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Lexikologie des Deutschen

Eine Einführung

0910
2004
978-3-8233-7128-1
978-3-8233-6128-2
Gunter Narr Verlag 
Christine Römer
Brigitte Matzke

Dieses Studienbuch bietet einen breiten Überblick über die deutsche Lexikologie und erfasst die Teilgebiete Wortschatzkunde, Wortbildung, lexikalische Semantik und Phraseologie. Es basiert auf langjähriger Lehrerfahrung der Autorinnen, die die neueren Forschungsergebnisse und -richtungen verständlich und anwendungsorientiert darlegen. Es wird u.a. gefragt, was der semiotische, grammatische, kognitive, soziale und kulturelle Status der deutschen Wörter ist. Die Modelle der deutschen Wortbildung werden erläutert und die Methoden der Beschreibung von Wortbedeutungen diskutiert. Grundsätzlich wird von einem Methodenpluralismus ausgegangen und auf reale sprachliche Belege zur Veranschaulichung zurückgegriffen.

narr studienbücher narr studienbücher Dieses Studienbuch bietet einen breiten Überblick über die deutsche Lexikologie und erfasst die Teilgebiete Wortschatzkunde, Wortbildung, lexikalische Semantik und Phraseologie. Es basiert auf langjähriger Lehrerfahrung der Autorinnen, die die neueren Forschungsergebnisse und -richtungen verständlich und anwendungsorientiert darlegen. Es wird u.a. gefragt, was der semiotische, grammatische, kognitive, soziale und kulturelle Status der deutschen Wörter ist. Die Modelle der deutschen Wortbildung werden erläutert und die Methoden der Beschreibung von Wortbedeutungen diskutiert. Grundsätzlich wird von einem Methodenpluralismus ausgegangen und auf reale sprachliche Belege zur Veranschaulichung zurückgegriffen. ISBN 3-8233-6128-7 Christine Römer Brigitte Matzke Lexikologie des Deutschen Eine Einführung 2. Auflage Römer / Matzke Lexikologie des Deutschen 019802 Stud. - Römer/ Matzke 23.09.2004 10: 52 Uhr Seite 1 Fotosatz Hack, Dusslingen narr studienbücher 019703 Stud. - Römer/ Matzke 23.09.2004 10: 51 Uhr Seite 1 Christine Römer / Brigitte Matzke Lexikologie des Deutschen Eine Einführung 2., aktualisierte und ergänzte Auflage Gunter Narr Verlag Tübingen 019703 Stud. - Römer/ Matzke 23.09.2004 10: 51 Uhr Seite 3 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage 2003 2., aktualisierte und ergänzte Auflage 2005 © 2005 · Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Gulde Druck, Tübingen Verarbeitung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 3-8233-6128-7 019703 Stud. - Römer/ Matzke 23.09.2004 10: 51 Uhr Seite 4 Einleitung, Vorbemerkungen Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe vergleichen, in dem jeder Teil mit dem andren und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhange stehen. (Wilhelm von Humboldt) Das Studienbuch „Lexikologie des Deutschen. Eine Einführung“ basiert auf langjähriger Lehrerfahrung der Autorinnen im Fach Germanistik. Es gibt einen einführenden Überblick über die Gegenstände der germanistischen Lexikologie unter Einbeziehung der neueren Forschungsergebnisse. Dabei knüpfen wir dankbar an die auf dem Markt befindlichen Lexikologien von Kühn (1994), Lipka (2002), Lutzeier (2001), Pöll (2002), Reichmann (1976), Schwarze und Wunderlich (1985), Schippan (1992) und Schlaefer (2002) an, geben aber unsere eigene Sicht auf das Fach wieder, die beispielsweise dadurch gekennzeichnet ist, dass wir die Phraseologie und die Wortbildung einbeziehen, weil wir in Phraseologismen keine Abweichungen vom normalen Wortschatz sehen. Die Resultate von Wortbildungsprozessen sehen wir ebenfalls als Lexikonelemente an, die separat von der Satz- und Textgrammatik beschrieben werden können. Wir gehen davon aus, dass wissenschaftliche Beschreibungen von der Absicht, die sie verfolgen, abhängen. So ist es ein Unterschied, ob man die Bedeutung eines Wortes im Rahmen des Deutschunterrichts oder für Zwecke der automatischen Übersetzung beschreibt. Wir halten deshalb nichts von Feststellungen der Art, dass nur die formalisierte bzw. nichtformalisierte Bedeutungsbeschreibung sinnvoll sei. Unsere Ausführungen illustrieren wir meist mit Verwendungsbeispielen aus der deutschen Gegenwartssprache, nicht durch erfundene Hörbelege. Objekt des Buches ist der Wortschatz des heutigen Deutschen, wobei uns bewusst ist, dass es gerade für die Wortschatzbeschreibung keine absolute Synchronie gibt, da der Wortschatz der Teil einer Sprache ist, der sich am schnellsten und für alle Sprachteilnehmer/ innen deutlich sichtbar verändert. An jedes Kapitel haben wir einige Übungsaufgaben und Hinweise auf besonders wichtige Grundlagenliteratur angefügt, die zur Vertiefung des Stoffes gelesen werden sollte. Das Kapitel 3 „Wortbildung“ wurde von Brigitte Matzke, die anderen Kapitel von Christine Römer verfasst. Bei der Darlegung folgen wir den üblichen Konventionen für semantische Beschreibungen und verwenden in der Regel Großbuchstaben. Die natürlichsprachlichen Beispiele im laufenden Text setzen wir kursiv. vi Besonders bedanken möchten wir uns beim Gunter Narr Verlag, der uns das Buch ermöglicht hat, bei Kathrin Heyng für die Lektorierung und bei Stefan Müller, der nicht nur viele nützliche fachliche Hinweise gegeben hat, sondern auch bei der computertechnischen Texterstellung sehr hilfreich war und das L A TEX-Stylefile hergestellt hat. Außerdem danken wir Peter Gallmann für seine konstruktive Kritik, Diskussion und Anregungen. Auch Adrian Simpson und Heidrun Keßler schulden wir Dank. Jena, 20. März 2003 Christine Römer und Brigitte Matzke Einleitung, Vorbemerkungen zur 2., aktualisierten und ergänzten Auflage Die erste Neuauflage gibt uns die Möglichkeit zu Verbesserungen und Ergänzungen, die zum einen technische Fehler der ersten Auflage betreffen und zum anderen aus der Diskussion und Arbeit mit den Studierenden und Kolleg/ innen resultieren. Außerdem soll der inzwischen neu erschienenen Literatur Rechnung getragen werden und „Vergessenes“ ergänzt werden. Wir haben deshalb jetzt ein eigenes Unterkapitel „Bedeutungswandel“ eingefügt (Kapitel 4.7). Wir möchten uns bei allen, die uns Anregungen gegeben haben, bedanken. Unser besonderer Dank gilt Jan-Philipp Söhn und Adrian Simpson, die uns bei der nötig gewordenen Anpassung an das MiKTeX-System geholfen haben. Wolfgang Römer hat sich u. a. durch das Auffinden von orthographischen Fehlern unseren Dank erworben. Auf der website (url: ) http: / / www.personal.uni-jena.de/ ∼ xcr/ werden wir auch zukünftig Errata anzeigen. Jena, 21. September 2004 Christine Römer und Brigitte Matzke Inhaltsverzeichnis 1 Objekt und Gegenstände der Lexikologie 1 1.1 Das Objekt und die Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Teildisziplinen der Lexikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4 Angelagerte Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Wortschatzkunde 9 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung . . 9 2.1.1 Relevante Zeichenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1.2 Das Wort als sprachliches Zeichen . . . . . . . . . . . . . . 13 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung . . . . . 19 2.2.1 Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2.2 Die Definition des prototypischen Wortes . . . . . . . . . . 32 2.3 Das Lexikon als Wissensspeicher: kognitive Wortbetrachtung . . . . 32 2.3.1 Das mentale Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.3.2 Holistische vs. modulare Auffassungen . . . . . . . . . . . 33 2.3.3 Abgrenzung von Wissensarten . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene . . . . . . . . . . . . 37 2.4.1 Der Umfang des deutschen Wortschatzes . . . . . . . . . . 38 2.4.2 Die zeitliche Markierung des deutschen Wortschatzes . . . . 39 2.4.3 Die internationale Markierung . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.4.4 Die regionale Gliederung des deutschen Wortschatzes . . . 46 2.4.5 Die soziale Geprägtheit des deutschen Wortschatzes . . . . 48 2.5 Beziehungen zwischen den Wörtern . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.5.1 Semantische Relationen zwischen Wörtern . . . . . . . . . 52 2.5.2 Wortfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.5.3 Wortfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.7 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3 Wortbildung 61 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung . . . . . . . . . . . . 61 3.1.1 Morpheme als Konstituenten des Wortes . . . . . . . . . . . 62 3.1.2 Zur Syntax von Wortbildungskonstruktionen . . . . . . . . 65 viii Inhaltsverzeichnis 3.1.3 Zur Semantik von Wortbildungskonstruktionen . . . . . . . 68 3.1.4 Zur Beschaffenheit der unmittelbaren Konstituenten in den Hauptwortbildungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.2 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.2.1 Determinativkomposita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.2.2 Kopulativkomposita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.2.3 Zusammenrückungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3 Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3.1 Explizite Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3.2 Implizite Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.4 Kurzwortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.5 Wortbildungsarten im Deutschen (Übersicht) . . . . . . . . . . . . 108 3.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.7 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4 Lexikalische Semantik 113 4.1 Zum Problem der Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2 Enge und weite Modelle der Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . 113 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . 116 4.3.1 Enge Bedeutungsbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3.2 Weite Bedeutungsbeschreibungen: Pragmatisches Bedeutungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.3.3 Weite Bedeutungsmodelle: syntaktische Modelle . . . . . . 127 4.3.4 Kompositionelle Bedeutungsbeschreibung . . . . . . . . . . 128 4.4 Unbestimmtheit der Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.4.1 Einordnung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.4.2 Kontextabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.4.3 Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.4.4 Mehrdeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.5 Kognitive Bedeutungsbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.5.1 Allgemeine Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.5.2 Prototypensemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.5.3 Frames und Scripts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.6 Stereotypensemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.7 Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.9 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Inhaltsverzeichnis ix 5 Phraseologie 157 5.1 Gegenstände und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.2 Merkmale von Phraseologismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.2.1 Grammatische Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.2.2 Pragmatisches Merkmal der Metakommunikativität . . . . . 