogen auf die hier durch Sauer definierte Menge ergibt sich als Verhältnis ideologischer Neuwörter: Kleiner Duden ( 2 1939): Großer Duden ( 12 1941) 23 : 5 <?page no="107"?> 1933 bis 1942{-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 107 Von den 33 Haupteinträgen, die im Großen Duden ( l0 1929) nicht verzeichnet und in Sauers Tabelle als Novitäten für ( u 1934) ausgewiesen bzw. nach seinem Ansatz als solche anzusehen sind, sind im Vergleich mit dem Spezialverzeichnis (1934) nur die folgenden 6 neu: aufarten, aufnorden, fremdrassig, Großdeutschland, Kraft durch Freude, Tributabkommen. Alle anderen sind im Verzeichnis von 1934 vorgegeben. Von den aus diesem hier aufgelisteten 31 Einträgen sind 4 nicht in den Großen Duden ( n 1934) eingegangen. Bezogen auf die hier durch Sauer definierte Menge ergibt sich als Verhältnis ideologischer Neuwörter: Kleiner Duden (1934) : Großer Duden ( 12 1941) 27 : 6 Die Dokumente 1.01 bis 1.03 (vgl. im Einzelnen dort) zeigen überdeutlich: Auch die ideologisch eindeutige Semantik, erzielt durch viele disambiguierende Bedeutungsangaben, ist Domäne der Kleinen Duden. Die Angaben etwa zu Novemberverbrecher oder Winterhilfswerk (vgl. Dokument 1.03) dokumentieren deren Bearbeitung über die Ausgaben hin. Attestiert Sauer (1988) Basler und seinen Mitarbeitern für die Auflage ( n 1934), allerdings eingeschränkt durch ein wahrscheinlich, mangelnde Erfahrung bezüglich nationalsozialistischer Schlagworte und sieht er diesen Mangel im Duden erst ( l2 1941) als behoben an (S. 123) und die diesbezügliche „Perfektion“ erst in diesem „zweiten ns Duden [...]“ erreicht (S. 125), so erscheint beides vor dem aufgezeigten Hintergrund, insbesondere mit Blick auf das Spezialverzeichnis von 1934 im Verein mit dem Kleinen Duden ( 2 1939), schlicht als unangemessen. Blanker Einsinn ist, das zeigt sich spätestens an dieser Stelle, wenn Sauer den Bedeutungsangaben im Kleinen Duden (1934) einen geringeren Umfang zuspricht als denen in den Hauptausgaben (S. 125). Die eigentliche ideologische Infiltration der Wortkomponente durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’ findet im Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) statt, die auch hier Wegbereiter der beiden Großen ( n 1934) und ( 12 1941) sind. <?page no="108"?> 108 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.1.2.2 Ideologische Überhöhung Der hier ideologische Überhöhung genannte Sachverhalt bezieht sich auf Umtexte der Orthographiebücher und zielt ab auf den der Orthographie als solcher übergestülpten nationalsozialistischen Überbau als Resultat; wobei die Bezugsgrößen Hic (in 1.1.2.1) einschlägige Ausdrücke - Illic (in diesem Abschnitt und unten in 1.1.2.4) einschlägige Texte und die exemplarische Untersuchung beider komplementär zueinander stehen. Die Gegenüberstellung der Ausschnitte aus zwei Abhandlungen (vgl. Abb. 7) zeigt überdeutlich, wie sich eine ideologische Überhöhung, wie sich der nationalsozialistisch ideologische Überbau auf die Darstellung hier geschichtlicher Zusammenhänge auswirkt. Unsere Schriftsprache geht in den Anfängen bis in die Zeit um 1300 zurück. Sie wird in verschiedenen Kanzleien vorgebildet, von denen die Kaiser Karls IV. (1346-78) besonders zu nennen ist. Daneben erlangt im 15. Jahrhundert die Wiener Kanzlei richtunggebende Bedeutung. Auch der deutsche Buchdruck ebnet in seiner Frühzeit einer deutschen Einheitssprache die Wege. Letzter Anstoß aber, zugleich stärkste Kraft zur Bildung der neuhochdeutschen Schriftsprache wird durch die Reformation Luthers Schrifttum. [...] Im Wortschatz, in der Wortbildung und im Satzbau wird Luther Vorbild und unerreichtes Muster. Druckersprache und Kanzleisprachen richten sich nach seinem Deutsch [...]“ Wie heute unser Führer Adolf Hitler das neue einige Reich schuf, dabei die berechtigte Eigenart unserer Stämme und Landschaften nicht auslöschte, aber die deutsche Uneinigkeit und Sonderbündelei in all ihren Formen zertrat, so wurde im 16. Jahrhundert die einige große deutsche Sprache geschaffen, die Kraft und Eigenart der Mundarten nicht abgeschwächt, wohl aber ihre Trennungsbestrebungen und Absonderungskräfte vernichtet. So ging der politischen Einigung unserer Gegenwart die sprachliche Einigung in einer Zeit größter politischer Zersplitterung voraus, und ihr Vollender, der große Deutsche Martin Luther, wurde Wegbereiter unseres neuen Reiches. Der Wortschatz, die Wortbildung, der Satzbau seiner Schriften, vor allem seiner Bibelübersetzung, wurden bald maßgebendes Vorbild in allen deutschen Landen.“ (V). (Kursive WM) (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. V) (Volks-Duden 1933, S. 30*; Duden- Rechtschreibung 11 1934, S. 8*) Abb. 7: Textvergleich: Volks-Duden (1933), Duden-Rechtschreibung ( u 1934) + Kleiner Duden (1934) „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ „Volk und Sprache“ <?page no="109"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 109 Hinweisen möchte ich insbesondere auf Martin Luther, dem eine neue Rolle bei der Ausbildung der neuhochdeutschen Sprache übergestülpt wird (vgl. Abb. 8). politische Einigung durch unseren Führer Adolf Hitler zuvor sprachliche Einigung, der große Deutsche Martin Luther als ihr Vollender und als Wegbereiter unseres neuen Reiches (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934) deutsche Einheitssprache Luthers Schrifttum: stärkste Kraft zur Bildung der neuhochdeutschen Schriftsprache (Volks-Duden 1933, Duden-Rechtschreibung 11 1934) Abb. 8: Faktenebene - Überbau: Martin Luther => Der Führer Dazu fügt sich der Bericht eines Geschichts- und Religionslehrers im Februar 1934, der „in der Schule Unterschriften sammeln [musste] für den Kauf einer >Lutherrose< mit der Umschrift >Mit Luther und Hitler<“ (Klemperer 1933-1934, S. 90; 21.2.1934). Die Linie der allmählichen Entwicklung zur deutschen Einheitssprache mit Martin Luther als dem Vollender der sprachlichen Einigung wird durch dessen Kennzeichnung als „Wegbereiter“ und entsprechend als Vorgänger weitergezogen bis hin zu „unserem Führer Adolf Hitler“, der mit „unserem neuen Reich“ die politische Einigung schafft; sie wird auf diese Weise ins rechte Licht gerückt und in die richtige Färbung 42 gebracht, ideologisch vereinnahmt, ausgerichtet, gleichgeschaltet. • Der Führer V: Auf den Spuren historischer Leitgrößen, hier auf denen Martin Luthers, des Vollenders der sprachlichen Einigung und seines Wegbereiters, nunmehr als Schöpfer der reichspolitischen Einigung, des neuen Reiches. 42 An die Vertreter der Presse gewandt äußert Alfred Rosenberg am 18.11.1941, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, so doch auch hier anwendbar: „Es kommt [...] darauf an, dass die allgemeine Haltung von uns heute schon einheitlich ist und dass von dieser Haltung aus die Dinge, die man behandeln kann, in der richtigen Färbung gesehen werden.“ Piper (2001/ 17.11.): „Der Führer hat mir einen Kontinent anvertraut“. Vor sechzig Jahren verkündete Alfred Rosenberg die „Ausmerzung des gesamten Judentums“. (Kursive WM). <?page no="110"?> 110 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Luther ist nicht die einzige Größe deutscher Geschichte, die selbst im Zusammenhang mit der Orthographie 43 als historisch legitimiertes Vorbild ausgegeben und ideologisch eingespannt wird. Erinnernd sei darauf hingewiesen, dass in der Zeichensetzung im Kleinen Duden (1934) (vgl. oben eingangs (1.1.2.1 (1)) neben Hitler-Lehrbeispielen und -Zitaten auch Zitate von Otto von Bismarck und von Friedrich dem Großen geführt sind. Doch bei der Linie Luther - Hitler bleibt es nicht; das Bisherige zieht zwangsläufig ‘innigst Zusammenhängendes’, ideologisch-genuin Zusammengehörendes nach sich. Der Autor der Abhandlung, Eduard Rothemund, komplettiert innerhalb des Rahmens ‘Volk und Sprache unser neues Reich’ rassenideologisch um ‘Rasse - Blut’ und verlängert die ‘Luther-Wegbereiter - Hitler-Führer’-Linie bis hin zum Duden-‘Führer’ in allen, hier sprachlichen, Nöten und Fragen. Von ,Jlasse und Sprache, arisches Blut und arische Sprache“, die „in jenen Zeitenfemen [...] in innigstem Zusammenhänge standen“, über „den gemeinsamen Schicksalsweg“, auf den „die Kinder unseres Volkes durch die Sprache [...] gestellt unA nach den Gesetzen unserer Volkheit geformt [werden]“ (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. VI), und weiterhin über die Notwendigkeit, dass jeder „nicht nur den rassischen Anforderungen genügen [muss], die unser Führer von jedem unter uns verlangt, sondern [... dass jeder; WM] auch die größte Verantwortung seiner Volkssprache gegenüber empfinden [muss]“, spannt der Autor einen weiten Bogen bis hin zum Duden-„Führer“: „Jeder von uns bedarf eines Führers, der ihm Rat gibt in allen sprachlichen Nöten und Fragen.“, von dort aus über dessen Identifizierung: 43 Anderenorts und weitere bekanntermaßen natürlich auch. Vgl. z.B. Bergmann (1935) (Luther, Bismarck); Matschoß (1937), Soenke (1938) (Luther); Linden (1940) (Schlieffen, Moltke, Clausewitz); Schönbrunn (1941) (Clausewitz, Moltke, Friedrich der Große) (nach Kämper-Jensen 1993, S. 152, 158f., 162f.). <?page no="111"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 111 „Diesen Führer hältst du beim Lesen dieser Zeilen in Deiner Hand, es ist >Der Kleine Duden<, das deutsche Wörterbuch für Jugend und Volk. bis hin zu der alle(s) umfassenden Parole: „So dient das Buch der Losung, der wir heute alle dienen: >Alles für Deutschland^“ (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. VII; Kursive insgesamt WM). Auch im Vorwort der Duden-Rechtschreibung ("1934, S. 3*) ist, diesmal mit Bezug auf die Bearbeiter der vorausgegangenen „zehn Auflagen“, die Rede von "verläßliche[n] Führer[n] in sprachlichen Dingen“. Gegenüber dem Vorwort der 10. Auflage von 1929 ist diese Redeweise neu und so bietet sich natürlich zu schlussfolgern an: Sicherlich kein Zufall und mit zeitgemäßen Konnotationen oder Assoziationen behaftet bzw. verbindbar. Doch so brandneu ist dieses Motiv auf den Dudenlinien nicht. Laut Vorwort „will“ der Volks-Duden (1933) zu der zeitgleichen Auflage des Großen Duden, dem "eigentliche[n] Nachschlagewerk für die deutsche Rechtschreibung“, „überhaupt [...] hinführen“; was dann, durch Übernahme dieser Stelle, auch im Kleinen Duden ( 2 1939) verkündet wird. Und für Alfred C. Schmidt ist Konrad Dudens Wörterbuch (Duden 8 1905) bei der Bearbeitung des kleinen Wörterbuches von 1915, wie er im Vorwort sagt, „ein guter und ergiebiger Führer gewesen“. Auch der Kleine Duden (1934, S. VII), das Reichsschulwörterbuch, wird als ‘Führer’ vorgestellt. Soweit die Übereinstimmung. Voraus geht hier in spezifisch expliziter Vorbereitung als ‘Wegbereiter’ auf dem „gemeinsamen Schicksalsweg“ „unser Führer Adolf Hitler“ (S. V; vgl. Abb. 7) und „unser Führer“ (S. VII; vgl. Zitate oben): Eingebettet in den Rasse/ Blut-Kontext und rückwirkend eingebunden in die allumfassende Losung: „Alles für Deutschland! “. Die Kennzeichnung des Kleinen Duden als des sprachlichen ‘Führers’ ist in höchst personifizierter Ideologie inhaltlich gefüllt und damit tiefgefärbte Metapher. Deutlicher geht's wohl nicht. • Der Führer VI: Höchstpersonifizierte Ideologie und Bildspender für Metaphern, hier für die vom Duden-‘Führer’ in allen sprachlichen Nöten und Fragen (vgl. Abb. 9). <?page no="112"?> 112 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform unser Führer Adolf Hitler Rasse, Blut; rassische Anforderungen, die unser Führer verlangt Alles für Deutschland! auf dem gemeinsamen Schicksalsweg (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934) Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) = Führer in allen sprachlichen Nöten und Fragen Duden-Bearbeiter = verläßliche Führer in sprachlichen Dingen (Duden-Rechtschreibung 11 1934) Rechtschreibung der deutschen Sprache Abb. 9: Faktenebene gestaffelter Überbau: Der Führer => Duden-‘Führer Sind im Volks-Duden (1933) und in Duden-Rechtschreibung ( u 1934) das jeweilige Vorwort in der aus früheren Auflagen bekannten Duden-Vorwort- Art und die geschichtliche Abhandlung, wie schon gesagt: auch nach der Einschätzung Senya Müllers (1994), angemessen sachlich gehalten, so zeigt sich oben: Die eigentliche ideologische Überhöhung durch nationalsozialistisch tief eingefärbte Umtexte findet im Kleinen Duden (1934), dem Reichsschulwörterbuch, statt, dem gegenüber, wie sich weiter unten zeigen wird, selbst bzw. auch die Ausgabe des Großen Duden ( l2 1941) ins Hintertreffen gerät. 1.1.2.3 Der Kleine Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und in Folge ( 2 1939): Ideologischer Wegbereiter; Otto Basler: Parteigenosse in der Literatur Insgesamt zeigt sich: Anfällig und Einfallstor für die Ideologisierung sind insbesondere zwei Bestandteile der Orthographiebücher. Einerseits sind es Um- oder Metatexte, was in extremer Weise im Kleinen Duden (1934) durch die propagandistischen Beiträge nationalsozialistischer Autoren dokumentiert ist. Andererseits ist es die Wortkomponente, was 1934 in dem kompakten Spezialverzeichnis nationalsozialistischer Ausdrücke mitsamt den Inhalten in Form von Bedeutungsangaben dokumentiert ist und sich in <?page no="113"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 113 den Folgeausgaben durch Neuaufnahme weiterer ideologischer Ausdrücke insbesondere im Kleinen Duden ( 2 1939) sowie durch Übernahme bereits kodifizierter auch im Großen Duden ("1934) und ( 12 1941) fortsetzt. Die eigentliche Nazifizierung, sei es durch Infiltration ideologischer Ausdrücke oder durch ideologische Überhöhung, findet im Kleinen Duden (1934) und in Folge ( 2 1939) statt. Die beiden Großen Duden ( n 1934) und ( l2 1941) sind allenfalls beflissene Nachfolger, oder vielleicht besser: überzeugte Mitläufer. Womit sich auch hier bestätigt: Kleine können in mancherlei Hinsicht größer sein als Große - und sie sind es nicht selten auch. Ob bei dem Verlag die Überlegung mitgespielt hat, auf der Linie der kleinen, handlicheren und preisgünstigeren Ausgaben ließe sich auch Ideologisches leichter und schneller unters Volk bringen, weiß ich nicht. Auf jeden Fall suchen die Kleinen die Nähe zum Volke und insbesondere zur Jugend. Das zeigt schon der Titel „Der Volks-Duden“ (1933) und wird diesem bestätigt durch Matthias (1933, S. 199), der diesen als „wirklich ein Volksbuch“ empfiehlt; im Vorwort (Volks-Duden 1933, S. 7) werden „die Jugendlichen in Schule und Haus“ als eine der Haupt-Adressatengruppen ausdrücklich genannt. Der Kleine Duden (1934, S. IV) und ( 2 1939, S. III) stellen sich im Vorwort unisono als „eine für die Jugend gekürzte, volkstümlich bearbeitete Ausgabe des Großen Duden“ vor und empfehlen sich beide auf der Titelseite insbesondere der Volksschule, 1934 überhöht durch den bezeichnenden Titelteil „Reichsschulwörterbuch“. Überdies wird der Kleine Duden (1937), als Teil einer illustren Gesellschaft von 16 Titeln, als Mittel zur Fortbildung für politisch-soldatisches Wissen eingesetzt. Dem Kleinen Duden von 1934 kommt dabei insgesamt eine die Infiltration und die Überhöhung umfassende sowie bezüglich der Infiltration, die in den Folgeausgaben weiter geführt wird und sich fortsetzt eine grundlegende und die Richtung vorgebende Rolle zu. Die Präsenz nationalsozialistischer Autoren zeigt in spezifischer Weise die Einbettung in das politische Umfeld auch im weiteren Sinne. Mit der Beteiligung Rudolf Buttmanns und des Reichsministeriums des Innern an der Ausgabe von 1934 kommt in Erinnerung, dass diese staatliche Zentralstelle der Besprechung über die Stecheschen Vorschläge am 15. Juli 1933 zielführende Anregungen vorgegeben hat. Mit Hans Schemm, auch bayerischer Kultusminister, und Eduard Rothemund sind zwei Akteure des Nationalsozialistischen Lehrerbundes aufgeboten, der auf dieser Bespre- <?page no="114"?> 114 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform chung ebenfalls vertreten ist (vgl. oben 1.1.1.1) und dessen „Reichsleitung“ 1934 auf der Titelseite nach den Bearbeitern Otto Basler und Waldemar Mühlner an exponierter Stelle in Erscheinung tritt. Im Vorwort von 1934 wird, in einem Atemzug mit Konrad Duden, der Deutsche Sprachverein als die mit dem Kleinen Duden ins Auge gefasste Erziehungsarbeit mitbestimmend ausgewiesen, dessen Vorsitz Buttmann, auch Leiter der Kulturabteilung der NSDAP, am 1.9.1933 übernimmt, worüber Steche dann im Oktober 1933 in der Völkischen Kultur berichtet. 44 Ob dieses Aufgebot etwa die Lehrer als eine doch wichtige Gruppe der Adressaten und der potenziellen Benutzer dieses Buches wirklich beeindruckt hat, sei dahingestellt. Jedenfalls dürfte es bei manchen, bei vielen, bei dem Gros von ihnen wie soll man das aus der Retrospektive schon genauer quantifizieren? kaum auf Zustimmung gestoßen sein, wenn auf einer Versammlung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes vor dem 7.2.1934 der Redner bekennt: „[...] >Wir sind die Leibeigenen unseres Lührers.< [...]“ (Klemperer 1933-1934, S. 86; 7.2.1934). Und wenn es Anfang 1935 in den Deutschland-Berichten der SPD heißt: „Die Verachtung der meisten Lehrer für Rust und Schemm ist unvorstellbar groß. Sie werden gern als »Oberkurantem, »Idiotem usw. bezeichnet.“ (SPD 1935/ 2.2.; Jg. 2, S. 203); und wenn es so ist, dass "[i]n Regensburg [...] die ledige Gemischtwarenhändlerin Therese Harländer aus Sünching wegen gehässiger Äußerungen über den [bei einem Plugzeugabsturz; WM] tödlich verunglückten Kultusminister Schemm in Schutzhaft genommen [wurde]“ (SPD 1935/ 2.3.; Jg. 2, S. 359), dann dürfte Hans Schemms Geleitwort im Kleinen Duden von 1934 analog zu der Quantifizierung im Bericht oben: bei den meisten von ihnen eher von kontraproduktiver Wirkung sein. Gegenüber dem Reichsschulwörterbuch von 1934 zeigt der Kleine Duden ( 2 1939) als zweite Auflage auf dieser Ebene ein anderes Bild weitgehend ohne den dort spezifisch politischen Hintergrund. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass Otto Basler mit seinen Verbindungen an der Ausgabe von 1939 nicht mehr beteiligt ist. 45 Warum dies so ist, wird weiter unten (vgl. 3.1.2) dargestellt. 44 Birken-Bertsch/ Markner (2000), S. 27. Zu weiteren Verbindungen u.a. zwischen Buttmann und Steche, zwischen diesem und Hans Schemm und den oben genannten Institutionen und Verbänden vgl. Birken- Bertsch/ Markner (2000) sowie Simon (1998). Über die Verbindung u.a. zwischen Franz 45 <?page no="115"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 115 Noch ein Wort zu Otto Basler in der Zeit des Nationalsozialismus aus der Retrospektive in der Literatur mit ihren Widersprüchen: Stigmatisierung: Nach Sauer (1988, S. 121) ist Basler „NSDAP-Mitglied seit Anfang der dreißiger Jahre“, ein Jahr später kennzeichnet Sauer (1989, S. 105) ihn als „aktiven Nationalsozialisten“. Kopke (1995, S. 66) stützt sich auf Sauers Angabe von 1988 und schreibt: „Otto Basler [...], der als aktiver Nationalsozialist [...] die >Nazifizierung des Duden< betrieben hatte“; und Müller (1994, S. 112) spricht „von dem aktiven Nationalsozialisten Otto Basler“. Ein Nachweis, etwa in Form eines Dokumentes, findet sich in keiner der Arbeiten. Relativierung: Bei Simon (1989, S. 71) heißt es im Zusammenhang damit, dass sich 1936 „die Praxis der Überwachungsorgane in bisher nicht gekanntem Ausmaß [verschärft]“, dass „dies auch Basler [trifft ...], der bislang eigentlich als linientreuer Parteigenosse galt, ja sich in seinem Heliand-Buch sogar antisemitisch äußerte (Römer 1985, S. 175)“ (Kursive WM). Weißes Feld: In Simon (1998, S. 91) heißt es, bezogen auf die 11. Dudenauflage von 1934: „Heute sind wir geneigt, diesen Duden als Nazi-Duden zu interpretieren: laut Wolfgang Werner Sauer wurde >Sprachmaterial aus dem NS-Sprachgebrauch in erheblichem Maße in das Wörterverzeichnis eingearbeitet.< [... Verweis auf Sauer (1988), S. 122; WM.] Der Bearbeiter Basler war ein Militär, Oberstleutnant und Bibliothekar, aber deswegen noch lange kein schlechter Sprachwissenschaftler.“ Eine Angabe über die NSDAP-Zugehörigkeit Baslers findet sich hier nicht, auch nicht in Birken/ Bertsch-Markner (2000), obwohl Basler bei ihnen (s)eine Rolle spielt, alle drei Autoren mit Angaben dieser Art nicht gerade kleinlich sind und die zwei Autoren zwar nicht Sauer (1988), so doch Kopke (1995) benutzt haben und dessen einschlägige Angabe über Basler kennen müssten. Wie dem auch sei: Jedenfalls haben die zwei sie nicht übernommen. Thierfelder, Rudolf Buttmann und Otto Basler im Zusammenhang mit dem Deutschen Sprachpflegeamt, das am 1.4.1935 seine Arbeit aufnimmt, vgl. Birken-Bertsch/ Markner (2000), S. 28-32, 35; vgl. auch Simon (1989). <?page no="116"?> 116 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (Selbst-)Biographische Feststellungen: In dem biographischen Artikel von Kerstin Steiger (2003) „Basler, Otto Victor Emanuel“ sowie in dem bei ihr angeführten Dokument heißt es: „1940 Versuch des Präsidenten der Deutschen Akad. München, Erich Gierach, eine Ernennung 0. B.s als Hon.-Prof. an der Univ. München in die Wege zu leiten. Ablehnung durch den Reichskultusminister, da O. B. kein Parteigenosse war und den Beitritt in die Partei ablehnte [so nach O. B.s eigener Aussage]“ (S. 93). „Der Nationalsozialistischen Partei habe ich nicht angehört.“ (BN III. 1 Basler: Lebenslauf). Erhellungen: In einem Telefonat (Mitte 1998) teilte mir Wolfgang Sauer auf Anfrage mit, er habe die Angabe über Baslers Mitgliedschaft in der NSDAP von Gerd Simon. Ein Anruf Kerstin Steigers bei diesem (24.8.1998) ergab, Sauer könne diese Angabe nicht von ihm haben. Schlussfolgerungen: Ein Beispiel für eine inhaltliche Verzerrung durch eine nicht nachgewiesene, falsche Stigmatisierung? Jedenfalls passt sie sowohl Sauer als auch Kopke natürlich so recht ins Konzept. So, wie es sich darstellt, ist es bei Basler, auch aufgrund seiner vielen Aktivitäten, ähnlich wie bei Mühlner: „Zwar ist er kein aktives Mitglied der NSDAP, gehört aber mehreren Gliederungen derselben an [...]“ (Müller 1994, S. 119). 1.1.2.4 Führer-Rollen - Aspekte, Strukturen und Verfahren der Ideologisierung - Schule und Wissenschaft (Reichsminister Bernhard Rust) Ideologisierte Orthographiebücher fallen nicht einfach so vom Himmel, sondern auch sie dokumentieren Fassetten der Wirklichkeit ihrer Zeit. Diese spiegelt sich auch darin wieder, dass schon innerhalb des ja recht kleinen Orthographie-Feldes in dem doch kurzen Zeitraum von 1933 bis 1934 der Führer immerhin sechs hier festgestellte Rollen einnimmt bzw. in diesen ins Spiel gebracht wird, die um drei weitere aus der folgenden Zeit ergänzt sind (vgl. Abb. 10). Dieses Rollen-Spektrum verleiht dem Rollen-Träger so etwas wie Omnipräsenz, selbst oder zumindest hier auf dem orthographischen Felde, doch ande- <?page no="117"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 117 renorts ist es nicht anders. Als alle Rollen übergreifend, in sich einholend ergibt sich: • Der Führer X: Als höchstpersonifizierte Ideologie und höchste Instanz Inbegriff bzw. Maß(stab) jeglichen per se nationalsozialistisch auszurichtenden Handelns: Führerprinzip. X ‘Der Führer’ Als höchstpersonifizierte Ideologie und höchste Instanz Inbegriff bzw. Maß(stab) jeglichen per se nationalsozialistisch auszurichtenden Handelns: FÜHRERPRINZIP. übergreifend II III Leit- und Orientierungspunkt tür die Ausrichtung des Handelns, hier auf dem Felde der Orthographie. Höchste Instanz für die Entscheidung in einer seit eh und je umstrittenen Frage, hier die der Regelung der Groß- und Kleinschreibung, 1933 1.1.1.1 Als höchste Instanz mutmaßlicher negativ eingreifender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. IV VI Höchstes nationalsozialistisches Vor- und Leitbild, hier in Lehr-Beispielen und Zitaten zur Exemplifizierung des rechten Gebrauchs, hier von Interpunktionszeichen, und allgemein des rechten Verhaltens. Auf den Spuren historischer Leitgrößen, hier auf denen Martin Luthers, des Vollenders der sprachlichen Einigung und seines Wegbereiters, nunmehr als Schöpfer der reichspolitischen Einigung, des neuen Reiches. Höchstpersonifizierte Ideologie und Bildspender für Metaphern, hier für die vom Duden-‘Führer’ in allen sprachlichen Nöten und Fragen. 1934 1.1.2.1 (1) 1.1.2.2 1.1.2.2 VII Höchste Instanz für komplementär positive und negative grundsätzliche Entscheidungen, hier: die Antiqua-Schrift als Normal-Schrift einzuführen und die als Judenlettem verunglimpfte Fraktur-Schrift abzuschaffen. 1941 1.1.3.2 (1) VIII Als höchste Instanz in welch konkreter Form auch immer positiv Stellung beziehender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. 1941/ 42 1.1.3.2 (2) IX Als höchste Instanz negativ eingreifender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. 1944 2.4.5/ 6 Abb. 10: ‘Der Führer’: Rollenspiel. Realisierungen auf dem Felde der Orthographie Diese Präsenz kommt auch in der oben festgestellten Fülle ideologischer Leitbegriffe zur Sprache, die in der folgenden Skizze des nationalsozialisti- <?page no="118"?> 118 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sehen Überbaus, im zusammenhängenden Text, zu Wort kommen auch zu verstehen als schlaglichtartige Erhellung des ideologisch-politischen Hintergrundes für den Auftritt und die Initiativen des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, zunächst im nächsten Abschnitt (vgl. 1.1.3) wie dann auch späterhin (vgl. insbesondere Kapitel 2.). (1) Führerprinzip und Gleichschaltung Das Führerprinzip und damit ideologisch-genuin alliierte Leitbegriffe wie ‘Gleichschaltung’ und ‘Totalität des Staates’ 46 sowie die Verknüpfung mit der Rasse/ Blut-Ideologie 47 auch in schicksalhafter Hinsicht auf Reich, Sprache und Volk 48 prägen nicht nur die Vorstellung von dem sprach(wissenschaft)lichen, schulischen und ja seit jeher öffentlich sehr beachteten, wenn auch an sich kleinen Bereich der Orthographie, sondern auch die von der allgemeinen Lexikographie, was im Zusammenhang mit Müller (1994) und Haß-Zumkehr (2001) schon anklang, die auch allgemeine Wörterbücher mit einbeziehen. War „an die vierhundert Jahre lang die deutsche Sprache als das Defmiens für Volk und Nation begriffen [worden]“, so wurde nunmehr seit 1933 „mit der staatlich verordneten Rassenideologie die Rasse, metaphorisch als >Blut< bezeichnet, zum Defmiens für Volk und >Reich< [...]. Das nationale Leitkonzept der Sprache wurde durch das Leitkonzept Rasse/ Blut verdrängt. Die Autoren der Wörterbuchvorworte [und weiterer Umtexte ...; WM] beschrieben 46 Führerprinzip (ein Führer entscheidet, nicht eine Personenmehrheit); Gleichschaltung (Gesamtheit der Maßnahmen zur Sicherung der einheitlichen Durchführung der Anordnungen der nationalsozialistischen Staatsfuhrung); Totalität des Staates (die das gesamte Leben der Nation einheitlich gestaltende Kraft des Staates); Unitarismus (Stärkung der Zentralgewalt auf Kosten der Bundesstaaten) (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. XXVII-XXX). 47 Rassenhygiene (Erbgesundheitslehre, -pflege; Förderung einer bestimmten Rasse); Blut und Boden (Schlagwort der nationalsozialistischen Bewegung zur Bezeichnung der stärksten Triebkräfte im Leben des Einzelnen und des Volkes); (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. XXIX, XXVI). 48 ‘deutsche Sprache deutscher Unterricht das ganze deutsche Volk - Nationalsozialismus und sein Führer’ (Steche 1933; vgl. oben 1.1.1.1); „Ein Volk eine Sprache eine Schule“; „Volk und Sprache“; Volkstum (das einem Volk nach Abstammung, Sprache und Kultur Gemeinsame); Volkswerdung (Zusammenfmden zu einem von einheitlichem Willen beseelten Volk) (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. Ill, V, XXX). Vgl. auch: „Es gibt nur noch ein Volk, ein Reich und einen Führer.“ (1938/ 1939; Abb. 12 in Kap. 1.1.3.1). <?page no="119"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 119 Sprache nunmehr als eine von der >Rasse< abgeleitete und eng auf sie bezogene Größe und schlossen: Die durch Wörterbücher vermittelte Sprachkenntnis solle die Erkenntnis der >Rasse< oder deutschen Art< ermöglichen.“ (Haß-Zumkehr 2001, S. 209f.). Innerhalb dieses Kontextes werden Maximen für die Sprachpflege aufgestellt mit einem der Zeit angepassten Ideal des Sprechens und der Sprache als Ziel: Kempf (1934) „fordert eine >Heilung< der Kanzleisprache von >Fremdwörtersucht<, >Juristendeutsch< und >Bürokratenstil<. Richtigkeit, Reinheit, Deutlichkeit und Schönheit (bzw. Angemessenheit) sollten in Zukunft die Merkmale einer echt deutschen und volksverbundenen Behördensprache sein“ (S. 156). Ruttke (1935) stellt unter der Überschrift „[...] Sprachpflege, ein Erziehungsmittel zur Erb- und Rassenpflegei [... a]m Beispiel einer >rassegerechten< Rechtssprache [...] >Reinheit, Richtigkeit, Deutlichkeit, Schönheit und Volksverbundenheit< [...] als Maximen der Sprachpflege im nationalsozialistischen Staat auf 1 (S. 161). Damedde (1937) „gibt als >rassisch< [...] bestimmtes Ziel von Sprachpflege vor: [...] Einfachheit und Klarheih [...]“ (S. 154). Nach Ahmels (1939) ist im Rahmen einer „Sprecherziehung im Dienste der politischen Arbeit“ das „Sprechideal: >kernig, hart, straff, klar, bündig und wirksam< [...]“ (S. 152). Linden (1940) kennzeichnet die „Wehrhafte Sprache. Sprachform der Heerführer und Kriegsdenker“ als „[...] »einfach, knapp und schlagendi [...]“, wobei es darum geht, „die letzten Überreste >artfremden Sprachformen auszurotten“ (S. 158; alle nach Kämper-Jensen 1993, auf der jeweils angegebenen Seite; Auszeichnungen WM). Die unterschiedlichen Auszeichnungen zeigen augenfällig das Nebeneinander urtümlicher rhetorischer Kategorien (hierzu vgl. Mentrup 2003, A. II. 3.; B. IV. 2.1. b) und einschlägigen ideologischen ‘Wortgutes’ und ihre Vermischung. Zudem „wurde das ‘Führerprinzip’ auf die Lexikographie übertragen, insofern sich die Orientierungsfunktion der Textsorte Wörterbuch mit der Metapher des Führers noch betonen lässt.“ „Das Wörterbuch [...] als zuverlässiger Führer [...]“ (1936); „Das [...] Wörterbuch [...] hat mit der Zeit Schritt gehalten, es ist [...] Wegweiser und sicherer Führer“ (1942); <?page no="120"?> 120 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform so zwei einschlägige Stellen. (Haß-Zumkehr 2001, S. 210; vgl. insgesamt auch Müller 1994). 49 All dies gilt im Weiteren auch für den Bereich der Wissenschaft und der Schule insgesamt und damit - Wie sagt, leicht modifiziert, der Volksmund? „Wie's Gescherr, so der Hen“ insbesondere für den für „Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ zuständigen und verantwortlichen Reichsminister Bernhard Rust. Dazu einige Impressionen aus der Erfahrung und Sicht von Zeitzeugen, von Zeitgenossen unterschiedlich! st)er Couleur. Zunächst zu Rust 50 als Politiker und Amtsträger, der als solcher offenbar dankbares Objekt unterschiedlich(st)er Kennzeichnungen mit extrem gegensätzlichen Wertungen ist. Eine nur kleine Auswahl an Seiten-Ansichten, zusammengesehen: an Janus-Gesichtigem. Auf oder von der einen Seite wird Rust, u.a. wie Goebbels, den für die Formulierung weltanschaulicher „Richtlinien [...] zuständigen Staatsmännern“ zugeordnet (Fred Hamei 15.7.1933; nach Wulf 1989, Bd. V, S. 184). Auf derselben Wellenlänge wird ihm die „Art des seelischen Verstehens für weitreichende politische Dinge [zugesprochen; WM], die angeboren ist und die unmittelbaren Persönlichkeiten um Adolf Hitler wie Goebbels, Frick, Rust, Göring u.a. so hervorragend auszeichnet“ (H. Goitsch 23.6.1934; nach Wulf 1989, Bd. I, S. 202). Von oder auf der anderen Seite sind Kennzeichnungen in Umlauf oder im Schwange wie "verkappte[r] Reaktionär“; „armer, kleiner Schulmeister, der von der Universität nichts versteht“, sodass die Verhältnisse an den Hochschulen „nicht eher besser [würden], als bis der Minister Rust verschwunden sei“ (nach Heiber 1991, Teil I, S. 363, 276, 423); was insgesamt an die schon 49 Sicher ist, dass der Führer auch im Bereich der Lexik und der allgemeinen Lexikographie nicht nur als Metapher dient bzw. erscheint, sondern auch weitere Rollen wie im Bereich der Orthographie hat. Dass z.B. Zitate von Hitler wie auch von Goebbels in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern als Belege für den Gebrauch von Wörtern wie Glaube und Sünde, Sturmabteilung und System verwendet werden (vgl. Abb. 10 IV), ist in der Literatur nachgewiesen (vgl. Boehlich 1961; nach Haß-Zumkehr 2001, S. 212; Müller 1994, S. 70ff.). Eine weitere und dabei aktivere Rolle zeichnet sich insofern ab, als Hitler, auch hier höchstinstanzlich, sich zur Frage nicht nur der Schreibung, sondern auch der Verwendung von Fremdwörtern äußert und dabei puristische Bestrebungen kritisiert und zu stoppen versucht. Zu diesem vgl. auch Pedersen (1994). 50 <?page no="121"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 121 bekannten Beschimpfungen ‘Oberkurant’ und ‘Idiot’ (vgl. oben 1.1.2.3) erinnern lässt. Noch ein weiteres Paar von Seiten auf einen Blick: Lässt sich Rust, auch hier wie Goebbels, eine neue Villa bauen und wird diese mit „Möbelfn] aus staatlichen Schlössern“ ausgestattet (SPD 1935/ 2.1.; Jg. 2, S. 103), so weiß eine Laborantin in Dresden davon zu berichten, „wie anmaßend protzig die Nazi- Herren aufträten (Kultusminister Rust in Staatsgemächem: >ln diesem Kitsch soll ich wohnen? ! <, Frau Goebbels und Gefolge ...)“ (Klemperer 1935-1936, S. 50f.; 5.10.1935). Zur Schul-, Wissenschafts- und Bildungspolitik des Reichserziehungsministers (Kursive der Leitbegriffe im Folgenden WM): Durch eine Rust-Verfugung (30. März 1933) werden „alle Selbstverwaltungseinrichtungen beseitigt und an ihre Stelle das Führerprinzip auch in der Schule eingeführt“ (nach SPD 1937/ 4.7.; Jg. 4, S. 1047). Das dispositive auch, das etwas anderes voraussetzt und dessen Ergänzung indiziert, mag sich dadurch erklären, dass Rust wie es ausdrücklich heißt: „wohl als erster Minister“, was den Eindruck rechter Beflissenheit und Devotheit vermittelt - „öffentlich erklärte, daß AdolfHitler schon heute für die nordischen Völker der geistige Führer sei“, und dass Rust, noch weiter ausholend, Hitlers Führerschaft als ,fleuschöpfung der Welt durch den Führer“ versteht, sie zu dieser hochstilisiert (H. Goitsch 23.6.1934; nach Wulf 1989, Bd. I, S. 202). Der Führer also nicht nur als Schöpfer des neuen Reiches wie bei Rothemund im Reichsschulwörterbuch (vgl. oben 1.1.2.2), sondern denn damit bescheidet sich ein Herr Rust augenfällig nicht der Führer auch als Neuschöpfer gleich der ganzen Welt, womit die Auslandsperspektive ihre äußersten Grenzen erreicht und ihre denkbar größte Ausdehnung findet. Insgesamt: dux, regni et orbis. Wo ein Führer ist, muss es in welche Richtung auch immer - Geführte, eine Gefolgschaft geben; zudem ist deren stromlinienförmige Ausrichtung, deren Gleichschaltung zwangsläufig angestrebtes, weil System-immanent vorgegebenes Ziel. Zum „Sinn der Gleichschaltung“ gehört für Rust „die fundamentale Tatsache, daß der größte Teil des deutschen Volkes wieder zw sich selbst erwacht ist [... und; WM] eines Tages das ganze deutsche Volk für das neue Werk gewonnen“ sein wird (Rust 12.5.1933; nach Wulf 1989, Bd. IV, S. 289); wobei nach dieser Vorstellung das zum größten Teil erwachte Volk der Losung und dem Ruf „Deutschland erwache“ offenbar gefolgt ist. <?page no="122"?> 122 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Ansatzpunkte für die Vollendung dieses Zu-sich-selbst-Erwachens, dieser Volk{s)werdung und deren Träger aus der Sicht des Reichserziehungsministers sind bzw. sollen sein: die Schule: Diese „hat sich auszurichten nach dem Geiste unseres großen feldgrauen Heeres, und hat dafür zu sorgen, daß ein ganzes Volk in seiner Totalität auf diesen Gedanken hin erzogen wird“ (Rust 24.7.1934; nach SPD 1935/ 2.2.; Jg. 2, S. 201); „Meine Herren Lehrer, Sie sind die SA-Führer der deutschen Volksbildung! [...] gehen Sie an die Aufgabe, uns zunächst einmal 95 Prozent des deutschen Volkes zu einer großen deutschen Volksgemeinschaft der Zukunft heranzuziehen.(Rust 10.7.1933; nach SPD 1937/ 4.7.; Jg. 4, S. 1062). Dies lässt einerseits mit Lehrern als den Führern die Kennzeichnung von ihnen, ihres Berufsstandes als den „Leibeigenen unseres Führers“ (vgl. oben 1.1.2.3) als merkwürdig kontrastiv dazu erscheinen und spielt andererseits mit 95% eine Quantifizierung ein, die offen lässt, was wann (vgl. oben das zunächst) mit den restlichen 5% geschehen soll, damit das ganze Volk in seiner Totalität (h)er(ange)zogen ist. Zwei Möglichkeiten bieten sich hier an: Entweder werden sie in einem Nachhol-Gang ebenfalls noch ein- und herangezogen und in die Volkgemeinschaft einverleibt, womit die 100% erreicht wäre; oder sie werden aus der Volksgemeinschaft ausgegrenzt, ausgesondert und einer speziellen Lösung zugeführt; wodurch die bisherigen 95% die neuen 100%(igen) wären. die Wissenschaft: Diese „sei [...] nationalsozialistisch ausgerichtet, und die Studenten seien politische Soldaten“ (Rust auf einer Heidelberger Universitätsfeier; nach Klemperer 1937-1939, S. 41; 28.6.1937); „[...] die wahre Autonomie und Freiheit der Wissenschaft lieg[e] darin, geistiges Organ der im Volke lebendigen Kräfte und unseres geschichtlichen Schicksals zu sein“ (Rust; nach SPD 1939/ 6.8.-10.; Jg. 6, S. 999); weltanschauliche Schule und Wissenschaft: „>Im Mittelpunkt der weltanschaulichen Schule stehe eine auf die nationalsozialistische Idee gegründete totale Wissenschaft von Volk und Staats“ (1. Staatssekretär im Reichserziehungsministerium 22.8.1934; nach Klemperer 1933-1934, S. 141; 4.9.1934) (Kursive insgesamt WM). Leibeigene unseres Führers = Die Lehrer = SA-Führer der Volksbildung, was sich vielleicht so deuten lässt: Die Führer-Leibeigenen werden in ihrem Berufs-Feld selbst zu Führern. <?page no="123"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 123 Studenten = politische Soldaten analog zur Schule = ausgerichtet nach dem Geiste unseres großen feldgrauen Heeres, womit sie diesem, je nach Sicht, gleichgeschaltet oder vielleicht auch einverleibt sind. Auch hier zeichnet sich ein breiterer Rollen-Fächer ab, den systematisch aufzufüllen eine ebenso reizvolle wie wahrscheinlich äußerst ertragreiche Aufgabe wäre; wobei der dispositive Konjunktiv II signalisiert, dass ich diese nicht angegangen bin. 51 Auch die Orthographie, wie kann es auch anders sein, ist hier einbezogen. Das Reichsschulwörterbuch hat, wie schon aus den oben vorgestellten Umtexten deutlich wurde, durch Vereinheitlichung der Rechtschreibung eine nationale Aufgabe zu erfüllen: „Eine Neuordnung unserer Rechtschreibung [...] muß im Zeichen unserer völkischen Einheit, die jetzt geschaffen ist, kommen. Erreicht werden muß [...] schleunigst die Vereinheitlichung innerhalb der Reichsgrenzen.“ (Mühlner 1934a, S. 26); wobei sich der Titel „Gleichschaltung der Rechtschreibung“ (Dück 1933) und die Redeweise von Rust (1944) als dem „reichseinheitlichein] Buch“ (dazu vgl. unten 2.1.1.3 (1)) assoziativ einstellen. Doch auch hier die Auslandsperspektive: „Das Reichschulwörterbuch >Der kleine Duden< will der deutschen Schule im In- und Auslande, besonders der Grund- und Volksschule und dem deutschen Volke helfen“ (Mühlner 1934a, S. 57; beide Zitate nach Müller 1994, S. 120). 51 Führerprinzip und das Führerprinzip haben die Zeiten überlebt. Unter der Überschrift „In Schill-Partei regt sich Widerstand“ wird von einem „[...] >Kreis der Unzufriedenem in der Partei [>Rechtsstaatliche Offensive<]“ berichtet, in dem sich „Kritiker des Parteigründers und Vorsitzenden Ronald Schill“ als „neuer Reformflügel etablieren“ wollen. Die Kemforderung ist: „[...] >Die Partei muss stärker an wichtigen Entscheidungen beteiligt werdem [... Sie] solle nicht nach dem >Führerprinzip< organisiert werden. >Auch Leute, die Schill kritisierem, müssten darin Platz haben.“ (ap 2001/ 27.11.). Dies gilt auch für Weiteres. Unter der Überschrift „ln der Höhle der Professoren. Italienische Intellektuelle haben eine neue Protestbewegung initiiert selbst die alte Linke muss sich warm anziehen“ berichtet Roman Arens: „Diejenigen, die erst jetzt massenhaft aus Lethargie und Resignation aufwachen, wenden sich zunächst an die Parteien ihrer alten Sympathie: Warum fällt euch nichts ein gegen Machtergreifung und Gefahren der Gleichschaltung im Fernsehen? Warum habt ihr so lange zugesehen, dass [...] die Justiz, die gegen Korruption und hier auch gegen Regierungschef Silvio Berlusconi vorgeht, dem Willen der Regierung unterworfen werden soll, das war der zündende Funke. Der Funke zu einem Flächenbrand [...].“ (Arens 2002/ 28.2.; Fettdruck WM). <?page no="124"?> 124 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wäre Rust für das Reichsschulwörterbuch verantwortlich gewesen, er hätte es, im Verfolg seiner oben referierten Führer-Vorstellung, wahrscheinlich >Weltschulwörterbuch< oder, politisch noch ausgreifender, >Weltreichsschulwörterbuch< betitelt und dieses in den Dienst der Erringung der Vor-, der Weltherrschaft auf dem Orthographiefelde gestellt. Also auch hier: Denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt. 52 (2) Gleichschaltung - Dichotomien antagonistischer Größen Eine solcherart verordnete stromlinienförmige Ausrichtung und propagierte ideologische Gleichschaltung bis hin zur Totalisierung als angestrebtem End-Ziel führt angesichts der vorfmdlichen Vielfalt, Vielfarbigkeit und Buntheit des Umfeldes, vielleicht kann man sagen: der anderen, der komplementären Wirklichkeit, ebenso zwangsläufig wie notwendig zu Gegensätzen, zu Dichotomien antagonistischer Größen, zur Polarisierung. Die Auswertung zweier Aufzeichnungen aus dem Jahre 1935 wohl über denselben Sachverhalt 53 lässt die Grundstruktur erkennen: Hic 1 Vorrang, 52 Stimmig hierzu auch Trausei (1944), der weiter unten (vgl. 2.1.2.1) im Zusammenhang mit Rust (1944) ins Spiel kommen wird und für den „die Einheitsschreibung und Einheitslautung [der Reichssprache ...] der weithin erkennbare Ausdruck der Volkseinheit im politisch geeinten Reiche“ sind (S. 5); wobei es letztlich darum geht, „daß wir alle die Reichssprache in möglichster Vollkommenheit beherrschen als Bekenntnis der Volkseinheit im Großdeutschen Reiche“ (S. 10). Zu Trausei vgl. auch Müller (1994), S. 88f. Hingewiesen sei auf Duden (1876b) „Für und wider die neue Reichsrechtschreibung“, Fricke ( 2 1880) „Die Reichsorthographie. Zur Orientierung in dem Streite über Möglichkeit und Nützlichkeit einer einfachen Rechtschreibung“, Sanders (1880) „Di reihsortografi“ und auf Heichen (1884) „Deutscher Reichs-Orthograph“; wobei ich der Versuchung, den Reichsbegriff dieser Autoren mit dem oben dargestellten zu vergleichen, widerstehe. 53 „Rust betont in jeder Verordnung für höhere und Hochschulen, in jeder Rede die Überwindung des >faden lntellektualismus<, den Vorrang der körperlichen und charakterlichen Fähigkeitem, das Verbot, sie durch >rein verstandesmäßige Leistungem zu kompensieren, die >rassische< Auswahl.“ (Klemperer 1935-1936, S. 22; 17.4.1935) In einem Rust-Erlass wird angeordnet, „die frühere einseitige Bevorzugung der rein verstandesmäßigen Anlagen zu vermeiden und die ständige Prüfung der Schüler >auf die körperliche, charakterliche, geistige und völkische Gesamteignung zu erstrecken<. >Schüler, die die Volksgemeinschaft oder den Staat wiederholt schädigen, sind von der Schule zu verweisend >Wenn der Schüler hervorragende Führereigenschaften besitzt und be- <?page no="125"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 125 Kontrolle', hier des Körperlichen bis hin zum Völkischen lllic ‘ Verbot und Vermeidung', hier des Rein-Verstandesmäßigen (vgl. Abb. 11). Maßnahmen, Wertungen Merkmale a) Hic Vorrang ^ Prüfung Überwindung des Intellektualismus in Schule, Wissenschaft b) \ der körperlichen und charakterlichem Fähigkeiten >auf die körperliche, charakterliche, geistige und völkische Gesamteignung< hin Erziehung zum Führertyp durch (rassische) Auswahl lllic Verbot meiden diese (vgl. a) durch >rein verstandesmäßige Leistungem zu kompensieren die frühere einseitige Bevorzugung der rein verstandesmäßigen Anlagen Abb. 11: Erziehung zum Führertyp Die verschärft auf den Punkt gebrachte Grundstruktur ‘nicht b, sondern a’ oder ‘a, nicht b’ findet sich, in variativer Ausdrucksweise und auch verstärkt u.a. durch die Zeitdimension Hic ‘neu, Zukunft' lllic 'bislang, Vergangenheit', in einschlägigen nationalsozialistischen Texten zuhauf (vgl. auch Mentrup i.Vorb.). Dazu vier Beispiele zunächst im Zusammenhang mit Allgemeinem (Kursive insgesamt WM): „Nicht der Mensch sei das Maß der Dinge, sondern die Nation.“ (Rust 15.2.1933; nach Wulf 1989, Bd. II, S. 16); „kein Richtungswechsel“, sondern ‘Volkserwachen’ als „fundamentale Tatsache“ (Rust 12.5.1933; nach Wulf 1989, Bd. IV, S. 289); „kein politischer Imperialismus, sondern [...] die Aewschöpfung der Welt durch den Führer“ (Rust nach H. Goitsch 23.6.1934; nach Wulf 1989, Bd. I, S. 203); stätigt, ist besonders wohlwollend zu verfahrene Auf diese Weise wird versucht, den HJ- Führer zu begünstigen und jede politisch gefärbte Kritik aus der Schule zu verbannen. - Einige Berichte zeigen, wie das Bestreben des Systems, an den höheren Schulen einen ihm gemäßen Führertyp heranzubilden, praktisch betätigt wird.“ (nach SPD 1935/ 2.6.; Jg. 2, S. 691). <?page no="126"?> 126 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Es ist ein Unding zu glauben, daß man einen Staat auf Führung einstellt und eine Schule auf Demokratie“ (Rust Juli 1934; nach SPD 1937/ 4.7.; Jg. 4, S. 1046); wobei halt nur eines von beiden geht oder gilt, und für Rust natürlich die Einstellung auf Führung. Im Weiteren drei Beispiele, die inhaltlich an den Text in Abb. 11 anknüpfen, und ein weiter ausgreifendes viertes, wobei alle in den (Hoch-)schulbereich zurückfuhren; Im Zuge der „Umgestaltung des Lehrkörpers“ obliege der Studentenschaft die Pflicht, durch „Disziplin und Leistung“ den Ruf des Hochschulwesens wiederherzustellen; sie dürfe sich nicht beirren lassen durch „Entgleisungen einzelner Hochschullehrer“; „.StoVwwgsversuchen“ des „Arbcits/ r; e<7e«s“ auf beiden Seiten werde entgegengetreten (Erlass an die preußische Studentenschaft Mai 1933; nach Heiber 1992, Bd. II, S. 96); „Wehrsportübungen“, daför „Eine Reihe von Vorlesungen [...] einfach gestrichen. Wissenschaft ist jetzt nicht mehr das Wesentliche.“ („plötzlicher Ukas“ in der Technischen Hochschule, Dresden; nach Klemperer 1933-1934, S. 60f.; 9.10.1933); „die Studenten [müssen] zum >Arbeitsdienst< einrücken [...], weil das Regime tatsächlich in Bildung, Wissenschaft, Aufklärung seine eigentlichen Feinde sieht und bekämpft“ (Klemperer 1933-1934, S. 86; 7.2.1934); „Meine Herren Lehrer, [...] blicken Sie nicht nach jenen liberalistischen Hochschulgebilden der Vergangenheit, sondern gehen Sie an die Aufgabe [...] der Zukunft [...] Versuch des abgetretenen Regimes [...] eine marxistische Lehrerschaft zur Zersetzung des deutschen Volkes heranzuziehen. Sozialistische Wissenschaft, sozialistische Pädagogik, industrielle Pädagogik, Gegenwartskunde, alles schöne Decknamen, unter denen man den marxistischen Vo\kszerstörer der Zukunft heranziehen wollte. An ihre Stelle treten nun ganz neue Lehrfächer. Volkskunde, Wehrgeographie, Grenzlandkunde, Rassenkunde, das sind die Fächer, die schon stofflich den Lehrer und damit den Erzieher und Bilder einer neuen deutschen Jugend von Grund auf ganz anders gestalten, als er bislang gestaltet worden ist.“ (Rust 10.7.1933; SPD 1937/ 4.7.; Jg. 4, S. 1062f). (3) Erziehung - Rassische Auswahl - Ausgrenzung und Selektion Polarisierungen dieser Art betreffen ebenso zwangsläufig wie vorrangig Personen(gruppen) und wirken sich auf deren innere Beschaffenheit aus. So etwa (vgl. das letzte Beispiel) in der Weise, dass der auf den Lehrer einwirkende Stoff der neuen Fächer jenen, so die Vorstellung, sich verändern, wandeln lässt, was er als der „Erzieher und Bilder“ dann an die Schüler weitergibt, auf diese überträgt mit einer gegenüber den bisher durch Vermitt- <?page no="127"?> 1933 bis 1942{ r l944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 127 lung anderer Lehrstoffe herangebildeten „marxistischen Volkszerstörerjn]“ - „neuen deutschen Jugend“ als Erfolg(sziel) dieser ganz neuen Erziehung. Systemgemäß spielt bei dieser Erziehungsarbeit 54 nicht nur das Führerprinzip, sondern, daran unlösbar gekoppelt, auch das, was nicht nur Rust „die >rassische< Auswahl“ nennt (Klemperer 1935-1936, S. 22; 17.4.1935), eine dominante Rolle, die auf die Gesamt-Existenz der Betroffenen abzielt und diese in (äußerste) Mitleidenschaft zieht. Auswahl setzt hier voraus: Durch Ideologie-besetzte Markierungen beteiligter Größen und durch die in Folge erzielte Polarisierung innerhalb des politisch durchsetzten Lebens- und Existenzraumes, des System-Feldes, werden Wertungs-Binnengrenzen gezogen. Grupp(ierung)en, ihre Mitglieder werden auf ein festgesetztes Merkmal reduziert, auf den jeweils gemeinschaftlichen Nenner gebracht, pauschal, wie der Volksmund sagt: über denselben Leisten geschlagen; sie sind dadurch als positiv markierte (Ideologie-konforme) bzw. negativ markierte (stigmatisierte) Personen, Gruppen voneinander abgegrenzt und somit definiert und erkennbar. Das Feld ist aufbereitet zur Durchführung von Ausgrenzungen, Aussonderungen im Sinne der System-immanenten Logik bis hin zum äußersten, tödlichen Ende. Polarisierende Markierung —> Auswahl —> Auslese —> Selektion —> Endlösung. - Illic „[...] >Schüler, die die Volksgemeinschaft oder den Staat wiederholt schädigen, sind von der Schule zu verweisen.< [...]“; wobei schädigen an das aus dem Spezialverzeichnis im Reichsschulwörterbuch bereits bekannte Volksschädling erinnert; 54 Erinnert sei daran, dass auch das Reichsschulwörterbuch, genauer: dass „wir, die Reichsleitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, die Bearbeiter und der Verlag, Erziehungsarbeit im Sinne Konrad Dudens und des Deutschen Sprachvereins leisten [wollen]“ (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. IV Vorwort; vgl. oben 1.1.1.2 (2)). <?page no="128"?> 128 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform - Hic >Wenn der Schüler hervorragende Führereigenschaften besitzt und bestätigt, ist besonders wohlwollend zu verfahrene [...]“ (aus einem Rust-Erlass). „Auf diese Weise wird versucht, den HJ-Führer zu begünstigen und jede politisch gefärbte Kritik aus der Schule zu verbannen. - Einige Berichte zeigen, wie das Bestreben des Systems, an den höheren Schulen einen ihm gemäßen Führertyp heranzubilden, praktisch betätigt wird.“ (SPD 1935/ 2.6.; Jg. 2, S. 691). 55 Vgl. auch: „Man braucht wohl die Studierenden für den neuen >Werbefeldzug gegen Kritikaster und Miesmachern [...].“ (Klemperer 1933-1934, S. 105; 13.5.1933). „Man rühmt sich, die Zahl [der Studenten] von 12 000 auf 4 000 herabgedrückt zu haben (>um akademisches Proletariat zu vermeidem); diese 4 000 sollen eine >einheitliche MamschafU bilden, zwei Semester lang in >Kameradschaftshäusem< wohnen und >Einheitstracht< tragen (d.h. Kaserne und Uniform).“ (Klemperer 1933-1934, S. 147; 27.9.1934); 56 womit die Studenten als „politische Soldaten“ (vgl. oben (1)) nunmehr auch eingekleidet und untergebracht sind. Weckt „die Einführung des Führerprinzips in der Schule, die Herausstellung des Schulleiters, auch gehaltlich,“ und der gleichzeitig durchgefuhrte „Abbau der Lehrergehälter (in Flamburg)“ nach den Berichten der SPD auch besonderen Unwillen und wird u.a. Rust genau in diesem Zusammenhang als ‘Oberkurant’ und ‘Idiot’ auch beschimpft (SPD 1935/ 2.2.; Jg. 2, S. 203), so wird nach den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS hingegen ein Rust-Erlass (vom 18.1.1940), in dem durch sogenannte >Abtestate< die Kontrolle über die wissenschaftliche Leistung der Studierenden erheblich verstärkt wird, „von den Hochschullehrern außerordentlich begrüßt“. Die dadurch gemäß dem Führerprinzip festgelegte „ Hebung der Verantwortung“ 55 Vgl. auch: „Der preußische Unterrichtsminister hat angeordnet, daß unversetzte Schüler, wenn sie der Hitlerbewegung angehören, nach Möglichkeit die Klassenkonferenz entscheide weitherzig! doch noch versetzt werden.“ (Klemperer 1933-1934, S. 24; 25.4. 1933); wobei mit ‘preußischer Unterrichtsminister’ eine weitere Kennzeichnung Rusts ins Spiel kommt. 56 Vgl. mit Bezug auf die Lehrer: „[...] Erlaß des Reichsunterrichtsministers Rust, wonach alle Lehrer jährlich vier Wochen lang im Gemeinschaftslager ‘national-politisch überholt’ werden sollen (Überholt, wieder die mechanistische Terminologie).“ (Klemperer 1933- 1934, S. 114; 13.6.1934). <?page no="129"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 129 der Hochschullehrer „für die Erziehung des akademischen Nachwuchses“ gebe ihnen gleichzeitig „eine wirksame Möglichkeit an die Hand [...], um untüchtige Elemente aus der Hochschule auszuschalten“ (SD 1940/ 18.01.; Bd. 3, S. 748; Kursive insgesamt WM). Zwei konträre Bewertungen: Begründet in der unterschiedlichen Couleur der Berichterstatter Hie SD lllic SPD? Oder in der Unterschiedlichkeit der Einstellung und der Interessen der unmittelbar Beteiligten, über deren Stellungnahmen berichtet wird? Fragen aus der Retrospektive! Rust: „die >rassische< Auswahl“ (Klemperer 1935-1936, S. 22; 17.4.1935) und ihre Folgen. Drei Beispiele aus Rusts Bereich: „Ein Rundschreiben [TH Dresden] bat alle Nicht-Arier, aus allen Kommissionen herauszugehen und nicht zu prüfen.“ „Ein Anschlag der Studentenschaft am schwarzen Brett, >Wortbruch eines jüdischen Pro lessors<, stellte ihn >an den Schandpfahl der Studentenschaft, weil er gegen sein Versprechen geprüft habe. Er sagt, er habe dieses Versprechen nie gegeben. Man wirft ihn hinaus, weil er unter dem Ministerium gegen den Willen von Rektor und Senat das Katheder erhalten habe.“ (Klemperer 1933-1934, S. 24, 25; 25./ 30.4.1933). „In Kiel sind von den Studenten undeutsche Schriften ihrer bisherigen und nicht mehr tragbaren Lehrer auf den Index gesetzt worden.“ (Klemperer 1933-1934,8.24; 25.4.1933). 57 In Klemperers Veranstaltung über „Corneille zwei [Leute]. Diese Zwei: Lore Isakowitz, gelbe Judenkarte eigentlich möchte sie Dolmetscherin werden, ich berate sie schon seit langem - , und Student Hirschowicz, staatenlos, Nichtarier, Vater ursprünglich Türke, blaue Karte, die deutschen Studenten haben braune Karte.“ (Klemperer 1933-1934, S. 66; 9.11.1933). Vier Beispiele für Ausweitungen: 1933 und 1935: „Am Sonnabend rote Zettel an den Geschäften: >Anerkannt deutschchristliches Unternehmern. Dazwischen geschlossene Läden, SA- Leute davor mit dreieckigen Schildern: >Wer beim Juden kauft, fordert den Auslandboykott und zerstört die deutsche Wirtschafte.“ (Klemperer 1933- 1934, S. 17f.; 3.4.1933). 57 Ein negativer Index, der an den des Vatikan erinnert. Dass es daneben mit der „Nationalsozialistischen Bibliographie“ auch einen umgekehrten, einen positiven Index gibt, sei hier im Vorgriff (vgl. unten 2.1.1.1 (1)) nur angemerkt. <?page no="130"?> 130 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform In einem anderen Bericht dasselbe Bild: „Ich kam in Frankfurt gerade in den neuen Judenboykott hinein, der sich so vollzog, daß vor einer großen Anzahl von wichtigen jüdischen oder für jüdisch gehaltenen Geschäften einige wenige SA-Leute in Zivil sich breitbeinig untergehakt aufpflanzten und das Betreten derselben verhinderten. [...] Die nichtjüdischen Geschäfte sind unter mehr oder weniger sanftem Druck aufgefordert worden, einen Zettel mit einem Hakenkreuz und der Aufschrift >Deutsches Geschafft an der Ladentür oder im Schaufenster anzubringen.“ (SPD 1935/ 2.1.; Jg. 2, S. 16). 1933-1938: „Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde gerade das Kaufhaus [der jüdischen Familie] Schiff [im Frankfurter Stadtteil Höchst] wegen seines hohen Ansehens zur ersten Zielscheibe der SA. [...] März '33 [...] zogen SA-Leute auf und hinderten Kunden am Betreten des Kaufhauses. Mit vielen Leidensgenossen wurden auch Paul und Carl Schiff von SA-Schergen in die Höchster Kasernen gebracht, wo den Nazis unliebsame Menschen entwürdigender Behandlung ausgesetzt waren. [...] Die Familie Schiff wurde schließlich permanent bedroht. Steine flogen [...] auf offener Straße angespuckt [...]. Von April 1938 an begann mit der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden die vom Staat betriebene Ausplünderung. Das Kaufhaus in Höchst musste für einen sehr geringen Betrag der Frankfurter Sparkasse von 1822 überlassen werden [...]. Die [...] Familie Schiff entschloss sich nun zur Flucht nach Amerika. [... diese drohte] im letzten Moment zu scheitern. Denn zu denen, die nach dem Progrom am 9. November 1938 verhaftet [...] wurden, gehörte auch Paul Schiff [... Doch] gelang es [...] schließlich, [... ihn] zu befreien. Die Schiffs erreichten ihr Schiff [...]. Für die Familie Schiff bedeutete der 9. und 10. November zufällig der erste Schritt in die Freiheit. Für viele andere Juden in Höchst und anderswo war das Datum der Beginn der vollständigen Rechtlosigkeit bis hin zur seelischen und schließlich körperlichen Vernichtung.“ (Ochs 2001). 58 1938: „Die angstvollen Andeutungen und bruchstückhaften Erzählungen aus Buchenwald - Schweigepflicht, und: ein zweites Mal kommt man von dort nicht zurück, es sterben eh schon zehn bis zwanzig Leute täglich sind greulich.“ (Klemperer 1937-1938, S. 119; 6.12.1938). 1941: „[...] im Reichsverordnungsblatt [...] Einführung der gelben Judenbinde. Das bedeutet für uns Umwälzung und Katastrophe.“ (Klemperer 1940- 1941, S. 159; 8.9.1941). Ein Beispiel in Stichwörtern, die an vieles erinnern, was schon aus dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934, 2 1939) (vgl. oben 1.1.2.1) bekannt ist und mit Jeske (1934) „Wörterbuch zur Erblehre und Erbpflege 58 Ochs (2001/ 8.11.): In der Nacht der Verfolgung gelang die Flucht nach Amerika. November 1938: Nach schweren Schikanen bestieg die Höchster Kaufmannsfamilie Schiff den Dampfer nach Übersee. Otto Schiff suchte Spuren seiner Kindheit. <?page no="131"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 131 (Rassenhygiene)“ auch in der Lexikographie seinen zeitgemäßen Niederschlag findet: >Volksgesundheit< rassisch: Aufnordung und Ausmerzung: entsprechend eine Bürokratie, die sich gemäß dem NS-Führerprinzip als >Gesundheitsfuhrung< stilisiert: 1934 Gründung des >Hauptamtes für Volksgesundheito Begriff der yarischen Volksgemeinschaft< zweifach definiert: erstens: nur blutsmäßig Deutschstämmige akzeptiert, was Juden, Zigeuner und Slawen ausschließt: 1933 >Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums<, 1935 Nürnberger Blutschutzgesotz; zweitens: nur der erblich einwandfreie, also der gesunde Deutsche anerkannt: 1933 >Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchsesi, >Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher! , 1935 >Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes! , Anfang des Krieges geplantes Gesetz zur physischen Ausmerzung von >Gemeinschaftsfremdem. (nach Kater 2001; Kursive WM) 59 (4) Nachbeleuchtung der Struktur und des Verfahrens Die beobachtete polarisierende Grundstruktur tritt, wie oben gezeigt, in nationalsozialistisch orientierten Texten zuhauf auf, darüber hinaus, natürlich, auch in Texten, mit denen Inhalte anderer Ideologien, andere Glaubens-, Vorstellungsinhalte transportiert werden sollen, was exemplarisch, ebenso knapp wie präzise, die folgenden zwei Paare zeigen: Hic Himmel, Engel -7/ / / c Hölle, Teufel. Hic virtus - Illic vitium. Ein historisch weit zurückliegendes Beispiel, mit beklemmend zeitnahen Parallelen, findet sich in dem 1951 erstveröffentlichten Roman „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“ von Lion Feuchtwanger. Leicht paraphrasiert und verkürzt nacherzählt stellt es sich so dar: Nach Niederkämpfung der Araber setzen die katholischen Herrscher Ferdinand und Isabell in Spanien ein Sondertribunal ein, die Inquisition, das Heilige Offizium, und zwar zur Verfolgung aller Verbrechen gegen die Religi- 59 Kater (2001/ 24.7.): Aufnordung und Ausmerze. „Volksgesundheit“ im Nationalsozialismus: Ein biopolitisches Konzept und seine Anwendung. <?page no="132"?> 132 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform on, um die mühsam hergestellte Einheit des Reiches durch die Einheit des Glaubens zu wahren. ,JEine Herde, ein Hirt, ein Glaube, ein König, ein Schwert“, so ein Dichter in jener Zeit. Siegel der Inquisition: Kreuz, Schwert und Rute. Wurden zunächst die Araber und Juden ausgespäht, ausgetrieben und ausgetilgt; desgleichen all jene, die ihre subversive Gesinnung hinter der Maske des katholischen Glaubens zu verbergen gesucht hatten wie u.a. die heimlichen Mauren und Juden, so ging es der Inquisition, nunmehr zu einer selbständigen Macht innerhalb des Staates geworden, im Weiteren um die Ausfindung und Bestrafung der Ketzerei, wobei darunter vielerlei verstanden wurde und werden konnte, so u.a. jede Ansicht, die gegen ein Dogma der katholischen Kirche verstieß, sodaß der Inquisition die Aufgabe zufiel, alles Geschriebene, Gedruckte, Gesprochene, Gesungene und Getanzte zu zensieren; jede für die Allgemeinheit wichtige Tätigkeit, wenn sie von dem Abkömmling eines Ketzers ausgeübt wurde, sodaß das Heilige Offizium die Pflicht hatte, die Reinblütigkeit all derer nachzuprüfen, die um ein Amt nachsuchten, also deren Abstammung von altchristlichen Eltern und Ureltem; unter den Ahnen durfte weder ein Maure noch ein Jude gewesen sein; Fluchen, die Darstellung des Nackten, Bigamie und unnatürliche Unzucht; Wucher, da er in der Bibel verboten war; und Pferdehandel mit Nichtspaniem, weil dieser den Ungläubigen jenseits der Pyrenäen Vorteile bringen konnte. Indizien heimlicher Ketzerei waren alle jüdischen Bräuche, das Anzünden von Kerzen am Freitagabend, das Wechseln der Wäsche zum Sabbat, das Nichtessen von Schweinefleisch und das Händewaschen vor jeder Mahlzeit. Indizien für ketzerische Neigungen war die Lektüre fremdsprachlicher Bücher wie überhaupt häufiges Lesen profaner Werke. Alljährlich in einem Erlass, in dem Glaubensedikt, wurden diejenigen, die sich ketzerischer Neigungen schuldig fühlten, ermahnt, sich selber innerhalb einer Gnadenfrist von dreißig Tagen bei dem Heiligen Tribunal zu bezichtigen; alle Gläubigen aufgefordert, jegliche Ketzerei anzuzeigen, von der sie erfahren hatten; <?page no="133"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 133 Kinder sowie Ehemann und Ehefrau angehalten, ihre Eltern bzw. ihren Partner anzuzeigen, wenn sie Verdächtiges bemerkten; ansonsten verfielen sie selber der Exkommunikation. Die Bezichtigung hatte heimlich zu erfolgen. Schwerer Strafe schuldig machte sich, wer den Beschuldigten vorher von der Anklage verständigte. Geringe Indizien genügten dem Gericht, um die Verhaftung zu verfugen. Und keiner wagte, nach denen zu fragen, die in den Kerkern der Inquisition verschwanden. Anzeiger, Zeugen, Angeklagte wurden eidlich zum Schweigen verpflichtet, ein Verstoß gegen den Eid wurde ebenso bestraft wie die Ketzerei selber. Leugnete der Inkriminierte oder beharrte er in seinem Irrtum, so wurde die Folter angewandt. In jedem Falle wurde das Vermögen konfisziert, einen Teil erhielt der Staat, einen Teil die Inquisition (nach Feuchtwanger 3 1996, S. 149ff; 464). Deutlich dürfte geworden sein: Die polarisierende Struktur als solche ist ideologisch-semantisch grundsätzlich neutral und allenthalben oder allerorts anwendbar, wie auch das Verfahren, mit dem sie erzeugt wird. Dies zeigen auch zwei zufällig auffällig gewordene Beispiele aus dem grauen Alltag. So in Gaststätten, wenn im Toilettenraum nicht nur in dem seit dem Jahre 2001 neuen Mannheimer Bahnhof als „WC-Center“ ausgewiesen von zwei Türen nur eine gekennzeichnet ist, etwa mit „Damen“. Durch die Markierung der einen ist die andere ebenfalls eindeutig, nämlich implizit, definiert als Nicht-(Damen); was aufgrund des Alltagswissens bedeutet, hier könnte, explikativ, ein Bild von Humphrey Bogart hängen. Als schwieriger erscheint, wenn in dieser Situation eine dritte Tür, unmarkiert, vorhanden ist. Doch diese ist, so die Erfahrung, in der Regel geschlossen oder, wenn nicht, durch einen kurzen Blick zumeist als Besenkammer identifiziert. Trägt die dritte Tür die Aufschrift „privat“, ist von vomeherein alles klar. So bei der Deutschen Bahn, wenn auf dem Bahnsteig die Ankunft eines Zuges „mit einer fahrplanmäßigen Verspätung von 30 Minuten“ (so eine Durchsage in Mannheim irgendwann im Jahre 2000) angekündigt wird und es weiterhin heißt: „Die Wagen der ersten Klasse finden Sie in den Abschnitten A und B. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Durch die zuordnende Ausrufung nur der 1. Klasse wird implizit mitgeteilt und den meisten Fahrgästen, Birken-Bertsch/ Markner (2000) würden wohl sagen: den Kundigen, klar, dass die Wagen der 2. Klasse in dem Teil des Bahnsteiges halten, für <?page no="134"?> 134 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform den gilt: Nicht (A und B). Dessen weitere Unterteilung in C bis E oder F und G ist in diesem Feld redundant und wäre eigentlich entbehrlich; wie, bei vorausgesetzter Bahnsteigmarkierung mit A und B, auch die Kennzeichnung der Wagen als solche der 1. und 2. Klasse. Doch wie sagt der Volksmund? Vierfach genäht hält besser als einfach genäht. Bietet dieses Verfahren auch die Möglichkeit zu einer ökonomisch möglichst kurz gehaltenen Information zur Unterscheidung miteinander konkurrierender Größen auf einem abgesteckten Felde bei n für die Gesamtzahl der Größen grundsätzlich nach der Formel (n-1), bei der Deutschen Bahn ist das alles komplizierter so ist doch die durchgängige Markierung, denn sicher ist sicher, gang und gäbe und verschiedenenorts anzutreffen. Auch dafür zwei Beispiele. Auf dem Internationalen Wiener Kolloquium im Oktober 1979 „Die Zukunft der deutschen Rechtschreibung“, veranstaltet von der Gesellschaft für deutsche Sprache (Wiesbaden): Die Namensliste der beteiligten Personen ist fein säuberlich sortiert in Mitglieder der Rechtschreibkommission der Gesellschaft, in korrespondierende Mitglieder derselben, in Teilnehmer und Beobachter. Der unterschiedliche Status wird durch verschiedene Farben der, etwa am Revers, anzuheftenden Namenkarten auch optisch signalisiert (Mentrup 1980b, S. 73). Auf der MTV Europe Music Awards (November 2001): „MTV lässt eine Klassengesellschaft entstehen, die aber bunt ist. Blaue Karten, schwarze Karten, graue Karten, orange- und pinkfarbene Karten. Sie regeln, wer wohin darf. Die Exklusivität wäre ja im Eimer, wenn jeder Karl- Heinz machen würde, was er will. Wer die richtige Karte hat, kommt rein. Wer die richtigere Karte hat, darf auf die Empore. Wer die Bingo-Karte hat, darf in die Separees der Plattenfirmen.“ 60 Auch in Fällen der vorgestellten Art werden innerhalb des jeweiligen Feldes, seien es geschlechtsspezifische oder soziale, seien es tagungstaktisch begründete oder gesellschaftliche Binnengrenzen gezogen; Grupp(ierung)en (so etwa männlich weiblich; 1. Klasse - 2. Klasse; MTV-Klassengesellschaft) voneinander abgegrenzt und damit, je nach Gruppenzugehörigkeit 60 Mazassek (2001/ 10.11.): „Du Arsch“. Partygeflüster am Rande der MTV Europe Music Awards so traurig wie die ganze Veranstaltung. No Sex, no drugs ein bisschen Rock'n'Roll. <?page no="135"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 135 und entsprechender Sichtweise, Ausgrenzungen, Eingrenzungen bis hin zu exklusiven Abschottungen durchgefiihrt und auch optisch signalisiert. Erweist sich all dies, selbst angesichts einer möglichen Verbitterung des Herrn Karl-Heinz, der allenfalls eine richtige Karte bekommen hat, oder auch angesichts der sozial wertenden Konnotationen oder Assoziationen, die manche, viele, die meisten Bahnkunden (Wer will das schon wissen? ) mit 1. und 2. Klasse verbinden, aufgrund der politisch-ideologischen Wertungsneutralität der beteiligten Größen, grundsätzlich gesehen, auch als harmlos, so ändert sich dies qualitativ grundlegend und gewinnt existenzielle Bedeutung, wenn ideologisch besetzte Größen ins Spiel gebracht werden. 1.1.3 1936 bis 1942(-1944) Bernhard Rusts drei orthographische Initiativen - Verbot der Fraktur; Duden-Rechtschreibbücher Berichtet wird über die orthographischen Initiativen des Reichserziehungsministers Bernhard Rust. Die erste fällt in das Jahr 1936, die zweite in das Jahr 1941. Im Zusammenhang mit der ersten wird der schon bekannte Kleine Duden ( 2 1939) zeitgerecht eingeordnet und der Große Duden ( 12 1941), der in deutscher Schrift (Fraktur) gesetzt ist, vorgestellt (vgl. 1.1.3.1). Im Weiteren geht es um das 1941 erlassene Verbot der Fraktur mit zwei hier einschlägigen Folgen. Rust sieht in dem dadurch notwendig gewordenen Umdruck der Fibeln eine neue Chance zu einer Vereinfachung der Rechtschreibung. Der Große Duden, 12. Auflage, erscheint 1942 erneut, diesmal in der sog. Normalschrift (Antiqua) gesetzt (vgl. 1.1.3.2). Die dritte Initiative startet Rust 1944. Auf diese wird hier nur hingewiesen (vgl. 1.1.3.3). Ausführlicher wird sie dargestellt in den Kapiteln 2 und 3. 1.1.3.1 1936 Bernhard Rust (1. orthographische Initiative); Der Kleine Duden ( 2 1939), Der Große Duden ( l2 1941) in deutscher Schrift (Fraktur) In das Jahr 1936 fällt eine orthographische Initiative von Bernhard Rust die erste von, soweit bekannt, insgesamt dreien über die Zeit hin, aber mehr als diese werden es allem Anschein nach wohl nicht gewesen sein. Von Haus aus Studienrat, wird Rust am 4.2.1933 zum kommissarischen preußischen <?page no="136"?> 136 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Kultusminister ernannt, 61 am 22.4.1933 als solcher bestätigt und am 30.4.1934 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Wulf 1989, Bd. I, S. 202). Am 21. April 1936 weist Rust per Erlass ihm untergeordnete Stellen an, Reformvorschläge erfahrener Schulmänner einzuholen und an ihn weiterzuleiten. Hatte das Reichministerium des Innern diesem Verfahren zuvor auch zugestimmt, so hatte es jedoch gleichzeitig unmissverständlich klar gemacht, bei der Umfrage dürfe, wohl auch mit Blick auf die Öffentlichkeit, nicht der Anschein entstehen, dass eine Rechtschreibreform beabsichtigt sei. Eine Zusammenfassung der eingegangenen insgesamt „24 Vorschläge [...], die fast die gesamte Palette der bis dahin diskutierten Reformpunkte enthielten“, wird im Oktober 1936 dem Reichsinnenministerium zugeschickt (Strunk 1998, S. 90; Kursive WM); wobei mit dem Ausdruck bis dahin auch hier die Tradition der Reformbemühungen zur Sprache kommt. Erfolg hat dieser Vorstoß nicht, was u.a. 1938/ 1939 die Klage Martin Seilers, eines Lehrers im rumänischen Hermannstadt, erklären mag: „Es gibt nur noch ein Volk, ein Reich und einen Führer. Leider aber gibt es noch immer keine einheitliche, übersichtliche, leichtfaßliche Rechtschreibung“ (nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 35). 62 Auch 1876 auf der ersten Orthographischen Konferenz geht es um eine einheitliche Rechtschreibung, u.a. begründet mit der Reichsgründung von 1871 und entsprechend spezifisch überhöht (vgl. Abb. 12). 61 Ursprünglich war Joseph Goebbels für diese Posten vorgesehen. Dessen Enttäuschung schlägt sich nieder in einer Tagebuchnotiz vom 3.2.1933: „Magda ist sehr unglücklich. Weil ich nicht vorankomme. Man übergeht mich mit eisigem Boykott. Nun bekommt Rust den Kultus. Ich schaue in den Mond.“ Doch lange währt dieses In-den-Mond- Schauen nicht. Am 13.3.1933 unterschreibt der Reichspräsident das Dekret zur Ernennung Goebbels' zum Leiter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (Fröhlich 1989, S. 61). 62 Bezogen zumindest auf die ein(heitlich)e Rechtschreibung sieht das Studienrat und Universitätslektor Rudolf Weinmeister 1936, in anderem Zusammenhang und dabei deutlich in eigener Sache, anders: „Der Nationalsozialismus hat Deutschland, das bereits eine Sprache, eine Schrift, eine Rechtschreibung und eine Maßeinheit besaß, nun auch die einheitliche Kurzschrift geschenkt. Beim Wiederaufbau des Vaterlandes ist dieses wichtige Hilfsmittel nicht zu entbehren. Der Segen dieses Kulturgutes soll allen zuteil werden, die eine umfassende Schreibarbeit zu bewältigen haben und mit der Langschrift dabei zu viel Zeit verlieren.“ (Weinmeister 2 1936, S. 6f.). <?page no="137"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 137 1871 Gründung des Deutschen Reiches 1876 Verhandlungen zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung 1938/ 1939 Es gibt nur noch ein Volk, ein Reich und einen Führer. 1938/ 1939 Es gibt noch immer keine einheitliche, übersichtliche, leichtfassliche Rechtschreibung. Abb. 12: Einheitliche Rechtschreibung mit jeweils zeitgenössisch politisch-ideologischer Überhöhung Im Juni 1938 verlautet es amtlicherseits gegenüber Vertretern der Dudenredaktion, eine Änderung der Rechtschreibung sei „für die nächsten Jahre nicht zu erwarten“. Im gleichen Jahr „[verbietet] Goebbels [...] die Diskussion über eine Rechtschreibreform in der Presse“. Die weitere (außen-)politische Entwicklung (1938 erzwungener Anschluss Österreichs, 1939 Überfall auf Polen und damit Anzettelung des 2. Weltkriegs) lässt, nach Strunk (1998, S. 91), nicht zu, die Rechtschreibreform weiter zu verfolgen. 63 Innerhalb des Zeitraums zwischen dieser ersten Rust-Initiative und seiner zweiten 1941 erscheinen im Bibliographischen Institut Leipzig zwei weitere Ausgaben der Rechtschreibbücher. 1939 ist es der Kleine Duden in der 2. Auflage, der im Vergleich u.a. mit der Erstausgabe des Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) oben (vgl. 1.1.1 und 1.1.2) bereits in die Untersuchung einbezogen worden ist. Wie dort schon festgestellt, tritt Otto Basler als Bearbeiter nicht mehr in Erscheinung. Auf der Titelseite findet sich als Geltungsbereich der amtlichen Regeln nur „das Deutsche Reich“. Mag dies auch schlicht aus der Ausgabe von 1934 übernommen sein, so spiegelt es doch die durch die Einverleibung Österreichs veränderte politische Situation wieder. Dem entspricht, dass in der 63 In Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 86) ist aus einem Schreiben des Bibliographischen Instituts an das Reichsinnenministerium vom 9.12.1938 abgedruckt: „Nach nochmaliger reiflicher Überlegung haben wir uns entschlossen, Ihren freundlichen Vorschlag aufzugreifen und Sie zu bitten, erst kurz vor Erscheinen der Neuauflage unseres >Großen Duden< sich mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wegen des Verbots einer Diskussion über Rechtschreibungsfragen in Verbindung zu setzen.“ Da als Datum von Goebbels' Verbot der Diskussion bei Strunk nur das Jahr 1938 angegeben ist, bleiben bezüglich der beiden Ereignisse die Fragen: Wie ist ihre zeitliche Abfolge und gibt es kausale Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen ihnen? Wie dem auch sei: Selbst wenn Goebbels 1938 ein Verbot nicht ausgesprochen haben sollte, so war ein solches jedenfalls im Gespräch und im Schwange. <?page no="138"?> 138 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Duden-Rechtschreibung ( 12 1941) (hierzu vgl. unten) gegenüber ("1934) auf der Titelseite Österreich nicht mehr geführt wird und bei den als „Unterstützung“ geführten Vereinen der österreichische nicht mehr zu finden ist. - Auch Titel sind ein Spiegel des Wandels der Zeiten und Dinge. Erinnert sei daran, dass 1939 im Unterschied zur Erstausgabe 1934 u.a. der Titel verändert und die Phalanx der nationalsozialistischen Autoren mit ihren ideologisch-propagandistischen Beiträgen nicht übernommen ist. Zeigt sich auf dieser Ebene 1939 auch ein gänzlich anderes Bild, so ist es gerade die Ausgabe von 1939, in der die 1934 grundgelegte Infiltration der Wortkomponente durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’ übernommen (so mit der Zeichensetzung) und auch (im Wörterteil) aktiv weiter geführt wird. Zwei Jahre später erscheint eine neue, die 12. Auflage des Großen Duden, der Duden-Rechtschreibung: 1941 Der Große Duden / / Rechtschreibung / der deutschen Sprache / und der Fremdwörter / / Mit Unterstützung des Deutschen Sprachvereins und des / Deutschen Sprachpflegeamtes, des Fachamtes Druck und / Papier der Deutschen Arbeitsfront, des Deutschschweizerischen / Sprachvereins und des Schweizerischen Buchdrucker-Vereins / / nach den für das Deutsche Reich und die Schweiz / gültigen amtlichen Regeln / / bearbeitet von der Fachschriftleitung / des Bibliographischen Instituts / / Zwölfte, neubearbeitete / und erweiterte Auflage Einzelne Bearbeiter werden nicht genannt, sondern allgemein die „Fachschriftleitung“ (wie 1939 auch hier im Singular). Das „Vorwort“ (S. 3*) ist datiert mit „Leipzig, im Januar 1941.“ und unterzeichnet mit „Bibliographisches Institut AG.“ (S. 4*). Es folgt das „Inhaltsverzeichnis“ (S. 5*). Die aus dem Volks-Duden (1933) in den Großen Duden ( n 1934) übernommene Abhandlung „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ findet sich 1941 nicht. Bezogen auf die weiteren Bestandteile ist hier daran zu erinnern, dass die Zeichensetzung, anders als in der 11. Auflage, nicht Funktions-orientiert, sondern, wie bereits im Kleinen Duden (1934) und ( 2 1939) vorgegeben, Zeichen-orientiert gegliedert ist. <?page no="139"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 139 Die Infiltration der Wortkomponente durch nationalsozialistisches ‘Wortgut’ ist oben im Zusammenhang mit der in den kleinen Dudenausgaben dargestellt worden (vgl. 1.1.2.1). Im Einklang mit der oben angeführten amtlichen Auskunft an die Dudenredaktion im Juni 1938, es werde keine Änderung der Rechtschreibung in den nächsten Jahren geben, heißt es im Vorwort 1941, die aktuelle Reformsituation resümierend und damit das eigene Vorgehen bei der Neubearbeitung begründend: „Da die augenblicklichen Verhältnisse eine endgültige Lösung durch die maßgebenden Regierungsstellen nicht gestatten, haben wir [...] versucht, die Einführung einer Einheitsschreibung dadurch vorzubereiten, daß wir die Unterschiede, die durch die bisherige Anwendung der verschiedenen amtlichen Regelbücher [... laut Fußnote Preußen (1940), Bayern ( 52 1940), Österreich (1935 [GrA]); WM] noch bestehen, möglichst beseitigten.“ Waren im Volks-Duden (1933) und im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) diese Unterschiede weitestgehend nicht verzeichnet und somit gewissermaßen praktisch beseitigt, so sieht die ‘Beseitigung’ 1941 hingegen so aus, dass diejenigen in den drei amtlichen Rechtschreibbüchem angeführten Schreibungen, genauer: die Schreib- und Formvarianten, die „nach unserer Auffassung nicht in der Richtung der Einheitsschreibung liegen, [...] in Anmerkungen erwähnt und [...] durch Winkelzeichen [...] als entbehrlich gekennzeichnet“ werden (Duden-Rechtschreibung (in Frakturschrift) 12 1941, S. 3*). Angemerkt sei, dass die Beseitigung solcher Unterschiede drei Jahre später, nämlich 1944, als Zielrichtung einer weiteren Rust-Initiative wieder begegnen wird. Gegenüber dem Vorwort im Großen Duden ( n 1934) finden sich in ( I2 1941) im Vorwort „nationalistischere Töne“, so Müller nüchtern; im weiteren Vergleich stellt sie in Trausei (1944) eine „radikale Ausweitung“ des Themas „Einheitsschreibung als »erkennbaren Ausdruck der Volkseinheit (WB Trausei 1944: 5)“ und damit der ideologischen Überhöhung fest, die „im Duden jedoch nicht betrieben [wird]“ (Müller 1994, S. 117). Bei Sauer liest sich das so: „Der vorsichtige Ton des Vorwortes von 1934 war sieben Jahre später einem offenen Bekenntnis zu großdeutschem Eroberungswahn gewichen, die Faschisierung des Dudens und die Pervertierung Dudenscher Vorstellungen sind offensichtlich.“ (Sauer 1988, S. 127) <?page no="140"?> 140 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die Gegenüberstellung eines Ausschnitts aus dem Vorwort der 11. Auflage von 1934 und der 12. von 1941 mag der Überprüfung dienen, welche der beiden Kennzeichnungen (die) angemessen(ere) ist (vgl. Abb. 13). „Vorwort“ „Vorwort“ „Die durch zehn Auflagen und ein Menschenleben erprobte Arbeit Konrad Dudens [...] hat ihre Berechtigung erwiesen. „Der Gedanke einer deutschen Einheitsschreibung, der vor sechs Jahrzehnten Konrad Duden veranlaßte, die verschiedenen Richtungen der Rechtschreibung zusammenzufassen, ist durch die geschichtlichen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit der Verwirklichung näher gerückt. Die Sprache als lebendiger Körper, als wertvolles und sorgsam zu hütendes Gut unseres Volkes unterliegt geistigem Wandel ebenso, wie sie ihn heraufzuftihren hilft. In zehn Auflagen haben die Bearbeiter dieses Wörterbuches dem Hochziel, verläßliche Führer in sprachlichen Dingen zu sein, zugestrebt. Die alte Aufgabe Dudens, die deutsche Einheitsschreibung im gesamten Schrifttum zu fordern, blieb auch für diese Bearbeitung richtungweisend. Es galt aber, neue und überreich fließende Strömungen zu fassen, zu leiten, alte und nicht mehr gebrauchte Fahrtrinnen zuzuschütten. [...] Fremdwörter [...] mußten weitergeführt und erklärt werden. Verdeutschungen sind in reichem Maß aufgenommen.“ (Duden-Rechtschreibung 11 1934, S. 3*f.) Der Heimkehr von Millionen unserer Volksgenossen ins Reich, dem Wiedererwachen des Bewußtseins, daß unsere Sprache als unlösbares Band unsere Volksgemeinschaft verbindet, folgte der berechtigte Wunsch, dieser Geschlossenheit unseres Volkes durch eine neue Einheitsschreibung für das Gesamtgebiet des Großdeutschen Reiches Ausdruck zu verleihen. [...] Wie uns Konrad Duden als Vorkämpfer für die deutsche Einheitsschreibung richtungweisend war, so blieb uns auch das Ziel Dudens, die Entwicklung der Sprache in ihrer Vielgestaltigkeit zu erfassen, für die Bearbeitung der Neuauflage maßgebend. Wir haben daher vom Standpunkt der deutschen Gesamtsprache auch die sprachlichen Eigenheiten der Ostmark und der Schweiz stärker berücksichtigt [...]. Das Fremdwort wurde in ausreichendem Umfang berücksichtigt [...] Eifernder Deutschtümelei abhold, haben wir [...] an fremdem Wortgut aufgenommen, was die eigne Sprache bereichert und durch Übersetzung nur schadet. Aus dem Geiste unserer Sprache geborener Verdeutschung wurde jedoch gebührender Platz eingeräumt.“ (Duden-Rechtschreibung l2 1941,S.3*f.; Kursive WM) Abb. 13: Textvergleich: Duden-Rechtschreibung ( n 1934) und ( l2 1941) <?page no="141"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 141 Hier nur ein Hinweis: Wird der Kleine Duden (1934) und auch ( 2 1939) in den jeweiligen Vorworten (S. IV bzw. S. III) „zum Vorkämpfer für die Vereinheitlichung unserer Schrift- und Sprachformen“ erklärt, so wird in Duden-Rechtschreibung ( 12 1941) diesem Kleinen Duden nunmehr der große „Konrad Duden als Vorkämpfer für die deutsche Einheitsschreibung“ zur Verstärkung wehrhaft zur Seite gestellt. Wenn Schmidt die von ihm durchgeführte Bearbeitung der kleinen Dudenausgabe von 1915 als weiteren „[Schritt] auf dem Wege der Einheitsschreibung“ (1915, S. III) bezeichnet, so zeigt die Variation der in Abb. 13 kursiv gesetzten Ausdrücke den Wandel der Zeiten an. 1.1.3.2 1941 Verbot der Fraktur-Bernhard Rust (2. orthographische Initiative) - Fritz Rahn; Der Große Duden ( 12 1942) in „Normalschrift“ (Antiqua) In Zusammenhang mit der expansiven Macht- und der bis zu diesem Zeitpunkt im Sinne des Führers erfolgreichen Kriegs- und Eroberungspolitik und im Verein mit der Vorstellung von der Weltherrschaft des Deutschen Reiches kommt Anfang der 40er-Jahre die Diskussion wieder in Gang. Sie ist getragen von der Vorstellung, mit Hilfe einer international bekannten Schrift und einer vereinfachten Rechtschreibung, insgesamt mit Hilfe der besten und modernsten Schreibung der Welt auch den Ausländem, unseren Brüdern im Ausland, das Erlernen der deutschen Sprache zu erleichtern und den Zugang zu den Quellen deutschen Geisteslebens zu erschließen: So gemäß zeitgenössischer, quasi-fürsorglicher Formulierungen und Begründungen (vgl. Küppers 1984, S. 107ff.; Jansen-Tang 1988, S. 79ff.). Entsprechend geht es um das höchstinstanzliche Verbot der Fraktur, um Rusts 2. Reforminitiative und um Rahns Reformvorschlag sowie um die Position der Dudenredaktion. Es folgt ein kurzes orthographisch-politisches Fazit. (1) 1941 Verbot der Fraktur - Historische Rückblende: Fraktur vs. Antiqua Eine höchstinstanzliche Maßnahme in dieser Stoßrichtung stellt die „Umstellung“ von der Fraktur zur Antiqua dar. In einem „Rundschreiben“ mit dem 3.1.1941 als Datum ausdrücklich „(Nicht zur Veröffentlichung).“ teilt Martin Bormann, Stabsleiter von Rudolf Heß, dem Stellvertreter des <?page no="142"?> 142 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Führers, führenden Rängen („Verteiler: Reichsleiter, Gauleiter, Verbändeführer.“) "[z]u allgemeiner Beachtung [...] im Aufträge des Führers mit: Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettem. [...] Am heutigen Tag hat der Führer [...] entschieden, dav.v die Antiqua-Schrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen sei.“ Detailliert wird der Anwendungsbereich dieser Entscheidung zunächst fürs Inland festgelegt: „Nach und nach sollen sämtliche Druckerzeugnis se auf diese Normal-Schrift umgestellt werden. Sobald dies schulbuchmäv.vig möglich ist, wird in den Dorfschulen und Volksschulen nur mehr die Normal-Schrift gelehrt werden. Die Verwendung der Schwabacher Judenlettem durch Behörden wird künftig unterbleiben; Ernennungsurkunden für Beamte, Strassenschilder u. dergl. werden künftig nur mehr in Normal-Schrift gefertigt werden.“ (Kursive WM). Ebenfalls "[i]m Aufträge des Führers“ werden, und nun mit Ausrichtung auf das Ausland, „zunächst jene Zeitungen und Zeitschriften, die bereits eine Auslandsverbreitung haben, oder deren Auslandsverbreitung erwünscht ist, auf Normal-Schrift“ umgestellt (NSDAP 1941/ 3.1.; WM; #1.1). 64 64 Zu diesem Komplex vgl. u.a. Hopster (1985), Rück (1993), Köster (1996) und insbesondere Hartmann (1998). Bormanns Rundschreiben findet sich in Rück (1993) abschriftlich aufS. 263 und in Hartmann (1998) als Faksimile auf S. 405f. Angemerkt sei zweierlei: Bezogen auf die s-Schreibung wird in Bormanns Rundschreiben die Variante ohne ß gebraucht: ss findet sich sowohl nach kurzem als auch nach langem Vokal (vgl. oben im Rundschreiben die Kursive). Im weiteren Verfolg wird sich zeigen, dass gerade die s- Schreibung zum einen im Schreibverkehr recht variativ ist und nicht selten dem Schreibgesetz, der amtlichen Norm, nicht entspricht und in Folge in einschlägigen Untersuchungen einen ‘Fehler’-Schwerpunkt bildet, und dass zum anderen in Reformvorschlägen für sie unterschiedliche Regelungen vorgesehen werden. Beobachtungen dieser Art werden in Mentrup (i.Vorb.) zusammengeführt. Hartmann (1998, S. 260) schreibt: „Also wurde kein allgemeines Verbot der Fraktur ausgesprochen, sondern eine Umbenennung der Antiqua sowie eine Umstellung auf die zur >Normal-Schrift< erklärten Schriftart angeordnet.“ Der Umbennung oder Sprachregelung, „die Antiqua-Schrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen“, also mit Angabe eines positiven Bezeichnungsäquivalents, geht, bezogen auf die „gotische Schrift“, durch sogenannt bereits in Frage gestellt, eine Sprachregelung voraus unter Angabe eines negativen Äquivalents. Doch geht es dabei nicht nur darum, dass "[d]ie sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift [...] zu bezeichnen [...] falsch“ sei; sondern es <?page no="143"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 143 Entsprechend die weitere Führer-Rolle (vgl. die Zusammenstellung oben in 1.1.2.4 Abb. 10): • Der Führer VIF Höchste Instanz für komplementär positive und negative grundsätzliche Entscheidungen, hier: die Antiqua-Schrift als Normal- Schrift einzuführen und die als Judenlettem verunglimpfte Antiqua- Schrift abzuschaffen. Eine gewisse Relativierung dieser Rolle scheint die folgende Hintergrundinformation darzustellen; doch ist festzuhalten, dass Hitler die letzte Entscheidung trifft: „[...] es [waren] nicht Hitler oder gar Bormann, die die gotische bzw. deutsche Schrift als >Schwabacher Judenletterm in Vermf brachten und durch die lateinischef...] >Normalschrift< ersetzten diese unterschrieben bestenfalls entsprechende Erlasse Jahre später. Die Aktion ging eindeutig von dem >Praktiker< Himmler aus, der schon am 9. Januar 1939 auch die eigentliche Begründung lieferte, dass es nämlich zu teuer und zu umständlich sei, die Bürokratien in den Ländern, in die man einmarschiert war bzw. die man zu besetzen vorhatte, auf die dort unbekannte gotische bzw. deutsche Schrift umzustellen.“ (Simon 2001, S. 2). Das Bestreben, dieses „Vorhaben einer umfassenden Umstellung möglichst lange vor der breiten Öffentlichkeit geheimzuhalten“, zeigt sich auch in der acht Tage später am 11.1.1941 erfolgenden Anweisung an die Presse, „die Frage >Antiqua oder Fraktur< nicht mehr zu erörtern. [...] Eine öffentliche Diskussion der Schriftfrage hatte sich durch die Entscheidung des >Führers< erübrigt.“ (Hartmann 1998, S. 313, 271). Nach einem längeren mehrschrittigen Vorlauf legt das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter Rust für seinen Sektor in einem Runderlass vom 12. August 1941, zunächst negativ, fest, dass vom „Beginn des Schuljahres 1941 ab [...] an den Höheren Schulen bei Anfertigung von schriftlichen Arbeiten der Gebrauch der sogenannten deutschen Schrift nicht mehr verlangt werden [darf]“, d.h. der Fraktur. geht, und dies an erster Stelle, insbesondere darum, dass falsch sei, sie „als eine deutsche Schrift anzusehen“. Also nicht nur das Verbot, eine bestimmte Bezeichnung zu verwenden; sondern auch und primär das Verbot, eine bestimmte, der Verwendung der Bezeichnung vorausgehende, möglicherweise an diese gebundene, aber noch nicht ausgesprochene gedankliche Vorstellung zu hegen. Ähnliches wird sich, bezogen auf Fremdwörter, wiederholen (vgl. Mentrup i.Vorb.). <?page no="144"?> 144 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „In dem Maße, wie die Schüler und Schülerinnen, die auf die Höhere Schule übertreten, bereits in der Volksschule die neue Normalschrift gelernt haben, d.h. die Antiqua, und jetzt als positive Festlegung, „[...] ist diese auch in der Höheren Schule als einzige Schrift zu verwenden.“ Mit der absichemden Konsequenz: „Alle entgegenstehenden Bestimmungen werden mit sofortiger Wirkung aufgehoben.“ (Reichserziehungsministerium 1941/ 12.8.; #1.2). Gut zwei Wochen später generalisiert das Erziehungsministerium mit dem Runderlass vom 1. September 1941, dass „an den Schulen nur eine Schrift, die Normalschrift, gelehrt werden [soll]“, und gibt „für den Schreibunterricht“ entsprechende „Anordnungen“ bekannt (Reichserziehungsministerium 1941/ 1.9.a; #1.3). Mit gleichem Datum erfolgt per Erlass die „Umstellung auf die Normalschrift im Leseunterricht“, auch hier verbunden mit der Bekanntgabe entsprechender „Anordnungen“ (Reichserziehungsministerium 1941/ 1.9.b; #1.4). Die fälschliche Verunglimpfung der Fraktur als ‘Judenlettem’ und die generelle Umstellung auf die Antiqua auch dies ein Beispiel für die ideologische Stigmatisierung einer Größe, hier im Feld der Schriften, und für ihre Folgen. Das folgende Beispiel betrifft die deutsche Sprache allgemein, d.h. ihre Verwendung durch die jüdische Bevölkerungsgruppe: „Anschlag am Studentenhaus (ähnlich an allen Universitäten): >Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er<, er darf nur noch hebräisch schreiben. Jüdische Bücher in deutscher Sprache müssen als >Übersetzungen< gekennzeichnet werden.“ (Klemperer 1933-1934, S. 24; 25.4.1933) Dem Aus der Fraktur geht eine lange Geschichte voraus, deren Skizzierung ich mit Äußerungen früherer Orthographen und Grammatiker beginnen lassen möchte. Sattler (1617 [1975], S. 15f.) berichtet, dass Schriftsetzer Commissio usw. wegen lateinischer Endung mit lateinischen Buchstaben setzen; (Sommimon usw. wegen deutscher Endung hingegen mit deutschen. Er selbst plädiert, „weil es Latein ist“, generell für lateinische Buchstaben. Freyer (1722, S. 95f.) empfiehlt, ganze anderssprachige Wörter lateinisch zu schreiben, vor allem deklinierte (Demosthenis Hieben); doch undeklinierte und nomina propria, wie in der Bibel, deutsch: tef) lefe (Sicero. Bei deutscher Endung werden dieser Wortteil „Teutsch, und das übrige Lateinisch geschrieben“: RenovirwxQ, doch gebräuchliche Wörter ganz deutsch: Untoerfität. Letzteres sieht auch Aichinger (1754, S. 91f.) vor: Doctor; doch Wörter mit fremder Endung, „an denen kein teutscher Bissen ist“, gehen „in ihres Vaterlandes <?page no="145"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 145 Tracht einher“: Galenits de compositione medicamentorum. „teutsche und lateinische Buchstaben in ein Wort zusammen werffen“ lehnt er ab. Harnisch (1798, S. IV), Heyse ( 3 1822, S. 143) und Salzmann (1823, S. 5) erheben den Gegenpol zu Sattlers Position 1617 u.a. neben der Aussprache zur „Regel“, „Hauptregel“ bzw. „Regel“, „Richtschnur“ der Orthographie: Auch „Fremde Wörter und Eigennamen schreibe in deutscher Schrift“. „Etwas anderes ist es, wenn man fremde Wörter, oder auch ganze Sätze und Stellen aus Büchern, Sprichwörter [...] absichtlich in ihrer fremden, eigenthümlichen Gestalt anführt“ (Heyse '1822, S. 143, 145). Doch auch hier, das sei zwischendrein bemerkt, ist es wie anderenbereichs sonst. Auch dieser durch die Hauptregel stark eingegrenzte Freiraum für eine individuell bewusst variierende Gestaltung ruft die Verfechter der Einheitsschreibung auf den Plan: „Anwendung der Antiqua im Fraktursatz. Um dem bisherigen Schwanken in der Wahl zwischen Antiqua und Fraktur ein Ende zu machen, empfiehlt es sich, folgende Grundsätze zu beobachten: [...]“, nämlich Fremdwörter klar abgegrenzter Gruppen innerhalb des Fraktursatzes in Antiqua zu setzen (Buchdrucker-Duden 2 1907, S. XXXVI). Über die Duden-Rechtschreibung ( 9 1915) (dort S. XLVI) hält sich dies in paraphrasierter Form bis hin zur (im Jahre 2002) letzten Auflage (“2000; dort S. 90), wobei aus der Empfehlung von 1907, auf welcher Zwischenstation auch immer, ein Muss geworden ist: „[...] müssen im Fraktursatz in Antiqua gesetzt werden.“ (Auszeichnungen WM). Hintergrund ist: Im 16. Jh. entwickelt sich die deutsche Schrift „zum typographischen Kennzeichen für deutschsprachiges Schrifttum“, während die lateinische „für fremdsprachiges Schrifttum sowie für Fremdwörter und fremde Namen in deutschen Texten üblich“ wird. Dies setzt sich auf anderen Ebenen fort. Einige Stationen (nach Hartmann 1998, S. 26ff„ 303ff.) sind der Schriftstreit Fraktur vs. Antiqua (-1750-1918) und die ideologisch konforme, Fraktur-positive Schriftpolitik der Nationalsozialisten (bis 1939) bis hin zur Einführung der Antiqua als Normal-Schrift durch Hitler (1941). Scheint damit der Jahrhunderte währende Streit endgültig auch beendet und die Dichotomie Hic Antiqua - Illic Fraktur auch aufgehoben zu sein, so wird doch, als wäre nichts gewesen, 1948-1952 erneut die lateinische Schrift anstelle der deutschen gefordert (Haller 1952, S. 173). Erklärlich durch Ausschluss von Presse und Öffentlichkeit 1941? Oder als grundlegender und <?page no="146"?> 146 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform umfassender Neuanfang nach dem Ende des Krieges 1945? (vgl. Mentrup 2003, B. IV. 2.2. a). Zu diesem Komplex noch ein spezielles Schlaglicht auch auf den Allgemeinen Deutschen Sprachverein: Unter der Überschrift „Fremdwörter - Fremdkörper“ schlägt R. (1936) historisch einen weiten Bogen zurück bis hin zu der 1617 gegründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft“: dem "erste[n] Vorläufer des Deutschen Sprachvereins“, der „über 60 Jahre lang der Verwilderung der deutschen Sprache nach dem Dreißigjährigen Kriege entgegengewirkt“ habe. Insbesondere rühmt R. „die Ehrlichkeit, mit der man damals die Fremdwörter behandelte: man machte sie als Fremdlinge kenntlich, indem man sie mit lateinischen Buchstaben schrieb und druckte ein Brauch, der noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts geübt wurde“ und dem der Autor offensichtlich nachtrauert: „Wie würden wohl heute unsre Zeitungen aussehen, wenn man alle Fremdwörter lateinisch druckte? “ Fünf Jahre später, nämlich 1941 nach der amtlichen Abschaffung der Fraktur, stellt sich natürlich die Frage, wie R. denn in den Texten, nunmehr in lateinischer Schrift, sich die Fremdwörter graphisch stigmatisiert vorstellt und wünscht. Vielleicht in der ja 1941 als „Judenlettem“ diffamierten Fraktur? Das hätte trotz vordergründiger Widersprüchlichkeit, ideologisch gesehen, durchaus Sinn, und zwar in einer makabren Doppelbödigkeit. (2) 1941 Bernhard Rust (2. orthographische Initiative) - Fritz Rahn; Der Große Duden ( 12 1942) in „Normalschrift“ (Antiqua) Rust sieht nach dem angeordneten Verbot der Fraktur entsprechend dem 1 Zwei-Fliegen-auf-einen-Streich'-Motiv wie schon Steche (1933) (vgl. oben 1.1.1.1) und dann Menzerath (1948) (vgl. unten 1.2.2, 1948 bis 1954) eine neue Chance, gleichzeitig mit dem nunmehr notwendigen „Umdruck der Fibeln“ (Reichserziehungsministerium 1941/ 1.9.b) in Normalschrift „eine grundlegende Vereinfachung der Rechtschreibung“ vorzunehmen. So in einem Schreiben vom 26.5.1941 an das Reichsinnenministerium, verbunden mit der Bitte, „alle beteiligten Zentralstellen zu einer Besprechung [...] einzuladen“, und der Ankündigung, „demnächst ausführlich begründete Vorschläge zu machen“ (Birken/ Bertsch 2000, S. 46, 51). Auf diese Initiative hin, nach der von 1936 die zweite des Reichserziehungsministers, findet am 23. Juni 1941 eine erste Besprechung statt, der am <?page no="147"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 147 8. Juli 1941 ein Treffen von Vertretern seines Ministeriums und des Reichsinnenministeriums folgt. Aus dem Erziehungsministerium berichtet Ministerialrat Wilhelm Thies, Rust habe im Juni 1941 die Einberufung einer Kommission angeordnet, die entsprechende Vorschläge ausarbeiten solle; diese seien allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern sollten lediglich der Information des Ministers und der weiteren internen Klärung dienen. Bejaht der Vertreter des Innenministeriums auch die Notwendigkeit einer Reform, so äußert er jedoch gleichzeitig starke Bedenken, eine solche während des Krieges durchzuführen. So bleibt als Ergebnis: Das Erziehungsministerium erkenne die Federführung des Innenministeriums an und werde „lediglich interne, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Vorarbeiten“ leisten (Birken/ Bertsch 2000, S. 46, 51f.). - Auch dies klingt von Seiten Rusts und seines Ministeriums recht beflissen und devot. Mitglieder der Kommission sind u.a.: Erich Gierach (Universität München), Otto Karstadt (Deutsches Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht), Karl Reumuth (Leipziger Hochschule für Lehrerbildung), Ludwig Erich Schmitt (als Vertreter von Theodor Frings, Universität Leipzig) (Strunk 1998, S. 93; vgl. auch Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 47ff). Otto Basler kommt hier erst später, nämlich im Mai 1943, ins Spiel. Uber die Verbindung u.a. zwischen Erich Gierach, u.v.a. Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Deutschen Akademie, Otto Basler, Theodor Frings und Franz Thierfelder im Zusammenhang mit dem Sprachamt der Deutschen Akademie einige Dokumente aus dem Baslemachlass im IDS, die als Schlaglichter zu verstehen sind (vgl. Abb. 14). Ausführlich zu den Hintergründen, auch zeitlich zurück, vgl. Simon (1989, 1990); auch Birken- Bertsch/ Markner (2000, S. lOlff.); zu Gierach vgl. u.a. Lang (1996). Ob sich diese Dokumente in Simons Darstellung der damaligen Ereignisse einpassen, habe ich nicht überprüft. <?page no="148"?> 148 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Datum angesprochene Sachverhalte in Kürze Dokumente 11.09.1941 Gierach, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Deutschen Akademie, an Ludwig Sichert, deren Generalsekretär: Antrag auf Errichtung eines Sprachamtes bei der Akademie; u.a. Basler, Frings, Thierfelder im Spiel (#1.5) BN VI.71 (Gierach 1941/ 11.9.) 30.10.1941 Ludwig Siebert: Errichtung eines Sprachamtes, Organisationsstruktur: Forschungsstellen für Sprachrichtigkeit (betreuender Ausschuss u.a. Basler, Frings, Götze, Kranzmayer, von der Leyen) und für Sprachpolitik (#1.6) BN VI. 66 (Siebert 1941/ 30.10.) 