173 5.3 Kognitive Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.3.1 Status der kognitiven Beschreibung . . . . . . . . . . . . . 174 5.3.2 Der Erwerb von idiomatischen Phraseologismen . . . . . . 174 5.3.3 Die mentale Repräsentation von Phraseologismen . . . . . . 176 5.3.4 Die Verarbeitung von idiomatischen Phraseologismen . . . 178 5.4 Phraseologismen als kulturelles Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . 179 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen . . . . . . . . . . . . . . 181 5.5.1 Relevante soziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.5.2 Soziolektale Phraseologismen . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.5.3 Ideologiebezogene Phraseologismen . . . . . . . . . . . . . 188 5.5.4 Interaktionalspezifische Phraseologismen . . . . . . . . . . 189 5.6 Textuelle Eigenschaften von Phraseologismen . . . . . . . . . . . . 190 5.6.1 Allgemeine Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5.6.2 Vorkommen von Phraseologismen im Text . . . . . . . . . 191 5.7 Arten von Phraseologismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5.9 Übungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6 Lösung der Übungsaufgaben 199 6.1 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 2. Wortschatzkunde . . . . 199 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung . . . . . . . 201 6.2.1 Zu 3.1.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6.2.2 Zu 3.1.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 6.2.3 Zu 3.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6.2.4 Zu 3.3.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 6.2.5 Zu 3.3.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 6.2.6 Zu 3.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 6.2.7 Zu 3.5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.3 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 4. Lexikalische Semantik . 211 6.4 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 5. Phraseologie . . . . . . . 216 Literaturverzeichnis 219 Index 231 Index der Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Index der Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1 Objekt und Gegenstände der Lexikologie 1.1 Das Objekt und die Gegenstände Das Fachwort Lexikologie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet „Lehre von den Wörtern“, damit ist das Objekt der linguistischen Teildisziplin gut bezeichnet: Die Wörter stehen also im Zentrum. Bezüglich des Wortschatzes wird bei Lutzeier (2002, S. 4) zwischen Lexis (Sammlung der Wörter der Einzelsprachen), mentaler Speicherung der Wörter bzw. ihrer Charakteristika und Lexikon, auf das die Grammatik zugreift, unterschieden, diese Wortschätze sind Gegenstände der Lexikologie. Wörter bilden die Basiskomponenten aller Sprachen. Sie haben verschiedene Charakteristika, was auch in geflügelten Worten deutscher Dichter sichtbar wird (siehe die angeführten Beispiele in (1); sie sollen zum Nachdenken anregen). So verweist Goethe im „Faust“ u. a. auf den Zusammenhang zwischen Wörtern, Handlungen und dem Denken. Das Gedicht „Wink“ aus dem „West-östlichen Divan“ verweist u. a. auf die komplizierte Zuordnung der Form- und Inhaltsseite des Wortes. Die ausgewählten Heineverse zeigen die Verbindung zwischen Wörtern und Emotionen auf 1 . (1) a. Der Worte sind genug gewechselt, Lasst mich auch endlich Taten sehn! Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen. (Goethe: Faust) b. Und doch haben sie recht, die ich schelte: Denn, daß ein Wort nicht einfach gelte, Das müßte sich wohl von selbst verstehn. Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben Blicken ein paar schöne Augen hervor, Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor, Er verdeckt mir zwar das Gesicht, Aber das Mädchen verbirgt er nicht, Weil das Schönste, was sie besitzt, Das Auge, mir ins Auge blitzt. (Goethe: Hafis Namek: Buch Hafis aus West-östlicher Divan) c. Die Worte und die Küsse 1 Alle Belege sind in der Originalschreibung beibehalten, sie werden also nicht in die neue orthographische Schreibung überführt. 2 1 Objekt und Gegenstände der Lexikologie Sind wunderbar vermischt (Heine: Neue Gedichte) Diese vielfältigen Aspekte des Wortschatzes, die nicht nur unsere großen Dichter fasziniert haben, werden heute von verschiedenen Lexikologien betrachtet: Die allgemeine Lexikologie Die allgemeine Lexikologie sucht nach den Gemeinsamkeiten aller Wörter aller Sprachen, fragt also nach den Universalien und den theoretischen Grundlagen. Ansichten, die das Lexikon nur für eine Ansammlung von Zufälligkeiten „oder scheinbar eine eintönige Wortliste, die Stück für Stück stumpfsinnig auswendig gelernt werden muß“ (Pinker, 1994, S. 145) halten, werden von der allgemeinen Lexikologie und auch von uns nicht geteilt. So lassen sich bestimmte Tatbestände voraussagen, die universelle Eigenschaften aller Sprachen sind: Alle Sprachen verfügen über einen Vorrat an Morphemen (Wortteilen) und eine Menge Konventionen, die festlegen, wie sich diese zu sinnvollen Kombinationen wie komplexen Wörtern, Phrasen und Sätzen zusammenbauen lassen. Werden Wörter zusammengebaut, so haben sie die Wahl zwischen Suffixen, Präfixen und Infixen (Einfügungen), können eine Vokal- oder Konsonantenänderung durchlaufen oder redupliziert werden (Pinker, 2000, S. 251). Eine andere Universalie ist, dass sich Wörter binär aufbauen und dass sie binär interpretiert werden wie in (2). (2) Hochschul Lehrerin = Hochschullehrerin hoch Schule = Hochschule Lehrer in = Lehrerin Lehr er = Lehrer Die spezielle Lexikologie Die spezielle Lexikologie beschäftigt sich mit den Spezifika der Einzelsprachen. Sie ist in der Regel auch synchron auf die Gegenwartssprache ausgerichtet und hat als Objekt den Wortschatz einer speziellen Sprache. Dieses Buch versteht sich als eine Beschreibung der speziellen Lexikologie der deutschen Sprache. Die historische Lexikologie Die historische Lexikologie, die auch Etymologie genannt wird, betrachtet die historische Dimension des Wortschatzes. Sie kann zum einen den Wortschatz zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit beschreiben (z. B. um 1500) oder die Entwicklung einzelner Wörter über einen historischen Zeitraum hinweg. 1.2 Die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin 3 So hat das Wort Weinbrand eine interessante Geschichte. Es ist eine deutlich motivierte Prägung (Weinbrand ← gebrannter Wein) eines Sprachwissenschaftlers, die im Gefolge der Restriktionen nach dem ersten Weltkrieg entstanden ist, als Cognac zu einer geschützten Bezeichnung für Weinbrand aus dem französischen Weinbaugebiet Cognac wurde. Die historische Lexikologie betrachtet die Wörter sowohl in ihrer formalen als auch inhaltlichen Entwicklung. Diese Aspekte sind auch nicht unwichtig für das gegenwärtige Wortverständnis. So kann man häufig als Beleg für Luthers derbe Sprache hören, dass er gesagt hat, man solle dem einfachen Volk „aufs Maul sehen, wie sie reden“. Dies ist aber kein richtiger Beleg, weil Maul zu Luthers Zeiten noch keine Bedeutungsverengung erfahren hatte. Die kognitive Lexikologie Die kognitive Lexikologie 2 beschreibt die Speicherung und Verarbeitung der Wörter im menschlichen Gehirn bzw. „Geist“. Sie beschäftigt sich u. a. damit, welche Charakteristika das mentale Lexikon hat und aus welchen Modulen es besteht. Sie interessiert sich für die Spezifika der Worterkennungs- und Wortproduktionsprozesse. Ein wichtiger Gegenstand ist auch die Bedeutungsrepräsentation der Wörter im konzeptuellen System. Die computerlinguistische Lexikologie Die computerlinguistische Lexikologie 3 beschäftigt sich mit der Entwicklung und Verwendung von computerlinguistischen Methoden zur Formalisierung und Implementierung von lexikalischen Regularitäten und Ausnahmen. Außerdem erstellt sie mit den Mitteln der automatischen Sprachverarbeitung (z. B. statistischen Methoden) die verschiedensten Lexika. 1.2 Die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin Die Lexikologie wird in der Regel als „relativ junge sprachwissenschaftliche Disziplin“ (Schippan, 1992, S. 1) oder als sich in der Entwicklung befindliche Disziplin charakterisiert. Der Bewusstheitsgrad bezüglich der Disziplin ‘Lexikologie’ ist bisher nicht allzu hoch. Dies scheint sich aber drastisch zu ändern (Lutzeier, 2001, S. 7). „Die Bezeichnung eines sprachwissenschaftlichen Fachgebietes Lexikologie wird in der germanistischen Linguistik etwa ab 1960 üblich [. . . ] als Ersatz für die bis dahin vorherrschende Bezeichnung Wortforschung“ (Schlaefer, 2002, S. 12). Es wird aber auch immer angemerkt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Wortschätzen schon sehr alt ist. Sie erfolgte meist im Rahmen anwendungsorientierter Ziele, in 2 Weitere spezielle Lexikologien sind möglich, wie die vergleichende Lexikologie, . . . . 3 Der Terminus “computerlinguistische Lexikologie” wird beispielsweise von J. Kilbury in dem Antrag zum Teilprojekt D5 des SFB 282 an der Universität Düsseldorf verwendet. 4 1 Objekt und Gegenstände der Lexikologie der Lexikographie (Lehre von den Wörterbüchern), der Orthographie und der Rhetorik bzw. Stilistik (Wortkunde). Arens (1980, S. 99) schreibt: „Die ältesten erhaltenen Zeugnisse der Linguistik sind sumerisch-akkadische Wörterlisten, nach Sachgruppen geordnet, des 3. Jts.“ Außerdem war und ist das Wort in Hinsicht auf seine formalen Charakteristika Gegenstand der Morphologie, einem Teilgebiet der Grammatik im engeren Sinne. Schwarze und Wunderlich (1985, S. 7) fassen das Gesagte so zusammen: Die traditionelle Forschung hat sich mit den Wörtern einer Sprache hauptsächlich deshalb befasst, weil der Wortschatz ein soziales und kulturelles Faktum darstellt: in den Wörtern sind die für die Kommunikation unentbehrlichen Erfahrungen der Sprachgemeinschaft gespeichert. Das Studium des Wortschatzes konnte so als eine Methode der Kultur- und Geistesgeschichte angesehen werden. Sie heben aber auch hervor, dass die lexikalische Semantik „innerhalb der strukturellen Linguistik eine Tradition“ (als Semasiologie) habe. „Die Semasiologie wurde als Wissenschaft, als Sondergebiet der Grammatik, zuerst von Ch. K. Reisig in den 1839 veröffentlichten Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft eingeführt“ (Schippan, 1975, S. 16). 1.3 Teildisziplinen der Lexikologie Die spezielle Lexikologie der deutschen Sprache hat sich, je nachdem welchen Aspekt des Wortschatzes sie beschreibt und untersucht, in Teildisziplinen aufgespaltet, die aber nicht isoliert voneinander existieren. Welche Teildisziplinen zur Lexikologie gehören, wird keineswegs einheitlich gesehen. So gibt es eher enge Auffassungen wie bei Lutzeier (2001, S. 1) („Unter Lexikologie verstehen wir die Theorie und Praxis im Wortschatz.