18.02.1942 Basler an Gierach: Dank für seine Berufung in den Ausschuss und Ankündigung, er werde zur Eröffnungssitzung am 23.2. kommen (#1.7) BN VI.53 (Basler 1942/ 18.2.) 05.-25.03. 1942 Presse-Sprachregelung: Sprachamt in Zukunft als Stelle für sprachliche Festlegungen in Verbindung mit der Presseabteilung des Reichspropagandaministeriums; u.a. Siebert, Heitzer, Direktor der Deutschen Akademie, Gierach im Spiel (#1.8) BN VI. 13 (Presse- Sprachregelung 1942/ 5.-25.3.) 22.05.1944 Emst Reclam an Basler: Glückwünsche zur Ernennung zum ehrenamtlichen Leiter des Sprachamtes (Gierach ist am 16.12.1943 verstorben); vgl, auch die Erwähnung der Kriegsschäden (#1.9) BN VII.23 (Reclam 1944/ 22.5.) 06.03.1945 Karl Witthalm, Sachbearbeiter der Akademie: Baslers Funktion als Leiter des Sprachamtes bestätigender Brief (#1.10) BN VIII. 14 (Witthalm 1945/ 6.3.) Abb. 14: Sprachamt der Deutschen Akademie (vgl. auch Birken-Bertsch/ Markner (2000), S. 101f„ 108, 114) Die Vorarbeiten der Rust-Kommission werden auf einer Konferenz vom 11. bis 13. August 1941 abgeschlossen. Die Überschrift des Typoskripts lautet: „Vorschläge zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung“. Aus dem einleitenden Abschnitt „I. Grundsätzliches“ geht hervor, dass die Rechtschreibung „durch Vereinfachung für die Schüler, Volksdeutschen und Ausländer leichter erlernbar“ und „für alle Volkskreise müheloser anwendbar“ werden soll (Strunk 1998, S. 91; vgl. auch Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 53): Also auch hier mit Blickrichtung zunächst auf das Inland und dann auf das Ausland. <?page no="149"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 149 Bevor jedoch das Typoskript dem Innenministerium zugeschickt wird (vgl. dazu weiter unten), erscheint, so richtig mittendrin, am 14. September 1941 in merkwürdigem Gegensatz zu der bisher amtlicherseits strikt geforderten und durchgehend eingehaltenen Geheimhaltung aller einschlägigen Unternehmungen und mit bisher nicht ausgeleuchtetem Hintergrund 65 in der nationalsozialistischen Zeitung Das Reich der Aufsatz „Die Reform der deutschen Rechtschreibung. Ein Vorschlag von Fritz Rahn“ (Rahn 1941; #1.11; vgl. Abb. 15). 66 1. In folgenden Punkten stimmen die Vorschläge der Kommision und der Vorschlag von Rahn überein: 1.1 Kleinschreibung der Substantive 1.2 Grundsätzlich Wegfall der Dehnungsbezeichnung (Kommission: ihn, ihm Ausnahmen im Gegensatz zu in, im: Rahn: Beibehaltung von ie für langes i; wir, ir, mir, dir Ausnahmen; einige Grenzfalle mit h) 1.3 In deutschen Wörtern und Lehnwörtern: v wenn f gesprochen > fi qu > k\v: x (Kommission auch chs, cks) > ks: Abschaffung des y: > i oder ü (Kommission), ohne Ersatz-Angabe (Rahn) 65 Dass Rahns Vorschlag auch sonst in Umlauf ist, deutet ein Brief der Deutschen Akademie vom 21.9.1941 an E. Gierach an, aus dem hervorgeht, dass Rahn seinen Vorschlag an die Akademie eingesandt habe „mit der Bitte, ihn an eine bekannte einflussreiche Stelle in angemessener Form weiterzuleiten >und nach Kräften zu unterstützem [...]“, weshalb der Vorschlag dem Akademiebrief „beigeschlossen“ ist. (IDS-Baslemachlass BN VI.4) 66 Zu Abb. 15 Zeile 3.1 s-Schreibung sei dreierlei angemerkt: Nach den in Simon (1998) vorgelegten Dokumenten wird in Steches Vorschlägen von 1933 die s-Schreibung nicht erwähnt. Die von der Rust-Kommission vorgeschlagene Regelung bringt zu der in Bormanns Rundschreiben vom 3.1.1941 festgestellten Variante (vgl. oben (1)) eine weitere ins Spiel; die notfalls vorgesehene Ausweichvariante, die dritte im Bunde, ist die sog. Heysesche Schreibung. Auch Rahn geht in seinem Vorschlag auf die s-Schreibung nicht ein. Allerdings findet sich in dem von ihm gebrachten Beispiel Sie ferliesen die erziehungsanstalt [...] mit ferliesen eine der Kommissionsregelung konforme Schreibung. Ob diese ein Beleg dafür ist, dass Rahn hier die Kommissionsregelung schlicht voraussetzt, sei dahingestellt. <?page no="150"?> 150 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 2. Die Vorstellung von der Eindeutschung ist in beiden Vorlagen sehr unterschiedlich, was in Birken-Bertsch/ Markner - „Auch er [Rahn; WM] forderte [wie die Rust-Kommission; WM] im Namen der >Lautgerechtigkeit< die Eindeutschung der Fremdwörter [...]“ (2000, S. 82) verwischt wird. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Ergebnisse. 2.1 Kommissions-Vorschläge: „V. Fremdwörter“ aus den dort unterschiedenen 9 Gruppen nur einige Beispiele: Karakter, Schofför, Schandarm; Teater, Rombus; Filosofie; Zilinder, Idülle; Batteri; Redaktor, Frisöse; Nazion. „10. Einzelheiten“ u.a.: Bole, Skitze, Splin, Packet, Klicke, tränieren, Tur. 2.2 Bei Rahn heißt es: „5. Fremdwörter werden in Fremdschreibung, Lehnwörter rücksichtslos in deutscher Schreibung geschrieben, also: hypothek, genie, Sekunde; aber: mashiene, famielie, tieger, kamien, fabrikk, tron.“ 3. Nur in den Kommissions-Vorschlägen: 3.1 Schreibung der s-Laute: Einführung des langen f in die Antiqua als besonderes Zeichen für stimmhaftes s, 5 für stimmloses s (Rofe, grose Rosse', weife, die weise Wand; verreifen, zerreisen)', dass (Konjunktion) und das (Artikel und Pronomen) > das Begründung der Einführung des Zeichens f: Förderung der einheitlichen Aussprache im Reich und Erleichterung der Erlernung der s-Aussprache für Ausländer: Also auch hier mit Blickrichtung zunächst auf das Inland und dann auf das Ausland falls f nicht durchsetzbar ist: für stimmloses s nach kurzem Vokal im In- und Auslaut ss, nach langem Vokalß: Fluss, Flüsse gegenüber Fuß, Füße 3.2 ai > ei', äu > eu 3.3 b wenn p gesprochen > p (z.B. Erpse); dt > d bzw. t (z.B. lädt, beredt > läd, bered; sandte, wandte > sante, wante; ihr seid > ihr seit (wie die Konjunktion und Präposition) 3.4 Familiennamen bleiben; Vornamen unterliegen den Regeln; erdkundliche Namen möglichst angleichen 3.4 Schiffahrt, fettriefend generell mit zwei Buchstaben, bei Trennung aber mit drei: Schifffahrt 3.5 Silbentrennung: nach Sprechsilben (auch Trennung des st), deutlich empfundene Zusammensetzungen nach Bestandteilen 3.6 Zeichensetzung: vor „und“ und „oder“ in Satzverbindungen kein Beistrich 4. Nur in Rahns Vorschlag: sch > sh; Mücke, Katze > mükke, kazze Abb. 15: Regelungsvergleich: Rust-Kommission und Rahn (1941) <?page no="151"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 151 Eines und sicherlich ein zentrales der von Rahn formulierten Ziele, nämlich dass durch die Verwirklichung seines Vorschlags „die deutsche Sprache im Ausland vor den verbreitetsten europäischen Sprachen, z. B dem Französischen und Englischen, einen gewaltigen Vorsprung hätte“, korrespondiert mit dem in „der vorgeschlagenen Schreibung“ gehaltenen Zitat „(Aus einem aufsazz fon Franz Thierfelder.)“, d.h. genauer mit der dort zur Sprache gebrachten Vorstellung einer "echte[n] Weltsprache“ (vgl. u.a. Rahn: Vorsprung vor ~ Thierfelder: forzugfor): Diese sei zwar auch „den gesezzen des Werdens und fergehens unterworfen aber soweit wir die menshheitsgeshichte überblikken, bleibt ir ein forzugfor den sprachen, die sich überfolkische geltung nicht erringen konnten“: Also so etwas wie Vor- oder Weltherrschaft der deutschen Sprache. Zurück in den Zeitablauf: Im Oktober 1941 gehen die „Vorschläge zur Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung“, in der von Rust eingesetzten Kommission im August abschließend bearbeitet, beim Reichsinnenministerium ein. Der Kern der Stellungnahme aus dem Innenministerium vom 2.2.1942: Die Kriegslage fordere „auch im zivilen Sektor die Bereitstellung aller Kräfte für den Endsieg“, und „die Vereinfachung der Rechtschreibung [...dürfte] als kriegswichtig nicht anerkannt werden“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 93). Inhaltlich übereinstimmend sind 1942 auch die Positionen und Stellungnahmen weiterer beteiligter Zentralstellen vom 16.4. bis hin zum 17.7.1942. Der Weiterführung der ressortintemen Vorarbeiten der Kommission im Einvernehmen mit dem Reichsinnenministerium wird hingegen zugestimmt, wobei die Kommission lediglich informatorischen Charakter haben dürfe und die Öffentlichkeit draußen vor bleiben solle. 67 67 Insgesamt vgl. Strunk (1988), S. 91ff. (Vorschläge der Rust-Kommission dort S. 91f.); Birken-Bertsch/ Markner (2000), S. 45-55, 93ff. (Vorschläge dort S. 54f.). Die zwei Autoren berichten (S. 94) zudem über eine trotz der zwischen den beteiligten Stellen abgesprochenen Geheimhaltung erfolgte Veröffentlichung der Kommissionsvorschläge im März 1942 in der Zeitschrift Die Neue Deutsche Schule durch den schon bekannten Ministerialrat Wilhelm Thies aus dem Reichserziehungsministerium. „Der Beitrag ist, obwohl keineswegs an entlegener Stelle publiziert, von der bisherigen Forschung ignoriert worden.“ so ihr Kommentar. Mit ignorieren ist hier ausgedrückt, dass die bisherige Forschung von diesem Beitrag zwar durchaus wusste und ihn kannte, aber dass sie dieses ihr Wissen bisher nicht mitgeteilt und diesen Beitrag absichtlich nicht beachtet, ihn absichtlich übergangen hat. Warum dies so ist, mögen die Götter oder auch die zwei Autoren wissen; mitteilen tun sie <?page no="152"?> 152 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Auf die 1941-1942 durch das Geschehen irgendwie irrlichtemden (vermeintlichen, angeblichen, erfundenen) positiven Äußerungen des Führers zu einer Rechtschreibreform und auf das damit verbundene und darauf bezogene Hinund-Her von Aktivitäten und Hick-Hack von Stellungnahmen verschiedener beteiligter Stellen, worüber in Strunk (1998) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) berichtet wird, gehe ich nicht ein. Immerhin auch hier eine weitere Führer-Rolle (vgl. die Zusammenstellung oben in 1.2.2.4 Abb. 10). • Der Führer VIII: Als höchste Instanz in welch konkreter Form auch immer positiv Stellung beziehender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. Wie oben (vgl. 1.1.3.1) bereits zeitgerecht eingefügt, erscheint 1941, mit einem „im Januar 1941“ datierten Vorwort, die 12. Auflage der Duden- Rechtschreibung, also vor den bisher in diesem Abschnitt 1.1.3.2 dargestellten Ereignissen und entsprechend zeitgemäß in Frakturschrift. Als Reaktion auf den „Erlaß des Reichserziehungsministeriums vom 1. September 1941“ und damit auf die nunmehr eingetretene neue Schriften- und sprachpolitische Lage (Ersatz der Fraktur durch die sog. Normalschrift) erscheint die 12. Auflage nun auch in einer „Normalschriftausgabe“, und zwar 1942. Gedacht ist diese „Nur für den Export“ (Sarkowski 1976, S. 263), was einerseits die schon mehrfach bekannte Auslandsperspektive in Erinnerung bringt wie andererseits auch, dass schon im 19. Jh. die Antiqua „zur Exportschrift [, und zwar damals] der deutschen Wissenschaft [,] geworden [war.]“ (Rück 1993,8.238). Dem in dieser Ausgabe erneut abgedruckten, jedoch an manchen Stellen geänderten „Vorwort zur 12. Auflage (1941)“ (S. 3*f.) folgt das sehr kurze „Vorwort zur Normalschriftausgabe (1942)“. Es lautet: „Die vorliegende Ausgabe in Normalschrift verdankt ihr Entstehen dem Erlaß des Reichserziehungsministeriums vom 1. September 1941, der an Stelle der >deutschen Schrifh die >deutsche Normalschrifh eingefuhrt hat. Die Ausgabe ist ein unveränderter Abdruck der im Jahre 1941 erschienenen 12. Auflage unserer >Rechtschreibung<.“ den Grund nicht. Auch dies ist in mehrfacher Hinsicht eine ‘erstaunliche Begebenheit’, der sich weitere zur Seite stellen werden. <?page no="153"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 153 Datiert und unterzeichnet ist das Vorwort mit „Leipzig, im November 1942. Bibliographisches Institut AG.“ (Duden-Rechtschreibung (Normalschriftausgabe) 12 1942, S. 4*). 68 Kurz zum „unveränderten Abdruck der [...] 1941 erschienenen 12. Auflage“: Wird so die Ausgabe von 1942 nicht nur in ihrem Vorwort, sondern ebenfalls über 50 Jahre später in Müller (1994, S. 117) auch vorgestellt, so unterscheiden sich beide doch schon im Umfang: 1941 S. l*-74* (einschließl. Titelblatt); Wörterteil S. 1-693 (einschließl. Titelblatt), A bis Z 691 S.; 1942 S. l*-78* (einschließl. Titelblatt); Wörterteil S. 1-690 (Titelblatt nicht vorhanden), A bis Z 690 S. ‘RegelteiT: 1941 S. 15* bis 64* = 50 S.; 1942 S. 15* bis 67* = 53 S. Und auch sonst ist die Ausgabe von 1942 so ganz unverändert nicht. Eher ein Zufallsfund ist: Auf S. 6* Abschnitt „2. Schrift“ wird noch einmal, wie schon im Vorwort, auf den Erlass vom 1.9.1941 hingewiesen sowie auf die Nichtunterscheidung zwischen langem und runden s in der Antiqua. Auf S. 10* ist als neuer Punkt „11. Warenzeichen“ eingefügt. Ob der größere Umfang des ‘Regelteils’ 1942 auf Erwei- 68 Damaliger Leiter der Dudenredaktion ist Horst Klien (so auch Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 84) zumindest stellt es sich mir insgesamt so dar. Zur Begründung dieser leichten Einschränkung vgl. unten 3.1.2.1f. Angemerkt sei, dass in der Literatur bezüglich der Leitung der Dudenredaktion einige Verwirrung herrscht, so u.a. bei Strunk (1992) und insbesondere bei Kopke (1995). Das insbesondere deshalb, weil Kopke aus der von ihm aus Strunk übernommenen direkten Nachfolge Otto Basler > Paul Grebe weitgehende Schlussfolgerungen zieht, die, da dieser Ansatz falsch ist, bei Richtigstellung ins Kuriose umkippen oder abgleiten. Dies spielt in Zusammenhängen eine wichtige Rolle, die später (in Kapitel 3) zu behandeln sind. Sarkowski (1976, S. 263) gibt, wie auch Rück (1993, S. 259) und Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 40 und 119), als Erscheinungsjahr der Ausgabe in Nomalschrift 1941 an. Doch ist sie, wie allein schon die im IDS vorhandenen zwei Exemplare ausweisen, 1942 erschienen. Zudem und ohne Bezug auf diese: Der ebenfalls in „Normalschrift“ gedruckten 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1947 „liegt die 1942 erschienene 12. Auflage zugrunde“ (Duden-Rechtschreibung 13 1947 [L], S. 3* Vorwort, erster Abschnitt; vgl. darüber hinaus Sauer 1988, S. 120 (zu diesen beiden vgl. wiedemm Birken- Bertsch/ Markner 2000, S. 119), Heller 1989 und auch Hartmann 1998, S. 295). Mit 1943 erweitert Hering um eine weitere Variante des Erscheinungsjahres der „Normalschriftausgabe der 12., neubearbeiteten und erweiterten Auflage (1941) 1943“ (Hering 1989, S. 347; vgl. auch S. 120, 246). Doch geht aus seinen Angaben nicht hervor, dass diese Ausgabe in Riga gedruckt worden ist, wie dann eine weitere 1944 in Zürich (Auskunft von Klaus Heller, IDS). <?page no="154"?> 154 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform terungen zurückgeht, habe ich nicht geprüft. Auf eine geringfügige Erweiterung 69 macht Hering (1988, S. 246) aufmerksam. Als Kuriosum sei vermerkt, dass 1941 „V. Einzelvorschriften für den Schriftsatz“ und „VI. Korrekturvorschriften“ die Seiten 65*-74* einnehmen und eigentlich als Schluss des *-Teils unmittelbar vor den Wörterteil gehören; doch sind sie erst am Ende des Bandes nach dem Wörterteil eingebunden. " Als Kuriosität von höherem Rang erscheint, dass dieselbe Auflage einer Duden-Rechtschreibung in zwei Schriften erscheint: 1941 in Fraktur wie alle vorherigen und 1942 in Antiqua wie alle folgenden: Auch dies ein Indikator für die Zeitenwende. In einem als Manuskript gedruckten Nachwort zu dieser Antiqua-Ausgabe nimmt die Dudenredaktion zunächst zu einer „Vereinfachung der Rechtschreibung“ Stellung: „[...] kulturpolitisch betrachtet, [scheint uns] der Zeitpunkt für eine so durchgreifende Reform und plötzliche Umstellung noch nicht gekommen. Der Augenblick, in dem wir bemüht sind, unserer Sprache Weltgeltung zu verschaffen, mit dem Ausland durch die Kultur- und Wirtschaftsarbeit unseres Großdeutschen Reiches engere Beziehungen herzustellen, scheint uns nicht geeignet, dem Ausland zuzumuten, sich mit zwei Rechtschreibungen abzumühen.“ (nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 85). Im Weiteren, mit Blick auf die angestrebte ‘Weltgeltung unserer Sprache’, differenziert die Dudenredaktion und wägt ab: „Wir haben den Eindruck, als ob wir mit einer derart grundlegenden Änderung unserer Rechtschreibung der Vorteile, die wir eben erst durch die Neueinführung der Normalschrift erreicht haben, verlustig gehen: diese bedeutete Fortschritt, jene aber zumindest Stillstand, wenn nicht Rückschritt unserer Beziehungen zum Ausland.“ (ebd.) 69 „Mit th schreibt man noch einige altdeutsche Namen, die mit Theobeginnen, z. B. Theobald, Theoderich, ferner einige Zusammensetzungen, wie Lothar und Mathilde [...]“ (R. I, 1; die von mir verwendete Kursive markiert die Erweiterung in der Ausgabe von 1942 gegenüber der von 1941). 70 Sauer (1988, S. 67) führt für die 12. Auflage 1941 bzw. 1942 nur einen Steckbrief mit dem Jahr 1941. Seine Angaben „Regelteil: 50 Seiten“ und „Wörterverzeichnis: 690 Seiten“ sehen so aus, als habe er diese der Ausgabe von 1942 entnommen und jene der von 1941. <?page no="155"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 155 Auch hier Auslandsperspektive im Verein mit der Ideologie von der Weltgeltung der deutschen Sprache wenn auch, bezogen auf eine Rechtschreibreform, mit spezifisch eigener Sichtweise und entsprechender Gewichtung. Nach Auskunft der zwei Autoren ist dieses „Nachwort zur 12. Auflage (1941) des Großen Duden. Als Manuskript gedruckt, Leipzig 1941“ „ausdrücklich nicht für die breite Leserschaft bestimmt. Ihr gegenüber äußerte die Duden-Redaktion lediglich ein vages Bedauern, daß die >augenblicklichen Verhältnisse eine endgültige Lösung< der Rechtschreibproblematik >durch die maßgebenden Regierungssteilem nicht erlaubten“ (Birken- Bertsch/ Markner 2000, S. 85, dort auch Anm. 11). Diese Gegenüberstellung unterschiedlicher Informationsstrategien, nämlich einerseits ‘differenziert, dabei nicht öffentlich, lediglich zur (amts)intemen Information’ und andererseits ‘vages Bedauern gegenüber der Öffentlichkeit’, erweckt den Anschein ihres gleichzeitigen Verfolgs durch die Dudenredaktion und führt zu dem Eindruck einer von dieser bewusst und gezielt betriebenen Doppelstrategie. Sie lässt jedoch außer Acht, dass das ‘vage Bedauern’ im Vorwort zur Fraktur-Ausgabe, datiert „im Januar 1941“, ausgedrückt wird und sich damit auf den Zeitpunkt und die Situation vor Einführung der Normalschrift und vor Bekanntwerden der Vorlagen von Rust und Rahn bezieht, während das Nachwort zur Normalschriftausgabe diese Ereignisse voraussetzt und erst nach deren Eintreten als Reaktion und mit Bezug darauf formuliert ist. 71 (3) 1942 Orthographisch-politisches Fazit Auf der orthographisch politischen Ebene erscheinen die einschlägigen Aktivitäten im Sommer 1942 als abgeschlossen. Im letzten in diesem Zusam- 71 Möglicherweise ist die Fehl-Interpretation der zwei Autoren begründet in ihrer falschen Datierung der Normalschrift-Ausgabe (1941 statt 1942). In diesem Fall sollten sie Rat und vielleicht auch Trost in ihrem eigenen Werk suchen, wo es in anderem Zusammenhang (S. 120) so schön heißt: „Unwissen zeugt sich fort.“ Merkwürdig auch: Wenn wirklich „ausdrücklich nicht für die breite Leserschaft bestimmt“, so stellt sich doch die Frage, warum der Text dann Fachwort zur 12. Auflage“ heißt. Datiert ist er mit 1941. Am 2.2.1942 stoppt das Innenministerium die 2. Rust- Initiative, was der Duden-Redaktion nicht entgangen sein dürfte und ihre Stellungnahme gegen „eine so durchgreifende Reform“ als Nachwort überflüssig macht. Das Vorwort der Normalschriftausgabe trägt als Datum „im November 1942“. <?page no="156"?> 156 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform menhang in der Literatur vermittelten Dokument vom 17.7.1942 weist das Reichsministerium des Innern noch einmal darauf hin, dass die Kommission des Reichministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung „lediglich informatorischen Charakter besitzen dürfe“. „Die Kommunikation in Rechtschreibfragen zwischen den beiden Ressorts kam nun vollständig zum Erliegen.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 95) - Eine innenpolitisch wie auch zeitlich deutliche Zäsur. Weder die Vorschläge der Rustkommission noch der Vorschlag Rahns sind von den zuständigen Zentralstellen zur neuen amtlichen Norm (zum Sprachgesetz im hier gemeinten Sinne; dazu vgl. unten 2.1) erklärt. Ob und inwieweit die einer Rechtschreibreform gegenüber ablehnende Haltung der Dudenredaktion darauf Einfluss gehabt hat, ist für mich nicht durchsichtig. Wie dem auch sei das Ergebnis entspricht jedenfalls ihren Intentionen. Im Rückblick auf 1.1.2 bis 1.1.1 sind für die orthographischen Unternehmungen folgende Punkte festzuhalten; dies auch in Hinblick auf das, was im Weiteren noch kommt: Sowohl bei Steche (1933) als auch bei Rust (1936) und (1941) als Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: durchgängig unter Beteiligung des Reichministeriums des Innern; durchgängig die doppelte Perspektive auf das Inland und auf das Ausland; insgesamt die (höchstinstanzlich angeordnete) Nichtöffentlichkeit bei den Vorbereitungen (wie auch bei der Abschaffung der Fraktur); das Nicht-zu-Stande-Kommen aller Bemühungen aus (außenund/ oder innen-)politischen Gründen aufgrund der Einstellung der Zentralstellen und/ oder höchstinstanzlicher Anordnung; die direkte Einbindung ‘des Duden’ bzw. sein Stand auf der jeweiligen Höhe der Zeit, wobei der im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und in Folge im Kleinen Duden ( 2 1939) erreichte ideologische Höchststand als nicht mehr steigerbar erscheint. 1.1.3.3 1944 Bernhard Rust (3. orthographische Initiative): Kurzer Hinweis Und es verwundert irgendwie schon nicht mehr, dass Rust einen weiteren und damit seinen dritten Vorstoß macht. Er gibt offenbar immer noch nicht <?page no="157"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 157 auf und will, wie der Volksmund sagt, augenscheinlich mit dem Kopf durch die Wand. 1944 erscheint im Deutschen Schulverlag in Berlin das Buch: Regeln / für die deutsche Rechtschreibung / und Wörterverzeichnis / / Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Titelseite) Auf der Rückseite des Titelblattes findet sich der Vermerk: „Nach Zulassung durch die Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum als Lernbuch eingeführt durch den Erlaß des Reichserziehungsministers E Ila (C6) 5/ 44 vom 20. Februar 1944.“ In dem im Zulassungsvermerk angeführten Erlass heißt es ergänzend: „Die >Regeln [...]< sind in der neuen Auflage [...] erschienen.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.). Suchte Rust als Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bei den vorausgegangenen Vorstößen 1936 und 1941 wohl weniger freiwillig als aufgrund der Kompetenzverteilung eher gezwungenermaßen für seine Vorschläge das Einvernehmen mit dem Reichsministerium des Innern und zeigte sich dieses an der Durchsetzung einer Reform in beiden Fällen letztendlich nicht interessiert, so deuten bereits die oben angeführten ersten Einzelheiten des dritten Unternehmens an, dass dieses gegenüber den beiden vorausgehenden auf einem anderen Gleis, nämlich auf der Schiene der mit seinem Amt verbundenen Reichsschulkompetenz, verläuft und eine qualitativ andere (Organisations-)Struktur hat. Rust setzt diesmal gewissermaßen auf eine andere und dabei alles auf eine Karte und spielt diese, seine letzte, auch direkt aus. Folgerichtig beginnt Strunk (1998, S. 93) mit der Überschrift „3. 1944 Neuauflage der amtlichen Regeln“ einen neuen Abschnitt. Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 95) erwecken hingegen den Eindruck, als ginge oder glitte das eine Unternehmen von 1941/ 1942 nahezu nahtlos in das andere von 1944 über bzw. hinüber. Dass "[d]ennoch [...] der Fall 1944 anders [lag]“, erfährt der Leser dann erst auf Seite 109; und auch, dass, wie die zwei Autoren so schön sagen, „es sich bei der Erarbeitung des Regelwerks von 1944 um eine klandestine Operation [handelte]“. Klandestin? Und dann noch klandestine Operation? Das wirkt zwar schon irgendwie vornehm und gehoben; doch half mir das zu diesem Zeitpunkt nicht aufs Fahrrad, denn klandestin war mir schlicht unbekannt. Getröstet hat <?page no="158"?> 158 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform mich dabei zweierlei: Laut Auskunft der Wörterbücher bedeutet klandestin soviel wie heimlich, ist aber als veraltet markiert und offensichtlich gebunden an die feste Formel klandestine (nicht nach kanonischem Recht geschlossene) Ehe. Zudem: Von sechs von mir nach klandestin Befragten war fünfen dieses Wort nicht bekannt. Doch wie es dann so selten nicht ist: Einmal bezüglich eines Wortes sensibilisiert, begegnet es dir dann natürlich prompt - und du hast wieder etwas dazugelemt. 72 Die zitierten Artikel und die folgenden Beispiele daraus zeigen: Das einschlägige Wortfeld mitsamt den Kollokationen ist recht vielgestaltig, die 72 Zum einen in einem Spiegel-Artikel (Kubbjuweit/ Latsch 2001/ 8.1.: Ich habe gekämpft) über Joschka Fischer, die 68-Bewegung und die sog. Projektgruppe, seit 1970 Revolutionärer Kampf (RK) genannt (S. 27). Bezogen darauf erinnert sich Barbara Köster: „Plötzlich gab es so etwas wie eine klandestine Struktur, die den RK faktisch spaltete.“ (S. 28). Und in einem Brief vom 2.12.1978 schreibt Hans-Joachim Klein an die Redaktion der Altemativ-Zeitschrift Pflasterstrand, die ihn als „großmäuligen Angeber und Schwätzer“ beschimpft hatte: „Ja bitte schön Genossen/ innen, dann sagt mir doch mal, warum ihr mich zu allen klandestinen Vorbereitungszirkeln geholt habt. Von der supergeheimen Putzgruppe und ihrem noch geheimeren Training ganz zu schweigen.“ (S. 37). Zum andern gehäuft nach dem Datum „Der 11. September 2001“, das späterhin von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2001 gewählt werden wird in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau über Bin Laden und Al Qaeda, deren „Männer [...] nur schwer auszumachen sind, weil sie sich in ihren Zufluchtsländem lange Zeit völlig unauffällig verhielten und >extrem klandestim handelten“ (Sperber 2001/ 15.9.: Die Globalisierung des Dschihad). An anderer Stelle ist von den „so genannten Schläferin]“ (Frankfurter Rundschau 228/ 1.10.2001, S. 5) die Rede, u.a. in Deutschland als „Ruheraum für Gewalttäter“ „geparkt“ (ebd., S. 3), wo sie sich „extrem unauffällig“ und „unerkannt [...] aufhalten“ (ebd., S. 5), um ihre Aktion, ihre Operation vorzubereiten ein Feind, „der sich im Schatten verbirgt (Frankfurter Rundschau, 229/ 2.Z3.10.2001, S. Bl). In einem späteren Artikel finden sich weitere Verbindungen: „dass derzeit eine weltweit aktive >islamistische International im Entstehen begriffen sei, deren klandestine Zellen und Netzwerke über Nacht an den unwahrscheinlichsten Orten der Weltgeschichte auftauchen“ (Frankfurter Rundschau, 282/ 4.12.2001, S. 17). Zum dritten noch später im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren, dem Bundesverfassungsgericht und dem Verfassungsschutz: Jm Geheimen zu wirken gehört gewiss auch zu den Aufgaben des Bundesverfassungsschutzes. [...] Manche aber scheinen den Geheim-Dienst zu wörtlich zu begreifen. Das Ergebnis falsch verstandener klandestiner Bemühungen ist nun im Fall des einstweilen geplatzten NPD-Verbotsverfahrens zu besichtigen. [...] Anhänger von Verschwörungstheorien mögen darin neue Nahrung finden“ (Frankfurter Rundschau, 19/ 23.1.2002, S. 3; Kursive insgesamt WM). <?page no="159"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 159 Markierung von klandestin als veraltet fragwürdig und die Redeweise von der festen Formel offensichtlich unzutreffend: klandestine Vorbereitungszirkel, klandestine Bemühungen, supergeheim, noch geheimeres Training, nur schwer auszumachende Männer, sich völlig unauffällig verhalten und extrem klandestin handeln, Schläfer in N.N. als Ruheraum für Gewalttäter geparkt, unerkannt sich aufhalten, sich als Feind im Schatten verbergen, klandestine Zellen und Netzwerke tauchen über Nacht an den unwahrscheinlichsten Orten auf, im Geheimen wirken. Zudem: Mit ihrer Kennzeichnung von Rusts dritter Initiative als klandestiner Operation umgeben Birken-Bertsch und Markner den Minister indirekt mit einer recht gemischten, illustren Gesellschaft. Doch wie sagt, modifiziert, der Volksmund? Wer im Steinhaus sitzt, sollte nicht mit Gläsern werfen. Denn dass Anlass besteht, zu erwägen, die zwei Autoren selber der Gesellschaft klandestiner Operateure zuzuordnen, wird weiter unten deutlich (vgl. 3.2.2.3 (3)). Mit dem Ergebnis dieser klandestinen Operation, mit Rust (1944), ist einer der Hauptgegenstände dieser Untersuchung benannt. Im Vorgriff sei gesagt: (S)einen Stich hat Rust auch mit der letzten Karte nicht gemacht. Durchgesetzt hat sich dieses Buch und die in ihm vorgelegte Regelung nicht, doch spielt es in der jüngeren Reformdiskussion eine große, wenn auch schillernde Rolle (vgl. die folgenden Abschnitte) wie auch im Rahmen weiterer Zusammenhänge und Handlungsfelder (vgl. Kapitel 2 und 3). 1.2 Erster sichtender Zugang zur Literatur: Insbesondere mit Blick auf Rust (1944) und auf das Vorgehen von Birken-Bertsch/ Markner (2000) In diesem ersten Durchgang geht es um solche Beiträge aus der mir bekannten Literatur zur Orthographie, die in ihren historisch orientierten Passagen, zumindest auf den ersten flüchtigen Blick, als für das Thema insbesondere Rust (1944) nicht (sehr) ergiebig erscheinen ein Eindruck, der dem zweiten prüfenden Blick allerdings nicht immer standhält. Es geht um Beiträge, in denen das Thema eher pauschal oder unter vereinzelten Gesichtspunkten angesprochen wird bzw. in denen aus welchen Gründen auch immer einschlägige Informationen vermutet werden konnten, die sich aber wie auch immer begründet oder deutbar dort nicht finden. <?page no="160"?> 160 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Berücksichtigt habe ich auch die Titel, die über meine erste Aufstellung bis zum Jahre 1998 hinaus in dem danach erschienenen Buch Birken-Bertsch/ Markner (2000) angeführt sind, und zwar in dem ersten, dem eröffnenden Teil ihres Interpretationsrahmens, welcher der eigentlichen Abhandlung vorausgeht. Der dieser Abhandlung, dem Mittelteil, folgende (ab)schließende Interpretationsteil wird allgemein mit einbezogen. In einem weiteren Rechercheschritt habe ich weitere Titel ergänzt. In 1.2.1 gehe ich von der Gruppe von Titeln aus der jüngeren Vergangenheit aus, auf die speziell die zwei Autoren ihr Augenmerk richten. In 1.2.2 geht es, wie sie sagen, um die „Tradition“ des unter 1.2.1 Aufgezeigten. In 1.2.3 folgt eine kurze Überleitung. Zur Verdeutlichung des Zusammenhangs ein Vorgriff auf 1.3: Hier wird der Interpretation und (Be-)Wertung des erhobenen Befundes durch die zwei Autoren (m)eine andere gegenübergestellt. Insgesamt geht es mir auch darum, das im doppelten Sinne des Wortes eigentümliche Vorgehen der zwei Autoren deutlich zu machen und im konsequenten Verfolg ihres Ansatzes auch durch Erweiterung ihrer Materialgrundlage diesen in seiner Übersteigerung und Verstiegenheit aufzuzeigen. 1.2.1 Zur jüngeren Vergangenheit Eine erste, speziell Ziel-orientierte oder, in anderer Richtung gesehen: Ergebnis-determinierte Aufmerksamkeit schenken Birken-Bertsch/ Markner (2000) einigen, von ihnen gewissermaßen handverlesenen Autorengruppen und Einzelautoren. Das allgemeine Qualitätsmerkmal für diese ihre Auslese ist: ‘Urheber der neuen amtlichen Regelung’ bzw. speziell in (m)einem Falle ‘früher daran Beteiligter’. Die hier zunächst pauschal wiedergegebene Kritik der zwei lautet, dass diese sich zu den Vorgängen insbesondere um Rust gar nicht oder nur „sehr unvollständig“ äußern; was sie dann in ihrer spezifischen Weise deuten. Im Einzelnen werden angeführt: IDS-Kommission (Hg.) (1985), IDS-Kommission (Hg.) (1989), der Sammelband Augst/ Blüml/ Nerius/ Sitta (Hg.) (1997) (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 12) und dort u.a. speziell Zabel (1997); als Bibliographien „für die Jahre 1933 bis 1945 sehr unvollständig“: Augst/ Höppner (Hg.) (1992), Nerius/ Rahnenführer (1993); zudem Mentrup (1993) (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13). Indirekt mit einbezogen wird auch Kohrt (1997a) in der Weise, als ein Zitat daraus als Überschrift für das Kapitel „I. Machen wir einen großen Sprung über <?page no="161"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 161 das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus“ gewählt ist (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 9). Wird von den zwei Autoren überdies vermerkt: „Wolfgang Mentrup kündigte [im Sprachreport 2/ 1998, S. 18] eine Untersuchung der Reform von 1944 erst zu einem Zeitpunkt an, da er die Kommission bereits verlassen hatte.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13; Kursive WM), so erweckte dies, auf den ersten Blick, den Anschein und bei mir den Hoffnung spendenden Eindruck, wenigstens ich käme, trotz Mentrup (1993), in dieser Negativliste doch noch halbwegs glimpflich davon. Denn hätte ich, so meine spontane Reaktion, bereits vor Oktober 1993, dem Datum meines Austritts aus der Kommission und aus dem Reformvorhaben, angekündigt, dann hätte mich allein schon als aktiven Reformanhänger und wegen meiner Mitgliedschaft in der Kommission der Bannstrahl ebenfalls und direkt getroffen. Doch dann die hoffnungslos verspätete Einsicht: Auch den, der später oder auch sehr spät kommt, den bestrafen die zwei Autoren. Die von Birken-Bertsch und Markner dargebotene ‘geschlossene’ Liste der Beiträge, die sich zu den Vorgängen insbesondere um Rust nicht äußern und entsprechend in ihrem Literatur-Feld negativ markiert, stigmatisiert sind, lässt sich natürlich, auch über das von ihnen hier gewählte Einstiegsdatum 1985 weiter zurück, relativ beliebig erweitern, wobei, wenn auch nicht alle, so doch die meisten der Autoren dieser Beiträge dem von den zwei Autoren eingegrenzten ‘harten Reformer-Kern’ angehören: Pacolt (1972), Augst (1974) und (Hg.) (1974), Baudusch (1975), Nerius (1975), Garbe (Hg.) (1978), Reichardt (1979), Mentmp (1980a), Piirainen (1980 und 1981), Baudusch (1981), Bramann (1982), Mentrup (1983), Garbe (Hg.) (1984), Kohrt (1987), Nerius (Hg.) (1987), Rechtschreibunterricht (1987), Sauer (1988 und 1989), Nerius (Hg.) ( 2 1989), Mentrup (1990), Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992), Nerius (1994), Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1995), Gallmann/ Sitta (1996), Mentrup (1999) und die beiden Bibliographien Willenpart/ Kircher (1994) und Ehlich/ Coulmas/ Graefen (Hg.) (1996). Schon angesichts dieser ja doch schon recht großen, aber mit Sicherheit noch nicht vollständigen Aufstellung stellt sich die Frage: Was will oder kann bzw. was soll uns das alles eigentlich oder überhaupt sagen? Dazu später unten in 1.3. Zunächst weiter im Text. <?page no="162"?> 162 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.2.2 Zur „Tradition“ 1946 bis 1996 Die Linie der „Tradition“ so die zwei Autoren (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13) des oben Aufgezeigten in der Literatur ist hier wie bei ihnen chronologisch angeordnet und mündet ihrerseits in die jüngste Gegenwart. Die aus ihrer Darstellung neu übernommenen Titel sind entsprechend eingefügt und gekennzeichnet. Bei Titeln, die ich 1998 bereits erfasst hatte, ist, sofern die zwei sie anfuhren, ihr Kommentar jeweils angefugt. 1946 Ein Jahr nach dem Ende des 2. Weltkrieges geht Renner (1946, S. 7ff), „der Typograph“, der „Maler und Buchgestalter“ (Rück 1993, S. 232 bzw. 249), ausführlicher auf den Ersatz der Fraktur durch die Antiqua und, mit einem eingesprengselten Satz, auch auf Reformbemühungen ein. Dabei lässt der Autor im unten abgedruckten Ausschnitt im ersten Satz, der einem Wehrmachtsbericht entnommen sein könnte, metaphorisierend und hypostasierend die Fraktur als militärisches Agens, als Kriegsmacht erscheinen, während er am Schluss, unter Wechsel des Bildfeldes, die Einführung der Antiqua angesichts der Verruchtheit des damals herrschenden Bösen zum Geschenk des Himmels erklärt, sie sozusagen auf den Namen Theodorus tauft: „Im Dritten Reich sah es zunächst so aus, als ob die Fraktur aus der Verteidigung zum Angriff übergehen wolle. Doch dann kam der alle überraschende Erlaß, der die Antiqua zur deutschen Normalschrift erklärte. Man weiß heute, daß auch eine radikale Reform unserer Rechtschreibung geplant war. Mögen die Beweggründe, die zu diesem Schritt geführt haben, noch so verrucht gewesen sein, so war dieser Erlaß selbst doch ein unverdientes Geschenk des Himmels, der uns ja das Gute zuweilen durch Menschen bringen läßt, die das Böse wollen.“ (Renner 1947, S. 8f.). Ebenfalls kurz nach dem Kriege (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13f.) „Otto Karstadt, der 1941 an Beratungen der Orthographiekommission des Reichserziehungsministeriums teilgenommen hatte [und auch 1944 mit im Spiele war; WM], machte schon kurz nach dem Krieg in einem historischen Abriß zur Vereinheitlichung und Vereinfachung der Rechtschreibung< den großen Sprung vom Erfurter Programm (1932) zum >ersten amtlichen Regelbuch nach dem Waffenstillstand^ der Neubearbeitung des sächsischen Wörterverzeichnisses (1946).“ Weitere Auskunft der zwei Autoren: Karstadt ist 1947 verstorben, sein Band erscheint nach seinem Tode. <?page no="163"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 163 1948 bis 1954 In diesem Zeitraum wird in der Zeitschrift für Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft (Akademie-Verlag Berlin), deren 1. Jahrgang nach dem Ende der NS-Zeit und des Krieges 1947 erscheint, eine Folge von mindestens sieben Artikeln zur Rechtschreibung veröffentlicht, aus denen hier drei Gesichtspunkte interessieren: Kennzeichnung der damaligen Gegenwart und Historisches sowie im Hinblick auf weiter unten zu erörternde Zusammenhänge - Grundsatz der Phonetik. Die in runden Klammem den Namen angefiigten Zahlen geben die zeitliche Position innerhalb der Siebener-Folge an. Damalige Gegenwart Nach Paul Menzerath (1) wird die „Reformbedürftigkeit der deutschen Rechtschreibung [...] von keinem Einsichtigen bestritten; und leider ist die heutige Zeit zur Neuordnung besonders günstig. Die Bücher sind verbrannt, und die Jugend behilft sich in den Schulen ohne Buch.“ (Menzerath 1948, S. 38). Auch hier das 'Zwei-Fliegen-auf-einen-Streich'-Motiv wie bei der 2. Initiative von Rust im Jahre 1941 und noch weiter zurück bei Steche (1933) (vgl. oben 1.1.3.2 bzw. 1.1.1.1), wenn auch „leider“ unter ganz anderen Umständen (zu diesem Motiv aus noch anderer Sicht vgl. unten 2.4.4). Erwin Haller (2) betont einerseits die Einigkeit der „sachkundigen“ darin, „dass eine Vereinfachung und teilweise Umgestaltung der deutschen rechtschreibung nötig und längst fällig ist“, andererseits prophezeit er, dass „ihre ansichten“ über die Art und Weise wohl „[ajuseinandergehen [...] werden“ (Haller 1948, S. 44), was eine schon flüchtige Durchsicht der Folgebeiträge eindrücklich bestätigt. Der Hinweis auf bestehende Schwierigkeiten der deutschen Rechtschreibung und auf die damit begründete Notwendigkeit ihrer Reform als Beseitigung vorfmdlicher Mängel im Sinne einer Vereinfachung der Regeln und der Beseitigung überflüssiger Ausnahmen findet sich auch in Hiehle-Eisenach (3) (1949, S. 156); Jensen (4) (1949, S. 163); Klippel (5), (1949, S. 171); Haller (6) (1952, S. 179); Kräbs (7) (1954, S. 61). Historisches Haller (1948) (2) stellt sich als „langjähriger Vorsitzender des >bundes für vereinfachte rechtschreibung< (bvr) vor, der 1924 in der Schweiz gegründet <?page no="164"?> 164 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform wurde“. In seinem kurzen historischen Rückblick findet sich kein Wort über orthographische Ereignisse jenseits der Grenzen: „So trat der bvr zuerst nur mit der forderung nach gemäßigter kleinschreibung [= Kleinschreibung der Substantive, WM] an die Öffentlichkeit, [...] ende der zwanziger und zu anfang der dreißiger jahre viel anklang [...] 1938 lag der plan für eine weitergehende reform fertig vor, wurde aber, da auch in der Schweiz während des Weltkriegs andere, lebenswichtigere fragen im Vordergrund des Interesses standen, bis nach kriegsende zurückgehalten [...] Im frühling 1946 dann wurde er, noch bevor man von dem neu erwachten reformstreben in Deutschland kenntnis genommen hatte, veröffentlicht.“ (Haller 1948, S. 45). Zwar „[arbeitete] der bvr in erster linie auf schweizerischem boden“, und das könnte einerseits zur Erklärung dieser Enthaltsamkeit dienen, doch blieb der bvr, und das stellt andererseits die Erklärung wieder in Frage, „stets mit den reformbestrebungen in Deutschland und Österreich in fühlung“ (S. 44) und „verfolgte [...] aufmerksam alle weitem reformbestrebungen außerhalb der landesgrenzen“ (Haller 1948, S. 45). Jedenfalls ist über Rusts orthographische Initiativen nichts ausgesagt. Kräbs (1954) (7): „In Deutschland waren schon vor dem zweiten Weltkriege Bestrebungen im Gange, eine für das ganze deutsche Sprachgebiet gültige Neuregelung der Rechtschreibung in die Wege zu leiten. Diese Bemühungen sind durch den Krieg unterbrochen und durch die Spaltung des Reiches erschwert und verzögert, in den letzten Jahren aber wieder aufgenommen worden.“ (Kräbs 1954, S. 62). Von Jensen (1949) (4) an werden zunehmend die zeitlich jeweils vorausgehenden Artikel sowie dann auch anderweitige Regelungsvorschläge mit in die entsprechend auch vergleichende - Darstellung einbezogen: Menzerath (1948) (1) + Haller (1948) (2) => Jensen (1949) (4); Menzerath (1948) (1) + andere, namentlich nicht genannte => Klippel (1949) (5); alle von Menzerath (1948) (1) bis Klippel (1949) (5) + Erfurter Programm (1931) + Vorschlag des rechtschreibausschusses des lehrerverbandes Niedersachsen (maschinell vervielfältigt) => Haller (1952) (6); alle von Menzerath (1948) (1) bis Haller (1952) (6) + „ist eine reform unserer rechtschreibung notwendig“ von der Gewerkschaft der Lehrer und Erzieher im FDGB aus dem Jahre 1947 => Kräbs (1954) (7). <?page no="165"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 165 Fazit aus den beiden Punkten: Eingestimmt durch Menzerath und verstärkt durch Formulierungen der anderen Beteiligten stellen sich Assoziationen ein wie Neuanfang, Aufbruch nach einer längeren Unterbrechung. Über Reformbestrebungen von 1933 bis 1945 in Deutschland wird wie schon oben für Flaller (1948) festgestellt in den Rückblicken nicht ein einziges Wort verloren. Phonetischer Grundsatz Menzerath (1948) (1) - „Die Reform muß einsichtig sein, aber sie kann nur radikal sein.“ meldet den „Anspruch“ der Phonetik an, „an erster Stelle gehört zu werden; denn Schrift ist ihrer Natur nach nichts als der Versuch, die Lautsprache durch Buchstaben zu fixieren“ (Menzerath 1948, S. 38). „Schrift ist [...] ursprünglich und ihrem Wesen nach phonetisch und daher auch so zu orientieren, wenn sie Rechtschreibung sein soll, die Rechtlautung voraussetzt“ (ebd., S. 39). Haller (1948) (2): „Der fonetische grundsatz wurde [vom bvr; WM] als richtungspunkt ins äuge gefaßt; doch blieb man sich bewußt, dass für eine volkstümliche Schreibweise nur angehende, nicht vollständige fonetische anpassung möglich sei.“ (ebd., S. 44). Nach Hiehle-Eisenach (1949) (3) „[...] dürfte es angebracht sein, einmal vom Standpunkt der Phonetik aus die Mängel unseres Alphabets näher zu betrachten“ (ebd., S. 156). Jensen (1949) (4) fordert eine „Reform im Sinne einer Vereinfachung der Regeln, Beseitigung überflüssiger Ausnahmen und einer größeren Annäherung der Schreibung an die Lautgestalt der gesprochenen Sprache“ (ebd., S. 163). Klippel (1949) (5) führt zwei Gründe für die Reformbedürftigkeit der Rechtschreibung an: „erstens die mangelnde Übereinstimmung zwischen der gesprochenen Sprache und ihrer schriftlichen Wiedergabe (phonetischer Grund), zweitens die Feststellung, daß unsere Rechtschreibung tatsächlich zu schwer ist (sozialer Grund)“ (ebd., S. 171). Haller (1952) (6) stellt als Übereinstimmung bei fünf der von ihm verglichenen sieben Vorschläge fest: „Zugrundelegung von Siebs, Bühnenaussprache“ (ebd., S. 173). <?page no="166"?> 166 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Kräbs (1954) (7) unterscheidet zwei Meinungsgruppen „hinsichtlich des Prinzips der Lauttreue“: „die streng phonetische Richtung“ (ebd„ S. 62) und die, die sich „zunächst mit annähernder Lauttreue begnügen [will]“ (ebd., S. 63). Ergänzt sei, dass Thierfelder auf der Konstanzer Arbeitsbesprechung (21.- 23.11.1952) eine „radikale“ und eine „gemässigte Gruppe“ unterscheidet und eine weitere, „letzte Gruppe“ nennt, die „nur in verhältnismässig wenig Fällen etwas für besserungsfähig und besserungsnotwendig [hält]“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd.I, S. 16). Fazit: Das phonetische Prinzip wird, trotz aller Unterschiedlichkeit des Grades der Konsequenz bei der Anwendung und bei der Festlegung einzelner Fälle, durchgängig zugrunde gelegt. 73 Nur Klippel (1949) (5) hat, wenn ich anderenorts nichts übersehen habe, relativierende Bedenken. Als „Behauptung“ der Phonetiker fuhrt er an, „die Schrift [...sei] ausschließlich Dienerin der Sprache [...]. Sie habe keine andere Aufgabe, als den Lautbestand der gesprochenen Sprache so rein und unverfälscht und vollkommen wie nur irgend möglich wiederzugeben und nachzuahmen. Bei aller Anerkennung des unbedingten Vorranges der gesprochenen Sprache hat doch die Schrift, die ja gleich der Sprache und mit ihr in Jahrhunderten gewachsen und geworden ist, ein gewisses Eigenrecht erworben. Sie ist aus der bloß dienenden Stellung herausgetreten [...] Jedenfalls [...] rahen Werte in der Schrift, die sie auf eine andere Wesensebene als die Sprache heben. Es ist der in ihr ruhende Wert der Dauer, der diesen Unterschied schafft.“ (Klippel 1949, S. 174). Angemerkt sei noch: Grundsätzlich einig sind sich alle, von Menzerath (1948) (1) bis Haller (1952) (6) einschließlich der zusätzlich beigezogenen Vorschläge, u.a. darin, dass 73 Dass Birken-Bertsch/ Markner (2000) die Gruppe dieser sechs Autoren mit ihren sieben Beiträgen in ihrer Traditionslinie nicht fuhren, ist besonders verwunderlich. Denn diese empfehlen sich auch und insbesondere dadurch, dass sie als ‘Phonetiker’ genau jenen „Primat [der gesprochenen Sprache]“ (S. 121) vertreten, den die zwei Autoren bei Rust (1944) und dann, entsprechend ihrer Sicht der Dinge, natürlich bei der Neuen Regelung (1996) und in deren Tradition ausmachen. Stellt Simon (2001, S. 2) insgesamt auch fest, die hinter der Neuregelung stehende „Kommission“ werde von den zwei Autoren „mit den >Phonetikem< ohne jede Diskussion in einen Topf geworfen“, so ist ergänzend festzustellen, dass die sechs Autoren allenfalls als unbek(/ n)annte Größen dieser Gattung Teilnehmer in diesem Topfspiel sind. <?page no="167"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 167 (als hätte es die Abschaffung der Fraktur 1941 nicht gegeben) die gotische (deutsche) Schrift durch die lateinische Schrift (Antiqua) ersetzt, die Schreibung gebräuchlicher Fremdwörter an die deutsche Schreibweise angepasst, die vorfindliche Kennzeichnung der Vokaldehnung aufjeden Fall geändert und die Kleinschreibung der Substantive eingeftihrt werden soll (Haller 1952, S. 173ff.; Kräbs 1954, S. 61f.). So weit der zusammenfassende Überblick. Anders gesagt: Fortsetzung des Reigens einzelner Autoren. 1949 In Winters insgesamt knapp gehaltenem historischem Rückblick folgt auf die Reichsschulkonferenz von 1920 und die daran geknüpften öffentlichen Auseinandersetzungen: Die Reformbewegung „brandete nach dem Jahre 1933 noch einmal auf, doch war ihr damals so wenig wie früher Erfolg beschieden.“ (Winter 1949, S. 75). 1963 (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 14): „Auch Karl Reumuth, Miturheber der Regeln von 1944, gab sich unbeteiligt. Ausgerechnet er wollte seine Leser 1963 glauben machen, Ansätze, >den nächsten Schritt in der Vereinfachung der Rechtschreibung zu tun<, seien mach 1933 aus politischen Gründen unterdrücke worden.“ 1964 Weisgerber stellt in seiner Schrift von 1964 mit dem Untertitel „Sechzig Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform“ für diesen Zeitraum ein nahezu weißes Feld fest, wobei er, hypostasierend, die Zeit als zwar administratives, dabei aber vorwiegend inaktives Agens erscheinen lässt: „Zum Glück griff auch die Zeit nach 1933 wenig mit direkten Maßnahmen in die eigentlichen Rechtschreibfragen ein, so sehr die autoritär verfügte Zurücksetzung der »deutschem Schrift sich auf alle Gebiete des Schreibwesens auswirkte. [...] So blieb genug Unerledigtes, im Grunde der ganze Katalog von 1901, fiir die Zeit nach 1945.“ (Weisgerber 1964, S. 5). Insgesamt eine tabula rasa, und dies „im Grunde“ seit 1901; das ist schon extrem auffällig und im doppelten Sinne des Wortes merkwürdig. Dazu ein Kommentar aus dem Jahre 1979, der zeigt, dass die Grundstruktur des Vorgehens der zwei Autoren wie auch des von mir trotz der unterschiedlichen Interpretation und Wertung so neu nicht ist: „Das ist alles, was ein so profilierter Germanist wie Leo Weisgerber zu der Rechtschreibreform unter den Nationalsozialisten in einem Buch zu bieten <?page no="168"?> 168 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform hat, in dem er sich die Aufgabe gestellt hatte, über sechzig Jahre die Bemühungen um eine Rechtschreibreform nachzuzeichnen.“ (Jellonnek 1979, S. 45). Und in Fortsetzung in Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 14): „Das Geschehen der Jahre 1933 bis 1945 faßte er [Leo Weisgerber, der prominenteste deutsche Linguist seiner Generation und Mitglied orthographischer Gremien in den Fünfzigerjahren] in einem einzigen Satz zusammen, der es gleich wieder aus der Geschichte tilgte.“ Es folgen Weisgerbers Zitat: „Zum Glück [...] auswirkte.“ (vgl. oben 1964), und eine zweifache Korrektur in der ‘'[natürlich] nicht, sondern'Simkiwr. „Natürlich war es nicht die >Zeit nach 1933<, die eingriff, sondern Hitler selbst, und ihm ging es nach 1941 nicht um eine >Zurücksetzung< der gebrochenen Schriften, sondern um ihre Eliminierung“. 1974 In Kaulen „Einige daten aus der geschichte der reformbemühungen“ (1974, S. 33) findet sich der folgende Ausschnitt: „1931 [...] Erfurter Rechtschreibprogramm [...] 1932 Auf anregung des >bundes für vereinfachte rechtschreibung< unternimmt der schweizerische bundesrat den versuch, mit der deutschen und österreichischen regierung über reformfragen ins gespräch zu kommen. Die vorsichtige initiative zeitigt keine ergebnisse. Angesichts der unsicheren politischen läge in dieser zeit hatten die Politiker innenwie außenpolitisch wohl schwerere sorgen. Deutlich aber wird an diesem fall, wie stark die reform von der außenpolitischen läge in den deutschsprachigen ländern abhängt. 1933 Das >Reichsinnenministerium< beauftragt Dr. Th. Steche, Prof. Dr. M. Müllerburg u.a., eine denkschrift zur Verbesserung der rechtschreibung zu verfassen. Im Oktober fallt im gleichen ministerium aus außenpolitischen gründen die entscheidung gegen die durchfuhrung einer rechtschreibtagung. 1934 Mehr und mehr wird deutlich, daß die machthaber eine reform nicht wünschen. Initiativen zur reform werden gebremst, die mationale gesinnung< der reformanhänger angezweifelt. Trotzdem kommt es in der folgezeit immer wieder zu Vorstößen der reformer, bis schließlich die kriegsereignisse alle bemühungen zudecken. 1947 In Berlin treffen sich rechtschreibreformer zu einer ersten tagung. Die ergebnisse werden in Leipzig überarbeitet und erweitert.“ <?page no="169"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 169 Dazu Birken-ßertsch/ Markner (2000, S. 14f.): „Ganz ähnlich wie bei Reumuth und Weisgerber wurde die Geschichte noch 1974 von Walter Kaulen dargestellt. »Initiativen zur reform« seien 1934 »gebremst« und die » »nationale gesinnung< der reformanhänger angezweifelt« worden. [...] Belege für diese Angaben lieferte er nicht, ebensowenig wie Werner Paul Heyd [...] im gleichen Jahr [...]. Über Rusts Reform war bei beiden Autoren nichts zu erfahren.“ 1980 Bei Reichardt (1980, S. 276) heißt es in den ersten zwei Sätzen in unzutreffender Weise: „Während der Zeit des Faschismus gab es kaum Vorschläge zu einer Reform der Rechtschreibung. Die vereinzelt aufgestellten Forderungen enthielten nichts Neues und wurden linguistisch kaum begründet. Als wichtige, 1941 durchgesetzte Veränderung ist allerdings der schon in früheren Programmen geforderte Übergang von der Fraktur zur Antiqua zu nennen.“ In der Diktion von Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 15) „schob Dagmar Reichardt die »vereinzelt aufgestellten Forderungem nach einer Rechtschreibreform, zu denen es ihr zufolge »während der Zeit des Faschismus< gekommen war, mit dem Hinweis beiseite, sie hätten »nichts Neues< enthalten und seien »linguistisch kaum begründet worden. [...] Sie sah allerdings davon ab, mit dieser triftigen Argumentation auch gleich alle anderen derartigen »Forderungem seit 1901 zu erledigen.“ 1985 In Veiths „Synopse der Reformvorschläge“ seit 1902 (1985, S. 1491) erscheint die Zeit von 1933 bis 1945 als auf einen Erlass ohne Folgen punktuell verkürztes vergangenes Voraus-Ereignis: „Die politische Entwicklung verhindert die weitere Beachtung der Erfurter Vorschläge. Nachdem ein 1944 ergangener Erlaß des Reichserziehungsministeriums bei Kriegsende nicht mehr zur Anwendung gelangt (vgl. Grunow 1951, 53), werden 1946 »Vorschläge des Vorausschusses zur Bearbeitung der Frage der Rechtschreibreform bei der deutschen Verwaltung für Volksbildung< erstellt.“ 1994 In Maas (1994, S. 155) heißt es: „Ernsthafte Anstrengungen, in unser tradiertes Schreibsystem einzugreifen, hat es wohl nur vor fünfzig Jahren im Nationalsozialismus gegeben. So erschien im September 1941 (also im Vorfeld des Führererlasses zur Schriftumstellung auf die lateinische Schrift [richtig ist: im Nachfeld; der Führererlass trägt das Datum 3.1.1941; WM]) in der dem Propagandaministerium nahestehenden Wochenschrift Das Reich das Programm einer »rücksichtslosen ... [Rechtschreib-jReform ... im nationalsozialistischem Geiste< [Rahn (1941); WM]. Anders als beim Schrifterlaß verhinderte aber die sich bald än- <?page no="170"?> 170 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform demde politische Konjunktur die Durchführung dieser >Modemisierung<. Im Unterschied zu solchen ideologischen Kraftakten kann Reform bei uns heute nur heißen, in das komplexe historisch sedimentierte System bewahrend einzugreifen, wie es die KMK auch beschlossen hat.“ Nachdem Birken-Bertsch/ Markner (2000), bezogen auf die Behandlung der Jahre 1933 bis 1945 in Jansen-Tang (1988, S. 79-84), der Autorin Arglosigkeit im Umgang mit einem Dokument von „1954“ (richtig ist: 1953, Autor: „S.L.“) diagnostizieren und dies von ihnen ausgestellte Attest als „Beleg“ für den nach ihrer Meinung offensichtlich völlig unzureichenden „Stand der historischen Erkenntnis in dieser Sache“ werten, heißt es zu Maas (1994): „Daß es jederzeit möglich blieb, selbst hinter diesen Forschungsstand wieder zurückzufallen, demonstrierte noch 1994 Utz Maas.“ Bezogen auf den ersten Satz im obigen Maas-Zitat heißt es: „Als Beleg für diese weitreichende These hatte er nichts weiter als Rahns Artikel von 1941 vorzuweisen, den er grob falsch, mithin offensichtlich aus zweiter Hand zitierte. Der unzulänglich abgesicherte historische Exkurs diente nur dem Zweck, die Weisheit der bundesdeutschen Politik zu preisen.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 17), was die Autoren dann an der Fortsetzung des Maas-Zitates: „Im Unterschied zu solchen ideologischen Kraftakten [...] beschlossen hat“, festmachen. Worauf sich ihr „grob falsch“ bezieht, teilen sie nicht mit, und wieso dies, wenn es denn so ist, offensichtlich auf ein Zitat aus zweiter Hand hinweist, begründen sie nicht. 1995 (und 2000) Looser (1995) weist in seiner Untersuchung „Gescheiterte Reformen in der Schweiz“ zwar in „Anhang II: Chronologie“ auf die „Offizielle Verordnung: Übergang von der Fraktur zur Antiqua“ 1941 in Deutschland hin (S. 426) und gibt im Literaturverzeichnis (S. 476) den Titel „Eine neue Rechtschreibung (1945)“ (hier als N.N. Anfang 1945 geführt und weiter unten berücksichtigt), wo über Rust (1944) berichtet wird; doch ein Hinweis auf diesen findet sich nicht. Der Vollständigkeit halber: In Schrodt (2000) („Dokumente zur neueren Geschichte der deutschen Orthographie in Österreich“) findet sich im Abschnitt 1901-1945 (S. 7f.) kein Hinweis. 1996 In einer Fußnote, festgemacht an 1946 „Vorschläge des Vorausschusses zur Bearbeitung der Rechtschreibreform bei der Deutschen Verwaltung für Volksbildung“ (hier als Vorausschuß 1946/ 17.4. bzw. 1946/ 27.11. geführt), findet sich in Scheuringers „Geschichte der deutschen Rechtschreibung“ (1996, S. 97): <?page no="171"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 171 „Merkwürdig und in gewisser Weise auch unerwartet still ist es um die Rechtschreibung in der NS-Zeit. Ein einziger nennenswerter Reformvorschlag der Zeit (Fritz RAHN [...], erschienen in Das Reich 37 [1941]), wurde nicht berücksichtigt, die von Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust noch 1944 herausgegebenen Regeln für die deutsche Rechtschreibung konnten infolge der Kriegswirren nicht mehr verteilt werden.“ Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 18) dazu: „[...] Scheuringers Geschichte [...] von 1996, die eigentlich hätte einschlägig sein müssen, verbannt die zwölf Jahre in eine Fußnote, aus der Unkenntnis selbst der wenigen bis dahin in der Forschung gewonnenen Einsichten spricht.“ Die letztere Behauptung soll offenbar durch ein „[! ]“ belegt werden, das sie in das in einer Fußnote abgedruckte Scheuringer-Zitat eingefügt haben: „[...] die von Reichswissenschaftsminister [! ] Bernhard Rust herausgegebenen Regeln für die deutsche Rechtschreibung [...]“. Reichswissenschaftsminister statt Reichserziehungsminister? - Je nun. Rusts vollständiger Titel lautet: Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Die Kurzform Reichswissenschaftsminister als Beleg für totale Unkenntnis? Nun denn. Und: Wenn man nur intensiv sucht, dann findet man auch was und kann damit alle möglichen (Pauschal-)Urteile begründen. So neu ist Reichswissenschaftsminister ja nun wiederum auch nicht. Die zwei Autoren schreiben (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 16): „Von Forschung zu den Reformbestrebungen der Jahre 1933 bis 1944 kann man erst seit 1979 sprechen“, nämlich mit „Burkhard Jellonek“ (richtig ist: Jellonnek). Schlägt man dort (Jellonnek 1979, S. 57 #2.22) den Abschnitt über Rust (1944) auf, so findet sich die Überschrift: „3.4 Die Vorschläge des Wissenschaftsministers Rust von 1944/ 45“, und im ersten Satz leicht ergänzt wiederholt: „[...] die Vorschläge des NS- Wissenschaftsministers Bernhard Rust [...]“. Veranlasst diese Stelle die zwei Autoren auch zu einer Richtigstellung in der ‘v/ e/ we/ ir’-Struktur: „[...] Rusts >Vorschläge< (vielmehr die von ihm erlassenen Regeln) aus dem Jahr 1944 [...]“, so monieren sie den von Jellonnek gleich zweimal verwendeten Ausdruck Wissenschaftsminister jedoch nicht. Entweder haben sie ihn überlesen und sind entsprechend nicht fündig ge- <?page no="172"?> 172 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform worden; oder, wenn doch, was ich annehme, dann haben sie ihren Fund verschwiegen. 74 Wenn meine Annahme stimmt, dann liegt der Grund für die unterschiedliche Berücksichtigung desselben Phänomens offensichtlich in der unterschiedlichen Wertung der beiden Werke: Hic Jellonnek (1979) = der eigentliche Beginn der Forschung —> kein Monitum - Illic Scheuringer (1996) = Unkenntnis selbst der wenigen bis dahin in der Forschung gewonnenen Einsichten —> „[! ]“ = dicker Minuspunkt. So weit, so gut. So gut? Naja. Wie sagt der Volksmund? Was dem einen sin Uhl ist, ist dem andern sin Nachtigall. 75 74 Ein früherer Beleg für dieses Paradigma: 25 Jahre vor Jellonnek, nämlich Mitte 1944, findet sich in einer handschriftlichen Notiz eines Beamten des Innenministeriums mit Bezug auf Rusts Behörde der Ausdruck Wissenschaftsministerium (vgl. den auch von den zwei Autoren beigezogenen Beitrag Strunk 1998, S. 94). Ein sehr viel späterer: ln Dudenredaktion (1997/ 2.4.) findet sich Reichswissenschaftsminister (vgl. unten 3.2.3.2). Dass auch das dritte Attribut im Titel, nämlich Volksbildung, würdig ist, Bestimmungswort zu sein, also Volksbildungsminister, belegt Victor Klemperer (1937-1939, S. 41; 28.6.1937). 75 Die unterschiedliche Wertung verschiedener Werke färbt auch auf die Bewertung der in diesen benutzten gleichen Literatur ab. Bezogen auf Jansen-Tang (1988) heißt es bei den zwei Autoren: „Mit ihrer Vermutung, Rust habe sich >durch die von vielen Sprachwissenschaftlern und Lehrern vorgebrachten Einwändet von der Reform abbringen lassen, [...] wiederholte sie arglos die unzutreffende Aussage jenes namenlosen Schriftsetzers, der 1954 [richtig ist: 1953] an Reumuths Artikel erinnert hatte. Sie lieferte so unfreiwillig den Beleg, daß der Stand der historischen Erkenntnis in dieser Sache seither kaum über einen anspruchlosen Beitrag in einem längst vergilbten Gewerkschaftsorgan hinausgekommen war.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 17). Gemeint ist hier S.L. (1953), wie auch im nächsten Zitat: „Jelloneks [richtig ist: Jellonneks; WM] Aussagen über dieses Regelwerk [Rust 1944, WM] beruhten einzig auf dem zehn Jahre später vom Organ der deutschen Schriftsetzer veranstalteten Wiederabdruck eines Zeitungsartikels, mit dem Karl Reumuth für die Reform geworben hatte.“ In einer Fußnote findet sich ebenfalls fälschlich „1954“ (ebd., S. 16; Kursive WM) Kennzeichnend für die zwei Autoren ist u.a., dass sie, wo es nur geht, in der benutzten Literatur (aus ihrer Sicht) enthaltene Fehler oder Ungereimtheiten aufpicken. Eine Richtigstellung ist natürlich angebracht. Doch die zwei Autoren gefallen sich in genüsslich negativen Kommentaren; wobei allein schon die oben von mir durchgeführten Richtigstellungen zeigen, dass sie selbst ganz schön im Glashaus sitzen. <?page no="173"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 173 1.2.3 Kurze Überleitung Angesichts dieser schon rein quantitativ beeindruckenden, wenn auch sicherlich noch nicht vollständigen ‘Traditions’linie, die bis in die jüngste Gegenwart fuhrt, wird die schon oben am Schlüsse von 1.2.1 gestellte Frage noch dringlicher: Was will oder kann bzw. was soll uns dies alles eigentlich sagen? Darüber gibt der folgende Abschnitt Auskunft. 1.3 Was soll bzw. was will oder kann uns dies alles (eigentlich) sagen? - Insbesondere mit Blick auf Birken-Bertsch/ Markner: Unterschiedliche Interpretationen und Wertungen auch im Vergleich Was das „soll“ angeht, darüber geben uns Birken-Bertsch/ Markner (2000) ausführlich und dabei eindeutig und unmissverständlich Auskunft (vgl. 1.3.1). Nach dem „will oder kann“ oder auch könnte sind am besten die oben zusammengestellten Beiträge(r) noch einmal, wenn auch nur kurz, aber dabei genauer zu ‘befragen’ (vgl. 1.3.2). Es folgt, wie könnte es anders sein, ein abwägender Vergleich der Interpretationen und Wertungen (vgl. 1.3.3). 1.3.1 Die Antwort von Birken-Bertsch/ Markner (2000): Urheber der Neuen Regelung (1996) = Verschweiger = Suggerierer der ideologischen Ferne gegenüber dem Nationalsozialismus Was uns dies alles sagen soll ... - Über ihr ‘Soll’ geben uns Birken-Bertsch/ Markner in ihrer „Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ (2000, S. 4) und dort in der ausführlichen Interpretations- Eröffnung eindeutig Auskunft und unmissverständlich Bescheid, und zwar in einer, im Ansatz überkommenen oder übernommenen, ihnen eigentümlichen Sichtweise und in einer, dieser entsprechend, ei(ge)nsinnigen Argumentation und entschiedenen Diktion. Den Auftakt bildet die Ergebnis-orientiert zurechtrückende Umdeutung einer Vision und die dieser Vision angepasste Ausmalung des aktuellen Hintergrundes (1.3.1.1). Im Weiteren geht es um das, was die Autoren „Die Schweigespirale“ nennen (1.3.1.2), einschließlich ihrer „Tradition“ (1.3.1.3). <?page no="174"?> 174 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.3.1.1 Visionärer Auftakt und aktueller Hintergrund An den Anfang stellen Birken-Bertsch/ Markner (2000), unter der Überschrift „Vorsätze [! ; WM]“ (S. 7), als eine Art Zukunfts-Vision oder Prophezeiung den von Faber-Kaltenbach 1944 vorgelegten, in drei 20-Jahre-Phasen gestaffelten Plan (1945-1965, 1965-1985, 1985-2005) zur schrittweisen Verwirklichung seiner eigenen Reformvorstellungen. Nach diesen wäre am Ende u.a. zu schreiben: Schurnalist statt Journalist, Kor statt Chor, Stazion statt Station] Töpferthon, aber Musikton] Lüneburger Haide, aber der Heide] ohne Dehnungs-e mar schiren, Barbir, Brif Schifer, Ter statt Teer, qitiren statt quittieren] inangriff nehmen, einbißchen] ph, th, rh, y und das Dehnungs-/ z wären grundsätzlich entfernt (nach Jellonnek 1979, S. 54ff.). Augenscheinlich inspiriert von der Jahreszahl 2005 das Jahr, in welchem, man erinnere sich, ja auch „die Rechtschreibreform von 1996 [...] nach dem Willen ihrer politischen Urheber [...] verbindlich werden soll“ (so die zwei Autoren auf S. 9) - und gewissermaßen elektrisiert von der zwar rein zufälligen, aber für ihr Anliegen doch so glücklichen Koinzidenz beider End- Zeitpunkte, deuten und polen sie Faber-Kaltenbachs Vision, mit deren oben angeführten inhaltlichen Änderungen die Neue Regelung (1996) ja nun wirklich nichts gemein hat, kurzerhand für ihre Zwecke um; was aus der Retrospektive über 50 Jahre hin ein leichtes Spiel ist, da so weit in der Vergangenheit zurück ohnehin vieles im tiefen Dunkel liegt. Sie lassen Bernhard Rust in die Rolle des eigentlichen Initiators schlüpfen, passen ihn in diese Rolle ein und stülpen sie ihm über: Denn „es waren nicht [... Faber-Kaltenbachs; WM] Pläne [...], die 1944 der tatsächlich auf den Weg gebrachten Rechtschreibreform zugrunde lagen, sondern die des Reichserziehungsministers Rust“ (S. 7; Kursive WM). Also so war das! Folgerichtig auch die Fortsetzung: „Eine Million Exemplare des neuen Regelwerks waren schon gedruckt, als die Aktion abgeblasen genauer: verschoben wurde.“ (ebd.; vgl. Abb. 16). 76 76 „Eine Million Exemplare des neuen Regelwerks waren schon gedruckt, als die Aktion abgeblasen genauer: verschoben wurde.“ Eine merkwürdige Vorstellung. Dazu ein anderes Beispiel: „Gesetzt den Fall, der Schock von Den Haag war ein heilsamer, dann haben die Klima-Minister exakt noch eine letzte Chance. Der Gipfel ist formell nur unterbrochen, nicht abgebrochen.“ (Frankfurter Rundschau, 276/ 27.11.2000, S. 3). <?page no="175"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 175 Fast wäre man versucht zu sagen: Die sind ja richtig witzig, die zwei. Abb. 16: Faber-Kaltenbach => Rust Die Vision hat sich erfüllt, das Prophezeite ist entsprechend der Vorstellung der zwei Autoren inhaltlich gefüllt und zeitpunktgerecht und zielgenau gemäß ihrem Anliegen eingetreten. Seit 1996 liegt die neue amtliche Regelung vor, im Jahre 2005 ist sie verbindlich, der zu Rust (1944) geschlagene Bogen führt zu ihrem ‘tatsächlichen’ Ursprung zurück. 77 Als erster von sieben Merkpunkten, die unten (vgl. 1.3.3.3 (1)) zusammengestellt sind, ergibt sich: • Merkpunkt 1: Umdeutung einer Vision im Verein mit der Tatsachenbehauptung: Rust (1944) ist der Ursprung der Neuen Regelung (1996). Paare solcher Handlungsverben setzen ein und dasselbe Agens in Personalunion, ein und denselben Akteur voraus, der die eine vielleicht nahe liegende und möglicherweise zunächst geplante Handlung dann doch zunächst unterlässt und sie dann späterhin unter vielleicht günstigeren Umständen doch noch ausfuhrt. So ist der Gipfel von den Klima- Ministem nicht abgebrochen, sondern statt dessen nur unterbrochen worden und kann von ihnen irgendwann fortgesetzt werden. So hat 1944 Rust die Aktion zunächst in Gang gebracht, dann vielleicht geplant sie abzublasen, um sie dann doch nur zu verschieben bis in das Jahr 2005, wo er sie dann endlich verwirklicht. Rust über 80 Jahre hin, wie auch immer, präsent und aktiv. So merkwürdig dies auch zu sein scheint, es wird sich später (vgl. 3.3.3.3) überraschend konkretisieren lassen. 77 Es steht natürlich die Frage im Raum: Was hätten die zwei Autoren nur gemacht, wenn Faber-Kaltenbach, ich sage mal, drei 19-Jahre-Phasen und damit statt 2005 das Jahr 2002 als Endtermin angesetzt hätte? Ich schätze, sie hätten sich dann sicherlich etwas anderes einfallen lassen. Das bei Rust weiße Feld bei den Jahren 1945 bis 1985 stört sie ja auch nicht. Doch jetzt ist dies alles sowieso müßig. 2005 hat alles ins Lot gebracht. Sie haben halt schlicht Glück gehabt. <?page no="176"?> 176 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Im Ergebnis eine klare Sache; dabei jedoch, wie die zwei Autoren zu Recht sagen, insgesamt eine schon „erstaunliche Begebenheit“, die „und ihre Hintergründe aufzuklären [...]“ sie als „Absicht der folgenden Untersuchung“ (S. 7) mitteilen. Diese Absicht kommt dem 'Vorsatz' (! ) gleich, das ja bereits allgemein als Ganzes festgestellte klare Ergebnis einer auf ihre Weise und zu ihren Zwecken umgedeuteten Vision in der folgenden Untersuchung durch die ein- oder angepasste Interpretation auch der Einzelheiten zu bestätigen. Der Boden hierfür ist von Christian Meier, dem damaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, bereits aufbereitet, der so die zwei Autoren — „am 12. Mai 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht die Rechtschreibrefom von 1996 (die nach dem Willen ihrer politischen Urheber 2005 verbindlich werden soll) mit der Rechtschreibreform von 1944 verglich" und beide auf diese Weise in Verbindung brachte. Die Fakten- Grundlage ist aufgemischt. Unter anderem die damals amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz war „empört“, zeigte, wie die Autoren in einer der Funktion von Frau Anke Brunn angemessenen Weise unnachahmlich sagen, „ihre Indignation“; und auch sie „empfand“ das „Anliegen Meiers [...] als ungehörig [So, so! ; WM], wo doch der Historiker nur auf die Tatsache hatte aufmerksam machen wollen [Und mehr war es doch nun tatsächlich und wirklich nicht, verehrte Frau Präsidentin! ; WM], >daß die Reform des Reichsministers Rust von 1944 bis zur jetzt diskutierten unabhängig von allen Einzelheiten der einzige tiefere Eingriff von Staats wegen in die deutsche Rechtschreibung< gewesen sei“, eine „>bewußt auf Veränderung, Abweichung vom Eingebürgerten, auf ganz neue Regeln zielende [...]< Intervention [...]. >Einzig 1944 hat man [... diesen; WM] Weg eingeschlagen, was nicht mehr zum Tragen kam, - und jetzt.<“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 9f.; Kursive WM). Die von Meier explizit ausgesparten Einzelheiten liefert Theodor Ickler nach und den zwei Autoren frei ins Haus. Deren entsprechender Nachweis: „Während Meier auf die Tiefe des staatlichen Eingriffs abhob, erklärte der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler 1999 auch die konkreten Inhalte beider Reformen für sehr wohl vergleichbar, ja, wie er zur Unterstützung Meiers ausführte, die >ParalleIen zur heute geplanten Reform< drängten sich '/ geradezu auf. Einerseits gebe es >durchaus eine Kontinuität der Personen und Ideem, andererseits stimme, von der Lösung des Drei-Buchstaben- Problems abgesehen, >die Rustsche Reform weitestgehend mit der heute geplanten übereim.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 10; Kursive WM) <?page no="177"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 177 Ganz neu ist dieses Übereinstimmungs-Motiv allerdings nicht. Schon in Ickler (1997, S. 15) ist die Rede davon, „wie sehr diese Pläne [die von Rust; WM] mit der gegenwärtigen Reform [...] übereinstimmten“. Als aus den beiden, für die zwei Autoren, berufenen Munden des „Historikers“ und des diesen unterstützenden „Erlanger Sprachwissenschaftlers“ öffentlich gemachte und somit gesicherte bzw. als gesichert erscheinende „Tatsache“ steht damit für sie fest: Rust (1944) ist der „Präzedenzfall“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 21, 126) und die Neue Regelung (1996) ist in beiden oben angeführten Hinsichten der Nachfolge-, der Wiederholungsfall. Bezogen auf 1944 und 1996 wird entsprechend im Ausdruck variiert und im Verein damit inhaltlich in gestaffelter Steigerung präzisiert: Zunächst verglichen, dann abstrakter als vergleichbar gekennzeichnet und unter dem (Ein-)Druck der sich geradezu aufdrängenden Parallelen letztlich konkret gleichgesetzt: Ein klarer Übereinstimmungsfall. Diese sich steigernde Präzisierung nutzt eine feine semantische Unterscheidung: Vergleichen kann man alles und vergleichbar ist ja ebenfalls alles wie etwa Birnen und Äpfel; aber nicht alles kann man gleichsetzen - und um das Gleichsetzen geht es hier ja schließlich. 7 ^ Die von Ickler eingebrachte Kontinuität der Ideen präzisieren die zwei Autoren auf der Ebene der sog. ‘Prinzipien der Orthographie’ in der Weise, dass sie den „Primat [der gesprochenen Sprache]“, nämlich „daß die Buchstaben umstandslos auf >Sprachlaute< verpflichtet werden“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 121), bei Rust (1944) und dann entsprechend bzw. natürlich bei der Neuen Regelung (1996) und deren Vorgängern in ihrer Tradition ausmachen und gemäß dem, wie sie so schön sagen, „aus oralprimatistischer Konsequenz [>daß< oder >Schuß<; WM] zu >dass< und >Schuss< ausgewalzt werden“ (ebd., S. 123). • Merkpunkt 2: Übernahme einer Tatsachenbehauptung bezüglich der Übereinstimmung von Rust (1944) und der Neuen Regelung (1996) mit 78 Ob diese fein gestaffelte Präzisierung den beiden Autoren bewusst war, weiß ich natürlich nicht. Doch daran zweifeln kann man auf den ersten Blick schon. Dies deshalb, weil sie es anderenorts mit semantischen Feinheiten und Unterschieden nicht so recht zu haben scheinen und mit ihnen nicht gerade zimperlich umspringen. Oder aber es ist so, dass sie das alles klar im Blick haben und bewusst einsetzen? Wäre dies der Fall, dann wäre das ganz schön schräg. <?page no="178"?> 178 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Blick auf die Tiefe des Eingriffs in die Rechtschreibung und weitestgehend auf die Einzelheiten des Inhalts sowie auf die oralprimatistische Grundlegung. In dieser Weise von, in ihren Augen, höchst prominenter Seite mit beiden Füßen auf den festen Boden der Tatsachen gestellt, ist alles klar: Ein (echter) Fall für (die) zwei (Autoren). Die Ermittlungen können beginnen. 1.3.1.2 „Die Schweigespirale“ (1. kreisförmige Schraubwindung): Zur jüngeren Vergangenheit Innerhalb des durch Vorgaben abgesteckten, übernommenen Rahmens wenden sich Birken-Bertsch/ Markner (2000) unter der Überschrift „Die Schweigespirale“ in einem ersten Schritt zielstrebig analysierend oder diagnostizierend der Ursache der Empörung zu, der Ungehörigkeits-Empfmdung u.a. der damals amtierenden KMK-Präsidentin. Sie eröffnen mit dem schon bekannten allgemeinen Ergebnis, das den Gang ihrer genaueren Recherchen bestimmt. Auf dem Boden der „Tatsache“ präsentieren sie den Befund parallel in zweifach kausaler "nur [deshalb], wez'/ ’-Struktur: „Das Bestehen von Gemeinsamkeiten zwischen den Maßnahmenkatalogen von 1944 und 1996 konnte [u.a. die KMK-Präsidentin] nur überraschen, weil die Rechtschreibreformprojekte der Nazizeit lange verschwiegen worden sind, der Hinweis [Meiers] auf sie [die Gemeinsamkeiten] mir deshalb [u.a. die KMK-Präsidentin] empören, weil er [Meiers Hinweis auf die Gemeinsamkeiten] das ganze Reformvorhaben gefährdet.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 11; Kursive, Absatz und Einfügungen WM). Auch dies Verschweigen-Motiv ist so neu nicht. In Ickler (1997, S. 15) heißt es mit Bezug auf Lutz Götze: „Der [...] fortschrittliche Herausgeber der Bertelsmann-Rechtschreibung [...] weiß nicht oder verschweigt, wie sehr diese Pläne [die von Rust; WM] mit der gegenwärtigen Reform und mit seinen eigenen weitergehenden Vorstellungen übereinstimmten.“ Anders als Birken-Bertsch/ Markner räumt Ickler mithilfe der ‘oder'Struktur immerhin die Möglichkeit ein, dass der „fortschrittliche Herausgeber“ über die (behauptete) Übereinstimmung nichts weiß. <?page no="179"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 179 • Merkpunkt 3: Behauptung einer Kausalität zwischen der Reaktion auf die öffentlich behauptete Übereinstimmung (von Rust 1944 und der Neuen Regelung 1996) und dem vorgegebenen langen Verschweigen der Rechtschreibreformprojekte der Nazizeit im Verein mit der damit verknüpften Gefährdung der Neuen Regelung (1996). Wer die NS-Projekte bislang, und bis dato offenbar mit nachhaltigem Erfolg, verschwiegen hat, das lassen die zwei Autoren in ihrem Befund offen; sie verschweigen es zunächst, denn sie kennen die Verursacher natürlich schon. Dadurch erzeugen sie, dramaturgisch nicht ungeschickt, eine gewisse Spannung und Erwartung beim Leser; all diesem werden sie dadurch gerecht, dass sie in den folgenden längeren Passagen mit den Namen der Verschweiger herausrücken und damit (groß) heraus(zu)kommen (suchen). Doch zunächst eine Einengung des Kreises der Kandidaten, der Verdächtigen, durch Ausschluss: Die KMK-Präsidentin gehört jedenfalls nicht zu dem Kreis der Verschweiger(innen). Denn sie ist durch den vom Akademie-Präsidenten offen (auf den Tisch) gelegten, damit öffentlich gemachten und, so die Darstellung der zwei Autoren, für sie neuen Sachverhalt überrascht. Doch augenblicklich wittert sie die drohende Gefahr; ja: sie erkennt blitzschnell die aktuell bereits eingetretene Gefährdung des ganzen Reformvorhabens - und ist empört. Sie räumt - oder gesteht gar diese Gefährdung, gewiss aus taktischen Gründen, natürlich nicht ein; sondern sie „erklärt [...] sich und ihre Kollegen für »demokratisch legitimiert<“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 9). Diese Präsidentin: Ganz staatsfraulich und geschickt die Ebene wechselnd! Sie setzt sich schon wirklich gekonnt, ja: echt professionell in Szene. Oder ist es doch ganz anders? Ist auch die Präsidentin nicht doch in diese erstaunliche Begebenheit, in diese Ungeheuerlichkeit eingeweiht? Und verschweigt sie nicht nur, sondern verstellt sich professionell und spielt ihre funktionsgebotene öffentliche Rolle, zieht eine abwimmelnde Show ab? Aber die zwei Autoren erwägen diese Möglichkeit nicht einmal; und so will ich es auch dabei bewenden lassen. Die Präsidentin also nicht wer aber dann? Die Antwort der zwei Autoren lässt nicht auf sich warten, schließt unmittelbar an den Befund an und dort die zunächst offen gelassene Lücke: „So erklärt sich wohl, daß sich das von den bundesdeutschen Kultusministern mit der Erarbeitung der jüngsten Rechtschreibreform beauftragte Gremium, <?page no="180"?> 180 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform die Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, nie zu der Reform von 1944 oder überhaupt dem Thema Nationalsozialismus und Orthographie geäußert hat.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 1 lf; Kursive WM). Die von den zwei Autoren aufgenommene heiße Spur beginnt, wie sie in einem anderen Zusammenhang formulieren, „mit einem Rekurs auf naturhafte Prozesse“ 79 („So erklärt sich wohl, daß [...]“) und führt, folgt man ihrer Vor- und Darstellung, direkt in das Zentrum (zu den grundlegenden Anfängen) des Wiederholungsfalles von 1996. Das Nest der Verschweiger wird im IDS lokalisiert; als Verschweiger werden die Mitglieder der damaligen IDS- Kommission ausgemacht und diese gleichzeitig, in einträchtiger Personalunion, als die ‘Urheber’ der Neuregelung, als die Wiederholungstäter identifiziert. Das ist schon krass inszeniert: Ein erster dramaturgischer Höhepunkt. Zu der Anknüpfungs- und Überleitungsformulierung „So erklärt sich [...], daß [...]“ zunächst zwei Stil-Variationen: Aufden ermittelten Befund ist zurückzuführen, dass ... All dies ist die Ursache, der Grund dafür, dass die Kommission sich nie geäußert hat. Eine klar formulierte Kausalität, wenn auch, und das ist hier zu beachten, mit einer dispositiven Einschränkung. Denn durch das dem Anschein nach ebenso unauffällige wie in Folge leicht überlesbare wohl indizieren die zwei Autoren das im Folgenden Ausgesagte, den im Folgenden behaupteten Sachverhalt als nicht uneingeschränkt geltend, als subjektive Vermutung, als spekulative Annahme. Kleine, unscheinbare Wörter dieser Art haben große Auswirkungen. • Merkpunkt 4: Als Vermutung disponierte Behauptung einer Kausalität zwischen dem ermittelten Befund (vgl. die Merkpunkte 1 bis 3) und dem Sich-nicht-geäußert-Haben der IDS-Kommission. 79 Vergleiche Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 19), dort kritisch mit Bezug auf eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes 1998 auf der Grundlage einer Stelle in Kopke (1995): „Der Passus schließt mit einem Rekurs auf naturhafte Prozesse (»setzte sich [...] nicht durch«), auf den schon Kopke an der Stelle verfallen war [...]“. <?page no="181"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 181 Nicht nur gegenüber dem Gebrauch kleiner Wörter, sondern auch gegenüber einzelnen Formulierungen der beiden Autoren ist Achtsamkeit geboten. - Zu ‘das beauftragte Gremium’ als kleine Korrektur einer für den gesamten Ablauf der Ermittlung und des Geschehens allerdings unerheblichen Nachlässigkeit der beiden Fahnder Die erste einschlägige Publikation aus dem Urheber- und Verschweiger-Nest ist IDS-Kommission (Hg.) (1985). 1986 finden unter internationaler Beteiligung die ersten amtlichen „Wiener Gespräche zur Reform der deutschen Rechtschreibung“ statt. Der Auftrag der deutschen Behörden an die IDS-Kommission erfolgt 1987. Im Oktober 1988 wird das Auftragswerk den Auftraggebern übergeben und dann (IDS- Kommission (Hg.) 1989) veröffentlicht. 1990 finden die zweiten amtlichen „Wiener Gespräche“ statt. Die dann folgenden Veröffentlichungen, nicht mehr IDS-Kommission, sondern Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992 und 1995), führen dann zu „der jüngsten Rechtschreibreform“ von 1996. Wobei anzumerken und festzustellen ist, dass auf dieser Zeit- und Bearbeitungsschiene von mehr als zehn Jahren sich die Reformvorstellungen nicht unwesentlich geändert haben und diese jüngste Rechtschreibreform sich in nicht wenigen Bereichen und Punkten auch inhaltlich von den älteren und alten unterscheidet. - Zu ‘nie geäußert’ ein Hinweis zum rechten Verständnis des damit Gemeinten Wenn jemand sich zu einem Thema nicht äußert, sich nie dazu geäußert hat, dann gibt es theoretisch zumindest zwei Möglichkeiten der (Be-)Deutung, die Icklers (1997, S. 15) ‘or/ er’-Struktur 'nicht wissen oder verschweigen' entsprechen. Die erste ist: Der Jemand weiß über das Thema schlicht nichts und kann aus diesem Grunde darüber oder dazu natürlich auch nichts sagen. Allenfalls kann er dazu sagen, dass er darüber nichts weiß und davon nichts versteht. Viel ist das wahrlich nicht. Die zweite ist die von den zwei Autoren durch das vorgängig intonierende verschweigen Kontext-determiert und disambiguiert dem Gang der Entwicklung und Ermittlung unterlegte: Der Jemand hat sich durchaus mit dem Thema beschäftigt, er hat möglicherweise sogar intensiv darüber gearbeitet und ist also im Ganzen und/ oder auch in allen Einzelheiten bestens informiert und weiß darüber genau Bescheid. Nur: Er sagt nichts dazu oder darüber; nicht einmal, dass er darüber etwas weiß. Hier fragst du dich allerdings: Warum verhält er sich so? Welches Motiv hat er dabei? Welche Absicht verfolgt er damit? Was führt er an Ungeheuerlichem im Schilde? Doch warten wir's ab: Die zwei werden's uns bestimmt noch sagen. Also weiter im Verfolg der Spuren. <?page no="182"?> 182 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die erfolgte eher allgemeine Lokalisierung und Identifizierung ermöglicht und begründet, ja: fordert geradezu die weitere Präzisierung. 1989, so die zwei Autoren, erklärte die Kommission, „zum Pensum jenes Bandes [IDS-Kommission (Hg.) (1985); WM] habe es gehört, >die historische Entwicklung< der Regelung der deutschen Rechtschreibung >aufzuarbeiten<. Tatsächlich aber hatte sich dort die Darstellung der geschichtlichen Hintergründe auf diejenigen der Beschlußfassung auf der Berliner Konferenz von 1900 [richtig ist: 1901; WM] beschränkt, und hinsichtlich der >Weiterentwicklung der einschlägigen Regeln seit 1901 bis heute! war lediglich knapp nachgezeichnet worden, wie sie sich von Auflage zu Auflage im Duden vollzog. [...] Die Reform von 1944, deren Regelwerk im Literaturverzeichnis angeführt wurde, blieb außen vor.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 12). Dieser Präzisierung sind mehrere (Gesichts-)Punkte ergänzend und z.T. auch korrigierend zur Seite zu stellen, was aber dem weiteren Ab- und Verlauf des Ganzen bei Gott und natürlich insbesondere bei den zwei Autoren keinen Abbruch tut. - Zu‘1944 im Literaturverzeichnis’ Ich meine: Wenn schon so genau, dann auch konsequent pingelig und vollständig. Der Titel von 1944 findet sich in IDS-Kommission (Hg.) (1985) nicht nur im „Literaturverzeichnis zu den Beiträgen“ (S. 167-181; dort S. 179), sondern zudem auf Seite 77. Dort (Mentrup 1985b) geht es um die Frage, in welchen Duden- und amtlichen Rechtschreibbüchem sich eine bestimmte Anordnung der Interpunktionregelung findet. Einige Seiten zuvor (S. 73) werden Rechtschreibwerke in zwei Gruppen eingeteilt nach dem Gesichtspunkt, ob sie überhaupt eine Interpunktion enthalten oder nicht. Insgesamt werden über 30 Ausgaben einschlägiger Orthographiewerke berücksichtigt. 80 Der übergreifende Gesichtspunkt ist: Welche der behandelten Regel-Bereiche sind in welchen der herangezogenen Werke erfasst und wie behandelt? Damit ist auch erklärt und begründet, warum neben vielen anderen auch das Orthographiebuch Rust (1944) im Literaturverzeichnis angeführt ist; gleichzeitig ist damit auch zum nächsten Punkt übergeleitet. 80 In Kopke (1995, S. 36) wird, bezogen auf Rust (1944), u.a. festgestellt: „Zum ersten Mal wurden Bestimmungen zur Zeichensetzung erlassen.“ Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 19) weisen mit Bezug auf eine Äußerung des Bundesverfassungsgerichts, die Kopkes Feststellung inhaltlich übernimmt, korrigierend darauf hin, dass eine „Darstellung der Zeichensetzungregeln [...] u.a. bereits“ in Sachsen (1938) enthalten sei. Dazu ergänzend: Die Tradition des ‘u.a. bereits’ reicht über Zwischenstufen wie Bayern (1903) und Österreich ( 2 1880) (und 1879, wie ich heute weiß) zurück bis hin zu Württemberg (1861) und SchweizGall (1858) (IDS-Kommission (Hg.) 1985; Mentrup 1985b, S. 73). <?page no="183"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 183 - Zur 'erklärtes Pensum tatsächlich -Struktur Die von den zwei Autoren aufgetane Kluft zwischen dem sog. ‘Pensum’ und dem ‘tatsächlich-aber’-Vorgelegten ist ein dem vorab festgelegten Ergebnis entsprechend zusammengeb(r)autes Konstrukt der zwei Autoren, deutlicher gesagt: ein Hirngespinst. Dies wird ermöglicht und entsteht dadurch, dass sie bei den Aufgaben- und Arbeitsthemen, die im Kommissionsband angegeben sind (wie ‘Aufarbeitung der historischen Entwicklung der Regelung der deutschen Rechtschreibung’ oder ‘Darstellung der Weiterentwicklung der einschlägigen Regeln seit 1901’), die kursiv gesetzten Attribute und die damit expliziten Einschränkungen zwar anflihren, sie aber dann im Weiteren vernachlässigen und nicht mehr beachten; dass sie bei der ‘Darstellung der geschichtlichen Hintergründe’ auslassen, dass sich auch diese, wie im Kommissionsband unmittelbar zuvor zu lesen ist, auf die „bearbeiteten [Regel-]Bereiche“ bezieht; sodass sie, nunmehr uneingeschänkt oder auch frank und frei (vgl. auch Abb. 17), die ‘Darstellung der geschichtlichen Hintergründe’ als ‘Globalthema’ ins Spiel bringen, d.h. dem eindeutig auf die Regelung hin definierten Kommissions-Thema weitere Aspekte, etwa den politischen, aufsetzen; dieses von ihnen aufgeblähte Programm der Kommission bei der Erklärung ihres Pensums als eine der von ihr an sich selbst gestellten Aufgaben in den Mund legen; auf dieser so zugerichteten Programm- und Pensumgrundlage die Kluft zwischen dem angeblich formulierten Anspruch und dem tatsächlichen Ergebnis feststellen; sich im Weiteren ausschließlich auf Rust (1944) fixieren; um dann die außen vor gelassene ‘Reform von 1944’, d.h. ihre Berücksichtigung, vorwurfsvoll einzuklagen. die Autoren: Fixierung auf: Globalisierung: Geschichte des Nationalsozialismus Rust (1944) geschichtliche, politische Hintergründe Kommission: historische Entwicklung der Regelung der dt. Rechtschreibung geschichtliche Hintergründe der bearbeiteten [Regel-] Bereiche Abb. 17: Geschichte der Regelung - Aufgesetzter Überbau <?page no="184"?> 184 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform - Zur "lediglich knapp nachgezeichnet wie im ZWew’-Struktur Das lediglich knapp ist auch so etwas und ebenso locker vom Hocker wie flott dahin gesagt. Allein der Kommentar zur Zeichensetzung umfasst 35 Seiten (IDS-Kommission (Hg.) 1985, S. 69-103). Diese Darstellung der geschichtlichen Hintergründe dieses Bereichs betrifft nachweislich die „Entwicklung der heutigen Regeln“ von 1872 an, bezieht 18 frühere „Vorschläge zur Neuregelung“ ein und gibt Auskunft über die „Arbeit“ und den „Vorschlag der Kommission“ in seiner Enstehung. Das "wie im Duden' lässt außer Acht, dass, wie oben schon angemerkt, viele weitere auch amtliche Orthographiewerke in verschiedenen Ausgaben einbezogen sind. Dass die Duden-Regelung auch in ihrer Entwicklung dabei im Mittelpunkt steht, erklärt sich schlicht daher, dass sie über viele Jahrzehnte hin und über den KMK- Beschluss von 1955 hinaus den größten Einfluss auf die Entwicklung gehabt hat. Man kann das natürlich nicht gut finden - und ich tue das auch nicht -, aber leugnen kann man es auch nicht, allenfalls kann man es verschweigen. Für alle anderen gilt, relativ zur Duden-Regelung, das, was Christoph Meier, gemünzt auf das Werk Rust (1944), feststellt, nämlich dass sie „nicht [...] zum Tragen kam[en]“. - Zu ‘Reform von 1944 blieb außen vor’ Die zwei Autoren beschränken ihre vorwurfsvolle Einklage ausschließlich auf Rust (1944) mitsamt den politischen Hintergründen. Sie müssen sich fragen lassen, warum sie im Sinne der von ihnen geforderten umfassenden Darstellung der geschichtlichen Hintergründe nicht auch die Orthographiewerke aus Bayern (Bayern 1879 über Bayern 1903 bis hin zu Bayern 52 1940 sowie Bayern 2 1941-'1943), Preußen (Preußen 1880 über Preußen 1902 bis hin zu Preußen 1941 sowie Preußen 1952- 1969), Sachsen (Sachsen 1880 über Sachsen 1902 bis hin zu Sachsen 1924 sowie Sachsen 1938- 6 1941 und Sachsen 1946- 4 1952 und Sachsen '1980), Württemberg (Württemberg 1861 über Württemberg 1884 und Württemberg 1902 bis hin zu Württemberg 8 1919 sowie Württemberg l8 1949- 21 1970) und andere mehr in ihren langzeitigen historischen Linien und mit ihren wechselnden politischen Hintergründen über die Zeit hin einklagen. 81 Und auch, warum sie sich in dem doch so breiten Feld und in der doch so weit (zurück)reichenden Tradition der amtlichen Rechtschreibwerke ausschließlich auf Rust (1944) als singuläres Ereignis fixieren und sich von dieser Grundlage aus auf die Neue Regelung von 1996 bzw. 2005 einschießen. Generell noch: Man kann natürlich im Nachhinein anderen Autoren vorschreiben wollen, was sie eigentlich hätten schreiben sollen oder auch müssen. Doch zuvor sollte man sich doch vielleicht kundig machen darüber, was der einzelne Autor als Thema angibt und worüber er eigentlich hat schreiben wollen. 81 Wie viele Ausgaben beteiligt sind, zeigt exemplarisch der Ausschnitt Preußen (1902 bis 1941) (vgl. das Literaturverzeichnis). <?page no="185"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 185 • Merkpunkt 5: Zweifache Fixierung der Darstellung, und zwar sowohl auf die IDS-Kommission als auch auf Rust (1944), im Verein mit der Ausblendung anderer geschichtlicher Zusammenhänge. Mag man auch all diese aufgerufenen Punkte oder auch nur den einen oder den anderen von ihnen den zwei Fahndern als Erhebungsmangel, Recherchelücke oder Ermittlungsnachlässigkeit oder -schlappe anrechnen und Vorhalten und kann man auch die Punkte insgesamt oder auch nur einige Einzelheiten kritisch aufrufen, so ist trotz alledem doch festzustellen, dass sie deswegen ihr Verfahren und ihr Grundanliegen nicht in Zweifel ziehen und nicht in Frage stellen werden bzw. würden. Denn nach der ersten Lokalisierung und Identifizierung und der dann durchgeführten Präzisierung nehmen, trotz alledem, die zwei Autoren, ihrer immanenten Logik unbeirrt, unbeDENKlich und konsequent folgend, nunmehr die Absicht, das Motiv der Verschweiger und Wiederholungstäter unter die Lupe, wovon ja oben schon kurz die Rede gewesen ist. Bezogen auf die Kommission und deren Blick auf Rust (1944) heißt es, zunächst abschließend: „Indem die Kommission sich dazu amschwieg, ließ sie Politik und Öffentlichkeit über die historisch-politische Dimension ihrer Vorschläge im unklaren.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 12; Kursive WM). Das Ende der ersten kreisförmigen Schraubwindung der Spirale ist damit erreicht. Das sich ausschweigen bestätigt die oben vorgestellte zweite (Be-) Deutung des sich nie geäußert haben. Die Verschweiger, die, behält man diese Vorstellung bei, über Rust genau(estens) Bescheid wissen, sind nunmehr als absichtsvolle Verberger entlarvt, die nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber der Politik arme KMK-Präsidentin! insbesondere die inhaltliche Rust-Unterfütterung ihrer Vorschläge als historisch politische Dimension absichtlich im Dunkel lassen und ihr Wissen darüber bewusst verheimlichen, und zwar hinsichtlich der Tiefe des Eingriffes in die Rechtschreibung und der weitestgehenden Übereinstimmung in den einzelnen Inhalten. • Merkpunkt 6: Überhöhende Deutung des Sich-nicht-geäußert-Habens der IDS-Kommission als absichtsvolles Verschweigen ihr bekannter Zusammenhänge und als bewusstes Verbergen ihres Wissens im Zusammenhang mit Rust. <?page no="186"?> 186 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Auch das ist absolute Spitze, ein weiterer dramaturgischer, ja: dramatischer Höhepunkt wenngleich auch dieser noch immer nicht der letzte ist. Denn irgendwie bleibt trotz alledem immer noch ungeklärt, was letzten Endes hinter dieser ganzen Heimlichtuerei steht und was die Kommissionäre letztendlich dabei im Schilde führen. Zwischen-Aufweis einer Ermittlungslücke: Bei all ihrer akribischen Erhebungsarbeit ist den beiden Fahndern ein zentraler kausaler Zusammenhang zwischen einigen, anerkanntermaßen von ihnen ermittelten Details entgangen. Die Details gemäß ihrer Vorstellung: Die von der IDS-Kommission maßgeblich beeinflusste Neue Regelung (1996) ist ein Wiederholungsfall von Rust (1944). Die Kommission verschweigt und verheimlicht einerseits ihr Wissen über diese Tatsache und damit diese selbst; doch andererseits zeichnet sie gleichzeitig des langen und breiten die Weiterentwicklung der einschlägigen Regeln nach, wie sie sich insbesondere im ‘Duden’ vollzog. Die Frage drängt sich förmlich auf: Warum bringt die Kommission ‘den Duden’ denn überhaupt ins Spiel? Gesichtspunkte etwa der inhaltlichen Regelung können der Grund nicht sein, denn der Inhalt ist ja, so die Vorstellung, vor über 50 Jahren durch Rust (1944) bereits vorprogrammiert. Warum aber dann? Die Antwort ist klar: ‘Der Duden’ sowie die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit ihm gehören natürlich in Bücher dieser Art, doch in diesem besonderen Fall sind sie darüber hinaus das wissenschaftliche Pseudo-Alibi, das orthographische Feigenblatt; denn dieses Vorgehen dient der Tarnung des eigentlichen Flrsprungs, der Verhüllung der eigenen Herkunft. Von daher erscheint es als in besonderer Weise listig und pfiffig oder, wenn man anders sehen will: als echt infam und perfide, dass diese Kommission innerhalb der breiten Palette aufgebotener (amtlicher) Orthographiewerke unauffällig und (verharmlosend) zwischen über 30 Ausgaben auch die „vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung herausgegebenen Regeln 1944“ einsprengselt, und dies noch dazu nur in einer Fußnote (IDS-Kommission (Hg.) 1985; Mentrup 1985b, S. 77). Haben Birken-Bertsch/ Markner (2000) diesen Zusammenhang auch übersehen und hätte diese Einzelerkenntnis ihren bisherigen Ermittlungstand auch in perfekter Weise abgerundet und ihnen beiden so richtig schön zu Gesicht gestanden, so sind sie doch immerhin auf diese Verschleierungstaktik der <?page no="187"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 187 Kommission nicht hereingefallen und können entsprechend ihre Erhebungen weiterfuhren, was sie dann auch mit unvermindertem Elan tun. 1.3.1.3 „Die Schweigespirale“ (2. kreisförmige Schraubwindung): Zur Tradition Die zwei Autoren führen ihre Untersuchung weiter, indem sie eine weitere, in zwei Dimensionen sich ausweitende Schraubwindung der Schweigespirale eröffnen. Die Kommission, die bisher ausschließlich im Zentrum des Interesses stand, steht nicht nur nicht allein auf weiter Flur (womit der einholende Rückbezug zu oben Punkt „1.2.1 Zur jüngeren Vergangenheit“ hergestellt ist): „Ein ähnliches Bild bietet der Sammelband Zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, 1997 von einigen ihrer Urheber herausgegeben: In dem Teil zur »Entstehung der Neuregelung< tauchen die Reformbemühungen in den sechziger Jahren aus dem Nichts auf, in der Übersicht zu den amtlichen Regel- und Wörterbüchern fehlt das von 1944, und Hermann Zabel auch Autor von Veröffentlichungen über das »Verschweigen und Verdrängern der Nazizeit läßt zwischen dem »Erfurter Rechtschreibprogramm< von 1932 und den »Stuttgarter Empfehlungem von 1954 eine ominöse Lücke klaffen.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 12f). Nach Nennung weiterer Akteure kommt auch „Wolfgang Mentrup“ (1993) ins Bild, diesmal allerdings nicht als der, der sehr spät oder später kommt, sondern als der, der mit drei Pünktchen überspringt: „Noch 1993 hatte er gleich die gesamte Rechtschreibgeschichte zwischen 1902 und 1992 mit drei Pünktchen übersprungen.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13). Sondern die Kommission steht auch in einer langen Tradition (womit der einholende Rückbezug zu oben Punkt „1.2.2 Zur Tradition“ erfolgt): „Die »Traditiom, zu der »das Totschweigen der Rustschen Refomn, wie es Ickler nennt, geworden ist, [...] begann als Amnesie der Akteure selbst.“ (ebd.). Von Karstadt (kurz nach dem Kriege) (ebd., S. 13) über Reumuth (1963) und Weisgerber (1964) schrauben die zwei Autoren die Spirale hoch bis hin zu Kaulen (1974) (S. 14) und Heyd (1974) (S. 15), um dann nach der knappen, aber den Schlusspunkt der Erhebungen setzenden Enthüllung des letzten Motivs der Verschweiger (dazu gleich unten mehr) über Reichardt <?page no="188"?> 188 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (1980) (S. 15) und einige Titel aus der „Forschung zu den Reformbestrebungen der Jahre 1933 bis 1944“ (Jellonnek 1979, Küppers 1984 (S. 16), Jansen-Tang 1988) mit Maas (1994) (S. 17) den Abschnitt über „Die Schweigespirale“ zu beenden; genauer ist vielleicht: formal durch eine neue Zwischenüberschrift zu unterbrechen, denn in dem neuen Abschnitt folgt als Nachklapp dann noch Scheuringer (1996) (S. 18). Der Schlusspunkt der Erhebungen: „Während die Reformbefürworter im Westen bemüht waren, eine möglichst große ideologische Feme zwischen ihrem Projekt und dem Nationalsozialismus zu suggerieren, gab sich die Linguistik der DDR betont gelassen.