“) oder (Lutzeier, 2002, S. 1) (“Unter Lexikologie verstehen wir die Theorie und Praxis der Strukturierungen im Wortschatz.”), der ein strukturalistisches Konzept zu Grunde legt. 4 Eine weiter reichende Auffassung wird von uns angenommen. Die Wortschatzkunde Die Wortschatzkunde beschäftigt sich mit den systemhaften Charakteristika von Wörtern in den einzelnen Sprachen. Wortschatzkunde (oder Wortkunde) wird im weiteren Sinne auch synonym mit Lexikologie verwendet. Im engeren Sinne - wie hier - beschäftigt sie sich mit den semiotischen, grammatischen, kognitiven, soziolinguistischen und strukturellen Aspekten des Wortschatzes. In Kapitel 2 wird genauer auf die Wortschatzkunde eingegangen. 4 Weshalb er dann aber die Wortbildung nicht einbezieht, bleibt unklar. 1.3 Teildisziplinen der Lexikologie 5 Die Wortbildung Die Wortbildung befasst sich mit der Bildung und Strukturierung der komplexen Wörter. Sie untersucht die Wortbausteine und die Regeln ihrer Zusammenfügung. Sie kann auch als Wortsyntax bezeichnet werden. Sie hat eine enge Verbindung zur Satzsyntax. So treten wie bei den Phrasen, den Grundbausteinen des Satzes, auch in komplexen Wörtern Kopfkonstituenten auf, die den kategorialen Charakter bestimmen. Wenn wir aus dem Satz (3) die Präpositionalphrase beim Drittligisten Unterhaching diesbezüglich betrachten, so ist beim der Kopf der Phrase, der den Kasus der folgenden Nominalphrase festlegt. Haching ist der Kopf des komplexen Wortes Unterhaching, der den substantivischen Status festlegt. Andererseits gibt es aber auch deutliche Unterschiede zwischen Wort- und Satzgrammatik. In unserem gewählten Beispiel betrifft das u. a. die Stellung der Kopfkonstituente. Der Kopf im komplexen deutschen Wort steht in der Regel rechts, für die deutschen Satzphrasen kann eine solche generelle Aussage nicht getroffen werden. (3) Der in der Bundesliga bislang so enttäuschende Vizemeister setzte sich im Pokal-Viertelfinale beim Drittligisten Unterhaching durch. Spiegel.Online 06.01.2003 Wir ordnen die Wortbildung nicht der Grammatik im engeren Sinne zu, weil neben der Grammatiktheorie auch die Neurolinguistik (Cholewa und de Bleser, 1995, S. 290) deutliche Evidenz für die Unterscheidung funktionell eigenständiger Verarbeitungsmechanismen für die kompositionelle und die derivationelle Wortverarbeitung wie auch für die Flexionsverarbeitung gefunden hat. Mit der Wortbildung beschäftigt sich das Kapitel 3. Die lexikalische Semantik Die lexikalische Semantik der deutschen Sprache beschäftigt sich mit der Bedeutung der Lexeme. Sie interessiert sich für ihren sprachspezifischen Inhalt und für die Methodik, diesen Inhalt zu erforschen. Sie wird nur aus theoretischen Gründen von der Satz- und Textsemantik getrennt. Die Verbindung zum Satz und Text muss im Auge behalten werden, sonst sind bestimmte Phänomene überhaupt nicht erklärbar. Z. B. zeigt sich, dass trinken ein polysemes (mehrdeutiges) Wort ist, erst im Satzkontext. (4) a. trinken 1: jemand trinkt etwas Stefan trinkt meistens Apfelsaftschorle. b. trinken 2: jemand trinkt regelmäßig, suchthaft Alkohol Carla trinkt. Wörter gehen oftmals in ihrer Textreferenz über die Satzgrenze hinaus, so auch das in (5). 6 1 Objekt und Gegenstände der Lexikologie (5) Es war einmal eine Zeit, da gab der Kaiser Franz auf der Bühne des FC Bayern München nicht nur die strahlende Leitfigur, . . . . Das ist länger her. 5 Süddeutsche Zeitung, 14./ 15.08.2002 Wichtig ist auch, dass im strengen Sinne innerhalb der lexikalischen Semantik der semasiologische von dem onomasiologischen Blickwinkel zu trennen ist. In Kapitel 4 wird genauer auf die lexikalische Semantik eingegangen. Semasiologisches Vorgehen liegt dann vor, wenn vom sprachlichen Zeichen ausgegangen wird und nach der Bedeutung dieses Zeichens gefragt wird. Also, wenn ich beispielsweise frage, was bedeuten die Wörter Pannenhilfe und Notruf im Beispiel (6) in der deutschen Sprache. (6) Pannenhilfe mit Notruf verwechselt Erfurt (dpa/ tlz) Ein angetrunkener Autofahrer hat am Samstagmorgen in Erfurt die Pannenhilfe mit dem Polizeinotruf verwechselt. Thüringer Landeszeitung, 09.09.2002 Das onomasiologische Vorgehen geht von den Denotaten (Referenten) bzw. Begriffen (Konzepten) aus und fragt, welche Zeichen für sie in einer Sprache zur Verfügung stehen. Beispielsweise: Wie kann in der deutschen Sprache die Polizei noch benannt werden? Beispiele für Synonyme sind in (7) angeführt. (7) Polizei, Auge des Gesetzes, Polente, Plempe, . . . Auch hinsichlich der Bedeutungsbeschreibung von Wörtern ist die historische Komponente von Interesse, die hier aus oben genannten Gründen weitgehend ausgeklammert werden muss. Grundsätzlich ist aber auch hier den Verfassern der Thesen des Prager Linguistenkreises zuzustimmen (Scharnhorst und Ising, 1976, S. 48): Zwischen der synchronischen und der diachronischen Methode dürfen keine unüberwindlichen Schranken aufgerichtet werden. [. . . ] die synchrone Beschreibung [kann] den Begriff der Entwicklung nicht mehr völlig ausschließen, weil selbst in einem synchronisch betrachteten Ausschnitt immer das Bewußtsein von einem im Schwinden begriffenen Stadium, von einem gegenwärtigen Stadium und einem sich herausbildenden Stadium vorhanden ist. 5 Kursivdruck von uns vorgenommen. 1.4 Angelagerte Disziplinen 7 Die Phraseologie Die Phraseologie beschäftigt sich mit den festen Wortgruppen, also mit Wortgruppen, die wie Einzelwörter im Langzeitgedächtnis (im mentalen Lexikon) gespeichert sind, sich jedoch in verschiedener Hinsicht von den Wörtern und den freien Wortgruppen unterscheiden. Während früher die Phraseologismen als Ausnahmen, als etwas, was keinen Regeln folgt, betrachtet wurden, hat sich das in jüngerer Zeit geändert. Zum anderen wurde auch der Gegenstandsbereich der Phraseologie auf die Kollokationen (usuelle Wortverknüpfungen) ausgedehnt. Mit der Phraseologie beschäftigt sich das Kapitel 5 genauer. 1.4 Angelagerte Disziplinen Die Lexikographie Die Lexikographie ist eine Disziplin, die mit der Lexikologie eng verbunden ist, weil sie ihre Ergebnisse zum Teil aufnimmt und zum anderen auch an der Wiege ihrer Entwicklung gestanden hat. Im engeren Sinne bezeichnet Lexikographie das Erstellen von Wörterbüchern und im weiteren Sinne die Theorie und Praxis der Wörterbuchforschung, letzteres wird als Metalexikographie bezeichnet (vgl. Herbst und Klotz (2003)). Die Morphologie Der Terminus ‘Morphologie’ wird mehrdeutig verwendet, zum einen als Synonym zu Wortbildung und zum anderen als Teilgebiet der Grammatik im engeren Sinne, das die grammatischen Wortformen beschreibt. Bei Eisenberg (1998) ist die Morphologie neben der Phonologie und Orthographie Teil der „Wortgrammatik“. Es ist sinnvoll, zwischen Flexionsmorphologie und Wortbildungsmorphologie zu unterscheiden. Eisenberg schließt neben der Flexionsauch die Wortbildungsmorphologie in seine Wortgrammatik ein. Die Namenkunde „Der größte Teil des Wortschatzes besteht aus Namen.“ (Kunze, 1999, S. 0) Mit ihnen beschäftigt sich die Namenkunde (Onomastik). Sie ist ein Forschungsgebiet, das sich aus diachroner und synchroner Sicht besonders mit den Eigennamen (Personen- und Ortsnamen) „unter theoretischen sowie sprach-, siedlungs-, kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten“ befaßt (a. a. O.). 2 Wortschatzkunde In diesem Kapitel werden die Gegenstände der Wortschatzkunde vorgestellt und beschrieben, wobei sich zeigt, dass das Lexikon in verschiedener Hinsicht relevant ist: in semiotischer, grammatischer, kognitiver, sozialer, kultureller und struktureller Hinsicht. All diese Aspekte sind von gleicher Wichtigkeit. 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung 2.1.1 Relevante Zeichenmodelle Auf de Saussure, den Begründer der modernen Sprachwissenschaft, geht die Auffassung zurück, die Sprache sei ein Zeichensystem: Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. [. . . ] Sie bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind. (de Saussure, 1931, S. 19, 18) Diese die Sprachbeschreibung einengende Ansicht wird heute nur noch in modifizierter Weise geteilt, weil die Sprache weit mehr ist als ein Stellvertreter für etwas. In den Wörtern auch ein Zeichensystem zu sehen, ist heute gängige Praxis. Es gibt aber verschiedene Modellierungen der Sprachzeichen: Das dyadische/ zweiseitige/ bilaterale Zeichenmodell wie es in der Sprachwissenschaft benutzt wird 1 stammt von de Saussure. Seine Vorstellung ist in Abbildung 2.1 auf der nächsten Seite schematisiert wiedergegeben. Für ihn war das Sprachzeichen eine psychische, ganzheitliche Entität, die aus Vorstellung und Lautbild besteht (er benutzte darüber hinaus die Termini Signifié und Signifiant). Das triadische/ dreiseitige Zeichenmodell wird heute in der Regel von der Semiotik angenommen. Sie sieht in Zeichen komplexe semiotische Einheiten mit den Komponenten Zeichenträger, Bedeutung (Intension) und Bezeichnung (Extension). Dies ist in Abbildung 2.2 auf der nächsten Seite dargestellt. Wichtig 1 Zu Traditionen und Entwicklungen der Zeichentheorien, vgl. die Einleitung in Mersch (1998). 10 2 Wortschatzkunde Vorstellung Lautbild Abbildung 2.1: bilaterales Zeichenmodell Bezeichnung: Referenzobjekt (dieser Baum) Bedeutung: Idee, Inhalt, Begriff (BAUM) Zeichenträger: Dinge, Bilder, Wörter (der Baum) Zeichenträger − Bezeichnung − Bedeutung Abbildung 2.2: triadisches Zeichenmodell ist auch, dass heute meist an die Idee von Peirce angeknüpft wird, dass Zeichen nicht nur auf etwas verweisen, sondern sich auch noch an jemanden wenden 2 . Das unilaterale/ einseitige Zeichenmodell wird in der linguistischen Syntaxtheorie bevorzugt aus technischen Gründen zu Grunde gelegt. Es sieht im Zeichen nur den Zeichenkörper, der allerdings die Eigenschaft hat, eine Bedeutung zu haben (vgl. Abbildung 2.3 auf der nächsten Seite): Das unilaterale Zeichen hat den Vorteil, dass ein Mehrwortlexem, wie wissen wo Barthel den Most holt, als aus sechs Zeichen bestehend angesehen werden kann. Der Nachteil dieser Auffassung besteht darin, dass der idiomatische Charakter, die Bedeutung der Wendung keine Rolle spielt. In semantischer Hinsicht handelt es sich um eine Einheit und die Gesamtbedeutung kann nicht, wie in „normalen“ Wortgrup- 2 Man spricht auch vom Zeichen als semiotischem Dreieck, bestehend aus Zeichen, Objekt und Interpretant. 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung 11 Zeichenträger Abbildung 2.3: unilaterales Zeichenmodell pen ermittelt werden. Außerdem kann das Phänomen der Mehrdeutigkeit mit diesem Modell schlecht abgebildet werden. In Anlehnung an Peirce (1986) werden heute drei Hauptarten von Zeichen unterschieden: • Bildzeichen (ikonische Zeichen) Bildzeichen haben eine sinnlich wahrnehmbare Ähnlichkeit mit der realen Erscheinung, für die sie stehen. Dies ist bei Fotos, Piktogrammen oder lautmalenden Wörtern der Fall. • Anzeichen (indexikalische Zeichen) Anzeichen haben einen realen Bezug zum bezeichneten Denotat. So sind Tränen in der Regel ein Anzeichen und ein Teil von Traurigkeit oder Rauch ein Anzeichen und Teil von Feuer. Anzeichen sind unbestimmt und keine bewusst gesetzten Zeichen. Tränen können auch Anzeichen für Wut sein, und sie können von Menschen mit schauspielerischen Fähigkeiten produziert werden, um Trauer vorzutäuschen. Das Tragen von teurem Schmuck kann ein Anzeichen für Wohlhabenheit sein, es kann aber auch benutzt werden, um diese vorzutäuschen. Ebenso ist es möglich, dass ein Schmuckstück unter Aufbieten aller finanziellen Reserven gekauft wurde, weil die Trägerin es sehr schön fand. Es kann natürlich auch ein gelungenes Imitat sein. Außerdem muss man es dem Schmuck gar nicht ansehen, ob er teuer war. • Symbole (symbolische Zeichen) Symbole haben keinen direkten bzw. objektiven Bezug zu dem Original, für das sie stehen. Sie sind durch Konventionen entstanden. Ob alle drei Zeichenarten in der Sprache vorkommen, ist umstritten: Die Frage „Sind Sprachzeichen ikonische Zeichen? “ wird unterschiedlich beantwortet. Obwohl die lautmalenden Wörter (Onomatopoetika wie (1)) nicht direkt die akustischen Charakteristika abbilden, sieht man in ihnen meist ikonische Zeichen im engeren Sinne. 