“ (S. 15). Als Repräsentantin der Linguistik in der DDR wird hier ausschließlich Dagmar Reichardt (1980) genannt. Was mit DDR-Gelassenheit als Gegensatz oder Gegenpol zu der von den zwei Autoren konstatierten Haltung im Westen gemeint ist, mögen die Götter wissen; ich habe es nicht verstanden. Doch das ist auch egal. Denn wichtig ist es sowieso nicht. Der eigentliche Hammer, der absolute Höhepunkt, das furiose Zwei- Autoren-Finale ist der auf die westlichen Reformbefürworter bezogene Teil als Enthüllung des letzten Motivs der Verschweiger, der Verberger und nunmehr auch der Suggerierer. Deren Bemühen zielt darauf ab, den Eindruck einer möglichst großen ideologischen Feme gegenüber dem Nationalsozialismus entstehen zu lassen; mit suggerieren ist von den zwei Autoren indiziert, dass der in Rede stehende Sachverhalt den Tatsachen nicht entspricht und dass der Eindruck, auf den absichtlich und willentlich abgezielt wird, bewusst vorgetäuscht und folglich falsch ist. Das vorgegebene Bemühen zielt darauf ab, Politik und Öffentlichkeit über die bestehende große ideologische Nähe zum Nationalsozialismus möglichst in Unkenntnis, im Unklaren zu lassen. • Merkpunkt 7: Endgültig überhöhende Deutung des Sich-nicht-geäußert- Habens der IDS-Kommission und weiterer Autoren als Suggerierung einer möglichst großen ideologischen Feme zwischen ihrem Projekt und dem Nationalsozialismus. Was uns dies alles sagen soll (...) - Die eine Botschaft, bezogen auf die Regelungen von 1944 und 1996, stellt sich als vierfach gestaffeltes Programm dar. <?page no="189"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 189 Christoph Meier, Historiker und zugleich Akademie-Präsident, hebt auf die vorgegebene Tiefe des staatlichen Eingriffs ab; Theodor Ickler, Erlanger Sprachwissenschaftler und zugleich Meiers Unterstützer, legt ergänzend die vorgegebene weitestgehende Übereinstimmung auch in den einzelnen Inhalten nach; Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner ergänzen um die oralprimatistische Grundlegung: Insgesamt die, vermeintliche, inhaltliche Rust-Unterfütterung der Regelung von 1996. Die zwei Autoren komplettieren dieses dreigeschossige Gebäude endgültig um die Nähe zum „Nationalsozialismus“, um den ideologischen Überbau (vgl. Abb. 18); wobei daran erinnert sei (vgl. schon oben 1.1.1.1), dass sich rein aus der hier vorgegebenen inhaltlichen Übereinstimmung zweier Regelungen als solchen eine Gleichheit des Überbaus nicht ableiten lässt, was im Verlauf der Überlegungen in mehreren Hinsichten bestätigt worden ist. Birken-Bertsch/ Markner Birken-Bertsch/ Markner Ickler Meier ' ■ 't <D ideologische Nähe zum Nationalsozialismus oralprimatistische Grundlegung weitestgehende Übereinstimmung in den einzelnen Inhalten Tiefe des staatlichen Eingriffs Neue Regelung (1996) Abb. 18: Regelungsebene ~ aufgesetzter Überbau Die zweite Botschaft, bezogen auf die Akteure, stellt sich gleichfalls als dreifach gestaffelt dar (vgl. Abb. 19). <D SP 'S£ 4= O ! Z) Suggerierer der ideologischen Feme gegenüber dem Nationalsozialismus Verberget der inhaltliche Rust-Unterfütterung als historisch politischer Dimension Verschweiget von Rust (1944) und der Zusammenhänge Nationalsozialismus und Orthographie Urheber der Neuen Regelung (1996) Abb. 19: Urheber aufgesetzter Überbau <?page no="190"?> 190 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die zwei Autoren haben ihr Interpretationsschema gefüllt. Ihr Soll ist erfüllt. Sela, Psalmenende! Insbesondere Christoph Meier, aber auch Theodor Ickler werden's wohl zufrieden sein. 1.3.2 Auskünfte der gesichteten Literatur Was uns dies alles sagen will, kann oder auch sagen könnte? - Darüber geben am ehesten die bisher beigezogenen Beiträge(r) selber Auskunft. Dazu gehört allerdings, dass man die Texte (gemeint sind insbesondere die oben unter 1.2.2 Zur „Tradition“), wenigstens zunächst, erst einmal gewissermaßen ‘reden’ lässt und genauer darauf achtet, was denn im Einzelnen, auch an Übereinstimmendem, in ihnen steht. Und eventuell auch, was nicht in ihnen steht. Zutreffend ist die, auch von den zwei Autoren getroffene Feststellung, dass in diesen Beiträgen die Zeit von 1933 bis 1945 sehr knapp und, vom heutigen Erkenntnisstand aus betrachtet, sehr unvollständig erfasst ist. 82 Doch lässt sich ihnen trotzdem nicht Weniges entnehmen, sodass nicht deshalb, weil es nicht sehr viel ist, die Beiträge von vomeherein und insgesamt zu verwerfen sind. Denn hintendran oder späterhin ist man natürlich meistens oder, je nach Gusto, immer klüger oder überhaupt der alleinige (oder Neunmal-)Kluge. Die Abschaffung der Fraktur im Jahre 1941: Diese wird von Renner (1946, S. 8f.) angeführt und regelrecht gefeiert. Weisgerber und Reichardt stellen sie als „autoritär verfugte Zurücksetzung der >deutschen< Schrift“ (Weisgerber 1964, S. 5) bzw. als „wichtige, 1941 durchgesetzte Veränderung“ (Reichardt 1980, S. 276) vor, d.h. als die einzige Maßnahme, die im Unterschied zu anderen Anstrengungen, Vorschlägen u.Ä. damals durchgesetzt worden ist. Ähnliches findet sich in Maas (1994, S. 155: „Führererlaß“, „Schrifterlaß“). Erwähnt ist dieser Punkt auch in Looser (1995, S. 426: „Offizielle Verordnung“). An anderen Vorgängen werden folgende konkret genannt: 1933 „Das >Reichsinnenministerium< beauftragt Dr. Th. Steche, Prof. Dr. M. Müllerburg u.a., eine denkschrift zur Verbesserung der rechtschreibung zu verfassen.“ (Kaulen 1974, S. 33). 82 Dass dieser Mangel im Einzelnen auch Textsorten-inteme Gründe haben kann und demgemäß im Grunde kein Mangel, sondern so etwas wie ein Text- oder Stilmittel ist, darauf sei hier, im Vorgriff auf unten (vgl. 1.3.3.1), nur hingewiesen. <?page no="191"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 191 1941 Die Veröffentlichung von Rahns Vorschlag in Das Reich wird in Maas (1994, S. 155) und in Scheuringer (1996, S. 97) eingespielt. 1944 Auf einen in diesem Jahr „ergangenefn] Erlaß des Reichserziehungsministeriums“ und auf die „von Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust herausgegebenen Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ weisen Veith (1985, S. 1491) bzw. Scheuringer (1996, S. 97) hin. Ansonsten heißt es allgemein: "[...] eine radikale Reform unserer Rechtschreibung [...]“ (Renner 1946, S. 9). Die Reformbewegung „brandete nach dem Jahre 1933 noch einmal auf [...]“ (Winter 1949, S. 75). „[...] griff [...] die Zeit nach 1933 wenig mit direkten Maßnahmen in die eigentlichen Rechtschreibfragen ein [...]“ (Weisgerber 1964, S. 5). 1934 „[...] Initiativen zur reform [...] kommt es in der folgezeit immer wieder zu Vorstößen der reformer“ (Kaulen 1974, S. 33). „[...] gab es kaum Vorschläge zu einer Reform der Rechtschreibung. [...] vereinzelt aufgestellte [...] Forderungen [...]“ (Reichardt 1980, S. 276). „[...] Ansätze, den nächsten Schritt in der Vereinfachung der Rechtschreibung zu tun [...]“. (Reumuth 1963; nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 14). „Ernsthafte Anstrengungen, in unser tradiertes Schreibsystem einzugreifen, hat es wohl nur vor fünfzig Jahren im Nationalsozialismus gegeben. [...]“ (Maas 1994, S. 155). Durchgehend und einmütig wird festgestellt, dass, abgesehen von der Abschaffung der Fraktur, alle Unternehmen erfolglos sind bzw. teils unter Nennung eines Agens eingestellt werden: 1933 mit Bezug auf Steche: „Im Oktober fallt im gleichen ministerium [des Innern; WM] aus außenpolitischen gründen die entscheidung gegen die durchführung einer rechtschreibtagung.“ (Kaulen 1974, S. 33). „[...] eine radikale Reform [...] geplant“ (Renner 1946, S. 9; Kursive WM); von Durchsetzung ist nicht die Rede. „auch in der Schweiz während des Weltkriegs andere, lebenswichtigere fragen im Vordergrund des interesses [... Plan] bis nach kriegsende zurückgehalten [...]“ (Haller 1948, S. 45). „[...] damals so wenig wie früher Erfolg beschieden“ (Winter 1949, S. 75). „[...] verfügte Zurücksetzung der deutschen Schrift< [... sonst; WM] blieb genug Unerledigtes, im Grunde der ganze Katalog von 1901, für die Zeit nach 1945“ (Weisgerber 1964, S. 5). <?page no="192"?> 192 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1934 „[...] deutlich, daß die machthaber eine reform nicht wünschen. Initiativen zur reform werden gebremst [...] bis schließlich die kriegsereignisse alle bemühungen zudecken“ (Kaulen 1974, S. 33). „[...] kaum Vorschläge zu einer Reform der Rechtschreibung. [...] vereinzelt aufgestellte [...] Forderungen [... die einzige; WM] wichtige, 1941 durchgesetzte Veränderung [...]“ Abschaffung der Fraktur (Reichardt 1980, S. 276). "[...] Bestrebungen [...] eine für das ganze deutsche Sprachgebiet gültige Neuregelung der Rechtschreibung in die Wege zu leiten [...] durch den Krieg unterbrochen [...]“ (Kräbs 1954, S. 62). „[...] Ansätze, >den nächsten Schritt in der Vereinfachung der Rechtschreibung zu tum, seien mach 1933 aus politischen Gründen unterdrücke worden“ (Reumuth 1963; nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 14). „Die politische Entwicklung verhindert die weitere Beachtung der Erfurter Vorschläge. [...] ein 1944 ergangener Erlaß [...] bei Kriegsende nicht mehr zur Anwendung gelangt“ (Veith 1985, S. 1491). „[...] Anders als beim Schrifterlaß verhinderte aber die sich bald ändernde politische Konjunktur die Durchführung dieser >Modemisierung<“ (Maas 1994, S. 155). „Merkwürdig und in gewisser Weise auch unerwartet still ist es um die Rechtschreibung in der NS-Zeit. [...] (Fritz RAHN [...]) wurde nicht berücksichtigt, die von [...] Rust herausgegebenen Regeln [...] konnten infolge der Kriegswirren nicht mehr verteilt werden.“ (Scheuringer 1996, S. 97). Wird auch in vielen dieser Äußerungen die Erfolglosigkeit nur allgemein festgestellt, so lassen sich doch aus einigen, unten stichwortartig wiederholten Formulierungen zwei Gruppen von Gründen herauslesen, nämlich allgemein politische Umstände und konkret der Weltkrieg (zum weiteren Verfolg solcher Gesichtspunkte in weiteren Beiträgen vgl. unten 2.3): beim Reichsinnenministerium außenpolitische Gründe dagegen, die Machthaber wünschen eine Reform nicht (Kaulen 1974), aus politischen Gründen unterdrückt (Reumuth 1963), die politische Entwicklung verhindert (Veith 1985), die sich ändernde politische Konjunktur verhinderte (Maas 1994); während des Weltkriegs wichtigere Fragen (Haller 1948), die Kriegsereignisse decken alle Bemühungen zu (Kaulen 1974), durch den Krieg unterbrochen (Kräbs 1954), infolge der Kriegswirren (Scheuringer 1996). Nicht einer dieser Beiträge(r) spricht von „der Rechtschreibreform von 1944“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 9), von „>[der] Reform des Reichsministers Rust von 1944 [... als dem] einzigejn] tiefere[n] Eingriff von Staats wegen in die deutsche Rechtschreibung<“ in der Vergangenheit (Meier 8.6.1998, nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 9), von „>[der] Rustschejn] <?page no="193"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 193 Reform<“ (Ickler 1999; nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 10), von „Zwei Rechtschreibreformen im Dritten Reich“ (Simon 1998, S. 86 mit Bezug auf Steche 1933 und Rust 1944), von „der Reform von 1944“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 12) in dieser, durch den bestimmten Artikel verstärkt, die Faktizität eines eingetretenen Ereignisses vermittelnden Redeweise. Dazu passt komplementär, dass in der Siebener-Folge der Beiträge in der Zeitschrift für Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft (1948-1954) von allen Autoren einmütig auf bestehende Schwierigkeiten der deutschen Rechtschreibung nachdrücklich hingewiesen, damit die Notwendigkeit ihrer Reform, nötig und längst fällig, als Beseitigung vorfmdlicher Mängel begründet wird und dass sich bei der Lektüre Assoziationen einstellen wie Neuanfang, Aufbruch nach einer längeren Unterbrechung. Schon hier erscheint Rust (1944) als unbedeutende Anekdote, als offensichtlich kurzzeitiges Interim in der Geschichte der Orthographie, als Zwischenziel ohne Auswirkung auf die folgende Zeit, ohne Einfluss-Zukunft, was weiter unten (vgl. 2.4.4) von weiteren Reformbemühungen aus den Jahren 1946 und 1947 bestätigt werden wird. Auffällig ist zudem, dass in dieser Siebener-Folge von Menzerath (1948) bis Haller (1952) die Forderung erhoben wird, die gotische (deutsche) Schrift durch die lateinische Schrift (Antiqua) zu ersetzen. Bei Kräbs (1954, S. 64) heißt es sehr vage: „[...] bekanntlich hat es in Deutschland bis ungefähr 1940 neben der lateinischen Schrift noch eine deutsche gegeben, die zwar jetzt in den Schulen nicht mehr gelehrt, aber von Leuten der älteren Generation noch bis in die jetzige Zeit beherrscht und benutzt wird.“ Das klingt so, als wäre den sechs Autoren der Führererlass von 1941 nicht bekannt gewesen. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, dass das Rundschreiben vom 3.1.1941 ausdrücklich „nicht zur Veröffentlichung“ bestimmt war und dass am 11.1.1941 die amtliche Anweisung an die Presse erging, dieses Thema nicht mehr zu erörtern. Ergänzt sei, dass auf der Konstanzer Arbeitsbesprechung (21.-23.11.1952) Thierfelder die Frage, deutsche oder lateinische Schrift, als noch nicht endgültig geklärt ansieht. Kennzeichnet er „die Abschaffung der deutschen Schrift [auch; WM] als eine der wenigen unbestrittenen >Errungenschaften< des Dritten Reiches“, so sieht er doch „gerade in letzter Zeit wieder ein Zunehmen der Publikationen in deutschem Druck“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 16). <?page no="194"?> 194 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1.3.3 Interpretationen und Wertungen im Vergleich In 1.3.2 und 1.3.1 ist deutlich geworden, wie unterschiedlich der Umgang mit denselben Beiträgen und Texten sein kann und auch ist und wie in diesem konkreten Vergleichsfall der jeweilige Ausgangspunkt und Zugang die jeweilige Richtung bestimmt. Diese zwei Zugänge werden in 1.3.3.1 und 1.3.3.2 gekennzeichnet und einander gegenüber gestellt. In 1.3.3.3 geht es um weitere Ausblicke. 1.3.3.1 Zugang A: Von den Texten aus Ein möglicher Zugang (hier mit A markiert) zu herangezogenen Dokumenten ist, dass man von den Texten ausgeht und diese, wenigstens zunächst, erst einmal gewissermaßen ‘reden’ lässt; dass man wahmimmt und gezielt beobachtet, was denn im Einzelnen, auch an Übereinstimmendem, in ihnen steht; und eventuell auch feststellt, was nicht in ihnen steht. Im Weiteren, dass man in immanenter Analyse und Ordnung des Beobachteten zu Phänomenklassen kommt, diese mit ihnen angemessenen Kategorien beschreibt und vor dem Hintergrund dieser aus dem Ausgangsmaterial abgeleiteten, gewonnenen internen Maßstäbe die Texte in bestimmten Hinsichten beurteilt, bewertet und gegebenenfalls kritisiert: Weg zum Texte-intemen Verständnis. Diesen Zugang A habe ich oben in 1.3.2 versucht, was sich im weiteren Verlauf der Darstellung in anderen Zusammenhängen wiederholen wird. Sind auch die in den Texten vermittelten Informationen im Einzelnen und insgesamt äußerst karg, so lässt sich doch als ein erzieltes positives Ergebnis feststellen, dass sie gerade in ihrer geordneten Übersicht zumindest einige Einblicke in jene Zeit(Verhältnisse) vermitteln, die, im Vergleich mit dem oben in Punkt 1.1 Dargestellten, nicht falsch sind. Dem weiteren Verfolg dieses Weges entspricht es im Einzelnen auch, z.B. die offensichtlich unzutreffende Einschätzung der NS-Reformbemühungen wie bei Reichardt (1980), die objektiv fehlerhafte Zeitangabe wie bei Maas (1994) oder auch Entsprechendes verschiedenster Art, wie es sich auch bei Birken-Bertsch/ Markner (2000) nicht selten findet, anzumerken und richtig zu stellen; und möglicherweise auch auf für missglückt gehaltene Formulierungen wie bei Weisgerber (1964) oder auch auf vermisste Belege wie bei Kaulen (1974) hinzuweisen ein beim Zugang A ermitteltes negatives Er- <?page no="195"?> 1933 bis 1942{-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 195 gebnis. Und wer weiß schon, was mit dieser Untersuchung an solchen Ungereimtheiten in die Welt gesetzt wird? Ihm widerspricht im Weiteren auch nicht was vor dem Hintergrund der allmählich kumulierenden einschlägigen Literatur von Jellonnek (1979) über Küppers (1984) und Jansen-Tang (1988) bis hin zu Strunk (1998 und (Hg.) 1998) und Simon (1998) im Jahre 2000 natürlich leichter ist als jeweils früher die jeweils relative Unvollständigkeit bzw. die gänzliche Lücke in den bemühten Beiträgen von 1946 bis in die Gegenwart insgesamt aufzurufen, unterstützt durch die Erweiterung des Wissenshorizontes durch eigene oder von anderen durchgeführte, gegenüber früher umfangreichere Archiv-Recherchen. Insgesamt eine beim Zugang A zunächst getroffene negative Feststellung, die jedoch im Einzelnen, etwa auf möglicherweise spezielle, immanente Gründe für die ‘Enthaltsamkeit’ hin, zu überprüfen wäre, bevor man im Einzelnen ein negatives Urteil lallt oder gar mit Hilfe einer Pauschalmarkierung zu einer Pauschalverurteilung ausholt. Zwei Beispiele dafür, wie berechtigt die Grundforderung des Zugangs A ist, erst einmal auf das zu achten, was (Autoren mit ihren) Texte(n) sagen wollen. Zu Beginn jeweils eine Interpretation, in der diese Forderung nicht beachtet ist. Beispiel 1: Zu Mentrup (1993, S. 51f.) heißt es: „Noch 1993 hatte auch er gleich die gesamte Rechtschreibgeschichte zwischen 1902 und 1992 mit drei Pünktchen übersprungen.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 13; Kursive WM). Ist es, das sei hier eingefügt, auch ein recht seltsames Ereignis und wohl auch ein zweifelhaftes Erlebnis, sich selbst als Bestandteil oder Element einer genauer: ihrer - Schweigespirale zu begegnen, so hat dies mitunter doch auch sein Gutes; und zwar speziell hier insofern, als ich 1993 die drei Pünktchen nicht unbedacht gesetzt habe und mir durch diese unverhoffte Begegnung jetzt die Möglichkeit gegeben wird, ihre Funktion zu erläutern. Schon der Überschrift des einschlägigen Kapitels: „4 Rundblick: Amtlichkeit und Reformbemühen - Auch im Wandel der Zeit“ (Mentrup 1993, S. 46), ist bei unvoreingenommener Lektüre nicht zu entnehmen, dass „die gesamte Rechtschreibgeschichte zwischen 1902 und 1992“ Gegenstand der Darstellung sein soll und ist, sodass dieses Globalthema diesem Kapitel von außen, d.h. hier von den zwei Autoren, untergejubelt, oder anders gesehen: übergestülpt wird. Worum geht es aber dann im Eigentlichen? <?page no="196"?> 196 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Der von den zwei Autoren kritisch speziell angesprochene Abschnitt ist überschrieben: „4-2 Das „Bemühen um die Vereinfachung der Rechtschreibung 1876- 1902-...- 1992- 1994- 1996“ (Mentrup 1993, S. 51). Die im Folgenden tabellarisch gestaltete Linie des Reformbemühens von 1880 bis 1992 ist bis 1912 mit fünf Titeln markiert, denen dann nach den inkriminierten drei Pünktchen als weiterer Titel Internationaler Arbeitskreis (1992) folgt. Nach kurzer Vorstellung dreier der angeführten Titel heißt es dann: „Die Weiterfuhrung dieses Reigens ist hier nicht möglich. Deshalb im Zeitraffer zur Gegenwart.“ (ebd., S. 52). Begründet ist dieses Stilmittel allgemein thematisch und speziell auch quantitativ. Denn der Drei-Pünktchen-Sprung von 1912 bis 1992 steht stellvertretend für mindestens 79 Reformvorschläge, die allein bis 1981 zusammengestellt worden sind (vgl. Jansen-Tang 1988, S. 558ff); bis 1992 könnte man bei weitergeführten Recherchen diese Zahl wahrscheinlich locker an die 100 heranführen oder auch darüber hinaus. Insgesamt geht es hier um den skizzierten Verlauf der Reformlinie über diesen Zeitraum hin, und zwar zur Veranschaulichung der langen Tradition, in der auch das 1975 neu einsetzende Bemühen steht, das im Weiteren dargestellt wird und das dann letztlich zur Neuen Regelung (1996) führt. Genau darum ging und geht es hier, und um nichts mehr. Die Drei-Pünktchen- Lücke, explizit als Stilmittel ausgewiesen, ist Thema-orientiert und Textsorten-intem begründet, was an sich schon 1993 klar (gesagt) war. Trotz alledem klagen die zwei Autoren noch im Jahre 2000 auf dieser Linie der Reformvorschläge Rust (1944) als fehlend ein. Deshalb dazu zwei weiterführende Bemerkungen. Zum einen müssen sie sich fragen lassen, warum sie sich in schon bekannter Manier angesichts des von ihnen vorgegebenen Globalthemas ‘gesamte Rechtschreibgeschichte’ bei den 79 Reformvorschlägen allein bis 1981 und den bis 1992 auf ca. 100 geschätzten ausschließlich und allein auf Rust (1944) fixieren und allein dieses Werk als fehlend einklagen und alle anderen ausblenden. Zum anderen ist es ja so, dass dieses Werk, auch ihrer Meinung nach, gar nicht in diese Linie gehört, da es sich bei den sog. „Vorschläge[n]‘‘ von Rust (1944) (so Jellonnek 1979, S. 57 #2.22) gar nicht um „[...] »Vorschläge! [...]“, sondern „vielmehr [um; WM] die von ihm erlassenen Regeln“ handelt <?page no="197"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 197 (so kritisch korrigierend zu Jellonnek Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 16), die entsprechend den amtlichen Linien zuzurechnen sind. Ein Weiteres, und ich meine auch hier: Wenn schon so genau, dann auch konsequent pingelig und vollständig: Die amtlichen Linien sind in Mentrup (1993) im vorausgehenden Abschnitt 4.1 (S. 46ff.) behandelt. Sie sind, ebenfalls als Skizze ihrer Tradition, von 1902 bis zu der letzten Auflage auf der „preußischen [Schiene] (bis 1944)“ (S. 47) vor Kriegsende mit ca. 10 Ausgaben markiert. Insgesamt gibt es in diesem Zeitraum ca. 120 Ausgaben. 83 Hier „hätte jedem Kundigen schon [... bei der zitierten Formulierung; WM] auffallen können“ 84 , dass die genannte preußische Ausgabe von 1944 nur die von Rust „erlassenen Regeln“ in der von diesem initiierten „neuen Auflage“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.) sein können und sind; denn außer dieser gibt es 1944 weder auf der preußischen noch auf irgendeiner anderen amtlichen Linie eine weitere. Das heißt auch: Im thematisch einschlägigen Abschnitt ist Rusts Werk genannt. Die zwei Autoren haben am falschen Ort ermittelt. In Folge haben sie nicht spitz gekriegt, dass sie am richtigen Ort durchaus in ihrem Sinne hätten fündig werden können. Denn über die politischen Hintergründe von Rust (1944) steht dort nichts. Beispiel 2: „Machen wir einen großen Sprung über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus“. Mit diesem Zitat aus Kohrt (1997, S. 305) überschreiben Birken-Bertsch/ Markert ihr erstes Kapitel (2000, S. 9). Auf diese Weise bauen sie, so der Eindruck, an exponierter Stelle auch Kohrt, wenn auch indirekt, in die Spirale der Rust-Verschweiger mit ein, die sie in diesem Kapitel hoch schrauben. Sie verstärken diesen Eindruck vier Seiten später noch einmal dadurch, dass sie dieses Sprung-Motiv, kommemorierend, auch auf Karstadt anwenden, der „schon kurz nach dem Krieg in einem historischen Abriß [...] den großen Sprung [machte]“ von 1932 in das Jahr 1946 (S. 13f). 83 „Doch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs endeten diese [amtlichen Hauptlinien] abrupt, die amtlichen Regeln wurden nicht mehr aufgelegt.“ (Mentrup 1993, S. 47; vgl. auch S. 48). Nach später gewonnenen Erkenntnissen ist diese Aussage falsch, und zwar mit Blick zumindest auf Bayern, Österreich, Preußen, Sachsen und Württemberg. 84 Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 119) im Zusammenhang mit einer Eingabe der Dudenredaktion und mit Bezug auf den dort ausführlich, aber unkorrekt angeführten Titel Rust (1944). <?page no="198"?> 198 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Kohrt und Karstadt, die beiden, wenn auch um ca. 50 Jahre zeitverschobenen, großen (auch Rust-)Überspringer. Prüft man im Einzelnen nach, worauf Kohrt sein Bild vom „Sprung über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus“ bezieht, so zeigt sich schnell: Rust (1944) liegt zwar innerhalb der Zeitspanne, die übersprungen wird, doch wird dieses Werk im Zusammenhang mit Ereignissen in den 50er-Jahren, von denen weiter unten zu berichten ist, ausführlich von Kohrt (1997, S. 305f.) berücksichtigt. Die zwei Autoren kennen auch diesen Abschnitt, denn sie nehmen späterhin (auf S. 119), auch durch ein kurzes Zitat, darauf explizit Bezug. Es zeigt sich: Sie überhöhen oder erweitern das ihrer Schweigespirale als Motto überschriebene Kohrt-Zitat um eine Bedeutung(sdimension), die der Autor gar nicht meint. Missbräuchliche Verwendung, so könnte man zumindest sagen. Soweit die zwei Beispiele, die deutlich machen, dass die zwei Autoren beide Texte gegen den Strich gelesen und in ihrem Sinne uminterpretiert haben; was an vieles erinnert, das oben im Zusammenhang mit der Schweigespirale (1.3.1.2 und 1.3.1.3) bereits beobachtet worden ist. 1.3.3.2 Zugang B: Von vorgegebenen Festsetzungen aus Deutlich ist geworden: Birken-Bertsch/ Markner (2000) wählen einen anderen als den oben vorgestellten Zugang A. Dieser andere (hier mit B markiert) ist, dass man von Vorabfestlegungen, von vorgegebenen Festsetzungen ausgeht und von den dem Ausgangsmaterial vorgeschalteten externen Maßstäben aus die Texte genau liest, beurteilt, bewertet, kritisiert und gegebenenfalls dann auch pauschal ‘verurteilt’: Weg zur Texte-extemen (Um-) Deutung. Der eigentlichen Interpretation der von den zwei Autoren herangezogenen Texte als Ausgangspunkt vorgeschaltet sind, dies zur Erinnerung, die zwei Tatsachenbehauptungen von Rust (1944) als dem Ursprung der Neuen Regelung (1996) sowie von der Übereinstimmung beider in den verschiedenen Hinsichten. Der nächste Schritt ist die vorgegebene allgemeine, agenslose Feststellung: Die Nazi-Projekte sind lange verschwiegen worden (vgl. unten Abb. 20 „Ausgang“). <?page no="199"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 199 Die zentralen (Handlungs-)Ausdrücke, mit denen Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 11-15) das Verhalten der zitierten Autoren bezeichnen, lassen sich in zwei Gruppen ordnen (vgl. Abb. 20, in der die Zahlen 1 bis 13 die Abfolge der Ausdrücke in ihrem Text markieren). Die Ausdrücke im linken Feld sind von Hause aus in dem Sinne ambig, wie es oben (vgl. 1.3.1.2) für sich nicht äußern bereits beschrieben worden ist: Man äußert sich zu etwas nicht, weil man nichts darüber weiß. Oder: Man weiß über etwas Bescheid, aber man sagt nichts dazu. Analog: Rust (1944) fehlt, weil man es nicht kennt. Oder: Man kennt Rust (1944), aber man führt es nicht an. Abb. 20: Disambiguierang durch kontextuelle Einbindung <?page no="200"?> 200 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die im rechten Feld angeführten Ausdrücke, wie auch das von den zweien an anderer Stelle verwendete Verb ignorieren (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 94), setzen voraus, dass die Träger dieser Handlungen den in Rede stehenden Sachverhalt zwar kennen und über ihn Bescheid wissen, aber dass sie diese ihre Kenntnis und dieses ihr Wissen bewusst und absichtlich zurück-, geheimhalten, verbergen, verheimlichen. Nur was man weiß, kann man verschweigen usw. Was man nicht kennt, kann man nicht ignorieren usw. 85 Intoniert wird mit verschweigen. Weiter geführt mit dem durch wohl disponierten ‘So erklärt sich wohl, daß [...]’ wird die Schweigespirale konkret an bestimmten Personen(gruppen) und ihren einschlägigen Handlungen festgemacht. Methodisch ist das listig und pfiffig, die Struktur der Wirkungsabsicht entsprechend klar gestaffelt. Ausgehend von 1 verschweigen über 6 sich ausschweigen und 7 im unklaren lassen mündet die Spirale mit 11 Tra- ” verschweigen [...] durch Schweigen, nicht sagen, verbergen, geheim halten (Adelung Bd. 4 1780); (jmdm.) etw. absichtlich nicht sagen, etw. verheimlichen', (jmdm.) eine Neuigkeit, die Wahrheit v. (Handwörterbuch 1984); 1. bewußt nicht sagen, verheimlichen'. jmdm. eine Neuigkeit, die Wahrheit v.; er hat uns verschwiegen, daß er krank ist. 2. (v. + sich) (selten) sich über etwas nicht äußern. (Universalwörterbuch 1983). ausschweigen, sich [...] sich beharrlich zu etw. nicht äußern', er hat sich gründlich, über diesen Vorfall ausgeschwiegen (Handwörterbuch 1984); zu etw. beharrlich schweigen, sich nicht äußern, nicht Stellung nehmen: sich [über einen Vorfall] a.; der Minister hatte sich ausgeschwiegen (Universa! Wörterbuch 1983). totschweigen [...] über etw., jmdn. mit Schweigen hinweggehen', dieses Vorkommnis hat er totgeschwiegen (Handwörterbuch 1984); etw. nicht erwähnen, um den Eindruck zu erwecken, als ob es gar nicht existent sei; dafür sorgen, daßjmd., etw. in der Öffentlichkeit nicht genannt, öetewnr wire/ (Universalwörterbuch 1983). suggerieren [...] jmdm. etw. einreden, jmdn. psychisch so beeinflussen, daß dieser sich die Vorstellungen des anderen ungeprüft zu eigen macht (Handwörterbuch 1984); 1. jmdm. etw. [ohne daß dies dem Betroffenen bewußt wird] einreden od. auf andere Weise eingeben [um dadurch die Meinung, das Verhalten o. ä. des Betreffenden zu beeinflussen]: einflüstern (2): jmdm. eine Idee s.; jmdm. ein Bedürfnis [künstlich] s. 2. darauf abzielen, einen bestimmten [den Tatsachen nicht entsprechenden] Eindruck entstehen zu lassen: viele Fachtermini sollen Wissenschaftlichkeit s. (Universalwörterbuch 1983). ignorieren [...] etw., jmdn. absichtlich übersehen, nicht beachten: eine Anordnung, Mahnung i; er hat uns völlig ignoriert (Handwörterbuch 1984); absichtlich übersehen, übergehen, nicht beachten: jmdn., jmds. Anwesenheit, einen Vorfall i. (Universa! Wörterbuch 1983). <?page no="201"?> 1933 bis I942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 201 dition des Totschweigens wieder in dem Feld, in dem sie ihren Anfang nimmt, und wird mit 13 ideologische Ferne suggerieren endgültig vertäut. Die an sich ambigen Ausdrücke 2 bis 5 und 8 bis 10 werden von dem rechten Bedeutungsfeld gewissermaßen eingefangen, kontextuell eingebunden und dadurch bzw. von dorther semantisch eindeutig festgelegt, disambiguiert bis hin zu dem kompositorisch furiosen Zwei-Autoren-Schlussakkord. Von der Vorschaltung ‘Rust (1944) als Präzedenzfall und die Neue Regelung (1996) als Wiederholungfair ausgehend interpretieren die zwei Autoren den Befund der Unvollständigkeit bzw. Lückenhaftigkeit der Berichterstattung insbesondere über Rust (1944) speziell im Sinne der Schweigespirale, fällen ein Pauschalurteil und fuhren dieses weiter in Richtung einer unterschiedslosen Pauschalverurteilung all der von ihnen in die Spirale eingebauten früheren Texte und Autoren und beziehen auch die spätere Forschungsliteratur mit ein. Pauschalierungen als solche wecken grundsätzlich natürlich Skepsis, weil es im Leben, zumindest zumeist, so einfach und ei(ge)nsinnig nicht ist oder zugeht. Deshalb einige wenige differenziertere Überlegungen in Hinblick auf die Betrachtung des zugrunde gelegten Materials. Im Rahmen ihrer Literaturdiskussion, des Schraubens an der Schweigespirale, gehen die zwei Autoren von der jüngeren Vergangenheit aus (u.a. IDS- Kommission 1985 und 1989, Mentrup und Nerius beide 1993, Zabel 1997). Im Zuge ihrer Traditionsbestimmung rufen sie mit Karstädt (kurz nach dem Kriege), Reumuth (1963) und Weisgerber (1964) die Namen dreier Personen auf, die auch im Mittelteil ihrer Arbeit, d.h. innerhalb ihrer eigentlichen Untersuchung der nationalsozialistischen Jahre von 1933 bis 1945, genannt und dort in ihrer jeweiligen Rolle beschrieben sind. Zu diesem Trio wird sich noch Basler hinzugesellen. Zutreffend ist, dass die zuletzt Genannten aufgrund ihrer Vergangenheit und ihrer eigenen Erfahrungen in den Jahren vor 1945 mehr und viel über Rusts orthographische Unternehmen wussten und darüber mehr hätten sagen können, als sie nach dem Kriege, 1963 bzw. 1964, dann geschrieben haben. Und entsprechend kann man zu Recht schlicht feststellen: Sie haben nun wirklich sehr wenig über jene Zeit und über sich in dieser Zeit gesagt. Das ist plausibel und gilt in spezieller Hinsicht auch für Basler. <?page no="202"?> 202 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Und von einem bestimmten Forschungsstandpunkt aus und geleitet von einem spezifischen Interesse erklärt sich auch die kritische Wertung: Sie haben zu wenig gesagt und zu vieles verschwiegen. Bei den im Weiteren ebenfalls, aber übergangslos eingebrachten Namen und Personen, nämlich Kaulen und Heyd (1974), Reichardt (1980), Maas (1994) und Scheuringer (1996), liegt der Fall anders; wie ebenfalls bei jenen, mit denen als Vertretern der jüngeren Vergangenheit der Reigen eröffnet wird. Bei dem so gestalteten Verfolg der Verschweiger-Spirale für den ja nun doch langen Zeitraum von 1946 über 1985 und 1989 bis hin zu 1998 werden Grenzen übergangen oder verwischt zwischen der Generation derer, die schon in der NS-Zeit beruflich tätig und in mehrfacher Flinsicht einschlägig aktiv waren, und den jüngeren Generationen derer, die 1945, wenn's hoch kommt, gerade 10 Jahre alt oder noch gar nicht geboren waren. Der Unterschied zwischen den zurückliegenden Generationen wird (wie die zwei Autoren in anderem Zusammenhang auf S. 20 formulieren) verschliffen. Alle Genannten werden unterschiedslos und undifferenziert auf den gemeinschaftlichen Nenner gebracht, in das Schema gepresst und entsprechend unbeDENKlich abgeMEIERt. Alle und insgesamt Elemente der Schweigespirale: Globale Stigmatisierung. Im Volksmund nennt man so was: Alle(s) über einen Kamm scheren. Oder: Alle(s) in einen Topf werfen. Oder auch: Alle(s) über denselben Leisten schlagen. Diese Gleichschaltung ist beim Zugang B natürlich leicht möglich und machbar und wird von den zweien auch auf die Forschungsliteratur angewendet, die u.a. Rust (1944) durchaus behandelt. Mit Ausnahme von Simon (1998) werden alle auch in kleinsten Einzelheiten kritisiert, abqualifiziert, stigmatisiert; was offenbar den Eindruck hoher wissenschaftlicher Maßstäbe, Ansprüche und Qualität auf Seiten der beiden erwecken soll (vgl. Abb. 21; zu der Art der optischen Markierungen vgl. oben 1.1.2.4 (3) und (4)). wissenschaftliche Klassengesellschaft Markierungen Meier, lokler, Simon, Birken-Bertsch, Markner 1. Klasse Bingo- Karte grüne Karte keine Rust-Verschweiger, aber unzureichend 2. Klasse richtigere Karte gelbe Karte Gesamtheit der Rust-Verschweiger 3. Klasse richtige Karte rote Karte Abb. 21: Gruppierungen durch Markierungen <?page no="203"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 203 Die Zielrichtung insgesamt ist klar: Tabula rasa. Das Feld ist aufbereitet, die Bühne frei für den strahlenden, den grandiosen Auftritt der zwei und ihrer dreifachen Begleitung, für die Eigendarstellung und Selbstinszenierung. Wenn schon so hohe Ansprüche, dann müssten diese auch für sie selber gelten. Schon in den mir inhaltlich vertrauten Bereichen finden sich recht viele Ungenauigkeiten, klare Fehler und schräge Umdeutungen und Verknüpfungen. Dies lässt als möglich erscheinen, dass sie insbesondere im Mittelteil auch im Umgang mit den mir nicht bekannten Dokumenten nicht weniger zimperlich sind und sich manches oder vieles mündges moat zurichten, wie man in Westfalen so sagt. 1.3.3.3 Birken-Bertsch/ Markner (2000): Kennzeichnung ihres Vorgehens und ihrer Ergebnisse (1) Merkpunkte => Abstrus-monströses Konstrukt Was ist mit den von Birken-Bertsch/ Markner gleichgeschalteten später geborenen Autoren ohne eigene Erfahrungen vor 1945? Was ist z.B. mit Mentrup (1993)? Meine erste Wahrnehmung des Buches Rust (1944) fällt in die Vorbereitungszeit des Beitrags Mentrup (1985b), von dem oben schon die Rede war. 1993 war mir die von den zwei Autoren an- und vorgegebene, die vermeintliche Übereinstimmung der Neuen Regelung (1996) bzw. ihrer damaligen Vorgängerinnen mit Rust (1944) nicht bekannt. Einen ersten Hinweis auf diese Behauptung habe ich erst 1997 bei Ickler (1997, S. 15 Anm. 4) gefunden, einen zweiten dann durch Meier im Mai 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht bekommen (Mentrup 1998). Als Verschweiger in ihrem Sinne kann ich allenfalls frühestens erst ab 1997 geführt werden, nicht aber schon 1993. Und bei den anderen mir Gleichaltrigen oder auch Jüngeren, die von den zwei Autoren an- und vorgeführt werden, ist das genau so. Irgendwie wirkt die Konstruktion ihrer Schweigespirale wie ein abstruses Konstrukt. Was ist mit all denen, die von den zwei Autoren weder in ihrer Spirale berücksichtigt noch in ihrem Mittelteil zu finden, aber trotzdem (vgl. oben 1.2.1 und 1.2.2) als weitere Namen und Personen thematisch und inhaltlich mit im Spiele sind? <?page no="204"?> 204 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform So Renner (1946); Menzerath, Haller (beide 1948); Winter (1949); Hiehle- Eisenach, Jensen, Klippel (alle 1949); Haller (1952) und seine große Menge an Beiträgen zur Reform von 1951 bis 1964 wie die von Heyd von 1952 bis 1960 (jeweils in Auswahl vgl. Literaturverzeichnis); Kräbs (1954), Pacolt (1972), Augst (1974 (Hg.) und 1974a); Baudusch, Nerius (beide 1975); Garbe (Hg.) (1978), Piirainen (1980 und 1981), Baudusch (1981), Bramann (1982), Mentrup (1983), Garbe (Hg.) (1984), Veith (1985); Kohrt, Nerius (Hg.), Rechtschreibunterricht (alle 1987); Sauer (1988), Nerius (Hg.) ( 2 1989), Mentrup (1990), Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992); Nerius, Willenpart/ Kircher (beide 1994); Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.), Looser (beide 1995); Ehlich/ Coulmas/ Graefen (Hg.), Gallmann/ Sitta (beide 1996); Mentrup (1999), Schrodt (2000). Nach dem Markierungs-und Stigmatisierungsmerkmal ‘sich zu Rust (1944) nicht äußern’ gehören auch diese der Schweigespirale an. Denn wenn schon u.a. Maas und Scheuringer dieser zugeordnet werden, warum dann nicht auch u.a. Garbe und Piirainen? Und wenn schon u.a. Mentrup (1993), warum dann nicht auch u.a. Mentrup (1999)? Und was ist mit all jenen, die sich ebenfalls zu Rust nicht geäußert haben, aber in den bisherigen Aufstellungen noch gar nicht erfasst sind? Das werden sicherlich auch noch recht viele sein. So z.B. Sarkowski (1976), der über die 150jährige Geschichte des Bibliographischen Instituts schreibt, und Baer (1980), der den Weg „Vom Orthographischen Wörterbuch< zum >Großen Duden<“ nachzeichnet. Diese beiden werden hier deshalb hervorgehoben, weil das Bibliographische Institut bzw. ‘der Duden’ in der Zeit von 1933 bis 1945 im Bereich der Orthographie durchaus mit im Spiele ist, und zwar über die Zeiten hin in verschiedenen Rollen, was unten (vgl. 3.1) um Weiteres ergänzt wird. Weitere Kandidaten, die entsprechend zu überprüfen wären, sind allein von den 42 Reformvorschlägen, die für die Jahre von 1945 bis 1981 zusammengestellt sind (Jansen-Tang 1988, S. 560-562), 35 Vorschläge, die in den bisherigen Aufstellungen nicht angeführt sind. Zumindest die meisten von ihnen sind dem phonetischen Prinzip verpflichtet, entsprechen dem Gesichtspunkt der oralprimatistischen Grundlegung und damit dem von den zwei Autoren ausgemachten Präzedenzfall Rust (1944). Dessen Nachfolgeschaft wie auch did Schweigespirale werden damit aus diesem Lager noch einmal vergrößert und ausgeweitet, sodass die Neue Regelung (1996) in <?page no="205"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 205 dieser Menge allmählich so recht gar nicht mehr aufzufinden wäre und sich in ihr irgendwie verlöre, wäre da nicht die Fixierung der zvei auf sie. Dass einige der oben genannten Neuzugänge in einem anderen Zusammenhang noch einmal ins Spiel kommen und dass auf einem anderen Feld weitere ‘heiße’ Kandidaten hinzukommen, wird weiter unten (vgl. 2.4.4 bzw. 3.1.2.2) deutlich werden. Füllen die Texte mit dem Schweigen darüber, dass es Rust gegeben hat, bei den zwei Autoren bereits eine stattliche Handbibliothek, so füllen sie, dehnt man die Recherchen konsequent aus, ganze Bibliotheken. Höchstwahrscheinlich werden die zwei Autoren und sicherlich auch Meier und Ickler bei Ausführungen solcher Art nur müde lächeln. Erreichen wird man sie mit so etwas sowieso nicht. Aber das ist hier auch alles andere oder nichts weniger als wichtig. Insgesamt zeigt sich: Verfolgt man den Schweigeansatz der zwei auch nur halbwegs konsequent, so gewinnt das abstruse Konstrukt ihrer Schweigespirale Schritt für Schritt zusätzlich die Dimension einer kuriosen, skurrilen, grotesken Monstrosität und endet im Absurden. Aber vielleicht meinen die zwei Autoren ja, dass ich, wie auch alle die anderen, mir die von ihnen ins Zentrum gestellten Zusammenhänge hätte nachträglich aneignen können, dass ich sie hätte wissen können und vielleicht auch hätte wissen müssen? Kann man natürlich im Nachhinein anderen Autoren vorschreiben wollen, was sie eigentlich hätten wissen und auch schreiben sollen oder auch müssen (vgl. dazu auch die Stellungnahmen der beiden Autoren insbesondere zu Jellonnek 1979, Jansen-Tang 1988, Strunk 1998 und die von ihnen aus ihrer Sicht aufgezeigten Defizite bei weiteren Autoren), so drängt sich doch die Frage auf, ob eine solche Forderung nicht doch recht anmaßend ist, und fuhrt zu der Feststellung, dass dies so ist. Und erwarten, ja fordern sollte man schon angesichts der von den zweien angelegten Maßstäbe und erhobenen Ansprüche, dass Interpreten von Texten, als die sie sich ja auch selber verstehen, sich zunächst erst einmal kundig darüber machen, was die einzelnen Autoren als Thema angeben und worüber sie eigentlich haben schreiben wollen, statt sie alle von vorne herein in dasselbe Eck zu stellen, über einen Kamm zu scheren und als Gesamt zu verurteilen. <?page no="206"?> 206 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Zur Erinnerung die Merkpunkte auf einen Blick: 1) Umdeutung einer Vision im Verein mit der Tatsachenbehauptung: Rust (1944) ist der Ursprung der Neuen Regelung (1996). 2) Übernahme einer Tatsachenbehauptung bezüglich der Übereinstimmung von Rust (1944) und der Neuen Regelung (1996) mit Blick auf die Tiefe des Eingriffs in die Rechtschreibung und weitestgehend auf die Einzelheiten des Inhalts sowie auf die oralprimatistische Grundlegung. 3) Behauptung einer Kausalität zwischen der Reaktion auf die öffentlich behauptete Übereinstimmung (von Rust 1944 und der Neuen Regelung 1996) und dem vorgegebenen langen Verschweigen der Rechtschreibreformprojekte der Nazizeit im Verein mit der damit verknüpften Gefährdung der Neuen Regelung von 1996. 4) Als Vermutung disponierte Behauptung einer Kausalität zwischen dem ermittelten Befund (vgl. die Merkpunkte 1 bis 3) und dem Sich-nicht-geäußert-Haben der IDS-Kommission. 5) Zweifache Fixierung der Darstellung, und zwar sowohl auf die IDS-Kommission als auch auf Rust (1944), im Verein mit der Ausblendung anderer geschichtlicher Zusammenhänge. 6) Überhöhende Deutung des Sich-nicht-geäußert-Habens der IDS-Kommission als absichtsvolles Verschweigen ihr bekannter Zusammenhänge und als bewusstes Verbergen ihres Wissens im Zusammenhang mit Rust. 7) Endgültig überhöhende Deutung des Sich-nicht-geäußert-Habens der IDS- Kommission und weiterer Autoren als Suggerierung einer möglichst großen ideologischen Feme zwischen ihrem Projekt und dem Nationalsozialismus. Bewiesen ist bisher nicht nur nichts, sondern die Merkpunkte zeigen insgesamt ein Geflecht schlichter Behauptungen, subjektiver Vermutungen und hochgeschraubter (Um-)Deutungen, das u.a. in der Fixiertheit der zwei Autoren sowohl auf die IDS-Kommission als auch auf Rust (1944) und in der damit einher gehenden Ausblendung vieler anderer Zusammenhänge begründet ist. Und auch, das sei hinzugefügt, in ihrem Hauptteil findet sich kein Beweis. Ein Gespinst, mit dem sie bestimmte Dinge und Sachverhalte umhüllen und mit dem sie auch ihre Leser zu umgarnen suchen. Ein Kokon, in den sie sich selbst eingesponnen haben bzw. haben einspinnen lassen, und von dem sie auch gerne ihre Leser umhüllt sähen. <?page no="207"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 207 (2) Regelungsebene: Steche (1933) + Rust (1941) + Rust (1944) = Neue Regelung (1996) => Verhedderung - Übereinstimmungs- und diffuse Zweckfiktion Die orthographisch reformerisehen Beiträge aus der Nachkriegszeit auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite Jellonnek (1979), Küppers (1984), Jansen-Tang (1988), Strunk (1998) und Simon (1998) scheinen für die Orthographie zu bestätigen, dass die intensive Beschäftigung mit einer als einschneidend angesehenen historischen Epoche in Richtung auf ihre Aufklärung und ernsthafte Bewältigung nicht unmittelbar nach ihrem Ende beginnt. Anders gesagt: „Paradox, aber wahr: Je ferner die Zeit des Nationalsozialismus rückt, desto näher kommt sie heran.“ (Der Spiegel Nr. 48/ 2000, 27.11.2000, S. 306). In diesem Sinne verstehen Birken-Bertsch/ Markner (2000) ihre Arbeit umso mehr, als sie u.a. alle oben Genannten mit Ausnahme von Simon (1998) abqualifizieren und ihrerseits die „Hintergründe aufzuklären“ als „Absicht der folgenden Untersuchung“ ankündigen. Doch allein schon im Zusammenhang mit der von ihnen übernommenen, für sie zentralen Regelungs-Relation Rust (1944) = Neue Regelung (1996) verheddern sie sich. Bei Simon (1998, S. 86; vgl. oben 1.1.1.1) heißt es: „Die Vorschläge von [Steche; WM] 1933 sehen den gegenwärtigen fast noch ähnlicher als die von [Rust; WM] 1941.“ Die zwei Autoren (Birken-Bertsch/ Markert 2000, S. 11) übernehmen diesen Satz nahezu wörtlich und schließen den Hinweis auf die „Vergleichbarkeit der Reformen von 1944 und 1996“ an. Als vorgegebene Relationen, bei Simon komparativisch recht verschlüsselt, ergeben sich: Simon: Steche (1933) <fast noch ähnlicher als> + Rust (1941) ~ Neue Regelung (1996) Ickler, Meier, die zwei: Rust (1944) <inhaltlich weitestgehend gleich, tiefer Eingriff in die Rechtschreibung> ~ Neue Regelung (1996) Damit sind nunmehr drei und dabei alles andere als inhaltlich kongruente Regelungen aus jener Zeit im Spiel, die die Neue Regelung (1996) nachgerade umstellen und in ihrem Anspruch auf Übereinstimmung als Konkurrenten diese so richtig in die Bredouille bringen. Angesichts dieser Tricho- <?page no="208"?> 208 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform tomie stellt sich zunächst die Frage: Welche soil's oder welche darfs denn nun eigentlich (gewesen) sein? Doch dabei bleibt es nicht. Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 28) schreiben: Simon „hat [...] Dokumente vorgelegt, aus denen Näheres über die von Steche geleitete Kommission und den Inhalt ihrer vergleichsweise gemäßigten Empfehlungen hervorgeht.“ Und damit wird es erst recht richtig spannend. Denn es tut sich folgende Relation auf: Simon, die zwei: Steche (1933) <gemäßigt> <fast noch ähnlicher als> Rust (1941) = Neue Regelung (1996) ~ <inhaltlich weitestgehend gleich, tiefer Eingriff in die Rechtschreibung> Rust (1944) Angesichts dieser Dichotomie und der Diskrepanz Hic gemäßigt - Illic tiefer Einschnitt kannst du nur noch staunen und dich auf die Suche begeben nach jemandem, der diese Übereinstimmungsarithmetik überhaupt versteht. Doch vielleicht tröstet dich das Sprichwort: Worüber man am meisten spricht, das gibt es am wenigsten. Vergleicht man die differenten Inhalte der Regelungen von Steche (1933) (vgl. oben 1.1.1.1), Rust (1941) (vgl. oben 1.1.3.2 auch Abb. 15) und Rust (1944) mit der Neuen Regelung (1996), so ergibt sich schon auf den ersten Blick, dass die angesetzte, behauptete weitestgehende Übereinstimmung eine Schimäre ist. Steches Vorschläge sind in vielen Punkten äußerst allgemein gehalten. Ein Vergleich ist natürlich möglich, denn vergleichen kannst du alles; doch ergibt sich dabei, dass eine Gleichsetzung in vielen Bereichen mangels konkreter Regeln bei Steche gar nicht möglich ist. Konkretere Regelungen wie Zeichensetzung „im wesentlichen so belassen“, Abschaffung des Dehnungsh; v in ver-, vor, von, aber Fater entsprechen nicht der Regelung von 1996. Bezogen auf Rust (1941) müsste die Neue Regelung (1996) Folgendes enthalten: Kleinschreibung der Substantive (nach Steche 1933 und Rust 1944, hierzu vgl. auch unten, hingegen grundsätzliche Großschreibung) und grundsätzlicher Wegfall der Dehnungsbezeichnung, was nicht der Fall ist. Das gleiche Bild ergibt ein Blick auf oben Abb. 15 (Punkte 1.3, 2.1 Lehn- und Fremdwörter, 3.1 s-Schreibung, 3.2 ai > ei, du > eu, 3.3 z.B. Erpse oder er läd statt er lädt, 3.4 Schiffahrt). <?page no="209"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 209 Rust (1944, S. 100f.) lässt bei der Groß- und Kleinschreibung mehr Doppelschreibungen zu, zudem „sollen die Abweichungen von der richtigen Schreibung nicht als Rechtschreibfehler gelten“; dies gilt auch für die Zeichensetzung, „soweit sie [die Abweichungen; WM] sich von der gesprochenen Sprache her begründen lassen“, was in der Regelung 1996 nicht steht. 86 Nach Rust (1944) sind bei Fremdwörtern mit ph, th, rh die Schreibung mit diesen und die mitf t, r generell zugelassen; nach Rust (1941) ist zu schreiben Filosofie, Teater, Rombus; nach Steche hingegen Philosophie, Theater, Rhombus. Was soli's denn von all diesen Divergenzen nun eigentlich sein? Ich breche den Vergleich ab. Die Redeweise von der Übereinstimmung erweist sich insgesamt als diffuse Zweckfiktion. (3) Ideologische Ebene: Nationalsozialist Bernhard Rust ~ Verursacher der Neuen Regelung => Überstülpung und Verstiegenheit Die zwei Autoren leiten aus der vorgeblichen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Rust (1944) und der Neuen Regelung (1996) eine ideologische Nähe der späteren Generationen zum Nationalsozialismus ab. Doch ist die Ebene der Regelung das eine, ein anderes ist der ideologische Überbau. Erinnert sei an die kleinen Dudenausgaben (1915), (1934) (Reichsschulwörterbuch) und ( 2 1939). In allen dreien sind als Regelteil die Regeln des preußischen Rechtschreibbuches abgedruckt. Diese Regelung als solche bleibt auch 1934 im Reichsschulwörterbuch und in der 2. Auflage 1939 erhalten. Von dem hier neuen ideologischen Überbau wird sie nicht eingefarbt, sondern dieser kommt 1934 in den extrem nationalsozialistischen Umtexten sowie, und dies auch 1939, in der Wortkomponente, d.h. in eingeschleusten ideologisch besetzten Beispielen und Einträgen im Regelbzw. im Wörterteil, zur Sprache. Die gleiche Regelung wie 1915 wird 1934 und 1939, wie Simon (1998, S. 87) mit Bezug auf Steche in der Weimarer Zeit und 1933 bildlich sagt, 86 Die Regelung in Rust (1944) kommt unten in den Kapiteln 2 und 3 noch mehrfach ins Spiel. Und auch in Mentrup (i.Vorb.), hier insbesondere mit Blick auf die historische Tiefe. <?page no="210"?> 210 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „lediglich nationalsozialistisch verpackt“ (vgl. oben 1.1.1.1), wobei man über das lediglich natürlich streiten kann (vgl. Abb. 22). Aus der inhaltlichen Übereinstimmung zweier Regelungen lässt sich eine Gleichheit des ideologischen Überbaus nicht erschließen. 87 Aufgabe: unsere Volkswerdung. Heil Hitler! ideologisch besetzter Anteil der Wortkomponente Einheitlichkeit der Rechtschreibung Schritt auf dem Wege zur Einheitsschreibung u.a. Vereinfachung der Regelung Vereinheitlichung unserer Schrift- und Sprachformen preußische Regelung als solche 1901 1915 1934 "1939 Abb. 22: Gleiche Regelung mit verändertem ideologischem Überbau Dies lässt sich historisch natürlich weiter zurück ausleuchten, denn auch 1901 ist ja nicht der Punkt Null. Der Rückblick führt u.v.a. über Preußen (1880) sowie Bayern und Österreich (1879) zur 1. Orthographischen Konferenz von 1876 und von dort zu Berlin (1871) und zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 (vgl. Abb. 23). 1871 Gründung des Deutschen Reiches Weltgeltung der dt. Sprache in Verbindung mit imperialistischmilitärischen Eroberungsplänen ideologisch besetzter Anteil der Wortkomponente Einheitlichkeit Einfachheit Einheitlichkeit Einfachheit Einfachheit Regelung der deutschen Rechtschreibung als solche 1876 1901 NS-Zeit 1996 Abb. 23: Rechtschreibregelung und Überbau 87 Dies gilt natürlich auch für andere Bereiche. Z.B. „Ein >Deutsches Zahlen- und Rechenbuch< stellt seine Aufgaben aus dem Winterhilfswerk 1938/ 39, dem Versailler Diktat, der Abschaffung der Arbeitslosigkeit durch Adolf Hitler, etc.“ (Klemperer 1945, S. 54; 20.2.1945). Die gleichen Zahlen und das gleiche Rechnen gibt es schon vor dem 3. Reich und auch nach seinem Untergang. <?page no="211"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 211 Doch auch damit sind wir allein auf der amtlichen Schiene beileibe noch nicht, wie man in Westfalen so schön sagt, am krusen Eikelbömken: SchweizLehrV (1863), Württemberg (1861), SchweizGall (1858), Leipzig (1857), Hannover (1855) Erfurt (1833); wobei hier der Überbau in seiner Entwicklung und seinem Wandel und damit in seinen jeweils spezifischen Unterschieden nicht aufgezeigt werden kann. Nehmen wir hypothetisch einmal an, die Reformer hätten z.B.Rusts Regelung von 1944 (oder auch die von 1941 oder Steche 1932) als solche schlicht übernommen - Was würde das angesichts der historischen Tradition allein auf der amtlichen Schiene, in der ja auch Rust (1944) (und die zwei anderen) stehen, bedeuten? Nichts (vgl. Abb. 24). Weltgeltung der deutschen Sprache in Verbindung mit imperialistischmilitärischen Eroberungsplänen ideologisch besetzter Anteil der Wortkomponente u.a. Vereinfachung der Regelung u.a. Vereinfachung der Regelung hypothetisch: gleiche Regelung als solche Steche (1933) oder Rust (1941) oder Rust (1944) Neue Regelung (1996) Abb. 24: Gleiche Regelung <=> gleicher ideologischer Überbau? ? Doch mit dem Historischen haben es die zwei Autoren ja nicht so sehr. Ihnen genügt die übernommene vermeintliche inhaltliche Übereinstimmung der Regelung zur Begründung der ideologischen Nachfolgeschaft, zum Ansatz des Konstruktes eines ideologischen Überbaus. Füllen heute die Publikationen der neueren Reformer bereits auch stattliche Bibliotheken, so haben weder die geistigen Wegbereiter Meier und Ickler noch Birken-Bertsch/ Markner daraus bisher die von ihnen vor- und angegebene ideologische Nähe der Reformer zum Nationalsozialismus belegt. So wie die zwei Autoren aus der vorgeblichen inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Rust (1944) und der Neuen Regelung (1996) eine ideologische Nähe der späteren Generationen zum Nationalsozialismus ableiten, so wäre in der Konsequenz, z.B. bezogen auf die Gegebenheit Autobahnen, Gleiches anzusetzen. Denn deren Ausbau im Dritten Reich dient nicht nur der Verringerung der Arbeitslosigkeit („Zeitweise arbeiteten 130 000 Menschen an den <?page no="212"?> 212 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Autobahnen“), sondern steht insbesondere mit den imperialistisch-militärischen Eroberungsplänen in Verbindung. Die ideologische Besetzung zeigt sich überdies darin, dass Hitler den ersten Spatenstich für die Strecke von Hamburg nach Basel am 23.9.1933 mit einer großen Propagandaschau unter Beteiligung von 30 000 Schulkindern verbindet; dass Goebbels verkündet, „Noch in ferner Zukunft [...] werde sich das deutsche Volk an den Autobahnen erfreuen und sie als >Straßen Adolf Hitlers< rühmen“ (Behr 2001), auch hier wie schon oben bei Steche mit Bezug auf die „Rechtschreibverbesserung“ als Ziel so etwas wie unsterblicher, wie ewiger Walhalla-Ruhm für den Führer (vgl. oben 1.1.1.1); dass die „Entziehung der Autofahrerlaubnis bei allen Juden“, über die Klemperer am 6.12.1938 berichtet, auch damit begründet wird, „ihr Fahren [beleidige] die deutsche Verkehrsgemeinschaft, zumal sie anmaßlicherweise sogar die von deutschen Arbeiterfäusten gebauten Reichsautostraßen benutzt hätten“ (Klemperer 1937-1939, S. 118). Entsprechend wäre für die staatlichen Stellen, die nach Kriegsende Aufträge zum weiteren Ausbau und zur Renovierung der Autobahnen erteilen, für die Firmen, die diese Aufträge ausführen, und für alle Autofahrer, die auf den Spuren der Militärkonvois der großdeutschen Wehrmacht die Autobahnen benutzen, eine solche ideologische Nähe anzusetzen (vgl. Abb. 25). Prinz Heinrich von Preußen Gründung der AVUS; 1913 Ausbau der ersten Straße nur für Autos; Teststrecke für reiche Herrenfahrer Nov. 1926 Gründung der Hafraba; Autostraße durch das Rheintal; 1932 durch Konrad Adenauer, Kölner Oberbürgermeister, eröffnet 23.9.1933 erster Spatenstich der AB Hamburg-Basel; Hitler, Goebbels mit großem Propagandaaufwand; Ausbau nach den Plänen von Fritz Todt zur Mindemng des Arbeitslosigkeit, insbes. in Verbindung mit imperialistisch militärischen Erobemngsplänen Benutzung für internationalen Verkehr einschließlich Tourismus Autobahnen Anfang 20. Jh. 1926 bis 1932 NS-Zeit Gegenwart .. gg Abb. 25: Autobahnen und Überbau So im Einzelnen auch für Victor Klemperer, der über einen Reiseabschnitt am 18. Mai 1945 in einem Holzgas-getriebenen Laster berichtet: 88 Sehr (2001/ 12.9.): Die Autobahn: Eine Nazi-Mogelpackung. (AVUS = Automobil-, Verkehrs und Uebungs-Strecken-Gesellschaft; Hafraba als abgekürztes Programm: Verbindung der / / onsestädte über Frankfurt mit Fusel.) <?page no="213"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 213 „[...] die Fahrt, erst gegen acht Uhr angetreten, ging wahrhaftig nicht schneller als im Pferdewagen: Zu etlichen 50 km brauchten wir reichliche zweieinhalb Stunden. Beide können wir nicht angeben, welchen Weg wir im einzelnen verfolgten; wir waren bald auf der Reichsautobahn, die sich nun schnurgerade und öde mitten durch die Natur, meist über Wiesenfläche, selten einmal durch Waldstücke zog. Von der Nymphenburger Gegend her fuhren wir gegen halb elf in München ein.“ (Klemperer 1945, S. 152). Und auch für Birken-Bertsch und Markner, sofern sie die Autobahn benutzen. Doch selbst, wenn sie die Autobahn nicht befahren sollten der Vergangenheit und der Verquickung mit ihr entkommen auch oder selbst sie nicht (vgl. Abb. 26). Weltgeltung der Dt. Sprache in Verbindung mit imperialistischmilitärischen Eroberungsplänen allgemeiner Gebrauch der überkommenen und vom Erstschulalter an gelernten Schrift (Fraktur =>) Antiqua > NS-Zeit Gegenwart Abb. 26: Antiqua und Überbau Denn ihr Opus, in der von Hitler höchstinstanzlich gegenüber der Fraktur durchgesetzten Antiqua geschrieben, entlarvt auch sie als Nachfolger, als Wiederholungstäter. (4) Birken-Bertsch/ Markner: Im Privatissimum ihrer Kronzeugen Ickler und Simon - „Auftragsforscher im schlimmsten Sinne des Wortes“ (Knobloch) Zum Schluss zwei Kronzeugen von Birken-Bertsch/ Markner als Rezensenten ihrer Arbeit (2000) zu drei zentralen Punkten: Historische Tiefe - Kontinuität: „Präzedenzfall [... Rust] 1944 [...Neue Regelung (1996)] [...] Die große Übereinstimmung ist weder zufällig noch kompromittierend. In der jahrhundertelangen Diskussion um die deutsche Orthographie gibt es eben nur einen begrenzten Vorrat an Argumenten.“ (Ickler 2000a) <?page no="214"?> 214 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Sie [die Rustsche Reform wie die heute geplante; WM] steht in der Kontinuität der meisten Reformvorschläge seit mehr als 200 Jahren.“ (Ickler 2000c) „Zu wenig kommt bei Birken-Bertsch und Markner heraus, dass Kontinuitäten nicht nur nach 1945 bestanden, sondern sogar weit in die Zeit vor 1933 zurückreichen.“ (Simon 2001, S. 1) Oralprimatistisches mehrere Richtungen: „Im wesentlichen stehen sich zwei große Schulen gegenüber, die phonetische und die historische [...]. Im Deutschen ist der Streit während des neunzehnten Jahrhunderts beigelegt worden, und zwar zugunsten einer eher pragmatisch als theoretisch begründeten Absage an die Lautschrift. [... eine] grundsätzlich historisch-semantisch Schreibweise [...]. Unsere heutigen Reformer, die vom lautschriftlichen Gedanken nur sehr wenig retten konnten [...].“ (Ickler 2000a) „[...] es [gab ...] übrigens schon im 19. Jahrhundert drei Richtungen [...]. Der Kompromisscharakter der Reformvorschläge wird nicht gesehen und die Kommission mit den >Phonetikem< ohne jede Diskussion in einen Topf geworfen.“ (Simon 2001, S. If.) Inhalt als solcher - Ideologie: „Präzedenzfall [... Rust] 1944 [...] Schämt man sich der buckligen Verwandtschaft? Dazu besteht kein Anlaß. Die Rustsche Reform hat nichts spezifisch Nationalsozialistisches. [...] Die große Übereinstimmung ist weder zufällig noch kompromittierend. In der jahrhundertelangen Diskussion um die deutsche Orthographie gibt es eben nur einen begrenzten Vorrat an Argumenten. [...] der rationale Kem durch jeweils passende ideologische Hüllen eher verborgen als freigelegt [..., ...] zeitgemäße Verbrämung [...]. Der Kem war aber immer noch derselbe, die Verhüllung etwas ganz Oberflächliches.“ (Ickler 2000a) „Abgesehen von dieser ganz marginalen Regel [für die Fallgruppe um Schiffahrt, WM] stimmt die Rustsche Reform weitestgehend mit der heute geplanten überein. Sie hat das sei noch einmal ausdrücklich betont nichts spezifisch Nationalsozialistisches, sondern steht in der Kontinuität der meisten Reformvorschläge seit mehr als 200 Jahren.“ (Ickler 2000c) „Der Hinweis auf die Vergangenheit allein ist bekanntlich kein hinreichendes Argument gegen etwas, insbesondere wenn man ihn nur durch Hinweise auf noch ältere Traditionen stützt. Der Umstand, dass etwa Manfred von Ardenne, der wichtige Erfindungen zur Weiterentwicklung des Fernsehens machte, sowohl im Hitler-Faschismus als auch in den DDR-Kommunismus verwickelt war, spricht an sich noch nicht gegen das Fernsehen. Die wenigen systematisch argumentierenden Hinweise, die Birken-Bertsch und Markner zur Stützung ihrer traditionalistischen Auffassung geben, fallen aber weit zurück <?page no="215"?> 1933 bis 1942(-1944) Bemühungen um eine Reform der Orthographie 215 etwa hinter denen von Schmidt-Rohr. Dieser freilich war als Leiter einer SS- Forschungsabteilung weitaus mehr in das NS-Machtgefuge verwickelt als irgendein Kommissionsmitglied im 3. Reich.“ (Simon 2001, S. 2) Es sieht so aus, als hätten Birken-Bertsch und Markner in einem anderen, in einem falschen Film gesessen. Oder anders gesagt: Das oben auszugsweise aus den Rezensionen vorgestellte Drei-Punkte-Programm kommt hoffnungslos zu spät. Gesagt ist gesagt; veröffentlicht ist veröffentlicht. Hätten Ickler oder Simon oder auch beide vor Abfassung des Buches den zwei Autoren darüber ein Privatissimum abgehalten, dann wäre möglicherweise ihnen selbst wie auch den Lesern ihrer Arbeit manches oder vieles oder gar alles, wer will das schon so genau wissen, erspart geblieben. 89 So wie es sich gibt: Die zwei stehen allein auf weitem Felde - Ritter ohne Furcht und Tadel? Sie stehen allein auf weiter Flur und ganz schön im Regen irgendwie als Ritter von der traurigen Gestalt? So ganz wohl doch nicht. Immerhin ist Birken-Bertsch/ Markner (2000) als „Eine Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ (S. 4), wie oben schon vermerkt, ausgewiesen. Wenn Knobloch in seiner Rezension die Meinung äußert, das Büchlein sei von dem Präsidenten der Deutschen Akademie und im Weiteren von dieser „in Auftrag gegeben worden“ (Knobloch 2001, S. 202) und die zwei „als Auftragsforscher im schlimmsten Sinne des Wortes“ (ebd., S. 203) kennzeichnet, dann ist nahezu zwangsläufig eine „Gegendarstellung“ fällig, am besten durch die attackierten Autoren selbst, die es natürlich wissen müssen: „Die zitierten Behauptungen sind falsch. Wir haben weder im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung noch in dem einer anderen Institution geforscht. Die Akademie hat die Entscheidung, unsere Studie als eigene Veröffentlichung im Wallstein-Verlag, Göttingen, herauszugeben, auf der Grundlage einer vorläufigen Fassung getroffen, die für den Druck von uns nur noch geringfügig überarbeitet wurde. Berlin, den 26. November 2001. 89 Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Birken-Bertsch und Markner, gestelzt gesagt, der deutschen Sprache durchaus mächtig sind und einen recht eingängigen, oder salopp gesagt, einen flotten Stil haben. Doch zumindest in den für die Abschnitte 1.2 und 1.3 ausgewerteten Teilen wirkt das eher wie tendenziöses Wortgeklingel und rhetorischer Budenzauber. <?page no="216"?> 216 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Reinhard Markner, M. A. [...] Hanno Birken-Bertsch, M. A. [...]“ (Birken- Bertsch/ Markner 2001; Kursive WM) „[...] falsch. [...] weder [...] noch Das klingt entschieden und damit scheint der Fall entschieden zu sein, was an dieser Stelle zunächst einfach zur Kenntnis genommen wird oder zu nehmen ist; was auch heißt, dass dieser Fall unten (vgl. 3.2.2.3 (3)) vor einem neuen, recht überraschenden Hintergrund noch einmal aufgegriffen wird. Wenn Knobloch in seiner Rezension feststellt: „Dass ausgerechnet die Deutsche Akademie [...] ihren doch immer noch guten Namen für diese Publikation hergibt, darf man wohl bestürzend finden.“ (Knobloch 2001, S. 204; Kursive WM), so regt allein schon die ‘doch-immer-noch'-StmkXm zum Nachdenken an. Im Weiteren könnte die noch ausstehende Untersuchung über die Rolle der Akademie in und während der Diskussion über die Reform der Orthographie von 1950 an bis 1965 (etwa auf der Grundlage von Strunk 1992 und Strunk 1998 (Hg.)) und von 1993 an bis zur Gegenwart Aufschluss darüber geben, wie es auf diesem Felde um das immer noch eigentlich bestellt ist. <?page no="217"?> 2. Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? Wie oben in 1.1 dargestellt, gehen auf Bernhard Rust, Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, drei orthographische Initiativen zur Änderung der überkommenen Rechtschreibung zurück. Die ersten beiden von 1936 und 1941 sind geprägt von dem in der Kompetenzverteilung begründeten Bemühen, seine Reformvorschläge, und um solche geht es hier, mit dem für sprachliche Fragen zuständigen Reichsministerium des Innern abzustimmen. Das auch, oder vielleicht zutreffender: Das vor allem in dieser Konstellation, in dieser für Rust nachteiligen asymmetrischen Situation begründete Scheitern dieser beiden Vorstöße ermöglicht oder bedingt, je wie man es nimmt oder wie es auch immer sein mag, 1944 seinen dritten. Gegenüber den zwei vorausgehenden verläuft dieser auf einem anderen, speziellen Gleis, nämlich auf der Schiene der mit seinem Amt verbundenen Reichsschulkompetenz, und zeigt entsprechend eine qualitativ andere (Organisations-)Struktur mit einer amtlich verfügten Regelung als Ergebnis. Im Zentrum steht die Frage, welchen Status (amtlich, hier Sprachgesetz genannt, oder nicht) bzw. welches Textsortenmerkmal (legislativ oder nicht) das Orthographiebuch von 1944 hat bzw. welcher Status bzw. welches Textsortenmerkmal ihm von wem zugesprochen wird. Zu der von mir verwendeten Terminologie und zur Einordnung von „Sprachgesetz“: Im Sinne von Binnengliederungen werden vier Existenzweisen von ‘Sprache’ (Polenz 1973; 1982a und b) und damit auch von ‘Orthographie’ unterschieden (vgl. Abb. 27). Merkmale virtuell (abstrakt) realisiert (konkret) sozial Sprachsystem Sprachverkehr individuell Sprachkompetenz Sprachverwendung Abb. 27: Objektsprachlich-funktionell: Existenzweisen von Sprache Als Teilbereiche des Sprachsystems werden Spmchbrauch <normal, üblich, bekannt, geläufig> und Sprachnorm <genormt, korrekt, vornehm, gut> (nach Polenz) <?page no="218"?> 218 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sowie, über diese(n) hinaus, Sprachgesetz <amtlich normiert, per Erlass allein richtig> eingerichtet und auch bei der Sprachkompetenz angesetzt, mit sich steigerndem Grad an Geltung, Restriktivität. Usuativ im Verein mit normativ und legislativ sind die entsprechenden Textsortenmerkmale. Sprachgesetz als politische Kategorie gilt im Deutschen ausschließlich für die Orthographie, nicht für die anderen Teilbereiche der Grammatik sowie auch nicht für Wortschatz und Stilistik (vgl. Abb. 28). metasprachl.: virtuell (abstrakt) deskriptiv System Kompetenz I u 1 3! präskriptiv sanktioniert realisiert (konkret) ■ Ü 1 tu 'i ü : Verkehr Verwendung Abb. 28: Metasprachlich-institutionalisiert: Teilbereiche des Sprachsystems und der Sprachkompetenz Texte in Kommunikation sind der Sprachverwendung, dem Sprachverkehr zuzuordnen (dictum, scriptum). Der Kommunikationskreis ist geschlossen, wenn der Adressat den Text gehört (audire), gelesen (legere), rezipiert hat (auditum, lectum). Seine Antwort (responsum) eröffnet das Wechselspiel der Rollen im dialogischen Handlungsraum; womit die Situation auch dieser Studie, etwa in Bezug auf Böhme und Kopke wie auch auf Birken-Bertsch und Markner, Umrissen ist. 911 In der Diskussion und umfangreichen Literatur wird einerseits nahezu durchgehend daraufhingewiesen, dass bis zu der 1996 (1998 bzw. 2005) amtlich gewordenen Neuregelung die letzte amtliche Feststellung der Orthographie 1901 auf der 2. Orthographischen Konferenz und ihre amtliche Sanktionierung durch den Beschluss des deutschen Bundesrates vom 18. Dezember 1902 erfolgten und dass diese Regelung, grundsätzlich gesehen, bis 1996 amtlich, also Sprachgesetz im hier gemeinten Sinne, war (so die 90 Vgl. ausführlich Mentrup (1984a; 1988) und weitertuhrend Mentrup (2001; 2003, A. III. 1). Geschriebene Sprache und gesprochene Sprache gelten hier nicht als Bereiche des Sprachsystems, der Sprachkompetenz. Der spezifische Teilhabe-Bereich an diesen ist deren phon(emat)ische bzw. graph(emat)ische Komponente: Sprech-, Lautsystem bzw. Schreib-, Zeichensystem(-kompetenz). Andere sprachliche Bereiche wie Morphologie, Syntax, Semantik sind bezüglich geschrieben gesprochen> neutral, nicht markiert und für die Ortographie allenfalls in anderer Hinsicht relevant. <?page no="219"?> Rust {1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 219 meisten der an der Neuregelung von 1996 Beteiligten; im Weiteren z.B. Grunow 1951, S. 53; Wapnewski 1976, S. 88; Günther 1996, S. 1). Andererseits wird auch für Rust (1944) das Prädikat ‘amtlich’ (Sprachgesetz) reklamiert, so von damaligen Zeitgenossen, so - und zwar mit Geltung bis in die jeweilige Gegenwart von der Wiesbadener Dudenredaktion (1955/ 27.10.) und in Folge von der Kultusministerkonferenz (1955/ 18.+ 19.1 La, b und c) sowie, in jüngerer Zeit, von Böhme (1995), Kopke (1995) und von Heering (1997/ 26.1). Soweit der allgemeine Rahmen, innerhalb dessen ich bis 1998 ein erstes Manuskript erstellt hatte, dessen endgültige Fertigstellung ich nicht abgeblasen hatte, sondern aus verschiedenen Gründen verschieben musste. In diesem Manuskript sind als Grundlagen die mir bekannten Beiträge und Dokumente ausgewertet worden, die bis 1995 veröffentlicht oder in der Literatur genutzt worden sind. Nach Erscheinen von Simon (1998) und Stmnk (1998) sowie von Birken-Bertsch/ Markner (2000) habe ich mein früheres Manuskript um für mich neue Fakten erweitert und von Fall zu Fall aufgrund neuer Erkenntnisse korrigiert. Beide Arten von Neuerungen sind durch den Bezug auf die genannten neueren Arbeiten als solche gekennzeichnet. Böhme (2001) wurde mir unmittelbar vor der Abgabe meines Manuskripts, März 2002, zugänglich. Entsprechend konnte ich diese Studie nur noch punktuell berücksichtigen. Unter anderem, aber insbesondere mit Blick auf Kopke (1995) sei betont, dass die oben angesprochenen Grundlagen ohne gezielt intensive Archiv-Recherchen jedem Autor zugänglich waren und dass ihre Berücksichtigung verhindert hätte, manches oder auch vieles so darzustellen, wie es dann geschehen ist. Wichtig für die innerhalb dieses Rahmens angestellten Überlegungen sind temporale Abfolgen, kausale Abhängigkeiten und, auch darin begründet, inhaltliche Zusammenhänge von Dokumenten und von Beiträgen der Sekundärliteratur. Diese Verknüpfungen stiften innerhalb eines längeren Zeitraumes eine Texttradition, deren einzelne Stränge im Rahmen des gesamten Wirkungssystems aufzuzeigen versucht wird, und zwar gemäß dem Texte- Zugang A, der schon oben in einem anderen Zusammenhang angewendet (vgl. 1.3.2) und dann gekennzeichnet (vgl. 1.3.3.1) worden ist. Die Ausgangsfrage ist: Welche Infomationen lassen sich diesem Material entnehmen und wie lässt sich insbesondere von dieser Grundlage aus die zweite der oben aufgestellten Thesen beurteilen? Untergliedert ist dieses Kapitel in vier Abschnitte, die das wechselvolle Schicksal von Rust (1944) im Verlauf der Zeit widerspiegeln, z.T. auch aus unterschiedlicher Sicht der jeweiligen Zeitgenossen und innerhalb sehr un- <?page no="220"?> 220 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform terschiedlicher Zusammenhänge. In Stichworten: Rust (1944) 2.1 zu seiner Zeit als amtlich ausgewiesen; 2.2 als amtlich über 1945 hinaus angesehen; 2.3 eingestampft, nicht durchgesetzt, gescheitert; 2.4 als amtliche Norm offiziell zurückgezogen. 2.1 Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) in den Schulen In 2.1.1 wird der spezielle Weg, den Bernhard Rust mit Rust (1944) beschreitet, dargestellt und dokumentiert, und zwar durch die Vorstellung des amtlichen Werkes unter Berücksichtigung einschlägiger Erlasse. In 2.1.2 kommen Zeitzeugen aus dem In- und Ausland zu Wort. In 2.1.3 wird auf augenfällige Textzusammenhänge hingewiesen, der bis dato unbestritten amtliche Status resümiert und der Unterschied zu den beiden ersten Vorstößen Rust (1936) und (1941) erinnert. 2.1.1 Das authentische Werk - Erlasse als Hintergrund Das Orthographiebuch Rust (1944) findet sich als Faksimile auf der beigefügten CD-ROM (#2.14). Dadurch ist es nunmehr allgemein verfügbar und zugänglich, sodass jede(r) Interessierte sehen kann, worum es eigentlich geht, und die z.T. abenteuerlichen, weil unbewiesenen Behauptungen am authentischen Text überprüfen kann. Zunächst wird das amtliche Werkim Unterschied zu 1936 und 1941 handelt es sich nicht um Vorschläge vorgestellt, wobei mit einem Einblick in die lexikographische Werkstatt auch Otto Basler in Erscheinung tritt (vgl. 2.1.1.1), und der Hintergrund anhand u.a. einschlägiger Erlasse ausgeleuchtet, die die amtliche Zulassung betreffen (vgl. 2.1.1.2) und in denen auch kriegsbedingte Versorgungsprobleme zur Sprache kommen (vgl. 2.1.1.3). 2.1.1.1 Rust (1944): Zur Herstellung - Textzusammenhänge (1) Titel, Zulassungs- und Einführungsvermerk - Autoren - Verantwortliche Zentralstellen - Verlag - Adressaten Die Titelseite von Rust (1944) ist in etwa so gestaltet: <?page no="221"?> 221 Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? Regeln fur die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1944 DEUTSCHER SCHULVERLAG BERLIN Best-Nr. 1010 Preis: RM 0,35 Das Buch hat einen Umfang von 96 Seiten. Auf der Rückseite des Titelblatts, über dem Inhaltsverzeichnis, findet sich folgender eingerahmter Vermerk: Nach Zulassung durch die Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum als Lembuch eingeführt durch Erlaß des Reichserziehungsministers E Ila (C 6) 5/ 44 vom 20. Februar 1944 Als Herausgeber wird auf dem Titelblatt das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung angegeben; im Zulassungs- und Einführungsvermerk werden als amtlich beteiligte und zuständige Stellen die Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum („Nach Zulassung durch ...“) und der Reichserziehungsminister („... durch Erlaß eingeführt...“) ausgewiesen. Autoren 91 sind weder auf dem Titelblatt noch sonst in dem Werk angeführt, was auf den amtlichen Schienen sehr oft der Fall ist. 92 Die in der Literatur 91 Der Begriff des Autors oder der Autoren ist hier zu relativieren. Es handelt sich bei Rust (1944) nicht um die Neuschöpfung eines Orthographiebuches gewissermaßen aus dem Nichts, es ist nicht einfach und plötzlich vom Himmel gefallen; sondern es geht, wie es sich im Weiteren mehrfach darstellt, um die neue Auflage und neue Bearbeitung eines bereits vorliegenden Werkes, das bzw. die in einer möglicherweise längeren oder auch <?page no="222"?> 222 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform vorfindlichen Angaben zu der 1944 in der öffentlichen Diskussion gestellten Frage: „Von wem hat der Reichserziehungsminister sich dabei bloß beraten lassen? ’“ (nach Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7.)> sind z.T. recht allgemein. In Reumuth (1944) heißt es passivisch und eher lakonisch: „Das Büchlein [...] ist im Aufträge des Reichserziehungsministers neu bearbeitet worden“ (nach S.L. 1953, S. 100; Kursive WM). Wessely (1944/ 15.10, S. 2) spricht davon, der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung habe „von sich aus in dieses häufig kritisierte Volksgut“, in die Rechtschreibung, „eingegriffen“. N.N. (Anfang 1945, S. 29) kennzeichnet den Minister als „Parteigenossen“. Nach S.L. (1953, S. 99) wurden „Sprachwissenschaftler [...] mit der Ausarbeitung einer Rechtschreibreform beauftragt.“ Nach Jellonnek: „Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wollte die von ihm und und seinen Mitarbeitern erstellten neuen Regeln in dem 96 Seiten starken Schulbuch >Regeln für die deutsche Rechtschreibung! an rund 300 000 Schulkinder verteilen lassen“ (Jellonnek 1979, S. 57; mit Bezug auf Reumuth 1944 in S.L. 1953 und auf letzteren). 93 Und Kopke (1995, S. 66f, Anm. 416) berichtet: „Auf dem über die Universitätsbibliothek Duisburg erhältlichen Exemplar der Regeln von 1944 ist handschriftlich vermerkt Gearbeitet von Otto Basler u. Karl Reumuth<. Ob dies zutrifft, konnte nicht festgestellt werden.“ Reumuth wird einerseits als „Dozent“ (Wessely 1944/ 15.10., S. 2; S.L. 1953, S. 100) und andererseits als „Referent“ des Reichserziehungsministers ausgewiesen (Jellonnek 1979, S. 57). langen Tradition steht/ stehen. Zunächst unklar und entsprechend zu klären bleibt, welche Tradition hier fortgesetzt wird. 92 Ein weiteres Beispiel ohne Angabe der Autoren: Preußen (1880) bis (1941). Mit Namen der Autoren oder Herausgeber: Preußen (1952) bis Preußen (1969). 93 Die von Jellonnek (1979) angegebene Zahl „300 000 Schulkinder“ findet sich weder in Reumuth (1944) noch in Wessely (1944/ 15.10), N.N. (Anfang 1945) und S.L. (1953). Jellonneks korrekte Angabe „96 Seiten“ findet sich nicht in Reumuth (1944) und S.L. (1953), wohl aber in N.N. (Anfang 1945) (aus Wessely 1944/ 15.10., dem „Berichterstatter“) als seinen Quellen sowie in Wessely (1944, S. 2). Unklar ist, woher dieser die Zahl hat. Angegeben wird die Seitenzahl zudem in Reichspropagandaministerium (1944/ 4.7). <?page no="223"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 223 Aus der neueren Literatur 94 ist nunmehr, das oben Zusammengestellte ergänzend, präzisierend und zugleich bestätigend, bekannt: Der Reichserziehungsminister Rust stimmt dem Vorschlag der Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum zu, ein (reichs)einheitliches Rechtschreibwerk herauszugeben. Leiter der Reichsstelle ist Karl Heinz Hederich; unterstellt ist sie Philipp Bouhler als dem Leiter der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums und dem "Sonderbeauftragte[n] des Führers für das Schul- und Unterrichtsschrifttum“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 5.4.), der zudem Chef der Kanzlei des Führers der NSDAP ist. Zu dieser Prüfungskommission folgender Tagebucheintrag, der mit „nur dies“ nicht jenes und mit Hic Sich-unrechtmäßig-Aufspielen als Präzeptor des nationalen Geisteslebens - Illic unzulänglich ausgebildeter Schriftsteller, zumeist Jude, die oben (vgl. 1.1.2.4 (2) und (3)) vorgestellte dichotomische Struktur mit all ihren Implikationen in Erinnerung bringt: „>Dresdener Zeitung< bringt am 11. Juni [1944] einen informierenden Jubiläumsartikel, >Das Hoheitsrecht im Schrifttunn. Seit zehn Jahren gibt es die parteiamtliche Prüfungskommission, sie hat ihr eigenes Blatt, die Nationalsozialistische Bibliographie^ ihr souverän entscheidender Vorsitzender, zugleich >Chef der Kanzlei des Führers<, ist Philipp Bouhler, dessen Hauptwerk (lesen! ! ) Napoleonmonographie. Aufgabe: die Reinhaltung der nationalsozialistischen Lehre, so wie sie in der Kampfzeit entstanden ist. Was dagegen verstößt, wird nicht zugelassen. Also ganz der päpstlichen Zensur entsprechend. Das Organ scheint ein umgekehrter, positiver Index: Dies hier, nur dies hier ist erlaubt.“ Ausgeschlossen werden soll vor allem, dass „[...] >ein unzulänglich ausgebildeter Schriftsteller, zumeist ein Jude, wenn er in einem weit verbreiteten Organ schreibt, sich als Präzeptor des nationalen Geisteslebens aufspielen kann.< [...]“ (Klemperer 1944, S. 69; 17.6.1944). 95 94 Vgl. Strunk (1998, S. 93); Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 99ff). 95 Ein weiteres Beispiel (vgl. oben 1.1.2.4 (3) und unten 2.1.1.3 (3)) für einen negativen Index mit nicht nur aus dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) bekannten ideologisch positiven Leitwörtern und stigmatisierenden Markierungen: „[...] Reichsminister Rust in seinem Erlass 26.10.1937 [über Volksbüchereien ...]: >Es ist vor allem ihre Aufgabe, das Erbe der völkischen Überlieferung zu pflegen, das für die politische und weltanschauliche Schulung und die Berufsausbildung wichtige Schrifttum bereitzuhalten.<“ Schon zwei Jahre früher heißt es: „[...] laut offizieller Hinweise sollten aus den Volksbüchereien Autoren verschwinden, die die ydeutsche Foftsordnung in ihrer Art und Rasse auflösen<, >die Bedeutung großer EMm-gestalten verneinen<, >die entartete blutleere rein konstruktive Kunst würdigem oder jüdischer Herkunft sind< in: Die Bücherei, 1935, S. 279 f.“ (nach Wulf (Hg.) 1989, Bd. 2, S. 265; Hervorhebungen WM). <?page no="224"?> 224 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Der Vorschlag der Reichsstelle ist einerseits in dem bisherigen Nebeneinander der z.T. voneinander abweichenden Rechtschreibbücher Preußen (1941), Bayern ( 52 1940) oder auch Bayern ( 7 1943) sowie Österreich (1941 [GrA]) und Österreich (1941 [K1A]) begründet sowie andererseits in Bouhlers Bestreben, die Auswahl an Schulbüchern möglichst einzuschränken, was mit dem allgemeinen und speziellen Versorgungsengpass Zusammenhängen mag, von dem unten noch die Rede sein wird. Beabsichtigt das Erziehungsministerium auch zunächst, dieses Rechtschreibbuch, wie bisher das preußische von 1880 an bis 1941, in der Weidmannschen Buchhandlung (Berlin) herauszubringen, so wird ihm jedoch „[...] >nahegelegt< [...,] es im (parteieigenen) Deutschen Schulverlag (Berlin und Bayreuth) zu veröffentlichen“ (Strunk 1998, S. 93). Die von Strunk wahrscheinlich den Dokumenten entnommene Begründung, „da es sich um eine amtliche Veröffentlichung handelte“, trifft dabei nicht so recht den Kern. Denn amtlich ist auch das preußische Orthographiebuch bis hin zur letzten Ausgabe von 1941. Der Grund könnte die mit dem Buch beanspruchte erweiterte, auf das gesamte Reich ausgedehnte Regelungskompetenz sein, was sich auch in dem Fehlen des von 1880 bis 1940 geführten preußisch im Titel zeigt: „Herausgegeben vom im Aufträge des Reichs- und Preußischen “Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (1940; Streichung des „- und Preußischen“ Preußen 1941; Ersatz des „im Aufträge des [...]s“ durch „vom“ 1944). Adressaten von Rust (1944) sind, allgemein gesagt, die Schulen. Das zeigt nicht nur das bisher skizzierte Umfeld, sondern wird auch im Weiteren bestätigt durch z.T. stereotype Formulierungen (wie z.B. den deutschen Schulkindern in die Hand gegeben-, hierzu vgl. unten 2.1.2.4) und durch größere Passagen in den unten ausgewerteten Erlassen, insbesondere auch durch deren Verteiler, sowie durch Bestätigungen vor allem in der zeitgenössischen Literatur. Auch in der Lexikographie findet diese Dichotomie ihren Niederschlag: Hic Haensel/ Strahl (1933) „Politisches ABC des Neuen Reiches“, Wagner (1934) „Taschenwörterbuch des Nationalsozialismus“- Illic Krause (1937) „Jüdische Fremdwörter in der deutschen Sprache“, Krause (1943) „Die jüdische Namenwelt“ (nach Kämper-Jensen 1993, S. 155, 157f„ 164). Zu weiteren Hintergründen vgl. u.a. Müller (1994, S. 62-69). <?page no="225"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 225 All dies dokumentiert, dass dieses Orthographiebuch ab Februar 1944 für die Schulen amtliche Geltung hat und entsprechend, im hier gemeinten Sinne, zu diesem Zeitpunkt als Sprachgesetz zu verstehen ist. (2) Organisatorische Betreuung - Lexikographische Werkstatt: Otto Basler Die organisatorische Betreuung des geplanten Rechtschreibbuches wird dem Deutschen Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (Leiter Rudolph Benze) übertragen, für das, wie unten deutlich wird, Otto Karstadt aktiv im Spiel ist. Die konkrete Ausarbeitung liegt zunächst bei Erich Gierach und Karl Reumuth, und zwar als Einzelpersonen, nicht als Beauftragten irgendeiner Dienststelle. Basler tritt die Nachfolge Gierachs nicht erst nach dessen Tode im Dezember 1943 an (so Strunk 1998, S. 93); sondern auch aus einem Bericht Benzes an Hederich vom 6.7.1944 geht hervor, dass Gierach infolge anderweitiger Belastungen von sich aus, ohne amtliche Rückendeckung, Otto Basler beauftragt, ihn zu vertreten. Dem Wunsch Reumuths und Baslers, sie als Bearbeiter im Verein mit dem Sprachamt der Deutschen Akademie namentlich zu nennen, wird nicht entsprochen. Beratend tätig ist Theodor Frings oder in seiner Vertretung sein Oberassistent Ludwig Erich Schmitt. Die Leitung insgesamt behält der zuständige Sachbearbeiter aus dem Erziehungsministerium. 96 % Mit Karstadt, Gierach, Reumuth, Frings und Schmitt sind Mitglieder der Kommission, die Rust 1941 einberufen hatte (vgl. oben 1.1.3.2 (2)), erneut im Spiel. Frings wird 1948 gemeinsam mit Basler noch einmal in Erscheinung treten (vgl. unten 3.3.2.3 (1)). Die oben für 1943 dargestellte „Aufgabenverteilung muß auf einer Besprechung beschlossen worden sein, die bereits am 15. Dezember 1941 im Reichserziehungsministerium stattfand“ (so Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 100 mit Bezug auf ein Dokument „RME an Gierach, 29.11.1941“). Dadurch schlagen die zwei Autoren den Zeitbogen weit zurück. Doch durch das dispositive muß indizieren die Autoren das Ausgesagte auch hier als Vermutung. Vergleicht man damit weitere von ihnen zusammengestellte Ereignisse von etwa Mitte 1941 bis Mitte 1942, so kommen allerdings Zweifel auf, ob das Vermutete zutrifft. Auf die 1944 wie schon 1941/ 1942 (vgl. oben 1.1.3.2; Der Führer VIII) durch das Geschehen irgendwie irrlichternden (vermeintlichen, angeblichen, erfundenen) positiven Äußerungen des Führers zu einer Rechtschreibreform und auf das damit verbundene und darauf bezogene Hin-und-Her von Aktivitäten und Hick-Hack von Stellungnahmen verschiedener beteiligter Stellen, worüber in Strunk (1998) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) berichtet wird, gehe ich nicht ein. <?page no="226"?> 226 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Gierachs eigenwillige Beauftragung Baslers erfolgt vor dem 8.5.1943 und bekommt nachträglich den amtlichen Segen. In einem Schreiben des Zentralinstituts (31. Mai 1943; Aktenzeichen 564 Lü.) an Gierach - „Betr. Regel- und Wörterverzeichnis. Dort. Schreiben vom 8. und 10. Mai 1943.“ heißt es unter Bezug auf Gierachs „Erklärung über den Auftrag an Herrn Dr. Basler: Die Erklärung ist geeignet, den Mangel eines unmittelbaren ministeriellen Auftrages zu ersetzen.“ Im Weiteren geht es um Probleme der lexikographischen Praxis: „Ergänzungen und Berichtigungen“; Aufnahme von Wörtern „aus dem Gebiete der Jugendverbände [wie Jungvolk mit der amtlichen Abkürzung], der Wehrmacht und der Technik“; Etymologie von hänseln', unter Bezug auf eine Mitteilung des Zentralinstituts vom „16.4.“ die Stichwörter Eis und Eisen. Bezogen auf die „Fahnen 1 - 4“ wird „um Durchsicht möglichst in 2 Tagen und um eine gütigst sofortige Rücksendung“ gebeten. Die Bitte um „Beschränkung von Zusätzen auf die dringlichsten Fälle“ und der Hinweis auf „Personalmangel und [...] Kostenersparnis“ bringen auch hier den Versorgungsengpass zur Sprache (MN.8; Zentralinstitut 1943/ 31.3.; #2.1). Ein Brief des Zentralinstituts (4.6.1943; Aktenzeichen 564) an Basler, „Betr.: Fahnen des Regel- und Wörterbuches.“, zeigt einerseits den Fortgang der Arbeit. So werden nunmehr „die 57 Fahnen, die jetzt im Fahnensatz vorliegen,“ übersendet. Doch andererseits werden auch Probleme aufgerufen. Hingewiesen wird darauf, dass die „Matritzen für Großbuchstaben mit Betonungspunkten [...] noch nicht fertig [sind ... und] später eingefügt [werden]“. Die „deutsche Schreibweise der Fremdwörter mit th, ph und y [sei] noch nicht folgerichtig durchgefuhrt“ und grundsätzlich noch nicht entschieden; wobei das Ministerium auf dem Standpunkt stehe, dass „Änderungen der bisherigen Schreibweise nur Aussicht auf Aufnahme im Volk haben und nur tragbar sind, wenn sie ausnahmslos und grundsätzlich durchgefuhrt werden, sodaß nicht neu gelernt werden muß, welche Wörter mit/ i, t und welche mit ph, y, th zu schreiben sind“. Bezüglich des Umfangs wird vermutet, „daß 6 Bogen bereits erreicht sind“, was 96 Seiten entspricht. Die „Bezeichnung des franz. Nasallautes und des sans mouille [sei] gefallen, und z[war] auf Grund einer Entscheidung des Herrn Ministers“ (MN.9; Zentralinstitut 1943/ 4.6.; #2.2). <?page no="227"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 227 Beide Dokumente sind unterzeichnet mit: „Heil Hitler! Im Aufträge Karstadt“. Wohl von Basler stammende handschriftliche Notizen auf acht Seiten (BN VII. 22; ohne Datum; Basler o.D. (1943? ); #2.3), von denen drei den Aufdruck „Druck: Deutscher Verlag Berlin“ zeigen, lesen sich wie ein Katalog von Gesichtspunkten und Problemen aus der lexikographischen Werkstatt: „Fremdwörter: nicht zuviel, Verdeutschungsbestrebung (1), Bedeutungsangaben: bei Fremdwörtern deutsche Ausdrücke empfehlen (6); Wortnachtrag [Einzelwörter] (2), Ob Aufnahme (z.B. off limits) (7); Bes. Druckzeichen, Tonpunkte Tonzeichen (3); Aussprachezeichen (3-4); [paradigmatische] Gruppen (5); Mundartliches, zu derbe Ausdrücke, zu starke Volkssprache; Länder-, Orts-, Gebirgs-, Berg-, Fluß-, Vornamen (7); Beigaben: 1) Fachwörter der Sprachlehre 2) Vornamen (8).“ 97 Im Dezember 1943 wird die Genehmigung, y durch i zu ersetzen, zurückgezogen (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 104); Anfang Januar liefern die Bearbeiter das Manuskript beim Verlag ab (Strunk 1998, S. 93); im Februar 1944 wird die Streichung der Vornamen veranlasst (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 104). Nach einigem Hin-und-Her um die Schreibung der Fremdwörter wird dann entschieden, „doch bei der neuen Schreibung der Fremdwörter zu bleiben; beide Schreibweisen sollten nebeneinander Geltung behalten. Am 28. März 1944 erteilt [...] das Erziehungsministerium die Druckgenehmigung“ (Strunk 1998, S. 93). In einem Erlass vom 20.5.1944 wird das Bestellverfahren geregelt (vgl. unten 2.1.1.3 (1)). Nach einigem, Ende Juni 1944 einsetzenden politischem Hick-Hack sieht, wohl in der ersten Julihälfte 1944, „die Reichsstelle keinen Grund mehr, den Druck aufzuhalten. 1 Million Exemplare wurden gedruckt, deren Auslieferung aber aufgehalten; der Druck der weiteren drei Millionen wurde gestoppt“ (Strunk 1998, 97 Rätsel gibt ein weiteres, ebenfalls handschriftliches Dokument von zwölf Seiten auf (BN VII.20; ohne Damm; Aufgaben zu Rust (1944) (? ) (1943? ); #2.4), in dem 25 durchnummerierte Aufgaben zusammengestellt sind, deren Paragraphierung genau den Paragraphen der Strecke § 2 bis § 25 in Rust (1944) entspricht. Auf einem Vorblatt wird bescheinigt: „Alles brauchbar, nur zu lang“, und die Kürzung „auf die Hälfte“ empfohlen. Die Unterschrift ist mir ebenfalls ein Rätsel geblieben. Vielleicht gehört dieses Dokument in einen ganz anderen Zusammenhang, wo sich das Rätsel auflösen wird? Deshalb in den obigen Angaben zu diesem Dokument die Fragezeichen. <?page no="228"?> 228 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform S. 94). Nach einer anderen Auskunft war das Buch „zum Teil schon an die Volksschulen ausgeliefert“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12., S. 52). Einen ersten Überblick über Rust (1944) bietet dessen „Inhalts-Verzeichnis“ (#2.14, S. 2). (3) Sekundärliteratur: Textzusammenhänge - Texttradition Mit Blick auf bestimmte, zum Teil nicht nur auf den ersten Blick undurchsichtige Zusammenhänge, die weiter unten erörtert werden, ist folgende Feststellung wichtig: In der einschlägigen Literatur gegenüber der oben (vgl. 1.2) zusammengestellten Negativliste hier gewissermaßen als Positivliste verstanden wird Rust (1944) nicht selten erwähnt. Vorgelegen hat das Buch in seiner authentischen Ausgabe Trausei (1944), (natürlich) Reumuth (1944); im Weiteren Küppers (1984), Mentrup (1985b, 1989/ 18.1., 1993), Böhme (1995) und Kopke (1995). Die IDS-Bibliothek verfügt über zwei Exemplare: QF 784/ a und QF 784/ b, die „Aus der Bibliothek von Herrn Professor Dr. Otto Basler“ (Stempel auf dem Einbanddeckel) stammen. Die Kenntnis von seiner Existenz ist aus einschlägiger Literatur entnommen in Wessely (1944/ 15.10.) aus Reumuth (1944), über den er referiert, N.N. (Anfang 1945) aus Reumuth (1944) (in Wessely 1944/ 15.10.), dem „Berichterstatter“, S.L. (1953) aus Reumuth (1944), der bei ihm abgedruckt ist, Jellonnek (1979) („leider nicht mehr im Original vorhanden“) aus Reumuth 1944 (in S.L. 1953) „zumindest noch indirekt vorhanden“ (S. 57) und aus Reumuth 1944 (in Wessely 1944/ 15.10. (in N.N. Anfang 1945)), Jansen-Tang (1988) aus Reumuth (1944) (in Wessely 1944/ 15.10.), aus Reumuth (1944) (in Wessely 1944/ 15.10. (in N.N. Anfang 1945)) und aus Reumuth (1944) (in S.L. 1953), Hering (1989) aus Dudenredaktion (1955/ 27.10.), Grebe (1968) und aus Mentrup (1989/ 18.1.), Strunk (1992) aus Jansen-Tang (1988), <?page no="229"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 229 Stanze (1994b) („Über den Leihverkehr nicht zu beschaffen.“, S. 152) aus Trausei (1944), Küppers (1984) und aus Jansen-Tang (1988), Bertelsmann (1996) aus („doch ist heute bekannt“; S. 20 ) „Wissen“, Heering (1997/ 26.1.) aus Trausei (1944), Grebe (1968) und aus Bertelsmann (1996). Insgesamt vergleiche in Abb. 29, Zeile 1. Als unklar stellt sich die Situation bei der Dudenredaktion dar. In Duden- Rechtschreibung ( 13 1947) wird Rust (1944) bei der wie auch in früheren Auflagen üblichen Zusammenstellung der jeweils als benutzt angegebenen amtlichen Orthographiebücher nicht angeführt. Doch vermittelt die Eingabe von 1955 (Dudenredaktion 1955/ 27.10.) sowie ein Aufsatz von Grebe (Grebe 1962, nachgedruckt 1968) den Eindruck, das Buch wäre der Redaktion, insbesondere dem damaligen Leiter Paul Grebe, verfügbar und in seinem Inhalt bekannt gewesen. Ein ähnlicher Eindruck entsteht bei der KMK im Umfeld ihres Beschlusses von 1955 (Kultusministerkonferenz 1955/ 18.+ 19.1 La, b und c). Zu den oben angesprochenen undurchsichtigen Zusammenhängen gehört auch, dass mitunter eine abweichende, unkorrekte Wiedergabe des Titels von Rust (1944) vorliegt. Zur Vorbereitung des Abschnitts 3.2.2, in welchem diese Zusammenhänge ausführlicher erörtert werden, wird im Folgenden unter „Titelhinweis“ in Fußnoten auf solches hingewiesen. Festzustellen ist, dass Rust (1944) entgegen anders lautenden Meinungen noch heute, wenn auch offenbar selten, im Original vorhanden und auch über den Leihverkehr zu beschaffen ist. <?page no="230"?> 230 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform I I i! gfi Abb. 29: Rust (1944) - Textzusammenhänge - Texttradition - () in der in diesem Zusammenhang angefUhrten Literatur behandelt, aber nicht aufgegnffen nicht angeführt <?page no="231"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 231 2.1.1.2 20. Februar 1944 - Amtlicher Erlass: Amtliche Zulassung und Einführung In dem Zulassungs- und Einführungsvermerk auf der Rückseite des Titelblattes von Rust (1944) (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) wird auf den Erlass E II a (C6) 5/ 44 vom 20. Februar 1944 hingewiesen. In diesem wird wiederum Bezug genommen auf einen früheren Erlass vom 19. Mai 1943, sodass in diesem Abschnitt zwei Erlasse im Spiele sind. Der erstgenannte lautet: „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis. RdErl. d. RMfWEV. v. 20.2.1944 - EII a (C6) 5/ 44 Die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis^ herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, sind in der neuen Auflage im Deutschen Schulverlag erschienen. Der Preis des Buches beträgt 30 Rpf. Das Buch gilt als Lembuch im Sinne meines Erlasses vom 19. Mai 1943 - E III a 10411/ IIEII, E VI-, Gegen die Benutzung umfangreicherer Wörterbücher in den Schulen bestehen keine Bedenken. An die Unterrichtsverwaltungen der Länder (außer Preußen), die Herren Reichsstatthalter in den Reichsgauen, die Herren Regierungspräsidenten in den Reichsgauen Danzig-Westpreußen, Wartheland und Sudetenland und die nachgeordneten Behörden der Preußischen Schulverwaltung (Abteilung für Volks-, Haupt-, Mittel- und Höhere Schulen sowie für Lehrerfortbildungsanstalten). (MBlWEV. 1944 S. 59)“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.; Kursive WM; #2.5) 98 Aufmerksam gemacht sei auf die Kennzeichnung „in der neuen Auflage“, das mit dem schon bekannten „neu bearbeitet“ (Reumuth 1944; vgl. oben 2.1.1.1 (1)) korrespondiert; wobei beide die Tradition auf der amtlichen Regelungs-Schiene zur Sprache bringen, in der auch Rust (1944) steht. In dem Erlass vom 19. Mai 1943, auf den oben Bezug genommen wird, werden unter 1. die amtlichen Bezeichnungen Lern- und Lehrmittel sowie Lernbuch, das bereits aus dem Vermerk in Rust (1944) bekannt ist, definiert; 98 Erwähnt wird dieser Erlass in Kultusminister Niedersachsen (1948/ 21.12.); Stanze (1994a, S. 202); Böhme (1995, S. 330); Kopke (1995, S. 36, Anm. 247). Neuerdings auch in Strunk (1998, S. 93). Titelhinweis: Die Angaben zum Titel sowohl in der Überschrift als auch im ersten Abschnitt sind korrekt und lassen eine genaue Rekonstruktion zu. <?page no="232"?> 232 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform unter 2. wird der entsprechende amtliche „Vermerk“ als Formular vorgegeben: „Rderl. d. RMfWEV. v. 19.5.1943 -Bill a 1041 I/ II E II, E VI 1. [...] ist zu unterscheiden zwischen Lern- und Lehrmitteln. a) Lernmittel [...]. b) Lehrmittel [...] 2. Als Lembücher oder Klassenlesestoffe dürfen nur solche Bücher verwendet werden, die von mir ausdrücklich als solche eingeführt worden sind. Sie werden in Zukunft auf der Innentitelseite folgenden Vermerk tragen: >Nach Zulassung durch die Reichsstelle für das Schul und Unterrichtsschrifttum als Lembuch eingefuhrt durch Erlaß des Reichserziehungsministers vom ... < Die Schulleiter haben über die an ihren Schulen benutzten Lembücher fortlaufend eine Liste nach (folgendem Muster zu führen: [...] (MBlWEV. 1943 S. 168)“ (Reichserziehungsministerium 1943/ 19.5.; #2.6)" Der Zulassungsvermerk in Rust (1944) stimmt bezüglich der Angabe der amtlich beteiligten und zuständigen Stellen mit dem zugrunde liegenden Erlass vom 20. Februar 1944 überein und überdies in seiner Gesamtheit mit dem im Erlass vom 19. Mai 1943 vorgegebenen Formular. ln dem Verteiler beider Erlasse ist von den Unterrichtsverwaltungen der Länder die in Preußen als einzige explizit ausgenommen („außer Preußen“); die nachgeordneten Behörden der Preußischen Schulverwaltung werden im Weiteren dann angeführt. Deutlich wird dadurch die administrative Vorrangstellung des Reichserziehungsministeriums in der Reichshauptstadt Berlin, im Lande Preußen, gegenüber den Unterrichtsverwaltungen der Länder. Den gesetzlichen Hintergrund für diese Schlussfolgerung habe ich in Kopke (1995) gefunden: Der Reichserziehungsminister war „nach der Übertragung der Länderkompetenzen auf das Reich durch das »Gesetz über den Neuauf- 99 Die Verteiler beider Erlasse (wie auch der des Erlasses vom 20. Mai 1944; hierzu vgl. unten 2.1.1.3 (1)) sind identisch. Der Ausdruck „Lembuch“ findet sich auch in Trausei (1944). Der Erlass vom 19. Mai 1943 wird in der Literatur nicht erwähnt. <?page no="233"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 233 bau des Reichs< vom 30. OLlOSd 262 für das Schulwesen im ganzen Deutschen Reich zuständig 263 .“ " 262 RGBL. 1934 I, S.75: Art. 2 1: >Die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich üben. 263 Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wurde >fur das gesamte Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtswesen des Reichs< durch einen von Hindenburg und Hitler Unterzeichneten Erlaß vom 1.5.1934 errichtet (RGBL. 1934 I, S. 365). Durch einen Erlaß Hitlers vom 11.5.1934 wurde die Zuständigkeit für >Allgemeine Schulangelegenheiten, Volksschulen, Höhere Schülern u.a.m. präzisiert und hinzugefügt: >Auf den bezeichneten Gebieten ist der Reichsminister ... für alle Aufgaben einschließlich der Gesetzgebung federführend< (RGBL 1934 I, S. 375).“ (Kopke 1995, S. 37f.). Als Preis werden im Erlass vom 20. Februar 1944 (wie auch in Reicherziehungsministerium 1944/ 20.5.; vgl. unten 2.1.1.3 (1)) 30 Rpf. angegeben. Auf den IDS-Exemplaren findet sich (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) RM 0,35. Jener Preis gilt auf jeden Fall für die Schulen, dieser ist möglicherweise für den freien Buchhandel gedacht, in den das Buch dann doch wohl nicht gekommen ist. Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 99) berichten mit Bezug auf Dokumente vom 27.6.1944, 25.4.1944 und 10.7.1944 (in Anm. 57) über einen Kampf zwischen der Reichsstelle (Hederich) und dem Erziehungsministerium (Ministerialrat Holfelder) „um 5 Pfennig“, d.h. um „den Betrag, um welchen der Bezugspreis der im Umfang erweiterten Broschüre gegenüber der letzten Ausgabe [des preußischen Orthographiebuches; WM] (30 Pfg.) von 1941 erhöht werden sollte“. Ob bzw. inwieweit die oben aufgezeigte Preisdifferenz hier hineinspielt, weiß ich nicht. An verrutschter Stelle (nämlich in Anmerkung 56) weisen die zwei Autoren daraufhin, dass in den Akten von 30 Pfg. die Rede sei, in der Ausgabe Preußen (1941) hingegen sei der Preis mit 27 Pfg. angegeben. Dies ist zutreffend, wobei sich die „27 Pf.“ bis zur Ausgabe Preußen (1932) zurückverfolgen lassen. Dass auch solche Preise Dokumente für das Zeitgeschehen sein können, zeigt die Preisentwicklung auf der preußischen Linie, und hier speziell die für die Jahre 1917 bis 1921 mit Blick auf die Inflation (vgl. Abb. 30). <?page no="234"?> 234 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1902- 1915 1917 1918 1920 1921 1927 1930+ 1931 1932- 1941 Rust (1944) 15 Pfg. 20 Pfg. 30 Pfg. 60 Pfg. 1 M. 20 Pfg. 30 Pfg. 27 Pfg. RM 0,35 bzw, 0,30 Rpf. Abb. 30: Preisentwicklung des preußischen Rechtschreibbuches ' Der Erlass vom 20. Februar 1944 dokumentiert die administrative Handlung, die dem Zulassungs- und Einfuhrungsvermerk speziell in Rust (1944) zugrunde liegt und zu diesem geführt hat. Der Erlass vom 19. Mai 1943 dokumentiert und steckt den allgemeinen Rahmen ab für amtliche Vorgänge dieser Art. In dem Erlass vom 20. Februar 1944 ist mit großer Selbstverständlichkeit von „der neuen Auflage“ die Rede, in der das Orthographiebuch erscheint, ohne dass präzisiert wird, um welche Auflage welchen Orthographiebuches es sich handelt. Diese verkürzte, lakonische Redeweise führe ich auf die Insider-Perspektive zurück, aus der heraus aufgrund des Insider-Wissens Kembegriffe, eher stichwortartig, zur Information (zu) genügen (scheinen); was jedoch Outsidern und insbesondere späteren Generationen aus der Retrospektive oft Rätsel aufgibt und vieles als im Dunkel liegend erscheinen lässt, mit nicht selten widersprüchlichen Deutungen als Folge. 2.1.1.3 20. Mai 1944 - Amtlicher Erlass und weitere Erlasse: Versorgungsengpässe (1) Probleme: Versorgung der Schulen mit dem neuen Orthographiebuch In einem weiteren Erlass vom 20. Mai 1944 kommen neben organisatorischen Fragen auch zeitbedingte und dabei nicht nur schulbezogene Probleme zur Sprache, insgesamt geht es um die aufgrund der Zeitereignisse nur eingeschränkt mögliche praktische Versorgung der Schulen mit dem neuen Orthographiebuch: „Regeln für die deutsche Rechtschreibung mit Wörterverzeichnis. RdErl. d. RMfWEV. v. 20.5.1944 - E It a (C6) 27/ 44 -. 100 Die Preisangaben sind den jeweiligen Ausgaben (Umschlag vorne außen) entnommen. <?page no="235"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 235 Die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung mit Wörterverzeichnis< werden als reichseinheitliches Buch nach dem gleichen Verfahren bestellt wie die Kriegslembücher. (Vgl. Abschnitt B des Erlasses vom 3. Mai 1944 -Ela (4 Schriftt.) 21/ 44 -.) 101 Die Schulen erhalten vom Deutschen Schulverlag ein Bestellformular, das gemäß Abschnitt 1 b Ziffer 4 und 5 des genannten Erlasses auszufullen und weiterzuleiten ist. Zur Zeit kann jedoch nur der Bedarf der 4. Klassen der Volksschulen gedeckt werden. Es sind deshalb nur soviel Stücke zu bestellen, wie (einschließlich der Lehrerhandstücke) für die Schüler und Schülerinnen der 4. Klassen (Stufen) der Volksschulen benötigt werden. Die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< sollen den Schüler während seiner ganzen Schulzeit begleiten. Deshalb sind die Stücke, die von den Schulträgern für die Leihbücherei für Lembücher beschafft worden sind, ausnahmsweise nicht auszuleihen, sondern gegen Erstattung des vollen Preises von 0,30 ÄMden Schülern und Schülerinnen zum Eigenbesitz auszuhändigen. Soweit die Vorausetzungen für die Gewährung freier Lernmittel vorliegen, sind die Stücke kostenlos abzugeben. Im Aufträge: Frank. [...] (MBlWEV. 1944 S. 136)“ (Reichserziehungministerium 1944/ 20.5.; Kursive WM; #2.7) 1H2 Die Kennzeichnung dieses ‘Kriegslembuchs’ als „reichseinheitliches Buch“ für die ganze Schulzeit erinnert an das bisherige Nebeneinander der Orthographiebücher Bayerns, Österreichs und Preußens, das ja nunmehr beseitigt werden soll. Mit diesem Erlass wird das Verfahren für die Bestellung der Stücke geregelt, wobei zunächst nur der Bedarf der 4. Klassen abgedeckt ist. 103 101 Zum ideologischen Hintergrund der Wendung „als reichseinheitliches Buch“ vgl. oben 1.1.2.4 (1). 102 Titelhinweis: In dem Erlass wird zweimal als Titel „Regeln für die deutsche Rechtschreibung mit Wörterverzeichnis“ angegeben; d.h.: statt des und in Rust (1944) findet sich unkorrekterweise ein mit. Im Weiteren findet sich einmal „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“, also eine Verkürzung, die sich aus dem Kontext erklären lässt. Die Beteiligung des Deutschen Schulverlages geht aus der Beschreibung des Bestellverfahrens hervor. Außer in Stanze (1994a, S. 202f), die auf diesen Erlass ausführlich eingeht, wird er nur noch in Kopke (1995, S. 36, Anm. 247) erwähnt. Der Verteiler des Erlasses ist identisch mit dem der Erlasse vom 20. Februar 1944 (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.) und vom 19. Mai 1943 (Reichserziehungsministerium 1943/ 19.5.; zu beiden vgl 2.1.1.2). <?page no="236"?> 236 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Immerhin erscheint es schon als Kuriosum, dass ein Schulbuch, an dem im Februar 1944 noch gearbeitet wird, im gleichen Monat per Erlass (20.2. 1944) amtlich wird, dass dessen Druckgenehmigung erst mehr als einen Monat (28.3.1944) später erteilt und seine allgemeine Verteilung ca. zwei weitere Monate danach (20.5.1944) geregelt wird. Der Zeitplan muss ganz schön durcheinander geraten sein. Birken-Bertsch/ Markner (2000) lassen diese profane Ebene der Erlasse (fast ist man versucht zu sagen: natürlich) außen vor. Wenn sie, bezogen auf einen Zeitungsartikel über Rust (1944) Ende Juni 1944, schreiben: „Anlaß der Veröffentlichung war kein Gesetz, auch keine Verordnung, sondern die Broschüre [...], die das Reichserziehungsministerium zum Beginn des neuen Jahres auszuteilen beabsichtigte“ (S. 96), so entspricht diese Formulierung zwar ihrer Vorstellung von Rusts ‘klandestiner Operation’ (vgl. oben 1.1.3.3), doch weder die eine noch die andere der Veröffentlichung der amtlichen Erlasse im Hausblatt des Reichserziehungsministeriums. (2) Kriegslernbücher: Erweiterte Versorgungsprobleme - Erlasszusammenhänge Der im Erlass vom 20.5.1944 anklingende „Versorgungsengpaß“ (Stanze 1994a, S. 203) ist damals im Deutschen Reich ein allgemeines Problem, das hier mit weiteren sechs Dokumenten auf der Erlass-Schiene ‘(Kriegs-) Lembücher’ vorgestellt wird. In dem früheren Erlass vom 3. Mai 1944 „Kriegsmaßnahmen zur Versorgung mit Lembüchem; hier: Austausch der Bestände der Schulen, Ankauf der bei den Sortimentern und Verlegern vorhandenen Restbestände und Bestellung der Kriegslembücher.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 3.5.; #2.8), auf den in dem Erlass vom 20. Mai 1944 (vgl. oben (1)) verwiesen wird, findet sich ein weiterer Rückverweis auf einen recht umfangreichen Erlass vom 5. April 1944, der detailliert geregelte „Kriegsmaßnahmen zur Versorgung mit Lembüchem.“ enthält (Reichserziehungsministerium 1944/ 5.4.; #2.9). 103 Wie sich die von Jellonnek (1979, S. 57) angegebene Zahl von 300.000 Schulkindern, an die das neue Schulbuch verteilt worden ist (vgl. oben 2.1.1.1 (1)), zu dem Bedarf der 4. Klassen verhält, weiß ich nicht. <?page no="237"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 237 Aus dem Beginn dieses Erlasses geht hervor, dass das Versorgungsproblem nicht nur die zwei bereits bekannten beteiligten und zuständigen Zentralstellen betrifft, sondern auch weitere: „Die durch den Krieg bedingten Einschränkungen in der Herstellung von Lembüchem geben Veranlassung zu nachstehenden, im Einvernehmen mit der Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum, den Reichsministem des Innern und der Finanzen und dem Preußischen Finanzminister getroffenen Anordnungen. Zur Begründung und Erläuterung der Maßnahmen wird der Sonderbeauftragte des Führers für das Schul- und Unterrichtsschrifttum, Reichsleiter Philipp Bouhler, demnächst in einem besonderen Rundschreiben Stellung nehmen.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 5.4.) Den angesprochenen Erlassen vom 5. April 1944 (Reichserziehungsministerium 1944/ 5.4.), 3. Mai 1944 (Reichserziehungsministerium 1944/ 3.5.) und 20. Mai 1944 folgen weitere: 28. Juni „Lembücher für Lehrerbildungsanstalten.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 28.6.; #2.10), 31. Juli „Leihgebühr für Überlassung von Lembüchem.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 31.7.; #2.11), August „Kriegsmaßnahmen zur Versorgung mit Lesebüchern.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 1.8.; #2.12), 29. September 1944 „Kriegsmaßnahmen zur Versorgung mit Lembüchem; hier: Bedarf der Umsiedlerkinder.“ (Reichserziehungsministerium 1944/ 29.9.; #2.13). All diese dokumentieren aus ministerieller Sicht die durch den Krieg bedingten Schwierigkeiten der Versorgung mit (Kriegs-)Lembüchem unterschiedlichster Art (vgl. im Einzelnen die Dokumente im Anhang) auch hier, insgesamt, im Sinne eines weitreichenden Wirkungszusammenhangs 104 (vgl. Abb. 31, in der unter 1941 der Ersatz der Fraktur durch die Antiqua nachgetragen ist). 105 104 Diese Erlasse werden aus erklärlichen und einsehbaren Gründen in der Literatur nicht erwähnt. 105 Auf diese Erlasse weisen, wenn auch in je spezifischer Auswahl, Küppers (1984, S. 110) (pauschal auf die beiden vom 1.9.1941) und Hering (1989, S. 376f.) hin. Letzterer druckt den Erlass vom 12.8. und den auf den Leseunterricht bezogenen vom 1.9. im Anhang als Faksimile ab. <?page no="238"?> 238 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform REM u.Ä. Inhalt Fundstelle hier T Rückverweise Trausei (1944) 3. Reumuth (1944) Wessely (1944) N.N. (1945) S.L. (1953) Grebe (1968) 1941 Fraktur Antiqua 1.1.2.1 1.9. a)_ h) 1.9.a Schreibunterricht 1.1.2.1 1.9.b l^seunterricht 1.1.2.1 1943 19.5. Vermerk für Lembücher 2.1.1.2 1944 d) e) D g) hT Ti 20.2. Rust: Zulassung + Einführung 2.1.1.2 Rust (1944) Orthographiebuch tAbb. 21.1 Zeile 1 2.1.1.1 td >3 >4 >3 5.4. Versorgung: Lembücher allgemein. 2.1.1.3 3.5. Versorgung: Austausch, Ankauf etc. 2.1.1.3 tf 20.5. Bestellverfahren. Versorgung: Rust 2.1.1.3 t e, j 28.6. Versorgung: Lehrerbildungsanstalten 2.1.1.3 1L_ k) 4.7.RPgM Bericht über Rust 2.4.1 31.7. Versorgung: Leihgebühr 2.1.1.3 tf 1) m) 1.8. Versorgung: Nachträge zu g 2.1.1.3 29.9. Versorgung: Umsiedlerkinder 2.1.1.3 1948 n) 21.12. NS Bericht über Rust 2.4.5 t d, r + = angeführt > = Kenntnis aus ... - = nicht angeführt (Zahl) = im Literaturverzeichnis geführt, aber in diesem Zusammenhang nicht angeführt Der Beginn der Zählung mit „2.“ erklärt sich aus Abb. 29. Abb. 31: Rust (1944) - Erlasszusammenhänge <?page no="239"?> Rust {1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 239 8. Jellonnek (1979) Küppers (1984) 10. Jansen- Tang (1988) 11. Hering (1989) 12. Strunk (1992) 13. Stanze (1994) 14. Böhme (1995) 15. Kopke (1995) 16. Bertelsmann (1996) 17. Heering (1997) 1941 + 1941 >10 1941 >5,6 >4,5,6 (8, 9) >7 > 10 (9) >2, 9, 10(12) „Wissen“ > 2, 7, 16 <?page no="240"?> 240 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Auch in der Öffentlichkeit des Inlands wie auch im Ausland kommt das Problem dieses Engpasses in Zusammenhang mit der Zulassung und der Einführung von Rust (1944) zur Sprache. So wird u.a. die Äußerung referiert: „[...] das Reichserziehungsministerium [...] sollte sich [...] eine schnelle Lösung des Schulbuchproblems angelegen sein lassen“ (Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7.). Aus der Schweiz heißt es: „[...] wenn sie in Deutschland heutzutage, wo die Zeitschrift > Muttersprächet des Deutschen Sprachvereins [seit 1944; WM] nicht mehr erscheinen und sogar der Duden nicht mehr gedruckt werden kann, weil es an Druckern und Papier fehlt, wenn sie gerade jetzt den Schulkindern ein neues Regelbuch in die Hand drücken zu können glauben, ist das ihre Sache“ (N.N. Anfang 1945, S. 24; Kursive WM). Auch hier die (aus oben 1.1) hinreichend bekannte doppelte Perspektive Inland und Ausland, wenngleich nunmehr gewissermaßen in entgegengesetzter, gegenläufiger Richtung. (3) Kriegswirtschaft: Notzeiten oder Zeitnöte Dass dieser Engpass auf dem Schulbuchsektor nur eines der kriegsbedingten schulischen Probleme neben vielen anderen ist, geht eindrucksvoll aus weiteren Erlassen im Amtsblatt des Reichserziehungsministers hervor, die sich im Umfeld der oben besprochenen und im Anhang wiedergegebenen Erlasse finden. Auch diese sind ein Spiegel des Zeitgeschehens. Verbot der Aufbewahrung von „Arznei- und Teekräutem“ und „gesammeltefn] Heilkräuterfn]“ auf den Böden der Schulgebäude „zur Verbesserung der Luftschutzmaßnahmen“ und zur Vermeidung einer „Gefährdung der Heil- und Teekräutersammlung“ (1.3.1944; #2.5) „Zuteilung von Seife und Waschmitteln an Schulen zur Durchführung des Wasch- und Kochunterrichts.“ (9.3.1944; #2.5) „Ausgleich von Unterrichtsmitteln, -geräten und Handwerkszeug unter den Berufsschulen.“ (3.5.1943; #2.6) „Zuteilung von Webgamen aus Zellwolle und anderen Industriegamen und Gespinsten“ nur noch für bestimmte Schularten u.Ä. (23.5.1944; #2.7) „Beschaffung von Scheuertüchern für Schulen.“ (27.4.1944; #2.8) 106 „Sammlung von Pilzen für Wehrmacht und Zivilbevölkerung.“ (2.5.1944; #2.8) 106 Vgl. auch: „Im gleichen Blatt [>Dresdener Zeitung< 17.8.1944] Verbot, sich nach alten, kriegsüberholten Hausordnungen zu richten: Man dürfe Haustreppen privat wie im Geschäft und Fabrik nur einmal wöchentlich naß wischen - Scheuertücher müßten gespart werden.“ (Klemperer 1944, S. 102; 19.8.1944; Kursive WM). <?page no="241"?> Rust {1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 241 „Sicherung der Lehrmittel der berufsbildenden Schulen vor Fliegerschaden.“ (18.7.1944; #2.10) „Kriegsgefangenenbetreuung auf dem Gebiet des berufsbildenden Schulwesens.“ (1.7.1944; #2.11) „Beschaffung von Zeichengeräten, Reißzeugen, Zirkeln, Rechenstäben usw. für allgemeinbildende Schulen.“ (26.7.1944; #2.12) „Herstellung von Schulmöbeln [...]“ (30.9.1944; #2.13) Zur damaligen Situation noch drei Schlaglichter: 1939 bis Ende 1943 Sarkowski (1976, S. 166; Kursive WM) berichtet über die Situation des Bibliographischen Instituts Leipzig von 1939 bis Ende 1943: „In der Druckerei erfolgte der Übergang von derfriedensmäßigen Produktion des Jahres 1939 auf die totale Kriegswirtschaft in kleinen Schritten: Dem Betrieb wurden immer mehr Arbeitskräfte entzogen, die durch halbtags tätige Hausfrauen ersetzt werden mußten. Material, insbesondere Papier und Hilfsstoffe, wurde immer knapper, und das Auftragsvolumen des zivilen Sektors ging ständig zurück. Da für jeden Auftrag eine behördliche Druckgenehmigung erforderlich war, konnte das Regime die Buchproduktion ganz nach seinen Wünschen steuern. [...] Wehrbezirkskommando und Arbeitsamt stellten nur noch Arbeitskräfte frei, wenn kriegswichtige Aufträge nachgewiesen werden konnten. Schließlich waren Frontbuchhandelsausgaben und, in zunehmendem Umfang, Kriegskarten für die Wehrmacht die einzigen Aufträge.“ (Zu den Auswirkungen der Bombenschäden 1943 bis 1945 vgl. unten 3.1.2.2.) Erinnert sei daran (vgl. oben 1.1.3.2 (2)), dass das Vorwort der Normalschriftausgabe der 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1942 sich auf den „Erlaß des Reichserziehungsministeriums vom 1. September 1941“ (Ersatz der Fraktur durch die sog. Normalschrift) bezieht, selbst aber mit „im November 1942“ datiert ist. Möglicherweise hängt diese doch recht lange Zeit-Zwischenspanne mit der von Sarkowski geschilderten Notsituation zusammen. 1943 In der Zeitschrift „Muttersprache [...] 58. Jahrg. 1943 Berlin Schlußheft“ wird auf Seite 42 „Abschied von der >Muttersprache<“ genommen (Kursive WM): „Die Kriegswirtschaft erfordert stärkste Zusammenballung aller Kräfte. Diese Zusammenfassung macht es notwendig, daß unsere Zeitschrift mit dem heutigen Tage bis auf weiteres ihr Erscheinen einstellt, um Menschen und Rohstoffe für andere kriegswichtige Zwecke frei zu machen.“ <?page no="242"?> 242 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Der vorausgehende Versorgungsengpass zeigt sich auch in der Abnahme der Umfänge: Jahrgang 48/ 1933 51/ 1936 52/ 1937 53/ 1938 54/ 1939 55/ 1940 56/ 1941 57/ 1942 58/ 1943 Seiten 448 519 495 439 343 191 192 184 72 Abb. 32: Umfang der Zeitschrift Muttersprache Ihr ‘Wiedererstehen’ fällt in das Jahr 1949 mit 384 Seiten, aber ohne explizite Angabe des Jahrgangs. Diese findet sich in Form der stillen Weiterzählung mit 59 für 1949 usw. erst mit „Muttersprache [...] 75. Jahrgang 1965“. Beide Schlaglichter bringen die gegenüber Rusts 2. orthographischer Intiative von 1941 ablehnende Stellungnahme des Reichsinnenministeriums vom 2.2.1942 in Erinnerung: Die Kriegslage fordere „auch im zivilen Sektor die Bereitstellung aller Kräfte für den Endsieg“ und „die Vereinfachung der Rechtschreibung [...dürfte] als kriegswichtig nicht anerkannt werden.“ (vgl. oben 1.1.3.2 (2); einfache Kursive WM). Vergleicht man die im Vorstehenden kursiv gesetzten Ausdrücke mit dem Vokabular, das oben im Zusammenhang insbesondere mit dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und ( 2 1939) ausführlicher erörtert worden ist (vgl. 1.1.2), so zeigt die neue Dichotomie: Hic totale Kriegswirtschaft, Kriegskarten, Endsieg - Wie friedensmäßige Produktion, ziviler Sektor, nicht kriegswichtig, einen grundlegenden Wechsel des Paradigmas; was auch dadurch, gewissermaßen negativ, zur Sprache kommt, dass 1934 im Spezialverzeichnis nationalsozialisticher Ausdrücke Frieden wie auch Sieg und Endsieg als Einträge nicht geführt sind und Krieg nur als Bestandteil in Kriegsschuldlüge lemmatisiert ist. Schon innerhalb dieses kurzen Zeitraums und unter demselben Regime bestätigt sich: „Wie die Zeiten sind / so sind auch die Wort; und hinwiedemmb wie die Worte sind / so sind auch die Zeiten.“ (J. M. Moscherosch 1643; Henne/ Mentrup 1983, S. 7). März 1944 Im Droste Geschichts-Kalendarium (Band 2/ II Manfred Overesch: Das Dritte Reich 1939-1945; Düsseldorf 1983, S. 459) findet sich unter dem 23. Februar 1944 der Eintrag: „Auf der >Verlags-Sperrliste März 1944< erscheinen u.a. Bibliographisches Institut, Leipzig, Brockhaus-Verlag, [...] <?page no="243"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 243 Schöningh, Westermann u.v.a.m. Diese Verlage können bis auf weiteres nicht mehr ausliefem.“ (nach Heering 1997/ 12.9.). Werner Heering, dem ich für seine Informationen herzlich danke, führt im Weiteren aus: „Verlags- Sperrliste war die offiziell verwendete Bezeichnung für eine Liste, auf der die im Dritten Reich nicht erwünschten Autoren verzeichnet waren. Wer auf der Sperrliste stand, hatte bis 1945 keine Möglichkeit, unter seinem Namen ein Werk in Deutschland veröffentlichen zu können.“ 107 2.1.2 Zeitzeugen Rust (1944) wird im gleichen Jahr einerseits bereits in einem Orthographiebuch als Quelle benutzt (vgl. 2.1.2.1), andererseits sorgt ein Aufsatz von Karl Reumuth in mehreren Zeitungen dafür, dass die Öffentlichkeit in Deutschland, im Inland, über Rust informiert wird (vgl. 2.1.2.2). Dies bleibt im Ausland, genauer in der Schweiz, nicht unbemerkt (vgl. 2.1.2.3). 2.1.2.1 Trausei (1944): Orthographiebuch mit Bezug auf Rust (1944) Im gleichen Jahr wie Rust (1944) erscheint: „Wörterbuch / für / Rechtschreiben und Rechtlauten / der / Reichssprache / / mit einer Einführung in die Rechtlautung der deutschen / Hochsprache und mit besonderer Berücksichtigung der / Wortbedeutung und der Wortbildung / / bearbeitet / von / W. Trausei / / 1944 / / Roland-Verlag Trausei, Reichenberg“ (Titelseite). Auf der Rückseite des Titelblattes heißt es: „Die Rechtschreibung des >Wörterbuches für Rechtschreiben und Rechtlauten der Reichssprache< richtet sich nach dem Buche »Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis< (Deutscher Schulverlag Berlin, 1944), das von der Reichsstelle für Schul- und Unterrichtsschrifttum zugelassen und vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung als Lembuch an allen Schulen eingeführt wurde.“ In deutlicher Anlehnung an den Zulassungs- und Einführungsvermerk in Rust (1944) (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) übernimmt Trausei den Ausdruck „Lern- 107 Mit der „Verlags-Sperrliste“ kommt ein weiterer Index ins Spiel, im Unterschied zur „Nationalsozialistischen Bibliographie“ (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) ein negativer. <?page no="244"?> 244 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform buch“, nennt die amtlich beteiligten und zuständigen Stellen und weist im folgenden Zitat das Reichsministerium zudem als den Herausgeber aus: „Eine vollständige, plötzliche Umgestaltung der Rechtschreibung zur lauttreuen Schreibung [...] kann nur schrittweise erfolgen. Einen solchen Schritt hat 1944 das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung durch Herausgabe des Büchleins >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis< getan, das die abgeänderte Einheitsschreibung verbindlich für sämtliche Schulen des Reiches vorschreibt.“ (Trausei 1944, S. 8) 108 All dies bezeugt und bestätigt, nunmehr aus der Sicht eines inländischen Zeitzeugen, die bereits festgestellte damalige amtliche Geltung von Rust (1944) für die Schulen. Wie Trausels Buch ist schon 1939 eine Ausgabe des sächsischen Orthographiebuches (Sachsen 1939) mit dem Trausei-Verlag verbunden, d.h. „in Gemeinschaft mit dem Roland Verlag Trausei & Co., Reichenberg“ erschienen, und zwar speziell „für die sudetendeutschen Gebiete“, was an die Nennung des Sudetenlandes in dem Verteiler einiger Erlasse (vgl. oben 2.1.1.2) erinnert. 2.1.2.2 Reumuth („Anfang 1944“/ Ende Juni 1944): Zeitungsberichte über Rust (1944) (nach S.L. 1953) S.L. (1953) geht zu Beginn seines Berichtes (S. 99), der mir von Gunnar Böhme, Rostock, vermittelt worden ist, zunächst kurz auf die Umstellung von der Fraktur auf die Antiqua am 1. September 1941 durch die Nationalsozialisten ein. Im Weiteren geht es um deren Bemühen im Jahre 1944, auch „unsere komplizierte Rechtschreibung“ zu vereinfachen. „Zu Anfang des Jahres 1944 war es soweit. Unter der Überschrift >Neue deutsche Rechtschreibung< veröffentlichten einige deutsche Zeitungen einen Aufsatz, des- 108 Titelhinweis: Der zweimal angeführte Titel „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“ ist korrekt, der Deutsche Schulverlag Berlin wird einmal genannt. Trausei (1944) wird nur in Stanze (1994a und b) sowie in Heering (1997/ 26.1.) angeführt. Jetzt auch in Birken-Bertsch/ Markner (2000). Ein Exemplar befindet sich in der IDS- Bibliothek. Signatur: UD 17. Auch dies stammt, wie Rust (1944) (vgl. oben 2.1.1.1 (3)), „Aus der Bibliothek von Herrn Professor Dr. Otto Basler“ (Stempel auf dem Schmutzblatt). <?page no="245"?> Rust {1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 245 sen nachstehend abgedruckter Text für die Leser des >Sprachwarts< von Interesse sein dürfte.“ Der von S.L. (1953) zitierte Zeitungstext beginnt wie folgt: „Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hat die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< neu herausgegeben. Dozent Dr. Karl Reumuth gab folgenden kurzen Überblick über die wichtigsten Abweichungen von der bisherigen Schreibung: In der Liste der Schulbücher, die von der Reichsstelle für Schul- und Unterrichtsschrifttum aufgestellt wurde, sind auch die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< aufgeführt. Dieses Büchlein wird in den kommenden Wochen den deutschen Schulkindern in die Hand gegeben werden. Es ist im Aufträge des Reichserziehungsministers neu bearbeitet worden und bildet nunmehr die amtliche Grundlage für die deutsche Rechtschreibung.“ (Reumuth 1944, nach S.L. 1953, S. 100; (#2.15); Kursive WM). 109 109 Jellonnek (1979, S. 57) stellt (mit Bezug auf S.L. 1953) zunächst irrigerweise fest, dass Rust (1944) „nicht mehr im Original vorhanden“ ist. Im Weiteren heißt es: „Im >Vorabdruck< hatte jedoch sein Referent Dr. Karl Reumuth in zahlreichen deutschen Zeitungen unter dem Titel >Neue deutsche Rechtschreibung< die einzelnen Regeln (...) vorgestellt.“ Der von Jellonnek als Zitat gekennzeichnete Ausdmck „Vorabdruck“ findet sich weder in Reumuth (1944) noch in Wessely (1944/ 5.10.) noch in N.N. (Anfang 1945) noch in S.L. (1953), seinen Quellen. Angesichts des von S.L. zitierten Zeitungstextes ist der Ausdruck Vorabdruck in Frage zu stellen, was festzustellen allerdings alles andere als wichtig ist. Das genaue Erscheinungsdatum der Zeitungen mit Reumuths Artikel ist (nicht nur) mir nicht bekannt: „Leider waren die Veröffentlichungen (u.a. ‘Leipziger Neueste Nachrichten’) nicht mehr zu ermitteln.“ (Jellonnek 1979, S. 62, Fußnote 44). Einerseits erscheint die Zeitangabe „Anfang des Jahres 1944“ (S.L. 1953, S. 99) u.a. in Hinblick auf den Erlass vom 20. Febmar 1944 (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.; vgl. oben 2.1.1.2) als plausibel, doch andererseits heißt es in einem Geheimbericht vom 4.7.1944 (Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7.): „Unter der „Überschrift >der Filosof und das Plato< und ähnlichen veröffentlichten viele Zeitungen in der vergangenen Woche Artikel zu den neuen [...] >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnist, [...]“ (Küppers 1984, S. 112). Daraus lässt sich als allgemeines Datum Ende Juni 1944 erschließen, das ich für zutreffend halte, weil es sich auf die Aussage eines unmittelbaren Zeitzeugen stützt. Diese meine Einschätzung von 1998 wird in der neueren Literatur bestätigt: Am 27.6.1944 erscheint im Hannoverschen Kurier Reumuths Artikel ^osfor, Kautsch, Plato, Ragu, Tese, Träner. Neue Regelung für die Rechtschreibung.“ (Strunk 1998, S. 93f.; vgl. auch Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 96). Wie schon in dem Bericht des Propagandaministeriums 1944 und in Jellonnek (1979) wird in beiden Arbeiten berichtet, dass dieser Artikel auch in anderen Zeitungen erscheint, und zwar schon vor dem 27.6.1944 (so die zwei Autoren), die (auf S. 98) einen „Artikel, kürzer gehalten als der Reumuths, aber [wie <?page no="246"?> 246 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Der Zeitungsartikel nennt, wie schon der Vermerk in Rust (1944) (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) und der Erlass vom 20. Februar 1944 (Reichserziehungsministerium 1944/ 20.2.), die amtlich beteiligten und zuständigen Stellen, bestätigt den Reichserziehungsminister nicht nur als den Herausgeber, sondern weist ihn auch als den Auftraggeber dieses "neue[n] Regelbuch[es]“ aus, spricht, zusammenfassend und global, zweimal von "de[m] Gesetzgeber“ und stellt fest: „Dieses Büchlein [...] bildet nunmehr die amtliche Grundlage für die deutsche Rechtschreibung.“ 110 Auch hier ist, in Übereinstimmung mit dem Erlass vom 20. Februar 1944, wie selbstverständlich und ohne weitere Präzisierung - Insider-Wissen und Insider-Perspektive von einer neuen Auflage („neu herausgegeben“) und zudem von einer neuen Bearbeitung („neu bearbeitet“) die Rede. Darüber hinaus kennzeichnet Reumuth (1944, S. 100) das ihm mit Sicherheit authentisch vorliegende - und aufgrund seiner Mitarbeit daran bestens bekannte 111 - „neue Regelbuch“ und seinen Inhalt so: „Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt.“, und breitet detailliert die in Rust (1944) vorgesehenen Änderungen gegenüber „der gesetzlichen Regelung“ aus. Die Veröffentlichung von Reumuths Artikel steht in auffälligem Gegensatz zu der bisher amtlicherseits strikt geforderten und weitgehend eingehaltenen Geheimhaltung aller einschlägigen Unternehmungen. Die Artikelüberschrift dokumentiert die schon aus früheren Zeiten und auch aus jüngster Vergangenheit bekannte Struktur, durch Häufung ungewohnter Schreibungen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen und Ablehnung bei den Lesern in der betroffenen Sprachgemeinschaft zu provozieren. Dies lässt darauf schließen, dass die abschreckenden Beispiele der eigentlichen Reumuth- Überschrift „Neue Regelung für die Rechtschreibung“ von der Zeitungsredaktion ‘übergejubelt’ worden sind, was auch aus der jüngeren Vergangensie so schön sagen; WM] von ähnlicher Machart“ unter der Überschrift „Volkstümliche Rechtschreibung“ in den Münchner Neuesten Nachrichten vom 22.6. 1944 nachweisen. 110 Titelhinweis: Als Titel wird nur „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ geführt, also eine Verkürzung, was sich auch hier aus der Insider-Perspektive erklären lässt. Reumuth (1944) in S.L. (1953) bzw. dieser wird in Jellonnek (1979), Küppers (1984) und Jansen-Tang (1988) angeführt. Jetzt auch in Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 16f.), wenn auch mit der falschen Jahreszahl 1954. 111 Diese Präzisierung ist durch Strunk (1998) ermöglicht. <?page no="247"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 247 heit bekannt ist. Und es verwundert nicht, dass sowohl die Öffentlichkeit als auch eine der Zentralstellen, entsprechend negativ, prompt und zudem heftig reagieren (dazu vgl. unten 2.4.1). 2.1.2.3 Wessely (1944/ 15.10.), N.N. (Anfang 1945): Berichte aus dem Ausland Am 15. Oktober 1944 erscheint in der Zeitschrift „Schweizer Graphischer Zentralanzeiger“ ein Artikel mit der Überschrift „Wieder eine Reform der deutschen Rechtschreibung“ von ,JFranz Wessely (Wien)“ (#2.16). Er klagt zunächst über die mehrmalige Abänderung der Rechtschreibung seit Konrad Dudens Zeiten durch „Wissenschaftler und Schulmänner am grünen Tisch“, die diese ohne Rücksicht auf das graphische Gewerbe zu nehmen und ohne entsprechende Fachleute heranzuziehen durchgeführt hätten: „Dies wurde stets von uns Buchdruckern übel vermerkt.“ „Nun hat abermals der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von sich aus in dieses häufig kritisierte Volksgut eingegriffen und >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< erlassen. [...] Dozent Dr. Reumuth gibt in den >Leipziger Neuesten Nachrichtem diesbezüglich eine klare Uebersicht über das 96 Seiten starke Büchlein, das in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt wird.“ (Wessely 1944/ 15.10., S. 2). Ein Referat der wichtigsten Änderungen schließt sich an." 2 1945 folgt als Echo: „Aus Deutschland kommt die Kunde*, der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung habe >von sich aus< in die Rechtschreibung eingegriffen und Regeln erlassen, die in einem 96 Seiten starken Büchlein in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt würden.“ So beginnt der Artikel „Eine neue Rechtschreibung? “ mit einem Umfang von fünfeinhalb Seiten, der in Heft 1, und damit wohl Anfang 1945, in der vom Deutschschweizerischen Sprachverein herausgegebenen „Schweizerischen Zeitschrift für die Muttersprache“, dem „Sprachspiegel“, ohne Nennung des Autors erscheint (N.N. Anfang 1945; #2.17). In der mit * markierten Fußnote (24) wird „Franz Wessely (Wien)“ mit seinem eine gute Spalte 112 Titelhinweis: Der verkürzte Titel „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ stammt aus Reumuth (1944). <?page no="248"?> 248 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform umfassenden Artikel (Wessely 1944/ 15.10.) als Botschafter dieser „Kunde“ angeführt und im Artikel selber noch dreimal genannt, davon einmal in Verbindung mit „(d)er Berichterstatter“. N.N. referiert aus Wessely zum einen Reumuths Programmpunkte. In z.T. salopp-ironischem Ton wird kommentierend im Weiteren der Versorgungsengpass angesprochen (vgl. oben in 2.1.1.3 (1) das entsprechende Zitat); der wie auch in den bisher vorgestellten Erlassen, in Reumuth (1944) und Trausei (1944) namentlich nicht genannte Bernhard Rust mit „dieser Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (N.N. Anfang 1945, S. 26) und „der Herr Minister“ (ebd., S. 28; Kursive WM) ins Spiel gebracht; unter der Parole: „Es eilt ja auch nicht“, darauf gepocht: „die Sache muß [...] nicht nach dem >Führerprinzip< übers Knie gebrochen und von einem >Parteigenossen< verpfuscht werden“; und die über 50jährige Treue der Schweiz zum ‘Duden’ beschworen: „Unser Bundesrat hat 1902 die Dudensche Rechtschreibung anerkannt und wird vorläufig wohl dabei bleiben.“ (ebd., S. 29). 113 Zwischenbemerkt sei: Die Schweizer Dudensche Nibelungentreue oder auch ‘Nibel-Dudentreue’ reicht weiter zurück als bis 1902 (Beschluss vom 18. Juli 1902; in: Schweizerisches Bundesblatt (Bbl) 1902, IV, S. 66), nämlich über weitere zehn Jahre bis ins Jahr 1892, wo entgegen der Warnung in der Schweizerischen Lehrerzeitung 1892: „Die Annahme der preußischen Orthographie [nach Duden] wäre ein Rückschritt. Hoffentlich bewahrt uns die Konferenz davor“ (Rotzier o.J. [1947], S. 4), die preußische Regelung in Gestalt von Dudens Orthographischem Wörterbuch für verbindlich erklärt wird (vgl. Verhandlungen [24. August] 1892; Beschluss vom 24. Dezember 113 Führerprinzip und Parteigenosse in N.N. (Anfang 1945) sind trotz der Anführungszeichen nicht Wessely (1944/ 15.10.) entnommen. Möglicherweise kennzeichnet N.N. diese Ausdrücke als nationalsozialistische Vokabeln. Dass Kritik an dem von Rust vertretenen Führerprinzip auch in Deutschland geübt wird, ist oben (vgl. 1.1.2.4 (3)) schon dargestellt worden. Titelhinweis: N.N. spricht allgemein nur von den „Regeln“ oder dem „Büchlein“. Die beiden Schweizer Beiträge sind in Jellonnek (1979) (nur N.N. Anfang 1945) und Jansen-Tang (1988) (auch Wessely 1945/ 15.10.) berücksichtigt. Looser (1995) weist in seiner Untersuchung über die Reformen in der Schweiz zwar auf die Umstellung von der Fraktur auf die Antiqua 1941 in Deutschland hin und gibt im Literaturverzeichnis N.N. (1945) an, doch Wessely (1944/ 15.10.) sowie ein Hinweis auf Rust (1944) finden sich nicht. <?page no="249"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 249 1892; in: Bbl 1892, V, S. 967). 114 Allerdings scheint die Duden-Gefolgschaft auf bestimmte Interessengruppen beschränkt zu sein. „Die eifrigsten Verfechter des Duden in der Schweiz sind, neben dem Deutschschweizerischen Sprachverein, die Typographen und Korrektoren mit ihrer Leitung in Zürich, wenigstens als Ganzes, als Organisation betrachtet. [...] die überwiegende Mehrheit des Schweizervolkes, wozu natürlich auch die vielen Kunden des Druckgewerbes zu zählen sind, will von dieser >Sprachbibel< sowieso nichts wissen.“ (Rotzier o.J. [1947], S. 4). Die Treue dauert über die in N.N.s Prognose für die damalige Zukunft angegebene Zeitspanne ‘vorläufig’ hinaus an. 1903 und 1907 und von 1915 bis 1942 werden nach der Einleitung „Auf Anregung und unter Mitwirkung [...]“ oder „Mit Unterstüzung [...]“ auf der Titelseite des Buchdrucker-Duden bzw. ‘des Duden’ die einschlägigen Verbände des Druckgewerbes auch aus der Schweiz angeführt. Auf der Arbeitsbesprechung in Konstanz im November 1952 erklärt ein Vertreter Österreichs: „Schreibungen wie Schofför [werden nicht beanstandet], weil es so bereits im Duden steht, und der Duden ist gerade für unsere Setzer ein >Heiligtum<“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 21). Der Vertreter der Schweiz sekundiert Bildfeld-gerecht: „Wir bekennen uns [...] zur deutschen Rechtschreibung, wie sie in Dudens Wörterbuch niedergelegt ist. Unser Bundesrat hat diese Vorschrift 1902 für die Schweiz verbindlich erklärt [...] unsere Setzer und Korrektoren stützen sich auf den Duden“ (ebd., S. 27). Der Schweizer Beschluss von 1902 wird so heißt es 1997 amtlicherseits aus der Schweiz durch die Wiener Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom 1. Juli 1996 abgelöst. Ein neuer Beschluss wird, aus welchen Gründen auch immer, nicht gefasst. Doch allgemein gilt, so hört man, die ‘stillschweigende’ Praxis, ‘den Duden’ zu empfehlen und zu kaufen. So weit das Zwischenspiel. 114 Der Beschluss von 1902 ist für den Schweizer Rotzier (o.J. [1947]) „den damaligen Verhältnissen entsprechend noch begreiflich. Man wollte einfach dabei sein und den Anschluss an die neue Rechtschreibung nicht verpassen“ (S. 4). Und man konnte „damals auch nicht voraussehen, was aus diesem Duden noch alles werden könne“ (S. 5). „Jedenfalls kann gesagt werden: der heutige Duden hat mit dem von Konrad Duden geschaffenen Werk nur noch den Namen gemeinsam.“ (Rotzier o.J. [1947], S. 9). Dass diese Feststellung, ‘der Duden’ bleibt im Verlauf der oder seiner langen Zeit nicht ‘der Duden’ (formelhaft: ‘der Duden’ * ‘der Duden’), zutreffend ist, wird unten in Kapitel 4 deutlich werden. <?page no="250"?> 250 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wesselys referierender Bericht und die von N.N. referierte Wessely-Stelle mit der Nennung des „Regeln erlassen[den]“ Reichsministers, der deutschen Schulkinder als Adressaten und mit der korrekten Angabe „96 Seiten“ sowie seine eigenen Weiterfuhrungen bestätigen aus der Sicht des Auslands, genauer: im Oktober 1944 aus der Sicht des Berichterstatters aus Wien/ Österreich in der Schweiz und Anfang 1945 aus der Sicht „der friedlichen Schweiz“ (N.N. Anfang 1945, S. 26) die bereits festgestellte damalige amtliche Geltung von Rust (1944) für die Schulen „draußen“ (N.N. Anfang 1945, S. 25) in Deutschland; wobei sich im Weiteren zeigen wird, dass die Berichte bereits an ihrem Erscheinungstag nicht mehr dem aktuellen Hintergrundstand der Sache entsprechen. Deutlich wird auch, dass der Versorgungsengpass in Deutschland zumindest in der Schweiz nicht unbekannt war. 2.1.3 Textzusammenhänge: Kollektive Formulierungs- und Argumentationsstruktur - Rust (1944): Unbestritten amtlich Der in Wessely (1944/ 15.10.) Vorgefundenen und von N.N. (Anfang 1945) übernommenen Zeitangabe: „[...] Büchlein, das in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt wird“, entsprechen, als weitere Paraphrasen von N.N., in Deutschland heutzutage und gerade jetzt. Angesichts der bisher dargestellten Abfolge der Ereignisse lassen sich diese Angaben mit dem 15. Oktober 1944 (Wessely) bzw. mit dem Anfang 1945 (N.N.), den Erscheinungsdaten beider Beiträge, nicht in Einklang bringen. Eine Deutung dieses Missklangs ist, dass hier ein Einfluss vorausgehender und benutzter Texte vorliegt und diese zu der unbewussten - Übernahme bestimmter Formulierungen ge- und verführt haben, die dann im neuen Kontext nicht mehr stimmig sind. Diese Möglichkeit wird eröffnet durch das folgende zeitlich gestaffelte Paradigma von z.T. stereotypen Formulierungen, die, sofern sie auf die Adressaten von Rust (1944) bezogen sind, in der Regel eine Zeitangabe enthalten. Im Erlass vom 19. Mai 1943, in welchem u.a. das Fachwort „Lembuch“ definiert wird (vgl. oben 2.1.1.2), heißt es allgemein (und mit Wechsel zwischen Plural und Singular): „Lernmittel sind die für die Hand der Schüler“ und „Lehrmittel sind die für die Hand des Lehrers bestimmten Unterrichtsmittel“. Speziell bezogen auf Rust (1944) als Lembuch für die Schüler findet sich dieses Hand-Motiv in Verbindung mit einer Zeitangabe <?page no="251"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 251 in Reumuths Artikel Ende Juni 1944 (Reumuth 1944, S. 100): „Dieses Büchlein wird in den kommenden Wochen den deutschen Schulkindern in die Hand gegeben werden.“; im Juli 1944 in Reichspropagandaministerium (1944/ 4.7.): „>Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis^ die den Schulkindern in den kommenden Wochen in die Hand gegeben werden sollen“; im Oktober 1944 in Wessely (1944/ 15.10.): „Büchlein, das in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt wird“; Anfang 1945 in N.N. (Anfang 1945, S. 24): „Regeln, die in einem 96 Seiten starken Büchlein in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt würden“ und (ebd.) in einer saloppen Variante: „wenn sie in Deutschland heutzutage [...] gerade jetzt den Schulkindern ein neues Regelbuch in die Hand drücken zu können glauben, ist das ihre Sache“ (Auszeichnungen WM; vgl. Abb. 33). Datum Zeitangabe Hand-Motiv 19. Mai 1943 für die Hand der Schüler für die Hand des Lehrers bestimmt Ende Juni 1944 Reumuth in den kommenden Wochen den deutschen Schulkindern in die Hand gegeben 4. Juli 1944 Propagandaministerium in den kommenden Wochen den Schulkindern in die Hand gegeben Oktober 1944 Wessely in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt Anfang 1945 N.N. in den nächsten Wochen den deutschen Schulkindern eingehändigt Anfang 1945 N.N. heutzutage [...] gerade jetzt den Schulkindern in die Hand drücken Abb. 33: in die Hand - Textzusammenhänge Diese Paraphrasen legen angesichts der zeitlichen Abfolge der Texte nahe, in ihnen ein Indiz zu sehen für Abhängigkeitsfolgen, Erzeugungs- und Wirkungszusammenhänge zwischen inhaltlich gleich orientierten Text(sort)en. Abhängigkeiten und Zusammenhänge dieser Art bestehen nachweislich zwischen Texten, die für diese Untersuchung ausgewertet sind (vgl. Abb. 29), zwischen dem Zulassungs- und Einführungsvermerk in Rust (1944) und den Erlassen vom 20. Februar 1944 und 19. Mai 1943 sowie zwischen den Erlassen, die den Versorgungsengpass regeln und beheben wollen (vgl. Abb. 31). Sie bestehen auch, wie nicht nur ich aus der (eigenen) Praxis weiß, zwischen den ungezählten Beiträgen, die seit 1975 im Rahmen der noch immer andauernden Reformdiskussion entstanden und aufeinander gefolgt sind (zu Bei- <?page no="252"?> 252 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform spielen für solche Zusammenhänge aus der Medizin-orientierten Kommunikation vgl. Mentrup 2001). Diese Abhängigkeitsfolgen, Erzeugungs- und Wirkungszusammenhänge von Texten können, vor allem in einer kleineren Gruppe, im Verlauf einer längeren Zeit zu einem allgemeinen, nicht unbedingt bewussten Formulierungs- und Argumentationskonsens zwischen den Beteiligten, zu einem gruppenintemen Stil und zu einer kollektiven Argumentationsstruktur fuhren, die, wie es etwa in der ehemaligen IDS-Kommission für Rechtschreibfragen zu beobachten war, in ähnlich oder annähernd gleich lautenden Text(passag)en, verfasst von verschiedenen Insider-Autoren, ihren Niederschlag und Ausdruck finden. Insgesamt gilt Gleiches auch für die Gegner der Neuregelung bzw. einer Rechtschreibreform überhaupt. Eine andere Beobachtung ist: Im Verlauf einer langzeitige(re)n Diskussion entsteht eine Texttradition, in der Fakten und Daten, um die es geht, in einer längeren Kette im Sinne des „Reihendienstes“ (Jost Trier) weiter vermittelt und immer wieder aufgenommen werden. Dabei kann die Gesamtmenge der Daten und Fakten um jeweils neue kumulierend angereichert, doch gleichermaßen eklektisch reduziert und auch um wichtige Gesichtspunkte ausgedünnt werden. Deutlich geworden ist zunächst, dass die 3. orthographische Initiative des Reichserziehungsministers Bernhard Rust von 1944 gegenüber den zwei ersten in den Jahren 1936 und 1941 auf einem anderen, speziellen Gleis verläuft, nämlich auf der Schiene seiner Reichschulkompetenz, und dass, anders als bei den Vorschlägen der beiden ersten Vorstöße, Rust mit der Herausgabe eines Rechtschreibbuches mit ausgearbeitetem Regel- und Wörterteil und mit deren Flankierung durch reichsverbindliche Erlasse eine qualitativ andere Organisation durchführt. Das authentisch vorliegende Orthographiebuch Rust (1944) als reichseinheitliches Lembuch mit dem Zulassungs- und Einführungsvermerk (vgl. 2.1.1.1 (1)), der Zulassungs- und Einführungserlass vom 20. Februar 1944 (vgl. 2.1.1.2) und der Versorgungserlass vom 20. Mai 1944 des Reichserziehungsministers (vgl. 2.1.1.3 (1)) sowie Trausei (1944) (vgl. 2.1.2.1) und der „Referent“ und, wie man jetzt weiß, der Bearbeiter Reumuth (vgl. 2.1.2.2) als inländische wie auch Wessely und N.N. als ausländische Zeitgenossen (vgl. 2.1.2.3) dokumentieren bzw. bezeugen - und bestätigen die damalige <?page no="253"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 253 amtliche Geltung von Rust (1944) für die Schulen und den Status, im hier gemeinten Sinne, als Sprachgesetz. 2.2 Rust (1944): Letzte amtliche Festlegung und über 1944/ 1945 hinaus amtliche Norm (Sprachgesetz) in den Schulen Dieser bisher erhobene Befund ist in der Literatur, sofern sie auf dieses Thema eingeht, wenn ich das richtig sehe, unbestritten. Die Frage, die nunmehr im Raume steht, lautet: Wie aber ist es nach 1944/ 1945? Konkreter: Behält Rust (1944) seinen amtlichen Status auch über 1944/ 1945 hinaus bis in die (jeweilige) Gegenwart? Nahezu durchgehend wird in der Literatur die Meinung vertreten, bis zur amtlichen Neuregelung 1996/ 1998/ 2005 sei die letzte amtliche Feststellung der Orthographie 1901 bzw. 1902 erfolgt und diese Regelung sei bis 1996, grundsätzlich gesehen, Sprachgesetz im hier gemeinten Sinne. Bezogen auf Rust (1944) impliziert dies, wenn zumeist auch unreflektiert, dass dieses Prädikat diesem Buch nicht zukommt, womit die gestellte Frage verneint ist. Auf den ersten Blick erscheint dies als Widerspruch zu dem oben diagnostizierten Befund und zu dessen Kennzeichnung als ‘in der Literatur unbestritten’. Doch wird sich im Weiteren (dazu vgl. unten 2.3 und 2.4) zeigen, dass es sich hier allenfalls um ein Paradoxon handelt. Der Reigen derer, die die oben gestellte Frage positiv beantworten und, zum Teil mit Bezug auf oben in 2.1 vorgestellte Dokumente, Rust (1944) als weiterhin geltendes Sprachgesetz auch über 1944/ 1945 hinaus bis in die (jeweilige) Gegenwart bzw. bis 1996/ 1998 ansehen, stellt sich im Folgenden so dar: 2.2.1 die Dudenredaktion und die Kultusministerkonferenz 1955/ 1956, 2.2.2 Böhme (1995), 2.2.3 Kopke (1995) und 2.2.4 Heering (1997/ 26.1.); wobei die Dudenredaktion und auch Kopke in diesem Zusammenhang je spezielle politische Ziele verfolgen. In 2.2.5 findet sich eine Zusammenstellung der Gesichtspunkte. <?page no="254"?> 254 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 2.2.1 1955/ 56: Dudenredaktion (Paul Grebe) und Kultusministerkonferenz (KMK) In der 1954 anhebenden Auseinandersetzung zwischen dem Bertelsmann Verlag (mit Lutz Mackensen: Deutsche Rechtschreibung) und dem Bibliographischen Institut (mit Paul Grebe und Franz Steiner: Duden-Rechtschreibung 14 1954 im Herbst, einige Monate nach Mackensen) um die Anteile auf dem orthographischen Markt, die sich ab 1996, wenn auch unter anderen Vorzeichen und Bedingungen, wiederholen sollte, macht die Dudenredaktion unter der Leitung Grebes im Oktober 1955 eine Eingabe „An die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder z.H. von Senator Willy Dehnkamp“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10). 115 Gemäß der eindeutigen Aussage dieser Eingabe steht für die Dudenredaktion die „auch noch heute“, d.h. bis in die Gegenwart von 1955/ 1956, geltende Amtlichkeit des von ihr angeführten und in Grebe (1962, S. 72; 1968, S. 21) mit dem Namen Rust verbundenen Orthographiebuches von 1944 „außer Zweifel“. Ausführlicher heißt es: „Die im Duden [Duden-Rechtschreibung l4 1954; WM] niedergelegten Regeln entsprechen der letzten staatlichen Willensäußerung zu dieser Frage, die in der Schrift: >Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis; herausgegeben im Aufträge des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung<, Berlin 1944 veröffentlicht wurde. Da nach 1945 kein Land des deutschen Sprachraumes neue Regeln beschlossen hat, steht es für die Dudenredaktion außer Zweifel, daß diese Regeln auch noch heute gültig sind. Sie wurde in dieser Meinung durch den [nicht veröffentlichten; WM] Beschluß der Herren Kultusminister vom Oktober 1950 bestärkt, daß bis zu einer neuen amtlichen Stellungnahme >die im Duden niedergelegten Regeln gelten mögem.“ (ebd.) 116 115 Vgl. ausführlich Augst/ Strunk (1988). Die Informationen über den Dialog Grebe - Dehnkamp einschließlich der entsprechenden Zitate sind diesem Beitrag entnommen. Dehnkamp war 1954 bis 1955 Präsident der Kultusministerkonferenz und bearbeitete nach dem Wechsel im Präsidium weiterhin für die KMK die Fragen einer Rechtschreibreform. 116 Titelhinweis: Der Titel des von der Dudenredaktion angeführten und in Grebe (1962, S. 72; 1968, S. 21) mit dem Namen Rust verbundenen Orthographiebuches von 1944 weicht in zwei Punkten von dem authentischen Titel des Büchleins Rust (1944) ab. Statt „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“ findet sich „[...] nebst Wörterverzeichnis“, statt „[...] Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ heißt es „[...] herausgegeben im Aufträge des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (Kursive WM). <?page no="255"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 255 Ist in der Eingabe zunächst von der Übereinstimmung des Duden nur mit der „letzten staatlichen Willensäußerung zu dieser Frage“ die Rede, so wird in der Fortführung: „seit der Jahrhundertwende [...] in allen Fragen der Rechtschreibung nur in Übereinstimmung mit der amtlichen Stellen“, der Geltungsbereich dieses Anspruchs erheblich ausgeweitet. Während der Duden, so heißt es weiter, in der so beschriebenen Weise „>Disziplin< bewahrte“, „sind“ in dem Buch von Mackensen „nahezu alle geltenden Regeln mißachtet“. Weitere negative Kennzeichnungen sind: „>wilde Reform<“, „sachlich unhaltbar“ mit der Auswirkung: „in der breitesten Öffentlichkeit große Verwirrung“. Hic Disziplin - Illic wilde Reform. Entsprechend der Fogik dieser Ausführungen „bittet die Dudenredaktion die Flerren Kultusminister, den Beschluß vom 27./ 28. Oktober 1950 noch einmal zu bekräftigen und zu veröffentlichen“. Dieser auf der Plenarsitzung in Freiburg gefasste, aber nicht veröffentlichte Beschluss der KMK, dies zur Vollständigkeit, lautet: „Die Kultusministerkonferenz wird die deutsche Rechtschreibung vereinheitlichen und organisch weiter entwickeln. Unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Basler an der Universität München wird ein vorbereitender Ausschuß nach Prüfung der gegenwärtigen Rechtschreibung eingesetzt. Die Bearbeiter der amtlich eingefuhrten Rechtschreibbücher sowie der Bearbeiter des >Duden< werden aufgefordert, sich an der Arbeit dieses Ausschusses zu beteiligen. In Zweifelsfällen wird bis auf weiteres die Schreibweise des >Duden< als richtunggebend angesehen.“ (Kultusministerkonferenz 1950/ 27.+28.10.; Kursive WM; vgl. auch Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 40).' 17 Der Eingabe zeitlich wie kausal vorausgegangen war ein Gespräch von eineinhalb Stunden zwischen Dehnkamp und Grebe am 14. Oktober 1955, in welchem die Eingabe der Dudenredaktion verabredet wurde. Die von Dehnkamp angefertigte Aktennotiz über dieses Gespräch zeigt, dass Grebe schon und auch hier das Orthographiebuch von 1944 einbringt. Denn Dehnkamp notiert als Grebes Äußerung, dass „seit 1944 keine amtlichen Regelfestsetzungen oder -Änderungen [sic! ; WM] erfolgt seien.“ Zudem hält er fest: 117 Der schon aus der Zeit 1933ff. bekannte Name Otto Basler (vgl. oben 1.1.1.2) bringt als weitere Namen Karstadt, Reumuth und Weisgerber in Erinnerung und rückt damit Personen ins Blickfeld, die in Birken-Bertsch/ Markner (2000) und in Zusammenhang damit schon oben (vgl. 1.3.3.2) sowohl vor als auch nach 1945 in Erscheinung getreten sind. <?page no="256"?> 256 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Der Duden halte sich bei seiner Schreibweise und seinen Auskünften an diese letzte amtliche Stellungnahme“ (Dehnkamp 1955/ 14.10.). Der in der Eingabe von der Dudenredaktion geäußerten Bitte wird am 18./ 19. November 1955 entsprochen: „Die in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisen und Regeln für die Rechtschreibung sind auch heute noch verbindlich für die deutsche Rechtschreibung. Bis zu einer etwaigen Neuregelung sind diese Regeln die Grundlage für den Unterricht in allen Schulen. In Zweifelsfällen sind die im >Duden< gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich.“ (Kultusministerkonferenz 1955/ 18.+19.1 l.a, b und c). 118 118 Veröffentlicht wird dieser Beschluss mindestens an drei verschiedenen Stellen (Kultusministerkonferenz 1950/ 27.+28.10. a. b und c): a) im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Nr. 238, S. 2048) vom 20. Dezember 1955 (#2.18). Voraus geht hier ein längerer Kommentar, in dem die Kultusminister an den Beschluss von 1950 erinnern und den neuen Beschluss mit der aus ihrer Sicht seitdem veränderten Rechtschreibsituation begründen. So heißt es unter anderem: „Die Unsicherheit auf dem Gebiet der Rechtschreibung beginnt nun in den letzten Jahren größer zu werden, nicht zuletzt dadurch, daß neue Wörterbücher und Lehrbücher herausgegeben wurden, die nach anderen als den amtlichen Regeln bearbeitet wurden.“ Diese Begründung ist aus der Arbeitsunterlage übernommen, die Dehnkamp den Mitgliedern der KMK vor der Novembersitzung zugeschickt hatte (Dehnkamp 1955/ 1.11.). Sie verhält sich mit ihrem Bezug auf Werke, „die nach anderen“, d.h. die nicht nach „den amtlichen Regeln bearbeitet“ sind, negativ komplementär zu dem, was die Dudenredaktion mit Bezug auf ‘den Duden’ diesem positiv attestiert: „an keiner Stelle im Widerspruch zu den amtlichen Verlautbarungen“, deren „Regeln und Schreibweisen (...) genauestens beachtet“. Diese (vermeintlichen) Unterschiede zwischen den Wörterbüchern spielen in der Diskussion insgesamt eine große Rolle. Vgl. in Strunk (Hg.) (1998), Bd. I die Dokumente mit den Daten 3.6.1955 (S. 207), 27.6.1955 (S. 226), 20.2.1956 (S. 294), 8.3.1956 (S. 297), 10.3.1956 (S. 189). b) im Bundesanzeiger (herausgegeben vom Bundesminister der Justiz; Nr. 242, S. 4) vom 15.12.1955 (#2.19). Hier geht die Klärung des Rechtsstatus dieses Beschlusses voraus. c) im Gemeinsamen Ministerialblatt („des Auswärtigen Amtes“ über sechs weitere Bundesministerien bis hin zu „der Bundesminister für besondere Aufgaben“; herausgegeben vom Bundesministerium des Innern; Nr. 36, S. 492) vom 14.12.1955 (#2.20), und zwar in der Form wie im Bundesanzeiger, allerdings mit einem anderen Datum: „Beschl. d. Kultusminister-Konferenz v. 24.6.1955.“, das nicht in den bisher abgesteckten Zeitablauf passt. Darauf weist Hering (1989, S. 115) hin und schließt nicht aus, dass durch diesen „sehr frühen Beleg“ ein Teil der Ausführungen von Augst/ Strunk (1988) „ein neues Gewicht [bekommen]“ könnten. <?page no="257"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 257 Zwischenbemerkt sei: Ein Vergleich der Texte im Umfeld des KMK- Beschlusses von 1955 mit denen im Umfeld der Rust-Erlasse zur Rechtschreibung im Jahre 1944 (vgl. oben 2.1.1.3 (3)) zeigen eindrucksvoll den Wandel der Zeiten und Dinge. 1st 1944 die durchgängige Textsorte der Erlass," 9 so ist dies 1955 die Information; wobei auch die aufgerufenen Themen das neue Zeitgeschehen widerspiegeln: „Der Außenhandel im November“ „Vom 10. bis 16. Dezember 5392 Flüchtlinge [...] aus der SBZ“ „Vorläufiger Schrottbericht für November“ „Warenlisten 1956 zum Berliner Abkommen“ (#2.18) „Beteiligung deutscher Firmen an den spanischen Mustermessen in Valencia und Barcelona im Jahre 1956.“ „Kursdurchschnitt der an den Börsen des Bundesgebiets notierten Aktien am 7. Dezember 1955.“ „Der Absatz von Tabakwaren im November 1955.“ „Die Straßenverkehrsunfälle im Oktober 1955.“ (#2.19) „Anerkennung von deutschen Kinderausweisen durch Frankreich“ (#2.20) Fünf Monate später bestätigt und bekräftigt Grebe auf Befragen Dehnkamps in einem Brief vom 23. April 1956 noch einmal, „[...] daß es durch die Konferenz von 1901 und die späteren Verfügungen, von denen im ersten Satz des Beschlusses gesprochen wird, amtlich festgesetzte Schreibweisen gibt“, und auch „das Abreißen dieser amtlichen Verfügungen nach 1945 [...]. Betonen möchte ich [...] ausdrücklich, daß sich dieses ganze ernsthafte Bemühen der Dudenredaktion um die vernünftige Fortentwicklung unserer Schriftsprache an keiner Stelle im Widerspruch zu den amtlichen Verlautbarungen befindet, wie sie >auf der Rechtschreibkonferenz [! ; WM] von 1901 und in den späteren Verfugungem festgelegt wurden. So- Doch dazu wird es wohl nicht kommen. Denn dieses Datum ist augenscheinlich ein Fehler im Ministerialblatt. Zum einen ist zu fragen, warum dieser Beschluss, vermeintlich vom Juni, erst im Dezember (zeitgleich mit den Daten oben) veröffentlicht wird. Zum anderen ist es so, dass in Strunk (Flg.) (1998) Bd. I die Dokumente mit den Daten 27.10.1955 (S. 243), 8.11.1955 (S. 277), 2.1.1956 (S. 253), 25.1.1956 (S. 292), 8.3.1956 (S. 298), 12.3.1956 (S. 326) das Beschlussdatum 18./ 19.11.1955 klar eingrenzen und eindeutig sichern. Zum Dritten ergab ein Anruf (1.10.2001) beim Sekretariat der KMK in Bonn, dass am 24.6.1955 zwar eine Plenarsitzung, und zwar die 47., der KMK stattgefunden habe, dass aber im Protokoll dieser Beschluss nicht enthalten sei. 119 Vgl. dazu als Wortfeld-einschlägige Studien „Meldung und Befehl“ (Fischer 1935) und „Der Befehl“ (Kühn 1943; nach Kämper-Jensen 1993, S. 154, 158). <?page no="258"?> 258 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform weit Regeln und Schreibweisen in diesen Verfügungen niedergelegt sind, wurden sie genauestens beachtet. Dies unterscheidet uns grundsätzlich von dem Wörterbuch der Gesellschaft für deutsche Sprache, in dem Herr Professor Mackensen mit voller Absicht amtlich festgelegte Schreibweisen oder Regeln in das Gegenteil verwandelte (etwa: der Andere, statt der andere, Silbentrennungen usw. usw.).“ (Dudenredaktion 1956/ 23.4.). Im Rückblick sieht Grebe (1962, S. 72; 1968, S. 21) 120 die Sache so: „Mit dieser Auflage [Duden-Rechtschreibung l4 1954; WM] war aber auch für die Kultusminister der Länder die Grundlage für etwaige Beschlüsse über die Rechtschreibung in der jungen Bundesrepublik geschaffen. Zunächst war es überhaupt problematisch, ob das zuletzt von RUST im Jahre 1944 herausgegebene amtliche Regelbuch noch als verbindlich angesehen werden konnte.“ Möchte man an dieser Stelle als Leser eigentlich gern wissen, wie die mit ob aufgetane Alternative, ja oder nein, 1954 denn nun entschieden wurde, so geht Grebe darauf nicht weiter ein, wohl weil ihm selbst das alles klar zu sein scheint, und hinterlässt damit eine für Außenstehende, für spätere Generationen eigentümliche Lücke. „Dazu kam, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur Reformwünsche laut wurden, sondern daß auch einzelne Autoren in ihren Wörterbüchern Reformen auf eigene Faust durchführten, durch die Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre die mit so viel Mühen errungene Einheitsschreibung wieder in Gefahr geriet. Die Kultusminister der Länder faßten deshalb [...] 1955 den bekannten Beschluß [...].“ 121 (ebd.) Für Grebe und in Folge auch für Dehnkamp scheint 1955/ 1956 bezüglich Rust (1944) und Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) Folgendes klar zu sein: 1) Dies „zuletzt von RUST im Jahre 1944 herausgegebene Regelbuch“ (Grebe 1962, S. 72; 1968, S. 21) ist die „letzte amtliche Stellungnahme“ (Grebe laut Dehnkamp 1955/ 14.10), die letzte staatliche Willensäußerung (Dudenredaktion 1955/ 27.10.). Es hat, mit anderen Worten, den Status eines Sprachgesetzes im hier gemeinten Sinne. 120 Sauer (1988), Hering (1989), Kopke (1995) und Heering (1997/ 26.1.) beziehen sich auf Grebe (1968). Birken-Bertsch/ Markner(2000) fuhren weder Grebe (1962) noch (1968) an. 121 Titelhinweis: Der Titel des amtlichen Regelbuches von 1944 wird, anders als 1955, nicht genannt, sondern es wird mit RUST (der Name wird 1955 nicht genannt) 1944 identifiziert. <?page no="259"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 259 2) "[D]iese Regeln“ sind - und das steht „außer Zweifel“ - „auch noch heute gültig“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10), d.h. bis in die Gegenwart von 1955/ 1956. Die Begründung für diese Gewissheit ist, dass „nach 1945 kein Land des deutschen Sprachraumes neue Regeln beschlossen hat“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10.). Mit späteren Worten: Die Begründung ist das „Abreißen dieser amtlichen Verfügungen nach 1945“ (Dudenredaktion 1956/ 23.4.), wobei die Dudenredaktion „in dieser Meinung durch den Beschluß der Herren Kultusminister vom Oktober 1950 bestärkt [wurde]“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10.). 3) Die im KMK-Beschluss vom 18./ 19. November 1955 verwendete Formel: „in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen“, schließt u.a. das in der Eingabe der Dudenredaktion angeführte Orthographiebuch von 1944 mit ein. 4) Der ‘Duden’ empfiehlt sich zum Schließen der seit 1945 bestehenden Lücke, denn er „halte sich [...] an diese letzte amtliche Stellungnahme“ (Grebe laut Dehnkamp 1955/ 14.10.), seine „Regeln entsprechen der letzten staatlichen Willensäußerung“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10.). 122 Entsprechend ergeben sich vier Merkpunkte: 1) Rust (1944) = letzte amtliche Festlegung. 2) Rust (1944) = noch heute (1955/ 1956) gültig (weil „Abreißen“ der „amtlichen Verfügungen nach 1945“). 3) Rust (1944) = eine der späteren amtlichen Verfügungen. 4) Rust (1944) = vom ‘Duden’ inhaltlich übernommen. Diese Merkpunkte werden auch bei den folgenden Autoren beachtet und in ergänzter Form unten (vgl. 2.2.5 Abb. 35) zum Vergleich tabellarisch zusammengestellt. Noch ein Blick zurück auf diesen ‘Duden’-Abschnitt: Auffällig an Diktion und Argumentation der Dudenredaktion, genauer: ihres Leiters Paul Grebe, ist die Abqualifizierung, die Stigmatisierung von Mackensens Rechtschreib- 122 Hinweise auf einschlägige Erlasse etwa aus dem Jahre 1944, auf Zeitzeugen oder auf weitere Literatur finden sich in diesem Zusammenhang nicht. <?page no="260"?> 260 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform buch, des Konkurrenzwerkes, um selber, in eigener Sache, umso größer herauszukommen und umso strahlender, grandioser dazustehen (vgl. Abb. 34). Hk Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) Ulk Mackensen (1954) entspricht der letzten staatlichen Willensäußerung nahezu alle geltenden Regeln missachtet Disziplin bewahrt wilde Reform<, sachlich unhaltbar, das ganze ernsthafte Bemühen der Dudenredaktion um die vernünftige Fortentwicklung unserer Schriftsprache mit voller Absicht [...] seit der Jahrhundertwende nur in Übereinstimmung mit den amtlichen Regeln an keiner Stelle im Widerspruch zu den amtlichen Verlautbarungen Reformen auf eigene Faust durchfuhren Regeln und Schreibweisen in den Verfügungen genauestens beachtet [...] amtlich festgelegte Schreibweisen oder Regeln in das Gegenteil verwandelt Abb. 34: Von der Dudenredaktion durchgefuhrte Polarisierung Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) - Mackensen (1954) Polarisierungen dieser Struktur machen naturgemäß misstrauisch, denn so klar geordnet in Gut(e) und Böse, und das ist nicht neu, geht es zumeist nicht zu. Die Zweifel beziehen sich insbesondere auf die Punkte: ‘der Duden’, auch bis zur Jahrhundertwende zurück, an keiner [! ; WM] Stelle im Widerspruch zur amtlichen Regelung; - Mackensens wilde Reforrm; die Amtlichkeit von Rust (1944) bis in die Gegenwart [von 1955/ 1956]; das Abreißen der amtlichen Verfügungen nach 1945. 2.2.2 Böhme (1995) Böhme (1995, S. 323) nennt unter der Überschrift „I. Amtliche Beschlüsse zur Orthographie“ einerseits den Beschluss des deutschen Bundesrates vom 18. Dezember 1902, durch den die auf der 2. Orthographischen Konferenz von 1901 verabschiedete Regelung amtlich sanktioniert wurde, und andererseits den Beschluss der KMK vom 18./ 19. November 1955, der oben abgedruckt ist. Dies entspricht dem oben in 2.2.1 abgesteckten Zeit- und Ereignisrahmen. <?page no="261"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 261 Bei der Behandlung der Frage: „Ist die Dudenregelung zur Interpunktion amtlich? “ (Haupttitel seines Beitrags), spielt Böhme u.a. auch Rust (1944) ein, „die letzte [amtliche] Verfügung“ (Böhme 1995, S. 331), in der die Zeichensetzung unter der Überschrift „VI. Die Satzzeichen“ zu finden ist. In deutlicher Absetzung von der gegensätzlichen Meinung in Hering (1988) vertritt Böhme, bezogen auf Rust (1944), den eindeutigen Standpunkt: „Für mich steht jedoch die Amtlichkeit dieses Regelbuchs [...] außer Frage.“ - und zwar bis hin in die Gegenwart von 1995. Vergleiche die Merkpunkte 1 und 2 unten in 2.2.5 (Abb. 35). 123 Böhme kommt zu dieser seiner Gewissheit „aufgrund der Nennung des zugrunde liegenden Erlasses auf Seite 2 des Regelbuches und der Anerkennung durch die Dudenredaktion“ (Böhme 1995, S. 330). Das heißt: Im Unterschied zur Dudenredaktion und zur KMK 1955/ 1956 stützt er sich auf den Zulassungs- und Einfuhrungsvermerk im Orthographiebuch Rust (1944) (vgl. oben 2.1.1.1 (1)) und auf den Erlass vom Februar 1944 (vgl. 2.1.1.2); beide Texte, das zeigen einschlägige Zitate, liegen ihm authentisch vor. Hinzu kommt die „Anerkennung“ von Rust (1944) durch die Dudenredaktion, wobei die Übereinstimmug ihrer Einschätzung in den Paradigma-Varianten außer Zweifel (‘Duden’) und außer Frage (Böhme) zu Worte kommt. Böhme sieht dieses Orthographiebuch „als Nachfolger des amtlichen (preußischen) Regelbuches von 1940 (...) >in der neuen Auflage< [...]“ an und zählt es zu den im KMK-Beschluss von 1955 mit dem „so unkonkreten Ausdruck“ angesprochenen „späteren Verfügungem“ (Böhme 1995, S. 329), wobei der Ausdruck „>in der neuen Auflage<“ dem Erlass von Februar 1944 entnommen ist. Vergleiche den Merkpunkt 3 in 2.2.5 (Abb. 35). Bezogen auf den Merkpunkt 4: Rust (1944) = vom ‘Duden’ inhaltlich übernommen, stellt Böhme einschränkend fest, dass die inhaltliche Übereinstimmung bei der Zeichensetzung, speziell bei der Regelung der Kommasetzung vor und und oder, hier nicht gegeben ist, und zwar weder in der 13. noch in der 14. Auflage der Duden-Rechtschreibulg von 1947 bzw. von 1954. In diesem Zusammenhang, der weiter unten noch einmal angesprochen wird, spricht er, bezogen auf Grebe, von der „Unkenntnis der Detail- Festlegungen im amtlichen Regelbuch von 1944“ (Böhme 1995, S. 331). 123 In Böhme (2001, S. 127ff.) wird ein modifizierter Standpunkt vertreten. <?page no="262"?> 262 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Als weiterer Merkpunkt, hier als 6 gezählt (zum Merkpunkt 5 vgl. den folgenden Abschnitt), ergibt sich: Rust (1944) = vom ‘Duden’ und von der KMK als amtlich anerkannt. 124 2.2.3 Kopke (1995) Mit Blick auf die nationalsozialistischen Reformbemühungen seit Anfang der 40er-Jahre geht Kopke (1995, S. 35f.) zunächst knapp auf die durchgeführte Umstellung von der Fraktur zur Antiqua und auf den nicht durchgesetzten Reformvorschlag von Fritz Rahn im September 1941 ein. Im Weiteren, so Kopke, „brachte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1944 das Buch >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis< neu heraus“. Er weist auf die Erlasse vom 20.2. 1944 und vom 20.5.1944 hin. Alle drei Texte (vgl. oben 2.1.1.1- 2.1.1.3), das zeigen einschlägige Zitate und Angaben, lagen ihm authentisch vor. 125 Dass Rust (1944) zu diesem Zeitpunkt amtliche Geltung hat, wird von Kopke angesichts der von ihm ausgebreiteten Dokumente nicht in Frage gestellt. 124 Titelhinweis: Dem von ihm angeführten authentischen Titel von Rust (1944) einschließlich der Angabe des Verlags und des Ministeriums folgt: „Es muß trotz der leichten Unterschiede im Titel genau jenes Regelbuch sein, auf welches sich bemerkenswerterweise die Dudenredaktion am 27. Oktober 1955 in einer Eingabe an die KMK beruft.“ Es schließt sich die einschlägige Stelle aus der Eingabe der Dudenredaktion mit dem abweichenden Titel an. Reumuth (1944), Trausei (1944), Wessely (1944/ 15.10.), N.N. (Anfang 1945), S.L. (1953), Grebe (1968), Jellonnek (1979), Küppers (1984; mit Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7) und Stanze (1994a und b; mit Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.) und Kopke (1995) werden von Böhme nicht angeführt. Benutzt werden Augst/ Strunk (1988), Jansen-Tang (1988), Hering (1989). 125 Titelhinweis: Der Titel einschließlich der Angabe des Deutschen Schulverlags und des Ministeriums ist korrekt wiedergegeben. Reumuth (1944), Trausei (1944), Wessely (1944/ 15.10.), N.N. (Anfang 1945), S.L. (1953), Hering (1989), Stanze (1994a und b; mit Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.) und Böhme (1995) werden von Kopke nicht angeführt. Benutzt werden Jellonnek (1979), Küppers (1984) (der dort angeführte Geheimbericht Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7. wird von Kopke nicht aufgegriffen), Jansen-Tang (1988), Augst/ Strunk (1988). Grebe (1968) wird zwar im Literaturverzeichnis, doch nicht in diesem Zusammenhang angeführt. <?page no="263"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 263 „Fraglich ist jedoch die Fortgeltung der Regeln von 1944. Sie wurden durch einen Erlaß des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung eingeführt, der nach der Übertragung der Länderkompetenzen auf das Reich durch das >Gesetz über den Neuaufbau des Reichs< vom 30.01.1934 [...] für das Schulwesen im ganzen Deutschen Reich zuständig war [...].“ (Kopke 1995, S. 37f.) Mit Bezug auf das in den Fußnoten zitierte Reichsgesetzblatt (RGBL 1934; hierzu vgl. oben 2.1.1.2), auf weitere juristische Texte und analoge Fälle kommt Kopke nach längeren Ausführungen zu dem juristischen Schluss: 126 „Die Regeln von 1944 galten daher nach Inkrafttreten des Grundgesetzes fort.“, und zu der juristischen Schlussfolgerung: „Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß anderenfalls auch die Regeln von 1901 nicht fortgelten würden, so daß eine amtliche Orthographie im Sinne einer (und sei es auch nur intern) rechtlich verbindlichen Anordnung über die Schreibweise der deutschen Sprache heute überhaupt nicht mehr bestünde.“ (Kopke 1995, S. 46; vgl. auch seine 2. These auf S. 412.). Vergleiche die Merkpunkte 1: Rust (1944) = letzte amtliche Festlegung und 2: noch heute [...] gültig in 2.2.5 (Abb. 35), wobei die Gültigkeit von Rust (1944) als letzte amtliche Festlegung bis in Kopkes Gegenwart 1995 reicht. Doch damit nicht genug. „Letzte Zweifel“, die Kopke selbst wohl nicht mehr haben dürfte, sondern die er allenfalls bei anderen vermutet, „Letzte Zweifel an einer Fortgeltung der Regeln von 1944 dürften durch einen Beschluß der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 1955 ausgeräumt werden.“ Damit ist auch hier der schon bekannte Zeit- und Ereignisrahmen abgesteckt. Den wörtlich wiedergegebenen KMK-Beschluss vom November 1955 kommentiert er im Sinne des Merkpunktes 3: Rust (1944) = eine der späteren amtlichen Verfügungen nach 1901 (zu dem Beschluss vgl. oben 2.2.1): „Aus der klaren Bezugnahme auf die »späteren Verfugungem ergibt sich nach allen Regeln der juristischen Auslegung der Wille der Kultusminister, die Regeln von 1944 weiter gelten zu lassen. [...] Noch deutlicher geht dies aus der Vorgeschichte des Beschlusses, und damit aus dessen Sinn und Zweck, hervor. Dem Beschluß vom November 1955 ging eine Eingabe der Duden- Redaktion an die Kultusministerkonferenz voraus.“ (Kopke 1995, S. 46). Aus dieser Eingabe zitiert er die Stelle mit der abweichenden Titelangabe, ohne auf die Differenz einzugehen, und schlussfolgert im Sinne des Merk- 126 Festgestellt sei, dass ich die Schlüssigkeit von Kopkes juristischen Argumentationen, Schlüssen und Schlussfolgerungen nicht beurteilen kann. <?page no="264"?> 264 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform punktes 4 ganz auf der Linie der Dudenredaktion in einer gestaffelten i wenn- (so)-darüber hinaus-gerade deshalb-kann deshalb'Sivxikiur. „Die Duden-Redaktion bat in ihrer Eingabe die Kultusministerkonferenz, den Duden offiziell für verbindlich zu erklären, da nur dieses Wörterbuch den amtlichen Regeln folge [...]. Wenn die Kultusminister nach dieser Eingabe die >in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisem für >heute noch verbindlich< erklärten, taten sie dies im Wissen um die Neufassung von 1944. Darüber hinaus wurde der Duden gerade deshalb für verbindlich in allen Zweifelsfällen erklärt, weil der Eingabe zufolge allein dieses Wörterbuch an den Regeln von 1944 festhalten würde. Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß nach dem Kultusministerkonferenzbeschluß von 1955 an der Fortgeltung der 1944 geänderten Regeln festzuhalten ist.“ (Kopke 1995, S. 47; Kursive WM). Parallel zu dieser Kontinuität auf der inhaltlichen Regelungs- und der amtlichen Entscheidungslinie sieht Kopke die Möglichkeit einer weiteren, nämlich die der Kontinuitätslinie beteiligter Personen, nach seiner Vorstellung von Basler (1934 bis 1945) zu Grebe (1947 [bis 1973]) in der diesen beiden zugeordneten Funktion als Leiter der Dudenredaktion. „Auf dem über die Universitätsbibliothek Duisburg erhältlichen Exemplar der Regeln von 1944 ist handschriftlich vermerkt Gearbeitet von Otto Basler u. Karl Reumuth<. Ob dies zutrifft, konnte nicht festgestellt werden.“ (Kopke 1995, S. 66, Anm. 416). Seit Strunk (1998, S. 93) ist bekannt, dass dies so ist. Entsprechend sind Kopkes im Irrealis gehaltenen und dadurch hypothetischen, für seine Gesamtargumentation wichtigen Schlussfolgerungen nunmehr im Indikativ zu lesen: „Es wäre jedoch [nunmehr: Dies ist; WM] ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Duden-Redaktion schon vor dem Kultusministerbeschluß von 1955 auf die amtlichen Regeln Einfluß zu nehmen vermochte und würde auch erklären [nunmehr: und erklärt auch; WM], warum Paul Grebe, der Nachfolger Otto Baslers, 1955 die Regeln von 1944 kannte und von ihrer Verbindlichkeit ausging, obwohl sie doch weitgehend eingestampft und deshalb kaum bekannt wurden.“ (Kopke 1995, S. 66f., Anm. 416). Erinnert man sich zudem daran, dass die zwei IDS-Exemplare von Rust (1944) aus Baslers Bibliothek stammen (vgl. oben 2.1.1.1 (3)), so erscheint diese personale Kontinuitätslinie als endgültig gesichert. Damit ist die Ankündigung des Merkpunktes 5 eingelöst: Kontinuität beteiligter Personen Basler > Grebe. Bezogen auf den Merkpunkt 4: Rust (1944) = vom ‘Duden’ inhaltlich übernommen, stellt Kopke in komplementärer <?page no="265"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 265 Formulierung fest, dass „der Duden die meisten Änderungen des Jahres 1944 nicht berücksichtigte“ (S. 49f.) bzw. dass „der Duden nur einige der Änderungen von 1944 übernahm“ (S. 48). 127 Als Merkpunkt 6 ergibt sich auch auf seiner Argumentationslinie: Rust (1944) = vom ‘Duden’ und von der KMK als amtlich anerkannt, und zwar von der KMK „im Wissen um die Neufassung von 1944“ (Kopke 1995, S. 47) und mit dem „Wille[n ...], die Regeln von 1944 weiter gelten zu lassen“ (ebd., S. 46). „Diese Rechtslage ist weitgehend unbekannt. Wenn sich in der germanistischen Literatur überhaupt einmal ein Hinweis auf die Regeln von 1944 findet, dann mit dem Zusatz, daß diese alsbald eingestampft worden und infolgedessen wirkungslos geblieben seien.“ (Kopke 1995, S. 47). Ist damit aus Kopkes Sicht die Verknüpfung der Ereignisse von 1955 mit denen von 1944 auch völlig klar und in ihrem Ergebnis auf allen Linien auch endgültig gesichert, so reicht ihm dies offensichtlich noch nicht aus. Er schlägt vielmehr einen weiteren Bogen oder verfolgt eine weitere Spur von 1950 aus, dem Jahr des unveröffentlichten KMK-Beschlusses (hierzu vgl. oben 2.2.1); möglicherweise gemäß der Volksweisheit: „Doppelt genäht hält besser“, was allerdings nicht immer zutrifft. Zunächst soll nach Kopkes Deutung in dem Beschluss der westdeutschen Kultusministerkonferenz von 1950, „wonach der Duden [...] im Zweifel maßgebend sei“, mit diesem „die konkurrenzlose [13.; WM] Leipziger Auflage von 1947“ gemeint sein (Kopke 1995, S. 49). Dies erscheint angesichts der damaligen politischen Situation schon als recht merkwürdig, ja: als abstrus und lässt zudem außer Acht, dass im gleichen Jahr im Steiner Verlag, Wiesbaden, eine westdeutsche Lizenzausgabe erscheint, von der 1949, also ein Jahr vor dem KMK-Beschluss, gleich zwei Ausgaben (je eine in Gütersloh und Frankfurt am Main) auf den Markt kommen (Heller 1989, S. 100); wobei angemerkt sei, dass Kopke sich mit der Dudenredaktion in Wiesbaden insgesamt recht schwer tut (vgl. unten 3.1). 127 Kopke (1995, S. 48) kennzeichnet diesen seinen Befund als „Widerspruch“ zu der „Eingabe“ vom Oktober 1955 und „zu den späteren Beteuerungen des Duden“. Sind es nach Kopke immerhin noch „nur einige der Änderungen von 1944“, die „der Duden [...] übernahm“, so beschränkt sich nach Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 118) die Übernahme nur noch auf den „skurrilen Einzelfall >Kautsch< [...]“. Insgesamt zeichnet sich in der einschlägigen Literatur eine gewissermaßen schwindende Übereinstimmung der 14. Auflage von 1954 mit Rust (1944) ab. Darauf ist unten (3.2.3) noch einmal einzugehen. <?page no="266"?> 266 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Knapp 20 Seiten später geht Kopke weiter zurück bis in das Jahr 1934, zum Kleinen Duden, dem Reichsschulwörterbuch (hierzu vgl. oben 1.1.1.2 (2)), dem er das Merkmal ‘richtunggebend’ verleiht. „Im Hinblick auf den Beschluß der Kultusminister von 1950 bedeutsam [...] ist die Tatsache, daß der Duden aufgrund seiner guten Beziehungen zu den neuen Machthabern bereits 1934 ein „Reichsschulwörterbuch der deutschen Rechtschreibung“ herausgeben konnte, das >in Verbindung mit der Reichsleitung des Nationalsozialistischen Lehrerbundes< bearbeitet wurde, wie es im Untertitel heißt [...; laut Fußnote nach Sauer; WM]. Damit war der Duden schon im Dritten Reich für den Schulunterricht >richtunggebend<; der Beschluß von 1950 sowie die >Beleihung< von 1955 knüpfen daran an.“ (Kopke 1995, S. 67; Kursive WM). Zu dieser ‘ Tatsache-damit-daran anknüpfen'-Simktax einige Anmerkungen; Das von Kopke mit der Nennung des Lehrerbundes auf der Titelseite begründete „für den Schulunterricht >richtunggebend<“ ist wohl eher die Intention des Verlages, der durch das Einspannen nationalsozialistischer Größen auch im Sinne der Werbung in eigener Sache in die damals für viele als richtig geltende Richtung weist. Entsprechend haben laut Vorwort das „Reichsministerium des Innern und die Unterrichtsverwaltungen der Länder [...] die Absicht des Buches begrüßt.“ (Kleiner Duden (Reichsschulwörterbuch) 1934, S. IV Vorwort). Doch liegen eine solche ‘Begrüßung’ wie auch die Nennung auf der Titelseite sowie auch Mühlners werbende „Begleitworte“ und „Gedanken“ „zum [Erscheinen des] Reichs-Schulwörterbuch [es]“ 1934 auf einer qualitativ anderen (Verbindlichkeits-)Ebene als insbesondere der KMK-Beschluss von 1955. Über einen dazu analogen Beschluss amtlicher Stellen 1934 etwa der Art, das Reichsschulwörterbuch sei für die Schulen verbindlich, berichtet Kopke nicht und aus der einschlägigen Literatur ist mir ein solcher nicht bekannt. Gäbe es einen solchen Beschluss, dann wäre er mit Sicherheit, etwa von Gerd Simon, ausgegraben und bekannt gemacht worden. Auch die vor diesem Hintergrund auffällige und in Kopkes Argumentationsstruktur nur schwer unterzubringende Schlussfolgerung, dass diese Art von ‘richtunggebend’ von 1934 für den Kleinen Duden in der 2. Auflage von 1939, wo der Nationalsozialistische Lehrerbund nicht (mehr) erscheint, entsprechend nicht mehr gilt (vgl. oben 1.1.1.3), erklärt Kopke nicht. <?page no="267"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 267 Das von Kopke als Zitat gekennzeichnete, inhaltlich hier gewichtige, ja entscheidende „richtunggebend“ hängt bei ihm, weil quellenmäßig nicht ausgewiesen, in der Luft. Die Suche im Reichsschulwörterbuch (1934), das Kopke in dieser Weise kennzeichnet, ergibt: Es steht weder auf der Titelseite noch im Vorwort. Gefunden habe ich es im weiteren Duden-Umfeld dann zwar in der Abhandlung „Zur Geschichte der deutschen Sprache“ im Volks- Duden (1933, S. 30*) und in der Duden-Rechtschreibung ( n 1934, S. 8*) (vgl. oben 1.1.2.2 Abb. 7). Doch um diese Bücher geht es Kopke nicht und entsprechend werden sie von ihm in diesem Zusammenhang auch nicht angeführt, zumal sich richtunggebend in der Abhandlung auf die Wiener Kanzlei im 15. Jh. bezieht. Und einmal so recht ins Grübeln gekommen, drängt sich dir auf: Da war doch noch etwas? Ein Suchlauf „richtunggebend“ durch das Manuskript führt zu dem unveröffentlichten Beschluss der KMK von 1950 und klärt den Fall. Kopke rejiziert das „richtunggebend“ von 1950, wo es sich auf den „Duden“ bezieht, in das Jahr 1934 mit Bezug auf das Reichsschulwörterbuch. Getrennt durch ein Semikolon (vgl. das Kopke-Zitat auf der vorangehenden Seite oben) folgt dann die Geschichte über die Anknüpfung der Beschlüsse von 1950 und 1955. In Folge all dessen fragst du dich, an was aus dem Jahre 1934 dann eigentlich „der Beschluß von 1950 sowie die >Beleihung< von 1955“ anknüpfen. Dies umso mehr, als nach meiner Erinnerung das Reichsschulwörterbuch im Umfeld der Ereignisse von 1950 bis 1955/ 56 und weiter bis 1959 keine Rolle spielt und keine Erwähnung findet. Diese von Kopke verfolgte Spur verläuft im Sande und wird entsprechend im Weiteren dort belassen. Wie sagt der Volkmund? Weniger ist manchmal mehr. Wobei das Wenige nicht unbedingt immer ein Viel sein muss. 2.2.4 Heering (26.1.1997) In einem Brief vom 26.1.1997 an das IDS weist Werner Heering auf Trausei (1944) hin und auf die dort gegebene Auskunft, dass sich die Rechtschreibung in diesem Buch nach Rust (1944) richte (vgl. oben 2.1.2.1). Gestützt auch auf die Erwähnung von Rust (1944) in Grebe (1968) hält er es für „unstreitig“, dass diese Regeln, die er als letzte Bearbeitung des preußischen Orthographiebuches ansieht, für die Schulen amtlich waren. Mit Blick auf <?page no="268"?> 268 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform die 9. bis 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung stellt er fest, dass „in Fußnoten auf die jeweils letzten Neubearbeitungen (1914, 1929, 1934 und 1940) dieser amtlichen Regelbücher verwiesen“ werde, die Neubearbeitung von 1944 jedoch nicht berücksichtigt sei. Er kritisiert, dass sowohl in der Duden-Rechtschreibung ( 21 1996) als auch im Bertelsmann (1996) sowie in der Literatur zur Rechtschreibreform die amtliche Regelung von 1901 und nicht die Überarbeitung durch Rust (1944) als bisher geltende Regelung hingestellt werde, die nunmehr durch die neue von 1996/ 1998 ersetzt sei. Vergleiche die Merkpunkte 1, 2 und 6 in 2.2.5 (Abb. 35). Am Ende bittet er um „eine Stellungnahme und um Klärung“ (Heering 1997/ 26.1.). 128 2.2.5 ‘DudenVKMK-Merkpunkte: Übersicht Im Abschnitt 2.2.1 ist dargestellt und deutlich geworden, dass Dehnkamp und in Folge die KMK der Argumentation Grebes, der Dudenredaktion folgten; in den weiteren Abschnitten zeigte sich, dass dies späterhin in je spezifischer Weise auch für Böhme, Kopke und Heering gilt. Abb. 35 demonstriert dies durch die Übereinstimmung der eingerichteten Merkpunkte. Merkpunkte ‘Duden’ > KMK (1955/ 56) (2,2.1): Rust (1944) = Böhme (1995) (2.2.2) Kopke (1995) (2,2.3) Heering (1997/ 26.1.) ü-2.4) letzte amtliche Festlegung + noch heute [...1 gültig eine der späteren amtlichen Verfügungen nach 1901 vom ‘Duden’ inhaltlich übernommen: nur einige der Änderungen ausgenommen: Zeichensetzung die meisten Kontinuität Basler > Grebe Rust (1944) als amtlich anerkannt von: ‘Duden’ und KMK ‘Duden’ und KMK ‘Duden’ Abb. 35: ‘Duden’/ KMK - Merkpunkte 128 Titelhinweis: Heering übernimmt aus Trausei den korrekten Titel einschließlich der Angabe des Verlages und des Ministeriums. <?page no="269"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 269 2.3 Rust (1944): Eingestampft - Nicht durchgesetzt - Gescheitert Der oben in 2.1 anhand der Dokumentation des Jahres 1944 festgestellte Befund, dass Rust (1944) damals für die Schulen amtlich war, wird mehr als vier Jahre später, am 21.12.1948, veröffentlicht im Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen, Jahrgang I, 1949, amtlicherseits im Rückblick noch einmal bestätigt: „Im Jahre 1944 erfolgte durch Erlaß des damaligen Reichserziehungsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, vom 20.2.1944 - E II a (C6) 5/ 44 - , abgedruckt im MB1WEV 1944, S. 59, durch den damaligen Deutschen Schulverlag die Einführung des Heftes >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis^ Damit sollten die bis dahin in den deutschen Ländern gültigen Regelbücher ersetzt werden.“ Bestätigt wird damit die Absicht, das Nebeneinander der z.T. voneinander abweichenden preußischen, bayerischen und österreichischen Rechtschreibbücher durch eine reichseinheitliche Rechtschreibung abzulösen. Im Weiteren wird auf den damaligen Versorgungsengpass („damals herrschende [...] Papierknappheit“) hingewiesen und auch darauf, dass „das Heft [...] zum Teil schon an die Volksschulen ausgeliefert war“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.; #2.23; zum Bestellverfahren vgl. den Erlass vom 20.5.1944 oben in 2.1.1.3 (1)). Dieser Befund das sei wiederholt wird in der Literatur, soweit ich sehe, nicht in Frage gestellt. Die in 2.2 dargestellte Meinung, Rust habe über 1944/ 1945 hinaus weiterhin amtliche Geltung bis längstens 1996/ 1998, wird u.a., juristisch untermauert, von Kopke vertreten. Die von ihm dargestellten Sachverhalte und vorgelegten Interpretationen werden zur „Rechtslage“ erklärt und die Sach- und Forschungslage dies zur Erinnerung kurz so gekennzeichnet: „Wenn sich in der germanistischen Literatur überhaupt einmal ein Hinweis auf die Regeln von 1944 findet, dann mit dem Zusatz, daß diese alsbald eingestampft worden und infolgedessen wirkungslos geblieben seien 321 .“ Anm. 321: „Jansen-Tang (Fn. 117), S. 83; Jellonnek, Münstersches Logbuch zur Linguistik 4/ 1979, S. 47 (57). [...]“. (Kopke 1995, S. 47). Dieser Forschungsbefund ist grundsätzlich gesehen nicht unzutreffend, doch ist er unvollständig. Er berücksichtigt nicht alles, was bis 1995 in der Forschung bekannt ist und auch Kopke und Böhme verfügbar war (hierzu vgl. die folgenden Abschnitte). <?page no="270"?> 270 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die in 2.2 dargestellte Meinung ist stark geprägt von den Aktivitäten Paul Grebes und der Dudenredaktion und in Folge Willy Dehnkamps und der KMK 1954 bis 1956. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Böhme und Kopke (1995) und auch Heering (1997/ 26.1.) sich nicht nur auf die Amtlichkeit von Rust (1944), sondern zusätzlich auf ‘den Duden’ und z.T. auf die KMK berufen und ihre Einschätzung entscheidend darauf stützen (vgl. Abb. 35 in 2.2.5 und bei allen den Merkpunkt 6). Diese Meinung ist bzw. die genannten Autoren sind dabei stark geprägt von der Art und Weise, wie ‘der Duden’ die Fakten, Daten und Sachverhalte, um die es damals ging, dargestellt und wie er sich selbst vorgestellt und in Szene gesetzt hat. Doch liegen in auch von Kopke und Böhme benutzten bzw. ihnen zugänglichen Forschungsbeiträgen Indizien dafür vor, dass einiges vielleicht doch etwas oder sogar ganz anders gewesen ist. Das heißt auch, dass die Genannten der Argumentation Grebes und der Dudenredaktion möglicherweise in bestimmten Punkten aufgesessen sind (hierzu vgl. unten 3.2 und 3.3). Der von Kopke angesprochene „Zusatz“, dass die Regeln von 1944 „alsbald eingestampft worden und infolgedessen wirkungslos geblieben seien“, hat seine Tradition; auch hier liegt ein Wirkungszusammenhang von Texten vor. Kopke (1995, S. 47, Anm. 321) führt diese Tradition mit dem Hinweis auf Jansen-Tang und Jellonnek über 1988 bis hin in das Jahr 1979, doch sie reicht noch weiter zurück. Beide zuletzt Genannten stützen sich in dem einschlägigen Abschnitt und bei bestimmten Formulierungen auf S.L. (1953) und auf Reumuths Artikel von 1944, über den S.L. ausführlich berichtet, sowie auf N.N. (Anfang 1945) und auf Wessely (1944/ 15.10.). Böhme und Kopke fuhren und zitieren diese Titel nicht, was bei Böhme darüber hinaus auch für Jellonnek gilt. Entsprechend dem Zeitablauf ergibt sich als Ab- oder Nachfolge in dieser Tradition (vgl. 2.3.1 bis 2.3.7): 1953 S.L. => 1979 Jellonnek => 1988 Jansen- Tang => 1992 Strunk => 1994 Stanze => 1995 Böhme => Kopke 1995. In 2.3.8 findet sich eine Übersicht. In 2.3.9 kommen Zeitgenossen aus der jüngeren Gegenwart kurz zu Wort. <?page no="271"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 271 2.3.1 S.L. (1953): Kritik => Eingestampft, von der Durchführung abgesehen S.L. (1953) hat den Titel: „Die Rechtschreibreform von 1944. Rechtschreibänderungen, die nicht durchgeftihrt wurden.“. Nach Ankündigung des ‘nachstehend abgedruckten Textes’ von Reumuth (1944) und vor dessen Abdruck äußert sich S.L. über das Schicksal der „Rechtschreibreform von 1944“ so: „Über den Ausgang dieser Rechtschreibreform ist zu erwähnen, daß die in neuer Rechtschreibung gedruckten >Regeln< eingestampft wurden und die neue Rechtschreibung kurz nach der Geburt das Zeitliche segnete. Viele Einwände von Sprachwissenschaftlern und Lehrern sowie das Vorbringen von Mängeln veranlaßten den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, von der Durchführung der ausgearbeiteten Rechtschreibreform abzusehen.“ (S. 99f.). Mit der Bewertung dieser geplanten Reform aus seiner Sicht als Korrektor schließt S.L. seinen Artikel ab: „Es liegt klar auf der Hand, daß eine solche Rechtschreibreform für uns Korrektoren zu neuen Schwierigkeiten geführt hätte. Denn wie hätten wir uns wohl in der Praxis bei den zulässigen Doppelschreibungen >ich habe Angst< und >ich habe angst<, >ich habe schuld< und >ich habe Schuld< usw. verhalten sollen! “ (S. 101; Kursive WM). 129 (#2.21). Mit dem dispositiven Konjunktiv II kennzeichnet er, im Einklang mit seinem Eingangsbericht über den Ausgang der Reform, den ausgesagten Sachverhalt als nur gedacht, als irreal, als nach seinem Wissen nicht (mehr) bestehend. Das deckt sich mit dem Befund, der sich oben (vgl. 1.3.3.1) im Rahmen des ‘Zugangs A: Von den Texten aus’ ergeben hat. Der oben zitierte erste Abschnitt ist zwar recht kurz, doch enthält er ein kausal-temporal-konsekutives Handlungs- und Ereignisgefuge, dessen Struktur man (sich) als Folge einzelner Schritte oder Gesichtspunkte vorstellen kann. Ergänzt um weitere Gesichtspunkte, die im Verlauf der Darstellung ins Blickfeld geraten werden, ergibt sich ein Raster, das den Hintergrund für den Vergleich mit weiteren Darstellungen bildet: 129 Titelhinweis: S.L. spricht von den in neuer Rechtschreibung gedruckten „Regeln“. Es liegt ein stark gekürzter Titel vor, was sich, auch hier, aus der Insider-Perspektive erklären lässt. Rust (1944) kannte er wohl nur aus Reumuths Zeitungsartikel. <?page no="272"?> 272 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (1) Gründe (warum? ) (1.1) viele Einwände von Sprachwissenschaftlern und Lehrern: allgemeine Kritik (1.2) Vorbringen von Mängeln: Kritik an Regelungs-intemen, immanenten Punkten (vgl. unten) (1.3) spezielle Zeitumstände: - (1.4) allgemeine Zeitumstände: - (2) Handlungen: Die Gründe -1.1 und 1.2 veranlassten den Minister zu handeln (wozu) (2.1) von der Durchführung der ausgearbeiteten Rechtschreibreform abzusehen: intentional-aktiv, Entschluss, innere Handlung explizite Nennung des verantwortlichen Agens (2.2) die in neuer Rechtschreibung gedruckten Regeln wurden eingestampft: praktische Folge(rungs)handlung, Maßnahme; passivisch (3) Zeitpunkt (wann): kurz nach der Geburt (4) Ergebnis, Folge (mit welchem Effekt) (4.1) segnete die neue Rechtschreibung das Zeitliche (4.2) - Die Abfolge der Schritte in S.L. ist: 2.2 —> 3 —> 4.1 —» 1.1 + 1.2 —> 2.1. Hinweise auf die geographische Herkunft der Kritiker und auf konkrete Inhalte ihrer Kritik sowie auf von ihm benutzte Literatur gibt S.L. nicht. S.L.s Kritik an den „Doppelschreibungen“ in der rückblickenden Schlussbewertung ist seine eigene, die von ihm angeführten Beispiele finden sich in Reumuths Artikel. 130 Zum inhaltlichen Verständnis dieser Kritik einige Regelungspunkte aus Reumuth (1944, S. 100) und damit aus Rust (1944): „Im praktischen Leben haben sich schon längst die Schreibungen Fotograf, Telefon, Frisör, Keks (für Cakes), Schal durchgesetzt. Diese neuen Schreibungen waren auch schon halbamtlich anerkannt. Das neue Regelbuch dehnt 130 In das gleiche Hom der Kritik stoßen schon Wessely (1944/ 15.10., S. 2/ 3) („der gegenwärtige Schreibgebrauch [kann] vorläufig auch weiterhin in Geltung bleiben“ / „ein Durcheinander“) und entsprechend auch N.N. (Anfang 1945, S. 24) („>der gegenwärtige Schreibgebrauch [kann] vorläufig auch weiterhin in Geltung bleiben<“ / „ein großes Durcheinander“), wobei beide, daran sei hier erinnert, Rust (1944) als geltend ansehen. Wessely (1944/ 15.10., S. 2) spricht im Namen der Buchdrucker; N.N. (Anfang 1945) nennt Lehrer und Schriftsetzer als die am meisten von der Regelung Betroffenen (S. 25) und fordert die Beteiligung „von Fachleuten der Wissenschaft, der Schule und der Buchdruckerei“ an einer Reform (S. 29). <?page no="273"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Spmchgesetz) oder nicht? 273 nunmehr die eingedeutschte Schreibweise auf alle Fremdwörter aus und ordnet folgerichtig an, daß die Buchstaben ph und th durch/ und t ersetzt werden und daß auch das h nach r wegfallt. Da der Gesetzgeber die allmähliche Anpassung an die neue Schreibung ermöglichen will, fügt er dieser Bestimmung hinzu, daß der bisherige Schreibgebrauch mit ph, rh und th weiterhin zulässig ist. [...Damit] erlaubt der Gesetzgeber die Doppelschreibung. Es kann nunmehr geschrieben werden: Filosof Fosfor, Difterie, Sfäre, Sinfonie, Strafe, Rabarber, rytmisch, Teater, Tese, teoretisch. Die Endsilbe eur [...] nimmt die deutsche Schreibweise an, also: Frisör, Likör, Schofför. Darüber hinaus ist die Schreibung folgender Wörter eingedeutscht worden: Kautsch [...], Majonnäse, Ragu, Tambur, Träner, Tur (auf Türen bringen).''' (Kursive WM). Einige dieser Wörter sowie die generelle Linie sind aus den Überschriften von Reumuths Artikel Ende Juni 1944 (vgl. oben 2.1.2.2) bzw. aus dem Kurzbericht über die lexikographische Werkstatt (vgl. 2.1.1.1 (2)) bereits bekannt. Bei der Groß- und Kleinschreibung lässt Rust mehr Doppelschreibungen zu, darüber hinaus „sollen die Abweichungen von der richtigen Schreibung nicht als Rechtschreibfehler gelten“; dies gilt auch für die Zeichensetzung, „soweit sie [die Abweichungen; WM] sich von der gesprochenen Sprache her begründen lassen“ (Reumuth 1944, S. lOOf.). Insgesamt wird also ein extrem großer Freiraum eröffnet. Kritik wie die von S.L. an „zulässigen Doppelschreibungen“ dieser Art ordne ich in der Matrix dem Punkt 1.2: ‘immanente Mängel’ zu. Zwischenbemerkt sei: Nimmt man die oben angeführten Punkte der Rustschen Regelung nur halbwegs unvoreingenommen zur Kenntnis, so erweist sich die Vorstellung, diese stimme inhaltlich weitestgehend mit der Neuen Regelung (1996) überein, als Zweckchimäre (ausführlicher vgl. Mentrup i.Vorb.). 2.3.2 Jellonnek (1979): Kritik => Eingestampft und gescheitert Jellonnek (1979) geht in seinem Überblick über die „Bemühungen um eine Rechtschreibreform [...] 1933-1945“ u.a. auf den Vorschlag von Fritz Rahn von 1941 und am Schluss auf Rust ein: „3.4. Die Vorschläge des Wissenschaftsministers Rust von 1944/ 45“ (#2.22). <?page no="274"?> 274 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Auf weitaus realistischerem Boden [als die vorher vorgestellten Reformvorschläge; WM] standen die Vorschläge des NS-Wissenschaftsministers Bernhard Rust, die ein großes Echo fanden, aber leider nicht mehr im Original vorhanden sind.“ 131 Nach Hinweis auf den Umfang von 96 Seiten und die 300.000 Schüler als Adressaten (hierzu vgl. oben 2.1.1.1 (1)) heißt es weiter: „Da dieses Werk jedoch aus noch zu nennenden Gründen bei Pädagogen und Schriftleitern bzw. Setzern auf großen Protest stieß, wurden die Exemplare wieder eingestampft.“ Es folgt der Hinweis auf Reumuth (1944) in S.L. (1953), die er beide benutzt. Seine Auskunft über den Ausgang dieser Rechtschreibreform lautet: „Rust scheiterte daran, daß er seine Reform nicht als verbindlich erklärte, sondern in einer Übergangszeit sowohl die alte als auch die neue Schreibweise gelten lassen wollte. 45 “ (Jellonnek 1979, S. 57). Anm. 45 auf S. 62: „Dieser Vorschlag wurde heftig kritisiert! U. a. von: Wessely, Franz (...) 1944 (...); (...) Eine neue Rechtschreibung (...) 1945 (...)“ (# 2.22). Der letzte Beitrag wird hier als N.N. (Anfang 1945) geführt. Der Ausdruck eingestampft stammt ersichtlich aus S.L. (1953). Die zu nennenden Gründe und der große Protest - „bittere Kritik“ „besonders im deutschsprachigen Ausland“ (Jellonnek 1979, S. 59) bestehen aus der Wiedergabe einschlägiger Stellen aus den Schweizer Beiträgen (vgl. oben 2.1.2.3), die allerdings von der Geltung des Buches von Rust ausgehen, d.h. von seinem Scheitern nicht berichten. Wahrscheinlich stützt sich die Angabe der Berufsgruppen der Kritiker ebenfalls auf diese sowie auf S.L. (1953) („für uns Korrektoren“). Als Raster ergibt sich: (1) Gründe: insbesondere aus N.N. (Anfang 1945) und dem hier referierten Wessely (1944/ 15.10.) 131 Titelhinweis: Im Text findet sich dieselbe verkürzte Form „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ wie in Reumuth (1944) in S.L. (1953), auf den letzteren stützt sich Jellonnek hier. Über die Bezeichnung „Reichswissenschaftsminister“ ist oben (vgl. 1.2.2, 1996) schon gesprochen worden. Die Kennzeichnung von Rust (1944) als „Vorschläge“ verwischt den Unterschied zu den beiden ersten Initiativen Rusts von 1936 und 1941 (vgl. jetzt auch Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 16). Jellonnek wird benutzt von Jansen-Tang (1988) und Kopke (1995). <?page no="275"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 275 (1.1) allgemeine Kritik: großer Protest von Pädagogen und Schriftleitern bzw. Setzern, heftig kritisiert, bittere Kritik besonders im deutschsprachigen Ausland (1.2) immanente Punkte: Reform nicht verbindlich, sowohl die alte als auch die neue Schreibweise gelten (1.3) spezielle Zeitumstände: - (1.4) allgemeine Zeitumstände: - (2) Handlungen (2.1) kein Agens genannt (2.2) wurden die Exemplare wieder eingestampft: nach S.L. (3) Zeitpunkt: - (4) Ergebnis, Folge (4.1) Rust scheiterte (4.2) - Die Abfolge der Schritte in Jellonnek ist: 1.1 + 1.2 zunächst pauschal angekündigt —> 2.2 —> 4.1 —> 1.1 + 1.2 präzisiert. Aufgrund der Quellenlage werden die Kritiker insbesondere im Ausland lokalisiert, die Kritik richtet sich gegen das Nebeneinander der alten und der neuen Schreibung. 2.3.3 Jansen-Tang (1988): Kritik => Eingestampft, von der Durchführung abgesehen - Völliger Untergang In ihrem Überblick über die Ereignisse in der Zeit von 1933 bis 1945 geht Jansen-Tang u.a. auf die Umstellung von der Fraktur auf die Antiqua und auf den Vorschlag Fritz Rahns von 1941 ein. „1 944 werden dann plötzlich durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Rust, die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< neu herausgegeben, und zwar mit zahlreichen Änderungen in der Orthographie“ (Jansen-Tang 1988, S. 82). 132 132 Jansen-Tang stützt sich auf Reumuth (1944) in S.L. (1953), auf diesen, auf Wessely (1944/ 15.10.) und auf N.N. (Anfang 1945). Den authentischen Text Rust (1944) hatte sie nicht vorliegen. Außerdem fuhrt sie im Literaturverzeichnis Jellonnek (1979) und Küppers (1994), ohne diese in diesem Abschnitt zu zitieren. Titelhinweis: Den verkürzten Titel „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ entnimmt Jansen-Tang dem Beitrag Reumuths, der auf S. 82, Anm. 5 fälschlich Rust zugeordnet ist. <?page no="276"?> 276 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Weiter heißt es: „Über den Ausgang dieser maßvollen Rechtschreibreform ist bekannt, daß die nach der neuen Orthographie gedruckten Regeln kurz nach ihrem Erscheinen eingestampft wurden. Der Reichsminister Rust sieht sich wahrscheinlich durch die von vielen Sprachwissenschaftlern und Lehrern vorgebrachten Einwände dazu veranlaßt, von einer Durchführung der neu ausgearbeiteten Regeln abzusehen.“ (ebd.) Jansen-Tang lehnt sich hier deutlich an S.L. (1953) an. Im Einklang mit der Kennzeichnung „Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt.“ (so Reumuth 1944 in S.L. 1953, S. 100) stuft sie die Rechtschreibreform als maßvoll ein. Im Weiteren schränkt sie durch die dispositive Modalpartikel wahrscheinlich den Geltungsgrad der Begründung S.L.s für die Handlungen des Reichsministers ein; d.h., sie indiziert die Aussage bezüglich der Kausalität als Vermutung. Darüber hinaus bezieht sie die zwei Stellungnahmen von 1944 und 1945 aus der Schweiz mit ein, wie schon 1979 Jellonnek. „Hauptkritikpunkt ist die Tatsache, daß der geltende Schreibgebrauch auch weiterhin in Geltung bleiben kann, so daß man mit einer Verwirrung 2 in der Schreibung rechnet.“ Anm. 2: „Vgl. Wessely, F. (1944), S. 2 f.“ (Jansen-Tang 1988, S. 83). Als weitere Begründung für den dann völligen Untergang führt sie, und dies von den in 2.3 angeführten Autoren als erste, spätere allgemeine Zeitumstände an: „Ein Jahr später geht durch das Kriegsende und den Zusammenbruch der Hitler-Diktatur diese Reforminitiative völlig unter.“ (ebd., S. 84) Als Raster ergibt sich: (1) Gründe: insbesondere aus S.L. (1953), auch aus Wessely (1944/ 15.10.); (speziell vgl. unten 1.4) (1.1) allgemeine Kritik: die von vielen Sprachwissenschaftlern und Lehrern vorgebrachten Einwände, Kritik auch von Wessely (Wien/ Schweiz) (1.2) immanente Punkte: Hauptkritikpunkt: geltender Schreibgebrauch auch weiterhin in Geltung > Verwirrung (1.3) spezielle Zeitumstände: - Im Literaturverzeichnis (S. 649) findet sich: „Rust, B. (1944): Regeln für die deutsche Rechtschreibung. Hrsg. v. Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin 1944. Nach: L.S.: Die rechtschreibreform [sic] von 1944.“ Der Name Rust findet sich in L.S. nicht. Der nach L.S. rekonstruierte Titel für das Werk ist ebenfalls verkürzt. <?page no="277"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 277 (1.4) allgemeine Zeitumstände: durch das Kriegsende und den Zusammenbruch der Hitler-Diktatur (vgl. 4.2) (2) Die Gründe wahrscheinlich (1.1) und (1.2) veranlassen den Minister zu handeln (2.1) von einer Durchführung der neu ausgearbeiteten Regeln abzusehen: nach S.L. (2.2) die nach der neuen Orthographie gedruckten Regeln wurden eingestampft: nach S.L. (3) Zeitpunkt: kurz nach ihrem Erscheinen: nach S.L. (4) Ergebnis, Folge (4.1) implizit in (2) (4.2) vgl. (1.4): ein Jahr später geht diese Reforminitiative völlig unter Die Abfolge der Schritte in Jansen-Tang ist: 3 —> 2.2 (implizit 4.1) —> wahrscheinlich 1.1 —»2.1 (implizit 4.1)—»1.2—» 1.4—»4.2. Aufgrund der Quellenlage werden die Kritiker insbesondere im Ausland lokalisiert; die Kritik richtet sich gegen das Nebeneinander der alten und der neuen Schreibung. 2.3.4 Strunk (1992): Eingestampft - Verhinderung weiterer Diskussionen Strunk (1992, S. 167) geht erklärlicherweise nur kurz auf die Umstellung von der Fraktur zur Antiqua und auf den von Rahn 1941 in der Zeitschrift „Das Reich“ veröffentlichten Vorschlag ein, der „wahrscheinlich wegen der Kriegsereignisse“ nicht diskutiert wurde. Ebenso kurz heißt es weiter: „Allerdings wurden dann 1944 »plötzlich durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Rust, die >Regeln für die deutsche Rechtschreibung< neu herausgegeben, und zwar mit zahlreichen Änderungen in der Orthographie« (Jansen-Tang 1988: 82 [...]). Die neuen Regeln wurden kurz nach ihrem Erscheinen wieder eingestampft, und die Ereignisse des Jahres 1945 verhinderten weitere Reformdiskussionen auf politischer Ebene.“ 133 (ebd.) 133 Titelhinweis: Strunk übernimmt mit dem Zitat aus Jansen-Tang auch den von dieser verwendeten Kurztitel aus Reumuth. Im Anhang (S. 571) bringt Strunk den vollständigen und richtigen Titel ohne Angabe des Verlags, fuhrt ihn als „Neuauflage der >Amtlichen Regelm mit Reformvorschlägen“ ein und bemerkt zum Schluss „(kurz nach Erscheinen eingestampft)“. <?page no="278"?> 278 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Als weitere Begründung für die Verhinderung weiterer Reformtätigkeiten führt sie als spätere allgemeine Zeitumstände „die Ereignisse des Jahres 1945“ an. Als Raster ergibt sich: (1) Gründe (1.1) allgemeine Kritik: - (1.2) immanente Punkte: ~ (1.3) spezielle Zeitumstände: - (1.4) allgemeine Zeitumstände: die Ereignisse des Jahres 1945 (vgl. 4.2) (2) Handlungen (2.1) kein Agens genannt (2.2) die neuen Regeln wurden wieder eingestampft: nach Jansen-Tang (3) Zeitpunkt: kurz nach ihrem Erscheinen: nach Jansen-Tang (4) Ergebnis, Folge (4.1) implizit in (2.2) (4.2) (vgl. 1.4): verhinderten weitere Reformdiskussionen auf politischer Ebene Die Abfolge der Schritte in Strunk ist: 3 —> 2.2 (implizit 4.1) —>1.4 —> 4.2. Hinweise auf Kritiker und Kritikpunkte gibt Strunk nicht. 2.3.5 Stanze (1994a und b): Versorgungsengpass - Scheitern, Widerstand => Eingestampft Im Unterschied zu S.L. (1953) bis Strunk (1992) bezieht sich Stanze (1994a, S. 202f.), wenn auch nur kurz, direkt auf den Zulassungs- und Einführungserlass vom 20. Februar 1944 (vgl. oben 2.1.1.2) sowie ausführlicher auf den Erlass vom 20. Mai 1944, mit dem versucht wird, dem bestehenden Versorgungsengpass als einem 1944 aktuellen Zeitumstand beizukommen (vgl. 2.1.1.3 (1)), und auf das Dokument aus Niedersachsen (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.), das sich nur bei ihr findet. 134 S.L. (1953) und Jellonnek (1979) führt sie im Literaturverzeichnis nicht, wohl aber Küppers (1984), den sie in diesem Zusammenhang jedoch nicht zitiert. 134 Titelhinweis: Rust (1944) wird in Stanze (1994a, S. 360) („Verlag nicht ermittelbar“) und (1994b, S. 152) („Ober den Leihverkehr nicht zu beschaffen. Bibliogr. Nachweis: Küppers 1984. 271. I.L. 122a.“) innerhalb der Literaturverzeichnisse Preußen zugeordnet und (1994a, S. 202) als Preußen (1944) geführt, jedoch auch im Zusammenhang mit dem <?page no="279"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 279 „Für das in Rede stehende Regelbuch [gemeint ist Rust (1944); WM] führte der bereits [...] angedeutete Versorgungsengpaß zum Scheitern der in dem Regelbuch grundgelegten rechtschreiblichen Neuerungen. 3 Dies belegt rückblickend die [...] amtliche Mitteilung des niedersächsischen Kultusministers“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.), der den Versorgungsengpass („damals herrschende[...] Papierknappheit“) bestätigt. Anm. 3: „Jansen-Tang (1988. 83) bemerkt dazu, >daß die nach der neuen Orthographie gedruckten Regeln kurz nach ihrem Erscheinen eingestampft wurdem und der Neuregelung von der Öffentlichkeit, aber auch von wissenschaftlicher Seite zu großer Widerstand entgegengebracht wurde. Hinderlich für die Durchsetzung des Rechtschreibkonzeptes war zudem, daß der bisherige Schreibgebrauch parallel zu der Neuregelung verwendet werden durfte.“ (Stanze 1994a, S. 202f.) Als Raster ergibt sich: (1) Gründe: teils nach Jansen-Tang; (1.3) Stanze (1.1) allgemeine Kritik: zu großer Widerstand von der Öffentlichkeit, aber auch von wissenschaftlicher Seite (1.2) immanente Punkte: der bisherige Schreibgebrauch parallel zu der Neuregelung verwendet (1.3) spezielle Zeitumstände: der Versorgungsengpass (1.4) allgemeine Zeitumstände: - (2) Handlungen (2.1) kein Agens genannt (2.2) die nach der neuen Orthographie gedruckten Regeln wurden eingestampft: nach Jansen-Tang (3) Zeitpunkt: kurz nach ihrem Erscheinen: nach Jansen-Tang (4) Ergebnis, Folge (4.1) führte zum Scheitern der in dem Regelbuch grundgelegten rechtschreiblichen Neuerungen (4.2) sächsischen amtlichen Orthographiebuch erörtert. Titelangabe: „1944 Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Hrsg, vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Berlin“ (ohne Verlagsangabe). Entgegen Küppers Vorlage und dem authentischen Titel „[...] Rechtschreibung und Wörterverzeichnis [...]“ findet sich bei Stanze das traditionelle „nebst“; in Übereinstimmung mit beiden steht die korrekte Angabe des herausgebenden Ministeriums. Auf S. 202 findet sich von Stanze wohl nicht bemerkt, zumindest aber in ihrem Werk nicht reflektiert im Zitat aus Trausei der richtige Titel mit dem und und die Angabe Deutscher Schulverlag. <?page no="280"?> 280 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die Abfolge der Schritte in Stanze ist: 1.3 —> 4.1 —> 3 —> 2.2 —» 1.1 —> 1.2. Die Kritiker werden nicht lokalisiert, allgemein (und neu? ) ist von der Öffentlichkeit die Rede; die Kritik richtet sich gegen das Nebeneinander der alten und der neuen Schreibung. 2.3.6 Böhme (1995): Eingestampft - (! ? ) Auch Böhme und, wie schon oben erwähnt, Kopke stellen sich in diese ‘Eingestampft’-Tradition, wenn auch nur knapp und mit Zweifel bzw. mit juristischem Vorbehalt. Bei Böhme (1995, S. 330) heißt es in Anm. 44: „[...] tatsächlich ist 1944 nur ein Regelbuch, und zwar mit erstgenanntem Titel [gemeint ist der Titel in 2.1.1.1 (1); WM], veröffentlicht und laut H. Strunk, [...] 1992, S. 571, kurz nach Erscheinen wieder eingestampft (! ? ) worden.“ Die Zeichenkombination „(! ? )“ ist Ausdruck seiner Stellungnahme. In Strunk findet sich diese Markierung nicht. Als Raster ergibt sich: (1) Gründe (1.1) allgemeine Kritik: - (1.2) immanente Punkte: - (1.3) spezielle Zeitumstände: - (1.4) allgemeine Zeitumstände: - (2) Handlungen (2.1) kein Agens genannt (2.2) das Regelbuch ist wieder eingestampft worden: nach Strunk; Böhme: (! ? ) (3) Zeitpunkt: kurz nach Erscheinen: nach Strunk (4) Ergebnis (4.1) implizit in (2.2) (4.2) - Die Abfolge der Schritte in Böhme ist: 3 -4 2.2 (implizit 4.1). Hinweise auf Kritiker und Kritikpunkte gibt Böhme nicht. Die Bedeutung seiner kommentierenden Zeichenkombination „(! ? )“ verstehe ich so, dass das Ausrufezeichen Ausdruck der Verwunderung, der Bestürzung ist (da schau her; ja, gibt's denn so was! ), gepaart mit zunächst unterschwelligem <?page no="281"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 281 Zweifel (unglaublich! ), der dann in dem Fragezeichen seinen Ausdruck findet (wirklich? , glaub ich nicht! ). 2.3.7 Kopke (1995): Eingestampft - Rein faktisches Ereignis Der entsprechende Passus bei Kopke (1995, S. 47f.), dies zur Einnerung, lautet: „Diese Rechtslage ist weitgehend unbekannt. Wenn sich in der germanistischen Literatur überhaupt einmal ein Hinweis auf die Regeln von 1944 findet, dann mit dem Zusatz, daß diese alsbald eingestampft worden und infolgedessen wirkungslos geblieben seien 321 . Dies ist aber ein rein faktisches Ereignis, das die rechtliche Gültigkeit der Regeln nicht beeinträchtigen kann. Ein ordnungsgemäß ergangenes und verkündetes Gesetz würde auch nicht dadurch ungültig, daß die meisten Exemplare des betreffenden Gesetzblattes bei der Auslieferung untergingen.“ Anm. 321: „Jansen-Tang [...1988], S. 83, Jellonnek [... 1979], S. 45 (57).“ An einer früheren Stelle (auf S. 36, Anm. 247) weist Kopke auf den Versorgungserlass vom 20. Mai 1944 hin, doch im Zusammenhang des eingestampft-Motivs geht er darauf nicht ein. Hinweise auf Kritiker und auf Kritik gibt Kopke nicht. Seine juristische Einschätzung des von ihm offensichtlich nicht angezweifelten ‘rein faktischen Ereignisses’ kann ich nicht beurteilen. Doch dass ein Orthographiebuch in den Schulen amtlich gelten soll, diese aber das Buch nicht verfügbar haben diese Vorstellung und diese Situation erscheint mir als juristischem Laien als schon merkwürdig bzw. mit Blick auf die Schulpraxis als recht skurril. Für die mangelnde Auswirkung von Rust (1944) führt Kopke einen bisher nicht genannten Grund an, der außerhalb des hier erfassten Ereignis- und Argumentationsrahmens liegt und deshalb zwar an dieser Stelle angeführt, aber in der Übersicht (vgl. unten 2.3.8) nicht berücksichtigt wird: „Eine 1944 durchgeführte Reform der amtlichen Regeln blieb wirkungslos, weil der Duden diese Reform nicht mittrug.“ (Kopke 1995, S. 33). Welchen Einfluss und welche Macht musste 1944 ‘der Duden’ haben, um allein durch seine Passivität eine amtlich durchgeführte Reform ins Leere laufen zu lassen! Eine Neuauflage der Duden-Rechtschreibung, in der die Dudenredaktion die amtlich durchgefuhrten Änderungen übergehen und so nicht mittragen hätte können, erscheint 1944 oder 1945 nicht. Wie sollte sie auch möglich gewesen sein angesichts der oben (in 2.1.1.3 (3)) im Zusam- <?page no="282"?> 282 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform menhang mit dem Versorgungsengpass dargestellten Gesamtsituation des Bibliographischen Instituts einschließlich dessen Nennung auf der Verlags- Sperrliste im März 1944? Wie aber sieht dann das Nicht-Mittragen aus? Darüber äußert sich Kopke an dieser Stelle nicht. Im Anschluss an das erste Zitat dieses Abschnitts heißt es, nunmehr bezogen auf die Nachkriegszeit und auf die 13. und 14. Auflage der Duden-Rechtschreibung 1947 bzw. 1954 im gleichen Sinne: „Die Reformen von 1944 haben sich jedoch nicht durchgesetzt. Der Grund hierfür liegt darin, daß ein Neudruck der geänderten Regeln nach dem Kriege unterblieb und der Duden nur einige der Änderungen von 1944 übernahm“ (Kopke 1995, S. 48). 135 Wirkungslos, obwohl die Reform amtlich [durchgeführt] ist, weil der Duden [...] nicht mittrug [...] diese faktitiv konzessiv kausale ‘wirkungslosoiwoW-we/ f-Struktur ist schon eigentümlich. Die konzessiv kausale Erklärungs-Dichotomie um es auch mal so recht gelehrt zu sagen als Paradoxon? Als Kontradiktion? Als Konnexion inkongruenter, inkommensurabler Größen? Wir werden sehen (und zwar unten in 2.4). Als Raster ergibt sich: (1) Gründe (1.1) allgemeine Kritik: - (1.2) immanente Punkte: - (1.3) spezielle Zeitumstände: - (Passivität ‘des Duden’: trug die Reform nicht mit, übernahm nur einige Änderungen; kein Neudruck von Rust (1944) nach 1945) (1.4) allgemeine Zeitumstände: - (2) Handlungen (2.1) kein Agens genannt (2.2) die Regeln seien eingestampft worden: nach Jansen-Tang, Jellonnek; Kopke: rein faktisches Ereignis, rechtlich belanglos (3) Zeitpunkt: alsbald: nach Jansen-Tang (4) Ergebnis (4.1) wirkungslos geblieben (4.2) - Die Abfolge der Schritte in Kopke ist: 3 —> 2.2 4.1 (—» 1.3). 135 Zu dem nach Kopkes Meinung unterbliebenen Neudruck später mehr. <?page no="283"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 283 2.3.8 eingestampft - Texttradition: Übersicht => Lücken der Darstellung: Böhme (1995) und Kopke (1995) Führt man die einzelnen Raster von 2.3.1 bis 2.3.7 zusammen, so ergeben sich die Abbildungen 36 (eingestampft - Texttradition) und 37 (eingestampft - Gesichtspunkte oder Schritte). Die damit aufgezeigte Grundstruktur ist so unbekannt nicht. Schon oben bei der Auswertung des ersten sichtenden Zugangs zur Literatur (vgl. 1.3.2) ist sie gewissermaßen vorgezeichnet oder als Skizze deutlich geworden. Zu Abb. 36 und 37 einige Bemerkungen: Das in S.L. (1953) eingebrachte eingestampft-Motiv (vgl. Abb. 36 Zeile 2.2), das als Leitmotiv die Zusammenstellung der Texte in Abschnitt 2.3 begründet, wird von Jellonnek (1979) und Jansen-Tang (1988) direkt aus S.L. aufgegriffen. Vermittelt durch Jansen-Tang (1988) führen es Strunk (1992), Stanze (1994a) und, zusätzlich mit Hinweis auf Jellonnek, Kopke (1995): Grad 1 der Indirektheit. Strunk (1992) ist ihrerseits die Bezugsquelle für Böhme (1995): Grad 2 der Indirektheit. Auch dies ist ein Beispiel für Abhängigkeitsfolgen, Erzeugungs- und Wirkungszusammenhänge von Texten, manifestiert in der Tradition des hier markanten Leitmotivs für den Zeitraum von 1953 bis 1995 bzw. 1998, wenn man die erste Fassung dieser Studie mit einbezieht. Zudem dokumentiert Abb. 36 von S.L. (1953) über Jansen-Tang (1988) bis hin zu Stanze (1994) bei allen spezifischen Unterschieden einen Formulierungs- und Argumentationskonsens, eine kollektive Argumentationsstruktur. Diese wird 1988 von Jansen-Tang und in Folge 1992 von Strunk durch den Bezug auf allgemeine Zeitumstände (vgl. Abb. 36, Zeile 1.4 in Korrespondenz mit Zeile 4.2) sowie 1994 von Stanze durch den Einbezug speziell des konkreten Umstandes des Versorgungsengpasses (vgl. Zeile 1.3) kumulierend angereichert. Mit Jansen-Tang bzw. Stanze ist das überkommene Inventar der in der Darstellung des Themas eingestampft eingebrachten Gesichtspunkte komplett (vgl. auch Abb. 37, insbes. Teil II). Insgesamt gesehen bleibt die von S.L. (1953) aufgezeigte Struktur eines kausal-temporalkonsekutiven Handlungs- und Ereignisgefüges erhalten. <?page no="284"?> 284 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Abb. 36: eingestampft - Texttradition in Folge von <?page no="285"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 285 X' = Nicht angeführte Gesichtspunkte bezüglich der zuvor in der Literatur genannten. Abb. 37: t j / «ge.vtow/ ? / / -Gesichtspunkte oder -schritte Bei Böhme (1995) und Kopke (1995) ist das anders. Die Vielzahl sowohl der weißen Felder (in Abb. 36) als auch der x-Positionen (in Abb. 37, Teil II) machen augenfällig, dass die Gesamtmenge der in der Literatur vorfmdlichen Daten und Fakten eklektizistisch reduziert und um wichtige Gesichtspunkte ausgedünnt ist. Dies ist zunächst eine quantitative Feststellung; bezogen auf das Inventar der Gesichtspunkte schlägt die negative Quantität auch hier um in eine entsprechend ‘negative Qualität’. Betroffen von der möglicherweise unbewusst erfolgten oder vielleicht auch Ergebnis-orientiert, zielstrebig durchgeführten Selektion sind die aktive Handlung des Ministers als Agens (vgl. Abb. 36, Zeile 2.1), der gesamte Komplex ihrer Begründung (Zeile 1.1 bis 1.4) und damit der kausaltemporale pragmatische Ereignis- und Handlungszusammenhang, der das Scheitern und die Wirkungslosigkeit von Rust (1944), konsekutiv, zur Folge und als Ergebnis hat. Statt dessen bringt Kopke für 1944/ 1945 in seiner eigentümlichen ‘wirkungslos-obwohl-weir-$\.rvktxxr das damalige Nicht-Mittragen von Rust (1944) durch die Dudenredaktion, durch deren Passivität, als neuen Grund für dessen ausbleibende Wirkung ein. <?page no="286"?> 286 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Festzustellen ist: Die 1953 in S.L. festgehaltene und in Folge 1988 von Jansen-Tang weiter vermittelte Entscheidung des Ministers, von der Durchführung der Rechtschreibreform abzusehen, lässt sich mit Böhmes und Kopkes Ansicht von der Weitergeltung des Orthographiebuches nicht in Einklang bringen und passt nicht in ihr Konzept. Dies Konzept ist, wie oben in 2.2 gezeigt (vgl. Abb. 35 in 2.2.5), entscheidend geprägt von der Argumentation Grebes und der Dudenredaktion sowie im Weiteren von der Argumentation Dehnkamps und der KMK aus den Jahren 1955/ 1956. S.L. (1953) ist zwei Jahre vor diesen Vorgängen, die zu dem KMK-Beschluss vom November 1955 führen, erschienen; doch in der Diskussion 1955/ 1956 wird der Beitrag mit seinen Informationen nicht angeführt und spielt keine Rolle. Gleiches gilt in Böhme und Kopke - und dies trotz Jansen-Tang (1988), die beide 1995 benutzen und zitieren, d.h.: die sie beide kennen. S.L. dies zur Erinnerung druckt 1953 den Aufsatz authentisch ab, in dem Reumuth Ende Juni 1944 das Orthographiebuch Rust (1944) in einigen deutschen Zeitungen der Öffentlichkeit vorstellt. Dies spricht sehr dafür, dass S.L., von Beruf Korrektor, auch über weitere Ereignisse und Handlungen im Umfeld von Rust (1944) im Bilde war und seine retrospektiven Informationen darüber zu Beginn seines Beitrags ebenfalls authentisch sind. Ich sehe keinen Grund, seine Auskünfte anzuzweifeln. Auch Böhme und Kopke nennen einen solchen nicht, sondern gehen schlicht über S.L. (1953) hinweg. Ein Hinweis auf einen Erlass, in dem die Aufhebung der Geltung von Rust (1944) amtlich direkt mitgeteilt wird, findet sich in der angeführten Literatur nicht. Auch im „Amtsblatt des Reichsministeriums, Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, in dem alle oben in 2.1 erörterten Erlasse veröffentlicht sind, haben wir einen solchen Aufhebungserlass nicht gefunden. Allerdings erscheint Anfang 1945 - und zwar mit Heft 2 des Jahrgangs 11, veröffentlicht „Berlin, den 20. Januar 1945“ das letzte Heft. Wahrscheinlich ist auch das Hausblatt des Reichserziehungsministers ein Opfer speziell des in ihm vielfach dokumentierten Versorgungsengpasses oder auch der allgemeinen Ereignisse des Jahres 1945 geworden. All dies ändert nichts daran, dass laut Auskunft und Information von S.L. einem Insider aus der Retrospektive der Minister die von ihm eingeleitete Reform dann doch nicht durchführte. <?page no="287"?> Rust (1944): Amtliche Nom (Sprachgesetz) oder nicht? 287 2.3.9 Bertelsmann (1996): Ickler vs. Nerius und Götze In Bertelsmann (1996) findet sich im einführenden Kapitel zur Geschichte der Rechtschreibung, verfasst von Lutz Götze, zu Beginn des Abschnitts „Die Gegenwart“ folgender Abschnitt: „Nach der Machtergreifung der Nazis war 1933 erst einmal Schluss mit Überlegungen zur Reform der deutschen Rechtschreibung; das amtliche Regelwerk von 1901/ 1902 wurde bis in die vierziger Jahre unverändert aufgelegt, doch ist heute bekannt, dass Nazi-Reichsminister Bernhard Rust noch 1944 eine >Neuordnung der Rechtschreibung< auf den Markt bringen wollte, die eine Schreibung vorsah, >die klar, schlicht und stark ist<. Das Kriegsende verhinderte diesen Plan zum Glück.“ (Bertelsmann 1996, S. 20). Bezogen auf das Raster zur eingestampft-Tradition (vgl. Abb. 36) ergibt sich, dass die Gesichtspunkte 1.4 „das Kriegsende“ und 4.2 „verhinderte diesen Plan“ angeführt sind, persönlich eingefärbt durch das dispositive „zum Glück“. In Götze (1997/ 3.6.) heißt es dazu: „Mein Text im Bertelsmann-Wörterbuch beruhte auf dem Wissen, dass der Plan von Minister Rust wegen des Kriegsendes nicht verwirklicht wurde.“ Von hier aus erklärt sich in Abb. 36 in Spalte 16, Zeile 1 und in Abb. 37 in Spalte 16, Zeile e der Eintrag „Wissen“. 136 136 Der Text des von Götze nicht nachgewiesenen Zitats: eine Schreibung, „die klar, schlicht und stark ist“, findet sich auch in der von Götze unter „Literatur“ nicht angeführten Arbeit Küppers (1984), der ihn mit der hochgestellten Anmerkungszahl „389“ (ebd. S. 113) über die ^Anmerkungen Kap. 6“ Nummer „389 vgl. Linser, VI. L. 17, S. 209“ (ebd. S. 244) im Literaturverzeichnis „VI. Zeitschriften, Zeitungsaufsätze und Dokumente von 1934 bis 1945“ unter der Nummer. „17.“ dem dort (ebd. S. 296) bibliographierten Aufsatz „Grundsätze einer volkstümlichen Schreibung“ von Linser aus dem Jahre 1939 zuordnet. Da kannst du wirklich mit Recht sagen: Verschlungene Suchpfade - Mühselige Pfadsuche. Götzes zweites, von ihm ebenfalls nicht nachgewiesenes Zitat, Neuordnung der Rechtschreibung“, lässt sich mit Feldnachbam umstellen und sein Ursprung lässt sich in gewisser Weise punktuell lokalisieren. In dem schon für das erste Zitat bemühten Abschnitt in Küppers (1984, S. 112f.) wird der Bericht Reichspropagandaministerium (1944/ 4.7.) zur Neuregelungfür die Rechtschreibung vorgestellt (dazu vgl. unten 2.4.1), in dem es um die öffentliche Diskussion über Reumuths Artikel geht. Dessen Artikel vom 27.6.1944 führt im Titel Neue Regelung für die Rechtschreibung, der Artikel ähnlicher Art vom 22.6.1944 ist überschrieben Volkstümliche Rechtschreibung (zu beiden vgl. oben 2.1.2.2); wobei letztere Überschrift Linser (1939) in Erinnerung bringt. In diesem Zusammenhang finden sich in Küppers als Variationen Reform der Rechtschreibung, Rechtschreibänderung und Rechtschreibvereinfachung sowie Neue Regeln und dann auch Neuordnung der Orthographie', wobei, gegenüber dem letzten Ausdruck, sich Götzes <?page no="288"?> 288 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Ickler (1997, S. 15) erörtert den "Gedanke[n], daß jeder Eingriff in die gewohnte Schreibweise den ungeheuren Bestand des bereits Gedruckten buchstäblich >alt aussehem lassen könnte. Schon der Übergang von der Fraktur zur Antiqua 4 hatte ja diese Nebenwirkung.“ ln der Anm. 4 (ebd., S. 195) heißt es: „ 4 Diesen Übergang haben die Nationalsozialisten durchgesetzt. In manchen Darstellungen wird diese etwas peinliche Tatsache vornehm umschrieben, so etwa in einem noch zu DDR-Zeiten erschienenen Buch: >Noch bis zum Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts war die Fraktur die dominierende Schriftart (Nerius et al. 1989: 218)“ (Ickler 1997, S. 195). Die oben angeführte Rust-Stelle von Götze (1996) kommentiert Ickler so: „Der ebenfalls fortschrittliche Herausgeber der Bertelsmann-Rechtschreibung [...] weiß nicht oder verschweigt, wie sehr diese Pläne mit der gegenwärtigen Reform und mit seinen eigenen weitergehenden Vorstellungen übereinstimmten.“ (ebd., S. 195). Dazu nur dies: Ickler lässt nichts - oder wenig? aus und scheut vor wenig - oder vor nichts? zurück. Er verschweigt oder weiß 1997 nicht, dass die Vorstellung, von der Fraktur auf die Antiqua umzustellen, weitaus älter ist als das 1000-jährige Reich. Und er weiß 1997 noch nicht oder verschweigt zunächst, dass die amtliche Regelung 1996 und Rust (1944) insgesamt und auch in ihren übereinstimmenden Regelungsinhalten gemeinsame Vorfahren haben mit zum Teil nachgerade methusalemischem Alter. Drei Jahre später allerdings hat Ickler bezüglich der historischen Tiefe, die u.a. oben in der Auseinandersetzung mit Birken-Bertsch/ Markner (2000) mehrfach aufgezeigt worden ist, dazu gelernt bzw. rückt er mit seinem Wissen heraus, wie aus seinen Stellungnahmen zu dieser Arbeit hervorgeht (vgl. oben 1.3.3.3 (4)). Diese historische Tiefe ist, an verschiedenen Beispielen ausführlicher aufgezeigt, neben anderem Gegenstand auch in Mentrup (i.Vorb.). Zitat als von außen gelenkte oder assoziative - Paraphrase verstehen lässt. Verschwiegene Textzusammenhänge? Kollektiver Stil? Wie dem auch sei. <?page no="289"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 289 2.4 Rust (1944): Als amtliche Norm (Sprachgesetz) zurückgezogen => „Zu den Akten“ Zur Erinnerung: Am Anfang der eingestampft-Yr&<\\\\on steht 1953 die klare Aussage von S.L., dass viele Einwände von Sprachwissenschaftlern und Lehrern sowie das Vorbringen von Mängeln den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung veranlasst hätten, von der Durchführung der ausgearbeiteten Rechtschreibreform abzusehen, dass in Folge die in neuer Rechtschreibung gedruckten Regeln eingestampft worden seien und entsprechend Rusts Vorstoß gescheitert sei. Obwohl Jansen-Tang (1988) auf diese Zusammenhänge ausführlich eingeht und S.L. (1953) oft nahezu wörtlich referiert und obwohl Böhme (1995) und Kopke (1995) Jansen-Tang benutzen und sie zitieren, lassen sie diese Informationen draußen vor. Teils in Anlehnung an S.L. (1953) bringen auch Jellonnek (1979) und Jansen-Tang (1988) den Protest gegenüber Rust (1944) und die Kritik daran ins Spiel und belegen dies mit Wessely (1944/ 15.10.) und mit N.N. (Anfang 1945): „besonders im Ausland [...] bittere Kritik“ (Jellonnek 1979, S. 59). In S.L. (1953) findet sich keine solche Lokalisierung. Das lässt darauf schließen, dass, wie die anderen Handlungen und Ereignisse, über die er als Insider aus der Retrospektive offenbar im Bilde ist und berichtet, auch die Diskussion, auf die er sich bezieht, zeitlich nach dem Erscheinen von Rust (1944) und/ oder im Anschluss an und als Reaktion auf die Artikelserie Reumuths Ende Juni 1944 in Deutschland stattgefunden hat. Für eine solche Diskussion gibt es einen prominenten politisch interessierten Zeitzeugen, den Küppers (1984) zu Worte kommen lässt, nämlich das Reichspropagandamininisterium höchstpersönlich (vgl. 2.4.1). Und auch im Bibliographischen Institut Leipzig, dem Verlag des Dudenschen Wörterbuches, als privater Institution und ebenfalls als Zeitgenosse finden diese Vorgänge Aufmerksamkeit. Es wendet sich brieflich an den Schulverlag, in dem Rust (1944) ja verlegt wird, mit der Bitte um Auskunft über dessen Status, die es in einem Antwortschreiben Mitte Juli dann auch erhält (vgl 2.4.2 und 2.4.3). Wenn schon einmal beim ‘Duden’, so kommt die 13. Auflage 1947 der Duden-Rechtschreibung ins Spiel als erste Auflage nach Kriegsende und als erster Zeuge aus der noch zeitnahen Retrospektive (vgl. 2.4.4). Als zweiter Zeuge kommt ein Jahr später der niedersächsische Kultusminister zu Wort in einem sehr kenntnisreichen und recht detaillierten Bericht über die Ereignisse des Jahres 1944 (vgl. 2.4.5). Die Kenntnis der in 2.4.2, 2.4.3 und <?page no="290"?> 290 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 2.4.5 eingespielten Dokumente verdanke ich Stanze (1994a). Aus all dem ergibt sich, dass das Argumentationsgebäude von Böhme und das von Kopke (beide 1995) keinen Grund und Boden haben und eingestürzt sind. Zudem gerät auch die Argumentation Paul Grebes und der Dudenredaktion um 1955 ins Zwielicht und erscheint als äußerst rätselhaft (vgl. 2.4.6). 2.4.1 4.7.1944 Geheimbericht: Öffentliche Kritik - Im Visier des Reichspropagandaministeriums Küppers (1984, S. 109ff.) geht zunächst auf die Umstellung von der Fraktur auf die Antiqua und auf den Reformvorschlag Fritz Rahns im September 1941 ein, und dann auf Rust (1944) sowie insgesamt auf die öffentliche Diskussion. Seine Auflistung der Änderungen, in fünf Gruppen geordnet, zeigt, dass ihm Rusts Orthographiebuch authentisch vorliegt. 137 Im Weiteren führt Küppers einen „Geheimbericht des Leiters und Chefs des Propagandastabes beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vom 4. Juli 1944“ (Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7.) an, in dem diese amtliche Zentralstelle zur „Neuregelung für die Rechtschreibung“ schreibt: „Unter der Überschrift >der Filosof und das Plato< und ähnlichen veröffentlichten viele Zeitungen in der vergangenen Woche Artikel zu den neuen im Aufträge des Reichsministeriums bearbeiteten 96 Seiten starken >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis^ die den Schulkindern in den kommenden Wochen in die Hand gegeben werden sollen. [...] Diese Artikel hätten „(...) in der Bevölkerung, vor allen Dingen bei der Intelligenz, Verwunderung und starkes Befremden hervorgerufen. Es wurde geäußert: >hat das Reichserziehungsministerium im fünften Kriegsjahr keine anderen Sorgen? Es sollte sich lieber eine schnelle Lösung des Schulbuchproblems angelegen sein lassem. Auch die Eindeutschung und Vereinfachung von Fremdwörtern vollzieht sich wie jede sprachliche Entwicklung nach einem organischen Gesetz. Man braucht sie weder zu forcieren, noch zu erleichtern. Die neuen Regeln greifen einer Entwicklung um Jahrzehnte voraus. Dieses Verfahren lasse jedes Verständnis für das Werden und Wesen einer Sprache vermissen. Von wem hat der Reichserziehungsminister sich dabei bloß beraten lassen? “ (aus Küppers 1984, S. 112; Kursive WM). 137 Titelhinweis: Der Titel einschließlich der Angabe des Ministeriums ist korrekt. Auch der Name Rust wird genannt, nicht aber der Verlag. <?page no="291"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 291 Küppers Fazit aus dieser „Reaktion der Öffentlichkeit und der Presse [...] auf den Vorstoß von Rust“: „Die Ablehnung der von Rust geplanten Reform der Rechtschreibung durch die Öffentlichkeit bildete bereits den Abschluß der in den Jahren zwischen 1933 und 1944 geführten Diskussion über eine Neuordnung der Orthographie.“ (Küppers 1984, S. 112). Dies entspricht im Raster zur eingestampft-TraAiüon (vgl. Abb. 36) dem Gesichtspunkt 1.1 „Ablehnung durch die Öffentlichkeit“. Generell bezogen auf den Reformgedanken in den 30er- und 40er-Jahren heißt es: „Durchsetzen konnte er sich [...] nicht, da in der Zeit des allgemeinen Umbruchs< die Orthographie als das einigende Band aller Deutschen bewahrt bleiben sollte.“ (Küppers 1984, S. 113). In dem Bericht aus dem Propagandaministerium vom 4. Juli wird zunächst das „Reichsministerium“ als Auftraggeber bestätigt. Dass die Reaktion breit gestreut ist, zeigt die Angabe „viele Zeitungen“. Als Zeitpunkt der öffentlichen Diskussion lässt sich - „in der vergangenen Woche“ gegen Ende Juni 1944 erschließen. Die oben (vgl. 2.1.2.2) nachgewiesenen Artikel erscheinen am 22. bzw. 26. Juni 1944. Bemerkenswert ist, wie prompt das Ministerium (am 4. Juli) auf diese Pressewelle reagiert und seinen recht detaillierten Bericht vorlegt. Die Formulierung: Regeln, die „den Schulkindern in den kommenden Wochen in die Hand gegeben werden“ sollen, findet sich wörtlich in Reumuth (1944). 138 Die in dem Bericht angegebene Überschrift „der Filosof und das Plato“ entspricht nicht den Überschriften der beiden nachgewiesenen Artikel. Die referierte Kritik der Bevölkerung, vor allem der Intelligenz, bezieht einmal das „Schulbuchproblem“, also den schon bekannten allgemeinen Versorgungsengpass, mit ein als das aktuell dringlichere Problem. Inhaltlich bezieht sie sich auf die eindeutschende Schreibung der Fremdwörter. 139 138 Titelhinweis: Die Angabe des Titels „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“ eingangs des Berichts ist korrekt. Auch die Angabe „96 Seiten“ stimmt. Der Verlag wird nicht genannt. 139 Dieser Bericht ist nur in Küppers (1984) angeführt. Kopke (1995) geht auf ihn nicht ein, obwohl er Küppers ansonsten durchaus auswertet. Böhme (1985) nennt Küppers nicht. Angeführt wird der Bericht jetzt in Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 16f.). Ist nach Küppers (1984, S. 296 (Nr. 21)) Rust sein Adressat, so ist dies nach den zwei Autoren (S. 17) hingegen Goebbels. Strunk (1998) erwähnt diesen Bericht nicht. <?page no="292"?> 292 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Feststellen lässt sich, dass dieser Geheimbericht als authentisches amtliches Dokument dem von S.L. (1953) eingebrachten und späterhin angereicherten kausal-temporal-konsekutiven Ereignis- und Handlungsgefüge nicht nur nicht widerspricht, sondern sich in dies Gefüge gut einpasst und wesentliche Punkte der Begründung (vgl. Abb. 36, Zeile 1.1 bis 1.3) bestätigt. Drei Umstände oder Ereignisse sind es bisher, die dem vom Reichserziehungsminister initiierten Orthographievorhaben entgegenstehen: Die rein materielle Versorgung, der Versorgungsengpass bei der Bereitstellung generell von Kriegslembüchem und speziell der neuen Auflage der „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“ Dieser Engpass mag auch erklären, dass die Zeitspanne vom Zulassungs- und Einfuhrungserlass vom 20. Februar über die Erteilung der Druckgenehmigung am 28. März (Strunk 1998, S. 93) bis hin zum Erlass vom 20. Mai 1944, mit dem das Bestellverfahren geregelt wird, doch relativ lang ist; auf jeden Fall erklärt er, dass der Bedarf nur der 4. Klassen gedeckt werden kann. - Die öffentliche Diskussion gegen Ende Juni 1944 mit der heftig vorgetragenen Kritik Diese Diskussion steht in krassem Gegensatz zu der bisher amtlicherseits strikt geforderten und weitgehend eingehaltenen Geheimhaltung einschlägiger Unternehmungen. Verschärfend ist dabei, dass in dieser Diskussion auf den generellen Versorgungsengpass als gravierendes und aktuell dringlicheres Problem vehement hingewiesen wird und auch dadurch Sinn und Stellenwert der neuen Orthographie in Frage gestellt und stark herabgesetzt werden. - Die Aufmerksamkeit und das große Interesse, die diese öffentlichen Vorgänge beim Reichspropagandaministerium finden und erregen: Bernhard Rust und seine amtlich verfügte neue Orthographie im Visier des Goebbels-Ministeriums Der Geheimbericht dokumentiert das politische Interesse des Propagandaministeriums an der öffentlichen Meinung, an der generellen Stimmung in der Bevölkerung gerade auch im sechsten Kriegsjahr - und auch, dass dieses Ministerium seine Beobachtungs- und Kontrollfunktion entschieden ernst und auch wahmimmt, was sich schon allein an der schnellen Reaktion deutlich zeigt. Dem Reichserziehungsminister und seinem Vorhaben bläst der Wind mit erheblicher Stärke ins Gesicht. <?page no="293"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 293 2.4.2 (Vor dem) 18.7.1944 Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches bei dem damaligen Schulverlag: Statusfrage Auch bei einer privaten Institution erregen diese öffentlichen Vorgänge Aufmerksamkeit und wecken Interesse, was dazu fuhrt, dass sie sich als ebenfalls prominenter Zeitzeuge nahezu zeitgleich mit dem Ministerium zu Wort meldet. Gemeint ist „eine Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches (Bibliographisches Institut, Leipzig)“ bei „dem damaligen Deutschen Schulverlag“ bezüglich des Status der neuen Regelung (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.). Diese ist, dies zu Erinnerung, im Schulverlag erschienen, der die Dudenanfrage am 18.7.1944 beantwortet (hierzu vgl. unten 2.4.3). Verwundern kann diese Anfrage ‘des Duden’ nicht. Die damals letzte, d.h. die 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung ist 1941 im Bibliographischen Institut (BI) in Leipzig erschienen, nach der Abschaffung der Fraktur 1941 folgt 1942 die 12. Auflage in der „Normalschrift“ (zu dieser vgl. oben 1.1.3.2 (2)). Eingangs des Vorworts in der Frakturausgabe von 1941 (zu dieser vgl. oben 1.1.3.1) wird unter Berufung auf „Konrad Duden“ der „Gedanke einer deutschen Einheitsschreibung“ beschworen und als „deutsche Einheitsschreibung für das Gesamtgebiet des Großdeutschen Reiches“ zeitgemäß überhöht. „Da die augenblicklichen Verhältnisse eine endgültige Lösung durch die maßgebenden Regierungsstellen nicht gestatten, haben wir [... uns bemüht; WM], die Unterschiede, die durch die bisherige Anwendung der verschiedenen amtlichen Regelbücher [... laut Fußnote Preußen (1940), Bayern ( 52 1940) und Österreich (1935 [GrA]); WM] noch bestehen, möglichst zu beseitigen.“ (Duden-Rechtschreibung l2 1941, S. 3*). Wiederholt wird dies in der Ausgabe in „Normalschrift“ ( 12 1942, S. 3*). Betroffen sind die in den amtlichen Orthographiebüchem vorfmdlichen Schreib- und Formvarianten. Angesichts des ideologisch eingefarbten Selbstverständnisses der Dudenredaktion als der Hüterin der deutschen Einheitsschreibung auch im Gesamt des Großdeutschen Reiches und angesichts des 1941 konstatierten Ausbleibens einer amtlichen Lösung musste 1944 die neue amtliche Regelung, durch Rust „von sich aus“ (Wessely 1944/ 15.10., S. 2) eingeführt, und ihre Diskussion in der Öffentlichkeit bei dem Dudenschen Verlag Irritation her- <?page no="294"?> 294 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform vorrufen zumal im Wörterteil des neuen Orthographiebuches eine Einheitsschreibung angestrebt war, u.a. in Form der eindeutschenden Schreibung vieler Fremdwörter neben der bisherigen, und dies(e) mit den im ‘Duden’ verzeichneten und bewerteten Varianten, mit der dortigen Einheitsschreibung, nicht übereinstimmte(n). Dass im Weiteren massive privatwirtschaftliche Interessen mitspielen, ist klar. ‘Der Duden’ war nicht nur 1954/ 1955 auf der Hut bei der Wahrung seines zunächst merkantilen Monopols. 2.4.3 18.7.1944 Antwort des Schulverlages an das Bibliographische Institut, Leipzig: ln keiner Weise allgemein verbindlich Die Antwort aus dem Schulverlag wird die Dudenredaktion beruhigt haben: „Auf eine Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches (Bibliographisches Institut, Leipzig) wurde von dem damaligen Deutschen Schulverlag am 18.7.1944 geantwortet, daß die in dem Regelbuch angewandte Rechtschreibung >in keiner Weise als allgemein verbindlich anzusehen sei.<“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.; #2.23). 140 Eine offizielle Stellungnahme des zuständigen Reichserziehungministers oder einer anderen amtlichen Zentralstelle oder gar eine amtliche Zurücknahme der neuen Regelung ist diese Auskunft nicht. Doch sie ist von kompetenter Stelle gegeben und entsprechend sachkundig; denn der Schulverlag muss(te) es ja schließlich wissen. Diese Auskunft erfolgt drei Wochen nach der öffentlichen Diskussion (gegen Ende Juni 1944) und zwei Wochen nach dem Bericht des Propagandaministeriums (4. Juli 1944). 140 Auf dieses Dokument aus Niedersachsen bin ich zunächst in Stanze (1994a, S. 202f.) gestoßen. Dort (S. 203) findet sich als Zitat: „Auf eine Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches (Bibliographisches Institut, Leipzig) wurde dem damaligen Deutschen Schulverlag am 18.7.1944 geantwortet, daß [...]“ (Kursive WM). Statt „[...] wurde von dem [...]“ so im authentischen Dokument steht bei Stanze „[...] wurde dem Das fehlende von führte bei mir zu folgender Rekonstruktion: Die Dudenredaktion hat sich mit einer „Anfrage“ an eine amtlich zuständige Stelle gewandt, dadurch ein amtliches Schreiben an den Schulverlag veranlasst und so den Status der neuen Regeln, allgemein nicht verbindlich, klären lassen und geklärt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie fehlerhafte, dabei aber einen (wenn auch falschen) Sinn ergebende Zitate zu unzutreffenden Deutungen fuhren. <?page no="295"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 295 Die Formulierung: „in keiner Weise als allgemein verbindlich anzusehen“, könnte so verstanden werden - und dies, weil man ja nie wissen kann, auf was alles wer auch immer noch verfällt -, dass die neuen Regeln nur in der Schule gälten, ansonsten aber, „allgemein“, nicht verbindlich seien. Doch dem widerspricht das rigoros ausschließende „in keiner Weise“. Zudem steht die Vorstellung eines amtlich festgestellten gleichberechtigten Nebeneinanders zweier Orthographien, der neuen Regelung nur für Schulen und ansonsten und allgemein der bisherigen, in krassem Widerspruch zu der Vorstellung einer reichseinheitlichen Rechtschreibung, die ja mit dieser Rust-Initiative verwirklicht werden soll. Feststellen lässt sich, dass auch diese Auskunft, von einer in das Verfahren der Herstellung von Rust (1944) eingebundenen kompetenten Stelle gegeben und in einem authentischen amtlichen Dokument referiert, dem von S.L. (1953) eingebrachten und späterhin angereicherten kausal-temporal-konsekutiven Ereignis- und Handlungsgefüge nicht nur nicht widerspricht, sondern sich gut einpasst und es in einigen Punkten präzisiert (vgl. Abb. 36). Dieser Briefwechsel dokumentiert, dass im Unterschied zu den zwei ersten Initiativen Rusts von 1941 und 1936 und zu der Steches von 1933 die Dudenredaktion 1944 weder in das aktuelle orthographische Unternehmen direkt eingebunden noch überhaupt von amtlicher Seite aus darüber informiert ist. Dies in Verbindung mit der Auskunft „in keiner Weise allgemein verbindlich“ bringt Kopkes bisher referiertes Argumentationsgebäude in seiner ‘wirkungslos-obwohl-weirStrvkttir. ‘Die Reform von 1944 bleibt wirkungslos, obwohl sie amtlich (durchgeführt) ist, weil der Duden sie nicht mitträgt.’ (vgl. Kopke 1995, S. 33 und oben 2.3.7), 141 schon hier erheblich ins Wackeln, wenn nicht gar zum Einsturz. Denn nach dem jetzigen Stand der Dinge hat ‘der Duden’ überhaupt keinen Grund, die neue Regelung zu übernehmen und mitzutragen, weil diese als nicht allgemein verbindlich ausgewiesen ist. Dies führt denn amtlich ist letztlich ja immer noch nichts zu der tieferen konzessiv kausalen Erklärungs-Dichotomie: Wirkungslos, obwohl amtlich (durchgeführt), weil vom Duden nicht mitgetragen, da in keiner Weise allgemein verbindlich. Verkürzt: Wirkungslos, obwohl amtlich (durchgeführt), 141 Dazu, mit zweifacher Disposition und entsprechend recht milde, Böhme (2001, S. 129; Kursive WM): Eine „[...] These, [... die] doch etwas zu weit gegriffen [scheint]“. <?page no="296"?> 296 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform weil in keiner Weise allgemein verbindlich. Auch hier, wenn auch verschärft: Als Paradoxon? Als Kontradiktion? Als Konnexion inkongruenter, inkommensurabler Größen? Böhme geht nicht 1995, wohl aber in seiner Studie 2001 auf diesen Briefwechsel ein (Böhme 2001, S. 128) und beurteilt das abstinente Verhalten der Dudenredaktion im Jahre 1944 so: „Indem die Dudenredaktion [...] aus welchen Gründen auch immer die [... in Rust] 1944 kodifizierte Orthographie ignorierte, handelte sie durchaus historisch und politisch richtig, denn [...] deren Verbreitung vor allem auch durch den Duden hätte sich anderenfalls aufeinen nationalsozialistischen Erlaß gestützt.“ (Böhme 2001, S. 129; Kursive WM). Das „aus welchen Gründen auch immer“ in seiner Vagheit leuchtet mir angesichts des Hintergrundes und der doch konkreten Fakten nicht so ganz ein. Wichtiger ist: Hätte die Antwort des Schulverlages anders gelautet, nämlich Rust (1944) sei für die Schulen oder allgemein oder in beiden Bereichen verbindlich - ‘den Duden’ hätte es nicht das geringste geschert, wenn oder dass diese Verbindlichkeit in einem nationalsozialistischen Erlass festgelegt worden wäre. Erinnert man sich an das, was oben in Kapitel 1 bezogen auf ‘den Duden’ insgesamt dargestellt worden ist und was, etwa im Zusammenhang mit der 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung 1941 und 1942, Böhme zumindest dies in Birken-Bertsch/ Markner (2000) hätte nachlesen können, so lässt sich selbst im Nachhinein, ermöglicht durch den Konjunktiv II, Voraussagen: ‘Der Duden’ hätte sich ohne Verzug an die Spitze dieser amtlich verordneten Reformbewegung gestellt, um mit fliegenden Fahnen mit einer neuen Orthographie den für diese offenen und großen Markt zu erobern. Ein Anderes, mit Bezug auf Kopke, ist der Widerspruch, der sich angesichts dieses Briefwechsels auftut zwischen: - Kopkes Vorstellung, Basler sei von 1934 bis 1945 und damit auch 1944 Leiter der Dudenredaktion gewesen (so Kopke (nach Strunk 1992, S. 585) 1995, S. 66); der belegten Tatsache, dass die Dudenredaktion erst Mitte 1944 aus der Presse von dem Vorhaben Rust (1944) erfährt; <?page no="297"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 297 der (seit Strunk 1998, S. 93) nachgewiesenen Funktion Baslers als (neben Reumuth) Mitbearbeiter an Rust (1944), der spätestens seit seiner Beauftragung durch Gierach (vor dem 8.5.1943) darüber bestens informiert ist. Gilt auch der Kemspruch: Nichts ist sinnlos, man muss es nur zu deuten wissen, und wird dieser in der Diskussion gerade über die Rechtschreibreform auch nicht selten angewendet, so würde seine Befolgung in diesem Widerspruchsfall unter Beibehaltung der Leiter-Vorstellung und zu ihrer Rettung jedoch zu so abstrusen Konstrukten fuhren, dass sie hier einzubringen ich mir erspare, sondern dies zu tun lieber anderen überlasse. Schon hier sei gesagt: Basler war nie Leiter der Dudenredaktion und die von Kopke angesetzte Duden-Nachfolge Basler > Grebe ist ein künstliches Konstrukt. Klären wird es sich unten in 3.1. 2.4.4 1947 Duden-Rechtschreibung 13. Auflage: Keine Berücksichtigung In der 1947 im Bibliographischen Institut Leipzig, Vereinigung Volkseigener Betriebe/ Land Sachsen, erschienenen 13. Auflage heißt es zu Beginn des Vorworts: „Da der >Duden< schon seit längerer Zeit vergriffen ist und es uns mit Rücksicht auf die immer stärker werdende Nachfrage nicht ratsam schien, mit einer Neuauflage zu warten, bis das Ergebnis der geplanten Rechtschreibungsreform vorlag, haben wir uns entschlossen, unser Rechtschreibebuch schon jetzt in neuer Auflage herauszubringen. Ihr liegt die 1942 erschienene 12. Auflage zugrunde, die sorgfältig durchgesehen, berichtigt und, in beschränktem Umfange, ergänzt wurde.“ (Duden-Rechtschreibung 13 1947 [L], S. 3*; so auch in 13 1947 [W], S. 3*). Gemeint ist die 12. Auflage in „Normalschrift“. Das Weitere knüpft an Konrad Duden und den Gedanken der Einheitsschreibung im Vorwort dieser Auflage an und wiederholt, in aktualisierter, was auch heißt: in entideologisierter Form, 142 weitgehend das dort Gesagte. 142 So heißt es im Vorwort der 12. Auflage von 1941 (Fraktur) bzw. 1942 (Normalschrift) zum Beispiel: „Wir haben daher vom Standpunkt der deutschen Gesamtsprache auch die sprachlichen Eigenheiten der Ostmark und der Schweiz stärker berücksichtigt, als dies in früheren Bearbeitungen der Fall gewesen ist.“ (Duden-Rechtschreibung l2 1941, S. 4*; 12 1942, S. 4*). Im Vorwort der 13. Auflage 1947 heißt es: „Wir haben daher vom Standpunkt der deutschen Gesamtsprache auch die sprachlichen Eigenheiten Österreichs und <?page no="298"?> 298 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die enge Anlehnung an die 12. Auflage zeigt sich zum einen in der Fußnote, in der auf die amtlichen Grundlagen hingewiesen wird: „Die drei amtlichen Regelbücher, die bei der Bearbeitung der 12. [sic! ; WM] Auflage benutzt wurden, sind“. Es folgen die gleichen Orthographiebücher in gleicher Auflage wie 1942 und 1941 (vgl. oben 2.4.2). Zum andern wird die 13. Auflage „vom alten Stehsatz“ der 12. Auflage gedruckt, was die Möglichkeit der Änderungen „auf das Mindestmaß beschränkt“ (Duden-Rechtschreibung Leipzig 14 1951, S. III). Die Änderungen bestehen „ausschließlich aus der Eliminierung von Wörtern, die für den ns Sprachgebrauch typisch waren, sowie der Füllung der so entstandenen Leerstellen“ (Sauer 1988, S. 134; so dann auch Kopke 1995, S. 48); 14 ' die Regelung als solche bleibt die gleiche, ob wie 1942 mit eingefärbten Teilen oder wie dann 1947 ohne. Der Vertrieb erfolgt durch den Verlag Volk und Wissen, Berlin/ Leipzig. Diese Auflage wird in Westdeutschland, Österreich und in der Schweiz in Lizenzausgaben herausgebracht (Wurzel 1979, S. 104). Rust (1944) wird, darauf weist u.a. Heering (1997/ 26.1.) hin, bei den amtlichen Grundlagen nicht angegeben. Bestätigend auch der Befund des niedersächsischen Kultusministers im Dezember 1948: „[...] die in dem Buch [Rust (1944); WM] vorgeschlagenen Neuerungen [...] sind [...] in die Neuauflage des Dudens [13. Auflage von 1947; WM] nicht aufgenommen“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.). Der nunmehr gewissermaßen natürliche und zudem sehr plausible Grund ergibt sich aus den oben in 2.4.2 und 2.4.3 dargestellten Sachverhalten und der Auskunft: Rust (1944) nicht allgemein verbindlich. Dass dementsprechend dieses Werk in der 13. Auflage weder berücksichtigt noch als Grundlage mit angeführt wird, zeigt einerseits, dass das Institutionsgedächtnis der Leipziger Dudenredaktion von 1944 über das Ende des Krieges und über 1947 (13. Auflage) hinaus bis hin zu 1951 (14. Auflage) der Schweiz stärker berücksichtigt, als dies in früheren Bearbeitungen der Fall gewesen ist.“ (Duden-Rechtschreibung 13 1947 [L] und [W], S. 4*). 143 Dieses Vorgehen, nämlich die Bereinigung des Wortbestandes sowohl und vor allem im Wörterteil als auch speziell bei den Beispielen im Regelteil, also insgesamt der Wortkomponente, ist nach dem Krieg ein allgemeines Phänomen und betrifft nicht nur Orthographiebücher, sondern u.a. auch Lexika. Die Bereinigung betrifft darüber hinaus auch die Umtexte, so, wie oben gezeigt, insbesondere das Vorwort. <?page no="299"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 299 gut in Schuss ist und durchaus funktioniert, woran die Kontinuität beteiligter Personen sicherlich einen großen Anteil hat. Andererseits gerät vor diesem Hintergrund Kopkes Feststellung, der Duden habe Änderungen von 1944 übernommen, ganz schön ins Zwielicht. Die Redeweise im Vorwort von der geplanten Rechtschreibungsreform ist sehr allgemein und unbestimmt, was sich auch hier aus der Insider-Perspektive erklärt, und ist aus der Retrospektive entsprechend offen für Deutungen und Füllungen unterschiedlichster Art. Da man ja nie weiß, was wer auch immer noch einmal ausgräbt und wer irgendwann was auch immer behauptet, sei zunächst, im Ausschlussverfahren, festgestellt, dass nach allem oben Dargelegten Rust (1944) nicht gemeint sein kann. Hinzu kommt, dass die systematische Entnazifizierung der 12. Auflage, die zur 13. Auflage führt, und die gleichzeitige Berufung auf den Reformversuch eines nationalsozialistischen Reichserziehungsministers nicht zusammen- und unmittelbar nach dem Zusammenbruch von 1945 nicht in die Landschaft passt. 144 1955 ist dies dann anders, was weniger an dem Wandel der Zeiten liegen mag als vielmehr an den neuen Akteuren. In einem positiven Konkretisierungsverfahren ergeben sich verschiedene mögliche Bezugspunkte. Schon kurz nach dem Krieg sind mehrere Reformvorstellungen in der Diskussion. 1946 sind es die ‘Berliner Vorschläge’ für eine Rechtschreibreform, die Paul Wandel (1946 bis 1949 Präsident der Zentralverwaltung für Volksbildung und 1949 bis 1952 Volksbildungsminister der DDR) von einem „Vorausschuss zur Bearbeitung der Frage der Rechtschreibreform bei der Deutschen Verwaltung für Volksbildung“ erarbeiten lässt und die am 17. April 1946 (Vorausschuss 1946/ 17.4.) und in zweiter Fassung am 27. November 1946 veröffentlicht werden (Vorausschuss 1946/ 27.11.). Ebenfalls 1946 erscheint der bereits 1938 erarbeitete, aber wegen der Kriegsereignisse zurückgehaltene Reformvorschlag „Die emeuerung der deutschen rechtschreibung“ des bundes für vereinfachte rechtschreibung (bvr 1946), von dem als Schweizer Verein schon mehrfach die Rede war. Zudem wird 144 „Besonders die 12. Auflage von 1941 ist voll von nazistischen Ausdrücken und Worterklärungen. So stand man sofort nach der Niederlage des Faschismus im Jahre 1945 vor der Aufgabe, eine von den Einflüssen der faschistischen Ideologie befreite neue Ausgabe des >Dudens< zu erarbeiten.“ (Wurzel 1979, S. 103). <?page no="300"?> 300 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform im gleichen Jahr das Orthographiebuch „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis und Beispielen zur Zeichensetzung“ veröffentlicht. Es ist von einem „Ausschuß der Gewerkschaft für Lehrer und Erzieher im FDGB. Leipzig“ bearbeitet, „Genehmigt unter Nr. G-19019 am 20. 7. 1946“ und wird, wie die 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung, verlegt im Verlag Volk und Wissen, Berlin/ Leipzig. Im Vorwort des FDGB- Buches heißt es u.a.: „Unsere Rechtschreibung bedarf dringend einer Reform. Bei der Durchführung schon der ersten notwendigen Vereinfachung, der durchgehenden Kleinschreibung, würden die Paragraphen 21 und 22, das sind drei Seiten, wegfallen. ln der Gewerkschaft der Erzieher wird an der Vorbereitung der Reform gearbeitet.“ (Sachsen 1946, S. 3). 1947 erscheint die Schrift „ist eine reform unserer rechtschreibung notwendig? “, herausgegeben von der Gewerkschaft der Lehrer und Erzieher im FDGB Kreis Leipzig (FDGB Leipzig 1947), und zwar im Duden-Verlag Bibliographisches Institut Leipzig. 145 Das Vorwort der 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung ist datiert mit „Leipzig, im Januar 1947“; dies Datum passt sich gut in diesen Zeitrahmen ein. Wichtig an dieser Stelle ist: Mit diesen Vorschlägen, die alle scheitern, kommen Reformvorstellungen ins Spiel, die inhaltlich sehr viel gemeinsam haben einerseits mit dem Vorschlag des Leipziger Lehrervereins und dem Erfurter Programm, beide 1931 und oben etwa in Zusammenhang mit Steche (vgl. 1.1.1.1) bereits erwähnt, und andererseits mit den sieben Beiträgen, die 1948 bis 1954 in der Zeitschrift für Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft erscheinen und oben (vgl. 1.2.2, 1948 bis 1954) ausführlicher und als Vertreter des phonetischen Prinzips vorgestellt worden sind. In der von mir benutzten Sekundärliteratur über die Reformvorstellungen von 1946 und 1947 findet sich in den entsprechenden Abschnitten kein Hinweis auf das Orthographiebuch von 1944 und auf den Namen des Reichserziehungsministers Rust, sodass sich die beteiligten Autoren auch in dieser Hinsicht als weitere ‘heiße’ Kandidaten für die Aufnahme in die Schweige- 145 Winter (1949, S. 75f„ 83); Haller (1948, S. 45); Küppers (1984, S. 113ff.); Jansen-Tang (1988, S. 84ff.); Stanze (1994a, S. 204ff.); Strunk (1992, S. 167f.). <?page no="301"?> Rust {1944): Amtliche Norm {Sprachgesetz) oder nicht? 301 spirale von Birken-Bertsch/ Markner (2000) wärmstens empfehlen bzw. sich als Mitgliederbestätigen (vgl. oben 1.3.3.3 (1)). Innerhalb des Kontextes auch dieser Reformbemühungen stellen sich Vorstellungen ein wie Neuanfang, Aufbruch nach einer längeren Unterbrechung, und zwar u.a. bezogen auf die Rechtschreibung wie auf den ganzen schulischen Bereich. „[...] die Rechtschreibfrage [gewinnt] im Zeichen des demokratischen Neuanfangs ein anderes Gewicht“ (Jansen-Tang 1988, S. 84). „Die völlige Umgestaltung der Schule und der Lehrpläne sollte durch die längst fällige Reform der Rechtschreibung ergänzt werden.“ (Küppers 1984, S. 116). Also auch hier, nach Kriegsende 1945, das ‘Zwei-Fliegen-auf-einen- Äre/ c/ 2’-Motiv, das für denselben Zeitpunkt aus anderer Sicht bereits bekannt ist (vgl. oben 1.2.2, 1948 bis 1954). Als Fortführung der Abb. 12 (vgl. oben 1.1.3.1) ergibt sich Abb. 38. Die Füllung der dritten Spalte ist der angeführten Literatur entnommen. 1871 Gründung des Deutschen Reiches 1938/ 1939 Es gibt nur noch ein Volk, ein Reich und einen Führer. 1946/ 1947 demokratischer, sozialer, pädagogischer, wirtschaftlicher Neuanfang 1876 Verhandlungen zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Recht- Schreibung 1938/ 1939 Es gibt noch immer keine einheitliche, übersichtliche, leichtfassliche Rechtschreibung. 1946/ 1947 Forderung nach einer Umgestaltung und Vereinfachung der Rechtschreibung Abb. 38: Einheitliche Rechtschreibung und jeweils zeitgenössisch(politisch)e Überhöhung 2.4.5 21.12.1948 Amtliche Mitteilung des niedersächsischen Kultusministers: August 1944 offizielles Zurückziehen Im I. Jahrgang des Schulverwaltungsblattes für Niedersachsen aus dem Jahre 1949 (dort auf S. 52) erscheint eine amtliche Mitteilung des niedersächsi- <?page no="302"?> 302 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sehen Kultusministers mit dem Datum 21.12.1948, die sich mit Rust (1944) befasst. 146 Der Anlass dieser Mitteilung ist, dass „in den Schulen“ angesichts und bezüglich der Ereignisse vor dem Ende des Krieges „Unsicherheit in manchen Fragen der Rechtschreibung entstanden“ ist. Die Absicht des Kultusministers ist, hier Klarheit zu schaffen. Der vollständige Text (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.; #2.23) liest sich wie eine nahezu vollständige Zusammenfassung des bisher in diesem Kapitel Dargestellten. Ich zitiere ihn in seiner authentischen Abfolge in einzelnen Abschnitten, die ich jeweils kurz kommentiere: „Im Jahre 1944 erfolgte durch Erlaß des damaligen Reichserziehungsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 20. 2. 1944 - E II a (C6) 5/ 44 -, abgedmekt im MBlWEV. 1944, S. 59, durch den damaligen Deutschen Schulverlag die Einführung des Heftes >Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis^ Damit sollten die bis dahin in den deutschen Ländern gültigen Regelbücher ersetzt werden.“ (Kursive WM). Das ‘Heft’ und der Erlass, d.h. der Zulassungs- und Einführungserlass, sind oben (2.1.1.1 bzw. 2.1.1.2) vorgestellt worden. Die einzelnen Angaben sind, abgesehen von einer, ich sage mal: Ungeschicklichkeit, korrekt 147 und bestätigen die damalige Amtlichkeit von Rust (1944). Der letzte Satz erinnert inhaltlich an das folgende Zitat aus dem Artikel Reumuths, der, wie oben (vgl. 2.1.2.2) dargestellt, Ende Juni 1944 in einigen deutschen Zeitungen erschienen ist: „Es ist im Aufträge des Reichserziehungsministers neu bearbeitet worden und bildet nunmehr die amtliche Grundlage für die deutsche Rechtschreibung.“ (Reumuth 1944, S. 100; Kursive WM). „Mit diesem Buch war eine kleinere Reform der Rechtschreibung beabsichtigt. Sie erstreckte sich in der Hauptsache auf die Schreibung von Fremdwörtern (Fosfor, Filosof Strafe, Teater, Tw usw.), ferner auf eine Ausdehnung der Trennung nach Sprechsilben und auf eine freiere Handhabung der Zeichensetzungsregeln.“ (Kursive WM). 146 Dieses Dokument findet sich, wie oben schon angemerkt, nur in Stanze (1994a, S. 202f.), die darüber ausführlich referiert und es zudem zitiert. 147 Titelhinweis: Dies gilt auch für den Titel. Ungeschickt ist die hybrid-redundante Bezeichnung „Erlaß des damaligen Reichserz/ efengsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (Kursive WM). <?page no="303"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 303 Mit dem zweiten Satz des Erlasses sind zentrale Inhalte der Neuregelung angesprochen. Der erste Satz erinnert auch hier an Reumuth (1944, S. 100; Kursive WM): „Mit behutsamer Hand hat der Gesetzgeber eine kleine Reform der Rechtschreibung durchgeführt.“ Doch trotz des zweifachen inhaltlichen An- oder Einklangs: Der Wechsel von bildet die Grundlage und hat durchgeführt (so Reumuth) zu sollten ersetzt werden bzw. war beabsichtigt (so der Kultusminister) lässt den zwischenzeitlich eingetretenen Wandel der Dinge unmissverständlich zu Wort kommen. „Infolge der damals herrschenden Papierknappheit reichte die erste Auflage nicht aus, um alle Schulen zu versorgen.“ Bestätigt wird hiermit der Versorgungsengpass, der in dem Erlass vom 20. Mai 1944 angesprochen wird. Dieser ist oben in Abschnitt 2.1.1.3 behandelt und wird von Stanze (1994a) (vgl. oben 2.3.5) in die eingestampft-Tradiüon eingebracht. „Auf eine Anfrage des Verlages des Dudenschen Wörterbuches (Bibliographisches Institut, Leipzig) wurde von dem damaligen Deutschen Schulverlag am 18.7.1944 geantwortet, daß die in dem Regelbuch angewandte Rechtschreibung >in keiner Weise als allgemein verbindlich anzusehen sei.< [...]“ Dieser Abschnitt des Erlasses ist oben in 2.4.2 und 2.4.3 bereits ausgewertet worden. ,J(urze Zeit nach Erscheinen ist das Heft, obwohl es zum Teil schon an die Volksschulen ausgeliefert war, von den behördlichen Stellen zurückgezogen worden.“ (Kursive WM). Die hier gewählte konzessive ‘oöwoW’-Stmktur hat eine ihr eigentümliche Wirkung: Die teilweise bereits durchgeführte Auslieferung des Heftes erscheint als Gegengrund zu dem im übergeordneten Satz genannten Sachverhalt und schließt diesen an sich aus; trotzdem ist sie bzw. er ohne Einfluss darauf, dass der Sachverhalt eintritt, d.h. konkret: dass die Handlung des Zurückziehens durchgeführt wird. „Durch diese Maßnahmen ist in den Schulen Unsicherheit in manchen Fragen der Rechtschreibung entstanden.“ Diese Unsicherheit wird durch die klärende Feststellung behoben, dass das Rechtschreibbuch von 1944, weil von den damaligen behördlichen Stellen zurückgezogen, auch für die Gegenwart von 1948 keine Geltung hat: <?page no="304"?> 304 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Es wird hiermit festgestellt, daß die in dem Buch vorgeschlagenen Neuerungen nicht gelten. Sie sind auch in die Neuauflage des Dudens nicht aufgenommen worden.“ Bestätigt wird hiermit die Nicht-Verbindlichkeits-Erklärung des Schulverlags vom 18.7.1944 (vgl. oben 2.4.3). Mit Neuauflage des Dudens ist die 13. Auflage von 1947 gemeint (vgl. 2.4.4). „Änderungen der bisherigen Rechtschreibungsregeln sollten nicht in Angriff genommen werden, ehe nicht die Gewähr dafür gegeben ist, daß alle deutschen Länder und auch die deutschsprachige Schweiz und Österreich solchen Änderungen zustimmen würden. Hannover, des 21. Dez. 1948. III2995/ 48. Der Niedersächsische Kultusminister.“ Den Schluss kann man als Bestätigung dafür ansehen, dass Ende der 40er- Jahre in der Bundesrepublik „bei den Politikern wenig Interesse an dem Thema“ Rechtschreibreform bestand (Strunk 1992, S. 168). Ein Hinweis auf einen einschlägigen Rücknahmeerlass des Reichserziehungsministers wird auch hier nicht gegeben. Doch die Auskunft vom Dezember 1948 aus Niedersachsen 148 ist die einer amtlichen Stelle über die amtliche Handlung der Zurücknahme von Rust (1944) in der 2. Hälfte des Jahres 1944. Dies führt denn nun ist es wirklich amtlich zu der schlichten monokausalen Erklärung oder kausalen Erklärungs-‘Monotomie’: ‘Wirkungslos, weil amtlich zurückgezogen und entsprechend in keiner Weise allgemein verbindlich.’ Also weder Paradoxon noch Kontradiktion, sondern die Konnexion nunmehr kongruenter, kommensurabler und zudem belegter und nachgewiesener Größen. 148 Hingewiesen sei darauf, dass ebenfalls 1948 in Niedersachsen auf Initiative des Lehrers Hans Ringeln hin der Rechtschreibausschuss des Lehrerverbandes Niedersachsen (LVN) gegründet wird, der 1951 einen Reformvorschlag vorlegt (Haller 1951; Küppers 1984, S. 114f; Jansen-Tang 1988, S. 88f; Strunk 1992, S. 598). Auch dieser hat viel gemein mit dem Erfurter Programm der Dracker von 1931, mit denen Ringeln in Verbindung stand. Dass es eine Verbindung zwischen dieser Initiative und dem niedersächsischen Kultusministerium gibt, wird weiter unten (vgl. 3.2.1.1) deutlich. <?page no="305"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 305 2.4.6 Böhme (1995) und Kopke (1995): Argumentationsgebäude eingestürzt - Grebes Argumentation um 1955: Ins Zwielicht geraten und äußerst rätselhaft Die amtliche Auskunft von 1948 und die Information aus S.L. (1953), dass der Minister von der Rechtschreibreform absieht und dass die gedruckten Regeln eingestampft werden, und zwar kurz nach der Geburt (vgl. oben 2.3.1), bestätigen sich wechselseitig und sichern den in Rede stehenden Sachverhalt auch durch die Elemente des gleichen Paradigmas kurz nach der Geburt bzw. kurze Zeit nach Erscheinen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die Neuerungen von 1944 auch 1948 und auch darüber hinaus nicht (mehr) gelten. Fünf Jahre später, im Jahre 1953, wird dieser Sachverhalt von S.L. unter dem Titel aufgegriffen: „Die Rechtschreibreform von 1944. Rechtschreibänderungen, die nicht durchgeführt wurden“. Die ei n gestam p ft-Linie verläuft im Weiteren über Jellonnek (1979) und insbesondere über Jansen-Tang (1988) bis hin zu Stanze (1994), die mit dem Dokument aus Niedersachsen die Menge der Fakten und Daten um zusätzliche wichtige, entscheidend weiterführende anreichert. Der eingestampft-Sachverhalt wird 1995 von Böhme mit „(! ? )“ kommentiert und von Kopke als rechtlich belanglos gekennzeichnet. Die von diesen u.a. mit Berufung auf die Vorgänge von 1954 bis 1956, die im November 1955 zu dem Duden-Beschluss der KMK führen wie auch von Heering (1997/ 26.1.) mit großer Gewissheit vertretene Meinung, Rust (1944) sei über 1945 hinaus zumindest bis 1995 bzw. 1997 weiterhin amtlich geblieben, erweist sich vor dem Hintergrund, der aus der bis 1995 erschienenen und auch den genannten Autoren teils bekannten, jedenfalls insgesamt verfügbaren Literatur rekonstruiert worden ist, als irrig und unhaltbar. Was 1944 von den behördlichen Stellen zurückgezogen worden ist, kann 1955, 1995 bzw. 1997 nicht amtlich sein. Zentrale Säulen der über diesen Zeitraum hin vorgestellten Argumentationsgebäude sind endgültig weggebrochen, die Gebäude sind eingestürzt. Böhme trägt dem insofern Rechnung, als er in seiner Studie von 2001 (S. 127ff.) gegenüber dem Aufsatz von 1995 einen modifizierten Standpunkt vertritt. 2. Hälfte des Jahres 1944 — „Kurze Zeit nach Erscheinen [...] zurückgezogen“: Das lässt sich aufgrund der neueren Literatur nunmehr zeitlich präzisieren und auch der bisher gezeichnete Hintergrund lässt sich auffüllen. Nach Strunk(1998, S. 94): <?page no="306"?> 306 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Am 30. August 1944 teilt [...] die Reichskanzlei dem Innenministerium, dem Propagandaministerium und dem Erziehungsministerium schriftlich mit: >Der Führer hat angeordnet, daß die gesamten Arbeiten zur Vereinfachung der Rechtschreibung zurückzustellen seien.<“; womit sich eine weitere Führer-Rolle ergibt (vgl. die Zusammenstellung oben in 1.1.2.4). • Der Führer IX: Als höchste Instanz negativ eingreifender Akteur, hier auf dem Felde der Orthographiereform. In seiner handschriftlichen Notiz, notiert auf dem Schreiben, erinnert wenige Tage später der zuständige Beamte des Innenministeriums rechthaberisch, schadenfroh, hämisch? an frühere Zeiten und an den von dieser Zentralstelle schon immer, so insbesondere 1941/ 1942, vertretenen Standpunkt: „Im Reichsministerium des Innern hat man bereits seither dem Wissenschaftsministerium gegenüber die Auffassung vertreten, daß die Reform der Rechtschreibung als nicht kriegswichtig anzusehen ist und deshalb vorläufig zurückzustellen ist. Es ist nichts zu veranlassen. Zu den Akten.“ (nach Strunk 1998, S. 94; Kursive WM). 149 Zu weiteren Daten vgl. jetzt auch Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 102ff.): Insgesamt ein Hin-und-Her von Aktivitäten und Hick-Hack von Stellungnahmen u.a. auch von Otto Basler und zahlreichen Zentralstellen, was Goebbels am 4.8.1944 mit dem Eintrag kommentiert: „>Keiner will es jetzt gewesen sein.<“ (nach Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 105). Die zwei Autoren berichten von dem Entwurf eines Aufhebungserlasses, in dem „die tatsächliche Einführung als Lembuch vorerst zurückgestellt“ wird, der, wie oben bereits gesagt und von ihnen nunmehr bestätigt, nicht im Amtsblatt des Ministeriums erschienen ist und sich auch nicht, so ergänzend die zwei, „unter den überlieferten hektographierten Rundschreiben findet, [...] man [ließ] es mit dem Einstampfen der ganz überwiegend noch nicht ausgelieferten Auflage von einer Million Exemplaren bewenden“ (ebd., S. 107; Kursive WM). Kennzeichnen sie die Überschrift „>Gab es etwas einzustampfen? <“ von Strunk (1998) auch als einen „seltsam anmutenden Titel“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 11), so reihen sie sich nunmehr doch selbst in die Tradition der aufgreifenden Verwender dieses Motivs ein. 149 Zur Bezeichnung „Wissenschaftsministerium“ vgl. oben 1.2.2, 1996. <?page no="307"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 307 Im Weiteren stellen sie vor einen „>Führerbefehl<, den Bormann [am 24. August 1944] an Lammers [und damit an die Reichskanzlei; WM] übermittelte: >Der Führer [...] ordnete die Zurückstellung der gesamten Rechtschreibungsarbeiten bis Kriegsende an. Er betonte, eine Reform der Rechtschreibung sei alles andere als kriegswichtig, daher sei jede weitere Bearbeitung dieser Angelegenheit umgehend einzustellen.<“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 107). Die kurze Zeit nach Erscheinen beträgt, je nachdem, wie man es sieht, ca. einen halben Monat bis ca. anderthalb Monate, wie aus der folgenden Übersicht einiger Daten hervorgeht: 20.2.1944 Erlass zur amtlichen Zulassung und Einführung von Rust (1944) 28.3.1944 Erteilung der Druckerlaubnis durch das Erziehungsministerium 20.5.1944 Erlass zur Regelung des Bestellverfahrens Juli 1944/ Eine Million Exemplare wurden gedruckt, deren Auslieferung aber 1. Hälfte aufgehalten, zum Teil schon an die Volksschulen ausgeliefert (zu den vorstehenden Daten vgl. oben 2.1.1.1, insbesondere (2)) 18.7.1944 Auskunft des Schulbuchverlages: Nicht verbindlich 4.8.1944 Goebbels: „Keiner will es jetzt gewesen sein.“ 24.8.1944 Bormann an Lammers und damit an die Reichskanzlei: Zurückstellung aller Rechtschreibungsarbeiten, eine Reform der Rechtschreibung nicht kriegswichtig, so der Führer 30.8.1944 Reichskanzlei an verschiedene Ministerien: Zurückstellung der gesamten Arbeiten zur Vereinfachung der Rechtschreibung, so der Führer Kennzeichnen Birken-Bertsch/ Markner Kopke (1995) auch als die „historisch gewichtigste Studie unter den von den Verfassungsrichtem für die schriftliche Urteilsbegründung herangezogenen“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 18), so müssen sie nunmehr doch einräumen, wenn auch erklärlicherweise äußerst kurz und beiläufig: „Durch den Führerbefehl über die »Zurückstellung der gesamten Rechtschreibungsarbeiten bis zum Kriegsendet vom 24. August 1944 wird Kopkes Interpretation allerdings der Boden entzogen.“ (ebd., S. 118). Das war's dann schon. Darauf, dass Kopkes Vorstellung von der Duden- Nachfolge Basler > Grebe im Widerspruch zu auch ihnen bestens bekannten Fakten steht (vgl. oben 2.4.3), wie auch auf Kopkes abenteuerliche Schlussfolgerungen aus dieser Vorstellung (vgl. unten 3.1) gehen sie nicht ein. Auch <?page no="308"?> 308 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform hier im Einklang mit Theodor Ickler. Lobt dieser Kopkes Werk auch als „herausragende [...] Dissertation (1995)“ (Ickler 2000b) und weist er allgemein auf „eine Kontinuität der Personen und Ideen“ (Ickler 2000c) hin, so verliert er über Kopkes künstliches Konstrukt der Duden-Nachfolge Basler > Grebe kein Wort. Damit ist das Kapitel: Amtlichkeit von Rust (1944) auch über 1944/ 45 hinaus, abgeschlossen und man könnte entsprechend mit dem Resümee dieses Abschnitts 2.4 eigentlich Schluss machen ein Resümee, das sich durch die Fortsetzung der Abb. 35 (aus oben 2.2.5) zu Abb. 39 mit der zusätzlichen Spalte „Fazit“ ergibt. Merkpunkte ‘Duden’ > KMK 1955/ 56 (2.2.1): Rust (1944) = Böhme (1995) (2.2.2) Kopke (1995) (2.2.3) Heering (1997) (2.2.4) Fazit 1 letzte amtliche Festlegung nein noch heute | gültig nein eine der späteren amtlichen Verfügungen nach 1901 vom ‘Duden’ inhaltlich übernommen: nur einige der Änderungen ausgenommen: Zeichensetzung die meisten 3 1947: nein m 1954: ? Leiter der Dudenredaktion Kontinuität Basler > Grebe Widerspruch zu anderen Fakten Rust (1944) als amtlich anerkannt von: ‘Duden’ und KMK ‘Duden’ und KMK ‘Duden’ ja, vgl. aber 1-3 Abb. 39: ‘Duden7KMK - Merkpunkte: Neue Sicht Die in den Zeilen 1 bis 3 vorgestellten Sachverhalte stellen sich nunmehr neu und anders dar: So ist es nicht gewesen. Das in Zeile 6 Ausgesagte trifft zwar weiterhin zu, doch wird ihm durch das in den Zeilen 1 bis 3 festgestellte Fazit gewissermaßen der Boden entzogen. So weit, so gut. <?page no="309"?> Rust (1944): Amtliche Norm (Sprachgesetz) oder nicht? 309 Ist bisher auch klar geworden, dass Rust (1944) für die Duden-Rechtschreibung ( 13 1947[L] und [W]) keine Rolle spielt (vgl. Zeile 4), und ist Kopkes Vorstellung, die Passivität der Leipziger Dudenredaktion sei der Grund dafür, dass sich die Rust (1944) nicht durchgesetzt habe, eindeutig widerlegt, so ist doch, bezogen auf die 14. Auflage von 1954 Mannheim/ Wiesbaden, auf die dortige Dudenredaktion und auf die Vorgänge von 1954 bis 1956, durch die Klärung der oben vorgestellten Sachverhalte vieles noch unklarer und widersprüchlicher geworden, als es bisher schon war, was auch für die von Kopke angesetzte Nachfolge Basler > Grebe in der Leitung der Dudenredaktionen (vgl. Zeile 5) gilt. Zentrale Punkte in der Argumentation Grebes und der Dudenredaktion, Dehnkamps und der KMK und in Folge insbesondere Kopkes, die oben in 2.2 schlicht hingenommen worden sind, sind nunmehr noch rätselhafter geworden und entschieden ins Zwielicht geraten. Deshalb der Versuch, sie zu beleuchten und ins rechte Licht zu rücken. Darum geht es im 3. Kapitel, und zwar im Zusammenhang mit der Dudenredaktion in Leipzig und in Wiesbaden, späterhin Mannheim, und mit den Reformbemühungen seit 1950. <?page no="311"?> 3. Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion ab 1933 - Reformbemühungen ab 1950; Rust (1944) alias Basler (1948): Kenntnisse der Dudenredaktion von Rust (1944)? Der Verfolg der institutionellen Linie ‘Leitung der Dudenredaktion’ führt zu einem Abriss der Geschichte der Dudenredaktion in Leipzig etwa ab 1930 und der in Wiesbaden ab 1947 und späterhin in Mannheim. Bezogen auf Kopkes Vorstellung Basler > Grebe ist das Ergebnis negativ (vgl. 3.1). Die ausschnitthafte Nachzeichnung der Reformbemühungen seit 1950 gibt keinen Hinweis darauf, dass Basler sein Wissen über Rust auf diesem Feld an Grebe vermittelt hat (vgl. 3.2). Verlaufen beide Spuren auch im Sande, so führt eine dritte, neu aufgenommene Spur dann doch zu einem allerdings unerwarteten Ende, zu einem frappierenden Ergebnis (vgl. 3.3). 3.1 Kontinuitäten I: Die Leipziger Duden-Schriftleitung - Zwischenzeitlich zwei Dudenredaktionen Die Vorstellung, Paul Grebe als Leiter der Dudenredaktion sei der Nachfolger Otto Baslers in der gleichen Position gewesen, führt, wenn man sie im Zusammenhang mit anderen Sachverhalten konsequent zu Ende denkt, zu erheblichen Widersprüchen und Kuriosa und zu dem Schluss, dass es so nicht gewesen sein kann (vgl. 3.1.1). Wenn nicht so wie aber dann? Darüber gibt ein Überblick über die Leipziger Duden-Schriftleitung von 1933 bis ca. 1945 eine erste Auskunft (vgl. 3.1.2). Diese wird durch die Darstellung von Ereignissen nach dem Kriege, die zu einer zwischenzeitlichen Existenz zweier Dudenredaktionen fuhren, komplettiert (vgl. 3.1.3). 3.1.1 Basler > Grebe I: Linie der Leiter der Dudenredaktion - So, wie Kopke es 1995 konstruiert, ist es nicht gewesen Zur Erinnerung: Kopke übernimmt aus Strunk (1992, S. 585) die Daten, Basler sei von 1934 bis 1945 Leiter der Dudenredaktion in Leipzig gewesen (Kopke 1995, S. 66). <?page no="312"?> 312 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Unter der Voraussetzung, dass Basler Mitbearbeiter von Rust (1944) gewesen ist, was von ihm (Kopke) allerdings „nicht festgestellt werden [konnte]“, zieht er, entsprechend im Irrealis gehalten, für seine Argumentation wichtige Schlussfolgerungen (vgl. oben 2.2.3), die hier im Indikativ wiedergegeben werden können, weil Baslers Mitarbeit seit Strunk (1998, S. 93) gesichert ist. Dieser Sachverhalt ist „ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Duden-Redaktion schon vor dem Kultusministerbeschluß von 1955 auf die amtlichen Regeln Einfluß zu nehmen vermochte“; und erklärt auch, „warum Paul Grebe, der Nachfolger Otto Baslers, 1955 die Regeln von 1944 kannte und von ihrer Verbindlichkeit ausging“; und dies, „obwohl sie doch weitgehend eingestampft und deshalb kaum bekannt wurden“ (Kopke 1995, S. 66f., Anm. 416). Behält man die Vorstellung der von Kopke gezeichneten Kontinuitätslinie der Leitung Basler > Grebe bei, so irritiert zunächst zweierlei, nämlich zum einen die zeitliche Lücke, nämlich Basler bis 1945 und Grebe ab 1947; und zum anderen die Dislozierung, nämlich Basler in der auch über das Kriegsende hinaus weiter bestehenden Dudenredaktion in Leipzig und Grebe in der 1947 in Wiesbaden neu gegründeten und 1959 nach Mannheim übersiedelten Dudenredaktion. Zum Thema „Der Duden“ äußert sich auch Kopke (1995, S. 48ff.) recht ausführlich. Doch ist schon äußerst auffällig, dass er die oben genannten, auf Grebe bezogenen Daten, nämlich 1947 und Wiesbaden oder anders: die zeitliche Lücke und die Dislozierung, nicht anführt und dass er in Folge darauf, dass sie, gewissermaßen als wunde Punkte, zu seiner Linie nicht passen, nicht eingehen muss und entsprechend auch nicht eingeht. Die Frage ist: Kennt Kopke die Grebe-Daten nicht? Oder kennt er sie und verschweigt er sie schlichtweg? Zu wiederholen ist, dass er die Basler-Daten aus Strunk (1992, S. 585) übernimmt; hinzuzufügen ist, das sich die Grebe-Daten gemäß der alphabetischen Abfolge der Kurzbiographien dort vier Seiten später (S. 589) finden. Ein weiterer Punkt ist: Kopke (1995, S. 49) stellt mit Bezug auf und in Anlehnung an Sauer (1988, S. 145) fest, dass die „in Leipzig und in Mannheim <?page no="313"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 313 unabhängig voneinander [erscheinenden] Neuauflagen [...] über die Existenz eines Pendants >drüben< geflissentlich hinwegsahen“. 150 Wichtiger als dieses leicht erklärliche und nicht besonders aufregende Detail ist: Der Abschnitt, auf den sich Kopke bezieht, umfasst bei Sauer gerade mal gut acht Zeilen und schließt so: „In den Mannheimer Publikationen, die sich mit der Geschichte des Dudens oder der Dudenredaktion beschäftigen, wird eine unmittelbare Kontinuität der Herausgeber von Otto Basler zu Paul Gre- 150 Wie so oft bei Pauschalaussagen stimmt auch diese nicht (ganz), zumindest nicht für die Richtung vom Osten zum Westen. So heißt es im Vorwort der 15. Auflage der Duden-Rechtschreibung ( l5 1957, S. V) aus Leipzig, unter Betonung der einseitigen Abhängigkeit des West-Duden vom Ost-Duden und der besonderen Qualität der eigenen Arbeit: „Aufgrund der 13. Auflage und der Ausgabe 1951 wurde von unserem westdeutschen Lizenznehmer der Duden neu bearbeitet und 1954 als 14. Auflage des Dudens herausgebracht. Wir selbst hielten es für erforderlich, weitschichtigere Vorarbeiten zu leisten.“ Analog auch auf einer anderen Ebene, wenn auch 1961 zunächst in Klammem: „(Der 1954 in Westdeutschland erschienene Duden fußt auf der 13. Auflage des Leipziger Dudens und auf dem Duden 1951/ 56.)“ (D.H. 1961). Später jedoch auch ohne Klammern unter Hervorhebung der wechselseitigen Unabhängigkeit, so 1979: „Anfang der 60er Jahre kam in Mannheim eine separate Dudenbearbeitung heraus; entsprechend der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR und in der BRD erscheinen seither unabhängig voneinander Dudenausgaben in beiden Staaten.“ (Wurzel 1979, S. 106; vgl. auch Sauer 1988, S. 145). Wie dann auch 1980: „Zu Beginn der sechziger Jahre wurde in der BRD eine gesonderte Dudenbearbeitung herausgebracht, und seitdem erscheinen auf Grund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR und in der BRD in beiden Staaten voneinander unabhängige Dudenausgaben.“ (Baer 1980, S. 121). Variationen über ein Thema auch hier Texttradition. 1956 geht es nicht um Kenntnisnahme des anderen Duden, sondern H. Kliemann, Oldenbourg Verlag, München, wittert eine geheim(nisvoll)e, (Birken-Bertsch und Markner würden wahrscheinlich sagen: ) eine klandestine Connection zwischen beiden Redaktionen, wie er in einem Brief vom 10.1.1956 W. Dehnkamp mitteilt: „Am Schluss möchte ich Ihnen vertraulich doch noch folgendes sagen, was mir vor einiger Zeit erzählt wurde. Anfragen über Rechtschreibfragen an die Duden Redaktion Wiesbaden, werden häufig von der Duden Redaktion Leipzig beantwortet. Hier scheinen doch sehr erstaunliche Querverbindungen vorzuliegen, die mir zu denken geben.“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 256f.; Rechtschreibung und Zeichensetzung wie im Dokument). Was es mit diesen Verbindungen auf sich hat, ist mir völlig unklar. Wenn ich nichts übersehen habe, findet sich zu diesem Thema in Strunk (Hg.) (1998) kein weiteres Dokument. <?page no="314"?> 314 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform be konstruiert. (Grebe 1968, S. 21, Drosdowski 1968, S. 24).“ (Kursive WM). Der erste Satz des unmittelbar folgenden Abschnittes lautet: „In Leipzig begann nach dem 2. Weltkrieg die Ära >Horst Klien, Herausgeber des Dudens nach 1945<, (Wurzel 1979, S. 104), die bis zum Ende des 60er Jahre dauerte.“ (Sauer 1988, S. 145). 151 Ist es auch so, dass die Ausdrucksweise wird [...] konstruiert zunächst wohl jeden halbwegs aufmerksam Lesenden, Birken-Bertsch/ Markner würden sagen: jeden Kundigen, stutzig oder hellhörig macht - Was soll denn das? Wieso „konstruiert“? -, so folgt die Klärung jedoch stehenden Fußes: Ach so, der Klien liegt zeitlich irgendwie dazwischen! Doch Kopke scheint dieses Aha-Erlebnis offenbar nicht vergönnt gewesen zu sein. Denn Klien tritt bei ihm überhaupt nicht in Erscheinung und wird, wie auch Wurzel, in seinem Personenregister nicht genannt. Diese Ausblendung wie auch oben die Nicht-Anftihrung der Grebe-Daten ermöglichen überhaupt seine Vorstellung von der direkten Basler > Grebe-Nachfolge; eine Vorstellung, die nach Sauer schon 1968 (doch bereits sechs Jahre früher in Grebe 1962) im Mannheimer Kontinuitäts-Konstrukt ihren Vorläufer hat, was aber nichts daran ändert, dass sie falsch ist. Wäre dies alles so, wie bisher aus Kopke und aus der auch ihm bekannten und benutzten oder verfügbaren Literatur (Sauer 1988 bzw. Wurzel 1979) referierend zusammengetragen und wie es nicht ist, dann wäre Klien (1945) der (direkte) Nachfolger Baslers in Leipzig. Und Grebe wäre dann so etwas wie ein mit zweijährigem Zeitverzug auf einem neuen, zweiten Gleis eingesetzter zweiter (indirekter? ) Nachfolger Baslers, wobei die Ära Kliens ihrerseits bis zum Ende der 60er-Jahre dauert. Ein Weiteres: Zieht man den von Kopke (1995) nicht erwähnten Briefwechsel von 1944 zwischen der Leipziger Dudenredaktion und dem Schulverlag (in Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12., vermittelt durch Stanze (1994); vgl. oben 2.4.2 und 2.4.3) mit hinzu, so sieht man sich dem Widerspruch ausgesetzt, dass die Leipziger Dudenredaktion über Rust (1944) und seinen Status erst Mitte 1944 aus der Presse erfährt, während ihr Leiter Otto 151 Bei Wurzel heißt es, dass „sich die Dudenredaktion des Bibliographischen Instituts Leipzig unter der Leitung von Horst Klien noch im Jahre 1945 an die Arbeit [macht]“ (Wurzel 1979, S. 103f.), gemeint ist die Vorbereitung der 13. Auflage der Duden- Rechtschreibung Leipzig ( 13 1947 [L]). <?page no="315"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 315 Basler in Gierachs Nachfolge, Beginn vor dem 8.5.1943, als Mitbearbeiter an diesem Werk seit längerem darüber bestens informiert ist. Zudem: Mag die Vorstellung der Kontinuitätslinie auch erklären, dass Grebe „die Regeln von 1944 kannte“, so irritiert doch, dass auch die Vorstellung „von ihrer Verbindlichkeit“ (so Kopke) dem Nachfolger Grebe offenbar von seinem Vorgänger vermittelt worden sein soll. Denn Basler als Bearbeiter dieser Regeln und als unmittelbar in das Zeitgeschehen eingebundener Zeitgenosse weiß natürlich auch von der höchstinstanzlichen Zurücknahme und Einstellung Ende August 1944. Wenn schon über Basler der Inhalt der Regeln seinem Nachfolger Grebe übermittelt worden sein soll warum nur sollte jener diesen über ihren wahren Status, weder amtlich noch verbindlich, im Unklaren lassen oder täuschen? Wäre es wirklich so, wie in den drei letzten Abschnitten vorgestellt, so wären dies drei Kuriosa in diesem Kapitel der Geschichte der Orthographie wobei diese drei hier nicht die letzten sind. Ein weiterer kurioser, ja: grotesker Punkt hängt mit dem Orthographiebuch „Deutsche Rechtschreibung“ zusammen, das Basler 1948 veröffentlicht. Darüber mehr unten in 3.3.2 und vor allem 3.3.3, wo die mutmaßliche Nachfolge- und Vermittlungsschiene Basler > Grebe noch einmal ins Blickfeld gerät. Irritationen, Widersprüche, Ungereimtheiten, Kuriosa gestiftet durch die Vorstellung von Basler als Leiter der Dudenredaktion und, in Personalunion, von Basler als Bearbeiter des amtlichen Werkes von 1944. Beides kann nicht sein. Die Personalunion ist alles andere als einträchtig (weitere Folgerungen aus diesem(/ r) Konstrukt(ion) werden dies noch deutlicher machen). Da die zweite, von Kopke hypothetisch eingebrachte Rolle Baslers seit Strunk (1998) nachgewiesen ist, erweist sich - und das lässt sich schon hier feststellen die Vorstellung von dessen Rolle als Leiter der Dudenredaktion Leipzig 1934 bis 1945 als irrtümliche Angabe Strunks, die jedoch bei ihr keine weiteren Folgen hat. In der Übernahme durch Kopke wird diese Angabe eine in seine Argumentation eingepasste, diese nur scheinbar stützende, aber im Grunde ad absurdum führende Fiktion. 152 Im Verein damit oder in Folge 152 Dass diese Angabe in Strunk (Hg.) (1998, Bd. I, S. 349) falsch ist, stellen auch Birken- Bertsch/ Markner (2000, S. 102) einerseits kritisch fest. Dass auch Kopke (1995) diese falsche Angabe (übernommen aus Strunk 1992, S. 585) ebenfalls fuhrt und, im Unterschied zu Strunk, im Zusammenhang damit zu recht abenteuerlichen Schlussfolgerungen kommt, darüber verlieren sie in ihrem Buch andererseits kein Wort. Damit korrespondiert, <?page no="316"?> 316 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform wird auch die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, die Dudenredaktion habe nicht nur 1955, sondern „schon“ 1944 Einfluss auf die amtlichen Regeln genommen, obsolet. Denn gerade für 1944 trifft das eindeutig nicht zu. 3.1.2 Die Leipziger Duden-Schriftleitung 1933 bis kurz nach dem Kriege Wenn schon ein schon, dann wäre es allenfalls zutreffend in Verbindung mit Jahreszahlen, die aus oben 1.1 bekannt und u.a. mit dem Namen ‘Duden’, zunächst auch in Verbindung mit dem Namen Basler, verknüpft sind. Zur Erinnerung ein kurzer Rück- und Überblick. 1933 ist im Zusammenhang mit Theodor Steches Vorstoß zur Rechtschreibreform die Duden-Rechtschreibung insofern im Gespräch, als eine neue Auflage mit in den Plan für das weitere organisatorische Vorgehen einbezogen wird. Im gleichen Jahr wird von der „Bibliographisches Institut AG. Leipzig“ der Volks-Duden auf den Markt gebracht. 1934 folgen der Kleine Duden als Reichsschulwörterbuch mit der sehr auffälligen Phalanx nationalsozialistischer Autoren, Institutionen und ideologisch ausgerichteter Texte zu Beginn des Bandes sowie die 11. Auflage der Duden-Rechtschreibung. An der Bearbeitung all dieser drei Bände ist der namentlich genannte Otto Basler wesentlich beteiligt, und auch an der Verselbständigung des Wörterteils der beiden kleinen Ausgaben in Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politischsoldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) (vgl. oben 1.1.1.2ff.). Im Juni 1938 kommt im Zusammhang mit der 1. Rust-Initiative von 1936 die Dudenredaktion zum einen als Adressat der amtlichen Mitteilung, eine Änderung der Rechtschreibung sei „für die nächsten Jahre nicht zu erwarten“, ins Spiel; zum andern als Verfasserin eines Briefes vom 9.12.1938 an dass sie einerseits den Aufsatz Strunk (1998) in der ihnen eigentümlichen und in einer sehr eigentümlichen Weise abkanzeln (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 11) - Simon (1998, S. 86) hingegen spricht von dem „von Hiltraud Strunk in vorbildlicher Kürze geschilderten Rechtschreibreformversuch“ - und andererseits Kopke (1995) als die „historisch gewichtigste Studie unter den von den Verfassungsrichtem für die schriftliche Urteilsbegründung herangezogenen“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 18) regelrecht feiern. Eine bereits bekannte Struktur bei den zwei Autoren: Die unterschiedliche Bewertung der Arbeiten anderer zeigt sich auch in der unterschiedlichen Berücksichtigung gleicher Sachverhalte. <?page no="317"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 317 das Reichsinnenministerium bezüglich „eines Verbots einer Diskussion über Rechtschreibungsfragen“. 1939 erscheint die 2. Auflage des Kleinen Duden. Zwei Jahre später, 1941, folgt die 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung, der Zeit gemäß in Fraktur, ln beiden Werken findet sich die Angabe „bearbeitet [...] von der Fachschriftleitung des Bibliographischen Instituts“. Baslers Name taucht nicht mehr auf (vgl. oben 1.1.3.1). Nach dem höchstinstanzlichen Verbot der Fraktur vom 3.1.1941 startet Rust im Mai 1941 seine 2. Initiative. Als Reaktion auf die Abschaffung der Fraktur erscheint 1942 die 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung, dem Wandel der Dinge angepasst, nunmehr in ‘Normalschrift’ (Vorwort datiert mit „Leipzig, im November 1942.“). In einem als Manuskript gedruckten Nachwort zu dieser Antiqua-Ausgabe von 1941 begrüßt die Dudenredaktion einerseits die Neueinfuhrung der Normalschrift als „Fortschritt“, andererseits nennt sie eine „durchgreifende Reform der Rechtschreibung zumindest Stillstand, wenn nicht Rückschritt unserer Beziehungen zum Ausland“ und lehnt sie ab (vgl. oben 1.1.3.2). Wäre, wie Kopke meint, Basler zu diesem Zeitpunkt Leiter der Dudenredaktion gewesen, dann stünde diese Ablehnung der 2. Rust-Initiative durch die Dudenredaktion in merkwürdigem Gegensatz dazu, dass Basler in Gierachs Nachfolge, Beginn vor dem 8.5.1943, die 3. Rust-Initiative von 1944 durch seine Mitarbeit intensiv unterstützt (vgl. oben 2.1.1), über die, und damit schließt sich der Kreis, Basler bestens informiert ist, von der indessen ‘seine’ Dudenredaktion erst aus Reumuths Artikeln in der Presse Mitte 1944 erfahrt. Damit zunächst genug mit Kopkes Vorstellungen und deren Konsequenzen. Wie ist es nun aber wirklich gewesen? Zur Beantwortung dieser Frage geht es um die Rolle Otto Baslers im Zusammenhang mit ‘dem Duden’ in Leipzig (vgl. 3.1.2.1) und um die Horst Kliens in der Dudenredaktion (vgl. 3.1.2.2). Es folgen ein kurzes Fazit und ein Rückblick Baslers aus dem Jahre 1958 (vgl. 3.1.2.3). 3.1.2.1 Otto Baslers Rolle im Zusammenspiel mit ‘dem Duden’ Leiter der Dudenredaktion bzw. dort in leitender Position und damit verantwortlich für die 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1941 (in Fraktur) und 1942 (in ‘Normalschrift 4 ) sowie für deren Nachwort von 1941 ist <?page no="318"?> 318 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Horst Klien. 153 Die oben aus Sauer (1988) referierte Festsetzung des Beginns der „Ära >Horst Klien<“ auf das Jahr 1945 ist falsch und zumindest bis 1941 zurückzudatieren. Bezogen auf 1945 und zudem mit Blick auf die Bombenschäden auch des Bibliographischen Instituts im Dezember 1943 und Februar 1945 erscheint es, wie schon mehrmals bisher, auch hier als angemessen, nach dem Ende des Krieges von einem Neuanfang, einem Aufbruch zu sprechen, nicht aber von dem Beginn der Ära Kliens. Die gegenüber Strunk und Kopke modifizierte Annahme, Basler wäre von 1933 bis, sagen wir, zur 2. Auflage des Kleinen Duden 1939 der Vorgänger Kliens gewesen, liegt jetzt zwar nahe, trifft aber auch nicht zu. Baslers aktive Tätigkeit auf der Linie der orthographischen Dudenwerke ist mit dem Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und mit der Duden-Rechtschreibung ( n 1934) beendet; weitere Dudenbände unter seiner Verantwortung erscheinen im Jahre 1935. 154 Komplementär zu diesem Zeitrahmen verhält sich Folgendes: Rudolf Köster wird (so seine telefonische Auskunft vom 8.4.1998) 1938 Redakteur der Leipziger Dudenredaktion und findet dort Horst Klien „bereits als Leiter“ vor; dieser sei dies schon seit einiger Zeit, etwa seit 1935 oder 1936, gewesen und habe die Dudenredaktion als Institution erst eigentlich gegründet. 153 So jetzt auch Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 84), die Klien als Autor des Nachwortes ausweisen. 154 Der erste verbesserte Neudruck der 11. Auflage der Duden-Rechtschreibung erscheint 1937; entsprechend der Erstausgabe dieser Auflage wird Basler weiterhin als Bearbeiter genannt. Analog gilt dies, entsprechend zum Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934), auch für dessen verselbständigten (Haupt-)Wörterteil als Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937). Im Weiteren wird Baslers Name angeführt in den Dudenwerken Stilwörterbuch (Erstausgabe 1934; entsprechend der Erstausgabe auch in der 2. Auflage 1938), Grammatik (1935) und Bildwörterbuch (1935) (vgl. Sarkowski 1976, S. 263f„ 272; Basler 1936a, S. 178; Grebe 1962, S. 72; 1968, S. 21). Vor diesem abgegrenzten Zeitraum erweisen sich die Auskünfte „Basler [...] war bis 1933 Herausgeber des >Duden<[...]“ (Munzinger-Archiv 48/ 81 - K - 4834** 28.11.1981) sowie „Basler, Otto [...] „Hg. [...] der >Deutschen Rechtschreibung 1947<“ (Dudenlexikon 1964, S. 482; Meyers Lexikon 1968, S. 97) als unzutreffende zeitliche Verkürzung bzw. Verlängerung der Dudentätigkeit Baslers. <?page no="319"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 319 Die dem gemäß erneut modifizierte Annahme, Basler wäre wenigstens von 1933 bis 1935 oder 1936 als Leiter Vorgänger Kliens gewesen, liegt jetzt zwar nahe, trifft aber auch nicht zu. Denn Basler arbeitet zwar in diesem Zeitraum für das Bibliographische Institut an den oben genannten Dudenbänden, doch sei er, so Köster, weder angestellter Mitarbeiter des Bibliographischen Instituts noch gar Leiter der Dudenredaktion gewesen, sondern Außenmitarbeiter auf Honorarbasis. Dieter Baer, Leiter der Leipziger Dudenredaktion, kennzeichnet (in einem Telefongespräch vom 6.4.1998) Basler als freien Herausgeber und Bearbeiter der Dudenbände. Daraus folgt: Wenn von einer Vorgängerbzw. Nachfolgeschaft Basler > Klien gesprochen werden kann, dann allenfalls auf der Ebene der Bearbeitung oder Herausgeberschaft von Dudenbänden. Basler habe sich dann, so wiederum Köster, mit dem damaligen Verlagsleiter Otto Mittelstaedt (oder auch umgekehrt), vermutlich wegen Honorarfragen, überworfen und sei in Folge aus dem Vertragsverhältnis ausgeschieden. Wann dies genau gewesen sei, wisse er nicht mehr. - Nun, wir werden sehen. Um 1935 herum scheint Baslers Duden-Welt jedenfalls noch in Ordnung zu sein. Aus einer Visitenkarte, möglicherweise aus dem Jahre 1934, geht hervor, dass er die „ehrenamtliche“ (Simon 1989, S. 69) Leitung der „Deutsche[n] Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig“ inne hat (Basler 1934? ; #3.1), die 1934 in der von Basler bearbeiteten 11. Auflage der Duden-Rechtschreibung gleich zweimal vorgestellt (Duden- Rechtschreibung "1934, Rückseite Titelblatt bzw. S. 4* Vorwort) und auf die auch 1935 im Vorwort der Duden-Grammatik, ebenfalls bearbeitet von Basler, hingewiesen wird (Duden-Grammatik 1935, S. V). Am 4.7.1935 schreibt Basler an Mittelstaedt einen langen Brief von „Lieber Doktor Mittelstaedt“ bis hin zu „Mit herzlichen Grüßen immer Ihr Basler“ -, in dem er im Zusammenhang mit Überlegungen zu einem "eigene[n] [deutschen] Wörter-buch“ [! ; WM] von "meine[n] Belegsammlungen“ spricht „[...], die doch aus einer eigengearteten Arbeitsweise erwachsen sind“. Zudem erkundigt er sich danach, „wie lange noch die Korrekturen zum Grossen Duden IV [d.h. zum Bildwörterbuch; WM] laufen, und wie es mit der Vorrede, mit einer Einleitung steht“ (Basler 1935/ 4.7., S. 3; #3.2). 1936 plaudert Basler zum einen gewissermaßen aus dem Nähkästchen, d.h. „Aus der Werkstatt eines Wörterbuchverlages“. Er geht ausführlich auf die <?page no="320"?> 320 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Bedeutung der vorhandenen „Zettelkartei“ ein, in der „in festumrissenem Arbeitsgang“ aus aktuellen Texten „das Wichtige, sprachlich Bedeutsame [...] gesammelt [wird]“ (Basler 1936a, S. 177; #3.3). Er berichtet über die „Deutsche Sprachberatungsstelle“, die „der Verlag seit einigen Jahren [...] beim Bibliographischen Institut geschaffen“ habe, und über das „Wortarchiv, das zur Lösung sprachgeschichtlicher Fragen herangezogen wird, [und ...] 5 Millionen handschriftlicher Belege“ umfasse (ebd., S. 178). Zum anderen stellt er 1936 zur „Wiederkehr des 25. Todestages Konrad Dudens“ und „in den bewegten Tagen der Olympischen Spiele“ auch in diesen „hat Duden Gehör gefunden“ in einer „Zeitungssonderschau“ teils kommentierend Veröffentlichungen über diesen und über die Duden- Rechtschreibung zusammen; wobei er, mit Bezug auf Artur Hübners Beitrag 1936, in der von ihm (Basler) selbst bearbeiteten 11. Auflage einen Fortschritt gegenüber der 10. Auflage sieht ein Lob, das ich in Hübner (1936) allerdings vergeblich gesucht habe. Und auch hier, in Basler (1936b; #3.4), heißt es: „Otto Basler und die von ihm geleitete Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut“. Von einer Leitung der (Duden-)Fachschriftleitung oder gar der Dudenredaktion ist nirgendwo die Rede. Doch wie alldem auch sei, Baslers Zeit beim ‘Duden’ ist fast vorbei. "[E]ntsprechend einem Vertrag vom 13.06.1929 [war Dr. O. Basler] nur für die Bearbeitung der 11. Auflage des >Großen Duden< und [...] des >Kleinen Duden< vertraglich gebunden. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag wurde ohne jede Weiterwirkung (auch urheberrechtlicher Art) per Aufhebungsvertrag vom 07.05.1938 beendet. Dr. O. Basler hat also mit der 12. Auflage nichts mehr zu tun. Ausdrücklich für die 12. Auflage ist für die Bearbeitung des Wörterverzeichnisses außerhalb der eigentlichen Dudenredaktion, die damals schon u. a. von H. Klien repräsentiert wurde, der Korrektor Georg Widenmann [...] gewonnen worden.“ (Dieter Baer, Leiter der Dudenredaktion Leipzig seit 1976; brieflich in Baer 1998/ 8.5.; Kursive WM). In einem Telefongespräch (1.2.2001) ergänzt Baer, eine Verzichtserklärung Baslers (vgl. oben im Brief „ohne jede Weiterwirkung (auch urheberrechtlicher Art“) trage das Datum: 18.8.1938. 155 155 Rudolf Köster danke ich herzlich für seine telefonischen Auskünfte, Ursula Kraif von der Mannheiner Dudenredaktion für die Vermittlung von Kösters Telefonnummer (beides 8.4.1998). Ebenso herzlich danke ich Dieter Baer für seine telefonischen (6.4.1998, 11.5.1998, 1.2.2001) und brieflichen (8.5.1998) Auskünfte. <?page no="321"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 321 Mit dem Vorstehenden ist die eine Leipziger Seite der Duden-Verdienst- Medaille vorgestellt, geprägt von Otto Basler (1929 bis 1935 bzw. 1938) und 1962 bzw. 1968 in Westdeutschland schön glänzend nachpoliert von Paul Grebe. 156 3.1.2.2 Horst Kliens Rolle in der Dudenredaktion Mehrfach tritt in der oben versuchten Präzisierung der Dudenrolle Otto Baslers, schemenhaft im Hintergrund, Horst Klien in Erscheinung, so in Verbindung mit der 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung 1941 (in Fraktur) und Angeregt durch die arbeitsteilige Kombination - Klien als Bearbeiter und Widenmann als Korrektor wies Baer auf die Parallele Duden und Reinecke hin. Dazu dies: Über diese Kombination berichtet Konrad Duden 1900 zum ersten Mal (Duden 6 1900, Vorwort S. VII): „Besonders zu erwähnen ist unter den Förderern des Buches Herr Otto Reinecke in Berlin [...] Korrektor an der Reichsdruckerei“. In Duden ( 7 1902) und ( 8 1905) sowie auch in den beiden Auflagen des Buchdrucker-Duden (1903 und 2 1907) wiederholt sich im jeweiligen Vorwort diese besondere, im Einzelnen modifizierte Erwähnung. Ist Reinecke (Buchdrucker-Duden 2 1907, S. VIII) bereits zum „Oberkorrektor“ avanciert, so erscheint er in Duden ( 9 1915) weiterhin im Vorwort, doch nunmehr auch am Schlüsse der langen, fast barocken Titelei und zudem mit erweitertem Titel: „[...] unter Mitwirkung des Kaiserlichen Oberkorrektors Otto Reinecke.