12 2 Wortschatzkunde (1) a. quaken (ahmt Laute der Frösche nach) b. glitzern (ahmt optische Wahrnehmungen nach) Im weiteren Sinne wird auch eine grammatische Ikonizität angenommen, wenn einem Mehr an sprachlicher Form ein Mehr an Bedeutung entspricht (wie in Abbildung 2.4). ein Dreieck zwei Dreieck−e Abbildung 2.4: Grammatische Ikonizität (Beispiel) Die Frage „Sind Sprachzeichen indexikalische Zeichen? “ muss im strengen Sinne mit nein, im weiteren Verständnis aber mit ja beantwortet werden. Die deiktischen Ausdrücke (die auf etwas hinweisen) können im weiten Sinne als indexikalisch angesehen werden, weil sie in einem objektiven Zusammenhang zum „Zeigefeld“ der Sprache stehen. (2) Der Hefter vor mir. = deiktische Orientierung In der Literatur wird in Hinblick auf den referentiellen Gebrauch von Zeichen eine Referenzhierarchie aufgestellt : 1. Die ikonische Referenz steht am Anfang und stellt den Prozess des Wiedererkennens dar. 2. Die indexikalische Referenz ist mit der Interpretation verbunden und baut auf der ikonischen Referenz auf. 3. Die symbolische Referenz reflektiert das Erlernen und fußt auf der indexikalischen Referenz. Sie ist also am komplexesten. So kann ein Wohnhaus erkannt, benannt und über seine Funktionen ein Konzept gebildet werden (wie in Abbildung 2.5 auf der nächsten Seite angedeutet). Deacon (1997) hat aus dieser Hierarchie der Referenz eine interessante Sprachursprungstheorie entwickelt, die u. a. den Unterschied zwischen der tierischen und der menschlichen Sprache darin sieht, dass die Tiere unfähig sind, mit symbolischen Zeichen zu kommunizieren. Sie können keine symbolische Referenz herstellen und sich auch nicht mit Zeichen auf Zeichen beziehen. 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung 13 Haus −−> "Wohnung" −−> Abbildung 2.5: Referenzbeispiel So kann es nicht Referenz an sich sein, was den Unterschied an Art ausmacht, sondern wir müssen verschiedene Arten von Referenz unterscheiden: Der Unterschied zwischen einem Warnruf der Meerkatzen und den Wörtern der menschlichen Sprache besteht darin, daß ein Warnruf etwas anzeigt, die Wörter der menschlichen Sprache aber für etwas stehen. Zusätzlich stehen Wörter in einer Beziehung zueinander, die nicht wegzudenken ist: ‘Words also represent other words. In fact, they are incorporated into quite specific individual relationships to other words of language’. (Müller, 2000, S. 109) (Deacon, 1997, S. 82). Unter sprachtheoretischem Gesichtspunkt (vgl. Keller (1995)) kann man eine instrumentalistische von einer repräsentativen Zeichenauffassung unterscheiden. Erstere hebt die Funktionen des Zeichens hervor. Dies sind beim Sprachzeichen die Hauptfunktionen, ein Instrument in der Kommunikation und/ oder beim Denken und/ oder des Handlungsvollzugs zu sein. Die andere betont die Repräsentationsfunktion von Zeichen, bei den Sprachzeichen ist es die Funktion, für Denotate und/ oder Begriffe zu stehen. Wir finden es müßig, darüber zu streiten, welche Auffassung die richtige sei, weil beide wichtige Zeichencharakteristika hervorheben. 2.1.2 Das Wort als sprachliches Zeichen Bereits Aristoteles hatte darauf aufmerksam gemacht, dass wir mit Stellvertretern, mit Zeichen, kommunizieren, denken und handeln. So steht das Namenswort Pierce auch für einen berühmten amerikanischen Philosophen, der von 1839 bis 1914 gelebt hat und der sich in seinem Essay Wie unsere Ideen zu klären sind u. a. mit den Stellvertretern in der menschlichen Kommunikation beschäftigt hat. Seine Erweiterung der Zeichendefinition um die Komponente der Wirkung auf die Zeichenbenutzer, die er dem Bezeichneten und dem Stellvertreter hinzugefügt hat, war eine wichtige Innovation, weil etwas nur dann zum Zeichen werden kann, wenn es von den Zeichen- 14 2 Wortschatzkunde benutzern vereinbart wird. Ch. S. Pierces Erweiterung um den Interpretanten wurde von Ch. W. Morries weiter entwickelt. 3 Wichtig ist auch, die verbalen von den nonverbalen Zeichen bei deren wissenschaftlicher Betrachtung zu trennen. Leider hat es in der Vergangenheit in der Linguistik den Trend gegeben, die nichtverbalen Zeichen unbeachtet zu lassen. Das ist deshalb nicht richtig, weil oftmals die nichtverbalen Zeichen wichtiger für den Kommunikationserfolg sind als die Wörter und Sätze. Nonverbale Zeichen sind zum einen die paraverbalen (Stimme) und zum anderen die nonverbalen Zeichen im engeren Sinne (Gestik und Mimik). Wer beim Aussprechen eines Tadels den Gescholtenen anlächelt und mit leiser, unmodulierter Stimme spricht, wird in der Regel nicht viel Erfolg haben. Andererseits kann dies als bewusst eingesetztes Mittel auch einem Tadel die verletzende Schärfe nehmen. Sprachliche Zeichen haben folgende Grundeigenschaften: 1. Sprachzeichen sind strukturierte Gebilde. 2. Die Zuordnung von Formativ und Bedeutung ist ursprünglich arbiträr. 3. Neubildungen sind in der Regel motiviert. 4. Sprachzeichen sind in Zeichensystemen eingeordnet. 5. Sprachzeichen sind unveränderlich und veränderlich. 6. Sprachzeichen sind allgemein und speziell. Diese Grundeigenschaften werden nachfolgend erläutert. 1. Sprachzeichen sind strukturierte Gebilde, d. h. sie bestehen aus Komponenten, die in der Abbildung 2.6 auf der nächsten Seite aufgeführt sind. Das Sprachzeichen hat zwei Teile. Zum einen muss es ein Formativ (auch Zeichenausdruck, Signifikant, Bezeichnendes genannt) haben, eine produzierbare bzw. reproduzierbare Einheit. Dem Formativ entspricht psychisch eine Zeichengestalt, die ein mentales Äquivalent für die Sprachproduktion und die Sprachrezeption ist (Sprachschallbild) und ein physikalischer Zeichenkörper (die akustische bzw. graphische Struktur). Um ein Sprachzeichen zu sein, bedarf es außerdem einer Bedeutung. Diese ist psychisch, d. h., sie ist im Langzeitgedächtnis „aufbewahrt“ und ihr entspricht ein Denotat (sie bezeichnet etwas). de Saussure (1931, S. 134) sprach davon, dass diese beiden Seiten untrennbar, wie bei einem Blatt Papier miteinander verbunden seien: 3 vgl. seine Programmschrift Foundations of the Theory of Signs (1938). 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung 15 ZEICHEN FORMATIV BEDEUTUNG Vorstellung Denotat Zeichenkörper Zeichengestalt Abbildung 2.6: Zeichenstruktur Die Sprache ist [. . . ] vergleichbar mit einem Blatt Papier: das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite; man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedanken vom Laut trennen. Heute nimmt man diese Untrennbarkeit nicht mehr an. Lutzeier (1985) verweist auf folgende Tatsachen, die gegen eine Untrennbarkeit sprechen: • Die Möglichkeit des Übersetzens von Wörtern zeigt, dass Bedeutungen losgelöst von sprachlichen Formen sind, dass Bedeutungen und Formen wahrscheinlich in unterschiedlichen mentalen Lexika gespeichert sind. • Das Auftreten von Synonymen (eine Bedeutung und mehrere Formative) verdeutlicht dies ebenfalls. • Das Vorkommen von Bedeutungswandel beim Beibehalten des Formativs spricht ebenfalls nicht für die Untrennbarkeit, weil sich dann auch das Formativ ändern müsste. Analoges trifft auf Fälle des Formativwandels zu. 2. Die Zuordnung von Formativ und Bedeutung ist ursprünglich arbiträr. Das bedeutet, dass bei den symbolischen Zeichen zwischen dem Bezeichnenden (Zeichenkörper) und dem Bezeichneten eine beliebige, also keine abbildende Relation besteht. Die kognitiven Erfahrungen der Menschen reflektieren sich nicht in den Zeichenkörpern. 3. Neben den unmotivierten, undurchsichtigen Zeichen gibt es die motivierten. Neubildungen sind heute in der Regel motiviert. Sie entstehen auf der Basis des vorhandenen Sprachmaterials. Diese „Bearbeitung“ des Vorhandenen kann unterschiedlicher Art sein: 16 2 Wortschatzkunde • Natürlich (phonetisch) sind Wörter motiviert, wenn sie sinnlich Wahrnehmbares des Denotats im Formativ wiedergeben. Schallwörter (Onomatopoetica), wie Kuckuck, sind der prototypische Fall dafür. Schon de Saussure (1931, S. 81) hat u. a. zu bedenken gegeben, dass diese gering in ihrer Anzahl seien und dass sie bei der „Prägung schon in einem gewissen Grad beliebig“ seien, „da sie nur die annäherende und bereits halb konventionelle Nachahmung gewisser Laute sind (vgl. franz. ouaoua und deutsch wau wau)“. Auch die Synästhesien werden zur Gruppe der natürlich motivierten Wörter gerechnet. Das sind Wörter und Wendungen, die verschiedenartige Sinneswahrnehmungen verknüpfen, wobei eine von ihnen übertragene Bedeutung annimmt, wie in schreiende (Ungerechtigkeit). • Die meisten Wörter sind durch ihre Wortbausteine, die Morpheme, motiviert. Bei morphematischer Motiviertheit kann die Gesamtbedeutung des Wortes aus den Teilbedeutungen der Morphembausteine ermittelt werden. Da bei Wortkonstruktionen meist ein Idiomatisierungsprozess eintritt, können verschiedene Motiviertheitsgrade vorliegen (vgl. (3)): (3) a. Voll motiviert ist Wollkleid, da die Paraphrase Kleid aus Wolle in ihrer Bedeutung mit dem Kompositum übereinstimmt. b. Teilmotiviert ist Handtuch. Die Paraphrase Tuch zum Abtrocknen der Hand trifft nur partiell zu. Das Wort hat eine Bedeutungsexpansion erfahren. c. Idiomatisch, semantisch nicht mehr durchsichtig, ist Bräutigam. Dass der Bräutigam der „Mann der Braut“ ist, wird nicht sichtbar, weil die zweite Wortkonstituente (gam) nicht mehr in freier Verwendung vorkommt. • Viele Wörter haben auch semantisch (figurativ) motivierte Bedeutungsvarianten. Semantische Motiviertheit liegt dann vor, wenn zur Bezeichnung eines weiteren Denotats ein schon vorhandenes Wort benutzt wird. Beispiele aus der Computerbranche sind in (4) angegeben. (4) Virus (ein sich selbst vermehrendes Programm) Maus Speicher Wörter können auch morphologisch und semantisch motiviert sein (morpho-semantisch) wie in (5). (5) Bootvirus, Makrovirus, Stealth-Virus, Scherz-Virus. 2.1 Das Wort als sprachliches Zeichen: semiotische Wortbetrachtung 17 • Als etymologisch motiviert bezeichnet man Wörter, die in einer früheren Sprachepoche noch motiviert waren. So geht Bett für heutige Sprachteilnehmende nicht mehr nachvollziehbar wahrscheinlich auf indogermanisch *bhedh- (graben) zurück (eine in den Boden gegrabene Lagerstätte). 