“ Dies gilt auch für den 2. Neudruck der 9. Auflage von 1918. Im 4. Neudruck von 1919 (der 3., ebenfalls von 1919, liegt mir nicht vor) und in den dann folgenden Neudrucken findet sich: „[...] unter Mitwirkung des Oberkorrektors der Reichsdruckerei Otto Reinecke.“ Oberkorrektor wie Reichsdruckerei sind geblieben. Kaiserlich ist verschwunden - Wandel der Zeiten <=> Wandel der Wörter und Titel. 156 Grebe widmet seinen Beitrag 1962 Otto Basler zum 70. Geburtstag und schreibt (Grebe 1962, S. 71): „Auf Wülfing und Schmidt folgte Ende der zwanziger Jahre der Sprachpfleger Theodor Matthias [...] und Anfang der dreißiger Jahre unser Jubilar Otto Basler“ (so auch Grebe 1968, S. 20 ohne „unser Jubilar“ und mit den Namen in Versalien). Damit bestätigt Grebe zwar den Beginn der Basler-Tätigkeit, doch das Ende lässt er offen, indem er mit der 14. Auflage Wiesbaden 1954 der Duden-Rechtschreibung fortfährt (1962, S. 72; 1968, S. 21) und die weitere Leipziger Linie und damit auch Horst Klien übergeht. Irgendwie dem entsprechend und in gewissem Einklang mit Basler (1936a) spricht Grebe in seiner Laudatio auf Basler diesem große Verdienste beim Ausbau der Dudenredaktion zu (u.a. Anlage einer Belegsammlung und Institutionalisierung der Sprachberatungsstelle), die nach Aussagen von Laudatoren Horst Kliens jedoch diesem zuzuordnen sind (dazu vgl. unten). Baslers Laudatoren zum 80. Geburtstag (Kähni 1971, Röhrig 1972) heben andere Tätigkeitsbereiche des Jubilars hervor (vgl. auch Röhrig 1977). <?page no="322"?> 322 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1942 (in Normalschrift) wie auch schon früher, nämlich 1935 oder 1936 bzw. 1938. Wie ist es nun aber genau(er) gewesen? Im Jahre 1961 „[jährt] sich der Gründungstag des Bibliographischen Instituts zum 135. Male“, im gleichen Jahr „[vollendet] Horst Klien sein 75. Lebensjahr“, was in D.H. (1961) (#3.5) eingangs festgestellt und dann ausführlicher gewürdigt wird. Der 80. Geburtstag Horst Kliens führt 1966 zu den beiden Würdigungen von Erhard Agricola (1966/ 11.10) (Typoskript) und H.L. (1966) (#3.6). 157 Zur Zusammenschau dieser Beiträge vgl. Abb. 40. (1) 31.10.1886 Horst Klien geboren 1966 A (2) (seit 1921) (seit 1921) 1961 40jährige Tätigkeit in diesem Verlag 1965 45 Jahre Redakteur des Bibliographischen Instituts (BI) 1961 1966 A + H.L. (3) als Ratgeber und Lehrer Ausbildung des redaktionellen Nachwuchses hinterlässt ein glänzend geschultes Kollektiv von Wörterbuchautoren 1961 1966 A (4) (1936) (1941? ) (1936) seit einem Vierteljahrhundert, seit der Duden im Verlag bearbeitet wird, Klien verantwortlicher Herausgeber dieses rechtschreiblichen Nachschlagewerkes, Gründer der Dudenredaktion ein Vierteljahrhundert lang Bearbeiter und philologisch verantwortlicher Herausgeber des Großen Dudens 30 Jahre dem Duden gewidmet, Gründer und langjähriger Leiter Ast Dudenredaktion, verantwortlicher Herausgeber dieses rechtschreiblichen Nachschlagewerkes, Nestor der Dudenredaktion 1961 1966 A 1966 H.L. (5) Schöpfer der Sprachberatungsstelle des Bl Initiator der Deutschen Sprachberatungsstelle bei der Dudenredaktion 1961 1966 A (6) umfangreiche Arbeits- und Sachkarteien aufgebaut, mit deren Hilfe Neuwörter erfaßt usw. 1961 157 Dieter Baer danke ich herzlich für die Vermittlung der drei Würdigungstexte. Ein weiteres Jubiläum: Sarkowskis Verlagsgeschichte von 1976 liegt die Karte bei: „150 Jahre Bibliographisches Institut 1826 [BI-Emblem] 1976“. <?page no="323"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 323 (7) 2.-4.12. 1943 anglo-amerikanische Bomber zerstörten diese mühselig aufgebaute Arbeit Hauptangriff auf Leipzig, wegen der Bombenschäden auch des Bis sind keine Akten mehr vorhanden 1961 Baer 6.4.1998 (8) 1945 Wiederaufbau unter Klien, Ausbau der Dudenredaktion', n 1947, 1951 neu bearbeitete verkürzte Ausgabe, 15 1957 Neuaufbau der Dudenredaktion und Wiederaufstellung der verlorengegangenen Arbeitsmaterialien und Belegkarten 13 1947, 1951-1957 Kleiner Duden, 15 1957 unter der bewährten Oberleitung des Herrn Klien von der Dudenredaktion geschaffen, 1966 Bearbeitung der 16. Auflage abgeschlossen 15 1957 und die kommende 16. Auflage (1967 erschienen) 1961 1966 A 1966 H.L. (9) 1953 Duden-Bildwörterbuch Russisch und Deutsch 1961 o.J. 1966 A + H.L. (10) 1954 Fremdwörterbuch, jetzt (1966 A) bereits in 10, Auflage 1961; 1966 A + H.L. OD Zu l4 1954 Wiesbaden „(Der 1954 in Westdeutschland erschienene Duden fußt auf der 13. Auflage des Leipziger Dudens und auf dem Duden 1951/ 56.)“ 1961 ls 1957 durch mehrere DDR-Standards für verbindlich erklärt (12) 1959 1961 (13) 1961 31.10.1961 135. Geburtstag des BI Klien 75 Jahre alt; Verleihung des F.-C.-Weiskopf-Preises (Dudenredaktion), des Vaterländischen Verdienstordens (Klien) 1961, 1966 A (14) 1965 Ausscheiden aus der Verlagsarbeit 1966 A (15) 31.10.1966 Klien 80 Jahre alt, Verleihung des Titels Professor 1966 H.L. J16I 18.8.1967 Horst Klien gestorben Baer 11.5.1998 1961 = D.H.: Der Duden und einer seiner Getreuen (D.H. 1961). 1966 A = Erhard Agricola: Gutachten über das Lebenswerk von Horst Klien (vom 11.10.1966) (Agricola 1966/ 11.10). 1966 H.L. = H.L.: Horst Klien 80 Jahre - Professorentitel für den Herausgeber des Duden (H.L. 1966). Abb. 40: Horst Klien aus der Sicht seiner Zeitgenossen (Kursive WM) <?page no="324"?> 324 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Zu Abb. 40 einige Hinweise und Erläuterungen. Aus Zeile 4 ergibt sich als Beginn von Horst Kliens Dudentätigkeit das erschlossene und deshalb in Klammem gesetzte Jahr 1936. 158 1965 (Zeile 14) scheidet er aus der Verlagsarbeit aus. ln den Zeilen 5 und 6 werden bestimmte Verdienste, die Basler 1936 für sich in Anspruch nimmt und die Grebe (1962) bzw. (1968) diesem attestiert, Klien zugeordnet. Die Bombenschäden im Dezember 1943 (Zeile 7) führen zu "Verluste[n] durch Kriegseinwirkungen“ in Höhe von „11,6 Milliarden Reichsmark“ („fast achtzig Prozent der Bilanzsumme“), die im Geschäftsbericht 1944, der damaligen Sprachregelung gemäß, als „>Sonstige Forderungem“ ausgewiesen sind. Nach einem weiteren Angriff am 28. Febmar 1945: „Das Betriebsgebäude [...] war mit seinen über 22 000 Quadratmetern Betriebsfläche zur Ruine geworden. Der Verlag, nunmehr fast 120 Jahre alt, schien ausgelöscht zu sein.“ (Sarkowski 1976, S. 166; zu den Versorgungsengpässen 1939 bis 1943 vgl. oben 2.1.1.3). Über Bombenschäden dieser Art wird auch vom Reclam Verlag, Feipzig (zweimal schwer getroffen; Brief vom 22. Mai 1944; #1.9) sowie vom Oldenbourg Verlag, München (Zerstörung am 25.4.44; Brief vom 14.11.1945; #3.16) berichtet. Das Jahr 1945 (Zeile 8) erinnert daran, dass Sauer (1988, S. 145) damit die „Ära >Horst Klien [...]<“ beginnen lässt. Bei der Zusammenstellung der unter Klien erschienenen Werke fallt auf, dass weder der Kleine Duden ( 2 1939) noch die 12. Auflage der Duden- Rechtschreibung von 1941 bzw. 1942 in den drei Beiträgen angeführt werden. Empfehlen sich die drei Autoren durch diese Ausblendung, durch das Verschweigen nicht auch als Kandidaten für die Aufnahme in die Schweigespirale? Die zwei Autoren werden ihre Antwort schon parat haben. Wird auch (Zeile 11) zumindest hier die Wiesbadener Auflage (Duden- Rechtschreibung 14 1954) als Pendant erwähnt, so geschieht dies jedoch in 158 Die mittlere Jahreszahl (1941? ) ergibt sich zwar aus der Zeitangabe ein Vierteljahrhundert lang in Agricola (1966), doch lässt sich diese und damit auch 1941 nicht in Einklang bringen mit den beiden anderen. Eine Deutung dieses Missklangs ist auch hier (zu einem ähnlichen Fall vgl. oben 2.1.3) die Texttradition, d.h. der Einfluss vorausgehender und benutzter Texte, hier offenbar des Textes von 1961, in dem diese Zeitangabe Sinn macht. <?page no="325"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 325 Klammem und mit deutlicher Betonung ihrer Abhängigkeit von Leipzig (Duden-Rechtschreibung u 1947 [L] und 14 1951/ 8. Ndr. 1956). Zu Standards (Zeile 12) neueren Datums vgl. Nerius (Hg.) (1989, S. 213, 259). Damit ist die zweite Leipziger Seite der Duden-Verdienst-Medaille vorgestellt, geprägt von Horst Klien (1936 bis 1965) und in der DDR anlässlich dreier Festereignisse von den drei Laudatores kommemoriert. 3.1.2.3 Fazit - Baslers Rückblick aus dem Jahre 1958 Otto Basler 1929 beim Bibliographischen Institut Leipzig unter Vertrag genommen, bis 1935 als Außenmitarbeiter auf der Duden-Linie aktiv und im Mai 1938 offiziell ausgeschieden - Horst Klien ab 1936 im Verlag angestellt, Gründer der Leipziger Dudenredaktion und dort bis 1965 tätig: Diese Daten, zum großen Teil auch allgemein zugänglich, weil veröffentlicht, sind eigentlich recht klar und die durch sie abgesteckten Zeiträume erscheinen durchaus als übersichtlich. Dass trotz alledem (Um-, Fehl- und Irr-)Deutungen unterschiedlichster Art nicht nur möglich sind, sondern angestellt werden, das lehrt allein schon die Geschichte von, mit und über Kopke. Zu Baslers Ausscheiden: Rudolf Köster vermutet, es seien Honorarfragen gewesen, die dazu geführt hätten. Möglicherweise ist es aber auch so gewesen, dass mit der Einrichtung der Dudenredaktion 1936 und mit dem auch personellen Ausbau - Rudolf Köster wird 1938 als Redakteur eingestellt auf der Linie der Bearbeitung und Herausgeberschaft der Dudenbände kein Platz mehr für Außenmit- oder -bearbeiter ist, kein Bedarf an ihnen besteht; ausgenommen Korrektoren wie Georg Widenmann, der (vgl. oben) für die 12. Auflage von 1941 „außerhalb der Dudenredaktion [...] gewonnen“ wird. Eine gegenständige Vorstellung ist, Basler hätte doch Redakteur innerhalb der Redaktion verbleiben können. Doch das alles sind Spekulationen von Außenstehenden und zudem noch aus der Retrospektive. Basler selbst dankt in einem Brief vom 24.10.1958 (B/ G. 23, Abschrift B/ G. 22; Basler 1958/ 24.10.) Paul Grebe „für den Antrag, eine >Geschichte der deutschen Rechtschreibung< zu verfassen“ und „in der von Ihnen [von Grebe; WM] geleiteten Reihe“ erscheinen zu lassen, und äußert seine <?page no="326"?> 326 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Überzeugung, dass „wir beide gut geschirren“. Und doch: „Ungeklärt bleibt der Weg eine Verständigung mit der Verlagsleitung, die sachlich wie menschlich ja nicht ausgeschaltet werden darf, Und da wissen Sie, daß und welche Brocken im Weg liegen.“ Gemeint sind die „Schwierigkeiten mit der >Grammatik< vor einigen Jahren“ und die „alten Differenzen der Jahre 1933 ff.“ Beide Angelegenheiten seien ja „nicht geschäftlicher Art“ gewesen, sondern in „rein menschliches Nicht-mehr-mit-machen-Können“ ausgemündet. Im Weiteren teilt Basler Grebe mit, dass er sich nach 1945 einem Antrag zur Mitarbeit im Bibliographischen Institut versagt habe, selbst in einer Zeit, in der er keinerlei Einnahmengehabt hätte, seine Bibliothek zerstört und die Universität nicht eröffnet gewesen sei. „Ich lebte damals unbelastet! von etwa 180 Mark monatlich als Beschäftigter in der Bayrischen Staatsbibliothek, inmitten einer zusammengebrochenen Welt, durch die schwere Krankheit meiner Frau und den Tod des einzigen Sohnes niedergedrückt wie alle nicht zu wissen, was der kommende Tag bringe aber ich mußte mir meine innere Freiheit sichern! Ich schreibe Ihnen dies, damit Sie sehen, daß und was ich gerade bei kommender Zusammenarbeit mit dem Bibliographischen Institut selber wegräumen müßte. Ich weiß auch selber genug, daß ich Ecken und Kanten habe und daß ich unbeugsam bin. Nehmen Sie dies nicht als Absage, sondern verstehen Sie, daß Dinge und Menschen außer uns beiden im Wege stehen. Wenn wir uns darüber unterhalten wollen, dann müssen wir uns irgendwo treffen. Denn bevor wir nicht sehen, wie es gehe, ist jeder andere Schritt unmöglich.“ 159 Grebe zeigt in seinem Antwortschreiben (Grebe 1958/ 29.10.; B/ G.24) großes Verständnis für Baslers Ausführungen „über unsere zukünftige Zusammenarbeit“, lässt ihm gerne Zeit, „über diesen ganzen Komplex noch einmal nachzudenken“, und erklärt sich jederzeit bereit, Basler „zu einem klärenden Gespräch aufzusuchen“. Angesichts der von Basler erwähnten Differenzen zeigt Grebe sich besonders glücklich darüber, „daß wenigstens zwischen uns beiden als den Gestaltern des Dudens in den letzten Jahrzehnten sich, wie ich wohl sagen darf, nahezu freundschaftliche Gefühle eingestellt haben“. „Ich lebte damals unbelastet! - [...]“: Auch dies eine selbstbiographische Aussage Baslers, die in Erinnerung bringt, dass er seit Sauer in der Literatur 159 Baslers Sohn Hans-Helmut fiel am 6.3.1945 im Alter von knapp 30 Jahren. Seine Frau Hertha, geb. Reh, starb am 19.11.1947 (Auskünfte von Kerstin Steiger, IDS). Hiltraud Strunk verdanke ich die Kopien des oben benutzten Briefwechsels zwischen Basler und Grebe vom 4.2.1957 bis 27.7.1959 (B/ G. 1 bis B/ G. 29). <?page no="327"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 327 als NSDAP-Mitglied (Sauer 1988, S. 121), als aktiver Nationalsozialist (Müller 1994, S. 112; Kopke 1995, S. 66) geführt wird (vgl. oben 1.1.2.3). 3.1.3 Die Dudenredaktionen nach dem Kriege: Nachfolgen Entsprechend dem Ablauf der Dinge in der Zeit kommt zunächst die Dudenredaktion in Leipzig ins Blickfeld und dann die in Wiesbaden, späterhin in Mannheim (vgl. 3.1.3.1). Sind die zusammengestellten Zeitdaten auch recht übersichtlich und klar, so finden sich, bezogen auf das Gründungsjahr beider Dudenredaktionen wie auch auf das der Deutschen Sprachberatungsstelle, doch einige ausweitende Deutungen bzw. einander widersprechende Angaben (vgl. 3.1.3.2). Es folgen einige Beobachtungen zum Aufkommen der Bezeichnung Dudenredaktion auch in Verbindung mit Deutsche Sprachberatungsstelle (vgl. 3.1.3.3). 3.1.3.1 Die Dudenredaktionen: 1945 Leipzig - 1947 Wiesbaden, 1959 Mannheim - Institut für Deutsche Sprache (IDS) 1964 Entsprechend dem Ablauf der Dinge in der Zeit kommt zunächst die Dudenredaktion in Leipzig mit ihren Ausgaben der Duden-Rechtschreibung und ihren leitenden Personen ins Blickfeld und dann die Dudenredaktion in Wiesbaden, späterhin in Mannheim. (1) Die Dudenredaktion in Leipzig ab 1945 Das das Kriegsende von 1945 überlebende Bibliographische Institut AG wird 1946 enteignet und der Firmeneintrag im Handelsregister gelöscht. In Folge entsteht in Leipzig der VEB (Volkseigene Betrieb) Bibliographisches Institut (Sarkowski 1976, S. 168). Die erste Neuauflage der Duden-Rechtschreibung nach Kriegsende, die 13. in der Gesamtzählung, erscheint im Jahre 1947: „Bearbeitet von der Duden- Schriftleitung des Bibliographischen Instituts Herausgegeben von Horst Klien“ (Duden-Rechtschreibung 13 1947[L], Titelseite), unter dessen „Leitung“ (Wurzel 1979, S. 103) die Dudenredaktion in Leipzig 1945 mit ihrer Bearbeitung (wie auch mit dem Wiederaufbau und der Neueinrichtung der Redaktion; vgl. Abb. 40 Zeile 8) beginnt. Im Jahre 1949 erscheint ein verbesserter Nachdruck. <?page no="328"?> 328 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1951 wird eine „Vollständig neu bearbeitete Ausgabe“ ohne Auflagenzählung und ohne Nennung eines Herausgebers veröffentlicht (Duden-Rechtschreibung l4 1951). Die folgende Auflage von 1957 wird als die 15. gezählt; entsprechend zähle ich die von 1951 als die 14., deren 8. Nachdruck 1956 auf den Markt kommt. Auf der Rückseite des Titelblattes findet sich: „Bearbeitet von der Duden-Redaktion Vereinigung Volkseigener Verlage Bibliographisches Institut, Leipzig“. Kennzeichnend für „die eingreifende Neubearbeitung“ von 1951, verbunden mit einer "wesentliche[n] Umfangsverminderung“, ist die mit Blick auf den „heutigen Benutzer“ durchgeführte Umgestaltung des Regelteils in das „Kleine Abc der Rechtschreibung, Zeichensetzung und Sprachlehre“ (S. III Vorwort) sowie die Beseitigung bisher in Fußnoten angeführter Schreib- und Formvarianten aus den amtlichen Rechtschreibbüchem und damit auch die Tilgung jeglichen Hinweises auf die amtliche Regelung. Mit der Tilgung der Varianten wird das fortgeführt und vollendet, was im Volks-Duden (1933), im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und in Folge im Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) vorexerziert bzw. was im Großen Duden ( l2 1941) vorbereitet worden ist (vgl. oben 1.1.1.2 f. und 1.1.3.1). Positiv komplementär dazu verhält sich die Aufnahme amtlich nicht vorgegebener integrierter Varianten wie Kautsch neben Couch, Grafik neben Graphik (Böhme 2001, S. 143). Wenn von der "gründliche[n] Überarbeitung dieses wahrhaften Volksbuches“ (Duden-Rechtschreibung l4 1951, S. III Vorwort; Kursive WM) die Rede ist, so erinnert dies daran, dass schon die kleinen Dudenausgaben vormals Volksnähe gesucht hatten bzw. dass diese für sie beansprucht wurde (vgl. oben 1.1.2.3). 1957 erscheint die 15. Auflage (Duden-Rechtschreibung 15 1957; vgl. Wurzel 1979, S. 104), „Herausgegeben von Horst Klien“ (Titelseite); „Bearbeitet in der Dudenredaktion [...]“ (Rückseite Titelblatt). Der 2. verbesserte Nachdruck erscheint 1966. In dem vom Verlagsleiter Heinrich Becker Unterzeichneten Vorwort heißt es unter anderem: „Alle Vorarbeiten, die in den bisherigen Ausgaben des Dudens ihren Niederschlag gefunden haben, konnten wir benutzen. Auch bot uns die große Mate- <?page no="329"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 329 rialsammlung unserer Dudenredaktion fiir viele Fragen, die bei der Bearbeitung auftauchten, Hinweise in Fülle. Horst Klien, der Senior unserer Arbeit, stellte in unermüdlicher Bereitschaft auch für diese Auflage des Dudens seine reichen Erfahrungen zur Verfügung. Hierfür danken wir ihm auf das herzlichste. Sein Name wird auch mit dieser Ausgabe unlöslich verbunden sein. Unser Dank gilt weiterhin unseren Mitarbeitern der Dudenredaktion (Leitung: Dr. W. Ebert), des Lektorats (Leitung: A. M. Uhlmann), der Abteilung Vorauskorrektur und der Herstellung sowie den Setzern und Korrektoren im VEB Leipziger Druckhaus“ (Duden-Rechtschreibung ,5 1957, S. VII Vorwort; unterzeichnet: Dr. h. c. Heinrich Becker, Verlagsleiter; Kursive WM). Zu der von Becker angesprochenen großen Materialsammlung mit ihrer Fülle an Hinweisen vgl. oben 3.1.2.2 Abb. 40, Zeile 6 und 8. 1967 erscheint die 16. Auflage (Duden-Rechtschreibung 16 1967[L]); vgl. Abb. 40, Zeile 8), „Herausgegeben von Prof. Horst Klien“ (Titelseite); 160 „Bearbeitet von der Dudenredaktion [...] Gesamtleitung: Prof. Horst Klien“ (Rückseite Titelblatt); was in Erinnerung bringt, dass Klien im Oktober 1966 der Titel Professor verliehen wird (vgl. Abb. 40, Zeile 15). Im Vorwort heißt es, analog zu 1957, aber an dieser Stelle mit Nennung des Namens nur einer Person: „Wir danken besonders dem Herausgeber, dem Senior der Dudenredaktion, Prof. Klien, der sich wiederum mit seinen reichen Erfahrungen in aufopferungsvoller Arbeit diesem Werk zur Verfügung gestellt hat. Unser Dank gilt ferner allen Kollegen und Mitarbeitern, die an dieser Auflage beteiligt waren, besonders unserer Dudenredaktion und unserer Herstellung sowie den Setzern und Korrektoren im VEB Leipziger Druckhaus und allen beteiligten Kollegen im Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft, Dresden.“ (Duden- Rechtschreibung l6 1967, S. Vf. Vorwort; unterzeichnet: VEB Bibliographisches Institut Leipzig). Auf der Rückseite des Titelblattes werden die „Mitarbeiter der 16. Auflage“ namentlich genannt; ein großes Kollektiv von 19 Personen, dem W. Ebert nicht (mehr) angehört. Angeführt von „Prof. Horst Klien“ folgt eingereiht in 13. Position „Herbert Görner“, der weiter unten als Nachfolger Eberts in der Leitung der Dudenredaktion noch einmal ins Spiel kommen wird. 160 Sauer (1988, S. 73) gibt als Erscheinungsjahr der Leipziger 16. Auflage 1966 und als von ihm verwendete Ausgabe den 1. Nachdruck von 1967 an. Dem 1966 widersprechen die oben wiedergegebenen Angaben sowie auch Heller (1989, S. 101) (DDR 16. Auflage Erstausgabe 1967; 1. Nachdruck 1967). <?page no="330"?> 330 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Im 3. Nachdruck dieser Auflage, erschienen 1969, heißt es: „Herausgegeben von Prof. Horst Klien t“ bzw.: „Gesamtleitung: Prof. Horst Klien (verst.)“ und „Prof. Horst Klien (verst.)“; was in Erinnerung bringt, dass Klien am 18.8.1967 gestorben ist (vgl. Abb. 40, Zeile 16). Zu den weiteren Auflagen vgl. das Literaturverzeichnis, Heller (1989) und Böhme (2001). Vor dem skizzierten Hintergrund lässt sich die bisher von mir verwendete paarig-alternative Funktionskennzeichnung Kliens, nämlich Leiter der Dudenredaktion bzw. dort in verantwortungsvoll-leitender Position, offensichtlich entflechten. Denn die Gegenüberstellung in Duden-Rechtschreibung ( l5 1957, S. VII Vorwort), nämlich Hic „Horst Klien, der Senior unserer Arbeit“ - Illic „Dudenredaktion (Leitung: Dr. W. Ebert)“, legt nahe und bietet an, zwischen 1952 und 1956, spätestens jedoch 1957 mit der Auflage ( 15 1957), einen Schnitt anzusetzen; was insbesondere durch Zeitzeugen bestätigt wird und als gerechtfertigt erscheint. Im Zeitraum danach hat Klien im Verhältnis zur Dudenredaktion (Leitung Ebert) augenscheinlich eine übergeordnete Position inne, die in den Laudationes mit „Nestor der Dudenredaktion“ und, im Zusammenhang speziell mit der Auflage ( 1S 1957), mit "bewährte[...] Oberleitung“ (vgl. Abb. 40, Zeile 4 und 8) gewürdigt wird und eben auch mit „Senior unserer Arbeit“ bzw. „Senior der Dudenredaktion“. Zu dieser Position gehört offenbar auch, dass er noch in Duden-Rechtschreibung ( lh 1967), deren Bearbeitung 1966 abgeschlossen ist, als Herausgeber genannt ist, obwohl er, so die Auskunft von Agricola, der selbst „1951-1959 Mitglied der Dudenredaktion“ ist (Agricola 1966/ 11.10.), schon 1965 (offiziell? ) aus der Verlagsarbeit ausscheidet (vgl. Abb. 40, Zeile 8 und 14). Und im Zeitraum davor? Köster findet 1938 in der Leipziger Dudenredaktion, wie er sagt, Horst Klien als „Leiter“ vor; dieser sei dies schon seit einiger Zeit, etwa seit 1935 oder 1936, gewesen (Köster 1998/ 8.4.; vgl. oben 3.1.2.1). Klien „Gründer der Dudenredaktion“, „Gründer und langjähriger Leiter der Dudenredaktion“ (D.H. 1961 bzw. H.L. 1966; vgl. Abb. 40, Zeile 4). „So machte sich die Dudenredaktion [...] unter der Leitung von Horst Klien noch [...] 1945 an die Arbeit“ (Wurzel 1979, S. 103f.), d.h. an die Vorbereitung der 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung ( L ' 1947 [L]) in Leipzig. <?page no="331"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 3 31 Klien ist, so stellt es sich dar, von 1936 an Leiter der Leipziger Dudenredaktion. Unter seiner ‘bewährten Oberleitung’ wird Wolfgang Ebert, vermutlich so zwischen 1952 und 1956, spätestens jedoch 1957 mit der Auflage der Duden-Rechtschreibung ( l5 1957), Leiter der Dudenredaktion. Ihm folgen (so telefonisch Baer 2001/ 1.2.) der in Zusammenhang mit der Auflage ( l6 1967) oben bereits genannte Herbert Corner, 1972 Wieland Held und 1975 Wolfgang Lehmann (vgl. auch Baer 1995, S. 39) und dann 1976 Dieter Baer. 161 Auf dieser weit zurückreichenden Schiene der Leiter der Leipziger Dudenredaktion ist für Paul Grebe kein Platz, schon gar nicht als Nachfolger Otto Baslers. Diese seit 1947 weitergeführte Linie der Dudenbände des VEB Bibliographisches Institut Leipzig wird in Sarkowskis Buch „Das Bibliographische Institut Verlagsgeschichte und Bibliographie“ (Sarkowski 1976) 162 wie schon in Grebe (1962) und (1968) sowie in Drosdowski (1968) nicht verzeichnet. Sie wird gewissermaßen ausgeblendet und, wie oben schon zitiert, wird „eine unmittelbare Kontinuität [...] von Otto Basler zu Paul Grebe konstruiert“ (Sauer 1988, S. 145); womit zu diesem und damit zu einem anderen Dudengleis übergeleitet ist. 161 In Strunk (1992, S. 587) und Strunk (Hg.) (1998, Bd. 1, S. 351) wird für den Zeitraum von 1959 bis 1966 als Leiter Wolfgang Ebert angegeben. Statt 1959, so das oben ermittelte Bild, beginnt die Leitung durch Ebert vermutlich so zwischen 1952 und 1956, spätestens jedoch 1957 mit der Auflage der Duden-Rechtschreibung ( 15 1957). Zu 1966 als dem Ende passt das Erscheinen der Duden-Rechtschreibung ( 15 1966, 2. Nachdr.) und auch, dass Wolfgang Ebert in Duden-Rechtschreibung ( 16 1967[L]) nicht mehr genannt ist. Wohl aber Herbert Gömer, der, nach Baer (vgl. oben), Eberts Nachfolger ist. Dies geht 1967 aus der 13er-Position innerhalb der Namensreihe der Bearbeiter allerdings nicht hervor; doch mag sich dieses vielleicht so erklären, dass die Hervorhebung eines Einzelnen sich mit dem fortgeschrittenen sozialistischen Verständnis vom Kollektiv nicht mehr so recht vereinbaren lässt. Es sei denn, es handelt sich um den Nestor oder den Senior eines Unternehmens. Angemerkt sei: In Duden-Rechtschreibung ( 17 1976) werden die Namen der Mitarbeiter nicht mehr genannt. Und auch: Im Rahmen der Strunkschen Kurzbiographien wird Horst Klien nicht geführt. 162 Klien und Ebert werden zwar je einmal genannt, und zwar in der „Bibliographie 1915- 1945“, doch hier in Zusammenhang mit dem englischen Bilder-Duden bzw. mit der „Geschichte der ostdeutschen Kolonisation“, beide 1937 (Sarkowski 1976, S. 276 bzw. 267). Die Namen Gömer, Held und Lehmann sind im Register nicht zu finden. <?page no="332"?> 332 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (2) Die Dudenredaktion in Wiesbaden ab 1947 und in Mannheim ab 1959; 1964 Gründung des IDS Eine unveränderte Lizenzausgabe der Leipziger 13. Auflage erscheint, wie es sich (mir) darstellt, 1947 beim Steiner Verlag in Wiesbaden (Duden- Rechtschreibung l3 1947[W]). In Verbindung mit diesem Verlag und diesem Jahr kommt, also relativ spät und anderenorts oder auf einer anderen Schiene, Paul Grebe, von Hause aus Historiker, also auch ohne orthographische Vergangenheit, ins (Duden-)Spiel; unter seiner Leitung wird hier die Dudenredaktion neu auf- und ausgebaut. 163 Augst/ Strunk (1988, S. 330) geben als Erscheinungsdatum der Lizenzausgabe im Steiner Verlag „Dezember 1948“ an. Bei Wurzel (1979, S. 104; entsprechend auch bei Sauer 1988, S. 135) heißt es allgemein ohne Jahresangabe: „Westdeutsche, österreichische und schweizerische Verlage brachten Lizenzausgaben heraus.“ Nach Berger (1967) und Heller (1989; in handschriftlich ergänzter Form) ist in Wiesbaden zunächst eine Ausgabe ohne Jahr erschienen, der Heller das Jahr 1947 zuordnet; die folgende fallt gemäß den beiden Aufstellungen in das Jahr 1948. Bei Böhme (2001, S. 125) findet sich lakonisch: „westdeutsche Lizenzausgabe im Verlag Franz Steiner in Wiesbaden [...] (D 13 1947)“. Auffällig, wenn auch nicht mehr überraschend ist, dass auch diese Wiesbadener Lizenzausgabe in Kopke (1995) nicht geführt wird, obwohl er ansonsten Augst/ Strunk (1988) wie auch Sauer (1988) durchaus benutzt, in denen sich einschlägige Angaben finden. Für ihn existiert nur die „konkurrenzlose Leipziger [13.; WM] Auflage von 1947“, die, so seine Deutung der Dinge, in dem nicht veröffentlichten Beschluss der westdeutschen Kultusministerkonferenz von 1950 (zu diesem vgl. oben 2.2.1) gemeint sein soll (vgl. oben 2.2.3), wonach der Duden im Zweifel maßgebend sei. Das schon oben (vgl. 3.1.1) festgesteifte und nunmehr erweiterte weiße Feld bezüglich der Wiesbadener Vorgänge zieht also auch hier schon recht Merkwürdiges, Abstruses nach sich. Am 7. November 1953 wird auf einer außerordentlichen Hauptversammlung der mehrheitlich im Westen wohnenden Aktionäre des Bibliographischen 163 Bei Grebe selbst findet sich nach seiner oben referierten Laudatio auf Basler über den Neuanfang nur dies: „Als wir nach dem zweiten Weltkrieg zusammen mit Walther Mitzka an die Bearbeitung der 14. Auflage des Dudens gingen, [...]“ (Grebe 1962, S. 72; 1968, S. 21). Vgl. auch Drosdowski (1968, S. 24); Augst/ Strunk (1988, S. 333); Strunk (1992, S. 589). Genaueres über diesen neuen Start auf anderem Gleis findet sich auch in diesen Beiträgen nicht. <?page no="333"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 333 Instituts AG die Sitzverlegung des Instituts nach Mannheim beschlossen (Sarkowski 1976, S. 168). „Das Bibliographische Institut übernahm die Dudenredaktion, die 1958 [richtig ist: 1959; vgl. dazu unten; WM] nach Mannheim übersiedelte“ und dort zu einer „Abteilung >Dudenverlag<“ aufgebaut wird, dessen Veröffentlichungen nicht mehr auf die Themenbereiche Orthographie und deutsche Sprache beschränkt sind. Die „unter der Leitung von Dr. Paul Grebe neu aufgebaute Dudenredaktion“ erarbeitet unter Mitwirkung von Walther Mitzka, Professor für deutsche Philologie in Marburg, die 14. Auflage, die, „Bearbeitet von der Dudenredaktion“, 1954 erscheint (Duden-Rechtschreibung l4 1954, Titelseite), und zwar bis 1957 als Lizenzausgabe beim Steiner Verlag (Sarkowski 1976, S. 170). In dem ersten verbesserten Neudruck von 1956 wird dann Paul Grebe auf dem Titelblatt als Leiter der bearbeitenden Dudenredaktion genannt (Böhme 2001, S. 145), was aus dem Eintrag in Böhmes Literaturverzeichnis (ebd., S. 443) nicht hervorgeht. Offensichtlich der Leipziger Auflage ( 14 1951) nachempfunden ist, dass noch in der Lizenzausgabe ( 13 1947) verzeichnete amtliche Schreib- und Formvarianten 1954 beseitigt sind. Von der Streichung betroffen sind auch Varianten wie Canaille, Cognac, Coupon, die 1951 „noch den Status zulässiger Schreibungen neben den entsprechenden (halb-)integrierten Formen Kanaille, Kognak, Kupon“ hatten (Böhme 2001, S. 145). 164 Nur noch recht vage wird von den „geltenden Richtlinien der deutschen Rechtschreibung“ gesprochen. Wie 1951 wird 1954 im Vorwort dieser Duden als „Volksbuch“ vorgestellt. Mit dieser Auflage verbinden sich die oben (vgl. 2.2.1) dargestellten Vorgänge, die im November 1955 zu dem KMK-Beschluss zugunsten ‘des Duden’ geführt haben und die unten in 3.2 und 3.3 noch einmal zu beleuchten sind. Sarkowskis Angabe „1958“ für die Übersiedlung der Dudenredaktion von Wiesbaden nach Mannheim ist falsch. In einem Brief an Basler vom 27.7.1959 (B/ G. 29; Grebe 1959/ 27.7.) teilt Grebe mit, „daß die Dudenredaktion und damit auch die Geschäftsstelle unseres Arbeitskreises am 1. August d. J. ihren Sitz in das neu er- 164 Böhmes Aussage über Cognac Kognak ist, wie man es auch wendet, so oder so unzutreffend, vergleiche die leicht gekürzten Einträge und das orthographisch-semantische Splitting: Cognac (Stadt in Frankreich); T aber: Kognak - Kognak (Weinbrand); T aber: Cognac. (Duden-Rechtschreibung l4 1951 (Leipzig)). Kognak [nach der fr. Stadt Cognac] (Weinbrand) (Duden-Rechtschreibung l4 1954 (Wiesbaden)). <?page no="334"?> 334 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform richtete Verlagshaus des Bibliographischen Instituts nach Mannheim, Friedrich- Karl-Straße 12, verlegt“. Bestätigend eingekreist wird dieses Datum durch zwei Briefe an Grebe vom 3.6.1959 mit der Anschrift „Wiesbaden Dudenredaktion“ und vom 14.10. 1959 mit der Mannheimer Anschrift (Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 331 bzw. 333). 165 1963 wird Wolfgang Mentrup Redakteur der Mannheimer Dudenredaktion und findet dort Rudolf Köster als leitenden Redakteur und Otto Mittelstaedt als Vorstand des Bibliographischen Instituts vor. Damit kommen der oben mehrfach zu Wort gekommene Gewährsmann, der bereits 1938 in die Leipziger Dudenredaktion eingetreten war, sowie auch der damalige, im Zusammenhang mit Otto Basler bereits genannte Verlagsleiter erneut ins Spiel. Leiter der Dudenredaktion ist weiterhin Paul Grebe. Entsprechend wird er in der 15. (Duden-Rechtschreibung 15 1961) und 16. Auflage (Duden-Rechtschreibung 16 1967) auf der Titelseite geführt, in der 17. Auflage (Duden- Rechtschreibung ! 7 1973) nicht mehr. 166 Auf der Rückseite des Titelblattes heißt es u.a.: „Redaktionelle Leitung: Rudolf Köster“. Zu den weiteren Auflagen vgl. das Literaturverzeichnis, Heller (1989) und Böhme (2001). Grebes Ära reicht von 1947 in Wiesbaden bis 1973 in Mannheim. Sein Nachfolger von 1974 bis Mai 1995 ist Günter Drosdowski, der unten (in Kapitel 4) neben Grebe noch einmal auftreten wird. Drosdowskis Nachfolger ist bis in die Gegenwart Matthias Wermke. Am 18.4.1964 wird das Institut für Deutsche Sprache (IDS) gegründet (IDS (Hg.) 1989, S. 9). Mitbegründer sind Leo Weisgerber und Paul Grebe, der der erste Direktor des IDS wird. Otto Basler wird Mitglied des Wissen- 165 Auch Sauer (1988, S. 140) berichtet, ohne Angabe von Jahreszahlen, über einen Wechsel von Wiesbaden nach Mannheim, doch ist nach ihm Wiesbaden fälschlich „[ajnfanglich [...] der Firmensitz“ des „Bibliographischen Instituts AG“ in der Bundesrepublik Deutschland; „dann wechselte er nach Mannheim“. Die Redeweise von der „Mannheimer Duden- Redaktion“ im Zusammenhang mit der Eingabe der Dudenredaktion an die KMK vom 27.10.1955 (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 117) lässt außer Acht, dass jene zu dieser Zeit in Wiesbaden ansässig ist. Kopke (1995, S. 48f.) erwähnt ausschließlich die Übersiedlung der Aktiengesellschaft. 166 Sauer (1988, S. 74) gibt als Erscheinungsjahr der Mannheimer 16. Auflage 1968 an und nennt diese als die von ihm verwendete 1. Ausgabe. Dem 1968 widersprechen Heller (1989, S. 101) (BRD 16. Auflage Erstausgabe 1967; eine weitere Ausgabe 1968), Sarkowski (1976, S. 283), der ebenfalls 1967 fuhrt, und ein authentisches Exemplar im IDS mit der gleichen Jahreszahl. Es kommt halt eins zum andern. <?page no="335"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 335 schaftlichen Rates des IDS. Mentrup bleibt bis 1972 Dudenredakteur unter Grebe als Leiter; bis 2000 ist er Mitarbeiter im IDS. Am 24.3.1977 findet die konstituierende Sitzung der Kommission für Rechtschreibfragen statt, Mitglieder sind u.a. Grebe (bis 1981) und Mentrup (bis 1993) (Mentrup 1989c, S. 102ff.). (3) Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000): Verpasste Chance für die Fortführung der Linie einer Vermittlung von Wissen über Rust (1944) Mit Grebe > Mentrup ist sowohl Kopke (1995) als dann auch Birken- Bertsch/ Markner (2000) eine potenzielle Fortführung der Linie einer Vermittlung von Wissen über Rust (1944) entgangen. Dies ist aus ihrer Sicht und Deutung der Dinge und von ihrer Interessenlage aus nahezu unverzeihlich, denn aus Mentrups hierarchischer Unterordnung unter Grebe sowohl in der Dudenredaktion als dann auch im IDS hätte sich gut und schnell auf eine Abhängigkeit auch geistiger Vorstellungen schließen lassen; was die drei, hätten sie all dies denn gesehen, gewiss nicht unterlassen hätten. Doch manchmal hat Unwissen auch sein Gutes und bietet die Chance, keine falschen Schlüsse zu ziehen. Denn meine erste Wahrnehmung des Buches Rust (1944) fällt in die Vorbereitungszeit des Beitrags Mentrup (1985b) (vgl. dort S. 77 Anmerkung; in Mentrup (1983) wird es noch nicht angeführt) und liegt also jenseits der Zeit mit bzw. unter Grebe. 3.1.3.2 Gründungsjahre: Dudenredaktionen und Deutsche Sprachberatungsstelle - Deutungen Die Dudenredaktion in Leipzig, nach Auskunft mehrerer Gewährsleute 1936 von Horst Klien gegründet, ausgebaut und nach dem Kriege wieder aufgebaut, und die Dudenredaktion in Wiesbaden, elf Jahre später von Paul Grebe 1947 beim Steiner Verlag eingerichtet und ausgebaut und weitere zwölf Jahre später, nämlich 1959, nach Mannheim umgesiedelt: Beide bestehen weiter bis in die Gegenwart hinein wenn auch seit der politischen Wiedervereinigung Deutschlands 1989 mit einem geänderten wechselseitigen Verhältnis zueinander (vgl. dazu Baer 1995, S. 44f). Sind die zuletzt genannten Zeitdaten auch recht klar und erscheinen die durch sie abgesteckten Zeiträume durchaus auch als übersichtlich, so ver- <?page no="336"?> 336 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform wundert es aufgrund anderenorts gemachter Erfahrungen jedoch nicht, dass sich auch hier, bezogen auf den ersten Tag im Leben der jeweiligen Dudenredaktion, retrospektiv ausweitende (Um-)Deutungen finden. Bezogen auf die Deutsche Sprachberatungsstelle sind, wie oben gezeigt, sowohl Otto Basler als auch Horst Klien als Begründer im Spiel und damit der übersichtliche Zeitraum von 1934 bis 1936 oder etwas später abgesteckt. Doch auch in diesem Falle wird der Ursprung, der Anfang sehr viel früher ausgemacht. Insgesamt scheint zu gelten: Tradition adelt. Und je weiter sie zurückreicht, umso mehr. (1) Dudenredaktion: Statt Leipzig 1936 schon Leipzig 1915? Der einen Deutung, der aus dem Osten, liegt, so stellt es sich mir jedenfalls dar, ein Irrtum zugrunde. Baer (1980) datiert die Institutionalisierung einer mehrköpfigen Redaktion 21 Jahre zurück in das Jahr 1915. Mit Bezug auf Duden-Rechtschreibung ( 9 1915) stellt er zutreffend fest, dass Konrad Duden, gestorben 1911, „sogar für diese Auflage noch die wesentlichen Vorarbeiten geleistet“ habe (Baer 1980, S. 120), und weist darauf hin, dass bei dieser Auflage „die Namen von zwei Bearbeitern [Dr. J. Emst Wülfing und Dr. Alfred C. Schmidt; WM] auf dem Titelblatt genannt“ seien, was ebenfalls zutrifft. Doch in der Weiterfuhrung liegt der Haken: „Seitdem ist es zur Tradition geworden, das Werk durch ein Redaktionskollektiv im Verlag selbst bearbeiten und herausgeben zu lassen.“ (ebd., S. 121). Die beiden Bearbeiter, im Jahre 1915 auf der Titelseite durch und zum Duo koordiniert, bilden kein Kollektiv, sondern stehen in zeitlicher Ab- oder Nachfolge, bedingt dadurch, „daß ein unglücklicher Stem über der Herstellungszeit dieser Auflage gewaltet hat“, konkret: durch deren iterative Verwaisung. „Bald nach Fertigstellung des Manuskripts verschied am 1. August 1911 der Schöpfer und erste Verfasser dieses Werkes, Flerr Geheimrat Dr. Duden, und bald nach Erledigung der ersten Korrektur folgte ihm am 28. Oktober 1913 sein Nachfolger, Herr Dr. Wülfing, in den Tod. [...] Da mich der Ständige Ausschuß des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, im Einverständnis mit dem Verleger, in seiner Sitzung vom 13. Dezember 1913 auf Grund meiner langjährigen Mitarbeit an den Dudenschen Wörterbüchern zum Nachfolger Wülfings ernannte, so fiel mir die schwierige Aufgabe zu, das verwaiste <?page no="337"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 337 Werk zu beenden.“ (so „Dr. Alfred C. Schmidt.“ im Vorwort zu Duden- Rechtschreibung 9 1915, S. VIII). Und auch für die beiden folgenden Auflagen ( l0 1929) und ("1934) ist ein Redaktionskollektiv nicht auszumachen, denn auf der Titelseite heißt es: „bearbeitet von Dr. Theodor Matthias“ bzw. „von Dr. Otto Basler“. Folgt 1934 auch „unter Mitwirkung der Fachschriftleitungen des Bibliographischen Instituts“, so verstehe ich dies so, dass diese und Basler oder auch umgekehrt kein Bearbeitungs- oder Redaktionskollektiv bilden, sondern dass von Amtshilfe o.Ä. seitens der Fachschriftleitungen, im Plural! , gegenüber Otto Basler zu sprechen angemessen ist. 167 Somit bleibt es hier, auf dieser Linie, bei dem Gründungsjahr 1936 mit Horst Klien. Damit steht im Einklang, dass das erste unter Kliens Verantwortung herausgebrachte Orthographiebuch, nämlich der Kleine Duden ( 2 1939), auf der Titelseite als von einem Kollektiv, nämlich „von der Fachschriftleitung [im Singular! ; WM] des Bibliographischen Instituts“, als im Verlag selbst bearbeitet vorgestellt wird; wobei all dies auch erklärt, dass in den drei oben ausgewerteten Laudationes auf Horst Klien aus den Jahren 1961 und 1966, aus der Retrospektive, für die Zeit seit 1936 Dudenredaktion wie selbstverständlich gebraucht wird (vgl. Abb. 40 die Zeilen 4, 5 und 8). (2) Dudenredaktion: Statt Wiesbaden 1947 schon Leipzig 1905? Die andere Deutung, die aus dem Westen, verlagert mit Bezug direkt auf Konrad Duden den Anfang der Redaktion noch weiter zurück. Duden dankt am Ende des Vorworts (Duden s 1905, S. VIII) dem Bibliographischen Institut dafür, dass dieses ihm „in seinem Redaktionsmitglied, Herrn Privatdozenten Dr. Ottmar Dittrich einen so sachkundigen und feinsinnigen Berater zur Seite gestellt“ habe. „Seine weitgehende Mitarbeit gereichte in gleich hohem Maße der Sache zum Nutzen und mir zur Freude.“ Dieses Faktum wird von den zwei ersten Mannheimer Leiter-Generationen als „die Geburtsstunde der >Dudenredaktion<[...]“ (Grebe 1962, S. 71; 1968, S. 19) bzw. als die „Keimzelle der Dudenredaktion“ (Drosdowski 1980a, 167 Werden beim Volks-Duden (1933), beim Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und beim Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) Basler und Mühlner als Bearbeiter auch angegeben und setzt man auch voraus, dass zwei Personen ein Kollektiv bilden (können), so handelt es sich in diesen Fällen jedoch nicht um ein Redaktionskollektiv im Verlag selbst. <?page no="338"?> 338 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform S. 5) gefeiert. Dafür, dass die Insemination bis hin zur Geburtsstunde der Redaktion mit „Redakteure[n]“, im Plural! , bereits 1902 mit der 7. Auflage stattfand, wie Teile von Grebes Formulierung nahe legen und Drosdowski 16 Jahre später (1996, S. 29) sagt, 168 habe ich keinen Nachweis finden können. Diese rückwärtige Verlängerung der Lebenslinie der Dudenredaktion gilt nach allem nur in der Richtung: Mannheim 1996 -> 1980 -> 1968 1962 => Wiesbaden 1947 => Leipzig 8 1905 [=> Leipzig 1902] Denn einerseits bleibt trotz Baer (1980) in Leipzig der Beginn auf 1936 als den Zeitpunkt festgelegt, „seit der Duden im Verlag bearbeitet wird“ (D.H. 1961; vgl. auch Abb. 40 Zeile 4). Und andererseits sieht sich, unter dem Mantel der Bibliographisches Institut AG, die westdeutsche Dudenredaktion offenbar als natürliche Fortsetzung der Duden-Zeit vor 1945 an, während über die Existenz des Pendants, der Redaktion in Leipzig, geflissentlich hinweggesehen bzw. diese oder auch jene abgespalten wird. Der Effekt: Erschien bisher die westdeutsche Dudenredaktion mit 1947 als der um elf Jahre jüngere Zweig oder Spross gegenüber Leipzig 1936, so blickt sie nunmehr mit 1905 oder gar mit 1902 auf ein hohes Alter und gegenüber der Leipziger Redaktion auf 31 bzw. 34 Lebensjahre mehr zurück. Und doch: Wird für die Mitarbeit an der 8. Auflage von Dudens Orthographischem Wörterbuch Dittrich, ein Mitglied der BI-Redaktion, auch freigestellt, so kann man, erinnernd an die Volksweisheit: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, doch daran zweifeln, dass ein Einzelner überhaupt 168 Dieser Meinung schließt sich Kopke an (1995, S. 52; Kursive WM): „Nach dem Tode Dudens im Jahre 1911 beschloß die Duden-Redaktion, die seit Anfang des Jahrhunderts zur Unterstützung Dudens vom Bibliographischen Institut eigens angestellt war, die beiden Wörterbücher zu verschmelzen. Die zweite Auflage des Buchdruckerduden wurde 1915 in die 9. Auflage des >regulären< Duden inkorporiert.“ Was die bei Kopke zur Inkorporation in die 9. Auflage mutierte Verschmelzung betrifft: Verschmolzen wurde die 8. Auflage von Dudens Orthographiebuch von 1905 mit der 2. Auflage des Buchdrucker-Dudens von 1907 (Duden-Rechtschreibung 9 1915, S. III). Dass diese Verschmelzung von Konrad Duden selbst noch vor seinem Tode durchgefuhrt worden war, geht aus dem Zitat aus Duden-Rechtschreibung (^lOlS, S. VIII; vgl. oben im Text) hervor. <?page no="339"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 339 eine Redaktion als Gesamt(heit) bilden kann. 169 Es sei denn, man betrachtet auch Konrad Duden als Dudenredakteur, als Mitglied der Redaktion, was allerdings äußerst gewöhnungsbedürftig wäre. Die pluralische Redeweise von ‘den Redakteuren’ erscheint erst während der Herstellung der 2. Auflage des Buchdrucker-Duden als berechtigt. Zum Ende des Vorwortes schreibt Konrad Duden: „Nicht minder warmen Dank schulde ich dem Bibliographischen Institut für die Bereitwilligkeit, mit der es auf meine Wünsche eingegangen ist, und besonders den Redaktionsmitgliedem des Instituts, Herrn Privatdozenten Dr. Ottmar Dietrich und Herrn Dr. Alfred C. Schmidt, deren weitgehende Mitarbeit mir die Herstellung des Buches wesentlich erleichtert hat.“ (Duden 2 ! 907, S. VIII). Und doch: Auch hier erscheint als angemessen(er), von Amtshilfe o.Ä. seitens der Mitglieder der Redaktion des Bibliographischen Instituts gegenüber Konrad Duden zu sprechen. (3) Deutsche Sprachberatungsstelle: Schon seit 1903? Werden, wie oben gezeigt, sowohl Otto Basler als auch Horst Klien, je nach Standpunkt und Sicht der Dinge, als Begründer der Deutschen Sprachberatungsstelle des Bibliographischen Instituts benannt, so wird auch deren Grundsteinlegung zurückverlegt und ebenfalls Konrad Duden zugeordnet: „Seit 1903 forderte er die Öffentlichkeit auf, sich mit Rechtschreibfragen an ihn zu wenden und beantwortete sie sorgfältig. Damit legte er den Grundstein für die Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion.“ (Wurzel 1979, S. 76). Das Jahr 1903 bringt die Erstausgabe des Buchdrucker-Duden in Erinnerung. Zum Ende des Vorwortes hin erklärt Duden die Bereitschaft zur Beantwortung ortho- und typographischer Fragen, und zwar in Form einer Aufgabenaufteilung, eines berufsbegründeten Splittings: „Für Berichtigungen und neue Beiträge, die in den Rahmen dieses Buches passen, werde ich immer dankbar sein. Auch bin ich bereit, soweit es meine Zeit erlaubt, Fragen aus dem Gebiete der Rechtschreibung zu beantworten. I6l) So heißt es unter Redaktion in diesem Sinne im Duden-Universalwörterbuch (1983): „Gesamtheit der Redakteure (einer Zeitung, Rundfunkanstalt o.ä.)“ und im Handwörterbuch (1984): „Gesamtheit der in einem Bereich, einer Einrichtung tätigen Redakteure“. <?page no="340"?> 340 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Über typographische Fragen, die sich zuweilen mit den orthographischen berühren, Auskunft zu geben, hat sich Herr Korrektor Otto Reinecke, Berlin SO.26, Elisabethufer 57 wohnhaft, freundlich bereit erklärt.“ (Duden 1903, S. VIII). Ist Duden, nach Wurzel (1979, S. 76), auch "[s]eit 1903“ in diesem Sinne weiterhin tätig, so ist dies jedoch weder Duden ( 8 1905) noch dem Buchdrucker-Duden ( 2 1907) zu entnehmen und Dudens Angebot von 1903 erscheint von daher als singuläres Ereignis. Erst nach Dudens Tod 1911, in Duden-Rechtschreibung ( 9 1915, Rückseite Titelblatt) und in der kleinen Ausgabe, Duden-Rechtschreibung (1915, gegenüber Titelseite), wird man einschlägig fündig. In beiden findet sich: „Auskunft in Rechtschreibfragen erteilt: Kaiserlicher Oberkorrektor Otto Reinecke, Berlin SO 26, Elisabethufer 57.“ In Duden-Rechtschreibung ( 10 1929), bearbeitet von Matthias, mit diesem als neuem Akteur und nunmehr mit postalischer Ausrichtung auf das Bibliographische Institut (ebd. Rückseite Titelblatt): „Auskunft in Rechtschreibfragen erteilt Rektor Dr. Theodor Matthias. Anfragen sind zu richten an das Bibliographische Institut AG., Leipzig.“ Erst in Duden-Rechtschreibung ("1934), bearbeitet von Basler, ist der Wechsel von einer einzelnen externen Auskunftsperson zu einer institutionalisierten Stelle im Verlag dokumentiert und gleich zweimal festgestellt: „Auskunft über Fragen zur Rechtschreibung, Aussprache, Zeichensetzung, Sprachlehre usw. erteilt kostenlos die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig Anfragen sind an das Bibliographische Institut zu richten“ (Duden-Rechtschreibung "1934, Rückseite Titelblatt). „Neben das >Wörterbuch< stellt der Verlag die »Deutsche Sprachberatungsstelle<, die in allen Fragen der Rechtschreibung, Aussprache, Zeichensetzung und Sprachlehre der Sache der deutschen Sprache voranhelfen will.“ (ebd., S. 4* Vorwort). Im Volks-Duden (1933), im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) und im Duden-Rechtschreibwörterbuch (‘Politisch-soldatische Fortbildungsausgabe’) (1937) findet sich kein solches Beratungsangebot. Das erste unter Kliens Verantwortung herausgebrachte Orthographiebuch, nämlich der Kleine Duden ( 2 1939), führt auf der Rückseite des Titelblattes <?page no="341"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 341 den Text, der aus der von Basler herausgegebenen Duden-Rechtschreibung ("1934, Rückseite Titelblatt) bereits bekannt ist. In der dann folgenden Duden-Rechtschreibung ( l2 1941 bzw. 12 1942) findet sich wie in der Auflage ( l3 1934) ein zweifacher Hinweis, im Vorwort mit leicht modifiziertem Text; Entsprechendes auch in (°1947[L]). In ( l4 1951, S. IV Vorwort) ist von „unserer Duden-Redaktion und der mit ihr verbundenen Sprachberatungsstelle“ die Rede. In der westdeutschen Ausgabe ( U 1947[W]) findet sich im Vorwort ein einschlägiger Hinweis. 170 In ( 14 1954) wird auf die „Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion“ (Rückseite Titelblatt) hingewiesen und ist von „Anfragen an unsere >Sprachberatungsstelle<“ (Vorwort) die Rede. Erscheint Konrad Dudens Beratungsangebot von 1903, bezogen auf ihn, auch als singuläres Ereignis, so lässt sich die Redeweise von der damit erfolgten Grundsteinlegung für die Sprachberatungsstelle möglicherweise vertreten. Klar ist jedenfalls, dass diese spätestens seit 1934 im Bibliographischen Institut fest institutionalisiert und mit dem Namen „Otto Basler“ verbunden ist; was auch die einschlägige Visitenkarte (#3.1), von der oben (vgl. 3.1.2) schon die Rede war, dokumentiert. 3.1.3.3 Dudenredaktion: Erstes Aufkommen In den oben eingespielten zwei Beiträgen Baslers aus dem Jahre 1936 treten als zentrale Akteure auf: „Der Große Duden“, Wörterbuchverlag, die „Schriftleitung des Duden“, die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut, der Verlag und mit ihm die Bearbeiter des „Duden“ (Basler 1936a; Anführungszeichen Basler), das Bibliographische Institut als Träger des Lebenswerkes Konrad Dudens, Otto Basler und die von ihm geleitete Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut (Basler 1936b). Doch die Dudenredaktion als solche tritt nicht in Erscheinung, diesen Ausdruck verwendet Basler nicht, auch nicht in seinem Brief vom 4.7.1935 (#3.2). 170 In Heller (1989, S. 100) wird für die 13. Auflage in Wiesbaden für das Jahr 1952 sowohl eine Ausgabe „mit Angabe der Sprachberatungsstelle“ als auch eine „ohne Angabe der Sprachberatungsstelle“ angeführt. Zum einen ist nicht ersichtlich, wo diese Angabe lokalisiert ist. Zum anderen sind dies die einzigen Hinweise auf die Sprachberatungsstelle, sodass man sich fragt, wamm gerade hier und anderswo nicht. Wie sagt der Volksmund? Wenn schon, denn schon. <?page no="342"?> 342 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Ebenso negativ ist der Befund in dem zeitgleichen Beitrag Hübner (1936), der insbesondere den ‘Duden’ (die Häkchen finden sich in Hübner) agieren lässt, ihn als „Nothelfer, Ankläger und Richter in einer Person? “, als echtes Rollenbündel in Frage stellt, ihm „noch ein Stück Eierschale [anhängen]“ sieht sowie seinen „Unfehlbarkeitsanspruch“ und seine „Konsequenzmacherei und Splitterrichterei“ kritisiert (S. 108) und konstatiert: „unsere Rechtschreibung ist [und bleibt] ein Schulmeisterkreuz“ (S. 107). 171 Auflage Bezeichnung der Institutionen '1934 bearbeitet von [...] unter Mitwirkung der Fachschriftleitungen des Bibliographischen Instituts die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig 1939 bearbeitet [...] von der Fachschriftleitung des Bibliographischen Instituts AG. die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig 1941/ 1942 bearbeitet von der Fachschriftleitung des Bibliographischen Instituts die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig U 1947[L] n 1947[W] 13 1947[L] 13 1947[W1 Bearbeitet von der Duden-Schriftleitung des Bibliographischen Instituts die Deutsche Sprachberatungsstelle beim Bibliographischen Institut AG. in Leipzig der Verlag, die Deutsche Sprachberatungsstelle 1951 (Leipzig) (von hier an auf der Leipziger Linie) ohne Angabe der Institution auf der Titelseite, aber auf der Rückseite des Titelblattes: Bearbeitet von bzw. in der Duden-Redaktion bzw. Dudenredaktion unsere Duden-Redaktion und die mit ihr verbundene Sprachberatungsstelle 1954 (Wiesb.) Bearbeitet von der Dudenredaktion (von hier an auf der Wiesbaden-Mannheimer Linie) Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion Abb. 41: Wandel von Institutionsbezeichnungen (Kursive WM) 171 Aufmerksam gemacht sei auf Hübners Kennzeichnung „unsere[r] Rechtschreibung“ als Schulmeisterkreuz. Diese indiziert ein Wort- und Bildfeld, das im Weiteren mit Übelstand (vgl. 3.2.1.2 (1)) und Schulkreuz (vgl. 3.3.3.1) zu Worte kommt und auf seine Weise Textzusammenhänge zur Sprache bringt, deren Tradition in Mentrup (i.Vorb.) aufgezeigt wird. <?page no="343"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 343 Den Wandel der Bezeichnungen einschlägiger Institutionen auf einigen Titelblättern der Duden-Rechtschreibung zeigt Abb. 41, zu der ein detaillierter Kommentar sich erübrigt. Angesichts dieser Übersicht ist es historisch wohl nicht ganz korrekt, für die Zeit vor 1951 von der Dudenredaktion zu sprechen, wie es etwa in den Laudationes auf Horst Klien (vgl. oben 3.1.2.2) und sicherlich auch in meinem Text, selten oder häufig, getan wird. Aber vielleicht ist das doch ein wenig zu streng gesehen. 3.2 Kontinuitäten II: Reformbemühungen ab 1950 - So, wie Kopke und Birken-Bertsch/ Markner es 1995 bzw. 2000 konstruieren, ist es nicht gewesen; ‘Der Duden’ 1955: Eingabe an die KMK- Rust (1944) letzte amtliche Verfügung Wenn auch Basler nicht auf der institutionellen Linie (der Leitung) der Dudenredaktion sein Wissen über Rust vermittelt haben kann, so eröffnet sich mit den 1950 einsetzenden Reformbemühungen ein anderes Feld, auf dem Basler und Grebe einander begegnen und wo ein solcher Wissenstransfer grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Doch in den hier ausgewerteten umfangreichen Unterlagen gibt es dafür keinen Anhaltspunkt (vgl. 3.2.1). Das führt nahezu zwangsläufig zu der Frage: Wie stellt Grebe (sich) eigentlich, etwa in der Eingabe von 1955 an die Kultusministerkonferenz (KMK), Rust (1944) und im Zusammenhang damit die Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) vor? Diese Frage bringt zum einen den Umgang mit dem Titel von Rust (1944) auch in der Literatur ins Blickfeld (vgl. 3.2.2) und zum anderen die Berufung auf amtliche Verfügungen (vgl. 3.2.3). 3.2.1 Basler > Grebe II: Linie der Reformbemühungen ab 1950 Ist Kopkes Konstrukt(ion) von der Tradition Basler > Grebe auf der institutioneilen Duden(leiter)linie mit all den daran geknüpften Schlussfolgerungen auch endgültig der Boden entzogen, dieses Gedankengebäude eingestürzt und zur DENK-Ruine geworden, so sehen sowohl Kopke (1995) als auch Birken-Bertsch/ Markner (2000) noch eine andere Schiene der personellen Kontinuität, auf der Kenntnisse über Rust und entsprechende Vorstellungen über Orthographie über das Kriegsende hinweg transportiert und weiter ver- <?page no="344"?> 344 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform mittelt worden sind, oder vorsichtiger: sein sollen oder auch könnten. Gemeint sind die Bemühungen um eine Reform der deutschen Rechtschreibung, die um 1950 einsetzen (zu den unmittelbar nach Kriegsende einsetzenden vgl. oben 2.4.4) und die insbesondere durch die Stuttgarter und die Wiesbadener Empfehlungen von 1955 bzw. 1959 bekannt geworden sind; wobei, nach Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 120), dieser „Kontinuität [...] sich letztlich auch die Rechtschreibreform von 1996 [verdankt]“. Die Ausgangskonstellation dieser Reformbemühungen erscheint für Otto Basler zunächst als recht verheißungsvoll und lässt sich gut an, doch lange hält dies nicht an oder auch vor (vgl. 3.2.1.1). Doch er bleibt trotzdem im Spiel, und das zentrale Feld der Begegnung mit Paul Grebe ist das Thema ‘Fremdwortschreibung’ (vgl. 3.2.1.2). Das längere Fazit betrifft sowohl die beiden Hauptakteure als auch das Thema ‘Vermittlung von Wissen über Rust’ (vgl. 3.2.1.3). Diese reformerischen Aktivitäten und deren Flintergründe sind in Strunk (1992) ausführlich dargestellt und gründlich ausgeleuchtet sowie, komplementär dazu, in Strunk (Hg.) (1998) umfangreich dokumentiert. Kopkes Darstellung dieser Zeit stützt sich, wenn auch selektiv, auf die erste Publikation, Birken-Bertsch/ Markner (2000) ziehen beide heran. Alle drei stützen sich auf Augst/ Strunk (1988), wo über die Ereignisse im Umfeld des KMK-Beschlusses von 1955 ausführlich berichtet wird. 3.2.1.1 Ausgangskonstellation: Auch im Wandel Von den zahlreichen Akteuren, die erneut mit im Spiele sind, nenne ich nur solche, die aus dem bisher Dargestellten bereits bekannt sind: Otto Basler, ‘der Duden’ und mit ihm die Dudenredaktion und deren Leiter, Theodor Frings, Erwin Haller und mit ihm der schweizerische bund für vereinfachte rechtschreibung (bvr), Werner Paul Heyd und mit ihm die arbeitsgemeinschaft neue rechtschreibung (agnr), Fritz Rahn, Franz Thierfelder und Leo Weisgerber. Im Weiteren beschränke ich mich vornehmlich auf Otto Basler und Paul Grebe, der als Akteur ohne auch orthographische Vergangenheit 1947 neu dazustößt. 172 172 Haller (1951) bis Haller (1964) und Heyd (1952) bis Heyd (1960) (vgl. das Literaturverzeichnis) stellen nur eine kleine Auswahl aus deren einschlägigen Beiträgen dar. Sie mögen exemplarisch andeuten, welche Mengen an einschlägiger Literatur zum Thema Orthographie(reform) auch während dieses Zeitraumes erscheint. <?page no="345"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 345 Die themaorientierte, zielführende Frage ist: Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Basler sein von Kopke hypothetisch angesetztes, aber seit Strunk (1998a) gesichertes Insider-Wissen über Rust (1944) in diesem Reformumfeld an Grebe übermittelt hat? Diese Frage stellt sich umso mehr, als Kopke (1995, S. 66f.) die von ihm angesetzte Duden-Leitungsschiene in seine Darstellung des Reformfeldes einbettet; was auch hier zeigt, dass eben vieles zusammenhängt. Die weitere Frage ist, ob Rust in diesem Gesamtfeld überhaupt in Erscheinung tritt in welcher Form oder in welcher Gestalt auch immer. Baslers zwei Start-Positionen, von denen aus er sich auf den Reformweg macht, und die damit gestiftete Konstellation erscheinen für ihn zunächst als recht verheißungsvoll. Zum einen: In dem auf der Plenarsitzung vom 27.-28.10.1950 in Freiburg von der KMK gefassten, aber nicht veröffentlichten Beschluss heißt es u.a. (vgl. auch oben 2.2.1): „Unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Basler an der Universität München wird ein vorbereitender Ausschuß nach Prüfung der gegenwärtigen Rechtschreibung eingesetzt. Die Bearbeiter der amtlich eingeführten Rechtschreibbücher sowie der Bearbeiter des >Duden< werden aufgefordert, sich an der Arbeit dieses Ausschusses zu beteiligen.“ (Kultusministerkonferenz 1950/ 27.+28.10.; Kursive WM; vgl. auch Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 40). Zum andern: Auf der Konstanzer Arbeitsbesprechung und in der dort institutionalisierten „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“ vom 21. bis 23. November 1952, deren Organisation und Vorsitz bei Franz Thierfelder liegen, werden neben anderen Arbeitsunterlagen das Österreichische Wörterbuch sowie auch Baslers „Deutsche Rechtschreibung“ 173 an die Sitzungsteilnehmer verteilt. Wird gegenüber diesen Unterlagen ‘der Duden’ hier auch nicht genannt, so wird doch seine besondere Stellung, die schon in dem oben angeführten Beschluss der KMK dokumentiert ist, auf der Arbeitsbesprechung nicht nur 173 Die Erstausgabe dieses Buches ist 1948 erschienen und aufgrund einer Entschließung des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus in München vom 11.11.1948 „für alle bayerischen Schulen“ zugelassen, wenn auch unter Vorbehalt, wovon weiter unten (in 3.3.2) noch die Rede sein wird. Vier Jahre später, nämlich 1952, liegt die 9. Auflage aus dem Oldenbourg Verlag, München, vor. <?page no="346"?> 346 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform von Walter Mitzka, der die Dudenredaktion vertritt, sondern von vielen der anderen Teilnehmer deutlich betont (vgl. Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 13-37). So z.B. von August Steiger, dem Vertreter der Schweiz: „Wir bekennen uns [...] zur deutschen Rechtschreibung, wie sie in Dudens Wörterbuch niedergelegt ist. Unser Bundesrat hat diese Vorschrift 1902 für die Schweiz verbindlich erklärt.“ 174 (ebd., S. 27). Dies lässt sich alles recht gut an: Basler als Vorsitzender des KMK-Ausschusses „Beauftragter der Kultusministerkonferenz für Rechtschreibfragen“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 31), der in Konstanz „beauftragt [wird], Herrn Präsidenten Löffler von der ständigen Kultusministerkonferenz folgende Vorschläge der Arbeitsgemeinschaft zu überbringen“ (ebd., S. 32); Basler und u.a. der Bearbeiter ‘des Duden’ in der asymmetrischen Konstellation Vorsitz bzw. Mitarbeiterschaft im KMK-Ausschuss; Baslers Rechtschreibbuch und die Duden-Rechtschreibung als Unterlagen für die Reformarbeit. Das sieht zu diesem Zeitpunkt recht gut aus und hätte durchaus etwas werden können, doch lange hält es nicht an. Denn Baslers Passivität als Vorsitzender und entsprechend die seines Ausschusses - Wie sagt der Volksmund doch? Wie der Herr, so's Gescherr wird recht bald auch öffentlich kritisiert und führt am 23./ 24. Januar 1953 dazu, dass ihm von der KMK der Vorsitz wieder entzogen wird (Strunk 1992, S. 182f.). 175 174 Ergänzt und wiederholt (vgl. oben 2.1.2.3) sei hier, dass der erste Verbindlichkeitsbeschluss dieser Art schon gut zehn Jahre früher gefasst worden ist (Verhandlungen 1892). 175 In einem entsprechenden Brief (13. April 1953) vom Präsidenten der KMK, Löffler, an Basler findet sich: „Die Kultusminister-Konferenz legt Wert darauf, daß möglichst bald der Öffentlichkeit konkrete Vorschläge unterbreitet werden [...]“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 41). Dies und auch der Hinweis darauf, dass am Ende der Orthographiereform- Sitzungen nahezu routinemäßig eine Mitteilung für die Presse formuliert wird (November 1952 Konstanz (ebd., S. 37); Juni 1953 Salzburg (ebd., S. 58); November 1953 Schaffhausen (ebd., S. 97); Mai 1954 Stuttgart (ebd., S. 125); Mai 1956 Frankfurt (Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 32); Dezember 1958 Bonn Übergabe der Wiesbadener Empfehlungen (ebd., S. 29lf.) all dies hier zur Erinnerung an die durchgängig völlig andere offizielle Haltung und Praxis der nationalsozialistischen Zentralstellen während ihrer Zeit. <?page no="347"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 347 Hauptakteure für die folgenden Zeiten sind andere (Strunk 1992, u.a. S. 26): Franz Thierfelder für die Entstehung der „Stuttgarter Empfehlungen“ im Rahmen der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“: endgültige Fassung Juni 1955, veröffentlicht 1955 (Strunk 1992, Kapitel 1); Willy Dehnkamp für die Konstituierung des „Arbeitskreises für Rechtschreibregelung“: 4. Mai 1956 (Strunk 1992, Kapitel 2); Paul Grebe für die Verhandlungen bis hin zu den „Wiesbadener Empfehlungen“ im Rahmen des Arbeitskreises: 17. Dezember 1958 offizielle Übergabe an die politischen Stellen, veröffentlicht 1959 (Strunk 1992, Kapitel 3); „Chronik des Scheitems“ ohne ‘eigentliche’ „Personalperspektive“ (Strunk 1992, S. 26; Kapitel 4): Der Untergang selbst hat keinen Namen, allenfalls seine Vemrsacher im Hintergmnd bestimmter, dabei mehr oder weniger isoliert nebeneinander darstellbarer Ereignisse (zu einigen von diesen vgl. unten 4.2.3.1). 3.2.1.2 Fremdwortschreibung: Zentrales Begegnungsfeld Basler und Grebe - Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen 1955 bzw. 1959 Die organisatorischen Hintergründe und das Gesamt der Sitzungszyklen, die zu den Stuttgarter und den Wiesbadener Empfehlungen 1955 bzw. 1959 geführt haben, stehen hier bewusst nicht im Mittelpunkt der Darstellung. In diesem Abschnitt beziehen sich die Nachweise I und II + Seitenzahl auf Band I bzw. Band II von Strunk (Hg.) (1998). Die Kursive der Beispiele in den Zitaten stammt weitgehend von mir. Im Folgenden stelle ich einige ‘Begegnungen’ zwischen Otto Basler und Paul Grebe dar, und zwar ausführlicher auf dem Themenfeld ‘Schreibung der Fremdwörter’, gewissermaßen dem zentralen Begegnungsfeld, und punktuell auf zwei weiteren Feldern. Vorab einige hier spezifische Personalien: Angemerkt sei, dass bei der Plenarsitzung der KMK am 27.-28. Oktober 1950 der „Punkt >Rechtschreibreform< [...] auf die Tagesordnung gekommen [war], weil der Kultusminister von Niedersachsen, der in seinem Bundesland von einer sehr rührigen Initiative der Lehrerschaft bedrängt worden war, die Frage nach einer Vereinfachung der Rechtschreibung der KMK vorgelegt hatte“. Und auch, dass Hans Ringeln, der Gründer der niedersächsischen Initiative, von dem oben (vgl. 2.4.5) schon die Rede war, zu Baslers Kritikern gehörte (Strunk 1992, S. 182). <?page no="348"?> 348 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Basler: zunächst Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“ (I, S. 31) und im Weiteren persönliches Mitglied des Wiesbadener „Arbeitskreises für Rechtschreibregelung“ (II, S. 143); Grebe: Leiter und Vertreter der Dudenredaktion; im Weiteren Geschäftsführer (fl, S. 28) und neben Trier Vorsitzender (II, S. 32), zusammengefasst: Geschäftsführender Vorsitzender (II, S. 49) des Arbeitskreises. (1) Fremdwortschreibung: Bis hin zu den Stuttgarter Empfehlungen 1955 Aus der Arbeitsbesprechung in Konstanz (21.-23.11.1952), auf der die Wiesbadener Dudenredaktion durch Mitzka (nicht durch Grebe) vertreten ist, zur Fremdwortschreibung zunächst zwei Äußerungen als Einstieg: Ein Vertreter Österreichs, Ministerialrat Dr. Josef Stur, hält es nicht für möglich, „mit Veränderungen wie z.B. Filosofie [...] durch[zu]dringen. Nicht beanstandet dagegen werden Schreibungen wie Schofför, weil es so bereits im Duden steht, und der Duden ist gerade für unsere Setzer ein >Heiligtum<“ (I, S. 21). Zu einem späteren Zeitpunkt bringt er die Fallgruppen ph, rh und th ein und kennzeichnet deren Neuregelung als eines der „Nahziele“ der Reform; für deren „Durchsetzung [...] hält er den kalten Weg, die direkte Verständigung zwischen den in Konstanz vertretenen Stellen für den richtigen“, während die „Fernziele“, „Gross- und Kleinschreibung,/ und v, Dehnungsvereinfachung usw.“, „von der Bevölkerung getragen werden [müssten]“ (I, S. 34). Auf der Grundlage der von Otto Basler zusammengestellten „Nahziele“ (I, S. 35) wird, in einer mir insbesondere mit Blick auf die praktische Umsetzung nicht ganz verständlichen Differenzierung, vorgeschlagen, die Umstellung ph > f den Wörterbüchern zu überlassen, rh durch r zu ersetzen und t statt th nicht mehr als Fehler gelten zu lassen: Rombus, Rytmus, Katarr, Apoteke, Teater, Tron, Tema, Teorie usw.; wobei diese Aufreihung, vermutlich entsprechend der Delegation an die Wörterbücher, keine Beispiele mit ph enthält. Zudem wird „zur Eindeutschung fremden Wortgutes [...] geraten: >Tour kann wie Jurist, also tur [sic; WM], geschrieben werden. Ähnliches gilt für Kautsch, Klaun, Ingeniör, Montör, graziös.<“ (I, S. 36). Diese schon auf dieser ersten Sitzung durchgeführte Einteilung der Fremdwörter in zwei Großgruppen, die Ä-Fallgruppen und sonstige, wird auch im Weiteren durchgehalten. <?page no="349"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 349 Im Schlusswort bezeichnet Thierfelder „diese Zusammenkunft als einen historischen Moment. Es sei die erste Zusammenkunft nach einer Zeit gewesen, die so gefährlich war, dass sie sogar den Sprachzusammenhang zwischen den drei Ländern zu sprengen drohte“. Es habe sich „vom ersten Augenblick an wieder eine Zündung vollzogen“ - und diese „Tatsache“ sei „ein hoffnungsvoller Auftakt für die weitere Zusammenarbeit“ (I, S. 37; Kursive WM). 176 Weckt Thierfelders Bild von der Zündung, zumindest bei mir und möglicherweise beeinflusst von der von ihm beschworenen zurückliegenden gefährlichen Zeit, zunächst auch Assoziationen wie Bombe und Explosion, so soll doch wohl auch hier, wie schon anderenorts, so etwas wie Aufbruchstimmung vermittelt und verbreitet werden, sodass vielleicht eher an die Zündung eines Motors zu denken ist und der Wagen, nach Thierfelders Sichtweise, nunmehr läuft. In Salzburg (1.-3.6.1953) einigt man sich zunächst darauf, im Sinne einer Sprachregelung statt „Eindeutschung“ möglicherweise, weil dies die national(sozialistisch)e Parole „Heim ins Reich“ 177 assoziieren könnte den weniger an- und ausgreifenden Ausdruck „Angleichung an die deutsche Schreibweise“ zu wählen, und im Weiteren auf die Empfehlung, „in der Angleichung der gebräuchlichen Fremdwörter an unsere Schreibweise weiter zu gehen als bisher, da der Alltagsgebrauch der schriftlichen Festlegung bereits vorausgeeilt“ sei. „Zum Beispiel soll in Zukunft“ gelten: ph > / (Beispiel: Photograph > Fotograf), th> t (Theater > Teater), rh > r (Katarrh > Katarr)', frz. ai > ä (Necessaire > Necessär), eau (au) > o (Niveau > Nivo wie schon Büro), eu > ö (Suffleur > Sufflör wie schon nervös), ou> u (Tourist > Turist); yje nach Aussprache > i bzw. ü (Zylinder > Zilinder; Hymne > Hümne) (I, S. 50; vgl. auch I, S. 76). Bezüglich „orthographischer Doppelformen“ (d.h. Wörter, die „einheitlich ausgesprochen, aber verschieden geschrieben“ werden) „erbot sich [Professor Basler], eine Liste solcher Wörter bis zur nächsten Tagung vorzulegen“ 176 Ob schon mit Thierfelders historisch, das dreieinhalb Jahre später im Zusammenhang mit der Konstituierung des Wiesbadener Arbeitkreises von Grebe ebenfalls verwendet wird (vgl. weiter unten), der in jüngerer Zeit zu beobachtende inflationäre Gebrauch dieses Wortes einsetzt, weiß ich nicht. 177 Dazu aus dem 3. Reich: „Letzter kolportierter Witz: Goebbels sei in Afrika und studiere den Schwarzen Sprechchöre ein: >Wir wollen heim ins Reichb“ (Klemperer 1940-1941, S. 6; 21.1.1940). <?page no="350"?> 350 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (I, S. 51, 59; vgl. auch I, S. 77). Grebe übernimmt, mit anderen, das Thema „Vereinfachung der Kommaregeln“ zur Bearbeitung (I, S. 53, 59; vgl. auch I, S. 78), gewissermaßen der Startschuss zum Beginn seines langen Weges durch diesen Bereich. Aus dem Protokoll geht nicht hervor, ob bzw. dass Grebe und Basler sich zur Fremdwortfrage äußern. In Schaffhausen (20.-22.11.1953) wird vereinbart, dass „auch die Wandlung: c zu z, c zu ss, [...] c zuk,v zu w, ti zu z berücksichtigt werden [soll]“. Grebe präzisiert die überkommene Einteilung der Fremdwörter in zwei Gruppen durch die Unterscheidung zwischen solchen aus toten und solchen aus lebenden Sprachen und vertritt nachdrücklich den Standpunkt, eine Eindeutschung beider sei „keineswegs in der gleichen Weise möglich“. U.a. Grebe und u.a. Basler erklären sich bereit, eine Liste der betroffenen Fremdwörter (I, S. 90) bzw., offenbar als deutsches Pendant dazu, eine Liste der Wörter des Typs Bretzel, Bretsel aufzustellen (I, S. 91). 178 Auf der Sitzung in Stuttgart (15./ 16.5.1954) über dieser schwebt die Empfehlung des österreichischen Flofrats Dr. Dechant, „eine Ganzheitshaltung gegenüber dem Gesamtkomplex“ einzunehmen (I, S. 108), sowie gewissermaßen als Leitsatz der Kemspruch von Hans Glinz: „Politik [ist] die Kunst des Möglichen.“ (I, S. 115). - In Stuttgart also werden die Gruppen im Einzelnen weiter besprochen und jeweils unterschiedliche Verfahren festgelegt: ph, rh, th> f r, f. Die Frage hier ist, ob diese Änderung ausnahmslos gelten soll. Vorgeschlagen wird, „in wissenschaftlichen Werken eine Freiheit in der Schreibung reiner Fachwörter zuzulassen“. In den Wörterbüchern sollten allerdings keine zwei Formen aufgenommen werden (I, S. 109). Späterhin heißt es: „[...] Fachausdrücke der Wissenschaft werden von dieser Regelung ausgenommen“ (I, S. 123). 178 Im Zusammenhang mit der „Gross- und Kleinschreibung“ wird die „Großschreibung“ als „der grösste Übelstand der Rechtschreibung“ bezeichnet (I. S. 86, 88; Mischsystem der s-Schreibung). Die Textsortentradition meldet sich auch hier (1953-1958) zu Worte: „Der Übelstand der Unsicherheit, was die Rechtschreibung (und vor allem die Groß- und Kleinschreibung der Wörter) angeht [...]“ (Bericht der 1. Ausschusses Wiesbaden 1.3. 1958; II, S. 111; vgl. auch 20.1.1958; II, S. 105; Kursive WM) und bringt die Kennzeichnung Schulmeisterkreuz (Flübner 1936, S. 107) (vgl. oben 3.1.3.3) in Erinnerung. Als schon recht eigentümlich erscheint: „Ein Vorschlag Prof. Mitzkas, man solle besonders erwähnen, dass wir die einzige Kultumation seien, die dieses System noch habe, wurde abgelehnt, weil man nicht an nationale Belange rühren wolle, um das Beharrungsvermögen nicht zu beschwören.“ (I, S. 88). <?page no="351"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 351 y > i: Dies „kann [...] nur zusammen mit dem Siebs-Ausschuß endgültig entschieden werden“. Der Ersatz des >> durch ü komme nicht in Frage (I, S. 109). frz. ai, eau, eu, ou usw.: Die Behandlung dieser Fälle „soll in den Empfehlungen [...] allgemein gehalten und die Durchführung den Wörterbüchern überlassen werden“ (I, S. 110). Späterhin ist die Rede von „den gebräuchlichen Fremdwörtern aus lebenden Sprachen“, bei denen „die Angleichung an die deutsche Schreibweise gefördert werden [soll]“, z.B. ai > ä (I, S. 123). ti > zv, c > k usw.: Dies „soll einem [...] Ausschuß überlassen werden“, dem u.a. Grebe und Basler angehören (I, S. 110). Die „Beseitigung orthographischer Doppelformen“ wird zu einer „Angelegenheit der Wörterbuchredaktionen“ erklärt, was „in den Entschließungen zum Ausdruck zu bringen“ sei (I, S. 110) und was dann in der Empfehlung mit der Nummer 3 auch geschieht. Zum endgültigen Ergebnis dieses ersten Sitzungszyklus vgl. I, S. 134 und Stuttgarter Empfehlungen (1955), S. 126. 1954 erscheint zunächst Mackensens Orthographiebuch und einige Monate später im Herbst die 14. Auflage der Duden-Rechtschreibung, womit ein anderes, schon bekanntes Feld eröffnet ist. Im Juni 1955 liegen die Stuttgarter Empfehlungen in endgültiger Fassung vor. Doch durchsetzen lassen sie sich nicht. Vom 18. bis 19.11.1955 fasst die KMK ihren Beschluss: Der ‘Duden’ ist in Zweifelsfällen verbindlich. Auf diesem Felde sind die Würfel gefallen. (2) Fremdwortschreibung: Bis hin zu den Wiesbadener Empfehlungen 1959 Mit dem Scheitern der Stuttgarter Empfehlungen ist die Reformära Thierfelders zu Ende: „Da Herr Thierfelder in allen Dingen eine unglückliche Hand bewiesen hat, müssen wir alles tun, um den neuen Ausschuß nicht mit dieser Hypothek zu belasten“ (so Grebe, handschriftlich, klipp und klar an Dehnkamp 6.4.1956; II, S. 17). Das Spiel geht in eine neue Runde mit Dehnkamp und Grebe als den Hauptakteuren auf der neuen Bühne „Arbeitskreis für Rechtschreibregelung“, der sich auf der Sitzung am 4.5.1956 in Frankfurt konstituiert (II, S. 20ff). Der erste allgemeine Teil dieser Sitzung ist von hohem, ja: nahezu heiligem Pathos durchweht. Einige wenige Beispiele: <?page no="352"?> 352 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Schrift ist Erfindung des Menschen, die Sprache muß gegen die Schrift ihr Sprach-Sein retten.“ (Weisgerber; II, S. 25) - „Schrift ist nicht Technik, sondern Entelechie, enthalten in der Vorgegebenheit der Sprache.“ (Süskind) „Sollte man nur ein Mininum von Reform anstreben, wären Konferenzen nicht nötig.“ (Porzig) - „minima non curat praetor.“ (Trier; II, S. 24) „Die Norm muß sein, aber sie fordert die innere Freiheit dessen, der sie schafft.“ „Die Einheit von Kontinuität und Reform muß gewahrt werden. Anders gesagt: das Gespräch von Geist als Tradition und Geist als Herr seiner Schöpfung.“ (Weisgerber; II, S. 25) „Die Rechtschreibreform kann immer nur eine Evolution sein.“ (Weisgerber; II, S. 22) - „[...] die von uns angestrebte Evolution [...] Es [... ist] notwendig, auf allen Gebieten den angestauten Strom unserer Rechtschreibung wieder zum Fließen zu bringen oder wie beim Fremdwort, Lehnwort am Fließen zu erhalten. Im Strombett [... liegen] aber auch erratische Blöcke {th, rh in griechischen Fremdwörtern, Silbentrennung nach etymologischen Grundsätzen) [...]“ (Grebe; II, S 24); wobei wir mit dem über die in seinem Bett liegenden erratischen Blöcke fließenden Strom unversehens wieder ins Thema einmünden.' 79 In Wiesbaden (10.7.1956, 2. Ausschuss) betont Grebe die auch künftige Geltung des Grundsatzes: „Fremdwörter, die durch ihren häufigen Gebrauch zu Lehnwörtern werden, sind der deutschen Schreibung und Beugung anzugleichen.“ Bezogen auf griechische Wörter mit th, rh und ph weist er, als 179 Grebe verwendet im Anschluss an die Konstituierung des Wiesbadener Arbeitskreises am 4.5.1956 (Frankfurt) in einem „tiefempfundenen Dank“ an Dehnkamp (Brief vom 5.5. 1956) das gewichtige Wort historisch und lässt gewissermaßen den Mantel der Geschichte rauschen, angesichts der nicht gerade großen weltgeschichtlichen Bedeutung der Orthographie wohl eher einen Mantelzipfel: „Nachdem wir die Spitzen des wissenschaftlichen Bereichs und die Vertreter der großen Verbände in diesem Arbeitskreis an das Problem unter der Obhut des Staates herangefuhrt haben, muß sich das gesteckte Ziel erreichen lassen. Ich glaube sicher, daß nach Abschluß dieser Arbeiten ein gleicher historischer Markstein wie durch die früheren konferenzen [! ; WM] von 1876 und 1901 geschaffen wird. Daß dieser Weg freigegeben wurde, verdanken wir Ihnen.“ (II, S. 39; Kursive WM). Zu diesem Zeitpunkt ist Paul Grebe noch so etwas wie ein naiver Optimist. Zu historisch vgl. noch: „Wir seien in der historischen Stunde, die wir durchlebt hätten, zu der Erkenntnis gekommen, daß wir uns in einem echten Konflikt befänden. Wir seien deshalb verpflichtet, jede Möglichkeit auf beiden Seiten der Alternative [zur Regelung der Groß- und Kleinschreibung; WM] zu prüfen, ehe wir uns zu einer hinneigten.“ (Mackensen in Wiesbaden, 12.1.1957, 1. Ausschuß; II, S. 58; Kursive WM). <?page no="353"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 353 Anzeichen "eine[r] Wandlung“ im Deutschen, auf schon gebräuchliche Schreibungen (Fotograf, Telefon, Grafik, Telegraf, Stenograf und auch Katode) sowie auf die im Italienischen einheitliche / -Schreibung hin und, als Anzeichen ‘eines zweiten Einbruchs’ ins Deutsche, auf Fantasie und Sinfonie (\\, S. 119). Basler spricht sich unter Hinweis auf bestehende Schreibschwierigkeiten gegen die Beibehaltung der bisherigen Schreibung aus, nimmt die Fachsprachen von einer Neuregelung aus und sieht die Möglichkeit vor, „Doppelformen“ 180 einzufuhren. Basler „in Verbindung mit“ Grebe wird beauftragt, „eine entsprechende Wortliste aufzustellen.“ Gedacht sei an Wörter wie Katastrophe, Phantasie, Athlet, Hypothek, Anthrazit, Asphalt, Theke, Thermometer, Zither (in Zitier), wobei diese Anreihung, ohne einen für mich erkennbaren Grund, keine Beispiele mit rh enthält. Grebe weist darauf hin, dass 1954 in der 14. Auflage der Duden-Rechtschreibung „bereits zahlreiche Doppelformen beseitigt“ worden seien und dass entsprechend „das Problem der Doppelformen an Bedeutung verloren“ habe. Die Dudenredaktion wird gebeten, u.a. an Hand der Liste von Basler „die noch verbliebenen Doppelformen zusammenzustellen“ (II, S. 120; Kursive WM). In einem Rundschreiben (15.3.1957) geht Grebe ausführlich auf die drei Fallgruppen mit h ein und stellt insgesamt fünf „Verhaltensweisen“ vor, von denen er die folgenden drei in die engere Wahl zieht: „3. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß in unserem Zeitalter die humanistische Schreibweise der Masse der Schreibenden nicht mehr zugemutet werden kann, wird ph, th, rh durchf t, r a) in allen Wörtern griechischen Ursprungs b) nur in den gebräuchlichen Wörtern griechischen Ursprungs ersetzt. Die bisherige Schreibung ist weiterhin zulässig. 4. ph, th, rh wird ohne Weiterfuhrung der bisherigen Schreibweise in den gebräuchlichen Wörtern griechischen Ursprungs f, t, r.“ (II, S. 121) 180 Hier wie anderenorts auch in diesem Reformumfeld wäre es weniger verwirrend sowie zutreffender, von Schreibformen oder Schreibvarianten (gleiche Aussprache, aber unterschiedliche Schreibung; vgl. I, S. 51, 91) zu sprechen und den Terminus Doppelformen oder Formvarianten (unterschiedliche Schreibung und unterschiedliche Aussprache) ausschließlich Fällen wie Knüttel-, Knittelvers vorzubehalten. Im Protokoll der Salzburger Sitzung (Juni 1953) wird das Terminologie-Paar „orthographische“ bzw. „sprachliche Doppelformen“ verwendet (I, S. 51; vgl. auch I, S. 91). <?page no="354"?> 354 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Im Weiteren stellt Grebe fest, Basler habe „in seinem Deutschen Rechtschreibbuch, München 1951, [die Lösungsmöglichkeit] 3a beschritten“, und betont als wesentlichen Unterschied, dass „3b [...] den Kern der Fachsprachen nicht berührt“ (II, S. 122). Im Vorspann der von ihm beigelegten tabellarischen Auswahlliste 181 ist von den „folgenden häufig gebrauchten Wörtern“ die Rede, für die die Ersetzung gelten soll. „Die bisherige Schreibung ist jedoch weiterhin zulässig.“ In der linken Spalte stehen die Schreibungen mit ph usw., in der rechten die mit/ usw. Die Strecke von Alphabet bis hypothetisch umfasst gut 60 Einträge (II, S. 126f.). Am Schluss wiederholt Grebe in paraphrasierender Steigerung, dass „der Duden in seiner 14. Auflage einen grossen Teil der Doppelformen beseitigt“ und dass dadurch "[d\ieses Problem [...] seine Bedeutung verloren“ habe. 182 Zudem habe er, Grebe, die 1954 „noch verbliebenen Formen [...] auf der gleichfalls beigefügten Liste zusammengestellt“ (II, S. 123; Kursive WM). Lassen sich in Grebes zwei Formulierungen, bezogen auf die beseitigten Doppelformen, zahlreiche (Juli 1956) und ein grosser Teil (März 1957) als quantitative Steigerung(sform)en verstehen, in deren weiterer Konsequenz theoretisch ein alle stünde, so korrespondiert damit, dass, bezogen auf das Problem, dies zunächst an Bedeutung (Juli 1956) und dann seine Bedeutung (März 1957) verloren hat, dem in der Konsequenz theoretisch entspräche, dass das Problem nicht mehr besteht. Dem Gesichtspunkt ‘verbliebene Formen’ lassen sich zwei Listen aus der Anlage zuordnen. Die erste betrifft knapp 60 Fremdwörter: rechte Spalte „jetzige Doppelform“, linke Spalte „künftige Schreibweise“; in dieser finden 181 Die Gesamtzahl der einschlägigen griechischen Wörter in Duden (1954) beträgt „ca. 1050“ (I,S. 123). 182 Erinnert sei daran, dass das Problem der Schreib- und Formvarianten im Volks-Duden (1933) und im Kleinen Duden (Reichsschulwörterbuch) (1934) dadurch gelöst ist, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen amtlichen Rechtschreibbüchem schlicht nicht verzeichnet, ausgegrenzt, eliminiert sind (vgl. oben 1.1.1.2); dass in Duden-Rechtschreibung ( 12 1941) (in Fraktur) und ( 12 1942) (in Antiqua) die Schreibungen, die nach Meinung ‘des Duden’ nicht zur Einheitsschreibung passen, in Winkelzeichen verbannt und auf diese Weise negativ markiert sind (vgl. oben 1.1.3.1); dass in Duden-Rechtschreibung ( 14 1951) (Leipzig) Varianten beseitigt sind (vgl. oben 3.1.3.1); wobei ich bis heute nicht verstanden habe, weshalb ein sprachlebendiger Variantenreichtum eigentlich ein Problem sein soll bzw. ist. <?page no="355"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 355 sich u.a. fär, Frisör, Kautsch, Klaun, Schofför, Träner, Tur, Turist (II, S. 124f.). Die zweite Liste linke Spalte Jetzige Doppelschreibung“, rechte Spalte „empfohlene Schreibung“ [>] betrifft 20 Fälle wie Bete, Beete (> Bete), buddeln, puddeln (> buddeln) (II, S. 128f.). In Wiesbaden („Schlußsitzung“ im 2. Ausschuss 13.10.1958) wird der Fremdwortkomplex mit Bezug auf Grebes Rundschreiben (einschließlich der Listen) vom 15.3.1957 unter entsprechend zielstrebig dominierender Beteiligung Grebes (mehr als zehn z.T. sehr lange Beiträge) und mit nur einer Wortmeldung Baslers noch einmal ausführlich hin und her gewendet (II, S. 191-199). In der „Schlußsitzung des Plenums“ (14.10.1958) - „ein wichtiger, auch politisch sehr ernster, zukunftsträchtiger Augenblick“; „Was wir tun, ist nicht nur ein Philologicum, es ist unverkennbar und uns allen bewußt ein Politicum.“ (Trier; II, S. 209, 211) - In der Schlusssitzung also intensiviert sich dieses Hin-und-her-Wenden noch (II, S. 215-222), wobei auch hier Grebes Rundschreiben vom 15.3.1957 mit den Listen die Bezugsgrundlage bildet. Ausgehend von den Einzelwörtern - „Es soll von Fall zu Fall untersucht werden.“ werden Beispiele wie Askese, Chose, Chauffeur, Clown, Zefir aufgerufen; dann fair und Creme als Beispiele für kurze Fremdwörter, die in der eingedeutschten Schreibweise für nicht verständlich erklärt werden. Süskind will, eine klare Grenzüberschreitung in den Bereich des Syntaktischen hinein, auch den Gebrauch des Geschlechtswortes geregelt wissen, was Grebe, ebenso markant wie lapidar, abblockt: „Das Geschlecht schwankt in der Sprachgemeinschaft immer. [...] das kann man nicht festlegen.“ (II, S. 216). Dem bei Grebe aufgetretenen Wunsch, die französische Silbe -eur generell durch -ör zu ersetzen, hält er selbst entgegen: „Aber man kommt da in die Berufszonen hinein, wodurch eine Menge Empfindlichkeiten wachgerufen werden.“ Entsprechend legt er dem Arbeitskreis eine Empfehlung an die Sprachgemeinschaft nahe, schon gebräuchliche Schreibungen wie Frisör „nach und nach auf gleichgelagerte Fälle wie Amateur, Exporteur usw. auszudehnen“; sowie zum anderen, „die Wortliste nicht noch einmal durchzugehen. [...] Wir können es [...] so stehen lassen“ (II, S. 217). Bei den Gruppen mit ph, rh und th führt die lange Diskussion mit ähnlicher Rollenverteilung zwischen Grebe und Basler wie am Vortage im Ausschuss <?page no="356"?> 356 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform - „Zur Diskussion steht nur der Weg, den wir beschreiten wollen. [...] Die Unklarheiten sind ein Mittel zum Ziel.“ (Grebe; II, S. 220) zu nunmehr zwei Möglichkeiten oder „Wegen“ der hier systematischen Neuregelung: ph, rh und th zuf r bzw. t, mit einer Modifikation: 1) „in allen Wörtern griechischen Ursprungs“ (II, S. 224) (Basler): „der logische und daher überzeugendere, aber nicht der leichtere [Weg]“ (Grebe; II, S. 219); 2) „in folgenden häufig gebrauchten Wörtern griechischen Ursprangs“ (II, S. 224) (Grebe): „der biegsamere und der bewußt historische [Weg]“ (Grebe; II, S. 219). Modifikation zu 2): „Die Wortliste ist auf Wortstämme auszudehnen.“ Für alle Lösungen gilt: „Die bisherige Schreibung ist jedoch weiterhin zulässig.“ (II, S. 224). Das Ergebnis: Für 1): 7 Stimmen; für 2): 8 Stimmen. Wäre Basler stimmberechtigt gewesen (dazu vgl. weiter unten) und hätte er gemäß der Regelung in seinem Rechtschreibbuch gestimmt, dann hätte es ein Patt gegeben, nämlich ein 8: 8. Gleichviel, wie es auch immer ausgegangen wäre: Dehnkamp „wünscht ein einhelliges Ergebnis“. Nach einigem Hin-und-Her über ‘gebräuchliche Wörter’, „Wortstämme“ und „Wortstamm[, in dem] ein geläufiges Wort ist“, weist Trier, eher vom Gefühl geleitet, die Richtung, in der die Liste ergänzt werden soll: „Die Sippe wird doch nur insoweit einbezogen, als sie allgemein fühlbar ist.“ Nach Grebes eher vom Verstand geleiteten Imperativ: "[D]ie Sippe [soll] nur soweit betroffen sein [...], als sie erkennbar ist“, heißt es, diesen Punkt abschließend, im Protokoll: „Damit erklären sich alle einverstanden.“ (II, S. 225) Dass es nicht nur um Listen geht, zeigt die Diskussion über die konkrete Behandlung der Schreibvarianten im Wörterteil bzw. „im Wörterbuch“. Grebe plädiert für T(h)ermometer (II, S. 198), wobei die praktische Frage der Einalph(/ f)abetisierung nicht erörtert wird. Andere Teilnehmer lehnen diese auch ausdrucksmäßig pejorisierten „Klammerwörter“ ab und sprechen sich für das Nebeneinander beider Schreibungen aus, also Termometer und Thermometer, was gemäß der Natur der Sache zu einer Themen-erweiterten Diskussion darüber führt, welche Schreibung an erster und welche an zweiter Stelle stehen solle, und auch über zusätzliche Bewertungen mit Kategorien wie fachsprachlich (II, S. 199; vgl. auch 223). <?page no="357"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 357 Soweit die Fremdwortschreibung, die weiter unten erneut wichtig werden wird. Zum endgültigen Ergebnis dieses zweiten Sitzungszyklus vgl. Wiesbadener Empfehlungen (1959), S. 20-27. (3) Nebenfelder: Aussprache - Zeichensetzung Noch zwei exemplarische Beobachtungen zu hier punktuell erscheinenden Begegnungen zwischen Grebe und Basler auf anderen Themenfeldem. Unterschiedliche Standpunkte bestehen offenbar bei der Feststellung der als Grundlage für die Orthographie angemessenen Aussprache. Wird Grebe in Salzburg (1.-3.6.1953) als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege in den Siebs-Ausschuss gewählt, der eine neue Ausgabe dieses Wörterbuchs der Bühnenaussprache vorbereitet (I, S. 56; vgl. auch I, S. 55), so erklärt Basler in Schaffhausen (20.-22.11.1953) bei der erneuten Behandlung der Siebs-Bearbeitung, „daß man hier mit Begriffen arbeite, die vor 50 Jahren aktuell gewesen seien. Heute sei der Rundfunk wesentlich wichtiger als die Bühne“ (I, S. 98: vgl. auch I, S. 99, 125). Den Rundfunk hatte Thierfelder schon auf der Konstanzer Arbeitsbesprechung (21.-23.11.1952) ins Spiel gebracht, wobei seine Verbindung der Neubearbeitung mit dem Rundfunk und Baslers grundsätzliche Kritik nicht so ganz zusammenzupassen scheinen : „Lebhafte Bestrebungen für eine Neubearbeitung des Siebs, hier endlich auch mit starker Unterstützung des Rundfunks, sind im Gange, ln der Ostzone ist man schon vorangegangen, wo ein F rl. [sic! ] Weithase, Jena, mit der Neubearbeitung des Siebs beauftragt wurde.“ (I, S. 17). All dies wird, ja: muss angesichts der Bedeutung des Volksempfängers und seines ideologischen Umfeldes während der nationalsozialistischen Zeit (vgl. Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 57-79) den beiden Autoren natürlich wie Musik in den Ohren klingen. Ist dies, aus ihrer Sicht, doch ein klarer Beleg, ein stichhaltiger Beweis dafür, dass die Vorstellung vom Vorrang der gesprochenen Sprache, des phonetischen Prinzips (ebd., S. 78), dass der oralprimatistische (ebd., S. 123) Ansatz einschließlich der ideologischen Implikationen unbeschadet den Krieg überlebt hat, von schon vor 1945 einschlägig beteiligten Wissenschaftlern hinübergerettet und weiter getragen wird in die neue Zeit. <?page no="358"?> 358 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Im Bereich der Zeichensetzung sind sich Grebe und Basler (Wiesbaden 10.7.1956) darin einig, „daß man auf das grammatische Prinzip bei der Festsetzung der Regeln für die Zeichensetzung nicht verzichten könne“ (II, S. 118; vgl. auch S. 214). 17. Dezember 1958: Offizielle Übergabe der Wiesbadener Empfehlungen an die amtlichen Auftraggeber. Durchgesetzt werden auch diese nicht. lh3 3.2.1.3 Fazit: Personenbzw. Thema-bezogen Erstes, eher Personen-bezogenes Fazit dieser Begegnungen zwischen Otto Basler und Paul Grebe: Im Bereich der Fremdwortschreibung ist Otto Basler (das ergibt sich speziell aus Strunk (Hg.) 1998) über die Jahre hin recht aktiv und erweist sich mit seinen umfassende(re)n Änderungsvorstellungen insbesondere bei den drei Ä-Fallgruppcn durchaus als Antagonist zu Grebe, der seine engere Lösung dann jedoch durchsetzt. Auch an der Diskussion anderer Themen ist Basler beteiligt, doch haftet seinen recht breit gestreuten Tätigkeiten, so insgesamt mein Eindruck, so etwas wie aktiv(istisch)e Umtriebigkeit oder auch, anders beleuchtet: so etwas wie passives Von-der-Zeit- Getriebensein an; was sich daran zeigen oder was auch erklären mag, dass er zwar Aufgaben übernimmt, aber diese nicht immer zu Ende bringt 184 und dass er die ihm angetragene Redaktion der in Schaffhausen (November 1953) erarbeiteten Empfehlungen wegen zu großer Arbeitsbelastung (I, S. 95) ablehnt. 183 Zu Stuttgart und Wiesbaden exemplarisch Beiträge von Insidern: Haller (1954) und (1959); Heyd (1959b). 184 Basler erklärt sich in Schaffhausen (20.-22.11.1953) bereit, historisches Material für eine Einleitung zu den Stuttgarter Empfehlungen zu sammeln (I, S. 96). In Stuttgart (15.- 16.5.1954) bestätigt er diese Absicht, was zeigt, dass er die Sammlung noch nicht fertig gestellt hat. Auch am 24.6.1954 liegt dieser „historische Beitrag zur Geschichte der Rechtschreibreform“ noch nicht vor, sodass Thierfelder bei der Zusammenstellung der Stuttgarter Empfehlungen „durch den Artikel von Sepp Weber [...] einen Ausweg zu finden sucht“ (Thierfelder Rundschreiben; I, S. 137). Im Juni 1955 stellt Thierfelder in einem weiteren Rundschreiben fest, dass Baslers Aufsatz weder bei ihm noch beim Verlag Klett vorliege (I, S. 169; vgl. auch Grebe an Thierfelder 6.7.1955; I, S. 178), wo die Empfehlungen im gleichen Monat erscheinen, letztlich dann ohne einen einleitenden historischen Beitrag. Erinnert sei an Überlegungen Baslers in einem Brief vom 24.10.1958 an Grebe, eine „Geschichte der deutschen Rechtschreibung“ zu schreiben, was auf einen Vorschlag Grebes zurückgeht (vgl. oben 3.1.2.3), der möglicherweise an das oben Geschilderte anknüpft. <?page no="359"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 359 Die Charakterisierung, die Strunk 1998 von Paul Grebe gibt, attestiert diesem u.a. hohes diplomatisches Geschick, „als er 1955 den Dudenbeschluß der KMK erwirken konnte“, „ein Gespür für administrative Strategien im Umgang mit der KMK und dem BMI“ (mit der Kultusministerkonferenz und dem Bundesministerium des Innern), große organisatorische und koordinative Fähigkeiten, „eine taktisch kluge und effektive Diskussionsleitung“ 185 und einen „unermüdlichen Einsatz“, so dass „die Verhandlungen in Wiesbaden trotz vieler Hindernisse auf direktem Wege zu Ergebnissen führten“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 13). Führt man sich all dies über den doch langen Zeitraum hin bei der breiten Palette der anstehenden Themen und der Fülle an Aktivitäten vor Augen, so wird überdeutlich (das ergibt sich sowohl aus Strunk 1992 als auch Strunk (Hg.) 1998), dass Grebe auf diesem Felde insbesondere in der Wiesbadener Zeit im Vergleich mit Basler wie auch mit anderen der klar dominierende Akteur ist und Baslers Beteiligung im Verhältnis dazu als stark relativiert anzusehen ist. Man mag, dies als Versuch einer Erklärung, dies damit in Verbindung bringen, dass (auch) auf der Konstellations- und Status-Ebene das Verhältnis Basler ~ Grebe asymmetrisch (geworden) ist. Basler arbeitet zwar in zweien der drei Ausschüsse des Arbeitskreises mit, doch erwirbt er sich, wie übrigens andere auch, „damit nicht das Recht, in den eigentlichen Arbeitskreis einzutreten“ (Grebe an Dehnkamp 5.5.1956; II, S. 38f; vgl. auch II, S. 168). Entsprechend wird er ‘nur’ als „persönliches Mitglied“ ohne Stimmrecht geführt (II, S. 143), wobei sich gelegentlich andere beteiligte Akteure über seinen Status nicht so recht im Klaren zu sein scheinen (I, S. 234-236). 186 185 Vergleiche hierzu, gewissermaßen als Kontrast, Baslers Selbsteinschätzung: „Ich weiß auch selber genug, daß ich Ecken und Kanten habe und daß ich unbeugsam bin.“ (Basler 1958/ 24.10.; vgl. auch oben 3.1.2.1 und 3.1.2.3). 186 Wenn schon nicht stimmberechtigtes Mitglied im Arbeitskreis: Gerade im Wissenschaftsbetrieb wenn auch nicht nur dort gilt die Volksweisheit: Irgendeinen Namen muss das Kind ja schließlich haben. Und so unterzeichnet Basler die Stuttgarter Empfehlungen als „o. Prof, der deutschen Philologie und Völkerkunde an der Universität München; Mitglied der Kommission für Sprachpflege b. d. Bayer. Akademie der Wissenschaften“ (Mai 1954; I, S. 135); und an einer Tagung in München am 8.10.1955 nimmt er als „Vertreter der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Beauftragter des Bayrischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus“ teil (I, S. 229), wobei mit dem Staatsministerium die Behörde genannt ist, die Baslers Deutscher Rechtschreibung 1948 die Zulassung für alle bayerischen Schulen erteilt hat. <?page no="360"?> 360 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Doch sei, als zweiter Erklärungsversuch auf einer anderen Ebene, daran erinnert: Wird Basler im Oktober 1950 zum Vorsitzenden des KMK-Ausschusses auch ernannt und damit Beauftragter der Kultusministerkonferenz für Rechtschreibfragen und bezieht er so eine durchaus verheißungvolle Startposition, so wird ihm jedoch bereits nach kurzer Zeit, im Januar 1953, wegen seiner Inaktivität und damit wegen der seines Ausschusses diese Funktion wieder abgesprochen und so dieser Weg abrupt beendet. 187 Zweites, Thema-bezogenes Fazit, das endlich die eingangs dieses Abschnitts gestellte engere und weitere Frage beantwortet: Innerhalb des oben recht breit dargestellten Begegnungsfeldes und auch im direkten Wechselspiel zwischen Grebe und Basler habe ich keinen Flinweis auf den Reichsminister Bernhard Rust, auf seinen Referenten Karl Reumuth und auf das Orthographiebuch Rust (1944) gefunden. Der gleiche negative Befund ergibt sich, wenn man zunächst das weitere Umfeld der Stuttgarter und der Wiesbadener Empfehlungen, wie es in Augst/ Strunk (1988) sowie in Strunks beiden Arbeiten (1992 und (Hg.) 1998) aufbereitet und abgesteckt ist, ausleuchtet und wenn man darüber hinaus die mündlich bestätigende Auskunft von Hiltraud Strunk (Mitte 1998) über das gesamte Material, das sie durchgearbeitet und in ihren Publikationen ausgewertet hat, mit dazunimmt. Basler und Grebe werden in diesem Reformfeld zwar häufig und auch im Verein miteinander genannt, doch die oben genannten Namen und der Buchtitel werden insgesamt und auch speziell auf der Linie Basler > Grebe nicht erwähnt. Die damit benannten Personen und das Werk spielen auf dieser Bühne offensichtlich keine Rolle. Das Gegenbild: Innerhalb des oben in 2.2.1 dargestellten speziellen Ereignisrahmens von 1954 bis 1956, d.h. während der Verhandlungen zwischen Grebe und Dehnkamp, zwischen der Dudenredaktion Wiesbaden und der KMK, die zu deren Beschluss vom November 1955 führen, ist das anders. Dort hat das Orthographiebuch von 1944 innerhalb der von Grebe eingebrachten und von Dehnkamp und der KMK übernommenen Argumentationsstruktur einen wichtigen, ja: seinen zentralen Platz. Entsprechend werden in diesem Um- 187 Dabei erscheint es als nicht ganz abwegig, den in der zweiten Erklärung dargestellten Sachverhalt als die Ursache oder zumindest als eine der Ursachen für den in der ersten Erklärung dargestellten Sachverhalt anzusehen. <?page no="361"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 361 feld Grebe als einer der Hauptakteure und das Orthographiebuch von 1944 vielfach und auch im Verein miteinander genannt. In Augst/ Strunk (1988) sind mit dem Verleger Franz Steiner, dem Bertelsmann Verlag und dem Schulbuchverleger Horst Kliemann (Oldenbourg Verlag), 188 mit Lutz Mackensen und der Gesellschaft für deutsche Sprache und mit Bernhard Puschmann und Otto Fiedler, den Vertretern der Korrektoren, weitere Akteure auf dieser Bühne benannt. Doch Basler als Akteur spielt auf dieser Bühne keine Rolle. 189 Fazit aus dem Befund: Auf der Linie der Arbeit in der Dudenredaktion und ihrer Leitung (dies aus oben 3.1) hat es keine direkte Kontinuität Basler > Grebe gegeben. Im Umfeld des Reformbemühens spielen Grebe und Basler ihre unterschiedlichen Rollen, doch gibt es dort keine Hinweise auf Rust. Im Umfeld des KMK-Beschlusses von 1955 spielen Rusts Buch von 1944 wie auch Grebe eine zentrale Rolle, doch Basler tritt als Akteur dort nicht in Erscheinung. Innerhalb dieses Gesamtumfeldes haben sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Basler sein Wissen über Rust und dessen Orthographiebuch an Grebe weitergegeben hat. Bestätigt wird dies dadurch, dass Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) nichts Gegenteiliges belegen, obwohl sie ihre Darstellung der einschlägigen Sachverhalte auf Augst/ Strunk (1988) und Strunk (1992) sowie die zwei zudem auf Strunk (Hg.) (1998) stützen 188 Der Oldenbourg Verlag bringt Baslers Deutsche Rechtschreibung 1948 auf den Markt. Kliemann korrespondiert mit Basler 1959 und 1961 u.a. bezüglich der Honorarabrechnung (vgl. 3.3.2.2 (1)). 