4 Im Zusammenhang mit der Bewegung der Political Correctness gibt es in den letzten Jahrzehnten verstärkte Bemühungen um Wortbildungen und Wortverwendungen, die Randgruppen oder Minderheiten nicht abwerten. Öfter kommt es zu undifferenzierten Verunglimpfungen der Bemühungen um nicht diskriminierende Motivierungen. Besonders häufig werden Bemühungen um nicht diskriminierende Motivierungen mit Motivierungen nach vorherrschenden Ideologien verwechselt oder gleichgesetzt. Letzteres ist u. E. abzulehnen, weil es den Meinungsstreit und den Erkenntnisfortschritt behindert. So wurde die unterschiedliche Einstellung zum Kosovo-Krieg auch in den jeweils gewählten Bezeichnungen sichtbar: Kosovo-Krieg vs. friedensstiftende Maßnahme. Auch mittels der verwendeten Lexeme, können Einstellungen ausgedrückt werden. Während Krieg einen mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikt bezeichnet, bleibt friedensstiftende Maßnahme bezüglich der verwendeten Mittel unbestimmt und nimmt deshalb einen euphemistischen (beschönigenden, verhüllenden) Charakter an. Ein anderes Beispiel ist die unterschiedliche Benennung von Umsiedlungen von Bevölkerungsgruppen mit Transfer oder Vertreibung, wie im „Internationalen Frühschoppen“ (auf Phönix am 15.12.2002). Heute wird von den Militärs der „Kampf“ um die richtige Bezeichnung als sehr wichtig im Rahmen der psychologischen Kriegsführung angesehen. Sprachlich diskriminieren heisst, eine soziale Diskriminierung sprachlich zu realisieren (Wagner, 2001, S. 13). Angehörige einer Minderheit werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als Angehörige einer Gruppe, der pauschal stereotype, abwertende Eigenschaften zugesprochen werden. Markefka (1995) führt u. a. folgende Gruppen auf, die in unserer Gesellschaft als Minderheiten betrachtet werden: (a) Farbige und ausländische Arbeiter, Kinder und ganze Menschengruppen, die auf Grund der Merkmale „Rasse“ und Nationalität diskriminiert werden. Diskriminierende Bezeichnungen sind z. B. Kümmeltürke, Dachpappe, Neger, Zonendödel (b) Angehörige von Religionsgemeinschaften und Sekten: Kopftuchschrulle, Kathole, Itzig 4 Es gibt auch Linguisten, die meinen, dass es auf Bad zurückginge. 18 2 Wortschatzkunde (c) Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Auffälligkeiten (Alte, Geisteskranke, Drogenabhängige): Krüppel, Idiot, Junkie, Schizo (d) Sexuell anders Orientierte (Homophile, Homosexuelle) : Schwuchtel, Kinderficker (e) Straffällige und Vorbestrafte: Knacki (f) Ökonomische und soziale Unterschichten (Arme, Obdachlose, Nichtsesshafte): Buschklepper, Prolo, Gammler Leisi und Leisi (1993) stellten eine Regel der politisch korrekten Motivierung auf, die lautet: Vermeide Minderheiten und Randgruppen beleidigende Benennungen! Damit formulierten sie etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. 4. Sprachzeichen sind in Zeichensystemen angeordnet. 5 Sie erhalten ihren wahren Wert erst in der Verbindung zu den anderen Zeichen und durch ihre internen Relationen. Der Begriff des Wertes nimmt in der struturalistischen Linguistik, als deren Ahnvater de Saussure gilt, eine zentrale Stellung ein. Dass die Sprache aber weit mehr als ein Zeichensystem ist, wird heute allgemein anerkannt. Allerdings gibt es über die Interpretierbarkeit von Sprachzeichen und ihren Relationen unterschiedliche Auffassungen. Derrida (1974) beispielsweise lehnt in seiner „Grammatologie“ eine eindeutige Interpretierbarkeit ab. 5. Sprachzeichen sind unveränderlich und veränderlich. Diese scheinbare Kontradiktion löst sich dahingehend auf, dass zwischen dem individuellen Sprechenden und der Sprachgemeinschaft als Ganzes unterschieden werden muss (de Saussure, 1931, S. 83). Die Masse der Sprachgenossen wird in der Wahl der Bezeichnung nicht zu Rate gezogen, und die von der Sprache gewählte Bezeichnung könnte nicht durch eine andere ersetzt werden. [. . . ] Keine Sprache kann sich der Einflüsse erwehren, welche auf Schritt und Tritt das Verhältnis von Bezeichnetem und Bezeichnendem verrücken. Sprachzeichen verändern sich sowohl auf der Formativ- (Beispiel in (6)) als auch auf der Bedeutungsseite bzw. auf beiden (vgl. (7)). Diese Veränderungen sind für die Sprachteilnehmer wahrnehmbar, weil sie z. T. relativ schnell vor sich gehen. Dies konnten nach dem Zusammenbruch der DDR die dortigen 5 Genauer in 2.5. 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 19 Bewohner/ innen besonders deutlich wahrnehmen. So fielen viele Wörter aus der offiziellen Sprache der DDR weg, weil das Denotat verschwand (z. B. antifaschistischer Schutzwall, Reisekader, . . . ). Andererseits traten andere Wörter an die Stelle der bisherigen (z. B. statt Kaderleitung Personalabteilung. Es kam auch zu Bedeutungsveränderungen bei Lexemen (wie bei Jugendweihe). (6) a. ahd. thenken (8. Jh.) → nhd. denken: Ursache 1. germanische Lautverschiebung b. Familiennamen Möller → Müller; Goyer → Gauger: Ursache: Überführung der niederdeutschen in die hochdeutschen Formen (7) a. mhd. enboeren bedeutete bis zum 19. Jh. AUFWIEGELN → empören ERREGEN, ENTRÜSTEN b. ahd. sufan IN KLEINEN SCHLUCKEN TRINKEN, NIPPEN → saufen TRINKEN DES VIEHS; UNMÄßIG (ALKOHOL) TRIN- KEN 6. Sprachzeichen sind allgemein (ein Typ) und speziell (ein Token, ein Repräsentant eines Typs). Das Wort Tulpenfeld ist in seiner Bedeutung (Intension) so allgemein, dass man es auf jede Art von Feldern mit Tulpen anwenden kann (In Holland gibt es viele Tulpenfelder.). Gleichzeitig ist es so speziell, dass es möglich ist, auf ein ganz spezifisches Tulpenfeld zu referieren (Dieses Tulpenfeld gefällt mir.). 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung Zwar wissen alle Sprachbenutzer, was ein Wort ist, dennoch fällt es schwer, es wissenschaftlich exakt zu definieren. Wissenschaftliche Wortbeschreibungen möchten definieren, wie sich das Wort von anderen sprachlichen Einheiten unterscheidet. Sie suchen Charakteristika, die ausschließlich auf das Wort zutreffen. Ausgehend von de Saussure haben die Strukturalisten zwei Ebenen der Sprache unterschieden, die Laut- und die Bedeutungsseite. Martinet (1968, S. 23) hat dies im Jahre 1960 folgendermaßen ausgedrückt: Eine Äußerung wie ich habe Kopfweh oder ein Teil einer Äußerung, der einen Sinn ergibt, wie Kopfweh oder ich, heißt ein sprachliches Z e i c h e n. Jedes sprachliche Zeichen hat ein S i g n i f i k a t (signifié): seine Bedeutung (sens) - oder sein Wert (valeur) [. . . ] und einen S i g n i f i k a n t e n (signifiant), durch den das Zeichen manifestiert wird. 20 2 Wortschatzkunde In der Folgezeit wurde diese Vorstellung weiter modifiziert, indem weitere Sprachebenen angenommen wurden. Heute gehen eigentlich alle Grammatikmodelle von Vermittlungsebenen zwischen der Laut- und Bedeutungsseite sprachlicher Gebilde aus. Die Grundzüge einer deutschen Grammatik (Heidolph u. a., 1981, S. 35) sehen in der Grammatik die „Gesamtheit von Regeln, die die Einheit von Wirklichkeitsabbildung und lautlicher Form in der Äußerung der Sprache begründen, (die das) widersprüchliche und auf komplizierte Weise vermittelte Verhältnis der beiden Seiten [ausdrückt]“. In dieser Beschreibung wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass es keine eindeutige Verbindung (Isomorphie) zwischen Form und Inhalt in der Sprache gibt. Als Beispiel soll auf die Mehrdeutigkeit verwiesen werden: So steht das Wort Dame für verschiedene gedankliche Einheiten (Begriffe): für eine weibliche erwachsene Person (Eine Dame trägt einen Hut.) für eine Spielkarte (Er legt eine Dame aus.) für einen Spielstein und ein Spiel (Damespiel) (Wollen wir heute Dame oder Mühle spielen? ) für eine Spielfigur (im Schachspiel). (Die Dame schlägt den Springer.) Anderseits gibt es für den Begriff „weibliche erwachsene Person“ verschiedene Lautkörper in der deutschen Sprache: Frau, Weib, Dame, Fräulein . . . . In den grammatischen Mehrebenenmodellen werden in der Regel fünf Ebenen angenommen, die als relativ selbstständige Grammatikkomponenten mit eigenständigen Regeln und Komponenten zu sehen sind. Schematisch stellt das die Abbildung 2.7 dar. BEDEUTUNG semantische Ebene morphologische Ebene pragmatische Ebene syntaktische Ebene graphische Ebene FORMATIV phonetisch−phonologisch Abbildung 2.7: Mehrebenenmodell Diese Abbildung soll andeuten, dass die Zuordnung der Form einer Äußerung (Formativ) zur Inhaltsseite (Bedeutung) über die dazwischenliegende morphologi- 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 21 sche und syntaktische Ebene erfolgt und außerdem bestimmt wird durch die Verwendungseigenschaften, bei denen die syntaktischen von den pragmatischen zu trennen sind. Die pragmatische Ebene nimmt Einfluss auf alle Ebenen. Die syntaktische Komponente regelt die Verknüpfung zu komplexen Zeichen und die pragmatische Komponente die Situationsangemessenheit. Diese Ebenen bestätigen u. a. die von der Norm abweichenden Sätze in (8). (8) a. Chier gann man gut leijben. Hir gann mann guut leben. b. Ich gehte gestern in dieser Kino. c. Ich ins Theater gestern ging. d. Das Auto ging auf der Autobahn spazieren. e. Hier globbt mer sich noch de Fodn gabutt. In (8 a.) weichen Lexeme in der Lautung bzw. Schreibung von der Norm ab. In b. stellt gehte die falsche morphologische Wortform dar, weil gehen ein starkes Verb ist. In c. wurde gegen syntaktische Reihenfolgeregeln des Deutschen verstoßen. Beispiel d. ist semantisch falsch, weil spazieren gehen u. a. nicht mit unbelebten Objekten verbunden werden kann. Und e. wäre in der privaten Kommunikation im Familienkreis z. B. angebracht, ist aber in einer offiziellen Situation unangemessen. Wir gehen ähnlich wie Eisenberg (1998) oder Gallmann (1999) auch beim Wort von mehreren Ebenen aus und möchten aus linguistischer Sicht sechs Wörter unterscheiden - das semantische, das morphologische, das syntaktische, das phonetische, das graphische und das pragmatische Wort. Da es keine Isomorphie zwischen allen Wortebenen geben muss, kommt es vor, dass eine lexikalische Einheit nicht allen sechs Wortdefinitionen genügt, kein prototypisches Wort ist. Z. B. ist der Artikel die in der Wendung die kalte Küche ein orthographisches, aber kein semantisches Wort, weil er, wie nachfolgend noch erklärt wird, nur grammatische Bedeutung hat. Andererseits ist kalte Küche mehrdeutig und stellt in der idiomatisierten (morphologischsemantisch undurchsichtigen) Wendung ein semantisches Wort, jedoch zwei orthographische und zwei syntaktische Wörter dar. 2.2.1 Wörter 2.2.1.1 Das phonetisch-phonologische Wort Mit entwickelten Sprachen können wir uns sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form verständigen. Die gesprochenen Wörter können in Laute, Silben und Akzente zerlegt werden. Dabei sind einige Laute (Phoneme) auf Grund ihrer distinktiven (unterscheidenden) Merkmale für die Bedeutungsdifferenzierung von Relevanz. Sie führen dazu, dass sich verschiedene Wörter in ihrem Klang unterscheiden. Z. B. 22 2 Wortschatzkunde ist dies bei den Wörtern in (9) der Fall. H, G, M sind hier bedeutungsdifferenzierend (im Deutschen gibt es etwa 20 Konsonanten- und 16 Vokalphoneme). (9) a. Hut b. Gut c. Mut Es ist aber nicht so, dass unterschiedliche Bedeutungen immer mit unterschiedlichen Klangbildern verknüpft sind, wie das auch in (10) der Fall ist. (10) Bank (SITZGELEGENHEIT vs. GELDINSTITUT) Die Sprachbenutzenden erkennen die Wörter auf Grund der gespeicherten Lautbilder. Dies zeigt sich darin, dass Wörter durch prosodische Mittel, beispielsweise mit einer Akzentsetzung, hervorhebbar sind. In der Regel wird das mündliche Wort als eine prosodische Einheit charakterisiert, wie bei Meibauer (2002, S. 17), der folgendes ausführt: „man benötigt [. . . ] einen Wortbegriff, der sich auch in Bezug auf die gesprochene Sprache bewährt. Dies könnte man dadurch erreichen, dass man Grenzsignale wie Wortakzent oder Sprechpausen zwischen zwei Wörtern in die Definition einbezieht. Man kann dann vom phonologischen Wort sprechen.“ Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass es diese Grenzsignale objektiv nicht gibt und Pausen eher die Ausnahmen sind. 2.2.1.2 Das graphische Wort Beim Definieren des schriftlichen Wortes spielt die Pause eine wichtige Rolle. Die graphischen Wörter sind daran erkennbar, dass nach jedem Wort im Text eine Lücke folgt, ein Zwischenraum gelassen wird. Wann aber eine Lücke gelassen werden muss, ist häufig unklar. Es sei nur darauf verwiesen, dass eine Hauptquelle für Orthographieverstöße in der deutschen Sprache der Bereich Getrennt- und Zusammenschreibung ist. Das hat seine Ursache im Einwirken folgender Prinzipien auf die normgerechte Schreibung: • Die Schreibung soll die Lautung wiedergeben. • Inhaltliche Grundeinheiten werden zusammengeschrieben; sie bilden eine Worteinheit. • Bedeutungsdifferenzen werden durch unterschiedliche Schreibung markiert. • Nach der letzten amtlichen Orthographiereform werden verstärkt die syntaktischen Eigenschaften (Erweiterbarkeit und Steigerungsfähigkeit) hervorgehoben. 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 23 Beispielsweise ist aus semantischer Sicht schwer nachvollziehbar, wieso schlafwandeln und Tango tanzen sich hinsichtlich der Anzahl an graphischen Wörtern unterscheiden. Syntaktisch unterscheiden sie sich jedoch: bei Tango tanzen lässt sich problemlos noch ein Wort einschieben (Tango wunderbar tanzen), was den Wortgruppencharakter sichtbar macht. Dies ist bei schlafwandeln nicht der Fall, weil es sich nicht um eine Wortgruppe, sondern um eine Wortbildung, um ein denominales Verb handelt, das vom nominalen Kompositum Schlafwandel abgeleitet wurde. Bei kaltstellen (jmdn.) vs. kalt stellen (etwas) resultiert die unterschiedliche Schreibung nicht aus der Lautung, sondern ist im Bestreben nach einer Bedeutungsdifferenzierung begründet. 2.2.1.3 Das morphologische Wort Das morphologische Wort ist dadurch charakterisiert, dass es mindestens aus einem lexikalischen Morphem besteht. Die Morpheme (vgl. Kapitel 3.1.1) sind die Wortbausteine, d.h. Wörter werden durch die Verbindung von Morphemen gebildet bzw. sie können in Morpheme zerlegt werden. Dies trifft auch auf das Wortungetüm Essenmarkenentwertungsgerät zu, das sich eine Universitätsverwaltung ausgedacht hat. Dabei wird beim Wort wie auch beim Satz davon ausgegangen, dass der linearen phonetisch-orthographischen Struktur eine hierarchische Wortstruktur entspricht. Das ist in Abbildung 2.8 dargestellt. Essenmarkenentwertungsgerät Essenmarken entwertungsgerät Essen marken entwert ung, s ent wert gerät entwertungs Abbildung 2.8: Wortstruktur Aus morphologischer Sicht gibt es in der deutschen Sprache zwei Gruppen von Wörtern (11): 24 2 Wortschatzkunde (11) a. Die 1. Gruppe unterteilt hinsichtlich des Gesichtspunktes, ob die Wörter nur aus einem Morphem bestehen oder Morphemkombinationen sind, in Wurzelwörter und Wortbildungen. b. Die 2. Gruppe gliedert sich in flektierende bzw. nicht-flektierende Wörter, also danach ob die Wörter ihre Form im Satz verändern können oder nicht. Aus der Wortbildungssicht gibt es also Wörter, die nur aus einem Basismorphem (Tisch) bestehen, und solche, die morphologisch komplex sind (Tisch-ler). Nach dem zweiten Gesichtspunkt unterscheiden sich die deutschen Wörter nach ihrer Flexionsfähigkeit in flektierbare und nicht-flektierbare Wörter. Die flektierbaren bilden in der Verwendung Wortformen, die nicht flektierbaren können keine Wortformen bilden. Die flektierenden Wörter schaffen Formenparadigmen, die lexikalisch-paradigmatische Einheiten darstellen. Z. B. können die meisten Adjektive in unflektierter Form als Prädikative (Der Mann ist schön.) auftreten oder in flektierter Form als Attribute (der schöne Mann), außerdem bilden sie Steigerungsformen (schöner, schönst). Die Paradigmen bestehen aus der Zitierform und den Lexemvarianten. Zu der Zitierform schön gehören also drei weitere morphologische Wortformen: • das Adjektivadverb (Der Mann tanzt schön.) • die Flexionsparadigmen (die nominal-schwache und die pronominal-starke Deklination: der schöne Mann bzw. schöner Mann) • das Komparationsparadigma (schön, schöner, schönst) Innerhalb der Flexionsparadigmen sind in der deutschen Sprache nicht alle Wortformen mit spezifischen Flexionsmerkmalen versehen. Innerhalb des Komparationsparadigmas ist die erste Stufe, der Positiv, nicht formal markiert. Hinsichtlich der spezifischen Flexionseigenschaften können im Deutschen fünf Wortklassen (Morphologische Wortarten) mittels der morphologischen Merkmale [ α dekliniert], [ α konjugiert], [ α kompariert] und [ α genusfest] 6 unterschieden werden: • Verben, die konjugiert werden, • infinite Verben, die nicht konjugiert werden, • Substantive, • Adjektive und • Pronomen. 6 Während Substantive in der Regel ein festes Genus haben, richtet sich bei den Adjektiven und den Pronomen das Genus nach dem Bezugswort, es ist also variabel. 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 25 Erst in dem jeweiligen Kontext, in dem das Wort (das Textwort) verwendet wird, werden die anderen grammatischen Merkmale (wie Kasus-, Tempus- und Kongruenzmerkmale) ergänzt. Es ist deshalb sehr sinnvoll zwischen dem Lexikonwort (Lexem) und den syntaktischen Wortformen zu unterscheiden. So nimmt man beispielsweise bei der syntaktischen Nominalisierung, die kein Wortbildungsphänomen ist, eine diesbezügliche Unterscheidung vor. Im Beispiel (12) sind Er und Sie syntaktische Substantive, da sie aber als solche keine festen Lexikoneinheiten sind, werden sie als Pronomen im Lexikon, als Lexikonwörter, abgespeichert. (12) Diese Maus ist keine Sie, sondern ein Er. In der folgenden Grafik 2.9 sehen wir die morphologischen deutschen Wortarten mit ihren morphologischen Lexikonmerkmalen. +flekt Wort +konj −konj +genusfest −genusfest +komp −komp Verb Subst Adj Pron inf Verb −flekt Abbildung 2.9: morphologische Wörter 2.2.1.4 Das syntaktische Wort Die Syntax beschäftigt sich mit der Struktur von Sätzen. Für die Erhellung dieser Satzstrukturen gibt es zwei Hauptzugangswege. Zum einen wird nach der logischstrukturellen Abhängigkeit der Satzbausteine gefragt (Dependenzgrammatiken) und zum anderen wird von den Teil-Ganzes-Relationen ausgegangen (Konstituentengrammatiken). Dem Beispielsatz Das Haus am See verfällt. können demnach die zwei vereinfachten Strukturen in der Abbildung 2.10 auf der nächsten Seite zugeordnet werden: Die Teile, die die Satzstruktur bilden, sind im Normalfall nicht Wörter, sondern Wortgruppen (Phrasen). Nur ein Teil der phonetisch-orthographischen Wörter kann Kern (Kopf) einer lexikalischen Phrase sein. Phrasen sind endozentrisch, das heißt, 26 2 Wortschatzkunde verfällt am See das Haus Das Haus am See verfällt Das Haus am See verfällt Das Haus am See Abbildung 2.10: Satzstruktur sie sind Projektionen der jeweiligen Kopfelemente. Diejenigen Wörter, die Kopfelemente sein können, wollen wir syntaktische Wörter nennen, Genaueres zum Begriff des syntaktischen Wortes findet man bei Gallmann (1999, S. 272). Lexikalischsyntaktische Wörter sind in der deutschen Sprache • die Substantive, • die Verben, • die Adjektive, • die Pronomen, • die Adverbien, • die Interjektionen, • die Satzadverbien, • die Partikel und • die Präpositionen. Außerdem gibt es Wörter, die nicht Kopf einer lexikalischen Phrase sein können, dies sind: • die Artikel (morphologisch eine Teilklasse der Pronomen), • die Hilfsverben und • die Konjunktionen. Wenn man, wie in der Generativen Grammatik üblich, die funktionalen Köpfe einbezieht, kommt man zu einer weiteren Gruppe von syntaktischen Wörtern. Funktionale 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 27 Kategorien (z.B. INFL(flection): Flexionsmorphem(e)) liefern die grammatischen Informationen, wie Tempus oder Kongruenz. 7 Nach Abney (1987) stellen funktionale Klassen geschlossene Klassen dar, die zum größten Teil aus morphologisch abhängigen Elementen (wie Affixe) bestehen. Es fehlt ihnen jeglicher deskriptiver Gehalt. Das Einbeziehen der funktionalen Kategorien führt zu Phrasenprojektionen. In diesen funktionalen Projektionen treten die oben genannten Wörter, die keine Köpfe von lexikalischen Phrasen sein können, auch als Köpfe auf, als Köpfe von funktionalen Phrasen und sind deshalb auch als syntaktische Wörter anzusehen. So tritt beispielsweise der Artikel (gehört zu den Determinierern) als Kopf der Determiniererphrase auf, die der Sitz der grammatischen Merkmale der Nominalphrase ist. Die Determiniererphrase ist somit eine funktionale Erweiterung der Nominalphrase. Die funktionalen Kategorien enthalten nur grammatische Merkmale; der Artikel ist deshalb ein syntaktisches Wort, aber kein eigenständiges semantisches, weil es keinen deskriptiven Gehalt, keine Intension, hat. 2.2.1.5 Das semantische Wort Das semantische Wort ist der kleinste selbstständige Bedeutungsträger, d. h. die Sprachbenutzer können mit ihm einen Inhalt verbinden. So bezeichnet das Lexem Tisch EINEN KONKRETEN GEGENSTAND, Liebe EIN GEFÜHL, grün EINE FARBEI- GENSCHAFT, oder EINE LOGISCHE BEZIEHUNG und tauchen EINE TÄTIG- KEIT. Wörter können zu komplexen Wörtern zusammengeschlossen werden und nehmen dann oftmals eine Bedeutung an, die nicht einfach eine Summe aus den Teilbedeutungen darstellt, weil ein Idiomatisierungsprozess eintritt (wie in Bleistift oder Warmduscher). Eine in der Sprachwissenschaft umstrittene Frage ist die, ob es eine Wortartenbedeutung gibt. Wir stimmen jenen zu, die es als nicht sinnvoll ansehen, diese anzunehmen, weil es keine direkte Zuordnung von grammatischen und semantischen Wortklassen gibt. So sind nicht alle Substantive „Dingwörter“ (beispielsweise Essen in (13)). (13) Das Essen dauert lange. Das Essen verbalisiert hier einen Vorgang. Oder: nicht alle Wörter, die Eigenschaften bezeichnen, sind Adjektive (wie 14). (14) Schönheit erfreut. Als sinnvoll sehen wir es jedoch an, fünf semantische Hauptklassen von Wörtern zu unterscheiden: 7 Dabei korrespondiert mit „der ihnen entsprechenden Merkmalskombination nicht notwendigerweise eine im Lexikon enthaltene Klasse von Elementen“ (Haider, 1993, S. 49). 