189 Der Name Basler wird in Augst/ Strunk (1988) zweimal genannt: Die erste Stelle ist der dort (S. 330) zitierte Beschluss der KMK (Plenarsitzung im Dezember 1950 in Freiburg), in dem Basler der Vorsitz des Ausschusses zugesprochen wird. Bei der zweiten (S. 331) geht es darum, dass dieser Vorsitz im Januar 1953 Basler wieder abgesprochen wird. Und wenn Grebe am 3.3.1956 an Dehnkamp schreibt, u.a. auch zwischen der „Deutschen Rechtschreibung“ von Basler (= Basler 7 1951) und dem „Duden“ bestünden Abweichungen (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 271f.), so bringt auch diese in Augst/ Strunk (1998) nicht angeführte Stelle wie die zwei oben angesprochenen Basler als Agierenden hier nicht ins Spiel, sondern lässt ihn allenfalls als Schatten im Hintergrund erscheinen; wobei sich weiter unten (so in 3.3.3.2) in einem anderen Zusammenhang erweisen wird, dass Grebes Feststellung von einer entlarvenden Bedeutsamkeit ist. <?page no="362"?> 362 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform und demzufolge diese Literatur kennen. Ist dieser negative Befund auch kein endgültiger Beweis dafür, dass u.a. Kopkes Schlussfolgerung unzutreffend ist, so ist er doch noch viel weniger ein Beleg dafür, dass sie zutrifft. Alle bisher verfolgten Spuren verlaufen im Sande. Der konsequente Verfolg einzelner Spuren mündet am Ende häufig in Irritationen und bringt nicht selten Kuriosa zutage. Umso dringlicher stellen sich erneut die Fragen: Wie war das eigentlich mit Rust (1944) innerhalb der Vorgänge um 1955, die zu dem KMK-Beschluss geführt und der Duden-Rechtschreibung aus Wiesbaden zu ihrer quasi-amtlichen Sonderstellung verhelfen haben? Welches Spiel nur hat insbesondere Grebe gespielt? 3.2.2 ‘Der Duden’ um 1955 und Rust (1944): Titelfragen Die Vorgänge um 1955 sind mehr als rätselhaft geworden. Eine zentrale Stütze der Argumentation der Dudenredaktion, nämlich die Amtlichkeit von Rust (1944) bis in die Gegenwart von 1955 hinein, ist, wie oben (vgl. 2.4) gezeigt, weggebrochen. Die Vorstellung einer Vermittlung von Wissen über dieses Buch auf der Schiene Basler > Grebe hat sich in dem oben (vgl. 3.2.1) untersuchten Rahmen nicht bestätigt. Auffällig ist geworden, dass in der Eingabe der Dudenredaktion an die KMK im Oktober 1955, in der auf die inhaltliche Übereinstimmug zwischen der 14. Auflage der Duden-Rechtschreibung und dem Orthographiebuch von 1944 hingewiesen wird, ein von Rust (1944) abweichender Titel angeführt ist. Dass es in der einschlägigen Literatur zumindest zwei weitere Fälle von Abweichungen gibt, zeigt eine erste Übersicht (vgl. 3.2.2.1). Wird auf diese in der Literatur auch nicht eingegangen (vgl. 3.2.2.2), so findet die Abweichung in der Eingabe der Dudenredaktion doch mehr Interesse mit einem daraus resultierenden gewissen Rätselraten (vgl. 3.2.2.3), das im Fazit fortgeführt werden soll (vgl. 3.2.2.4). 3.2.2.1 Titelvarianten: Erste Übersicht Der Identifizierung eines Buches dient sein Titel. Dabei geht es zunächst um dieses Buch selbst; doch im Weiteren gegebenenfalls auch darum, es seinen Vorgängern, seinen Vorfahren zu- und es so in eine Ahnenreihe einzuordnen <?page no="363"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemiihungen 363 sowie zudem seine Nachfahren auszumachen. 190 Ein so in beide Richtungen hin abgesicherter und in eine Tradition eingebundener Platz stabilisiert zusätzlich die Identität. Zur Erinnerung noch einmal der Titel von Rust (1944): Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1944 DEUTSCHER SCHULVERLAG BERLIN Der Titel weist gegenüber den Titeln der Orthographiebücher insbesondere auf der preußischen, aber auch etwa auf der sächsischen Linie einige Besonderheiten auf. Und in einschlägigen Abhandlungen über ihn finden sich Variationen von ihm oder über ihn. In Abb. 42 sind die oben im zweiten Kapitel in den Anmerkungen gegebenen Titelhinweise ausgewertet. Sie gibt einen Eindruck über Varianten bei der Wiedergabe des Titels von Rust, und zwar bezogen auf die Anzahl der Angaben sowie auf Paraphrasierungen einzelner Positionen. Die Angaben in den Spalten f (96 S.) und g (Zulassungsstelle: Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum) sind als sekundär anzusehen, da sie nicht zum Titel gehören. Immerhin bestätigen auch sie, sofern sie gemacht werden, in ihrer Konstanz die Identität des Buches, um das es hier geht. In Spalte e (Deutscher Schulverlag Berlin) findet sich 3-mal als Variante ausschließlich „Berlin“; dies kann sich auch auf Berlin als den Sitz des herausgebenden Ministeriums beziehen. Das Erscheinungsjahr 1944 in Spalte d ist durchgehend angegeben. 190 Der Identifizierung dient im weiteren Ausgriff natürlich auch sein Inhalt. Dies wird, auch im Zusammenhang mit der Ahnenreihe und deren Titel, in Mentrup (i.Vorb.) ausführlicher behandelt. <?page no="364"?> 364 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Regeln für die dt RS und Wörterverzeichnis Hrsg. RMfWEV Deutscher Schulverlag Berlin Zulassungsstelle Rust (1944) RErzM (1944/ 20.2.) RErzM (1944/ 20.5.) [...] Wörterverzeichnis Regeln ftlr die dt. RS Trausei (1944) Reumuth (1944) Regeln für die dt. RS Wessely (1944/ 15.10.) Regeln für die dt. RS RPropM (1944/ 4.7.) N.N.(1945) Regeln KM Niedersachsen 1948/ 21.12. 10 11 S. L. (1953) Regeln Dudenredaktion (1955/ 27.10.) [...] nebst Wörterverzeichnis [...] im Aufträge des Reichs- und Preußischen [...} 12 13 TT 15 Grebe (1962/ 68) Regelbuch Jellonnek (1979) Regeln für die dt. RS Küppers (1984) Jansen-Tang (1988) Regeln für die dt. RS Berlin 16 TT Hering (1989) Strunk (1992) Stanze (1994 a und b) [...] nebst Wörterverzeichnis 19 "2Ö~ Böhme (1995) Kopke (1995) 21 22 Bertelsmann (1996) Neuordnung der Rechtschreibung 1 ' Heering (1997/ 26.1.) + = vorhanden - = nicht vorhanden Abb. 42: Rust (1944) - Titelvarianten in der Literatur Der Name des Reichserziehungsministers, Bernhard Rust, der im authentischen Titel nicht geführt wird, aber der Vollständigkeit und des Interesses wegen hier (Spalte c) mitberücksichtigt ist, wird in den untersuchten Texten zum ersten Mal in Grebes Retrospektive 1962 und in dessen Wiederabdruck <?page no="365"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 365 1968 genannt (Zeile 12) und dann in der Mehrheit der dann folgenden Texte, was auch hier bestimmte Texttraditionen anzeigt; wobei ich der Frage, warum erst so spät, nicht weiter nachgehe. Unter den Amtsbezeichnungen wie „der Reichsminister“ fällt besonders die hybrid-redundante Form „Reichserz/ e/ jwttgsminister[...] für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (Kultusminister Niedersachsen 1948/ 21.12.; Kursive WM) auf. 191 Die Nennung des herausgebenden Ministeriums, Spalte b, ist nahezu durchgängig, auf gelegentliche Verkürzungen wie „Reichserziehungsministerium“ gehe ich nicht ein. Ins Auge fällt die Erweiterung in Zeile 11, die im Zusammenhang mit den Einträgen in Spalte a betrachtet wird. Die authentische Formulierung des Titels im engeren Sinne, Spalte a, wird in 11 der 22 Texte über den gesamten Zeitraum hin gebraucht: „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“. In insgesamt 7 der verbleibenden 11 finden sich von 1944 bis 1988 „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ (Zeile 3, 5, 6, 13 und 15) oder einfach „Regeln“ (Zeile 8 und 10), also Verkürzungen, die sich aus der Texttradition sowie aus dem Insider-Wissen erklären lassen, ln 2 der verbleibenden 5 Texte (5 wegen der zwei Angaben in Zeile 3) wird statt der (verkürzten) Titelformulierung eine Gattungsbezeichnung verwendet, so mit Bezug auf die Darreichungsform und den (Teil-)Inhalt „Regelbuch“ (Zeile 12), so mit Bezug auf den Zweck und den Bereich Neuordnung der Rechtschreibung“ (Zeile 21). Bei aller Varianz sind diese Angaben als korrekt anzusehen. Dies gilt auch für die Verkürzungen, die allenfalls als unvollständig zu kennzeichnen sind, und für die Gattungsbezeichnungen, die das Werk von einer anderen Ebene aus benennen und vorstellen. Im Unterschied dazu weisen die drei restlichen Angaben (Zeile 3, 11 und 18) Abweichungen gegenüber der authentischen Formulierung auf. 191 Der Name des Ministers wird genannt in Grebe (1962, S. 72; 1968, S. 21); Jellonnek (1979, S. 57); Küppers (1984, S. 111); Jansen-Tang (1988, S. 82f.); Strunk (1992, S. 167) (aus Jansen-Tang 1988); Bertelsmann (1996, S. 20), Heering (1997/ 26.1.) (aus Grebe 1968). Als Kennzeichnung findet sich häufig Erziehungsminister, in Jellonnek (1979, S. 57) [NS-\Wissenschaftsminister, Wissenschaftsminister wie auch in Scheuringer (1996, S. 97) und schon in der Notiz eines Beamten des RMI im September 1944 (vgl. oben 2.4.6) und dann wiederum in Dudenredaktion (1997/ 2.4.); in Klemperer preußischer Unterrichtsminister (vgl. oben 1.1.2.4 (3)) und Volksbildungsminister (vgl. oben 1.2.2, 1996) sowie in Bertelsmann (1996, S. 20) Nazi-Reichsminister Bernhard Rust. <?page no="366"?> 366 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 3.2.2.2 mit statt und'. Flüchtigkeitsfehler des Beamten Frank 1944? nebst statt und'. Angleichungsirrtum in Stanze (1994a und b) In dem amtlichen Erlass vom 20. Mai 1944, mit dem versucht wird, den Engpass bei der Versorgung der Schulen mit dem Orthographiebuch zu regeln (Reichserziehungministerium 1944/ 20.5.; vgl. oben 2.1.1.3), findet sich zweimal als Titel „Regeln für die deutsche Rechtschreibung mit Wörterverzeichnis“ (Abb. 42, Zeile 3); statt des und in Rust (1944) findet sich unkorrekterweise ein mit. Im Weiteren wird einmal die Verkürzung „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ gebraucht, die sich aus dem Kontext erklärt und schon oben mit berücksichtigt ist. Ich halte diesen punktuellen Wechsel von und zu mit für ein spontanes, ‘ungesteuertes’, flüchtiges Versehen, wie es beim routinemäßigen Schreiben halt so passieren kann, für einen Flüchtigkeitsfehler, der einem immer wieder einmal unterlaufen kann möglicherweise des Unterzeichners „Im Aufträge: Frank.“ In der Literatur, d.h. in den zwei Arbeiten, die diesen Erlass anführen, nämlich in Stanze (1994a, S. 202f.) und Kopke (1995, S. 36, Anm. 247), wird auf diese Abweichung nicht eingegangen. Eine ebenfalls punktuelle Abweichung findet sich in Stanze (1994a und b) (vgl. Abb. 42, Zeile 18). Bei ihrer Suche nach den Vorfahren des Orthographiebuches Rust (1944) 192 - „[Verlag nicht ermittelbar]“ (1994a, S. 360); „Über den Leihverkehr nicht zu beschaffen. Bibliogr. Nachweis: Küppers 1984. 271. I.L. 122a.“ (1994b, S. 152) legt sie eine zweifache, wenn auch irgendwie verwischte Spur. In ihren Literaturverzeichnissen wird es Preußen zugeordnet; wenngleich es in Stanze (1994a) im Kapitel 8.4 und in den Abschnitten 9.3.3 und 9.3.4 nicht auftaucht, die sich ausführlich mit dem preußischen Orthographiebuch beschäftigen. Anders ist dies im Kapitel „11.3 Die Sächsischen Regelbücher“. Im Abschnitt mit der Überschrift „11.3.3.4 Das Rechtschreibwörterbuch Trausels und seine maßgebliche Quelle: Das Preußische Regelbuch von 1944“ (Stanze 1994a, S. 201f.) kennzeichnet Stanze zum einen dieses, d.h. Rust (1944), als Quelle von jenem, begründet dies mit dem schon bekannten Hinweis auf der Rückseite des Titelblattes in Trausei (vgl. oben 2.1.2.1) und stellt diese Quelle in diesem Zusammenhang 192 Um Missverständnisse auszuschließen sei angemerkt, dass Stanze diese Bezeichnung nicht fuhrt. <?page no="367"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen TiGl als „PREUSSEN 1944“ vor. Zum anderen, so Stanze, „liest sich [Trausei] über weite Strecken wie ein Kommentar zum Sächsischen Regelbuch“, was dann ja auch für Rust (1944) als Quelle von Trausei gelten müsste. Der folgende, weitaus größte Teil dieses Abschnitts beschäftigt sich dann mit Rust (1944) sowie bezogen auf dieses Buch mit bestimmten Hintergründen und den vorgesehenen Neuerungen, sofern sie in Trausei (1944), in Kultusminister Niedersachsen (1948/ 21.12.) und in Küppers (1984) behandelt werden. Dies ist oben an den entsprechenden Stellen bereits eingespielt worden. In beiden Bänden fuhrt Stanze (1994a, S. 204; 1994b, S. 156) die sächsische Linie mit einer Ausgabe von 1946 über das Kriegsende hinaus, und zwar mit dem FDGB-Orthographiebuch, von dem oben im Zusammenhang mit der 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung (vgl. 2.4.4) bereits die Rede war und das unten als direkter Nachfolger von Rust (1944) (nach Hering 1989; diesen führt Stanze nicht an, was natürlich schade ist) noch einmal in Erscheinung treten wird. Stanze (1994a, S. 360; 1994b, S. 152) gibt als Titel von „PREUSSEN 1944“ an: „1944 Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Hrsg, vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Berlin“. Entgegen Küppers' Vorlage mit dem authentischen Titel „[...] Rechtschreibung und Wörterverzeichnis [...]“ steht bei Stanze statt des und ein nebst. In Stanze (1994a, S. 202) findet sich von ihr wohl nicht bemerkt, zumindest aber in ihrem Werk nicht reflektiert im Zitat aus Trausei (1944) der richtige Titel mit dem und und auch die Angabe „Deutscher Schulverlag“. Rust (1944) hat Stanze authentisch nicht Vorgelegen. Ihre Titelangabe verstehe ich als Rekonstruktion aus Fakten, die ihr aus der Beschäftigung insbesondere mit den Ausgaben auf der preußischen und der sächsischen Linie und aus der weiteren Literatur bekannt sind. Die Verwendung, die Interpolation des nebst liegt bei ihr assoziativ besonders nahe, weil dieses Verknüpfungswort in den Werken der amtlichen Reihen, die insgesamt ein zentrales Thema ihrer Arbeit sind, seit 1901 bis zum Ende des Krieges nahezu die Regel ist. Das und im Titel von 1944 ist eine der wenigen Ausnahmen (eine Gesamtauswertung findet sich in Mentrup i.Vorb.). Bezogen auf Stanze bleibt festzuhalten, dass diese einerseits das herausgebende Ministerium, wohl in Anlehnung an Trausei (1944) und/ oder Küppers (1984), korrekt nennt, doch andererseits trotz Küppers und Trausei beim <?page no="368"?> 368 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform nebst bleibt und trotz Trausei schreibt: „Verlag nicht ermittelbar“. Das mag sich daraus erklären, dass sie in ihrer Studie eine Fülle von Daten und Fakten zu strukturieren hatte und verarbeitet hat. 143 Einerseits ist Stanzes Zuordnung von Rust (1944) zu Preußen in ihren Literaturverzeichnissen auch durch die Titelformulierung eindeutig. Andererseits ist die Art der Behandlung dieses Buches im Zusammenhang mit Trausei (1944) und innerhalb der Darstellung der sächsischen Reihe verwirrend und führt zu der Vorstellung, Rust könne auch - Es fragt sich nur: Wie? mit Sachsen in Verbindung stehen. In der Literatur wird auf die Titelabweichung in Stanze (1994a und 1994b) nicht eingegangen. Böhme (1995) und Kopke (1995) sowie Birken-Bertsch/ Markner (2000) führen Stanze nicht an. Kohrt kommt in seiner ausführlichen Rezension dieses Werkes (1997b, S. 314) zwar u.v.a. auf das von ihm als ‘weißen Raben’ auf der preußischen Linie bezeichnete, „als verschollen geltende Preußische Regelbuch von 1944“ zu sprechen. Auch er moniert (das, was oben festgestellt ist, nämlich) den Widerspruch zwischen „Verlag nicht ermittelbar“ und „Deutscher Schulverlag“, ohne anzumerken, dass die positive Angabe in einem Zitat aus Trausei (1944) steht, sowie die verwirrende Zuordnung von Rust (1944) zur preußischen bzw. sächsischen Linie. Dessen Titel zitiert Kohrt korrekt, das abweichende nebst in Stanze (1994a und 1994b) ruft er jedoch nicht auf. 3.2.2.3 Falscher Titel: Eines der Rätsel in der Dudeneingabe von 1955 Im Unterschied zu den bisher vorgestellten zwei Abweichungen findet die in der Eingabe der Dudenredaktion an die KMK vom 27. Oktober 1955, von der 193 Interpolationen und Rekonstruktionen dieser Art sind bei der Beschäftigung mit Gegenständen wie diesen gang und gäbe und oft wohl auch notwendig; doch fuhren sie gelegentlich, oder vielleicht auch häufig, zu grotesken Ergebnissen. Nur ein Beispiel: In Kühn (1991, S. 470) und Schaeder (1991, S. 167) findet sich „Braun, Heinrich: Deutsches orthographisch-grammatisches Wörterbuch nach Adelung. München 1767.“, bei Schaeder mit dem Zusatz „[4. Aufl. München 1793]“. In dieser von „V. v. P.“ 1793 vorgelegten Neubearbeitung des Braun findet sich auf der Titelseite ,jlun nach H. J. Ch. grossem Wörterbuche [...] vermehrt [...]“ (Kursive WM). Im Vorbericht wird zum einen explizit angegeben, dass die Erstausgabe von Braun in das Jahr 1766 fällt; zum anderen wird u.a. deutlich gemacht, und darum geht es hier, dass Adelungs Wörterbuch (1774-1786; WM) erst 1793 von V. v. P. berücksichtigt wird. Entsprechend auch das ,J4un nach [...]“ im Titel. Die interpolierende Rejektion von „Adelung“ aus dem Titel von 1793 in den von 1767 (richtig ist: 1766) fuhrt dazu, dass dessen Wörterbuch zu einem Zeitpunkt als benutzt erscheint, an dem selbst der erste Band noch gar nicht erschienen ist. <?page no="369"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 369 oben (in 2.2.1) schon die Rede war, in der Literatur Interesse und Beachtung. Zur Erinnerung: „Die im Duden [Duden-Rechtschreibung ( l4 1954); WM] niedergelegten Regeln entsprechen der letzten staatlichen Willensäußerung zu dieser Frage, die in der Schrift: >Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis; herausgegeben im Aufträge des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildungt, Berlin 1944 veröffentlicht wurde.“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10.; Kursive WM). Der Titel des hier angeführten und in Grebe (1962, S. 72) und (1968, S. 21) mit dem Namen Rust verbundenen Orthographiebuches von 1944 (Abb. 42, Zeile 11) weicht in zwei Punkten von dem authentischen Titel des Büchleins Rust (1944) ab. Statt „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis“ findet sich, wie auch bei Stanze, „[...] nebst Wörterverzeichnis“, statt „[...] Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ findet sich „[...] herausgegeben im Aufträge des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (Kursive WM). Der Verlag wird nicht genannt, wohl aber Berlin als Erscheinungsort des Buches und/ oder als Sitz des herausgebenden Ministeriums. Auf diese Abweichungen geht in der von mir im ersten Angang (bis 1998) ausgewerteten Literatur zum ersten Mal Hering (1989) ein; im Weiteren, unter Berufung auf diesen, greift dann Böhme (1995) dieses Thema auf. Ansonsten ergibt sich: Fehlanzeige. (1) Hering (1989): Stark abweichender Titel => Ein Versehen durch die Macht des Gewohnten Hering bemüht sich in seiner Arbeit „Das preußische Regelbuch (pRb) - Geschichte, Aufgabe und Leistung“ (1989) u.a. darum, im Zuge der „Spurensicherung“ (S. 19) die lange Reihe der Ausgaben des preußischen Orthographiebuches von 1880 an (in diesem Jahr erscheint die Erstausgabe) bis in die 40er-Jahre hinein und auch darüber hinaus möglichst lückenlos aufzufüllen. Die letzte nur „bibliographisch nachweisbare“ Ausgabe vor 1945 fällt gemäß seiner Auskunft (S. 21, 26) in das Jahr 1941. Bestätigt wird diese Ausgabe in Stanze (1994a, S. 359), die überdies deren Vorhandensein in der UB/ LB Halle nachweist (1994b, S. 152). Laut mündlicher Auskunft von <?page no="370"?> 370 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Gunnar Böhme (12.3.1997) ist sie völlig identisch mit der Ausgabe Preußen (1940). 194 Deren vollständiger Titel lautet: Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis. Herausgegeben im Aufträge des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Preis 27 Pf. Berlin Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1940. Diese wird in der 12. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1941 (Fraktur) und 1942 (Antiqua) sowie in der 13. von 1947 als eine der benutzten amtlichen Grundlagen angegeben (vgl. oben 2.4.2 und 2.4.4), und zwar mit Ausnahme des Preises und der Verlagsangabe unter vollständigem Titel. Im Verlauf seiner Recherchen stößt Hering (vgl. 1989, S. 21f.) an verschiedenen Stellen auf Hinweise darauf, dass auch bzw. noch 1944 ein amtliches Orthographiebuch erschienen sei. So zum einen in Grebe (1968, S. 21) („das zuletzt von RUST im Jahre 1944 herausgegebene amtliche Regelbuch“); so zud andern in der Eingabe der Dudenredaktion von 1055 (abgedruckt in Augst/ Strunk 1988) mit dem oben angeführten Auszug einschließlich der Titelangabe. Zum dritten heißt es in einem Brief vom 20. Oktober 1988 an mich unter anderem: „Dem Sammelband >Die ... Rs. d. Dtsch. und ihre Neuregelung< entnehme ich (S. 179) einen Hinweis auf eine Ausgabe von 1944. Handelt es sich dabei um das PRb [preußische Regelbuch; WM] -? Es ist nicht ersichtlich, ob sie bei Weidmann erschienen ist. (...) Sollte 1944 nicht bei Weidmann erschienen sein, dann brauchte ich sie vielleicht nicht als pRb anzusehen wie denken Sie darüber-? “ (Hering 1988/ 20.10.; #3.7). 194 Dies gilt nicht für den Titel. Die Ausgabe von 1941 ist herausgegeben „im Aufträge des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“. Gegenüber 1940 ist und Preußischen“ gestrichen (vgl. Böhme 2001, S. 135; 459). Stanze (1994a, S. 359; 1994b, S. 152) gibt für 1941 denselben, also ungekürzten Titel wie 1940 an (vgl. auch Hering 1989, S. 22). <?page no="371"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 371 In dem von Hering angesprochenen Sammelband (IDS-Kommission (Hg.) 1985), der, wie oben (vgl. 1.3.1.2) gezeigt, in der Schweigespirale der zwei Autoren (s)einen festen, konstitutiven Platz einnimmt, findet sich im Verzeichnis der „Titel, die in den vorstehenden Beiträgen benutzt und angegeben worden sind“ (ebd., S. 167), das Buch von 1944 als „Regeln (1944)“ mit korrektem Titel und Erscheinungsort, aber, wie dort üblich, ohne Angabe des Verlages (ebd., S. 179). In dem Beitrag Mentrup (1985b, S. 77) zur Zeichensetzung im gleichen Band wird in einer Fußnote unter bestimmten inhaltlichen Gesichtspunkten auf den Abschnitt Zeichensetzung u.a. in dem Buch von 1944 hingewiesen. In meiner Antwort auf Herings Brief (Mentrup 1989/ 18.1.; #3.8) heißt es u.a.: „Von den Regeln aus dem Jahre 1944 lege ich Ihnen eine Kopie des Deckblattes und des Inhaltsverzeichnisses bei. Nach meiner Ansicht kann es nicht als eine Auflage oder Bearbeitung des preußischen Regelwerks angesehen werden.“ Eine Begründung für meine damalige „Ansicht“ findet sich in dem Brief nicht. Ich nehme heute (1997) an, dass sie darin begründet war, dass 1944 einen Abschnitt zur Zeichensetzung enthält, während ein solcher, wie in Mentrup (1985b, S. 73) festgestellt, in den preußischen Orthographiebüchem 1880 über 1902 bis hin zu 1939 fehlt und, wie ich seit späterem weiß, auch in den Ausgaben von 1940 und 1941. Vor diesem Hintergrund auch eines Teilausschnitts der Geschichte des preußischen Orthographiebuchs fasst Hering als „Ungereimtheit“ zusammen: Das Orthographiebuch Rust (1944) „[...] trägt [...] hinsichtlich des Herausgebemamens einen vom Standard des pRb (II) [II = seit 1902; WM] stark abweichenden Titel und ist zudem nicht, wie für das pRb (I/ II) üblich, bei Weidmann sondern im Deutschen Schulverlag erschienen“ (Hering 1989, S. 21). Wäre, wie von Rust zunächst beabsichtigt (vgl. oben 2.1.1.1 (1)), sein Buch bei Weidmann verlegt worden, so wäre dieses letzte Argument hinfällig. Ein schönes Beispiel dafür, dass Stützen der Argumentation, zumindest manchmal, eher zufällig tragend sind. Der Titel der in der Dudeneingabe von 1955 angeführten „Ausgabe von 1944 [ist...] mit dem seit 1935 nachweisbaren Namen des Herausgebers und des bis 1940 vorliegenden, 1941 letztmalig bibliographisch faßbaren Titel des pRb (II) völlig identisch“. Hering folgert, dass die Dudenredaktion 1955 das Orthographiebuch von 1944, auf das sich Grebe in seinem Rückblick <?page no="372"?> 372 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1968 bei gleichzeitiger Nennung des Namens Rust noch einmal bezieht, „fälschlich“ als Exemplar des preußischen Regelbuchs „zitiert“. Sein Resümee: „ein Versehen“; eine „wahrscheinlich durch die Macht des gewohnten Titels des pRb (II) erleichterte Verwechslung“ (S. 22). 195 Hering (1989, S. 29) definiert in diesem Zusammenhang das preußische Orthographiebuch aufgrund eines Satzes dreier inhaltlicher Kriterien (keine Regeln zu Straßennamen, zu Abkürzungen und zur Interpunktion). Diese Kriterien treffen auf Rust (1944) nicht zu. Folgerichtig ordnet er dieses Buch nicht in die preußische Reihe ein. Begründet damit ist wohl, dass er Rust auch den späteren, nach 1902 erlassenen amtlichen Verfügungen nicht zurechnet, die möglichst vollständig zusammenzustellen ein weiteres Ziel seiner Arbeit ist. Wenn nicht der preußischen Linie welcher Linie ist Rust (1944) dann zuzuordnen? Ausgehend von dem schon erwähnten FDGB-Orthographiebuch (1946), das Hering als Nachfolgewerk von Rust ansieht und aus dem er seinen oben genannten Kriteriensatz ableitet, und gestützt auf dessen Vorwort rekonstruiert er über 1902 eine historische Linie zurück bis 1880 (Hering 1989, S. 27f.). Doch welche Linie mit diesen beiden orthographiegeschichtlich doch sehr bedeutsamen Jahreszahlen markiert und dann mit 1944 und 1946 weiter geführt ist, erfährt man in diesem Zusammenhang (S. 26-29) nicht, bleibt offen und im Diffusen; was auch für die Zuordnung weiterer von Hering angeführter Nachfolgeausgaben gilt. Erinnert sei daran, dass Stanze (1994a und b) das FDGB-Buch als Weiterführung der sächsischen Linie ansieht widersprüchliche Deutungen aus der Retrospektive (im Einzelnen vgl. Mentrup i.Vorb.). (2) Böhme (1995): Leichte Unterschiede im Titel => Wahrscheinlich ein Versehen durch die Macht des Gewohnten Böhme (1995) schließt sich, bezogen auf die von Hering festgestellte Ungereimtheit der Titelformulierung, grundsätzlich diesem an wenn auch mit einer milderen Gewichtung der Abweichung (leicht vs. stark) und mit einer Einschränkung ihrer Deutung durch das dispositive wahrscheinlich. 195 Aus all dem geht hervor: Hering kannte nur das Titelblatt und das Inhaltsverzeichnis von Rust (1944). <?page no="373"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 373 Dem authentischen Titel von Rust (1944) einschließlich der Angabe des Verlages und des Ministeriums folgt: „Es muß trotz der leichten Unterschiede im Titel genau jenes Regelbuch sein, auf welches sich bemerkenswerterweise die Dudenredaktion am 27. Oktober 1955 in einer Eingabe an die KMK beruft.“ Nach einem Zitat aus dieser mit dem abweichenden Titel heißt es in der Anm. 44: „Wie schon W. Hering [...] anmerkt, ist die mit dem preußischen Regelbuch von 1940 identische Titelnennung wahrscheinlich auf ein Versehen durch die >Macht des gewohnten Titels< zurückzufuhren; tatsächlich ist 1944 nur ein Regelbuch, und zwar mit dem erstgenannten Titel, veröffentlicht.“ (Böhme 1995, S. 330; Kursive WM). Doch damit endet die Zu- und Übereinstimmung: „W. Hering bringt [...] ein chronologisches Verzeichnis der staatlichen Verfügungen, läßt jedoch den >Erlaß des Reichserziehungsministers [...]< vom 20. Febmar 1944 außer acht, da für ihn die Amtlichkeit des Regelbuches von 1944, welches aufgrund genannten Erlasses als Nachfolger des amtlichen (preußischen) Regelbuches von 1940 |... | >in der neuen Auflage< zugelassen wurde, unverständlicherweise zweifelhaft ist [...]. Für mich steht jedoch die Amtlichkeit dieses Regelbuchs aufgrund der Nennung des zugrunde liegenden Erlasses auf Seite 2 des Regelbuches und der Anerkennung durch die Dudenredaktion [...] außer Frage.“ (Böhme 1995, S. 329f; vgl. oben 2.1.1.2). Auf Herings Kriteriensatz zur Definition des preußischen Orthographiebuchs geht Böhme nicht ein, obwohl ihm klar ist, dass Rust (1944) im Unterschied zur preußischen Tradition den Abschnitt „Die Satzzeichen“ enthält. (3) Ansonsten Fehlanzeige bis 1998 - Nachträge; Besuch Markners oder Birken-Bertsch' 1999 im IDS - Bei vertauschten Rollen: Klandestine Operation. In der von mir im ersten Angang (1998) benutzten Literatur wird diese Ungereimtheit der Titelangabe in der Eingabe der Dudenredaktion sonst nicht behandelt. Dies gilt auch für Augst/ Strunk (1988), die die Hintergründe des KMK-Beschlusses von 1955 ausleuchten und dabei auf die Eingabe der Dudenredaktion ausführlich eingehen, sowie für Kopke (1995). Dieser gibt einerseits (S. 36) den Titel von Rust (1944) einschließlich der Angabe des Deutschen Schulverlags und des Ministeriums korrekt wieder und zitiert andererseits (S. 46f.) den in der Eingabe der Dudenredaktion angeführten <?page no="374"?> 374 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform abweichenden Titel in dem einschlägigen Ausschnitt mit, doch auf die Unterschiede geht er nicht ein. Anders als Böhme (1995) fuhrt Kopke (1995) Hering (1989) im Literaturverzeichnis nicht. Auch Böhme gibt er nicht an. Nachzutragen ist: Auch Birken-Bertsch/ Markner (2000) weisen auf die Titelabweichnung in der Dudeneingabe hin und beschreiben sie ausführlich (S. 119f). Hering (1989) und Böhme (1995) fuhren sie nicht an, wohl aber Kohrt (1997a, S. 306), der sich in der einschlägigen Stelle auf Hering stützt und diesen dort anfuhrt.' 96 Vgl. jetzt auch Böhme (2001, S. 133ff). Der Besuch: Einer der beiden Autoren besuchte Ende 1999 das IDS. Nach meiner Erinnerung und laut einer handschriftlichen Notiz von mir über diesen Besuch stellte er sich als Reinhard Markner vor. Sein vorgetragenes Interesse galt der Fremdwortfrage bei Basler, woraufhin ich ihn kurz in den Baslemachlass des IDS einwies. Themen unseres Gesprächs waren: Horst Klien, nicht Otto Basler ‘Leiter’ der Dudenredaktion; Rust (1944) und Paul Grebe, ‘der Duden’; wobei ich über den damaligen Stand meiner Studie über Rust berichtete. Dass der Besucher selbst über diese Themen arbeitete, ließ er nicht erkennen. 197 Nach Erscheinen ihres Bandes „möchte“ sich eigentümlicherweise nicht Markner, sondern Birken-Bertsch in einem Brief vom 16.10.2001 (Birken- Bertsch 2001/ 16.10) an mich (im „Institut für deutsche Sprache“) „mit dem beiliegenden Exemplar unseres Buches [...] für Ihre mir erwiesene Kollegialität bedanken“. Gerne hätte er mir damals von dem Kontext seiner Fragen nach Basler erzählt, zumal ich mich ja selbst dem Thema der Reform von 1944 zugewandt hätte. Im Weiteren heißt es: „Unser Projekt aber, dessen politisches Ziel den Absichten des IdS geradewegs entgegenläuft, war zu diesem Zeitpunkt noch so ganz und gar geheim, daß nicht einmal die engsten Freunde davon wußten. Ich kann Sie daher nur um Verständnis dafür bitten, daß wir den Zusammenhang unserer Forschungen auch Ihnen gegenüber ge/ teiw halten mußten. [...] 196 Wenn auch mit der Jahreszahl 1990. Die Erklärung ist: Auf der Titelseite von Herings Arbeit findet sich 1989, auf der nächsten Seite „Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 1. August 1990“. 197 Ob bestimmte Kenntnisse der zwei Autoren aus diesem Gespräch stammen, weiß ich nicht. Die Tatsache, dass dieses in ihrem Buch nicht erwähnt wird, auch nicht an einschlägigen Sachverhaltsstellen, scheint anzudeuten bzw. könnte dafür sprechen, dass es nicht so ist. <?page no="375"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 375 Mit freundlichen Grüßen auch im Namen meines Kollegen Reinhard Markner“, unterschrieben mit Hanno Birken-Bertsch (Kursive WM). Hic Markner November 1999 lllic Birken-Bertsch Oktober 2000: Synonyme? Pseudonyme? BB alias M? Who is Who? Verständnis? Ich weiß nicht. Das kommt mir so vor wie bei der Deutschen Bahn, wenn es nach der Ankündigung der Verspätung eines Zuges heißt: „Wir bitten um Ihr Verständnis.“ ,geheim halten mußten“! Welche Bedingungen bestanden, aus denen zwangsläufig folgte, dieses Unternehmen geheim zu halten? Wer hat den zwei Autoren den Befehl, die Anordnung, den Auftrag zur Geheimhaltung gegeben? Sachzwänge? Notwendigkeiten? Fremder Wille? All dies bringt natürlich Knoblochs Kennzeichnung „Auftragsforscher“ (2001, S. 203) lebhaft in Erinnerung und auch die Selbstausweisung ihres Buches als „Veröffentlichung der Akademie für Sprache und Dichtung“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 4). Und dann wiederum die Gegendarstellung der zwei (2002; vgl. oben 1.3.3.3 (4)). Wie mag das alles wohl zusammenpassen? Mag sich jeder (s)einen Vers darauf machen. Noch dies: Wäre die Sache mit vertauschten Rollen verlaufen, so hätten die zwei mich sicherlich als Geheimes Kommando bezeichnet und, auch unter Hinweis auf das Personen-Switching, insgesamt von einer extrem klandestinen Operation gesprochen. 3.2.2.4 Fazit und Übergang Zwei der drei Titelabweichungen betreffen punktuell nur ein Wort, nämlich das und im Rust-Titel, und lassen sich als Flüchtigkeitsfehler (so das mit im Erlass vom 20. Mai 1944) bzw. als in der Dominanz des nebst in den sonstigen Titeln amtlicher Rechtschreibbücher begründeter Angleichungsirrtum (so das nebst in Stanze 1994a und b) erklären. Die Abweichung in der Dudeneingabe ist grundsätzlicher oder auch einschneidender. Die obige Deutung als (wahrscheinliches) Versehen, das durch die gewohnten Titel des preußischen Rechtschreibbuches in den Vorworten der 12. und 13. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1941 und 1942 bzw. 1947 gesteuert sei, liegt natürlich bzw. zwar nahe. <?page no="376"?> 376 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Doch dazu passt nicht so recht die von Grebe behauptete inhaltliche Übereinstimmung der 14. Auflage mit Rust (1944). Denn diese Übereinstimmung setzt ja die Kenntnis des Werkes von Rust (und die seiner Regelungsinhalte) voraus, was wiederum eine sorgfältige Aufnahme und die Sicherung des richtigen Titels hätte erwarten lassen können, ja: müssen dies insbesondere mit Blick auf ein so wichtiges Dokument, wie es die Eingabe der Dudenredaktion im Oktober 1955 in der damaligen Ortho-Szene ja nun einmal ist. Es bleibt weiterhin rätselhaft. Doch nicht nur das, denn unterdessen ist es noch verwirrender geworden. Denn besteht in der Zuordnung des Orthographiebuchs des FDGB von 1946 auch ein Widerspruch zwischen Hering (Fortsetzung von Rust 1944) und Stanze (Fortsetzung der sächsischen Linie 6. Auflage 1941), so gerät doch durch die Fortführungen über das Kriegsende hinaus, welche der beiden auch immer zutreffend sein mag, eine weitere zentrale Stütze in Grebes Argumentationsgebäude ins Wanken, dass nämlich mit Rust (1944) die amtlichen Linien abgebrochen seien. Dies umso mehr und verstärkt, als von der KMK schon im Oktober 1950 u.a. die „Bearbeiter der amtlich eingeführten Rechtschreibbücher“ aufgefordert werden, in dem neu eingerichteten Ausschuss unter Baslers Vorsitz mitzuarbeiten. Denn gibt es über das Kriegsende hinaus 1950 Bearbeiter, dann muss es auch amtliche Rechtschreibbücher gegeben haben oder geben. Zum Schluss dieses Titel-Abschnitts noch einmal zurück zu Kopkes Vorstellung von der Kontinuitäts- und Vermittlungsschiene Basler > Grebe: Wäre es so gewesen, wie es im Rahmen des bisher Dargestellten ja nun nachgewiesenermaßen nicht ist, dann müsste, in weiterer Konsequenz, Kopke sich der Frage stellen, wieso Basler, der als Mitbearbeiter von Rust (1944) dessen Titel natürlich kennt, Grebe einen falschen Titel vermittelt haben soll, oder warum er Grebe über den falschen Titel nicht aufklärt. Als erster Merkpunkt, der um weitere ergänzt werden wird, ergibt sich: • Falscher Titel von Rust (1944) in der Dudeneingabe von 1955. <?page no="377"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 377 3.2.3 Spätere Verfügungen und speziell Rust (1944)? - Inhaltliche Übereinstimmung ‘des Duden’ (Duden-Rechtschreibung 14 1954) mit Rust aus der Sicht der Literatur Der zuverlässigen Sicherung des richtigen Titels eines Buches wie auch anderer schriftlicher Texte dient die Autopsie eines vorliegenden authentischen Exemplars. Die Aussage, der Inhalt eines Textes sei in einen anderen Text übernommen worden, setzt, wenn sie denn zutrifft, voraus, dass man den Ausgangstext kennt; der Sicherung dieser Aussage dient die Überprüfung des Grades der inhaltlichen Übereinstimmung beider Texte. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Aussage ist natürlich größer, wenn ein Exemplar des Ausgangstextes nachgewiesen ist, als wenn dies nicht der Fall ist. Doch selbst im letzteren Falle heißt das noch nicht zwingend, dass dessen Inhalt nicht bekannt ist; wenngleich der Grad der Wahrscheinlichkeit eher als gering erscheint bzw. sich die Frage stellt, woher das Wissen dann eigentlich stammt. Der folgende Abschnitt stellt das Bemühen dar, einigen der zentralen Größen auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis ist wenig ergiebig, und zwar in Flinblick sowohl auf die späteren Verfügungen und auf das Wissen beteiligter Akteure davon (vgl. 3.2.3.1) als auch auf ein authentisches Exemplar von Rust (1944) (vgl. 3.2.3.2) sowie auf die in der Literatur vorgegebene inhaltliche Übereinstimmung zwischen Duden-Rechtschreibung ( l4 1954) und jenem (vgl. 3.2.3.3). Im Fazit fügt sich all dies zu einem völlig neuen Mosaik zusammen (vgl. 3.2.3.4). 3.2.3.1 Spätere Verfügungen: Schwindendes Wissen davon Wie steht es um ein solches authentisches Exemplar in Flinblick allgemein auf die späteren Verfügungen, die im Beschluss der KMK vom November 1955 pauschal und damit „so unkonkret“ (Böhme 1995, S. 329) genannt sind, und speziell mit Blick auf Rust (1944), der von Grebe, Böhme und Kopke diesen Verfügungen zugerechnet wird, von Hering jedoch nicht? Diesen Komplex spricht Georg Hincha, allgemein und gewissermaßen als frühes Vorspiel, in einem Brief vom 21.4.1982 an das Institut für Deutsche Sprache an. Mit Bezug auf den KMK-Beschluss erkundigt er sich danach, „welche Auflage des ehemaligen Preußischen Regelbuches [...] als verbind- <?page no="378"?> 378 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform lieh zu gelten habe“ („[mjeinen Mitarbeitern und mir [...] nicht bekannt“), sowie nach den „zitierten »späteren Verfügungem, von denen ich selber nichts weiß“ (Hincha 1982/ 21.4.; #3.9). In meiner Antwort im Mai 1982 verweise ich auf die „»Regeln für die deutsche Rechtschreibung von 1902<“ (abgedruckt in Nerius/ Schamhorst (Hg.) 1980), „die die Grundlage der heutigen Regeln bilden und auch in dem Beschluß [...] von 1955 mitgemeint“ seien. Im Weiteren teile ich Hincha als Ergebnis eines Telefongesprächs mit Günther Drosdowski, dem damaligen Leiter der Dudenredaktion, mit: Dieser beziehe den „Ausdruck »spätere Verfugung< auf singuläre Fälle“ und habe „in diesem Zusammenhang das Substantiv Waage“ genannt. Doch habe „auch er so recht keine weiteren Hinweise geben“ können. Mein weiterer Kommentar: „Ich glaube, daß das sehr marginale Fälle sind, wenn es überhaupt viele dieser geben sollte. Mir sind bei meiner bisherigen Arbeit solche Verfügungen nicht auf den Tisch gekommen.“ (Mentrup 1982/ 3.5.; #3.10). Ergiebig ist dies ja nun wirklich nicht. Dieser Briefwechsel ist nicht der einzige, den Hincha 1982 initiiert. Neben dem IDS sind (und darüber berichtet Hering 1989) die Wiesbadener Gesellschaft für deutsche Sprache (1982/ 4.5.), die Mannheimer Dudenredaktion (1982/ 18.5.) und das Sekretariat der Kultusministerkonferenz (1982) in Bonn mit im Spiel (vgl. Hering 1989, S. 116). Bezogen auf die sog. späteren Verfügungen insgesamt ergibt sich als gemeinsamer Nenner aller Antworten: Alle lassen „die Frage unbeantwortet, was unter den »späteren Verfügungem zu verstehen ist“ (ebd., S. 117). Die einzige konkrete Einzelheit liefert Drosdowski, nämlich den schon bekannten Hinweis auf das Beispiel „Waage“, ergänzt um die entsprechende Bekanntmachung vom 5.7.1927. Das Sekretariat der KMK verweist 1982 Hincha gleich „an den Sachverstand des Instituts für deutsche Sprache“ (Hering 1989, S. 116), wobei die Auskunft dieses Sachverstandes in Form meiner Antwort schon oben als nun wirklich nicht ergiebig gekennzeichnet ist. Von keiner der befragten Stellen wird, nach der Darstellung in Hering (1989), in diesem Zusammenhang 1982 der Name Rust bzw. das Orthographiebuch von 1944 genannt. Und zwar speziell weder von der KMK noch von Drosdowski, obwohl dessen Vorgänger Paul Grebe und in Folge die KMK 1955/ 1956 dies als letzte amtliche Festlegung ausgeben, in Grebe (1962, S. 72) und (1968, S. 21) bekanntlich davon erneut die Rede ist und <?page no="379"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 379 Drosdowski (1968) diesem Beitrag unmittelbar folgt. Das Gedächtnis von Institutionen scheint nicht immer zuverlässig und gut zu sein. Die Diagnose lautet: Schwindendes Wissen von den späteren amtlichen Verfügungen: 1955/ 1956 Grebe und die Dudenredaktion und in Folge die KMK: Rusts Orthographiebuch von 1944 als letzte amtliche Festlegung; 1982 Drosdowski und die Dudenredaktion: nur der singuläre Fall Waage 1927; 1982 KMK: keine bekannt. Als zweiter Merkpunkt ist entsprechend festzuhalten: • Schwindendes Wissen von den späteren amtlichen Verfügungen: „nur der singuläre Fall Waage“ (Drosdowski und die Dudenredaktion) und „keine bekannt“ (KMK). So recht ergiebig ist auch alles dies nun nicht. Doch erweist sich dieser Fall als ein Beispiel dafür, dass eine neu aufgetane, weil bewusst gewordene (Wissens-)Lücke, gewissermaßen wie ein Vakuum, eine Anziehung ausübt, auf dass sie, von wem und wann auch immer, (aus)gefüllt und geschlossen werde. 3.2.3.2 Exemplar von Rust (1944): Auf der Suche danach So erklärt sich, dass Wolfgang Hering, ein Mitarbeiter Hinchas 198 und aus dem obigen Abschnitt über die Titelfrage bereits bekannt, 1989 im Anhang seiner Arbeit einschlägige Verfügungen vor 1901 und auch danach, und damit sog. spätere, als Faksimile zusammenstellt. Im Weiteren geht er auch der Frage nach der Verfügbarkeit des authentischen Textes speziell von Rust (1944) bei einigen (Haupt-)Akteuren nach. Seine Recherchen in Form schriftlicher Anfragen (Hering 1988) und entsprechender Antworten führen zu folgenden, von ihm so formulierten Ergebnissen (pRb = preußisches Regelbuch): 198 Georg Hincha tritt 1990, zusammen mit Manfred Kohrt, als „Berichter“ in der „wissenschaftlichen Aussprache“ über Hering (1989) auf (Hering 1989, S. 2). <?page no="380"?> 380 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform „Die DUDEN-Redaktion (Mannheim) konnte neben den faksimilierten Ausgaben des pRb [1880, 1902] die Exemplare des pRb [1902, 1907, 1940] nachweisen“ (Dudenredaktion 1989/ 29.3.)- "[D]ie DUDEN-Redaktion (Leipzig) besitzt nur das pRb [1902]“ (Dudenredaktion 1989/ 28.04.; beide Hering 1989, S. 25). Sein Fazit im negativen Umkehrschluss ist „[...] die Tatsache [...], daß die DUDEN-Redaktion [Mannheim; WM] auf eine Anfrage [...] kein pRb (II) [II = seit 1902; WM] mit dem Erscheinungsjahr 1944 meldete“ (Hering 1989, S. 22), was analog auch für Leipzig gilt - und auch, das sei ergänzt, für die Gesellschaft für deutsche Sprache (1989/ 23.3), die über die Ausgaben von 1914 und 1935 verfügt. Unter Berufung auf die „freundliche Mitteilung von Wolfgang Hering, Berlin“, in der die Auskunft der Mannheimer Dudenredaktion paraphrasiert wird („fünf Exemplare bzw. Ausgaben“ des Preußischen Regelbuchs, die letzte von 1940), und unter Hinweis auf die Arbeiten von Hering und Stanze, die trotz aller intensiven Suche „bislang überhaupt kein Exemplar der Regeln (1944) an einer Bibliothek nachweisen [konnten]“, meldet Kohrt (1997a, S. 306) starke Zweifel an, "[o]b die Duden-Redaktion jemals über ein Exemplar [...] verfügt hat“. Sind Kohrts Zweifel, auch meiner Ansicht nach und wie sich gleich unten herausstellt, mehr als berechtigt, so ist doch deren Hauptstütze, nämlich die Auskunft der Mannheimer Dudenredaktion in Herings Darreichungsform einschließlich des Umkehrschlusses, nichts weniger als tragfähig. Zudem entspricht Kohrts Aussage, Hering habe „kein Exemplar der Regeln (1944) an einer Bibliothek nachweisen“ können, nicht dem, was dieser in seiner Arbeit 1989 vorlegt. Meine Begründung geht von dem Briefwechsel zwischen Hering und dem IDS aus: „Das Institut für deutsche Sprache (Mannheim) verfugt über die Ausgaben des pRb [1903, 1932]“ (Auskunft vom 25.01.1989; Hering 1989, S. 25). 199 199 Die Angabe 1903 ist entweder ein Fehler des IDS-Mitarbeiters, der diese Auskunft gegeben hat und dessen Namen ich nicht kenne, oder ein Übemahmefehler Herings. In der IDS-Bibliothek ist eine Ausgabe von 1903 nicht vorhanden, sondern die Faksimileausgabe in der Sammlung Duden von 1902. Zudem weist Herings eigene Zusammenstellung der ‘zusammengetragenen Ausgaben’ auf der folgenden Seite (S. 26) und sein Literaturverzeichnis (S. 339), Stanze (1994a und b) wie auch unsere Bibliographie für das Jahr <?page no="381"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 381 Wendet man das Heringsche Umkehrschlussverfahren auch auf die Auskunft aus dem IDS an, so ergibt sich das gleiche Resultat wie oben für die Auskunft der Mannheimer Dudenredaktion: „kein pRb (II) mit dem Erscheinungsjahr 1944“. Doch Umkehrschlüsse sind oft nicht so ohne. Oder anders formuliert: Sie haben es so in sich. Vor allem dann, wenn inkongruente Größen, Größen ungleichen Grades oder Umfangs miteinander in Beziehung gesetzt werden. Entsprechend meiner oben schon erwähnten Antwort vom 18.01.1989 an Hering heißt es bei diesem: „Tatsächlich liegt ein >amtliches Regelbuch< von 1944 vor“, wobei er in einer Fußnote auf das von mir beigelegte „Titelblatt nebst Inhaltsverzeichnis“ (1989, S. 21) hinweist. Sieben Seiten später (S. 28) zitiert er den korrekten Titel der auch von Kohrt so genannten „Regeln (1944)“. In der Fußnote verweist Hering auf Grebe (1968) (den dort genannten Namen „Rust“ übernimmt er nicht) sowie auf IDS-Kommission (Hg.) (1985), in dem, wie oben schon bemerkt, dieses Orthographiebuch nicht nur angeführt, sondern in bestimmter Hinsicht auch inhaltlich ausgewertet ist. Das Fazit aus der Heringschen Darreichung erscheint als Paradoxon: a) Laut Auskunft des IDS (vom 25.01.1989) und gemäß dem entsprechenden Umkehrschluss besitzt das IDS zwei Ausgaben des amtlichen pRb, aber kein pRb (1944). b) Laut meiner Auskunft vom 18.01.1989 und Herings entsprechender Darstellung verfügt das IDS zumindest über ein Exemplar der amtlichen Regeln (1944). 200 Die freundliche Mitteilung Herings an Kohrt über den Bestand der Dudenredaktion entspricht der Feststellung (a). Die Nichterwähnung von (b) erklärt sich wohl daher, dass Hering das Buch von 1944 nicht als pRb ansieht: Alle 1903 keine Ausgabe der preußischen „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis“ auf. Ganz unmarkiert ist 1903 auf der preußischen Linie allerdings nicht, denn in diesem Jahr erscheint „Amtliches Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den preußischen Kanzleien“ ohne Regelteil, das gegenüber der Ausgabe von 1902 eine Textsortenänderung dokumentiert und durch das dann 1907 in „Regeln [...] nebst Wörterverzeichnis“ das bisherige Wörterverzeichnis ersetzt wird. 200 Insgesamt sind es zwei Exemplare aus dem Baslemachlass, den das IDS übernommen hat und von wo aus sie in die IDS-Bibliothek gelangt sind. <?page no="382"?> 382 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie and ihrer Reform pRb sind amtlich, aber nicht alle damaligen amtlichen Rechtschreibbücher, so „Regeln (1944)“, sind ein pRb. Ich vermute, dass Hering, gemäß dem Duktus seiner Arbeit, in seinen Anfragen als Gattungs- und Suchbegriff „Preußisches Regelbuch“ (pRb) gebraucht hat. Im Orthographiebuch von 1944 t&ucYd.preußisch im Titel jedoch nicht auf, sodass es schon von daher keinen Grund gibt, dieses Buch mit dem genannten Gattungsbegriff in Verbindung zu bringen bzw. es unter diesem zu suchen. So erkläre ich mir die Auskunft aus dem IDS vom 25.01.1989. 201 In dem anderen Schreiben, mit dem an mich vom 20.10.1988, verfolgt Hering eine andere, spezielle Spur, und zwar ausgehend von IDS-Kommission (Hg.) (1985) - und diesmal mit Erfolg. Schlussfolgerung: Wenn es beim IDS so ist nämlich: n Ausgaben pRb, aber kein pRb (1944); wohl aber Regeln (1944) dann könnte dies ja auch bei den beiden Dudenredaktionen so gewesen sein, an die, so wie es sich darstellt, Hering nur ein Schreiben geschickt hat, und zwar des Typs (a). Trotz alledem: Gegen das Vorhandensein eines authentischen Exemplars von Rust (1944) in den beiden Dudenredaktionen sprechen zunächst schon bekannte äußere Umstände. Erinnert sei zunächst an den Versorgungsengpass von 1944 auch bei diesem Schulbuch, an dessen beschränkte Auflage und Auslieferung (vgl. oben 2.1.1.3 und 2.4.6) und auch daran, dass es in der Literatur oft als nicht beschaffbar (so noch Stanze 1994a und b), als verschollen (so noch Kohrt 1997a) gilt. Zudem: Das Bibliographische Institut in Leipzig wird im Dezember 1943 und im Februar 1945 nahezu völlig zerbombt und die Dudenredaktion muss 1945 unter Horst Klien völlig neu ein- 201 In der IDS-Bibliothek zeigt sich folgendes Bild: In einem alten Katalog findet sich die Faksimileausgabe von 1902 (Signatur: QF 16) unter „Sammlung Duden“, die von 1932 (QF 783) und Rust (1944) (QF 784a und b) unter „Regeln deutsche Rechtschreibung“, auch im Regal in unmittelbarer Nachbarschaft. Bei „Wörterverzeichnis“ wird man ebenfalls fündig, doch handelt es sich nicht um das von 1903 für die preußischen Kanzleien (vgl. oben), sondern um einen Separatdruck von „Wörterverzeichnis zum Grossen Duden IV (Bildwb.). 1935.“ (UD 52), wie Basler auf einem Aufkleber auf dem Außendeckel vorne handschriftlich mitteilt. Die Suche bei „Preußen“ oder „preußisch“: Fehlanzeige. Im Hauptkatalog unter „Preußen“ wird auf die „Regeln deutsche Rechtschreibung“ von 1932 verwiesen. <?page no="383"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 383 gerichtet und ausgestattet werden. Und die Wiesbadener Redaktion wird 1947 überhaupt erst gegründet und von Grund auf ausgestattet. Die endgültige Bestätigung, kein Exemplar von Rust (1944) vorhanden, liefern dann doch letztlich, wenn auch erst ca. 10 Jahre nach Herings Frageaktion, die beiden Redaktionen selber. Der Gewährsmann für Leipzig ist Dieter Baer, der mir die Auskunft, kein Exemplar vorhanden, in dem oben bereits eingespielten Telefonat (6.4.1998) gegeben hat. Im Januar 1997 wendet sich Werner Heering, Tangstedt, an verschiedene Institutionen, u.a. an das IDS am 26.01.1997. Ausgehend von Trausei (1944) und von dem schon bekannten Eintrag dort mit dem Hinweis auf das Rechtschreibbuch von 1944 sowie nach korrekter Wiedergabe von dessen Titel erörtert Heering unter Einbeziehung zahlreicher Auflagen der Duden-Rechtschreibung, von Bertelsmann (1996) und von Grebe (1968), aus dem er den Namen Rust übernimmt, den Status von Rust (1944), den er für amtlich hält, und bittet um Stellungnahme (Heering 1997/ 26.01.; #3.11). Dem hier eindeutigen Suchbegriff entspricht der einschlägige Abschnitt aus dem Antwortschreiben der Dudenredaktion vom 2. April 1997, für dessen Vermittlung ich Werner Heering herzlich danke: „Die von Reichwissenschaftsminister Bernhard Rust noch 1944 herausgegebenen Regeln für die deutsche Rechtschreibung konnten infolge der Kriegswirren nicht mehr verbreitet werden. Die Nichterwähnung dieses Regelbuchs in der ersten Nachkriegsauflage unseres Rechtschreibdudens ( 13 1947) findet ihre Erklärung darin, dass die Dudenredaktion seinerzeit offensichtlich über kein Exemplar dieser Publikation verfügen konnte. Auch unser aktuelles Redaktionsarchiv enthält keine Ausgabe des Regelwerks von 1944.“ (Dudenredaktion 1997/ 2.4.; #3.12; Absätze und Kursive WM) Im 1. Absatz wird die schon mehrfach aufgerufene Bezeichnung Reichwissenschaftsminister verwendet (dazu vgl. oben 1.2.2, 1996; 3.2.2.1). Zudem bringt sich die oben (2.3) dargestellte ‘eingestampff-Linie und -Tradition in Erinnerung. Vor dem Hintergrund der oben (in 2.4.2 bis 2.4.4) dargestellten Zusammenhänge ist zum Inhalt der durch das dispositive offensichtlich eingeschränkten Aussage im 2. Absatz zu sagen: Selbst wenn die Redaktion damals über ein <?page no="384"?> 384 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Exemplar verfügt hätte, hätte sie keinen Grund gehabt, angesichts der erklärten Nicht-mehr-Amtlichkeit dieses Regelbuch zu berücksichtigen und zu erwähnen. Beide Dudenredaktionen, jetzt wissen wir's endgültig, verfüg(t)en über kein authentisches Exemplar von Rust (1944). Dieses Ergebnis ist allerdings letztlich nur für die Wiesbadener und späterhin Mannheimer Redaktion von Bedeutung, denn nur diese hat sich um 1955 in dieser Hinsicht extrem weit aus dem Fenster gelehnt. Der dritte Merkpunkt ist: • Nichtvorhandensein eines Exemplars von Rust (1944) in der Wiesbadener und späterhin Mannheimer Dudenredaktion. Insgesamt: Die Zweifel an bestimmten Aussagen in der Eingabe der Dudenredaktion von 1955 und in weiteren Verlautbarungen mehren sich. 3.2.3.3 Inhaltliche Übereinstimmung: Allmählich schwindende Größe Die Zweifel werden verstärkt, und zwar zunächst durch Grebes polarisierende Darstellung der Orthographie-Szene von 1955. Auffällig geworden an der Diktion und Argumentation der Dudenredaktion, genauer: ihres Leiters Paul Grebe, in der Auseinandersetzung mit dem Bertelsmann Verlag 1955 und 1956 ist schon oben die Inanspruchnahme einer absoluten amtlichen Qualität für ‘den Duden’, d.h. in eigener Sache, im Verein mit der gleichzeitigen totalen Abqualifizierung von Mackensens Rechtschreibbuch, d.h. des Konkurrenzwerkes; so u.a. mit der Behauptung, dies habe „nahezu alle geltenden Regeln mißachtet“ und „mit voller Absicht amtlich festgelegte Schreibweisen oder Regeln in das Gegenteil verwandelt“ (vgl. oben 2.2.1, dort auch Abb. 34; Kursive WM). Dies ist nach Augst/ Strunk - und dies in einer innerhalb ihrer ansonsten moderat zurückhaltenden, ja schonenden Diktion ansatzweise wohltuend deutlichen und dem Tatbestand angemessenen Formulierung - „natürlich blanker Unsinn. Ein beliebiger Vergleich zweier paralleler Seiten der beiden großen Wörterbücher von 1954 kann dies belegen. Hier hat der Steiner- Verlag maßlos übertrieben“ (1988, S. 342; Kursive WM) ansatzweise deshalb, weil durch die entpersonalisierende Formulierung „der Steiner-Verlag“ dieser als für die maßlose Übertreibung verantwortlich dargestellt wird, während es ja in Wirklichkeit Paul Grebe ist. Dessen den Tatsachen nicht ent- <?page no="385"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 385 sprechende Behauptung, so die Fortführung in Kopke (1995, S. 50), „war jedoch geeignet, das Menetekel rechtschreiblicher Anarchie glaubhaft zu machen. Die Kultusminister faßten daraufhin den zitierten Beschluß über die Maßgeblichkeit des Duden in Zweifelsfällen“. Doch trotz des eindeutigen Urteils von Augst/ Strunk (1988) und trotz der Nachdoppelung in Kopke (1995) heißt es wohl nach dem Motto: Wen ficht das alles schon an? , noch 1996, wie schon über 40 Jahren zuvor, unverdrossen wiederholend, dass „Anfang der fünfziger Jahre Versuche unternommen wurden, die Rechtschreibung auf eigene Faust zu reformieren, [... sodass; WM] die mühsam errungene Einheitsschreibung in Gefahr geriet“ (Drosdowski 1996, S. 26; Kursive WM); wobei durch den Wechsel von mit voller Absicht zu auf eigene Faust Mackensen als vom (sagen wir: ) Gesinnungstäter von 1955/ 1956 zum Faustkämpfer und Anhänger des Faustrechts von 1996 mutiert erscheinen lässt. 202 Im Weiteren gerät der, zu der Stigmatisierung des Konkurrenzwerkes gegenläufige, vollmundig formulierte Anspruch, ‘der Duden’ von 1954 entspreche der letzten staatlichen Willensäußerung von 1944, durch einzelne Beobachtungen in der Literatur in Zweifel und ins Zwielicht, denn so klar geordnet in Gut(e) und Böse ist es ja meistens nicht und geht es auch hier nicht zu. Die ersten, die mit Blick auf das Orthographiebuch von 1944 eine Einschränkung der Geltung dieses ‘Duden’-Anspruchs feststellen, sind in der von mir benutzten Literatur Böhme und Kopke, beide 1995. Bezogen auf die Interpunktion weist Böhme (1995, S. 330f.) punktuell nach, dass wie schon in der 9. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1915 auch bzw. noch in der 14. Auflage von 1954 der Beistrich vor und oder oder zwischen beigeordneten Hauptsätzen gefordert wird, während er nach Rust (1944) hier wegfällt (diese Fallgruppe wird weiter unten noch einmal wichtig werden); und dass es in den Regeln von 1944 eine weitere kann-Bestimmung gibt, die in der 14. Auflage fehlt. 203 Böhmes Erklärung mit Blick auf Grebe: Dies „ist 202 Nachträglich sei, aufgrund einer neueren Zufallsbeobachtung, ergänzt: Schon in Grebe (1962, S. 72) (und entsprechend auch 1968, S. 21) findet sich, „daß auch einzelne Autoren in ihren Wörterbüchern Reformen auf eigene Faust durchführten, durch die [...] die [...] Einheitsschreibung wieder in Gefahr geriet“. (Kursive WM). Man lernt halt nie aus. Oder anders gesagt: Man findet selbst in schon mehrfach herangezogenen Texten immer noch etwas Neues. 203 Böhmes Frage, „warum nicht schon der 13. Auflage 1947 diese Regelung zugrunde gelegt wurde“ (1995, S. 331, Anm. 49), ist oben in den Abschnitten 1.4.2 bis 1.4.4 beantwortet. <?page no="386"?> 386 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform wahrscheinlich [...] auf die Unkenntnis der Detailfestlegungen im amtlichen Regelbuch von 1944 zurückzuführen“ (Böhme 1995, S. 331). Kopkes allgemein(er)e Diagnose engt die Geltung des Anspruchs weiter ein; und zwar einmal negativ, nämlich „daß der >Mackensen< ebenso wie der Duden die meisten Änderungen des Jahres 1944 nicht berücksichtigte“ (Kopke 1995, S. 49f); und dann positiv, nämlich „daß [...] der Duden nur einige der Änderungen von 1944 übernahm“. Sein Urteil ist, dass dies „nicht nur der zitierten Eingabe widersprach, sondern auch im Widerspruch zu späteren Beteuerungen des Duden steht, den amtlichen Regeln zu folgen“ (ebd., S. 48). Kohrts sehr allgemein gehaltene Vermutung ist, dass „die Dudenredaktion gar nicht so recht wußte, worauf sie sich damals berief 4 (Kohrt 1997a, S. 306). Birken-Bertsch/ Markner präzisieren und konkretisieren den Grad der Übereinstimmung zwischen der Duden-Rechtschreibung und den „Regeln von 1944“ in extremer Weise so, dass sie ihn punktuell auf einen und zudem noch auf einen „skurrilen Einzelfall“ fixieren: „Deren Reformbestimmungen [...] waren weder im Leipziger Duden von 1947 noch von dem skurrilen Einzelfall >Kautsch< abgesehen 32 im Mannheimer von 1954 abgebildet.“ Anm. 32: „[...] Sowohl Mackensen als auch Grebe übernahmen diese Schreibweise [Kautsch für Couch aus den Regeln von 1944; WM] und erklärten sie für verbindlich [...]“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 118). Feststellung eines Singulariums, die ihrerseits, analog zu diesem, schon extrem skurril anmutet und als absurd erscheint. Alle fünf Autoren setzen voraus, dass Grebe und die Dudenredaktion Rust (1944) benutzt oder zumindest inhaltlich gekannt haben, in welchem Grad oder Umfang auch immer. So ist z.B. mit der von Böhme für Grebe angesetzten „Unkenntnis der Detailfestlegungen“ gleichzeitig ausgesagt, dass dieser Rust (1944) inhaltlich zumindest in groben Zügen, in dessen Grundstrukturen kennt; wozu auch das vielleicht nur vage Wissen oder die dunkle Erinnerung gehört, dass innerhalb dieses Strukturgefüges wie im Einzelnen auch immer geartete Detailfestlegungen vorgenommen sind oder sein müssen. Und wenn nach Kohrt für das Wissen der Dudenredaktion negativ gilt „gar nicht so recht“, so korrespondiert damit positiv ein ‘aber irgendwie doch’. <?page no="387"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 387 Die, aus der Sicht der Autoren insgesamt betrachtet, allmähliche Verengung des Anteils der inhaltlichen Übereinstimmung, speziell Kopkes starke Einschränkung und insbesondere die Fixierung von Birken-Bertsch/ Markner (2000) auf nur eine einzige Schreibvariante, nämlich auf die des in seiner Singularität skurrilen Kautsch (vgl. Abb. 43), ist schon auffällig und bedenkenswert. Inhaltliche Regelung Rust (1944) Böhme (1995) Kopke (1995) Kohrt (1997a) GU -o 3 Q Birken-Bertsch/ Markner (2000) Komma vor und, oder nur einige Änderungen übernommen die meisten \ / nicht berücksichtigt gar nicht so recht wusste (aber irgend- / worauf sie sich .wie doch) / berief einzige Schreibvariante Kautsch skurriler Einzelfall Abb. 43: Schwindende inhaltliche Übereinstimmung: Duden ( 14 1954) ~ Rust (1944) 3.2.3.4 Merkpunkte ‘Duden’: Deutungen - Grebe hat Rust (1944) höchstwahrscheinlich nicht gekannt Die nunmehr akkumulierten vier Merkpunkte sind: • Falscher Titel von Rust (1944) in der Dudeneingabe von 1955 (vgl. 3.2.2.3). • Schwindendes Wissen von den späteren amtlichen Verfügungen: „nur der singuläre Fall Waage“ (Drosdowski und die Dudenredaktion) und „keine bekannt“ (KMK) (vgl. 3.2.3.1). • Nichtvorhandensein eines Exemplars von Rust (1944) in der Wiesbadener und späterhin Mannheimer Dudenredaktion (vgl. 3.2.3.2). • Schwindende inhaltliche Übereinstimmung zwischen Rust (1944) und der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954), und zwar aufgrund von Beobachtungen in der Fiteratur, bis hin zur Reduktion auf den Einzelfall Kautsch (vgl. 3.2.3.3). Plötzlich fügt sich eines zum anderen und beide fügen sich zu den weiteren und diese in umgekehrter Richtung zu jenen, wenn auch zu einem anderen <?page no="388"?> 388 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform als von Grebe gezeichneten Bild, zu einem völlig neuen Mosaik. Alle vier Punkte bestätigen einander wechselweise und fuhren insgesamt zu dem folgenden Ergebnis, das hier durch das dispositive wahrscheinlich noch mit einem Vorbehalt verknüpft ist, der jedoch unten aufgehoben wird. Wahrscheinlich ist es so: Grebe hat Rust (1944) bei der Erstellung der 14. Auflage der Duden- Rechtschreibung von 1954 nicht berücksichtigt. Entsprechend ist seine 1955 und 1956 wiederholte Aussage, diese entspreche inhaltlich jenem, falsch. Grebe hat (die inhaltliche Regelung in) Rust (1944) nicht gekannt. Stellt Kopke selbst eine erhebliche Einschränkung der Übereinstimmung ‘des Duden’ (Duden-Rechtschreibung 14 1954) mit Rust (1944) und damit einen Widerspruch etwa zur Dudeneingabe fest, so hält er doch an der partiellen inhaltlichen Entsprechung oder Abhängigkeit fest. Dies mag sich daher erklären, dass er diese als eine der Grundstützen seiner Argumentation braucht, und zwar auch mit Blick auf die KMK: „Wenn die Kultusminister nach dieser Eingabe die >in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisem für >heute noch verbindlich< erklärten, taten sie dies im Wissen um die Neufassung von 1944. Darüber hinaus wurde der Duden gerade deshalb für verbindlich in Zweifelsfallen erklärt, weil der Eingabe zufolge allein dieses Wörterbuch [gemeint ist Duden ( ,4 1954); WM] an den Regeln von 1944 festhalten würde. Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß nach dem Kultusministerkonferenzbeschluß von 1955 an der Fortgeltung der 1944 geänderten Regeln festzuhalten ist [...].“ (Kopke 1995, S. 47). Doch die Ausführungen oben lassen als sicher erscheinen, dass auch die Kultusminister 1955 das Rechtschreibbuch von 1944 und andere spätere Verfügungen insgesamt nicht gekannt haben. Sie sind den ihnen von Dehnkamp übermittelten falschen Aussagen, den unzutreffenden Behauptungen Grebes aufgesessen. Als Erklärung dafür mag dienen: Das Verhältnis zwischen Grebe und Dehnkamp seit ihrer ersten Begenung 1955 beschreiben Augst/ Strunk (1988, S. 342) auf der Grundlage der insbesondere von Strunk ausgewerteten Dokumente als „außerordentlich gut“ und geprägt von "gegenseitige[r] Achtung und Wertschätzung“. Daran anknüpfend ist, nach Kopke, „Dehnkamp [... gegenüber Grebes Äußerungen; WM] offenbar gutgläubig“ (1995, S. 71) und wird, nach Böhme, von der KMK „die Glaubwürdigkeit des Dudens in Bezug auf die Beachtung der amtlichen Regelung in keiner Weise in Frage gestellt“ <?page no="389"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 389 (1995, S. 332), sodass am Ende „die Unwissenheit der KMK 1955 in bezug auf frühere amtliche Verfügungen und ihre Gutgläubigkeit hinsichtlich der Loyalität des Dudens gegenüber der amtlichen Regelung“ (Böhme 1995, S. 335) sich gewissermaßen paaren mit dem für die Dudenredaktion so komfortablen Beschluss als dem höchstwillkommenen freudigen Ereignis. Schon diese Paarung bestätigt für das Jahr 1955: „Die Weisheit und Ernsthaftigkeit bestimmter Beschlüsse der KMK sowie den Grad der Einsicht in die ‘Dinge’, die jenen vorausgehen sollte, kann man schon in Zweifel ziehen.“ Hinzu kommt, dass die KMK sich in ihrem Beschluss auf die amtliche Regelung von 1901 und auf ‘den Duden’ bezieht, wobei die beiden weder bezüglich der behandelten Bereiche (Zeichensetzung, Zusammen- und Getrenntschreibung) noch mit Blick auf zahlreiche Einzelregelungen (u.a. bei der Worttrennung) kompatibel sind (Mentrup 1983, S. 6ff; Zitat 7). 204 Zur Rechtfertigung des oben gebrauchten Plurals „Beschlüsse der KMK“: Die KMK spricht sich am 25. Mai 1973 einstimmig für eine Rechtschreibreform auf der Basis der „Wiesbadener Empfehlungen“ (1959) aus. Doch bereits sechs Monate später, am 23. November 1973, wird dieser Beschluss wieder hinfällig; wobei bekannt wird, dass auf der Maisitzung die Empfehlungen inhaltlich nicht beraten und nicht einmal verlesen worden sind (vgl. Augst/ Zabel 1979, S. 16, 32; Mentrup 1983, S. 26; neuerdings auch Kopke 1995, S. 108ff.). 205 Die zwei Autoren, Birken-Bertsch und Markner, klammem sich gewissermaßen, aus welchen Gründen auch immer, an Kautsch als den einen, den 204 Ein Beispiel für mögliche Folgen: Hätte vor der Einführung der neuen Rechtschreibung von 1996 ein Schüler z.B. Inte-resse oder eine Schülerin Helikop-ter getrennt, so wäre dies gemäß der Regelung von 1901 richtig gewesen. Hielte aber der Lehrer dies für einen Zweifelsfall und richtete er sich nach der Duden-Regel, so erschiene am Rand das rote „R“. Auch dies ist eines der Kuriosa, die in der Geschichte der Orthographie und ihrer Regelung so selten nicht sind (vgl. Mentrup 1993, S. 50, auch S. 22-26; Kopke 1995, S. 53). 205 Bei der Dudenredaktion findet dieser Maibeschluss der KMK, natürlicherweise, höchste Aufmerksamkeit. In der Beantwortung der Frage: „was sagt der Duden zur rechtschreibreform? “, heißt es auf dem Kongress „vernünftiger schreiben“ Anfang Oktober 1973: „Da sich die kultusminister der länder auf ihrer Sitzung am 25. mai 1973 in Berlin für eine reform ausgesprochen haben, steht jetzt nichts mehr im wege, [...] die arbeit sofort aufzunehmen, das reformwerk endgültig zu fixieren und die reform durchzuführen. Die dudenredaktion hat auf den beschluß der kultusministerkonferenz hin bereits mit der arbeit begonnen [...]“ (Drosdowski 1974, S. 47). Doch nicht einmal zwei Monate später, nämlich mit dem 23. November 1973, ist auch dieses Bemühen hinfällig (zur Rolle ‘des Duden’ mit Blick auf eine Rechtschreibreform vgl. unten in 4.2.3). <?page no="390"?> 390 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform einzigen von ihnen ausgemachten Übemahmefall. Die „Reformbestimmungen“ in Rust (1944) sind, so ihre hier wiederholte Auskunft, „weder im Leipziger Duden von 1947 noch von dem skurrilen Einzelfall >Kautsch< abgesehen [...] im Mannheimer von 1954 abgebildet.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 118). Doch sieht es so aus, als ginge es ihnen im Grunde nicht mehr um inhaltliche Entsprechung oder Abhängigkeit, sondern, entsprechend dem mit einer Ausnahme negativen Befund, um die Deutung des Vorgehens, des Verhaltens der Dudenredaktion im Zusammenhang mit der gegenteilig lautenden Erklärung u.a. in der Dudeneingabe von 1955. „Wenn die Duden-Redaktion tatsächlich die Regeln von 1944 gemeint hätte, dann wäre die Behauptung, daß die >im Duden niedergelegten Regeln [...] der letzten staatlichen Willensäußerung zu dieser Frage< entsprächen, der Versuch einer Irreführung der Kultusministerkonferenz gewesen. Wahrscheinlicher ist, daß die Duden-Redaktion, wie Manfred Kohrt vermutet, >gar nicht so recht wußte, worauf sie sich damals berieft.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 118f; Kursive WM). Der Auftakt, in der "Wenn ... hätte dann wäre’-Struktur und damit im Irrealis gehalten, ist in Verbindung mit Versuch zunächst ebenso ungewohnt behutsam wie unerwartet moderat wenngleich mit Irreführung eine Saite anklingt, die oben im Zusammenhang mit der „Schweigespirale“ von den zwei Autoren abwertend dominant ins Spiel gebracht worden ist und auch hier noch nach- und mitklingt. Gleichviel. Die dann übernommene Vermutung Kohrts wird, durch wahrscheinlicher überhöht, als Vermutung der zwei disponiert. Nach dem zutreffenden Hinweis darauf, dass in Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) ,jeder Nachweis der amtlichen Regelwerke“ fehle, sprechen die zwei bezüglich des Rekurses der Dudenredaktion auf Rust (1944) von einem Jrrtum der Mannheimer Duden-Redaktion“, der,jedem Kundigen schon im Text der Eingabe [hätte] selbst auffallen können“, nämlich an dem dort angegebenen abweichenden, falschen Titel (S. 119), von dem oben (vgl. 3.2.2.3) schon die Rede war. Irrtum! Das bringt schon bekannte Deutungen in die Erinnerung, nämlich Verwechslung (Hering 1989) und Versehen (Hering 1989, Böhme 1995), wobei die drei Elemente desselben Wortfeldes mit dem Merkmal <unbeabsichtigt> miteinander kongruieren und inhaltlich im Einklang sind. 206 206 Irrtum [...] unbeabsichtigter Fehler [...]; verwechseln [...] irrtümlich jmdn. für jmdn. anderen halten [...] etw. vertauschen [...] etwas aus Unkenntnis, Vergeßlichkeit, Unacht- <?page no="391"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 391 Doch nach der Beschreibung der Titelabweichung und aus dieser schlussfolgernd heißt es dann weiter - und damit wendet sich nun das Blatt, die Irrtums-Version wird von der Täuschungs-Version abgelöst: „Weder die Aussage der Duden-Redaktion noch der Erlaß der Kultusministerkonferenz beruhten also auf gesicherten Kenntnissen. Die Duden- Redaktion unter dem Historiker Grebe täuschte ein Wissen über die Vergangenheit vor, das sie nicht hatte, und die Konferenz verordnete den Rekurs auf staatliche >Verfugungen<, ohne festzulegen, ja, ohne zu wissen, um welche es sich handelte.“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 120; Kursive insgesamt WM) 207 Haben die zwei Autoren die Anfangserwartung, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, auch erfüllt, so ist damit die Deutungsschere jedoch nunmehr weit offen. Wie soll es denn ihrer Meinung nach nun eigentlich gewesen sein? Ein als irreal disponierter und damit nicht realer Versuch einer Irreführung, sondern schlicht ein Irrtum? Oder aber eine bewusste Täuschung und damit eine tatsächliche Irreführung? Wie soll das Zusammengehen? (Vgl. Abb. 44). als irreal gekennzeichnet: Versuch einer Irreführung h wahrscheinliche Vermutung: so recht kein Wissen u in Folge: Irrtum Merkmal <unbeabsichtigt> schlussfolgernd als Tatsache: fehlende gesicherte Kenntnisse u als Tatsache: Vortäuschen von Wissen, das nicht vorhanden ist Merkmal <bewusst> JJ - ► tatsächliche Irreführung Abb. 44: Irreal gekennzeichnete oder tatsächliche Irreführung? samkeit an Stelle von etw. anderem benutzen [...]; Versehen [...] Irrtum, unbeabsichtigter, leichter Mißgriff (Handwörterbuch 1984). 207 Vortäuschen [...] jmdm. etw. vorspiegeln, bewußt den Anschein von etw. erwecken, das nicht den Tatsachen entspricht [...]; irreführen [...]jmdn. täuschen (1); täuschen [...] 1. [...] jmdn. (in bezug auf etw.) etw. Falsches glauben machen, jmdm. (in bezug auf etw.) etw. vorspiegeln, was nicht den Tatsachen entspricht, jmdn. (in bezug aufetw.) irreführen [...] (Handwörterbuch 1984). <?page no="392"?> 392 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Zudem: Einerseits Vortäuschen von nicht vorhandenem Wissen. Andererseits „Die Regeln von 1944 sahen tur >Couch< die Eindeutschung >Kautsch< vor [...]. Sowohl Mackensen als auch Grebe übernahmen diese Schreibweise [...]“ (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 118). Hat Grebe, nach der Vorstellung der zwei Autoren, auch kein Wissen über Rust (1944) und täuscht er ein solches auch nur vor, so hindert ihn dies, ebenfalls nach der Vorstellung der zwei, jedoch nicht daran, Kautsch aus Rust (1944) zu übernehmen. Wie soll dies zusammenpassen? Abschließend heißt es: „Unwissen zeugt sich fort. Die von den Kultusministern beauftragten Kommissionen erarbeiteten über die Jahrzehnte immer neue Reformvorhaben. In welchem Maße sie in der Tradition des Reformuntemehmens von 1944 standen, war den Auftraggebern nicht bewußt.“ (ebd., S. 120) Das erste von den Kultusministern in Auftrag gegebene Reformvorhaben führt zu den Wiesbadener Empfehlungen von 1959. Wie kann dieses Vorhaben in der Tradition von Rust (1944) stehen, wenn u.a. Grebe, und dieser als der Hauptakteur, überhaupt kein Wissen über Rust hat? Allenfalls über das ominöse Kautsch als Singularium? Das ist natürlich ausgesprochen wenig. Die Biographie dieses Wortes im ‘Duden’ beginnt mit dem Volks-Duden (1933) und zeigt folgenden Verlauf und auch die Dudentradition dieses Eintrags (die Einträge sind leicht gekürzt): Volks-Duden (1933) Kleiner Duden (1934) Großer Duden ( u 1934) Duden-Rechtschreibwörterbuch (1937): Kleiner Duden ( 2 1939) Großer Duden ( 12 1941) Rust (1944) Großer Duden ( 14 1951) (Leipzig) Großer Duden ( 14 1954) (Wiesbaden) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Couch (breite Liegestatt mit niedriger Lehne) Kautsch [Langliege] Couch (breite Liegestatt); T auch Kautsch Kautsch {eindeutschende Schreibweise für: Couch) Kautsch {eindeutschende Schreibweise für: Couch; breite Liegestatt mit niedriger Lehne) <?page no="393"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 393 Dass die Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) aus Wiesbaden der zeitlich vorausgehenden Leipziger Auflage ( 14 1951) manches nachempfunden hat, ist oben (vgl. 3.1.3.1) bereits deutlich geworden. Und auch, dass nicht nur Couch der 1954 vermehrten Streichung zum Opfer fällt. 208 Nun könnte einer sagen: Die Zusammenstellung oben zeigt doch geradezu an, dass Kautsch aus Rust (1944) stammt. Und das Gleiche gilt dann wohl auch für Kanaille, Kognak und Kupon, die im Zusammenhang mit den Auflagen von 1951 (Leipzig) und 1954 (Wiesbaden) bereits bekannt geworden sind. Die Überprüfung ergibt zunächst: In Rust (1944) findet sich weder Canaille noch Kanaille-, verzeichnet sind Coupon, nicht aber Kupon, sowie Kognak, nicht aber Cognac. Also immerhin Kognac, könnte man sagen. Doch die Duden-Geschichte dieses Wortes ist so alt wie ‘der Duden’ selber und beginnt in Duden (1880) unter Rückgriff auf Amtliches (vgl. dazu ausführlicher unten 4.1.1.2 (2)). An dieser Stelle ist wichtig: Schon im Kleinen Duden ( 2 1939) findet sich nur noch Kognak, wie dann in Folge in ( l2 1941) und ( 12 1942) des Großen. 1944 kommt Rusts Kognak ins Spiel. In der Duden-Rechtschreibung ( 13 1947) findet sich ebenfalls nur Kognak, in der Leipziger Auflage ( 14 1951), wie oben (3.1.3.1) schon erwähnt, das Splitting Cognac (Stadt in Frankreich) und Kognak (Weinbrand). Allein diese Fälle zeigen: Eines Rusts bedurfte es hier nicht, zumal in beiden Redaktionen nach dem Kriege kein Exemplar vorhanden war. Eigentlich könnte man hier diese Geschichte über Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) und Rust (1944) abschließen und das Kapitel 3 nunmehr endgültig beenden. Dies umso mehr, als das vorbehaltliche wahrscheinlich von oben nunmehr verstärkt werden kann: Grebe hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (die inhaltliche Regelung in) Rust (1944) nicht gekannt. Doch trotzdem: Das letzte Quäntchen Zweifel ist im Folgenden noch zu beseitigen, wobei dies in gewisser Weise nur relativ gelingt. 208 Erinnert sei daran, dass schon auf der Arbeitsbesprechung in Konstanz im November 1952 Schreibungen wie Klaun, Ingeniör, graziös und eben auch Kautsch im Gespräch sind (vgl. oben 3.2.1.2 (1)). <?page no="394"?> 394 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 3.3 Grebe: Kenntnisse von Rust (1944)? - Rust alias Basler! Verfolgt man die von Böhme (1995) eingeschlagene Untersuchungsrichtung mit nur einiger Konsequenz an weiteren, eher zufällig ausgewählten Fallgruppen, so verengt sich der Anteil an inhaltlicher Übereinstimmung erheblich und schrumpft ganz schön zusammen. Der Rückgriff auf die Reformebene und auf Grebes Aktivitäten führt zu der Erkenntnis, Grebe hat Rust (1944) wirklich nicht gekannt (vgl. 3.3.1). Die genauere Prüfung der Fremdwortregelung in Baslers „Deutsche Rechtschreibung“ (Basler 1948) ergibt, dass dieser Rusts Regelung insgesamt unverändert übernommen hat; Anlass genug, Recherchen über die Entstehung seines Buches anzustellen (vgl. 3.3.2). Diese frappierende Kehre lässt im Rückblick einiges von dem, was bisher dargestellt worden ist, aus einer neuen, erweiterten Sicht betrachten (vgl. 3.3.3). 3.3.1 Hätte Grebe (die inhaltlichen Regelungen in) Rust (1944) wirklich gekannt: Vieles wäre anders gelaufen, als es denn dann war Die langzeitige Diskussion der Regelung bestimmter Fallgruppen von Konstanz 1952 über Stuttgart 1954 bis hin zu Wiesbaden Oktober 1958 mit Grebes intensiver und in Wiesbaden wachsend dominanter Beteiligung an ihr führt zu Lösungen, die inhaltlich grundsätzlich mit denen in Rust (1944) übereinstimmen, während die Regelung in der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) anders ist (vgl. 3.3.1.1). Bezieht man Grebes Aktivitäten und seine Argumentationsweise mit ein, so ergibt sich: Grebe hat trotz seiner anders lautenden Behauptungen, und hier jetzt ohne jeglichen Vorbehalt, (den Inhalt von) Rust (1944) nicht gekannt; ja: er kann ihn gar nicht gekannt haben (vgl. 3.3.1.2). In Folge erweist sich Böhmes Deutung als falsch und es ist eine weitere Frage an Kopke zu richten (vgl. 3.3.1.3). 3.3.1.1 Regelungen im Vergleich: Diskussion bis hin zu Wiesbaden 1959 - Rust (1944) - Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) Den Ausgangspunkt bildet der Werdegang der Regelung bestimmter Fallgruppen von Konstanz November 1952 bis hin zu Wiesbaden 1959, wobei natürlich auch hier Personen im Spiel sind. Die Fallgruppen sind: Komma vor undbzsN. oder, Trennung von s-t und die der Gruppe um da-ran; Schreibung der Fallgruppe um Schiffahrt, fettriefend, die der mehrgliedrigen Stra- <?page no="395"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 395 ßennamen und (dies im Vorgriff auf weiter unten 3.3.2.1) die Schreibung der Fremdwörter. Der dann folgende Vergleich bezieht sowohl Rust (1944) als auch die Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) mit ein und ergibt: Die Reformvorstellungen und Rust (1944) stimmen mit einer Ausnahme inhaltlich grundsätzlich überein, in der Duden-Rechtschreibung ( l4 1954) sind die Regelungen aller Fallgruppen entschieden anders, die Rust-Regelungen sind insgesamt nicht übernommen. Auch im Folgenden beziehen sich die Nachweise I und II + Seitenzahl auf Band I bzw. Band II von Strunk (Hg.) (1998). (1) Vier Fallgruppen: Ihre Regelung bis hin zu Wiesbaden 1959 Fallgruppe (1) - Komma vor und bzw. oder. Der Weg der Diskussion der Fallgruppe Komma vor und bzw. oder über die Stuttgarter Empfehlungen von 1955 bis hin zu den Wiesbadener Empfehlungen von 1959 bei ständiger Kommemoration der wenig streitigen kommalosen Regelung ist lang und führt, wie auch in den unten folgenden anderen Fällen, assoziativ zu dem Bild einer rekursiv verlaufenden Schleife bzw. einer sich allmählich hochschraubenden Spirale: Juni 1953 Salzburg: Grebe übernimmt das Thema „Vereinfachung der Kommaregeln“ zur Bearbeitung (I, S. 53, 59, 78) —» November 1953 Schaffhausen: längere „Ausführungen von Dr. Grebe“ (I, S. 92f.) —» Mai 1954 Stuttgart: „Ausführungen von Dr. Greve [sic]“ (I, S. 111) —» Grebes Aufsatz (1955, S. 106f.) => Stuttgarter Empfehlungen (1955, S. 127) =>=> =>=> Juli 1958 Wiesbaden: „Gesprächsgrundlage für Punkt 1 der Tagesordnung, Zeichensetzung, bildet die vorher allen Mitgliedern zugegangene Ausarbeitung von Herrn Dr. Grebe“ (II, S. 117ff.; vgl. auch den Bericht des Ausschusses vom 1.9. 1958; II, S. 131f.) —> 13. Oktober 1958 Wiesbaden: Grebe erläutert ausführlich den Bericht (Schlußsitzung des Ausschusses; II, S. 201ff.) —» 14. Oktober 1958 Wiesbaden: Grebe: „Meine Ausarbeitung hierzu ist bekannt“ (Schlußsitzung des Plenums; II, S. 212f.) => Wiesbadener Empfehlungen (1959, S. 16) Fallgruppen (2) - Trennung s-t und da-ran usw.: Die Diskussion über die Trennung von s-t, über die der Fallgruppe um da-ran, hi-naus und he-ran und damit über diese zwei Reformschritte nimmt nahezu denselben, wenn auch bereits 1952 in Konstanz einsetzenden Verlauf wie oben der Komma- Fall. Dabei ist die Trennung s-t kaum umstritten; bei der Gruppe um da-ran werden anfangs in Wiesbaden zwar einige Fälle wie etwa heran als proble- <?page no="396"?> 396 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform matisch angesehen, aber letztlich dann doch wie jenes getrennt. Der Weg im Einzelnen stellt sich wie folgt dar: November 1952 Konstanz: Fens-ter; da-ran, wa-rum (I, S. 36) -4 Juni 1953 Salzburg: Fens-ter; hi-naus, da-ran (I, S. 53, 78) —> November 1953 Schaffhausen: s-t; hi-naus, da-ran (I, S. 92) —» Mai 1954 Stuttgart: Beibehaltung der Schaffhausener Formulierung (I, S. 111) —> Klappenbachs Aufsatz (1955, S. 96f): Wes-te, Kis-te; da-ran, hi-naus usw. => Stuttgarter Empfehlungen (1955, S. 126): Kas-ten; hi-naus, da-ran =>=> =>=> Juni 1958 Wiesbaden: Wes-te', da-ran, her-an (II, S. 149) —» September 1958 Wiesbaden: Wes-te', da-ran, her-an (Bericht des Ausschusses; II, S. 157) —> 14. Oktober 1958 Wiesbaden: s-t; he-ran ? (Schlußsitzung des Ausschusses, Beginn 9 Uhr; II, S. 206f.) —> 14. Oktober 1958 Wiesbaden: s-t; da-ran, he-ran usw. (Schlußsitzung des Plenums, Beginn 10.30 Uhr; II, S. 230, 236) => Wiesbadener Empfehlungen (1959, S. 18): Wes-te; da-ran usw. Fallgruppe (3) - Schiffahrt oder Schifffahrt usw.: Auch die Fallgruppe um Schiffahrt oder Schifffahrt, Schifffracht oder Schiffracht einschließlich der Regelung ihrer Trennung (Tr 2 oder 3 = bei Trennung 2 bzw. 3 Buchstaben) wird über die Zeit hin regelmäßig, intensiv und zudem kontrovers erörtert: November 1952 Konstanz: Schiffahrt, fettriefend', Tr 3 (I, S. 32) —» Juni 1953 Salzburg: Schifffahrt, ohne ein Beispiel des Typs fetttriefend (I, S. 57, 79) —> November 1953 Schaffhausen: wie in Salzburg, ohne Beispiele (I, S. 89) —» Mai 1954 Stuttgart: „entgegen den Salzburger und Schaffhauser Empfehlungen“ wie in Konstanz nur 2 Buchstaben, ohne Beispiele [Schiffahrt, fettriefend]', Tr 3 (I, S. 113, 123) —> Klappenbachs Aufsatz (1955, S. 97): „die Silbentrennung läßt den dritten von drei gleichen Konsonanten wieder auftreten“ [Schiffahrt, Papplakat] Schifffahrt, Pappplakat', Tr 3 => Stuttgarter Empfehlungen (1955, S. 125): Schiffahrt, Papplakat, Tr 3 =>=> =>=> Juni 1958 Wiesbaden: Schiffahrt, Sauerstofflasche', Tr 2 I (I, S. 149) —> September 1958 Wiesbaden: wie im Juni (Bericht des Ausschusses; II, S. 158) 14. Oktober 1958 Wiesbaden: wie im September, ohne Beispiele, „bei Mißverständnissen der Bindestrich“ [Werkstatt-Akte Werkstatt-Takte (II, S. 228)] (Schlußsitzung des Ausschusses, Beginn 9 Uhr; II, S. 206f.) —» 14. Oktober 1958 Wiesbaden: Schiffahrt, Tr 2 (Schlußsitzung des Plenums, Beginn 10.30 Uhr; II, S. 227-230) => Wiesbadener Empfehlungen (1959, S. 18): Schiffahrt, Sauerstofflasche', Tr 2 Im Unterschied zu den Fallgruppen (1) und (2) ist hier die Regelung sehr umstritten. Das zeigt sich in den langen Diskussionen, in denen die verschiedensten Möglichkeiten (die Rede ist von bis zu vier; II, S. 227f.) hin und her gewendet werden; <?page no="397"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 397 in den inhaltlich voneinander abweichenden Beschlüssen speziell der Jahre 1952 bis 1955; in den, bezogen auf die Trennungsregelung, dann punktuell unterschiedlichen Endergebnissen in Stuttgart 1955 (Tr 3) und Wiesbaden 1959 (Tr 2). Vier Möglichkeiten? Aus Abb. 45 ergibt sich, dass es unter Berücksichtigung der verschiedenen Möglichkeiten bei der Trennung theoretisch fünf grundsätzliche Arten der Regelung gibt. 209 Bezieht man den Bindestrich als generelle Schreibung mit ein, wie es schon Adelung (1782, S. 790) empfiehlt, um das Auge nicht durch drei gleiche Zeichen zu verletzen, also Bett- Tuch u. dgl. (nach Wilmanns 1880, S. 117), sind es sechs; sieht man ihn nur zur Vermeidung von Missverständnissen vor vergleiche oben (Wiesbaden 14. Oktober 1958; II, S. 206f.) das für sich selbst sprechende Beispiel Werkstatt-Akte vs. Werkstatt-Takte -, so erhöht sich die Zahl auf insgesamt elf (= 5 ohne + 5 mit Vermeidungs-Bindestrich + 1 generell Bindestrich), wenn ich das richtig sehe und richtig gezählt habe. Kombinationen Trennung a) Schiff + Fahrt b) Schiff + Fracht a) Jiff fffr Tr 2 oder Tr 3 T 3 ff ffr Tr2 oder Tr 3 fff fffr Tr 3 mit Bindestrich Trennungsstrich ff-F ff-Fr bei Missverständnissen generell Abb. 45: Drei gleiche Konsonantenbuchstaben: Regelungsmöglichkeiten In der anderenorts beobachteten Praxis sind, ohne Berücksichtigung des Bindestrichs, sieben Arten festgestellt worden (vgl. Mentrup i.Vorb.). Die Differenz erklärt sich daher, dass für den Typ a) wie Schif{f)fahrt an zwei Teilgruppen gebundene unterschiedliche Schreibungen vorgesehen sind (so in Konferenz 1876 und Preußen 1880ff.) oder aber für alle einschlägigen 209 Noch theoretischer gedacht wäre z.B. auch Schifffahrt vs. Schiffracht möglich oder auch in Abb. 45 Zeile 3 die Trennung T2. Aber spätestens da macht die Theorie nun wirklich wenig Sinn oder endgültig keinen Sinn mehr. <?page no="398"?> 398 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wörter durchgängig Varianten (so entsprechend der Vorlage der 2. Orthographischen Konferenz von 1901 und deren Festlegung etwa in Preußen 1902). Fallgruppe (4) - Straßennamen: Eine auf dem ersten Abschnitt des Weges, d.h. bis hin zu den Stuttgarter Empfehlungen mehrfach, wenn auch in nicht wenigen Einzelfällen wenig konsequent diskutierte Fallgruppe ist die der mehrgliedrigen Straßennamen. Dazu die folgende Übersicht: 210 Typ a (Typenmarkierungen WM) mit eingliedrigem Bestimmungswort: Für den Typ al Hohe Strasse wird „eine Entscheidung zunächst nicht getroffen“, doch die mit zunächst in Aussicht gestellte erneute Befassung mit ihm bleibt aus. Endet der „erste Bestandteil auf -er“ (Typ a2.1), dann soll „stets zusammengeschrieben werden“, also Tirolerstrasse. Dies wird dann als einziges Beispiel in die allgemeinere) Regel eingebaut, dass bei eingliedrigem Bestimmungswort (Typ a) grundsätzlich zusammenzuschreiben ist (I, S. 52; was dann ja auch für den Typ al gelten müsste, worauf aber nicht eingegangen wird). Gegenüber dem Typ a2.1 wird für den Typ a2.2, mehrgliedriges Grundwort, von Frings die Getrenntschreibung vorgeschlagen, also Mainzer Landstrasse (I, S. 91). Im Entwurf der Empfehlungen (I, S. 129) wie dann auch in diesen selbst (I, S. 134; Stuttgarter Empfehlungen 1955, S. 126) wird die allgemeine Regel für Typ a, mit eingliedrigem Namen, wiederholt, doch als Beispiele finden sich, als neuer Typ a3, u.a. Bahnhofstrasse, Goethehaus, Karlsschule, wobei sich die Schreibung -strasse bis in den Entwurf hinein hält und erst in den Empfehlungen -Straße zu finden ist. Alle anderen Typen tauchen nicht mehr auf. Typ b: „Bei mehrgliedrigen Bestimmungswörtern tritt nur vor das Grundwort der Bindestrich“, also Albrecht Dürer-Platz (I, S. 52). Der Antrag von August Steiger (Schweiz), hier „zwischen jedem Glied den Bindestrich zu setzen“, also Albrecht- Dürer-Platz, wird abgelehnt (I, S. 91). Und dabei bleibt es dann auch (I, S. 129, 134; Stuttgarter Empfehlungen 1955, S. 126), wobei hier vermerkt wird, dass diese Festlegung „entgegen der bisherigen Regelung“ getroffen ist. Über diese Gruppen hinaus bietet sich als weitere die Schreibung der Fremdwörter, die oben (vgl. 3.2.1.2) unter dem Gesichtspunkt ‘zentrales Begegnungsfeld für Basler und Grebe’ behandelt wurde, auch in diesem Zu sammenhang an und drängt sich geradezu auf. Doch damit kommt ein eigentümlicher Abschnitt der Entwicklung mit einer frappierenden Wende ins Bild, der bzw. die weiter unten gesondert dargestellt wird. 210 Vgl. Strunk (Hg.) (1998, Bd. I, S. 52, 77, 90ff„ 111, 117, 129, 134) => Stuttgarter Empfehlungen (1955, S. 126). <?page no="399"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 399 (2) Im Vergleich: Rust (1944) und Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) Der Vergleich ergibt: Die Regelungen der Fallgruppen (1) bis (3) sind in Rust (1944) inhaltlich grundsätzlich gleich den oben referierten, unterschiedlich zu beiden sind die in der Duden-Rechtschreibung ( i4 1954); bei der Regelung der Fallgruppe (4) ist zu differenzieren. Im Einzelnen: (1) Vor und bzw. oder zwischen gleichgeordneten Hauptsätzen grundsätzlich kein Komma (Rust 1944, S. 20) wie oben durchgängig; anders Duden- Rechtschreibung ( 14 1954): grundsätzlich Komma. (2) Trennung von s-t wie oben durchgängig sowie der Fallgruppe um daran, hi-naus und he-ran (Rust 1944, S. 15) wie oben grundsätzlich durchgängig und dann als Endergebnis; anders Duden-Rechtschreibung ( 14 1954): st nicht getrennt, dar-an, hin-aus. (3) Schiffahrt, fettriefend wie in Stuttgart und in Wiesbaden, wie in Stuttgart mit Tr 3 Schifffahrt, fett-triefend (Rust 1944, S. 11, 16); demgegenüber Wiesbaden mit Tr 2; anders Duden-Rechtschreibung ( 14 1954): Schiffahrt, fetttriefend mit Tr 3. (4) „F. Die Schreibung der Straßennamen“ (Rust 1944, S. 15; § 24 Regeln 1 bis 4). Typen Auf dem Weg (1): Stuttg. Empf. (1955) Rust (1944), § 24 al Hohe + Straße keine Entscheidung (52) 3. Kurze Straße a2.1 Tiroler + Straße Tirolerstraße (52) 3. Leipziger Straße a2.2 Mainzer + Landstraße Mainzer Landstraße (21) kein Beispiel a3 Bahnhof + Straße Goethe + Haus Karl + Schule Bahnhofstraße Goethehaus Karlsschule (129) Bahnhofstraße Goethehaus Karlsschule 1. Bergstraße Bismarckstraße Karlsplatz b[l] Albrecht - Dürer + Platz Albrecht Dürer-Platz (52) Albrecht-Dürer-Platz (21) Albrecht Dürer-Platz 2. Friedrich-August- Brücke b[21 4. Unter den Linden An der Märchen- 1 Doch analog zu Leipziger Straße getrennt, also Mainzer Landstraße. Abb. 46: Schreibung der Straßennamen <?page no="400"?> 400 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Die Gegenüberstellung dieses Abschnitts aus Rust und der Erörterung bis hin zu den Stuttgarter Empfehlungen (vgl. Abb. 46) spricht für sich selbst und macht eine Kommentierung im Einzelnen überflüssig. Insgesamt wird deutlich, dass in Rust (1944) nicht nur eine vollständigere, sondern zudem eine in mehrfacher Hinsicht überzeugendere Regelung vorliegt. 211 (3) Zur Diskussion von Konstanz bis hin zu Wiesbaden Die Diskussionen all dieser Fallgruppen über einen doch langen Zeitraum hin vermitteln den Eindruck, dass die Beteiligten den jeweiligen Gegenstand neu und so recht von Grund auf angehen. Vor allem die Diskussion der Fallgruppe Straßennamen und verstärkt ihr doch recht kümmerliches Ergebnis zeigen, dass bereits seit längerem vorliegende und dabei weitaus systematischere Darstellungen so in Rust 1944, aber zuvor schon in Duden-Rechtschreibung ( 12 1941) und dann auch in Duden-Rechtschreibung ( 13 1947), die ihrerseits wiederum gewissermaßen gemeinsame Eltern oder auch Großeltern haben (dazu ausführlicher Mentrup i.Vorb.) offensichtlich nicht zur Klärung beigezogen werden. Das ist nicht nur merkwürdig, sondern wirkt auch extrem dilettantisch. 3.3.1.2 Schlussfolgerung I um 1955: Grebe kann Rust (1944) nicht gekannt haben Böhme (1995, S. 331) spricht auch den Aufsatz mit dem Reformvorschlag zur Interpunktion an, den Grebe 1955 im Zusammenhang mit den Stuttgarter Empfehlungen veröffentlicht und in dem er dafür plädiert, „daß künftig auch beigeordnete Hauptsätze, die durch >und< bzw. >oder< verbunden sind, ohne Komma stehen“ (Grebe 1955, S. 107). Rust allgemein wie auch die in diesem Falle grundsätzlich gleiche Kommaregelung in Rust (1944) (dort auf S. 20) wird, so Böhme zutreffend, von Grebe auch in seinem Aufsatz nicht erwähnt, was nach jenem, wie oben schon gesagt, „wahrscheinlich [...] auf die Unkenntnis der Detailfestlegungen im amtlichen Regelbuch von 1944 zurückzuflihren“ ist. 211 Zudem sei festgestellt, dass auch die Regelung von Abkürzungen in Duden-Rechtschreibung ( M 1954) nicht aus Rust (1944) übernommen ist, sondern dass beide Werke hier in einer gemeinsamen Tradition stehen, die weit zurückreicht (zu dieser Tradition wie auch zu der anderer Fallgruppen vgl. Mentrup (i.Vorb.). <?page no="401"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 401 Ich halte dies, vorsichtig gesagt, für äußerst unwahrscheinlich und damit Böhmes Deutung für alles andere als plausibel. Erinnert man, dass Grebe auch zu dieser seiner Zeit Rust (1944) für amtlich hält, und setzt man mit Böhme voraus, dass Grebe dieses Buch inhaltlich zumindest in groben Zügen kennt, so ist nur schwer einzusehen, dass Grebe ausgerechnet die Regelung dieser für ihn so wichtigen Fallgruppe in Rust (1944) überlesen oder übersehen, dass er sie insbesondere und spätestens im Zusammenhang mit seinem Aufsatz 1955 nicht gezielt nachgeschlagen, dass er gerade hier einen punktuell inhaltlichen Blackout gehabt und dass er sich im Verlauf der langen Zeit seiner intensiven Beschäftigung mit der Zeichensetzung und seiner auch auf diesem Feld zielstrebigen Aktivitäten (Juni 1953 Salzburg bis Oktober 1958 Wiesbaden) nicht ein einziges Mal allgemein und dunkel erinnert haben soll: Da ist doch irgendwie irgendwo schon etwas gewesen? Die ersten Zweifel an Böhmes Deutung werden bestätigt und massiv verstärkt durch den oben durchgeführten Verfolg seines Ansatzes mit Blick auf weitere Fallgruppen und dem erzielten Ergebnis. Mag es ja wirklich schon einmal Vorkommen, dass du bei der Fektüre selbst eines für zentral gehaltenen, weil als amtlich angesehenen Orthographiebuches eine Detailfestlegung übersiehst oder dass du dich in der Diskussion, gewissermaßen im Eifer des Gefechtes, an eine dir an sich bekannte Fallgruppenregelung im Moment in ihren Details nicht mehr erinnerst mag das ja alles durchaus so sein, so ist es jedoch nichts weniger als plausibel und niemandem mehr plausibel zu machen, dass dies bei Grebe bezüglich aller oben angeführten Gruppen so gewesen sein soll. Die so passend kongruenten Regelungen insgesamt für die Fallgruppen (1) bis (3) und die überzeugende(re) für die Fallgruppe (4) in Rust (1944), all dies kann die Kenntnis des Inhalts dieses Werkes zumindest in groben Zügen vorausgesetzt nicht, und dies über einen so langen Zeitraum, einfach so nicht präsent sein. Das will, das kann nicht zusammenpassen. Wenigstens an die eine oder auch an eine andere Regelung hätte sich Grebe, wenn auch zunächst nur vage und dunkel, erinnern müssen mit der Folge, diese und dann auch andere gezielt nachzuschlagen. <?page no="402"?> 402 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Grebe hat das von ihm als amtlich deklarierte Rechtschreibbuch Rust (1944) effektiv nicht gekannt. Ja, er kann es nicht gekannt haben, was sich paradoxerweise daraus ergibt, dass er, wie gezeigt, auf der Reformschiene die Regelung zahlreicher Fallgruppen vorbereitet und/ oder (mit) erarbeitet und am Ende eines langen Weges und nach vielen Jahren durchsetzt, die denen in Rust (1944) inhaltlich entsprechen. Und weiter unten wird Grebe diese seine Unkenntnis von Rust (1944) selbst, wenn auch indirekt, eingestehen und bestätigen. Hätte Grebe Rust und dessen Regelung wirklich gekannt die ganze Diskussion in den 50er-Jahren wäre völlig anders verlaufen und Strunk hätte 1992 eine völlig andere und sicherlich viel kürzere Geschichte zu schreiben und 1998 weitaus weniger zu dokumentieren gehabt. Die Mühen, denen Grebe sich selbst wie auch die jeweiligen Gremien bei der Vorbereitung, der Begründung und bei der Ausarbeitung dieser Reformpunkte unterworfen hat, hätte er allen Beteiligten und sich selbst spätestens 1955, dem Jahr auch der Eingabe der Dudenredaktion an die KMK, leicht ersparen können. Und zwar durch den schlichten Hinweis: All diese Fälle seien nicht nur im Sinne nahezu aller damals Beteiligter seit 1944 geregelt, sondern ihre vorgegebene Regelung, in der letzten amtlichen Verfügung mit dem höchst-amtlichen Siegel ausgezeichnet, sei ja darüber hinaus bereits seitdem und damit seit längerem allgemein verbindlich. Doch einen solchen, das Verfahren enorm verkürzenden Hinweis habe ich nicht gefunden. Es hätte, und das wäre der eine Weg gewesen, im Wesentlichen ausgereicht, die Regelung dieser und möglicherweise weiterer Gruppen im für ihn ja amtlichen Rechtschreibbuch von 1944 zu belassen und vorzuschlagen, insbesondere den Bereich der Groß- und Kleinschreibung im Sinne der damals so genannten gemäßigten Kleinschreibung zu reformieren. Die Berufung auf Rust (1944) als den amtlichen Kronzeugen hätte für ihn allein schon aus inhaltlichen und verfahrensverkürzenden Gründen, so wie er es dann auf dem anderen Feld in der Eingabe aus orthographisch politischen Gründen getan hat, nicht nur schlicht nahe gelegen, sondern diese Berufung hätte sich auch ihm nicht nur aufdrängen müssen, sondern wäre von Grebe, dem Fuchs und dem Taktiker, mit Sicherheit nicht unterlassen worden. Zumal er, anders als andere, sowohl keine Scheu vor der Vergangenheit dieser letzten amtlichen Verfügung hatte, wie die Eingabe mit der taktisch zentral wichtigen Berufung auf das von einem nationalsozialischen Ministerium <?page no="403"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 403 herausgegebene Rechtschreibbuch 1944 zeigt, als auch keine Scheu vor seiner eigenen Vergangenheit zu haben brauchte, wie seine Biographie ausweist. Hätte Grebe das Rechtschreibbuch von 1944 wirklich gekannt und bestünde die von ihm behauptete inhaltliche Übereinstimmung zwischen diesem und der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) wirklich, dann hätte er ja der Einfachheit halber, und das wäre der andere Weg gewesen, gleich die einschlägigen Passagen aus dieser übernehmen können. 3.3.1.3 Schlussfolgerung II 1995: Böhme irrt - Eine weitere Frage an Kopke So, wie es Böhme (1995) sieht, ist es nicht gewesen; so kann es nicht gewesen sein. Auch hier zeigt sich: Der konsequente(re) Verfolg eines punktuellen oder auch eines (zu) schmalen, weil eklektizistischen Ansatzes wie bei Böhme (1995) führt über die zunächst quantitative Anreicherung gleichstrukturierter, weil in bestimmten Merkmalen übereinstimmender Sachverhalte zu Zweifeln an den ursprünglich damit verknüpften Begründungen und daraus gezogenen Schlussfolgerungen sowie im Weiteren nicht selten zu einer qualitativen Kehre dieser bzw. jener im Sinne eines Widerspruchs, einer Widerlegung: So ist es nicht gewesen, so kann es nicht gewesen sein. Noch einmal zurück zu Kopkes Vorstellung von der Kontinuitäts- und Vermittlungsschiene Basler > Grebe: Wäre es so gewesen, wie es nach dem bisher Dargestellten ja nun nicht ist, dann müsste, in weiterer Konsequenz, Kopke sich die bzw. der Frage stellen, wieso Basler, der als Mitbearbeiter von Rust (1944) dessen inhaltliche Regelungen natürlich genauestens kennt, Grebe nicht darüber informiert haben soll, dass alles das, worum dieser sich im Verein mit anderen so langzeitig und intensiv bemüht, bereits in Rust (1944) vorgegeben ist. Ist damit auch in diesem Abschnitt 3.3.1, wie (am Schluss von 3.2.3.4) angekündigt, der höchstwahrscheinlich-^orbehalt und jeglicher Zweifel nunmehr aufgehoben bzw. beseitigt und ist damit das Ende der Geschichte über Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) und Rust (1944) nun eigentlich wirklich erreicht, so kann sie da sei Kohrt vor zum einen gerade an dieser Stelle doch noch nicht endgültig abgeschlossen werden. <?page no="404"?> 404 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Ein Abschluss hier an dieser Stelle wäre nach Kohrt (1997b, S. 315) ein "formale[r] Fehler bei der Dezimalgliederung“, der, „eng verbunden mit konzeptuellen Schwächen“, eine „eklatante Schwäche bei der Organisation“ einer Arbeit wie dieser wäre. Der Abschluss widerspräche der von ihm mit Bezug auf Stanze (1994a) aufgestellten Organisations-Maxime, „daß diejenige, die z.B. >10.2.l.< sagt, auch >10.2.2.