28 2 Wortschatzkunde • Wörter, die auch ohne Satzkontext eine relativ abgeschlossene Bedeutung haben. (15) Sven (Eigenname 8 ) Fahrrad (Gattungsbezeichnung) • Wörter mit relationaler Bedeutung, die eine Rektion haben und Partner für die Entfaltung ihrer Bedeutung benötigen. (16) sparsam ist jemand jemand spart etwas Mißtrauen hat man gegenüber jemandem oder etwas • Wörter mit „zeigender“ Bedeutung (Deixis). (17) dort steht sie. • Wörter, die keine lexikalische Bedeutung haben. Dies sind phonetisch-orthographische Wörter, die keine selbstständigen Bedeutungsträger sind, die anstelle von morphologischen Affixen die Formenbildung übernehmen und grammatische Bedeutungselemente einbringen. Innerhalb des Verbparadigmas sind das die Hilfsverben und innerhalb des Substantivparadigmas die Artikel. Hilfsverben und Artikelwörter sind zwar phonetisch-orthographische Wörter, in dem oben erläuterten Sinn auch syntaktische, aber keine semantischen Wörter. Diese Wörter werden oft auch als Synsemantika („Leerwörter“) bezeichnet und die bedeutungstragenden als Autosemantika. Nicht geteilt wird die vorkommende Auffassung, dass Präpositionen und Konjunktionen Synsemantika seien, weil sie in der Regel wichtige Bedeutungselemente einbringen. Beispielsweise macht es einen wichtigen Unterschied aus, ob man Katze und Sofa mit auf oder unter verbindet, oder, ob man beim Fleischer Bratwürste und Rostbrätchen mit und oder oder verbindet 9 . • Wörter, die Teil einer lexikalischen Phrase sind und keine isolierbare Bedeutung innerhalb der Phrase haben. Es handelt sich bei dieser Gruppe um Phraseologismenbestandteile (vgl. Kapitel 5), die stabile, im Langzeitgedächtnis fest verankerte, idiomatische Wortgruppen sind. (18) mit dem Klammersack gepudert sein = DUMM SEIN 8 Eigennamen wird in der Regel nur eine Extension, aber keine Intension zugesprochen, weil man mit ihnen zwar auf ein Denotat referieren kann, aber wenig Inhalt vermittelt wird (bei Sven nur, dass es eine männliche Person mit Namen Sven ist). 9 Auf die Einzelfälle von weitgehend bedeutungsleeren Präpositionen und Konjunktionen kann hier nicht eingegangen werden, vgl. Er versprach, dass er anruft. Sie wartete vergebens auf den Anruf. 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 29 2.2.1.6 Das pragmatische Wort Aus der Sicht der Zeichenbenutzer können semantische Wörter Unterschiedliches in eine kommunikative Handlung einbringen. Sie können etwas bezeichnen (z. B. einen Gegenstand oder einen Vorgang) und/ oder Emotionen bzw. Wertungen ausdrücken (z. B. eine Abneigung), und/ oder eine Absicht artikulieren. Dies hatte schon der berühmte Sprachpsychologe K. Bühler 1934 mit seiner Unterscheidung der Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion der sprachlichen Zeichen hervorgehoben. • Mit der Darstellungsfunktion von sprachlichen Zeichen ist gemeint, dass mit ihnen auf Anwesendes und Nichtanwesendes Bezug genommen werden kann. So benennen in dem geflügelten Wort „Alles besiegt die Liebe“ die Wörter Unterschiedliches. Sie stellen Unterschiedliches dar: Alles DIE GESAMTHEIT DES MÖGLICHEN, besiegen EIN EREIGNIS, BEI DEM JEMAND ÜBER ETWAS DEN SIEG DAVONTRÄGT, die Liebe EIN STARKES GEFÜHL DER ZUNEIGUNG ZU EINER PER- SON. • Die Ausdrucksfunktion beinhaltet, dass Wörter emotive Befindlichkeiten der Sprechenden anzeigen können. Die emotive Funktion der Sprache ist von der Linguistik lange vernachlässigt worden. Nach Schmidt-Atzert (1996) sind Emotionen psychische Zustände der Menschen, die in psychologischen und/ oder motorischen und/ oder verbalen Verhaltensäußerungen sichtbar werden. Das sogenannte Circumplexmodell (in Abbildung 2.11 wiedergegeben) der Emotionen siedelt die Emotionen zwischen den Polen Erregung vs. Ruhe und Unlust vs. Lust an. Erregung Lust Unlust Ruhe verärgert erregt traurig müde entzückt zufrieden Abbildung 2.11: Circumplexmodell 30 2 Wortschatzkunde In der Psychologie wird beim Auslösen von Emotionen eine Geschehensfolge angenommen: Ereignis → Informationsverarbeitung → Bewertung → Emotion. Beispielsweise könnten wir in einem kleinen Dorf unerwartet ein großes und hohes Haus vorfinden. Dieses unerwartete Ereignis (Informationsverarbeitung) veranlasst zu einer negativen oder positiven Bewertung, zum Auslösen von Emotionen, Erregung oder Lust bzw. Ruhe oder Unlust, die physisch (Tränen, erblassen, weglaufen oder lächeln, erröten, näherkommen) und/ oder verbal ausgedrückt werden können, so mit: (19) a. Juchhe! (Freude) b. Nanu! (Verwunderung) c. Mist! (Verärgertsein) Aus linguistischer Sicht können u. E. drei Gruppen von Wörtern mit emotiven Funktionen unterschieden werden: Gefühlswörter, Affektwörter und Bewertungswörter (Herrmanns, 1995): - Gefühlswörter Gefühlswörter sind Wörter zur Benennung und Deskription von Emotionen und Affekten (Stimmungen und Erregungen), ohne selbst expressiv zu sein. Da sie die Funktion der Diagnose bzw. der Distanzschaffung haben können, sind sie auch psychologische Vokabeln: Liebe, Hass, Trauer, Eifersucht - Affektwörter Das sind Wörter und Wendungen zum Ausdrücken von Gefühlen und Affekten. Dies können sein: - Psychologische Vokabeln, die Gefühle und Gemütszustände benennen: Ich hasse dich! , Das freut mich aber! , Das tut mir aber Leid! - Empfindungswörter, Kosenamen, Schimpfwörter: Oh, Mausi, Esel - Affektive Adjektive, Substantive und Verben: (Ist das aber) gemein! , (Dieser) Lügner! , (Er) säuft! - Bewertungswörter Wörter, die das Benannte zugleich bewerten: Köter, verrecken, Klassefrau 2.2 Grammatische Wortdefinition: strukturelle Wortbetrachtung 31 Wörter, die Emotionen und Affekte anzeigen, sind oft mehrdeutig. Der Kontext hebt dies dann allerdings auf. (vgl. (20)). (20) Ach! (? ) Ach, du Armer! (Bedauern, Mitleid) Ach, wenn es doch wieder so wäre! (Sehnsucht) Fries (2000, S. 14) betont die pragmatische Komponente von emotiven Wörtern, wenn er u.a. hervorhebt, dass der Ausdruck und das Verstehen von Gefühlen maßgeblichen Einfluss auf den Erfolg kommunikativer Bemühungen habe. Außerdem kann nach ihm (Fries, 2000, S. 33) ein Wort wie Trauer auf drei unterschiedliche Phänomenbereiche verweisen: - auf einen internen, introspektiv wahrnehmbaren Zustand: = subjektivpsychologischer Aspekt. Ein Beispiel für diese Verwendung von Trauer: Laßt uns einfach unsre Trauer leben, denn damit verarbeiten wir das ganze. Katrin Zilch (url: http: / / www.lichterkette.net.ms 25.3. 2004) - auf einen chemisch und physikalisch nachweisbaren Prozess (z.B. Tränen und Schlaflosigkeit): = physiologischer Aspekt. Trauerarbeit [. . . ] Trauernde können bei ihrer Arbeit auch scheitern, krank werden, daran zerbrechen, weil sie ihr Leben nicht mehr leben können. (url: http: / / www.lichterkette.net.ms 25.3. 2004) - auf Gegenstände und/ oder Sachverhalte, die als gefühlsauslösend betrachtet werden: = sozialer Aspekt. Wenn die Gondeln Trauer tragen Deutscher Titel eines Films Zur Ausdrucksfunktion kann auch das Anzeigen der Beziehungsrelation (von Thun, 1981) gerechnet werden. Auch an der Wortwahl kann der Stand der Beziehung zwischen Kommunikationspartnern abgelesen werden. Wenn z. B. ein Mann seine Freundin Prinzessin nennt, kann dies heißen, dass er sie verehrt, sie anhimmelt, und ausdrücken will, dass er ihr untertan ist. Es kann aber auch gemeint sein, dass sie verwöhnt ist. • Mit der explizit markierten Appellfunktion werden Absichten an den Hörenden mitgeteilt. Im Wort sind diese häufig mit einer Bewertungskomponente verbunden. Dies ist der Fall, wenn z. B. jemand als Jammerlappen (Heinz ist 32 2 Wortschatzkunde ein richtiger Jammerlappen! ) bezeichnet wird. Es wird dann eine negative Bewertung einer männlichen, ängstlichen Person vorgenommen, die auch beinhaltet, dass die/ der Hörende diesen Heinz ablehnen soll. Wenn ein Tier als ausgehungert charakterisiert wird, kann dies implizieren, dass es gefüttert werden soll. 2.2.2 Die Definition des prototypischen Wortes Ein prototypisches Wort trägt auf allen Sprachsystemebenen Wortcharakter. Es ist, zusammenfassend dargestellt, gekennzeichnet durch • seine Isolierbarkeit in Rede und Schrift, • seinen selbstständigen Bedeutungscharakter, • seine Morphemstruktur, • seine Fähigkeit, Phrasenkern sein zu können, und • seinen kommunikativen Charakter, etwas darzustellen und/ oder Gefühle auszudrücken und/ oder eine Intention zu transportieren. 2.3 Das Lexikon als Wissensspeicher: kognitive Wortbetrachtung 2.3.1 Das mentale Lexikon Während sich die traditionelle Linguistik hauptsächlich mit den sprachlichen Produkten, den Wörtern, Sätzen und Texten, befasst, fragt die kognitive Linguistik danach, was in unserem Geist bezüglich der Sprache vorhanden ist und wie es verarbeitet wird bei der Sprachproduktion und -rezeption. Sprache wird als geistiger Besitz und das mentale Lexikon als „menschlicher Wortspeicher“ (Aitchison, 1997, S. 44) bzw. „sprachlicher Wissensbestand im Langzeitgedächtnis“ (Dietrich, 2002, S. 20) angesehen. Über den Begriff des mentalen Lexikons gibt es in der Psychologie, wie auch Engelkamp (1995, S. 99) feststellt, keine einheitliche Auffassung. Unklar ist, ob „die Bedeutungen, die Wortrepräsentationen oder beides zusammen das mentale Lexikon“ bilden. Engelkamp ist der Meinung, dass eine Reihe von experimentellen Befunden für die Trennung der Wortmarken von den Wortbedeutungen sprechen, vgl. z. B. auch das „auf der Zunge liegen“ von Wörtern. Außerdem ist es angebracht, von einer „Trennung eines Systems, das Wörter beim Lesen verarbeitet, und eines, das Wörter beim Hören verarbeitet“ auszugehen (Engelkamp, 1995, S. 112). Dies verlangt, eine 2.3 Das Lexikon als Wissensspeicher: kognitive Wortbetrachtung 33 Unterscheidung von akustischen (gehörten Wörtern) und visuellen Wortmarken (gelesene Wörter) vorzunehmen. Das mentale Lexikon unterscheidet sich grundlegend von den Buchlexika: • Das mentale Lexikon ist nicht alphabetisch geordnet, aber gut organisiert. Letzteres zeigt sich daran, dass Sprecher/ innen in Millisekunden Wörter erkennen. Versprecher deuten darauf hin, dass der „menschliche Wortspeicher anders als Wörterbücher nicht nur nach Lautung oder Schreibung organisiert sind. Auch die Bedeutung muss eine Rolle spielen, da man recht häufig Wörter mit ähnlicher Bedeutung verwechselt“ (Aitchison, 1997, S. 13-14). • Das mentale Lexikon ist nicht begrenzt, sondern vielmehr ständig erweiterbar. Es umfasst qualitativ viel mehr als alle Buchlexika. • Das mentale Lexikon ist deshalb nicht statisch, sondern dynamisch. Aitchison (1997, S. 18-19) fasst deshalb zusammen: Ein Wörterbuch verhält sich zum mentalen Lexikon ungefähr so wie ein Urlaubsprospekt, in dem ein Badeort beschrieben wird, zu dem Badeort selbst. [. . . ] Außerdem gibt uns ein Wörterbuch einen fälschlich geordneten, statischen und unvollständigen Eindruck. Charakteristische Eigenschaften von mentalen Wörtern sind, dass sie reflexhaft und ganzheitlich erkannt werden. Bekannte Wörter in Schriftform werden als Einheiten und nicht als Buchstabenketten wahrgenommen. Schon in den vierziger Jahren fand man in Experimenten, daß dieses reflexartige Erkennen so stark ausgeprägt ist, daß Personen ins Stocken geraten, wenn sie die Farben benennen sollen, in denen eine Reihe von Wörtern gedruckt ist, also wenn das Wort R-O-T etwa grüngedruckt dasteht (Miller, 1996, S. 144). Die Fähigkeit, Wörter zu erkennen, basiert auf dem Vertrautheitseffekt, d. h. sie wird durch Lernen erworben. 