< sagen muß“, die, angewendet auf diese Untersuchung, lautet, dass derjenige, der 3.3.1 sagt, auch 3.3.2 sagen muss wobei beide Formulierungen auf der wissenschaftlichen Ebene die zur Volksweisheit mutierte Konsequenz-Maxime paraphrasieren: Wer A sagt, muss auch B sagen. Indem ich also einen weiteren Abschnitt einrichte und damit auch B sage, entspreche ich Kohrts Forderung, dass „derartige Dinge [...] unbedingt ausgemerzt sein [sollten], bevor die Drucklegung der Arbeit erfolgt“. Zum anderen, und jetzt geht es um Inhaltliches, ist die Geschichte über Rust, Basler und Grebe trotz allem noch immer nicht bzw. immer noch nicht zu Ende, sondern wartet mit einer frappierenden Wende, mit einer Kehre von 180 Grad auf; wobei, in dem der doppelten Begründung entsprechend nunmehr folgenden Abschnitt, bestätigt wird, dass es wohl nichts zu geben scheint, was es in der Geschichte der Orthographie und ihrer Reform nicht gibt. 3.3.2 Rust (1944) entnazifiziert alias Basler (1948) - Zu dessen Entstehung Die in Wiesbaden im Oktober 1958 verabschiedete Regelung der Fremdwortschreibung zeigt deutlich Baslers Flandschrift sowie auch Grebes Korrekturen bezüglich ihres Geltungsumfangs. Die genauere Prüfung dieses Bereichs in Baslers „Deutsche Rechtschreibung“ (Basler 1948) ergibt, dass er Rusts Regelung nicht nur der Fremdwortschreibung, sondern insgesamt nahezu unverändert übernommen hat (vgl. 3.3.2.1). Dies ist Anlass genug, Recherchen über die Entstehung seines Buches und über Zeitumstände anzustellen (vgl. 3.3.2.2) sowie ausweitend historische Spuren zurückzuverfolgen (vgl. 3.3.2.3). <?page no="405"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 405 3.3.2.1 Fremdwortschreibung Basler (1948) - Rust (1944) alias Basler (1948): Entnazifizierte Identität Erinnert sei an einige Aspekte der Diskussion des Themenfeldes Fremdwortschreibung von Konstanz (November 1952) an bis hin zur Schlusssitzung des Plenums in Wiesbaden (Oktober 1958), was oben (vgl. 3.2.1.2) unter dem Gesichtspunkt ‘zentrales Begegnungsfeld von Basler und Grebe’ ausführlicher dargestellt worden ist. Grundgelegt in Konstanz (November 1952) und von da an beibehalten ist die Einteilung der Fremdwörter in zwei Großgruppen, und zwar in solche griechischen Ursprungs insbesondere mit ph, rh und th (unten Grl) und in solche aus lebenden Sprachen (Gr2). Entsprechend durchgängig ist auch die parallel komplementäre Aufreihung jeweils einschlägiger Beispiele aus beiden Gruppen. Für beide Gruppen werden in Salzburg (Juni 1953) sehr weitgehende neue Regelungen vereinbart, die dann in Stuttgart (Mai 1954) in unterschiedlicher Weise jedoch eingeschränkt werden. Für die Wiesbadener Fortsetzung ergibt sich: Grl: Hier bringt Grebe in einem Rundschreiben vom 15.3.1957 die seit längerem diskutierte Alternative auf den Punkt: Systematische Umstellung auff r bzw. t in allen einschlägigen Wörtern (so Basler) oder, und so wird es dann auf Grebes Betreiben hin in Wiesbaden (Oktober 1958) beschlossen, in häufig gebrauchten Wörtern griechischen Ursprungs (von Grebe auf der Grundlage der Duden-Rechtschreibung 14 1954 als Auswahlliste vorgelegt). Dabei gilt: „Die bisherige Schreibung ist jedoch weiterhin zulässig.“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 126; 224 Plenum am 14.10.1958). Gr2: Hier schränkt Grebe im Juli 1956 den Umfang erheblich ein, und zwar auf die mit ‘jetzigen Doppelformen’ (von Grebe dann im März 1957 aus der Duden-Rechtschreibung 14 1954 aufgelistet und vorgelegt), die auf eine einzige, und zwar die eingedeutschte „künftige Schreibweise“, reduziert werden, so u.a. fär, Frisör, Kautsch, Klaun, Schofför, Träner, Tur, Turisf, speziell für die Wörter mit der französischen Endung -eur wird eine weiter reichende Empfehlung ausgesprochen (Wiesbaden Oktober 1958). Es wird in zwei einander entgegengesetzten Richtungen verfahren: Sind oder ist, nach Auskunft Grebes, schon in der 14. Auflage der Duden- Rechtschreibung 1954 zahlreiche (Juli 1956; Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 120) bzw. ein grosser Teil (März 1957; ebd., S. 123) der Doppelformen des Typs Gr2 beseitigt, so ist die Reduktion aller übriggebliebenen (Oktober <?page no="406"?> 406 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1958; ebd., S. 224) aufjeweils nur eine Schreibung die konsequente Vollendung des 1954 eingeschlagenen Kurses und es ist die letzte oder höchste Stufe der Reihe der Steigerung faktisch erreicht. Das Problem der Doppelformen besteht, bezogen auf die Liste aus der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954), nicht mehr; wobei die Einzelbeobachtung angemerkt sei, dass die erstmals in der 14. Auflage aufgenommene Schreibvariante Schef (eindeutschend für Chef) und damit das Paar Chef Schef in Grebes vorgelegter Liste nicht zu finden und von ihm wohl übersehen ist. Dazu gegenläufig wird bei Grl mit der eingedeutschten Schreibung unter gleichzeitiger Beibehaltung der bisherigen konsequent jeweils ein Variantenpaar installiert und damit hier das sog. Problem der Doppelformen neu festgeschrieben. Insgesamt auch eine Form von Kompensation. Für Grl hat sich die von Basler vertretene Regelung mit einem umfassende(re)n Geltungsgrad 1958 in Wiesbaden nicht durchgesetzt. Doch ist diese, laut Grebes Feststellung (März 1957; Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 122), von Basler in seinem Deutschen Rechtschreibbuch, München 1951 verwirklicht; und zwar, das sei hier ergänzt, schon in dessen Erstausgabe Basler (1948). Deshalb ein kurzer Blick auf Baslers Regelung der Fremdwortschreibung (Kursive der Beispiele WM). Im Abschnitt „Ratschläge zur Benutzung des Wörterverzeichnisses“ (Basler 1948, S. 100) heißt es einleitend unter Punkt 7 grundsätzlich und damit übergreifend: „Im Regelteil wird die Eindeutschung der Fremdwörter empfohlen.“ 212 In einer ersten Konkretisierung geht es um Grl: „Nach § 14,4 kann das h im th der Fremdwörter wegfallen (Matematik) und nach § 17,3 kann dasph durch/ ersetzt werden (Fantasie). So wird eine allmähliche Anpassung an die vereinfachte eingedeutschte Fremdwortschreibung vorbereitet. Die bisherigen Formen mit th und ph sind darum weiterhin zulässig und gleichberechtigt.“ (ebd.). 212 Die authentische Abfolge der im Weiteren von Basler in den Ratschlägen angesprochenen Details ist: ph und th. dann eur und am Schluss die Behandlung der Wörter mit ph und th im Wörterverzeichnis. Über rh wird dort nichts ausgesagt. <?page no="407"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 407 Die Zulässigkeits-Maxime wird im Regelteil in § 14. d, t, dt, th unter Punkt 4. th und im § 17. f, v, h unter Punkt 3. ph jeweils wiederholt: Die bisherige Schreibweise mit h bzw. mit ph ist weiterhin zulässig (ebd., S. 10 bzw. 11). Am Ende des Kapitels über die Fremdwortschreibung und dort des § 30 wird der ansonsten nicht einbezogene Fall rh gewissermaßen nachgetragen: „Die Buchstaben ph und th in Fremdwörtern werden durch f und t ersetzt; auch das h nach r fallt.“ Im Weiteren heißt es auch hier, und damit zum vierten Male: „Der bisherige Schreibgebrauch mit ph, rh und th ist weiterhin zulässig.“ (ebd., S. 20). Zur Behandlung dieser Gruppen im Wörterteil heißt es in den Ratschlägen: „Das Wörterverzeichnis fuhrt bei den Fremdwörtern mit th und ph, soweit der Raum es zuläßt, beide Schreibweisen auf, die bisherige und die vereinfachte.“ (ebd., S. 100) Beispiele aus dem Wörterteil: Phantasie, s. Fantasie - Fantasie, die [...^fantasieren, der Fantast', fantastisch. Philosoph, s. Filosof- Filosof der [...]; die Filosofie,filosofisch. Phosphor, s. Fosfor - Fosonr, der. „Der Raumersparnis wegen treten aber manche dieser Fremdwörter nur einmal als Stichwörter auf. Durch Einklammerung des h nach t und des ph nach / werden auch in solchen Fällen die alte und die neue Form als gleichberechtigt anerkannt.“ (Basler 1948, S. 100). Beispiele dafür aus dem Wörterteil: Paragraf(ph), Perif{ph)erie; T{h)unfisch, Pant(h)er; R(h)eumatismus. Gr2 wird in den Ratschlägen exemplarisch eingefuhrt: „Auch die Fremdwörter mit der Endsilbe eur werden in deutscher Schreibweise geboten (Frisör).“ (ebd.). Im Regelteil ist darüber nichts zu finden, wie auch nichts über die Eindeutschung weiterer Fremdwörter des Typs Gr2. Vergleicht man die oben, eingangs dieses Abschnittes, in Gr2 angeführten Beispiele mit den Einträgen in Baslers Wörterverzeichnis (= B), so ergibt sich eine weit reichende Übereinstimmung: für (B kein Eintrag), Frisör, Kautsch, Klaul (B Clown, s. Klaun), Schofför, Träner (B es folgt {Trainer)), Tur, Turist (B zudem auf Türen bringen). Einige Stichproben bei Basler im Vergleich mit Grebes Liste (= G; Rundrchreiben vom 15.3.1957; Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 124f.) ergeben Unterschiedliches: Remulade (B + G); Majonnäse (B) - Majonäse (G); souverän (B) suverän (G); Biskwit; Klicke - Clique, s. Klicke; Krom - Chrom, s. Krom; Miliö, Ragu, Tambur (B) keine Einträge (G); keine Einträge (B) - Rutinier, rutiniert (G). <?page no="408"?> 408 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Der Überblick bestätigt, dass bestimmte Vorstellungen in Baslers Buch auch im Wiesbadener Konzept enthalten sind - und zwar, wie oben bei der Darstellung des Werdegangs deutlich geworden ist, z.T. entweder direkt von Basler selbst in die Sitzungen eingebracht oder von Grebe mit Bezug auf Baslers Rechtschreibung dort vermittelt. 213 Die grundsätzliche Übereinstimmung zeigt sich in der Tendenz zur Eindeutschung, in der Grund-Gliederung in die Großgruppen Grl und Gr2 und hier in der besonderen Abhebung der Fallgruppe eur. Speziell bei Grl kommt dies zum einen in der Formulierung der in Wiesbaden mehrfach belegten Zulässigkeits-Maxime nahezu wörtlich zur Sprache: „Die bisherige Schreibung ist [jedoch] weiterhin zulässig.“ (Grebe im Rundschreiben 15.3.1957; im Vorspann der Auswahlliste und Plenum 14.10.1958 +jedoch', Strunk (Flg.) 1998, Bd. II, S. 121, 126 bzw. 224), sowie zum anderen in Gestalt der in Wiesbaden (Oktober 1958) pejorisierten „Klammerwörter“ ins Bild; dabei ist Grebes T(h)ermometer (ebd., S. 198) bei Basler im Wörterteil wohl aus Gründen der Einalph(f)abetisierung, die jedoch etwa für T(h)unßsch oder R{h)eumatismus offenbar nicht gelten in die zwei Einträge Termometer, das [...]; die Termosflasche - Thermometer, s. 7ermometer aufgelöst. Die am Ende beschlossene Regelung von Grl zeigt deutlich Baslers Handschrift, allerdings mit Grebes einschränkender Korrektur bezüglich des Geltungsumfangs. Auch bei Gr2 stimmen beide im Grundsatz überein. Baslers Regelung ist auch hier umfassender. Hier mag es sein, dass Grebe seinen 1954 eingeschlagenen Kurs der Variantenreduktion durch Baslers Regelung bestätigt sieht und sich darin bestärkt fühlt, ihn innerhalb des von ihm eingeschränkten Rahmens konsequent weiterzuverfolgen. Insgesamt ergibt sich, dass Grebe zumindest die Regelung der Fremdwortschreibung in Baslers Buch genau(er) kennt. Ob nun in Baslers umfassenderer oder in Grebes eingeschränkterer Form auch diese (Art von) Regelung ist nicht einfach so vom Himmel gefallen. Denn in der Geschichte der Orthographie, ihrer Regelung und der Diskussion ihrer Reform gibt es grundsätzlich nur wenig, wenn nicht sogar nichts, 213 Erinnert sei daran, dass u.a. Baslers Orthographiebuch (November 1952) in Konstanz als Arbeitsunterlage verteilt wird und dass Basler die in der Diskussion erörterten „Nahziele“ zu einer Vorlage zusammenfasst (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 35). Zu seinen und Grebes weiteren Auftritten und Beteiligungen vgl. im Einzelnen 3.2.1. <?page no="409"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 409 was es nicht jeweils vorher schon gab wenngleich man auch hier, wie im Leben sonst auch, vor Überraschungen nicht sicher sein kann. Und irgendwie spukt oder schwirrt es dir vage durch den Kopf, da ist doch irgendwo irgendwann schon mal etwas gewesen. Filosofie, Fosfor, Kautsch und Tränerl Die bisherige Schreibweise mit ph ist weiterhin zulässig? Diese Erinnerungsspur führt zurück zu Reumuths Artikel über Rust Mitte des Jahres 1944, zu oben 2.3.1 mit dem dort zusammenstellten Kurzreferat über diesen Artikel und noch weiter zurück zu 2.1.2.2 mit dessen Überschriften. Das frappierende Ergebnis: Eine umfassende Übereinstimmung mit Baslers Konzept bis hin zu der zentraler Formulierungen und Beispiele. Der nun zwangsläufig folgende Vergleich mit Rusts Orthographiebuch von 1944 ergibt: Basler hat dieses insgesamt nahezu unverändert 1948 im Oldenbourg Verlag (München) herausgebracht, auf der amtlichen Linie in Bayern untergebracht und dort langfristig bis 1960, bis zur 14. Auflage, fest etabliert. 214 Diese unerwartete Wende, diese scharfe Kehre musst du nun wirklich erst mal richtig verdauen, um die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, we- 214 Dass auch Rust (1944) die bei ihm Vorgefundene Regelung der Fremdwortschreibung nicht erfunden hat, ergibt ein flüchtiges Durchblättem des Abschnitts „1.2 Reforminitiative ab 1901“ in Jansen-Tang (1988, S. 65ff.): Die als Grl markierte Gruppe der Fremdwörter mit / ? , gelegentlich ergänzt u.a. um solche mit ch, wird nahezu regelmäßig gesondert geführt. So z.B. 1931 in Leipziger Lehrerverein (1931) und in Erfurter Rechtschreibprogramm (1931) der Deutschen Buchdrucker; so auch 1946 in den Berliner Vorschlägen Vorausschuss (1946) und in denen des bundes für vereinfachte rechtschreibung bvr (1946) (Jansen-Tang 1988, S. 75, 77, 85, 87). Und Gr2 wird entweder als solche intensional angeführt (Erfurter Rechtschreibprogramm 1931: „Eindeutschung der französischen und anderen häufig gebrauchten Fremdwörter.“) oder aber extensional durch Aufzählung einzelner Fälle bestimmt (bvr 1946: „Lautliche Angleichung: [...] <tion> zu <zion>, <y> zu <i> oder <ü>.“) (Jansen-Tang 1988, S. 77, 87). Schon diese Skizze zeigt und bestätigt: Auch Rust (1944) ist nicht einfach so vom Himmel gefallen und nach ihm folgen viele andere. Nicht nur für Verfasser solcher Reformpläne sind diese Fallgruppen hervorhebenswert, sondern auch für Reformkritiker, die bei aller grundsätzlichen Ablehnung speziell das h hinter r und t für entbehrlich halten, den Ersatz des ph durch/ befürworten wie auch den Wechsel von französisch eur zu ör (Rose 1946, S. 680; WD [= Walter Dirks] 1946, S. 681 nur das h hinter r; #3.13). Den Hinweis auf diese Artikel verdanke ich Michael Brodhäcker, früher IDS. <?page no="410"?> 410 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform nigstens halbwegs zu überschauen, und um zu prüfen, welche Auswirkungen dies im Rückblick auf das bisher Dargestellte hat. Die zum Überdenken notwendig längere Zeit wird durch die entsprechend umfangreichere Beantwortung der eher praktisch orientierten Fragen eingeräumt: Ist etwas darüber bekannt, wie es zu Basler (1948) und damit zu der Umpolung von Rust (1944) gekommen ist? Wie ist das oben kursiv gesetzte einschränkende „nahezu unverändert herausgebracht“ einzulösen? 3.3.2.2 Basler (1948): Entstehung - Zeitumstände (1) 1945 Oldenbourg Verlag: Verhandlungen und Vertragsabschluss - Spätes Erscheinen 1948 Basler hat es nach Kriegsende mit seiner Veröffentlichung offensichtlich sehr eilig. Das geht aus den in Abb. 47 ausgewerteten Briefen des Oldenbourg Verlages an Otto Basler 215 aus dem Jahre 1945 hervor (zu Basler insgesamt vgl. Steiger 2003). Zu der Zusammenstellung in Abb. 47 einige Bemerkungen: Bereits am 05.09.1945, also knapp fünf Monate nach der Kapitulation, 216 liegt der Entwurf eines Verlagsvertrages vor (Oldenbourg 1945/ 5.9.; BN VII.17; #3.14), der am 08.10.1945 mit einer Änderung, nämlich des Punktes 6 Honorierung, in Kraft tritt (vgl. Abb. 47 Nr. 1 und 2), wobei die ursprüngliche Fassung des Punktes 6 (mir) nicht bekannt ist. Nr. (1) Datum 05.09.45 Inhalt „Wortlaut des Vertrages zwischen Ihnen und unserem Verlag bez.des ’Regeln-und Wörterverzeichnisses“ [...]“, Entwurf mit Bitte (gegebenenfalls) um Klärung bzw. Unterschrift Rektor Dr. L[...] und Prof. Dr. M[...] B[...] wegen der Durchsicht oder Durchsprechung verständigt; Anlage: (Vertrag fehlt in Unterlagen; WM) Signatur BN VII. 17 #3.14 (2) 08.10.45 erklärt sich der Verlag bereit, die Honorierung für ’Regeln und Wörterverzeichnis der deutschen Sprache* Ihrem Vorschlag entsprechend zu regeln“; entsprechend Neufassung des Abschnitts 6 „Zu der von Ihnen gewünschten Auftragserteilung durch das Kultus-Ministerium können wir heute noch nicht BN VII. 16 #3.15 215 Aus dem Baslemachlass (BN) im IDS. 216 8. Mai 1945 gegenüber den Westalliierten, 9. Mai 1945 gegenüber Russland. Diese Daten verdanke ich Heidrun Kämper, IDS. <?page no="411"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 411 (3) (4) (5) 14.11.45 30.11.45 19.12.45 Stellung nehmen.“ Wunsch vorgetragen, noch nicht behandelt; „[...] im Auge behalten, um, wenn möglich, seine Erfüllung beim Ministerium durchzusetzen“ Anlage: ..Verlagsvertrag. Zwischen Herrn Professor Dr.O.Basler in München einerseits (nachstehend mit ’ Verfasser’ bezeichnet) und der Firma R.OLDENBOURG in München und Berlin andererseits(nachstehend mit ’ Verlag) bezeichnet) [...]“ (Vorspann) ..Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Sprache“ (Punkt 1); „Die erste Auflage wird in 50 000 ( fünfzigtausend) Stücken gedruckt ( Verkaufsauflage) unter der Voraussetzung, dass Papier für die Höhe der Auflage zur Verfügung steht.“ (Punkt 5) Vergütung von jedem Stück der Verkaufsauflage 5 Rpf., der Betrag von 3,6RPF. an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus „fallt ganz dem Verlag zu Last“ (Punkt 6) „infolge der Ausbootung des Herrn Oberregierungsrat B[...] immer noch kein Entscheid gefallen, ob das ’ Regel - und Wörterverzeichnis’ in Fraktur oder Antiqua gedruckt werden soll“; Bitte, „uns unter möglichster Beschränkung auf das ganz Unentbehrliche anzugeben, was Sie an Klammem und sonstigen Kennzeichen benötigen“; Absicht, aus „einer Giesserei“ entsprechendes Material zu erwerben, „weil ja unsere sehr reichen Bestände am 25.4.44 ganz und gar zerstört worden sind“; „es ist eben mit eine Kriegserscheinung, dass auch hier die Wünsche enge Grenzen haben“ „Der Herr Verfasser verpflichtet sich, dem Verlag die vollständige und druckfertige Arbeit bis spätestens 30.11.45 zu übergeben.“ (Verlagsvertrag Punkt 2; zur Nachfrist siehe unten Nr. 6) noch keine Klarheit „beim Kultusministerium über das Regel - und Wörterbuch“, die Angelegenheit noch nicht bearbeitet; „Das Verlagsrecht liegt zweifelsfrei bei R. Oldenbourg und ich habe nicht die Absicht, einem ideologischen Experiment des derzeitigen Ministers zuliebe, auf ein Recht zu verzichten, das [...] höchstens durch eine auf ein Parlament gestützte Regierung ausser Kraft gesetzt werden kann.“ „Aus Kohlenmangel schliessen wir am 21.12. ab 4 Uhr bis [...] 1.1.46.“ „Darf ich mir erlauben, unter Ihren Weihnachtsbaum das beiliegende Einblatt zu legen.“ Anlage: Verlagsvertrag. d^r ti/ „Regeln und Wörterverzeichnis fur-die deutsche^Sprache“ (Punkt 1; Korrekturen handschriftlich) Anlage: Verlagsvertrag BN VII. 19 #3.16 BN VII.16 Anlage BN VII. 18 #3.17 beiliegend: Einblatt Anlage: Verlagsvertrag <?page no="412"?> 412 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform (6) 31.01.46 Ende der vertraglich vorgesehenen Nachfrist für die Abgabe der druckfertigen Arbeit (Verlagsvertrag Punkt 2; siehe oben Nr. 4) BN VII. 16 Anlage (7) 04.09.53 „Soeben ist die 10. Auflage Ihres Werkes .DEUTSCHE RECHTSCHREIBUNG“ erschienen“, 5 Autorenexemplare; „in den letzten Tagen die 9. Auflage ausgegangen [...] und bereits die neue Auflage ausgeliefert“ BN VII. 15 #3.18 (8) 02.09.58 lOOster Geburtstag unseres Hauses, Festschrift; Werbemaßnahmen für unsere pädagogische Verlagsproduktion; „Gerne werden wir Ihnen zeigen, daß auch für Ihr Buch ständig unter der Lehrerschaft geworben wird.' BN VII. 13 #3.19 (9) 15.04.59 Honorarabrechnung für 1958 Deutsche Rechtschreibung, 9.266 verkaufte Exemplare, Ladenpreis DM 1,60, Honorar 7, 5% vom Ladenpreis, pro Exemplar -,12; insges. DM 1111,92 BNVII.il (Oldenbourg Verlag 1959/ 15.4.) (10) 27.11.59 Überweisung von 4.000 DM ohne Zweckbestimmung Übersendung u.a. Stanglmaier „Das kleine A-Z“ BN VII. 10 (Oldenbourg Verlag 1959/ 15.4.) (11) 15.04.61 Honorarabrechnung für 1960 Deutsche Rechtschreibung, 7.852 verkaufte Exemplare, Ladenpreis DM 1,80, Honorar 7,5% v. Ladenpreis, pro Exemplar -,135; insges. DM 1060 BN VII. 14 (Oldenbourg Verlag 1959/ 15.4.) Abb. 47: Oldenbourg Verlag an Otto Basler: Deutsche Rechtschreibung Die s-Schreibung sowie formale Eigentümlichkeiten auch in weiteren Zitaten sind authentisch. In mehreren Briefen kommt der ((Nach)kriegs)zeit-bedingte Versorgungsengpass als „Kriegserscheinung [mit der Folge], dass auch hier die Wünsche enge Grenzen haben“, zur Sprache: Zerstörung der reichen Bestände im April 1944 (Nr. 3) sowie 1945 Papierknappheit (Nr. 2) - „Die Versagung der Papier- oder Druckgenehmigung von seiten der zuständigen Behörde gilt als höhere Gewalt.“ (Verlagsvertrag 11) - und Kohlenmangel (Nr. 5). Der 30.11.1945 ist als Termin der Abgabe der vollständigen und druckfertigen Arbeit mit einer eingeräumten Nachfrist von zwei Monaten vertraglich festgelegt (Nr. 4 und 6). Vergleicht man diese zwei Termine mit den Daten des Vertrages, so ergibt sich für die Erstellung des Manuskripts ein Zeitraum von knapp drei bzw. fünf Monaten. Viel ist das gerade nicht, doch mag sich das dadurch erklären, dass Basler ja das fertige Rechtschreibbuch von 1944 in der Hinterhand hat. <?page no="413"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 413 Doch ohnehin kommt die Erstausgabe erst drei Jahre später, nämlich 1948 in der zweiten Jahreshälfte (dazu vgl. unten) auf den Markt. Ob diese starke Verzögerung durch Baslers Verzug bei der Abgabe der Arbeit, durch den Versorgungsengpass oder auch durch anderes bedingt ist, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Wird in dem Vertrag unter Punkt 5 die Druck- Stückzahl der ersten Auflage auf 50.000 festgelegt (Nr. 2), so weist die dann endlich 1948 erschienene Erstausgabe das Vierfache aus, nämlich 200.000 (Rückseite Titelblatt). Wird in dem Vertrag unter Punkt 6 die Vergütung pro Stück auch mit 5 Rpf. angegeben (Nr. 2), so ist sie 1948 entsprechend der im Juni dieses Jahres in den Westzonen durchgeführten Währungsreform und bestätigt durch „DM“ und „DPf‘ als Beispiele in Baslers Abschnitt über Abkürzungen (§ 28) in der neuen Währung gehalten, womit allein schon hierdurch die zweite Jahreshälfte von 1948 als Erscheinungszeitraum des Buches bestätigt ist. Das Honorar von 0,12 und 0,135 DM für die Jahre 1958 bzw. 1960 (Nr. 9 und Nr. 11) zeigt im Vergleich mit den 1945 vereinbarten 5 Rpf. deutlich die Auswirkung dieser Reform. Erinnert die ‘Zerstörung unserer sehr reichen Bestände’ im April 1944 (Nr. 3) an das Bibliographische Institut (BI) und die Dudenredaktion in Leipzig, die im Dezember 1943 und im Februar 1945 nahezu vollständig zerstört werden, wie auch an das gleiche Schicksal des Reclam Verlags (#1.9), so erinnert der ‘lOOste Geburtstag unseres Hauses’ im Jahre 1958 (Nr. 8) an den 135sten Geburtstag des BI im Jahre 1961 (vgl. 3.1.2.2). Als Geburtsjahre ergeben sich: Bl Leipzig 1826 und Oldenbourg Verlag 1858. Basler unterzeichnet nach dem 8.10.1945 den Verlagsvertrag (Abb. 47 Nr. 2) und veröffentlicht sein Buch mit dreijähriger Verspätung 1948 217 unter einem neuen, einem anderen Titel als die, die im Verlagsvertrag angegeben 217 Im Munzinger-Archiv (48/ 81 - K - 4834** 28.11.1981) und in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie (1995, Bd. 1, S. 314) wird Baslers Deutsche Rechtschreibung mit dem Jahre 1947 und die 7. Auflage mit 1952 verknüpft. Das IDS-Exemplar der Erstausgabe zeigt das Jahr 1948, das der 7. Auflage 1951 (vgl. auch Stanze 1994b, S. 164, nach der in das Jahr 1952 die 9. Auflage fällt). Strunk gibt an, der Konstanzer Arbeitsbesprechung vom 21. bis 23.11.1952 habe „Baslers >Deutsche Rechtschreibung< (wahrscheinlich 11. Auflage)“ Vorgelegen (1992, S. 63; (Hg.) 1998, Bd. I, S. 12). Nach Stanze (1994b, S. 164) fällt die 11. Auflage in das Jahr 1954 und die achte in das Jahr 1951. <?page no="414"?> 414 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform sind (Nr. 2 und 5), zudem als Privatmann und als, 1945 vertraglich und 1948 auf der Titelseite, ausgewiesener Verfasser endlich 218 unter seinem Na- 219 men. (2) Zum Verfasser Laut Verlagsvertrag (1945, Punkt 1) „überträgt [der Herr Verfasser] dem Verlag das ausschliessliche Verlagsrecht [...und] bestätigt, dass er allein berechtigt ist, über das Urheberrecht an dem Werke zu verfügen“. Das ist schon recht auffällig und führt zu der Frage, die ich nicht beantworten kann: Wie ist das eigentlich rechtlich? Denn immerhin ist ja auch Reumuth neben Basler Bearbeiter des Buches von 1944 und Gierach ist als Vorgänger Baslers auch im Spiel gewesen. Zwar ist Gierach 1943 verstorben; doch Reumuth meldet sich, laut Birken- Bertsch/ Markner (2000, S. 14), noch 1963 öffentlich zu Wort. Er hat also Baslers Buch von 1948 bis 1960 gewissermaßen miterlebt, doch zu Rusts Reformaktivitäten schweigt er sich aus und und wird entsprechend von den zwei Autoren in ihre Schweigespirale eingebaut (vgl. 1.2.2, 1963). Auch zu Baslers Werk wird Reumuth sich nicht geäußert haben, denn anderenfalls hätten die zwei das sicherlich berichtet. So bleibt trotz mancherlei Klärung halt immer noch vieles offen. (3) Zum neuen Titel Das neu bezieht sich zum einen auf die leicht paraphrasierenden Formulierungen in den Briefen des Oldenbourg Verlages von 1945 (Abb. 47, Nr. 1-3, 5), in deren vollständigen Varianten (Nr. 2, 5) von deutscher Sprache und nicht von deutscher Rechtschreibung die Rede ist wie dann im Titel ab 1948 (vgl. dazu auch Nr. 7, 9, 11). Zum anderen bezieht sich das neu auf den Titel von Rust (1944), was dazu überleitet, das oben kursiv gesetzte „nahezu 218 Das endlich erklärt sich daher, dass dem Wunsche Baslers und Reumuths, sie als Bearbeiter des amtlichen Orthographiebuches von 1944 dort namentlich zu nennen, amtlicherseits nicht entsprochen wird (vgl. oben 2.1.1.1 (1)). 219 Dieses Orthographiebuch mit seinen folgenden Auflagen, hier unter dem Namen Basler geführt, ist, bezogen auf die amtlichen Linien, als Nachkriegslinie Bayern zuzuordnen (im Einzelnen vgl. Mentrup i.Vorb.). <?page no="415"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 415 [unverändert]“ zunächst mit Blick auf die Titelseite (vgl. Abb. 48 A) einzulösen, deren Änderungen im Einzelnen nicht kommentiert zu werden brauchen. (4) Zum Inhalt Gegenüber Rust (1944) fügt Basler „Vorbemerkungen“ von einer knappen Seite (1948, S. 4) ein. Die Gliederung und der Regelteil als solcher sind in Basler identisch mit denen in Rust wie auch die Regelung insgesamt. Rust (1944) Basler (1948) A Titelseite Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis DEUTSCHE RECHTSCHREIBUNG REGELN UND WÖRTERVERZEICHNIS Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung BEARBEITET VON OTTO BASLER 1944 DEUTSCHER SCHULVERLAG BERLIN MÜNCHEN 1948 LEIBNIZ-VERLAG BISHER R. OLDENBOURG Best.-Nr. 1010 Preis: RM 0,35 (zur Entsprechung vgl, unten) B Wortkomponente: Angleichung an die neue Zeit Entnazifizierung NSDAP. BDM. SA. usw. Dr. theol. v. Chr. Ahn, der; die Ahnentafel Ahn, der Ari: er, der [Mensch indogermanischer Abstammung; Deutschblütiger]\ arisch [deutschblütig; rasserein] Ari: er, der [Mensch indogermanischer Abstammung]; die arischen Sprachen Neue Gegebenheiten § 28 3,35 ÄMnicht 3 RM35 Rpf und nicht 3 RM25 § 28 3,35 DM nicht 3 DM35 DPf und nicht 3 DM35 Landschaftliches § 39 [...] die eßbaren Schwämme (so nennt man in vielen Gegenden die Pilze) [...] § 39 [...] die eßbaren Schwämme oder Schwammerln (so nennt man in vielen Gegenden die Pilze) [...] Abb. 48: Rust (1944) und Basler (1948): Unterschiede (Kursive WM) Nicht übernommen ist mit entsprechender Auswirkung im Wörterteil: „Der Hauptton wird im vorliegenden Wörterbuch durch einen Punkt unter der betonten Silbe bezeichnet.“ (Rust 1944, § 6). Auch die Vornamen in Rust (1944) bleiben bei Basler (dr)außen vor. Insgesamt ist die Wortkomponente, also Beispiele im Regel- und Einträge im Wörterteil, der ‘neuen Zeit’ angegeglichen, d.h. entnazifiziert und neuen Gegebenheiten angepasst, und zudem „mehr auf Landschaftliches umgestellt“ (1948, S. 4). Zu einigen illus- <?page no="416"?> 416 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform trierenden Beispielen aus der von Ilona Ewald, IDS, erstellten, umfangreichen synoptischen Liste der Unterschiede vgl. Abb. 48 B. 220 „So wie die Dinge liegen, müssen wir uns doch wohl an die Tatsache halten, daß der neue Duden für des [! ; WM] Gebiet der Bundesrepublik die verbindliche Unterlage darstellt. Eine Reform der Groß- und Kleinschreibung erwarten wir in absehbarer Zeit nicht. Wir schlagen deshalb vor, daß wir in unseren weiteren Überlegungen die Möglichkeit einer Schreibreform außer acht lassen.“ (Kursive WM). Allein schon die kursiv gesetzten Wörter: Indizes für Resignation und aufgezwungenen Verzicht oder, wie die zwei Autoren vielleicht sagen würden: aufoktroyierte Entsagung: Die Wiesbadener Reformbemühungen (1956 bis 1959) sind gescheitert. Der KMK-Beschluss von 1955 ist also weiterhin in Kraft, „der neue Duden“, 15. Auflage von 1961 (Datum der Vorwörter: „1. August 1961“), ist damit im Sinne dieses Beschlusses verbindlich und demgemäß gegenüber allen anderen Rechtschreibbüchem privilegiert. Enttäuschung durch unmittelbare Erfahrung dieser Entwicklung: Drei der vier Briefe an Basler aus der Zeit von 1958 bis 1959 (vgl. Abb. 47 Nr. 9 bis 11) sind von H. Kliemann, dem Verleger von Oldenbourg, unterschrieben, der in dem von Augst/ Strunk (1988) dargestellten Ereignisrahmen von 1954 bis 1956 in Erscheinung getreten ist. Die in dem Brief vom 2.11.1961 im Weiteren vorgestellten Überlegungen, angesichts der Lage der Dinge Baslers Buch „eine besondere Note zu geben“, etwa durch „Erweiterung oder ein Verzeichnis von Synonymen“, und es als „kleines Nachschlagewerk“ in der vom Duden nicht besetzten Nische, in „den Unterklassen“, anzusiedeln, bleiben offensichtlich ohne Folgen. Baslers 14. Auflage von 1960 bleibt nach dem jetzigen Kenntnisstand auch die letzte. (5) Amtlicher Status: Amtlich verordnete inhaltliche Einschränkung Analog zum Reichsministerium als Herausgeber und zur Best.-Nr. wird auch der Zulassungsvermerk (Rust 1944, Rückseite Titelblatt) von Basler natur- 220 In Zusammenhang mit der Herstellung von Rust (1944) ist oben (vgl. 2.1.1.1(2)) auf das Dokument BN VII.20 mit 25 Aufgaben hingewiesen worden, Aufgaben zu Rust 1944 ? (1943? ) #2.4, deren Paragraphierung der in Rust genau entspricht. Vom jetzigen Stand der Dinge könnten sich diese Aufgaben auch auf Basler (1948) beziehen. Auch das bleibt ein Rätsel. <?page no="417"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 417 gemäß nicht übernommen. Dafür kommen bei ihm, ebenso natürlich wie auch zeitgemäß, neue Amtlichkeiten ins Spiel. Zum einen auf Seiten der Westalliierten: „Veröffentlicht unter der Zulassungsnummer US - E - 179 der Nachrichtenkontrolle der Militär-Regierung [...]. Genehmigt für den Gebrauch in Schulen durch Education and Religious Affairs Branch Office Government for Bavaria (US) 10.6.48 A. Auflage 200 000.“ (Basler 1948, Rückseite Titelblatt), womit durch dieses Datum die zweite Jahreshälfte als Erscheinungsraum seines Buches erneut bestätigt wird. Zum anderen auf deutscher Seite „das Kultus-Ministerium“, bei dem sich Basler und der Verlag 1945 um eine von jenem gewünschte „Auftragserteilung“ bemühen, wobei es laut Verlagsvertrag mit „3,6RPF.“ am Verkauf beteiligt ist (Abb. 47 Nr.2). Damit korrespondiert offenbar, dass laut Vertrag (Punkt 1) das Buch „in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus [erscheint], dem vor Drucklegung das Manuskript zur Genehmigung vorzulegen ist“, und dass dieses Ministerium mit dem oben (vgl. oben (4) Zum Inhalt) vorgestellten Weg einer ‘maßvollen Anpassung’ „einverstanden [ist]“ (Punkt 3) wobei ich allerdings nicht so recht weiß, ob mit Auftragserteilung und Genehmigung dasselbe gemeint ist (vgl. auch Abb. 47 Nr. 3 und 5 und dort auch den einen schon alten Antagonismus in Erinnerung bringenden ‘ideologischen’ Streitfall: Fraktur oder Antiqua? ). Drei Jahre später liegt mit dem, zumindest von heute aus gesehen, vorkamevalistischen Datum 11.11.1948 eine Entschließung des Ministeriums über die Zulassung von Baslers Buch („zum Gebrauch an allen bayerischen Schulen zugelassen“) zwar vor, doch sind das im Verlagsvertrag von 1945 festgestellte generelle Einverständnis mit der inhaltlichen Regelung sowie dadurch auch diese durch einen recht weit reichenden Vorbehalt nicht unerheblich eingeschränkt auch dies, wie vieles andere in diesem Zusammenhang sonst, ein Indiz dafür, dass sich die Zeiten ändern. Zum ministerialen Vorbehalt: „Das Buch ersetzt nicht das bisherige amtliche Regel- und Wörterbuch, weil es bei Fremdwörtern nicht überall der bisherigen Schreibweise folgt. Für den Gebrauch an den Schulen ist daher zu beachten: a) Bei der Schreibung der Fremdwörter wird die bisherige Schreibweise im allgemeinen beibehalten, z. B. Philosophie, jedoch werden auch die Schreib- <?page no="418"?> 418 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform formen gestattet, die sich schon vielfach im Gebrauch durchgesetzt haben, wie z. B. Foto, Telefon, Büro, Frisör. b) Außerdem ist bei der Trennung von Wörtern mit war-, dar-, hin- und heran der bisherigen Regel festzuhalten, also wird z. B. getrennt war-um, darauf, hin-ab, her-auf u. a.; st wird nicht getrennt, z. b. Ka-sten, Fen-ster.“ 221 (6) Anpassungen: Bayerische amtliche Rechtschreibbücher Nicht klar ist, was das Staatsministerium mit „das bisherige amtliche Regel- und Wörterbuch“ meint. Aufgrund des Insiderwissens hat sich diese Frage für die Behörde wohl bzw. natürlich nicht gestellt. Doch heute? Immerhin gibt es mit Bayern I 32 1940) „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis“ und mit Bayern ( 7 1943) „A bis Z Wörterbuch und Re- 221 „Entschließung des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 11. 11. 1948 Nr. VIII 75884 über die >Deutsche Rechtschreibung< von Basler. An alle bayerischen Schulen. [...] gez. Dr. Hundhammer.“ (1948 Einlageblatt im Format DIN A 6.). Die Darreichungsform als Einlageblatt und das Datum der Entschließung fuhrt zu dem Schluss, dass Baslers Werk im November 1948 im Druck ist oder bereits gedruckt vorliegt. Von der 2. Auflage 1949 an bis hin zur 14. von 1960 findet sich der Text der Entschließung auf der Rückseite des Titelblattes mit dem bibliographischen Nachweis „Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus 1948, Nr. 148“. Vgl. Basler (1948) bis Basler ( l4 1960). Böhme (2001) schreibt: „Unverständlich bleibt, warum man [... Baslers Orthographiebuch] trotz gleichbleibenden Inhalts in der 1. Auflage uneingeschränkt, in späteren Auflagen aber nur noch bedingt amtlich zuließ“ (Böhme 2001, S. 130). Diese Einschätzung erklärt sich wohl daher, dass die von Böhme benutzte Erstausgabe Basler (1948) des Einlageblattes verlustig gegangen war und in Folge Böhme von dessen Existenz nichts wissen konnte. Aus Böhme (2001, S. 130) habe ich 1949 als Erscheinungsjahr für die 2. Auflage entnommen. Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. 112) geben 1948 an. Für 1949 spricht, dass die Erstausgabe nach dem 11.11.1948 ausgeliefert wird und eine Auflagenhöhe von 200.000 Exemplaren hat. Rätselhaft, weil völlig unbestimmt gelassen ist das dem Brief des Oldenbourg Verlags an Basler vom 19.12.1945 bei- und zudem „unter Ihren Weihnachtsbaum“ gelegte „Einblatt“ (Abb. 47 Nr. 5). Einblatt als Weihnachtsgeschenk das lässt die Sache schon als wichtig und auch als erfreulich erscheinen. Ob es sich dabei um die in dem Brief vom 08.10.1945 (Nr. 2) angesprochene „Auftragserteilung“ des damaligen Ministeriums handelt? Das wäre ja nun wirklich ein schönes Geschenk. Wenn diese Spekulation zutrifft, dann wäre das Einblatt von 1945 ein Vorläufer des Einlageblattes mit der Entschließung von 1948. <?page no="419"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 419 gelverzeichnis“ (Autor: H. Stanglmaier) und deren jeweils vorausgehenden Ausgaben zwei im Oldenbourg Verlag erschienene vorgängige Linien. Doch wichtiger als die Klärung dieses Punktes 222 ist, dass die im Vorbehalt geforderte Trennung nach „der bisherigen Regel“ der Regelung in beiden Orthographiebüchem entspricht wie auch weitgehend die der Fremdwortschreibung (vgl. aber z.B. Bayern 2 1941 Friseur). Damit sind einige der von Rust eingefiihrten und von Basler wieder eingebrachten Änderungen zumindest in Bayern amtlicherseits wieder außer Kraft gesetzt. Weitere Änderungen wie die schon bekannte Komma-lose Regelung vor und bzw. oder sowie die Regelung der Fallgruppe um Schiffahrt werden in dem Vorbehalt nicht moniert. Doch das wäre weder möglich noch nötig gewesen. Die Kommaregelung ist bereits seit 1903 bis hin zur letzten Auflage von 1940 in Bayern enthalten (vgl. auch Böhme 1995) und findet sich auch in Bayern ( 2 1941) und ( 6 1942) wieder. Bei dem Typ Schiffahrt ist es so, dass die Rust > Basler-Regelung in Bayern ebenfalls seit 1903 in der hier sehr toleranten und praktisch alle Schreibungen zulassenden Regelung gewissermaßen aufgehoben ist wie auch bisher schon die Regelung in Bayern ab ( 2 1941), die der aus der Duden-Rechtschreibung ("1934) entspricht. Auch dieser Befund bestätigt: So furchtbar neu, wie manche meinen, ist in der Orthographie vieles oder das meiste nicht. Die Fallgruppe der Straßennamen wird auf beiden bayerischen Linien nicht geführt, sodass es hier mangels einer Vergleichsmasse nichts gibt, was zu bemängeln oder dem zuzustimmen wäre. 222 Die Abfolge „Regel- und Wörterbuch“ in der Einlage spricht wohl eher für Bayern ( 52 1940), so jetzt auch Böhme (2001, S. 130); doch in Bayern ( 2 1941) Rückseite Titelblatt wird, teils in einer beim lauten Vorlesen fast lustig wirkenden Akü-Sprache, mitgeteilt, dass dieses „A bis Z“ durch „Entschl. d. Staatsministeriums f. Unt. u. Kult. v. 12. 2. 41 Nr. XI 6856 [...] an die Stelle des früheren Regel- und Wörterverzeichnisses [tritt]“. Von diesen Linien wird nur die zweite nach 1945 weitergeführt, und zwar (vgl. Stanze 1994b, S. 174) erst nach 1954, da als Grundlage die Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) angegeben ist. Noch 1959 ist diese Linie offenbar im Verlagsprogramm, denn Basler wird in dem Brief vom 17.11.1959 (vgl. Abb. 47 Nr. 10) die Übersendung von Stanglmaier „Das kleine A-Z“ angekündigt. <?page no="420"?> 420 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 3.3.2.3 Historische Spuren (1) Zur engeren Vorgeschichte Dass sein Orthographiebuch von 1948 auf Rust (1944) zurückgeht, sagt Basler in diesem Buch, wie auch anderenorts, nicht. Doch auch ein Basler hat (s)eine Vorgeschichte, die gänzlich draußen vor zu lassen er augenscheinlich nicht vermag und was ihm augenfällig auch nicht gelingt. Der Herr Verfasser lokalisiert sie (1948, S. 4 Vorbemerkungen) zunächst auf der ebenso abstrakten wie unverfänglichen Ebene der allgemeinen fachgenossenschaftlichen Diskussion über die Orthographie und zeichnet sie mit dünnen Strichen nach, die übliche Dankesfloskel inbegriffen: „Die Fragen der Rechtschreibung sind unter Fachgenossen jahrelang erörtert worden; ich habe vor allem zu danken Theodor Frings, Professor an der Universität Leipzig, [...]“. Auffällig ist, dass Otto Basler zwar Theodor Frings und im Weiteren auch "Lehrkräfte[n] der Volksschulen und der höheren Schulen“ dankt, und zwar diesen für die Durchsicht des Buches mit Blick auf die „Verwendbarkeit im Unterricht“ (Basler 1948, S. 4), dass er aber Karl Reumuth, den zweiten zentralen Bearbeiter des Werkes von 1944 und seinen damaligen Kollegen, nicht erwähnt. Auch dies führt zu der Frage, ob überhaupt, und wenn ja: inwieweit der 01denbourg Verlag und das bayerische Ministerium über die Vorgeschichte dieses Buches von Basler informiert worden sind. Es sieht so aus, dass er auch ihnen gegenüber darüber nichts gesagt hat. Vgl. jetzt auch Böhme: „[...] offenbar in Unkenntnis der tatsächlichen Herkunft seines Inhaltes [...]“ (2001, S. 129). Sowohl in den Briefen des Oldenbourg Verlages an Basler als auch in dem mit ihm abgeschlossenen Verlagsvertrag gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass es nicht so ist. Hätte Basler seine Karten damals offen auf den Tisch gelegt, so hätte der Vertrag in der oben kurz dargestellten Form wohl gar nicht erst abgeschlossen werden können. Allerdings ist und bleibt es mir insgesamt doch recht schleierhaft, dass eine Verschleierungstaktik, wie sie sich hier abzeichnet, überhaupt aufgehen kann und zum Erfolg führt. Insgesamt also eine wenn auch nicht feindliche, so doch eine geheime Übernahme Rusts durch Basler. Wie sagen doch die zwei Autoren, bezogen auf Rusts Initiative von 1944, so schön: „eine klandestine Operation“ (Birken- <?page no="421"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 421 Bertsch/ Markner 2000, S. 109). Und da soll noch mal einer sagen, in der Geschichte wiederhole sich nichts. Abb. 49 soll veranschaulichen, wie Basler bei der Umstellung von Rust (1944) auf die neue Zeit durch Aussparungen auf der politisch-ideologischen Ebene diesen in verschiedener Hinsicht entnazifiziert. Der ‘Überbau’ einschließlich des ideologisch besetzten Anteils der Wortkomponente entfällt in seiner Darreichung. Die von Natur aus ideologieneutrale Regelung der Orthographie bleibt. TT 3 a 3 >» 5 — Ö Herausgegeben vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Zulassungsvermerk Karl Reumuth, Referent des Reichserziehungsministers einer der Hauptbearbeiter ideologisch besetzter Anteil der Wortkomponente a> oo PQ w abstrakte Ebene der allgemeinen wissenschaftlichen Diskussion über Orthograph je Fachgenossen und insbesondere Prof, Theodor Frings Regelung der deutschen Rechtschreibung mehr auf Landschaftliches umgestellte Wortkomponente Abb. 49: Rust (1944) entnazifiziert durch Basler (1948) Konkreter wird es jedoch wenn auch verschlüsselt im letzten Satz der Vorbemerkungen, wo sich die Vergangenheit, wie es scheint: unabweisbar und insbesondere in den kleinen Wörtern zu Worte meldet: JJas Büchlein geht nun mehr aw/ Landschaftlichcs wmgestellt hinaus in eine neue Zeit.“ (Basler 1948, S. 2; Kursive WM). Zur Entschlüsselung ein metaphorisches Beispiel: Stellt eine Fabrik die Produktion auf Spielwaren um, so hat es eine Produktion auch schon vorher gegeben, wenn auch nicht die von Spielwaren, sondern die von anderen Produkten. Stellt eine Fabrik die Produktion mehr auf Spielwaren um, so hat es deren Produktion auch schon vorher gegeben, aber mit geringerem Anteil als nachher. Die Produktion als solche, als durchgehend betroffene Größe, ist, bei welcher qualitativen oder quantitativen Änderung auch immer, die Konstante im <?page no="422"?> 422 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wandel auch der Zeit mit einem Vorher und Nachher, mit einem Früher und Später. Und es fugt sich bestätigend ein, dass es auf der Titelseite heißt: „[...] bearbeitet von Otto Basler“ (Kursive WM). Dem entsprechend ist der Hinaus-Gang in eine neue Zeit gleich dem Heraus- Kommen aus der oder aus einer alten Zeit. Auch hier, wie schon mehrfach anderenorts: Aufbruchstimmung. (2) Erinnerungsstücke Und plötzlich drängen sich dir, nach all dem vielen Neuen, einzelne Erinnerungs(bruch)stücke förmlich auf und fugen sich, anscheinend oder vielleicht auch nur scheinbar passend, zusammen und auch in den größeren Zusammenhang ein. Zunächst Personen: Frings ist ja einer von denen, die sowohl 1941 als auch 1944 an den Rustschen Reformuntemehmen beteiligt sind. Und derselbe Frings ist es auch, der, je nach Bezug, 12 bzw. 9 Jahre später in Schaffhausen (November 1953) in der Diskussion „Zu Punkt 3 der Tagesordnung: Grammatikalische Terminologie“ u.a. fordert, auch „die Vorschläge von Gierach“ mit einzubeziehen, wobei „[...] hier [doch] die Frage [sei], was davon noch den Krieg überdauert habe“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 96); womit auch hier ein weiterer Akteur aus dem Umfeld Rusts wiederum ins Spiel gebracht ist. Frings' Frage kann positiv beantwortet werden. Im Gierachnachlass (GN), enthalten im Baslemachlass, IDS, findet sich ein maschinegeschriebenes Manuskript „Die Benennung der Zeiten im Deutschen. Von E. Gierach.“ (13 Seiten, ohne Datum; GN.5). Dass auch Basler in diesem Themenkreis eine Adresse ist, geht aus einem Brief der "Deutsche[n] Akademie Goetheinstitut“ vom 21. Juli 1941 an ihn hervor (Goetheinstitut 1941/ 21.7; BN VII.34; #3.21). In diesem Brief wird unter Hinweis auf „unsere Einladung vom 24. Juni 1941 zur Sitzung des Methodik-Ausschusses der Deutschen Akademie am 14. und 15. August in München“ die Einladung wiederholt und „die Benennung der Zeitformen“ als beabsichtigter „Gegenstand der Tagung“ genannt. In vielfach gestaffelter Höflichkeitsdisposition heißt es dann: <?page no="423"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 423 „Wir erlauben uns deshalb die Bitte, Sie um einen Vortrag über die Dudenschen Benennungen und ihre Begründung zu ersuchen. Wir würden es dankbar begrüssen, wenn Sie trotz der kurz bemessenen Zeit sich dazu bereit erklären könnten. Die bisher in unserer Zeitschrift veröffentlichten Beiträge legen wir bei.“ (Kursive WM). Ob diese Tagung stattgefunden hat, und wenn ja: ob Basler daran teilgenommen hat, weiß ich nicht. Hingegen ist mir nunmehr aus Birken- Bertsch/ Markner (2000, S. 43) bekannt, dass Gierachs Artikel in ‘Deutschunterricht im Ausland’ (Gierach 1941, S. 81-88) veröffentlicht wird und dass zur damaligen Zeit weitere einschlägige Veröffentlichungen von schon bekannten Personen, u.a. Rahn (1941a), Weisgerber (1941) und (1942), Reumuth (1942) und Steche (1943), im Spiele sind (Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 41-45). Zu der oben angesprochenen Tagung und zu Basler in diesem Zusammenhang äußern sich die zwei Autoren nicht. Zudem das Rust > Basler-Beispiel nicht dort, aber von mir als Klammerwort präsentiert - Ph(F)ilosoph(f)[ie] und Reumuths Artikel Ende Juni 1944: Dieser erscheint u.a. unter der Überschrift der Filosof und das Plato, die zu der Verwunderung und zu dem starken Befremden beiträgt, die „in der Bevölkerung, vor allen Dingen bei der Intelligenz, hervorgerufen“ werden (Reichspropagandaministerium 1944/ 4.7.; vgl. oben 2.4.1). Dieser Reaktion von 1944 entspricht 4 Jahre später inhaltlich das Beharren auf der bisherigen Schreibung Philosophie in dem Vorbehalt des bayerischen Kultusministeriums (November 1948), und beiden entspricht 4 bzw. 8 Jahre später die Eröffnung der Fremdwortdiskussion in Konstanz (November 1952) durch den österreichischen Vertreter Josef Stur: „Wir würden heute mit Änderungen wie z.B. Filosofie nicht durchdringen.“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S. 21; Kursive WM), d.h. mit solchen, die sich in Rust (1944) ja zuhauf finden, wie dann auch in Basler (1948). Rust scheint, etwa indirekt durch die Ablehnung bestimmter seiner Änderungen oder auch durch Personen seines damaligen Umfeldes, irgendwie doch und immer noch durch die Ortho-Landschaft zu spuken oder auch schemenhaft an deren Horizont aufzutauchen. Es ist wohl so: Der Vergangenheit kannst du dich letztlich nicht (ganz) entziehen, wie es ersichtlich auch Basler zu tun nicht vermag. Er verrät sie, oder: sie verrät sich, wie indirekt und verschleiert auch immer, in seiner Sprache. Entkommen kann man ihr nicht. <?page no="424"?> 424 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Erscheint die Verknüpfung dieser Erinnerungsstücke untereinander und ihre Einbettung in den größeren Zusammenhang auch höchst plausibel und werden manche, so sicherlich die zwei Autoren, sofern sie diese Abhandlung lesen und sofern sie bis zu dieser Stelle Vordringen, auch triumphierend feiern: ‘Siehst du, jetzt sagt ja selbst dieser Mentrup bis auf den Punkt genau das, was wir schon immer gesagt haben’, so ist doch gerade bei solchen Verknüpfungen, und zwar insbesondere dann, wenn sie an Regelungsinhalten oder punktuell an einzelnen Beispielwörtem festgemacht sind, höchste Vorsicht geboten, was sich an den Beispielen Kautsch und Kognak oben (vgl. 3.2.3.4) bereits bewährt hat. Die Übereinstimmung z.B. im Beispiel Filosofie bzw. in dem Beharren auf Philosophie als Ablehnung jener Schreibung sowie die chronologische Abfolge der Stationen (a) 1944 Filosofie (Rust) > (b) 1948 Filosofie (Basler) - (c) November 1948 Philosophie (Vorbehalt) - (d) 1952 Philosophie (Stur) legen nur allzu leicht eine Kausalitätsstruktur nahe, etwa derart: Jeweils vorhanden, weil aus x übernommen bzw. gegenüber dem abgelehnten x bewahrt. Filosofie (a) 1944 (Rust) (b) 1948 (Basler) Philosophie (c) 1948 (Vorbehalt) (d) 1952 (Stur) Möglichkeiten tu % (a) 1944 (Rust) a > b ■ c v (b) 1948 (Basler) b d' Kombinationen (a + b) <— c (a + b) d ' (c) 1948 (Vorb.) Kombinationen -s § c —> d + b i— d v c—>d + a<—dv c—>d + (a + b)<—d (d) 1952 (Stur) : direkt aus x übernommen; v = oder; potenziell: <— gegenüber x bewahrt —> aus x übernommen Abb. 50: Tatsächliche und potenzielle Verknüpfungen <?page no="425"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 425 Doch innerhalb dieser recht kurzen Zeitstrecke mit den an sich ja sehr überschaubaren Stationen ist nur die direkte Übernahme und damit die Verknüpfung (a) Rust > (b) Basler nachgewiesen. Bei allen anderen, und rein rechnerisch sind dies unter Berücksichtigung aller Kombinationen elf (vgl. Abb. 50), ist eine solche Verbindung grundsätzlich natürlich nicht ausgeschlossen, wenngleich sie im Einzelnen teils mehr oder teils weniger unwahrscheinlich sein mag oder ist. Bewiesen jedenfalls ist für diese anderen nichts. (3) Spuren weiter zurück Insgesamt ist zu bedenken, dass die Vergangenheit ja nicht nur die letzten 20 bis 30 oder auch die letzten 60 bis 70 Jahre umfasst, wie sich das nicht nur bei den zwei Autoren weithin darstellt, sondern dass sie weit(er) zurückreicht und dass Übereinstimmungen bei aufeinander folgenden Zeitgenossen wie oben auch zustande kommen können und dies auch oft tun, weil ihre orthographischen Werke gemeinsame Eltern, Großeltern oder noch frühere gemeinsame Urahnen haben und in einer oft weit zurückreichenden Texttradition stehen. So ist die im Vergleich mit den amtlichen Rechtschreibbüchem etwa in Sachsen oder Preußen recht weitreichende Eindeutschung in Rust (1944) alias Basler (1948) nicht einfach so vom Himmel gefallen und keine nationalsozialistische Idee, kein NS-(Ur-Ei). Schon 1931, also vor der endgültigen Etablierung des NS-Regimes, ist u.a. die Umstellung von ph, rh und th auff r bzw. t Bestandteil des Reformprogramms des Leipziger Lehrervereins und des sog. Erfurter Programms des Buchdruckerverbandes wie insgesamt der meisten der 37 Reformvorschläge vor Rust (1944) bis 1902 (Jansen-Tang 1988, S. 54-84; 563f.). 10 Jahre früher, 1921, beschließt mit politischem Auftrag - „ein vom Reichsministerium einberufener Sachverständigenausschuß“ als eine von fünf „Mindestforderungen“ generell: „Möglichst Eindeutschung von Fremdwörtern“ (Nerius 2 1989, S. 262f.). 14 Jahre früher, 1908, prophezeit Konrad Duden: „Wie wir jetzt schon Scharade, Schokolade, Schikane schreiben, so werden wir in nicht allzu ferner Zeit auch Scharitee, Schossee, Schiffern, Büro, Frisör schreiben.“ (Duden 1908, S. 336) wie dann in Rust (1941) vorgeschlagen und mit Büro, Frisör in Rust (1944) dann durchgeführt. <?page no="426"?> 426 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 7 Jahre früher, am Dienstag, dem 18. Juni 1901, sind während der Beratungen auf der 2. Orthographischen Konferenz die drei oben genannten h- Fallgruppen Gegenstand einer längeren kontroversen Diskussion. Das Ergebnis: Der u.a. von dem Vertreter Württembergs, ,Jiauber, Oberstudienrat, Mitglied der Königl. Ministerialabteilung für Gelehrten- und Realschulen“, gestellte Antrag auf eindeutschende Schreibung von dem Vertreter Badens, „Dr. Waag, Großherzogi. Oberschulrat, ausserordentl. Professor an der technischen Hochschule in Karlsruhe“, als „pium desiderium“ bezeichnet wird abgelehnt (Beratungen 1901, S. 331; 343f); wobei genau diese Ablehnung es ermöglicht, dass in der Folgezeit einschlägige Reformvorschläge weiterhin fröhliche Urständ feiern. 3 Jahre früher, 1898, fordert Konrad Duden, „die Anwendung solcher Buchstaben, die für unser Schriftsystem völlig überflüssig sind, wie [u.a. ...] ph statt f, th statt t [...] möglichst zu beschränken“ (Duden 1898, S. 767) ermöglicht durch die Ablehnung dieser Regelung auf der 1. Orthographischen Konferenz von 1876. 1876, 25 Jahre vor der 2. Orthographischen Konferenz, wird auf der 1. Orthographischen Konferenz am Montag, dem 10. Januar 1876, „der Antrag gestellt, nach dem Vorgänge der Italiener griechisches th und ph durch t und f zu ersetzen. Derselbe wurde mit 13 Stimmen abgelehnt. [...] die Erwähnung des aus dem Griechischen stammenden rh in Wörtern wie Rhythmus, Katarrh wird gebilligt.“ (Verhandlungen 1876, S. 104). Der Bezug auf die Italiener wird übrigens 1901 ebenfalls hergestellt, doch weiter ausgefuhrt: „Die Beibehaltung der Zeichen nur der Herkunft wegen habe etwas Pedantisches; die Zeichen th, rh und ph hätten wir von dem lateinischen [! ] übernommen, aber die Nachkommen der Römer, die Italiener, hätten sie aufgegeben.“ (Beratungen 1901, S. 343). - Auch dies ein Beispiel für Textsortenabhängigkeiten und Wirkungszusammenhänge von Texten. 1754, mehr als ein Jahrhundert vor der 1. Orthographischen Konferenz, denkt Carl Friedrich Aichinger in seinem „Versuch einer teutschen Sprachlehre“ über diese Gruppen nach; er hält es durchaus für möglich, einige Wörter „auf teutsche Weise mit f [zu] schreiben, [...] aber [so sein Bedenken] die Filosofen und Profeten mit dem f sehen etwas verwunderlich aus“ (Aichinger 1754, S. 12; Einschübe WM). <?page no="427"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 427 1672, mehr als acht Jahrzehnte früher, beobachtet Pudor bei solchen, „so der Neugierigkeit ergeben“, Nimfe, Fariseer, Filister, Josef u.s.w. „Aber von wenig Gelehrten wird solche unnohtige Schreibkünstlerey beliebt / und angenommen.“ (Pudor 1672, S. 19). Und ca. 1534 um den Reigen mit seinem Anfang zu beschließen -, also mehr als ein weiteres Jahrhundert zurück, stellt Valentinus Ickelsamer in seiner Teutschen Grammatica das / th/ als „bei den Ghriechen auch eygne büchstaben / daher sy die teütschen haben“, vor. Beim Schreibbrauch stellt er fest: „Das Ithl brauchen die teütschen ongefar für ein Itl [...] wissen aber [...] nit / was der wind h hie für ein zierde gibt / darumb sie es auch selten recht brauchen“ (Ickelsamer um 1534; nach Müller 1882, S. 138f. Anm. 120-123). Kritisiert Ickelsamer dies auch als Mangel, so nimmt dieser Schreibbrauch doch vorweg, was Generationen von Reformern nach Ickelsamer als Zustand zu erreichen versuchen sollten, so auch die meisten der 42 Vorschläge nach Rust (1944) bis 1980 (Jansen-Tang 1988, S. 84-121; S. 564ff.; vgl. auch Mentrup 2003, B. 2.2. b). 3.3.3 Basler > Grebe III: Linie der Inhalte; Baslers Verhalten(heit) - Grebes (Un-)Kenntnis - Rusts Femwirkung Die inhaltliche Regelung in dem Buch von 1948 mit Otto Basler als Verfasser ist identisch mit der in dem Buch von 1944 mit dem Reichserziehungsminister Bernhard Rust als Herausgeber - und auch umgekehrt. Diese unerwartete Wende, dieser grundsätzlich neue und überraschende Gesichtspunkt erhellt einiges von dem, was bisher dargestellt worden ist, bestätigt in spezieller Weise anderes und lässt weiteres in einem anderen Lichte erscheinen. Doch vor all dem bringt dich diese scharfe Kehre doch ganz schön ins Grübeln. Man weiß es natürlich: Namen sind etwas anderes als Inhalte - und auch umgekehrt. Wie sagt der Volksmund? Namen sind Schall und Rauch. Was bleibt, ist der Inhalt. Auch dies bestätigt den Wandel der Dinge bei Konstanz durchgehend betroffener Größen als solcher. Anders gesehen: Das Vorherige holt einen nicht selten ein, das spätere ‘Neue’ hat es oft schon früher gegeben. Doch ist es so, dass man das im Einzelfall, oft oder vielleicht auch meistens, nicht weiß. <?page no="428"?> 428 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Ist Otto Basler auf dem Felde der Fremdwortschreibung auch recht aktiv, so hält er sich in anderen Bereichen sehr zurück, auch was die Herkunft seines Orthographiebuches angeht (vgl. 3.3.3.1). Kann Paul Grebe nach allem Dargestellten Rust (1944) auch nicht gekannt haben, so kennt er über Basler (1948) doch inhaltliche Regelungen aus Rust, doch weiß er nicht, dass diese aus Rust stammen (vgl. 3.3.3.2). All dies führt mit Blick auf Kopke (1995) und Birken-Bertsch/ Markner (2000) zu einem weiteren Kuriosum bzw. zu einer neuen Version von Rusts klandestiner Operation (vgl. 3.3.3.3). 3.3.3.1 Otto Basler: Verbalten(heit) - Zurückhaltung - Enthaltsamkeit Erinnert man sich daran, dass bei der Diskussion der Fremdwortschreibung und dort speziell der Gruppen griechischen Ursprungs mit ph usw. Basler und Grebe als Akteure und Antagonisten, Grebe auch unter explizitem Bezug auf Baslers Deutsche Rechtschreibung, unterschiedliche Lösungen vertreten, so kommt, wenngleich eher vage, auch in Erinnerung, dass Basler sich demgegenüber an den Diskussionen über andere, oben ebenfalls erörterte Fallgruppen relativ wenig oder gar nicht (? ) beteiligt nämlich über (1) das Komma vor und bzw. oder und (2) die Trennung von st und der Gruppe um daran sowie über (3) die Schreibung des Typs Schiffahrt. Liegen die Gründe für diese durch die erneute Durchsicht der Protokolle bestätigte Zurückhaltung oder Enthaltsamkeit zunächst, auf den ersten Blick, auch im Dunkel, so lässt sich dies auf den zweiten Blick doch, wie ich meine, leicht erhellen. Die lang diskutierte und dann beschlossene Reformregelung aller drei Gruppen entspricht, wie oben gezeigt, nahezu völlig der in Rust (1944) und, nach dessen nunmehr festgestellter Übernahme durch Basler, gleichermaßen der in dessen Buch von 1948. Basler braucht sich also hier insgesamt gar nicht einzuschalten und hat nicht den leisesten Grund, sich in besonderer Weise aus dem Fenster zu lehnen. Bei (1) und (2), und hier insbesondere bei st, läuft von Anfang an alles wie am Schnürchen, also im Sinne seiner Regelung. Bei (3) pendelt sich nach einigem Hin-und-Her der Kurs auf die in seinem Buch vorfindliche Regelung ein. Dass dann, von dieser abweichend, in Wiesbaden die Trennung Tr2 beschlossen wird, und nicht Tr3 wie in Stuttgart und in seinem Buch, kann er stillschweigend als Verbesserung und <?page no="429"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion — Reformbemühungen 429 entsprechend als Gewinn verbuchen, denn damit ist hier eine ‘Ausnahme weggebracht’ und eine Unterregel vom Tisch. Bei (2), und hier speziell bei der Gruppe um daran, läuft es bis zu den Stuttgarter Empfehlungen (1955) aus Baslers Sicht wie geschmiert: Das Gesamt aller einschlägigen Wörter wird getrennt wie da-ran. In Wiesbaden werden dann zwar einige wenige Wörter zunächst als Ausnahmen geführt und selbst noch in der Schlusssitzung des Plenums im Oktober 1958 als solche aufgerufen: „Herr Brinkmann stellt nunmehr die Fälle >heran<, >voran<, >hieran< zur Diskussion.“ Doch bevor überhaupt die Möglichkeit aufkommen kann, dass die Diskussion aus dem Ruder läuft und nunmehr hier eine Unterregel eingerichtet wird, greift Basler ebenso prompt wie dezent gestaffelt disponiert durch die ‘Es wäre-ob wir nicht wo/ / e«’-Struktur ein: „Es wäre zu überlegen, ob wir hier nicht die Ausnahmen wegbringen wollen.“ Damit ist auch dieser Fall in seinem Sinne erledigt. „Herr Brinkmann: [...] Wer ist dafür, daß die genannten Fälle dem Typus >daran< usw. zugerechnet werden? - Der Vorschlag wird einstimmig angenommen. - “ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. II, S. 236) 223 Undurchsichtig ist es nur bei der Gruppe (4) Straßennamen, wo die Rust > Basler-Regelung gegenüber der in Stuttgart beschlossenen die vollständigere und in mehrfacher Hinsicht überzeugendere ist. Aus den Protokollen geht nicht hervor, ob oder dass Basler sich an der Diskussion beteiligt hat. Vielleicht ist ihm diese Gruppe nicht so wichtig gewesen - und in Wiesbaden spielt sie dann ohnehin keine Rolle mehr, wie ja auch auf den beiden bayerischen Finien. 223 Auch mit der Regelung der Groß- und Kleinschreibung in Stuttgart und Wiesbaden kann Basler höchst zufrieden sein. Sie entspricht zwar nicht der in seinem Buche und damit auch nicht der in Rust (1944). Doch mit der damals sog. gemäßigten Kleinschreibung, der Substantivkleinschreibung, wird zum einen eine Regelung verabschiedet, die Rust selber schon 1941 in sein Programm geschrieben hat, und zum anderen Reumuths in die Zukunft weisendes noch eingelöst: „Die Frage der allgemeinen Groß- und Kleinschreibung ist in dieser kleinen Reform noch nicht geregelt worden, sie bleibt für Lehrer und Schüler noch das Schulkreuz“ (Reumuth 1944, S. 100; Kursive WM) wobei Schulkreuz wie auch das schon bekannte Schulmeisterkreuz (Hübner 1936, S. 107; oben 3.1.3.3) demselben Paradigma angehören wie ‘der grösste Übelstand der Rechtschreibung’, als welcher dieser Bereich 1953-1958 mehrfach gekennzeichnet wird (vgl. oben 3.2.1.2 (1)). Dass Kennzeichnungen dieser Art weiter zurückreichen und sich zu recht großen Wort- und Bildfeldern zusammenfügen lassen, wird in Mentrup (i.Vorb.) aufgezeigt. <?page no="430"?> 430 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Noch einmal zurück zu Kopkes Vorstellung von der Kontinuitäts- und Vermittlungsschiene Basler > Grebe: Bezogen darauf sind oben im Verlauf der Darstellung die Fragen an Kopke gerichtet worden, warum Basler, wenn es denn so gewesen wäre, Grebe dann nicht über die folgenden Punkte informiert habe: über den wahren, nämlich nicht mehr amtlichen Status von Rust (1944) (vgl. 3.1.1); über den falschen Titel in der Eingabe der Dudenredaktion von 1955 (vgl. 3.2.2.4); darüber, dass allein schon drei der oben mehrfach angesprochenen Fallgruppen in dem von Grebe als amtlich angesehenen Orthographiebuch von Rust inhaltlich im Sinne der Reformer bereits geregelt sind (vgl. 3.3.3.1). Denn hätte Basler Grebe in diesen drei Punkten aufgeklärt, so hätte sich dieser entschieden anders verhalten. Die Antwort auf diese Fragen gibt indirekt Basler selbst, genauer: die spezifische Lage, in die er sich durch die Übernahme von Rust nunmehr befindet, und seine darin begründete Zurückhaltung. Basler kann in dieser seiner ‘Hinaus- oder Übergangs’-Situation Rust (1944) > Basler (1948) sich gar nicht selbst outen. Er kann weder Grebe etwa während der Wiesbadener Zeit 224 noch jemanden sonst, wie schon 1945 den Oldenbourg Verlag, weder allgemein über Rust (1944) noch über spezielle Regelungen in diesem informieren. Er kann an der Entdeckung dieser Zusammenhänge, die einer (Selbst-)Entlarvung gleichkäme, nicht das geringste Interesse haben. Und sicherlich kam ihm dabei zupass, dass bereits gedruckte Exemplare von Rust (1944) vor Kriegsende eingestampft worden bzw. danach verschollen sind und noch bis 1997 als verschollen angesehen werden. 224 Der schon erwähnte Briefwechsel zwischen Basler und Grebe vom 4.2.1957 bis 27.7.1959 (B/ G. 1 bis B/ G.29) ist teilweise sehr persönlich gehalten und zeigt, dass zwischen beiden ein sehr gutes Verhältnis besteht (vgl. dazu oben 3.1.2.3, Basler 24.10.1958 und Grebe 29.10.1958). Doch auch in dieser Dokumentation findet sich kein Hinweis auf Zusammenhänge um und mit Rust (1944). <?page no="431"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 431 3.3.3.2 Grebe kennt Rust (1944), aber er weiß es nicht Und noch einmal zurück zu der von Böhme (1995) vertretenen und von Kopke (1995) sowie von Birken-Bertsch/ Markner (2000) trotz aller von ihnen selbst aufgezeigter Ungereimtheiten und Widersprüche gehegten und gepflegten Vorstellung, Grebe und die Dudenredaktion Wiesbaden (späterhin Mannheim) hätten für die 14. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1954 Rust (1944) benutzt oder zumindest inhaltlich gekannt. Verfolgt man vom jetzigen Stand der Dinge aus, d.h. nach der frappierenden Wende, diesen Ansatz weiter, so führt dies, wenn es denn so gewesen wäre, zu Konsequenzen, die, wie oben bereits andere, im Absurden enden und erneut bestätigen: So ist es nicht gewesen. So kann es nicht gewesen sein. Dazu zwei Überlegungen. Auf dem einen Feld: Wie oben (vgl. 3.2.1.2) dargestellt, spielt Grebe in Wiesbaden (10.7.1956) die Gruppen der Fremdwörter griechischen Ursprungs mit ph, rh und th (oben als Grl geführt) ein und Basler bezieht seine Position: Er spricht sich gegen die Beibehaltung der bestehenden Regelung und für die Möglichkeit aus, umfassend und durchgängig Doppelformen einzuführen. ln seinem Rundschreiben vom 15.3.1957 grenzt Grebe die zwei Positionen in Hinblick auf den Umfang der Eindeutschung klar ab: ‘3b nur in den gebräuchlichen Fremdwörtern’ als seine eigene gegenüber der Lösung ‘3a in allen’ als Baslers Position, wobei sich Grebe auch auf Baslers ‘Deutsche Rechtschreibung’ (Basler 7 1951) bezieht. Dass Grebe sich hier, wie auch bei Gr2, gegenüber seinem Antagonisten dann letztlich durchsetzt, ist bereits oben dargestellt worden. Hätte Grebe Rust (1944) gekannt, dann hätte er gewusst, dass die von Basler vertretene Lösung die Regelung in bzw. aus Rust ist. Grebe hätte damit gegen eine Regelung argumentiert und genau die letztlich gekippt, die er auf dem anderen Feld als amtlich ausgibt und von der er behauptet, er habe sie 1954 übernommen. Auf dem anderen Feld: Grebe stellt, mit erinnerndem Blick auf die Vorgänge um den KMK-Beschluss vom November 1955, in einem Brief (3.3.1956) an Dehnkamp fest, nicht nur zwischen dem „Bertelsmann“ und dem „Duden“ (14. Auflage) bestünden zahlreiche Unterschiede, sondern solche Abwei- <?page no="432"?> 432 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform chungen gebe es auch zwischen „der >Deutschen Rechtschreibung< von Professor Basler, die 1951 in München erschien“, und dem „Duden“ (Strunk (Hg.) 1998, Bd. I, S.271f.). Hätte Grebe Rust (1944) gekannt, dann hätte er gewusst, dass die von ihm gegenüber ‘dem Duden’ in Basler (1951) festgestellten Unterschiede identisch sind mit denen in Rust (1944) gegenüber ‘dem Duden’. Grebe hätte damit Schreibungen und Regelungen als Abweichungen moniert, die er auf dem gleichen Feld als amtlich ausgibt und von denen er behauptet, er habe sie 1954 übernommen. Insgesamt ein wenn auch unfreiwilliges und unbewusstes, so doch klares Eingeständnis Grebes im Jahre 1956, dass er Rust (1944) nicht kennt, selbst wenn er 6 bzw. 12 Jahre später dessen Amtlichkeit in seinem Aufsatz noch zweimal ins Spiel bringt. Grebe hat Rust (1944) nicht gekannt. Er kann ihn, das hat sich noch einmal bestätigt, als solchen nicht gekannt haben. Wenn es nach Böhme (2001), in einer eigenartigen Dispositionierung, „[unwahrscheinlich ist, daß der Dudenredaktion die Herausgabe des OWB [= Orthographiewörterbuchs; WM] von BASLER verborgen geblieben sein sollte“ (S. 137; Kursive WM), so lässt sich nach allem sagen, dass die Dudenredaktion respektive ihr Leiter Baslers Orthographiebuch kennt. Erinnert sei daran, dass dieses im November 1952 auf der Konstanzer Arbeitsbesprechung als eine der Arbeitsunterlagen an die Sitzungsteilnehmer verteilt worden ist (vgl. oben 3.2.1.1). „Daß die Dudenredaktion es in ihrer Eingabe [an die KMK 1955; WM] trotzdem unerwähnt ließ, hing vermutlich damit zusammen, daß es die Orthographie des RWV [=Rust (1944); WM] kodifizierte, deren amtliche Verbindlichkeit die Dudenredaktion schon zu Beginn [d.h. schon 1944; WM] angezweifelt hatte (s. 4.7 Pkt. 1).“ (Böhme 2001, S. 137; Kursive WM). Böhmes Verweis und auch seine Fortführung betreffen die Auskunft des Schulverlages im Brief vom 18.7.1944 an das Bibliographische Institut in Leipzig, Rust (1944) sei „in keiner Weise als allgemein verbindlich anzusehen“ (vgl. oben 2.4.3). Angenommen, ich habe Böhmes Vermutung richtig verstanden, so ist zu sagen, dass sie nicht zutreffen kann. Sie beruht, so wie ich es sehe, auf folgenden Voraussetzungen: <?page no="433"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 433 Übergreifend: (1) Nahtlose Kontinuität der Dudenredaktion in Leipzig 1944 über 1945 hinweg - und der Dudenredaktion in Wiesbaden 1947 bis 1955; (2) Intaktes Institutionsgedächtnis ‘der Dudenredaktion’ während des Zeitraumes von 1944 (Rust und Briefwechsel mit dem Schulverlag) über 1945 und 1947 bis hin zu 1955. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Eingabe (1955): (3) Inhaltliche Kenntnis von Rust (1944); (4) Wissen von der inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Basler (1948) und Rust (1944). Nach allem bisher Dargestellten ist keine dieser Voraussetzungen erfüllt. Doch trotz alledem gibt es auch hier eine frappierende Kehre. Grebe kennt die Regelung der Fremdwortschreibung in Basler ( 7 1951) genauer). Er kennt darüber hinaus offenbar noch einiges mehr, wie seine allgemeine Rede von den Unterschieden gegenüber ‘dem Duden’ zeigt. Damit kennt Grebe nun doch auch Rust (1944), zumindest bestimmte inhaltliche Regeln und Schreibungen; aber nicht unter dem Namen Rust, sondern unter dem Namen Basler. Er kennt Rust, und er kennt ihn doch nicht. Es ist Rust, und er ist es doch nicht. Grebe kennt ihn, aber er weiß nicht, dass er ihn kennt. Grebes Kenntnisse: Ein nahezu getreues Abbild unter anderem Namen. Es ist wie das Spiegelbild des Mondes in der Lagune, doch den Mond sieht Grebe nicht. Genauer: Von dem Mond weiß Grebe nicht(s). Anders: Für Grebe scheint auf diesem Felde kein Mond. 3.3.3.3 Kopke (1995): Kuriosa - Birken-Bertsch/ Markner (2000): Monströse klandestine Operation Erst der höchstinstanzliche Stopp des Unternehmens von 1944, von dem Basler als Insider weiß, ermöglicht es diesem überhaupt, 1948 die unveränderte Regelung von Rust (1944) in Verbindung mit einer entideologisierten Wortkomponente bei einem anderen Verlag, und zwar privat und endlich unter seinem Namen, herauszugeben und die amtliche, wenn auch „unter folgendem Vorbehalt“ stehende Zulassung „für alle bayerischen Schulen“ zu erwirken. <?page no="434"?> 434 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wäre Rust (1944), so 1995 die Vorstellung von Böhme und Kopke, auch nach dem Kriege weiterhin amtlich (geblieben), so bestünde die folgende Situation: Das Werk Rusts wäre zwar für ganz Deutschland ohne Vorbehalt verbindlich, aber nicht verfügbar, weil weitgehend eingestampft. Das in der Regelung mit ihm identische und in der Wortkomponente entnazifizierte Werk Baslers wäre zwar ab 1948 verfügbar, aber nur in Bayern verbindlich, und das zudem mit bestimmten Vorbehalten, die Teilen der Rustschen Regelung für ganz Deutschland widersprächen. Das wäre ein weiteres Kuriosum in diesem Kapitel der Geschichte der Orthographie, das sich den bereits oben (vgl. 3.1.1) im Zusammenhang insbesondere mit Kopke aufgezeigten durchaus als ebenbürtig zugesellt, wenngleich alle diese in der Geschichte der Orthographie nicht die einzigen wären. Da es aber in all diesen Fällen nicht so, wie von Kopke (1995) dargestellt, sondern anders ist, bleiben sie allenfalls, aber immerhin Kuriosa der Geschichte von, mit und über Kopke. Nachzutragen ist: Auch Birken-Bertsch/ Markner (2000, S. Ulf.) gehen auf den Sachverhalt Rust (1944) > Basler (1948) ein. Wenn die zwei Autoren (S. 112) die Aussage Kopkes (1995, S. 48), von Rust (1944) habe es nach dem Kriege keinen „Neudruck“ gegeben, unter Hinweis auf Baslers Buch als irrig kennzeichnen, so ist doch zu bedenken, dass trotz der inhaltlichen Übereinstimmung der Regelung die Wortkomponente beider Bücher nicht identisch ist. Wichtiger ist: Bezogen auf ihren Geltungsbereich haben sie einen völlig unterschiedlichen Status. Das regional in Bayern und zudem unter Vorbehalt zugelassene Buch Baslers ist nicht gleich dem zunächst ohne Vorbehalt für reichsverbindlich erklärten Buch von Rust. Haben die zwei Autoren diese Verbindung Rust (1944) > Basler (1948) auch gesehen, so haben sie die große Chance, die darin für die Stützung ihrer Sicht der Dinge, für ihr Konstrukt verborgen liegt, jedoch übersehen. Rust (1944) ist über 1944 und über das Ende des Krieges hinaus bereits 1945 wieder oder auch weiterhin im Spiel, und zwar unter dem Namen Otto Basler, also gewissermaßen in Alias-Gestalt. Gelingt es ihm zunächst, bereits 1945 den vertraglich gesicherten Brückenkopf in München zu errichten und drei Jahre später, 1948 mit der Veröffentlichung, sich in ganz Bayern auszubreiten, so ist er, weiterhin unter Pseudonym und entsprechend subversiv, von Beginn der Reformbemühungen an 1950 mit dem Vorsitz im KMK- <?page no="435"?> Kontinuitäten: Leitung der Dudenredaktion - Reformbemühungen 43 5 Ausschuss weiterhin aktiv wie dann in Fortsetzung auch von Beginn der Konferenzen an, d.h. seit Konstanz 1952 in Form einer der Arbeitsunterlagen, über Stuttgart 1955 und über Wiesbaden 1959 immer dabei und weiter, und nun mündet diese Schiene in die von den zwei Autoren konstruierte Schweigespirale, über die Bände der IDS-Kommission (1985 und 1989) bis hin zu der Neuen Regelung (1996), die im Jahre 2005 dann „nach dem Willen ihrer politischen Urheber [...] verbindlich werden soll“ (Birken- Bertsch/ Markner 2000, S. 9). Strategisch geschickt und in hohem Maße konsequent werden auf diesen Wegen den jeweiligen Akteuren die Rustschen Vorstellungen über fünf Jahrzehnte hin nachhaltig unterschoben oder auch ans Herz gelegt bis hin zur erfolgreichen Ausbreitung nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch in Österreich und in der Schweiz und darüber hinaus in weiteren auch deutschsprachigen Staaten. Wenn die zwei bei ihrem visionären Auftakt (vgl. 1.3.1.1) die Vision Faber- Kaltenbachs von 1944 für ihre Zwecke umpolen, Bernhard Rust in die Rolle des eigentlichen Initiators mit Femwirkung bis in das Jahr 2005 schlüpfen lassen und dann fortfahren: „Eine Million Exemplare waren schon gedruckt, als die Aktion abgeblasen genauer: verschoben wurde.“, so erweist sich diese Feststellung, nach der oben aufgezeigten Rustschen Zeit- und Raum- Femwirkung, als das Ergebnis wenig gründlicher Recherchen. Zutreffender wäre: ‘[...] als die Aktion abgeblasen genauer: verschoben noch genauer: von der offiziellen Ebene gewissermaßen in den Untergrund verlegt und bis zum Jahre 1996 systematisch weiter verfolgt und 2005 mit Erfolg abgeschlossen wurde’. Rusts subversiv klandestine Operation hat von dem nunmehr gewonnenen Stand- und Sichtort aus bisher ungeahnte Ausmaße, die die Grenzen zum Monströsen überschreiten. Wie sagt der Volksmund doch? Vertan ist vertan. Oder vielleicht auch nicht? Wie ich die beiden einschätze, werden sie, sofern sie diese Abhandlung bis zu dieser Stelle lesen, in einem weiteren Aufguss ihrer Sicht der Dinge mit diesen neuen Erkenntnissen ihre Recherchen-Lücke schließen. Wir werden sehen. <?page no="436"?> 436 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Vertritt Knobloch (2001, S. 202) uneingeschränkt auch die Meinung: „Nun weiß jeder Kundige, dass die Geschichte der Rechtschreibreformbewegung genau so lang (und auch genau so eintönig) ist wie die Geschichte der orthographischen Normierung.“, so muss man doch feststellen, dass er in einem Punkte irrt. Beide Geschichten sind zwar lang und insgesamt zwar nicht unendlich, aber doch unbegrenzt, möglicherweise. Doch das oben Dargestellte zeigt, dass die Geschichte der Orthographie alles andere als trocken und nichts weniger als langweilig und ihr Unterhaltungswert äußerst groß ist Selbst die ja so oft beschworene Spaßgesellschaft hätte, würde sie sich denn mit der Orthographie und der Geschichte des Bemühens um ihre Reform beschäftigen und hätte man nicht neuerlich festgestellt: „Dass sie am Ende sei.“ 225 - Sie hätte ihre helle Freude daran und würde sich, speziell in Bayern ein bzw. in Österreich eine, insgesamt ein(e) Gaudi daraus machen: Total super und absolut hip. 225 Bolz (2001/ 6.11.): Schock des Weltterrors. Wider die Pathosformeln der Neuen Ernsthaftigkeit. <?page no="437"?> 4. ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? Eigen- und Rollenverständnisse - Wie ist dies alles zu verstehen? Zur Erinnerung: In der Eingabe der Dudenredaktion (1955/ 27.10.; vgl. oben 2.2.1), verfasst von ihrem damaligen Leiter, Paul Grebe, heißt es, die in der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) niedergelegten Regeln entsprächen der letzten staatlichen Willensäußerung zu dieser Frage, das wäre Rust (1944). 1st der damit erhobene Anspruch in eigener Sache, allein für sich gesehen, schon sehr hoch, was sich auch, wie schon bekannt, komplementär in der gleichzeitigen Abqualifizierung des Konkurrenzwerkes Mackensen (1954) ausspricht, so bescheidet sich Grebe damit jedoch durchaus noch nicht. Sondern er weitet in der Fortführung der Eingabe den Geltungsbereich seines Anspruchs erheblich und dabei in zwei Dimensionen aus: Sowohl historisch tief zurück auf großen Spuren wandelnd bis in das Jahr 1900 als auch die orthographischen Inhalte sowie die diesbezüglichen amtlichen Verlautbarungen breit, ja: alle umfassend. Auch hier sprechen die kleinen Wörter eine deutliche Sprache: ,jseit der Jahrhundertwende [...] nur in Übereinstimmung mit den amtlichen Stellen“; „in allen Fragen der Rechtschreibung“ (Dudenredaktion 1955/ 27.10.); „[...] daß sich dieses ganze ernsthafte Bemühen der Dudenredaktion [...] an keiner Stelle im Widerspruch zu den amtlichen Verlautbarungen befindet, wie sie >auf der Rechtschreibkonferenz von 1901 und in den späteren Verfügungen< festgelegt wurden. Soweit Regeln und Schreibweisen in diesen Verfügungen niedergelegt sind, wurden sie genauestem beachtet“ (Dudenredaktion 1956/ 23.4.; Kursive WM). Dies sind alles andere als leise Töne. Wie oben jedoch nachgewiesen, ist die Aussage: Übereinstimmung zwischen der Duden-Rechtschreibung ( 14 1954) und dem amtlichen Werk Rust (1944), mit Blick auf die inhaltliche Regelung beider Orthographiebücher rundum falsch; mit Blick auf den Status des Buches von 1944 unzutreffend, da dieses, wie schon aus älterer Literatur allgemein und mit Strunk (1998) vom Datum her bekannt, seit August 1944 und damit auch um 1955, zu Grebes Zeiten, nicht mehr amtlich ist; <?page no="438"?> 438 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform mit Blick auf Grebes Wissen um Rust (1944) fehlleitend, missverständlich, da jener dieses Werk als solches nicht kennt und auch nicht kennen kann. Angesichts dessen, was bisher schon so alles passiert ist, bleibt nunmehr nichts anderes übrig, als auch gegenüber dem allumfassenden und tief zurückgreifenden Anspruch äußerst skeptisch zu sein und diesen auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Denn wie sagt, leicht paraphrasiert, der Volksmund? Wer einmal etwas nachweislich Falsches sagt, dem glaubt man nicht,... Das Ergebnis hier ist: Auch dieser Anspruch hat keine materielle Grundlage und ist entsprechend nichtig (dazu vgl. 4.1). Das Führt fast zwangsläufig zu den Fragen: Wie steht es insgesamt um das Eigenverständnis ‘des Duden’, um die Eigendarstellung und Selbstinszenierunf auch seiner Leiter, d.h. Paul Grebes und seines Nachfolgers, Günther Drosdowskis? (vgl. 4.2). Wie ist dies alles zu verstehen, wenn es denn überhaupt zu erklären ist? (vgl. 4.3). Und im Weiteren: Wie verhält sich ‘der Duden’ respektive sein Leiter, Drosdowski, bei der Einführung der Neuen Regelung (1996)? (vgl. 4.4). Insgesamt dokumentiert auch dieses Kapitel das Phänomen der Textsortentradition in vielfältiger Ausgestaltung oder auch Variation. Auch hier ist, und dies im Vorgriff, eine überraschende Wende anzukündigen; denn vieles von dem, was bisher dargestellt ist, findet um 2000 sein Ende. Was gleichzeitig heißt, dass der erste Abschnitt eines neuen Kapitels dieser orthographischen Geschichte begonnen hat, unten gezählt als 5.1. bzw. dort erzählt. 4.1 ‘Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Norm über die Zeit hin? Die Redeweise von ‘Übereinstimmung’ und ‘Änderung’ setzt einen Bezugshintergrund voraus, vor dem als Maßstab etwas neu Ein- oder Durchgeführtes als gleich bzw. als abweichend erscheint. Schon Konrad Duden liefert diesen Maßstab, indem er sich von der 1. bis zur 8. Auflage seines Orthographiebuches auf die jeweils geltende(n) amtli- <?page no="439"?> "Der Duden': Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? 439 che(n) Regelung(en) beruft: „Nach den neuen preußischen und bayerischen Regeln“ (so 1880 auf der Titelseite der Erstausgabe). 226 Diese Tradition, auf der Titelseite in der 'nach den [...] / ? ege/ «’-Struktur die gültigen amtlichen Regeln als Grundlage auszuweisen, findet ihre Fortsetzung von der 9. Auflage 1915 bis zur 12. Auflage 1941 der Duden- Rechtschreibung. In der 13. Auflage 1947 fehlt dieser Titelzusatz zwar, doch werden hier, wie auch bei den Vorgängerinnen, im Vorwort ausdrücklich das preußische, bayerische und österreichische amtliche Rechtschreibbuch genannt, „die bei der Bearbeitung [...] benutzt wurden“ (Duden-Rechtschreibung ( 13 1947), S. 3*). In der 14. Auflage 1951 (Leipzig) sowie in der 14. Auflage 1954 und der 15. Auflage 1961 (Wiesbaden und späterhin Mannheim; ab hier geht es ausschließlich um diese Linie) unterbleibt dieser Bezug auf die Amtlichkeit auf der Titelseite ebenfalls. 1954 heißt es im Vorwort nunmehr lapidar: „die >Vorbemerkungen<, in denen die geltenden Richtlinien der deutschen Rechtschreibung niedergelegt sind“ (Duden-Rechtschreibung 14 1954, Vorwort). Von der 16. Auflage 1967 bis zur 18. Auflage 1980 findet sich auf der Titelseite „Im Einvernehmen mit dem Institut für deutsche Sprache“ gewissermaßen ein Intermezzo auf einer anderen Ebene. In der 19. und 20. Auflage von 1986 bzw. 1991 steht statt des IDS- Einvemehmens dann wieder die Amtlichkeit: „Auf der Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln“; in der 21. Auflage 1996 ist dies, entsprechend der Entwicklung der Dinge, erweitert um neu: „[...] der neuen amtlichen [...]“, wobei das Aufkommen des kleinen Wortes neu im Text vorne und hinten auf dem Außenumschlag 1996 geradezu inflationär ist und marktschreierisch wirkt; was, wie auch anderes sonst, dann in der 22. Auflage von 2000 wohltuend anders klingt. Insgesamt wird also nahezu durchgängig über gut zehn Jahrzehnte hin schon auf der Titelseite die jeweils amtliche Regelung als Grundlage ausgewiesen und damit die inhaltliche Übereinstimmung mit dieser in mindestens zwei- 226 Zu den Titeln der (folgenden) Auflagen vgl. das Literaturverzeichnis. Auch im Wechsel der bemühten amtlichen Regeln und in den Änderungen ihrer Titel spiegelt sich die Zeitgeschichte und damit der Wandel der Dinge in der Zeit wider. Auch das wäre eine eigene Geschichte wert. <?page no="440"?> 440 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform facher Bedeutung postuliert und nach außen hin deklariert. Einschlägige Bezüge in den Vorworten von der 14. bis zur 20. Auflage werden weiter unten (vgl. 4.2) berücksichtigt. Wie aber ist es nun wirklich gewesen? Diese Frage wird im Folgenden in der Weise beantwortet, dass ich die Entwicklung der Regelung einiger Fälle und Fallgruppen im ‘Duden’, z.T. unter Rückgriff auf frühere Darstellungen, ausführlicher nachzeichne und bei größeren Teilbereichen auf einschlägige Untersuchungen in der Literatur zusammenfassend hinweise. So trostlos, wie Kohrt (1997a, S. 308) hier die Forschungssituation sieht und/ oder darstellt, ist sie in meinen Augen nicht (vgl. 4.1.1). Im Weiteren geht es kurz um die kleinen Dudenausgaben mit den preußischen Regeln als Regelteil, um den Regelteil im Großen Duden und um die Dudenredaktion im Wandel (vgl. 4.1.2) sowie dann um ‘den Duden’ und um den von ihm reklamierten Schreib(ge)brauch (vgl. 4.1.3). Insgesamt geht es um einen Einblick in die normändemde und damit normsetzende Tätigkeit der Dudenredaktion über die Zeiten hin. 227 4.1.1 Regelung von Einzelfällen, Fallgruppen und Teilbereichen im Wandel der Zeit Gegenstand ist die Änderung der Regelung von Einzelfällen wie radfahren, der Einzelfallgruppen um Aal und Schiffahrt (vgl. 4.1.1.1) sowie größerer Teilbereiche wie Worttrennung und Fremdwortschreibung (vgl. 4.1.1.2). Im rückblickenden Kommentar werden die Auswirkungen dieser Eingriffe beschrieben (vgl. 4.1.1.3). 227 Insgesamt, d.h. zu allen Bereichen, vgl. u.a. IDS-Kommission (Hg.) (1989) (Kommentare, insbesondere jeweils Abschnitt 1 und 2); Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992) (Kommentare); Mentrup (1993). Kurz vor Abgabe meines Manuskriptes April 2002 wurde mir die Untersuchung Gunnar Böhmes „Zur Entwicklung des Dudens und [zu; WM] seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie“ (Böhme 2001) zugänglich. Geht es in den folgenden Abschnitten wie in den dabei herangezogenen Untersuchungen um die Entwicklung der Regelung vor allem auf der Linie des Großen Duden, so bezieht Böhme systematisch und detailliert auch die Entwicklung auf der amtlichen Linie in den Vergleich mit ein. Die Ergebnisse seines äußerst minutiösen Vergleichs (vgl. sein Kapitel 5) konnten von mir nicht mehr berücksichtigt werden. <?page no="441"?> 'Der Duden': Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? 441 4.1.1.1 Einzelfälle und exemplarische Fallgruppen (1) in bezug auf/ mit Bezug aufich fahre Rad/ radfahren, ich fahre Auto/ Auto fahren Schon an den in der Überschrift genannten Einzelfallen lässt sich demonstrieren, wie die Dudenredaktion im Einzelnen mit Schreibvarianten umgegangen ist. Die Biographien der hier verkürzten Einträge in Konrad Dudens Orthographiebuch und in Folge in der Duden-Rechtschreibung ergeben folgendes Bild (vgl. Abb. 51 und 52). 1887 (3. Auflage) radfahren 1902 (amtliche Regelung) (kein Eintrag) 1905 (8. Auflage) radfahren, ichfahre rad, bin radgefahren (so Bayern) (Österreich nur: ) Radfahren 1915 (9. Auflage) radfahren, ichfahre rad, bin radgefahren, radzufahren (Österreich: ) Rad fahren, ichfahre Rad usw. 1941 (12. Auflage) (neu: ) Autofahren, ich bin Auto gefahren 1954 (14. Auflage) - 1991 (20. Auflage) radfahren, ichfahre Rad, bin radgefahren, radzufahren Auto fahren, ich bin Auto gefahren Abb. 51: ‘Der Duden’: radfahren - Autofahren Am Ende steht eine Mischung aus zwei Schreibvarianten, die vorher konsequent geschieden waren. Der Nachweis der amtlichen Quellen ist gestrichen. 1902 (amtl. Regelung) in Bezug u. in bezug auf 1902 (7. Auflage) in Bezug u. in bezug auf 1905 (8. Auflage) in Bezug u. (Bayern: ) inbezug, (Preußen nur: ) in bezug auf mit Bezug auf 1915 (9. Auflage) in bezug auf mit Bezug auf (Österreich auch: ) in Bezug 1954 (14. Auflage) + 1991 (20. Auflage) in bezug auf, aber mit Bezug auf Abb. 52: ‘Der Duden’: in bezug und mit Bezug Die Verbindung mit Bezug auf wird 1905 hinzugefugt, 1954 wird in Bezug gestrichen mitsamt dem Nachweis amtlicher Quellen (Mentrup 1993, S. 44f.). Einzelfestsetzungen dieser Art sind so selten nicht. Sie fallen vor allem auf, wenn sie sich im Vergleich untereinander oder mit weiteren Fällen als wi- <?page no="442"?> 442 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform dersprüchlich erweisen und so Anlass zur Kritik geben. Das ist z.B., überschaut man die von Höppner (1991) ausgewerteten Rezensionen des ‘Duden’, immer wieder bei den Schreibungen ich fahre Rad radfahren, ich fahre Auto - Auto fahren, ich laufe Eis eislaufen der Fall; und auch bei anderen schwer nachvollziehbaren spitzfindigen Festsetzungen wie genau so genauso, Dienstag abend - Dienstagabend und, erwartungsgemäß, in bezug auf mit Bezug auf, wobei all diese Fälle vom Wandel des Schreibbrauchs her kaum begründbar sein dürften. (2) Zwei Vokalbuchstaben für einen langen Vokal: Aal, Beere, Boot In der einschlägigen amtlichen Regel von 1902 (§ 19.) wird die Zahl der Wörter mit dieser Schreibung rigide festgelegt: „Man schreibt den Selbstlaut nur noch in folgenden Wörtern: [...]“. Deren Zahl beträgt genau 30. Im Protokoll der 2. Orthographischen Konferenz (Beratungen 1901, S. 341) heißt es dazu, „daß in dem Zusatz mur noch< eine Richtlinie für die Zukunft gegeben sei“ (Kursive WM); und zwar in die Richtung, die Wörter mit dieser Schreibung, wenn diese denn überhaupt noch sein muss, aufjeden Fall auf eine eng begrenzte Zahl zu beschränken. Dies wohl auch in der Hoffnung, dass irgendwann in der Zukunft irgendjemand die Schreibung mit zwei Vokalbuchstaben aufheben werde. Das ist zwar in vielen Reformvorschlägen „bis zur Mitte der 50er Jahre fast regelmäßig“ versucht worden (Jansen-Tang 1988, S. 167) wie dann noch einmal 1989 (IDS-Kommissssion (Hg.) 1989), doch insgesamt ohne Erfolg. In der Duden-Rechtschreibung ist diese Regel nicht zu finden. Doch durch die Praxis im Wörterteil werden die Grenzen ihres 1901/ 1902 rigide eingeschränkten Geltungsbereiches überschritten und sie selbst auf diese Weise außer Kraft gesetzt. So werden einschlägige Wörter, die in der amtlichen Regel nicht angeführt sind, in der 7. Auflage von Dudens Orthographiebuch 1902 aus der vorhergehenden Auflage über- und von 1902 an weitere sukzessive neu aufgenommen (Kohrt 1987, S. 50lf; neuerdings im Anschluss an diesen auch Kopke 1995, S. 54). Die 1901 gehegte Hoffnung hat sich auch ein Jahrhundert später nicht nur immer noch nicht erfüllt, sondern die vorgegebene „Richtlinie für die Zukunft“ wird, gemessen an der Intention der Teilnehmer, vom ‘Duden’ in die falsche Richtung umgedeutet, in die Gegenrichtung umgebogen. In der neuen amtlichen Regelung von 1996 wird dies dann sanktioniert, legitimiert - Wandel der Dinge im Verlauf der Zeit. <?page no="443"?> ‘Der Duden': Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? 443 (3) Drei gleiche Buchstaben bei Zusammensetzungen: Schiffahrt - Schifffracht; Tee-Ernte seeerfahren Diese Fallgruppe ist praktisch die einzige, die aus dem komplexen Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnungen in Konrad Dudens Orthographischem Wörterbuch von 1880 an bis 1905 und in Folge in der Duden-Rechtschreibung bis in die Gegenwart hinein behandelt wird. Angesichts der allmählichen Ausdifferenzierung ihrer Regelung und der damit verbundenen Normänderung und -Setzung ist das auch gut so. Denn wer kann oder wer will schon ermessen, was sonst aus dem Regelteil des ganzen Bereiches im amtlichen Orthographiebuch von 1902 bis hin zur 20. Auflage der Duden-Rechtschreibung von 1991 geworden wäre. 1902 Amtliche Regelung Preußen: Nach einander widersprechenden Festlegungen in den Orthographiedarstellungen des 19. Jahrhunderts erklärt das amtliche Rechtschreibbuch von 1902 in einer erläuternden Anmerkung zu den drei Schreibungen dennoch, Dritteil und Mittag (§ 14. c) auch in „anderen Zusammensetzungen, in denen derselbe Mitlaut dreimal hintereinander zu schreiben wäre“, zwei Buchstaben für „zulässig“ und damit die mit dreien implizit für möglich. Bei Silbentrennung sind alle drei zu schreiben. Zu drei gleichen Vokalbuchstaben findet sich keine Aussage. 1902 Konrad Duden: In der 7. Auflage seines Orthographiebuches schließt Duden sich dieser Regelung praktisch an. 1903 Buchdrucker-Duden: In der 1. Auflage dieses Fachbuchs für einen Bemfsstand wird, unter Erwähnung der beiden amtlichen Schreibmöglichkeiten, von Konrad Duden die Variante mit drei gleichen Konsonantbuchstaben in der von ihm neu hinzugefügten Lokalisation „zwischen Vokalen“ getilgt (also nur noch Schiffahrt)-, bei folgendem Konsonantbuchstaben bleiben hingegen alle drei Buchstaben erhalten {Schifffracht). 1907 Buchdrucker-Duden: In der 2. Auflage streicht Konrad Duden den Flinweis auf die liberale amtliche Regelung von 1902 und auf die dort eingeräumte Möglichkeit Schifffahrt. 1915 Duden-Rechtschreibung: In der 9., für die Allgemeinheit gedachten Auflage übernimmt Konrad Duden den Abschnitt aus dem Buchdmcker-Duden ( 2 1907) nahezu wörtlich. Darüber hinaus führt er eine Regel für drei gleiche Vokalbuchstaben neu ein: „Treffen drei gleiche Selbstlaute zusammen, z.B. Tee-Ernte, Kaffee-Ersatz, so kuppelt man.“ <?page no="444"?> 444 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform 1961 Duden-Rechtschreibung: Die 15. Auflage differenziert die Regel für Vokalbuchstaben weiter und unterscheidet, je nach der Wortart, ‘Kuppel’Strichschreibung bei Substantiven {Tee-Ei) und im übrigen Zusammenschreibung {seeerfahren). Zugleich wird die Regel für Konsonantbuchstaben spezifiziert: Das h in griechisch th gilt nicht mehr als vierter Konsonantbuchstabe; statt bisher Balletttheater ist nunmehr Ballettheater zu schreiben. Entsprechend sind nunmehr zu unterscheiden: Balletttruppe - Ballettänzer - Ballettheater. 1980 Duden-Rechtschreibung: In der 18. Auflage wird eine Regel, die seit der 9. Auflage von 1915 nur für den Schriftsatz gilt, in den allgemeinen Regelteil übernommen: Beim Ersatz von ß durch ss sind drei s zu schreiben, also Fusssohle, Kongressstadt usw. 1991 Duden-Rechtschreibung: Erhalten hat sich dieser Komplex bis zur 20. Auflage von 1991 (Augst 1985, S. 15ff; Mentrup 1993, S. 82; 1999, S. 192-195). Abb. 53 gibt eine Übersicht über die Regelung in Duden-Rechtschreibung ( 20 1991), S. 26, 61-62. Aus der Abbildung wird deutlich, dass ‘der Duden’ zur Regelung der Ausnahmeschreibung bei Konsonantbuchstaben am Ende neun Regeln benötigt {th = ein Buchstabe ist eine eingebaute, hier als 2 gezählte Regel). Regel 7 sehe ich als Erläuterungsregel an, die anderen acht als Ausnahmeregeln. Bei Vokalbuchstaben benötigt ‘der Duden’ drei Regeln, Regel 2 und 3 betrachte ich als Erläuterungsregeln. Insgesamt ergeben sich zwölf Regeln. Demgegenüber finden sich in der amtlichen Regelung von 1902, dem Ausgangspunkt, drei Regeln, von denen ich eine als Erläuterungsregel ansehe. Mit einem Wandel im Schreibbrauch der Sprachgemeinschaft lässt sich diese Kumulation immer neuer spezifizierender Festlegungen nicht begründen. Schon intuitiv weißt du, der Wandel im Schreibbrauch vollzieht sich nicht in einer solchen über nahezu acht Jahrzehnte hin gestaffelten Abfolge sprunghafter Änderungen und Unterscheidungen wie z.B. ab sofort Tee-Ei, aber seeerfahren, oder das h in th ist plötzlich kein vierter Konsonantbuchstabe mehr. So iterativ spitzTmdig’ geht es dabei nicht zu, was auch für die meisten der hier zusammengestellten Gruppen gilt. <?page no="445"?> Der Duden’: Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? 445 Grundregel: Bei Zusammensetzungen bleiben alle Buchstaben der Bestandteile erhalten: Werbeetat - Energieeinsparung - Seeufer polizeiintern - Seeaal Haussegen - Hausbrand hausschlachten - Hausschwein Schiffbau - Schiffbrücke - Schiffsfracht - SchiffSchaukel - Schiffsschaukel - Schiffszwieback Ausnahmeregelung: Konsonantbuchstaben 1 Schiffahrt, Brennessei Ballettheater (th, 2 griech. 3, gilt hier als ein Buchstabe), wetturnen 3 • Bei Silbentrennung tritt der dritte Konsonant wieder ein. Schifffahrt, Brenn-nessel, Ballett-theater, wett-tumen 4 In den Wörtern „dennoch“, „Dritteil“ und „Mittag“ wird jedoch auch bei der Silbentrennung der Konsonant nur zweimal gesetzt. den-noch, Drit-teil. Mit-tag 5 • Nach ck darf k nicht ausfallen, und nach tz bleibt z erhalten. Postscheckkonto, Rückkehr: Schutzzoll 6 Wo ein Mißverständnis möglich ist, kann ein Bindestrich gesetzt werden. Bettuch (Laken für das Bett) Bettuch oder Bet-Tuch (Gebetsmantel der Juden) 7 • Folgt auf drei gleiche Konsonanten noch ein anderer, vierter Konsonant, dann darf keiner von ihnen wegfallen. Auspuffßamme, Pappplakai, Balletttruppe, fetttriefend 8 Treffen drei s aufeinander, wenn ss als Ersatz für ß steht (z. B. bei einer Schreibmaschine ohne ß), dann werden immer alle drei s geschrieben, also auch bei folgendem Vokal. Kongressstadt, Fusssohle, Masssachen 9 Dies gilt auch, wenn ein Name auf ss endet die Heussschen Schriften Zum Zusammentreffen von drei gleichen Vokalen t R36. Abb. 53: Duden-Rechtschreibung ( 20 1991), S. 26, 61f. (aus Mentrup 1999, S. 194) Zusammentreffen von drei gleichen Konsonanten (Mitlauten) R204 Treffen bei Wortbildungen drei gleiche Konsonanteii zusammen, dann setzt man nur zwei, wenn ein Vokal (Selbstlaut) folgt. Vokalbuchstaben Bindestrich 1 R36 Ein Bindestrich steht beim Zosarameatreffen von drei gleichen Vokalen (Selbstlauten) in substantivischen Zusammensetzungen. Kaffee-Ersatz, Tee-Ernte, Schnee-Eifel, Hawaii-Insel 2 • Dies gilt nicht für zusammengesetzte Adjektive und Partizipien. schneeerhellt, seeerfahren 3 Kein Bindestrich steht, wenn verschiedene Vokale oder nur zwei gleiche Vokale Zusammentreffen Gewerbeinspektor, Energieeinsparung, Seeufer, Gemeindeumlage, Verandaaufgang. polizeiintern, blauäugig, Seeaal, Bauausstellung, Klimaanlage, Werbeetat, Augustaallee <?page no="446"?> 446 Stationen derjüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform Wenn trotzdem Regeländerungen dieser Art mit dem geltenden Schreib- oder Sprachgebrauch begründet werden oder begründet werden sollen, so wäre zu fragen, auf welcher materiellen Grundlage denn der Gebrauch beobachtet und die einzelnen Änderungen festgestellt worden sind, so etwa 1903 nur noch ^„zwischen Vokalen“. Ausgehend von der Rechtschreibung der Buchdruckereien hat ‘der Duden’ hier die amtliche Regelung 1902 den Buchdrucker-Regeln angepasst bzw. diese jener übergestülpt und auch im Zuge der weiteren Verarbeitung der amtlichen Regeln über die Auflagen hin insgesamt neue Normen gesetzt. 4.1.1.2 Größere Teilbereiche (1) Worttrennung: 228 Abend/ A-bend - Päd-agogik/ Pä-dagogik 1902 Amtliche Regelung Preußen: Bezogen auf Fälle wie Abend heißt es dort (§ 23.) lapidar: „[...] aus einzelnen Buchstaben bestehende Silben werden besser nicht abgetrennt.“ Doch lässt diese Empfehlung die Trennung durchaus zu, also möglich auch: A-bend. Bezogen auf Zusammensetzungen gilt die weitreichende Regel, dass sie nach den Bestandteilen zu trennen sind. Dies gilt zunächst auch für zusammengesetzte Fremdwörter. Doch heißt es, in einfühlender Liberalität, dann weiter: „Erkennt man die Bestandteile von Fremdwörtern nicht“, was in der Schreibgemeinschaft sehr häufig ist, so kann man sie auch wie einfache Wörter, also nach Sprechsilben, trennen: Chir-urg/ Chi-rurg, Päd-agogik/ Pädagogik, Heliko-pter/ Helikop-ter. 1903/ 1907 Buchdrucker-Duden: Schon in der 1. Auflage von 1903 stattet Konrad Duden die wörtlich angeführten amtlichen Regeln mit einer Fülle nicht-amtlicher Zusätze aus. 1915 Duden-Rechtschreibung: In der 9. Auflage übernimmt Konrad Duden diese Zusätze, die doppelt so umfangreich sind wie der wörtlich angeführte amtliche Text, der auch hier als solcher ausgewiesen ist; beim Bindestrich sind die Zusätze, das sei hier nur vermerkt, mehr als achtmal so umfangreich wie der amtliche Text. Zu den beiden oben referierten amtlichen Trennregeln finden sich in Zusätzen Regelungen, die der vorausgestellten amtlichen Regelung widersprechen: 228 Zur Worttrennung vgl. u.a. Klappenbach (1955); Hofrichter (1980, 1981); Mentrup (1993, S. 17-30). <?page no="447"?> 'Der Duden': Übereinstimmung mit der amtlichen Regelung? 447 Die Abtrennung eines Buchstabens am Wortanfang (vgl. oben A-bend) wird als „nach den Buchdrucker-Regeln unstatthaft“ gekennzeichnet. Bei den zusammengesetzten Fremdwörten wird, laut Zusatz, im Wörterverzeichnis „die Stelle der Trennung durch einen senkrechten Strich (|) bezeichnet, z.B. [...] Mon|arch“. In Ausführung dieser Ankündigung finden sich im Wörterteil Trennungsmarkierungen wie Atmosphäre, Mikro\skop, Mon\arch, Inter\esse, Päd\ agogik; die nach der amtlichen Regelung ebenfalls mögliche Trennung nach Sprechsilben wie Atmos-phäre, Mikros-kop, Mo-narch, Inte-resse, Pä-dagogik ist im Wörterteil nicht angeführt. Dies sollte sich 12 Auflagen später und gut 80 Jahre nach Einführung der neuen amtlichen Regelung im Jahre 1996 in der 21. Auflage in modifizierter Form wiederholen. Das Dudenspiel wird trotz und mit der neuen Amtlichkeit offensichtlich unverdrossen weitergeführt und geht in eine neue Runde, die allerdings nur vier Jahre andauem wird. 1941 Duden-Rechtschreibung: Bezüglich der Fälle um Abend wird in der 12. Auflage der Widerspruch zwischen der amtlichen Empfehlung und dem Buchdruckerverbot aufgelöst. Der amtliche Teil wird gestrichen und das Verbot ohne Hinweis auf Buchdrucker-Regeln rigoros verallgemeinert: „Ein einzelner Selbstlaut wird nie abgetrennt, also nicht A-bend, A-gent.“ 1954 Duden-Rechtschreibung: Bezüglich der zusammengesetzten Fremdwörter ist seit der 14. Auflage die liberale amtliche Regelung von 1902 nicht mehr zu finden. Verblieben sind die in der 9. Auflage 1915 rigide festgelegten Trennungen im Wörterteil. 1991 Duden-Rechtschreibung: ln beiden Fällen ist die 1902 amtlich festgelegte Liberalität aufgehoben. Dies hat sich bis zur