2.3.2 Holistische vs. modulare Auffassungen Wie in der Psychologie diskutiert wird, ob die Wortmarken und Konzepte (psychologischer Terminus für Bedeutungen) getrennt voneinander gespeichert sind, so streitet man auch darüber, ob unser Sprachwissen modular organisiert ist. Wir folgen dem Ansatz von Chomsky, der zum einen von einer Autonomie der Sprachfähigkeit ausgeht und zum anderen deren Modularität annimmt. 34 2 Wortschatzkunde Die Autonomie der Sprachfähigkeit ist kein Dogma, sondern ein offenkundiges Ergebnis empirischer Forschung. [. . . ] Wie andere biologische Systeme besitzt diese eine modulare Struktur. Dabei können wir von vornherein zwei Komponenten unterscheiden: ein kognitives System, das Informationen speichert, sowie Performanzsysteme, die auf diese Informationen Zugriff haben zum Zwecke der Artikulation, der Perzeption, des Redens über die Welt, der Äußerung von Fragen und so weiter. (Chomsky, 1995, S. 223) Neben dem kognitiven Wissenssystem sind auch die Prozesse der Sprachverarbeitung (Sprachproduktion und Sprachverstehen) für die Sprachfähigkeit konstitutiv. Außerdem kann eine funktionierende Kommunikation nicht nur auf der Basis des Sprachwissens erfolgen, sie resultiert vielmehr aus dem Zusammenwirken mehrer kognitiver Fähigkeitssysteme, die eigene Regeln haben. An der Kommunikation sind folgende kognitive Module beteiligt: • die Grammatik mit ihren Teilmodulen • das konzeptuelle System („Weltwissen“) • das Handlungswissen • das Perzeptionsmodul (Fähigkeiten zur Sinneswahrnehmung) • das motorische System Während die Linguistik meist von einem Lexikon in einer Einzelgrammatik ausgeht, nehmen psycholinguistische Darstellungen innerhalb des mentalen Lexikons mehrere Lexika, mehrere Lexikonmodule an. So wollen wir in Anlehnung an Dijkstra und Kempen (1993) sowie Dietrich (2002) sechs Lexikonmodule annehmen, die miteinander vernetzt sind und somit die Autonomie relativieren, da dadurch die Module verbunden werden. Das mentale Lexikon enthält das gesamte Wissen des Sprachbenutzers hinsichtlich der Wörter seiner Sprache. Dieses Wissen kann analog der Module des Sprachbenutzers gruppiert werden (siehe (Dijkstra und Kempen, 1993, S. 35)). Wir unterscheiden folgende Wissenssysteme: • Das phonologische Modul, das das lexikalische Spracherkennungssystem mit dem phonologischen Wissen sowie das Klangmuster bereitstellt bzw. festlegt, dem ein Wort entsprechen muss; • Das artikulatorische Modul, das bereitstellt, wie ein Wort ausgesprochen wird; • Das orthographische Modul, das angibt, wie ein Wort geschrieben wird; 2.3 Das Lexikon als Wissensspeicher: kognitive Wortbetrachtung 35 • Das lexisch-grammatische Modul, das Wörter erkennt und das morpho-grammatisches Wissen enthält (über Flexionsmorphologie, . . . ); • Das lexisch-grammatische Kodierungsmodul, das Wörter in den Satz einordnet (Subkategorisierungseigenschaften); • Das lexikalisch-konzeptuelle System mit dem Bedeutungswissen; • Das lexikalisch-pragmatische System mit dem pragma-semantischen Wissen. Man spricht bildlich allgemein von einer horizontalen Gliederung des Lexikons in Informationsebenen, darf sich diese aber keinesfalls als Aussage über die räumlichen Verhältnisse im Gehirn vorstellen (Dietrich, 2002, S. 24). Diese Ebenen nimmt man, wie schon erwähnt, auch in der Grammatiktheorie an (vgl. 2.2.2). 2.3.3 Abgrenzung von Wissensarten Am Beispiel der Modalwörter soll aufgezeigt werden, dass das Lexikon ein kompliziertes Gefüge von Regeln und Prinzipien ist, die die verschiedenartigen strukturellen Eigenschaften der Wörter und ihrer Bestandteile zum Inhalt haben. [. . . ] Das Lexikon ist nicht nur eine Liste von Lexikoneinträgen. Es ist mit charakteristischen Regelmengen und Prinzipien verbunden, die die phonologische, morphologische und semantische Zusammensetzung der Wörter und die systematischen Beziehungen zwischen den Wörtern zum Inhalt haben. Dabei wird die morphologische Gegliedertheit der Wörter zu ihrer semantischen Komposition und ihren syntaktischen Fügungspotenzen ins Verhältnis gesetzt. Ferner werden die systematischen pragmatischen Bezüge der lexikalischen Einheiten sowie den Wortschatz strukturierende Wortfeldbeziehungen und Sinnrelationen erfasst. Zusammen mit diesen Regeln und Prinzipien repräsentiert das Lexikon das, was als lexikalisches Wissen einen ganz wesentlichen Bestandteil der Sprachkompetenz ausmacht. (Zimmermann, 1987, S. 1-2) Welches spezifische lexikalische Wissen verbindet sich nun mit den Modalwörtern in der deutschen Sprache? Das sind Informationen zur morphologischen Struktur: Modalwörter sind oft Wortbildungen, die von Adjektiven oder Partizipien abgeleitet sind, eine größere Gruppe wird mit dem Suffix -weise gebildet (21). -weise ist dann der grammatische Kopf, der die Modalwortmerkmale in das komplexe Wort einbringt. (21) dankenswerterweise, dummerweise, . . . 36 2 Wortschatzkunde Informationen zu den morphologischen Eigenschaften: Modalwörter können nicht flektiert werden. Informationen zu den wortsyntaktischen Eigenschaften: Modalwörter haben Satzgliedstatus (sind phrasenfähig), sie können deshalb im Aussagekernsatz allein vor dem finiten Verb stehen. (22) Dummerweise ist die Vase umgefallen. Modalwörter sind aber keine Satzglieder zum Prädikat, weil sie sich logischstrukturell auf den ganzen Satz beziehen. Das wird auch durch ihre Erfragbarkeit sichtbar. Sie können nämlich nur durch eine Entscheidungsfrage erfragt werden (vgl. (23)). (23) a. Kommt der Besuch? Möglicherweise kommt der Besuch. b. Wie kommt der Besuch? *Möglicherweise kommt der Besuch. Der Satzcharakter zeigt sich auch in der Negation: Modalwörter können selber in der Regel nicht negiert werden (vgl. (24)): (24) a. Der Besuch kommt möglicherweise nicht. b. *Der Besuch nicht möglicherweise kommt. Nicht negiert hier der Besuch kommt und möglicherweise bezieht sich auf der Besuch kommt nicht. Dieser Satzcharakter zeigt sich auch darin, dass Modalwörter im Gegensatz zu normalen Satzgliedern nicht durch ein Pronomen substituiert werden können (vgl. (25)). (25) a. Der Besuch kommt. → Er kommt. b. Er kommt vielleicht. → *Er kommt so. Informationen zur Semantik: Die Modalwörter haben keine begrifflich-denotative Bedeutung. Ihre semantische Offenheit verlangt eine pragmatische Ausfüllung. Sie können Sprecherbewertungen und -einschätzungen, die entweder die Wünsche oder Interessen der Sprechenden betreffen, ausdrücken (vgl. (26)), sie können aber auch den Grad der Geltung, den die Sprechenden den ausgedrückten Tatsachen beimessen, transportieren (vgl. (27)). (26) Dummerweise/ bedauerlicherweise/ glücklicherweise sind wir versichert. (27) Möglicherweise/ sicherlich/ wahrscheinlich sind wir versichert. Zu dem Wissen über die Modalwörter steuern drei Lexikonmodule Wissenskomponenten bei (vgl. Abbildung 2.12 auf der nächsten Seite). 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 37 Handlungswissen Kommentar Behauptung Glücklicherweise sind wir versichert. Glücklicherweise sind wir versichert illokutives Wissen propositionales Wissen Abbildung 2.12: Wissensvernetzung Modalwörter 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene Die Sprache ist eine funktionale Erscheinung, die u. a. der Kommunikation zwischen Menschen dient. Da die Menschen gesellschaftlich abhängige Wesen sind, die in unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft eingebunden sind, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten leben, ist auch die Sprache davon abhängig. Die Gesellschaftsabhängigkeit der Sprache „bewirkt einerseits die ständige Anpassung der Sprache an die kommunikativen Bedürfnisse und verursacht dadurch andererseits ständigen Sprachwandel“ (Wiesinger, 1997, S. 9). Dies reflektiert sich im Wortschatz dahingehend, dass sich dieser in Teilwortschätze gliedert. Weshalb die Frage nach dem Umfang des deutschen Wortschatzes nicht so einfach beantwortet werden kann, soll im Folgenden besprochen werden. Weil der Wortschatz in ständiger Veränderung ist, gibt es Wörter, die nicht mehr benutzt werden, und solche, die neu hinzukommen. Dieser Aspekt soll unter der Überschrift „Die zeitliche Markierung des deutschen Wortschatzes“ angesprochen werden. Außerdem gibt es regional gegliederte Wortschätze (vgl. 2.4.4). Der deutsche Wortschatz wurde seit dem Entstehen der deutschen Schriftsprache durch Importe aus anderen Sprachen bereichert. Davon handelt der Abschnitt „Die internationale Markierung des deutschen Wortschatzes“. Dass die Menschen in verschiedenen sozialen Beziehungen stehen (Berufstätigkeit, Freizeitbeschäftigung, Familienverband, etc.), reflektiert sich in sozialen Wortschätzen (vgl. 2.4.5). 38 2 Wortschatzkunde 2.4.1 Der Umfang des deutschen Wortschatzes Dass der Umfang des Wortschatzes der deutschen Sprache nur geschätzt werden kann, hat verschiedene Ursachen: Das Lexikon einer Sprache ist ein offenes System, in das ständig neue Wörter aufgenommen werden. Gleichzeitig werden Wörter ungebräuchlich. Insgesamt hat die deutsche Sprache, wie andere entwickelte Kultursprachen auch, ihren Umfang im 19. und 20. Jahrhundert stark vergrößert. Bei der Feststellung des Umfangs erhebt sich die Frage, ob alle Wortbildungen, Wortformen und Fachwörter einbezogen werden sollen. Ohne die Fachwörter und morphologischen Wortformen nimmt man 300 000 - 500 000 deutsche Wörter an, mit den Fachwörtern sind es 5 - 10 Millionen. Die Durchschnittssprecher/ innen beherrschen aktiv 6 000 - 10 000 Wörter. Bei Personen, die ständig mit der Sprache umgehen, liegt diese Zahl höher. Für den Schriftsteller Theodor Storm hat man festgestellt, dass er 22 500 Wörter in seinem Gesamtwerk benutzt hat. Wichtiger als die Frage nach der Wortmenge ist die Feststellung der Benutzungshäufigkeit der einzelnen Wörter, weil diese für die Ableitung von Grundwortschätzen relevant ist. Grundwortschätze können verschiedenen Zwecken dienen: • dem Unterricht im Zweitspracherwerb, • der Grundschuldidaktik (Orthographie-, Grammatik- und Ausdrucksunterricht), • der Wörterbucherstellung. Deshalb sind nicht nur quantitative, sondern auch kommunikativ-pragmatische Faktoren (Schnörch, 2002) - wie Benutzer, Situation, Handlungsmuster, Thema - für die Erstellung lexikalischer Minima relevant. Es wurden eine ganze Reihe verschiedenartiger statistischer Erhebungen angestellt. Schnörch (2002) stellt sieben von ihnen vor und gewinnt daraus seine „Untersuchungsschnittmenge“ 10 . Man stellt den Grundwortschatz meist in Teilmodulen vor. Diese sind entweder wortartenspezifisch, wie bei Schnörch, oder wie bei Krohn (1992) in funktionale Wortklassen (Synsemantika, themenunspezifische und themenspezifische Autosemantika) aufgeteilt. Die letztere Aufteilung scheint uns sehr sinnvoll zu sein, weil sie auch der Tatsache Rechnung trägt, dass die am häufigsten verwendeten Wörter die kleine Gruppe der Synsemantika sind und bedeutungsmäßig vage bzw. unspezifische Wörter häufiger benutzt werden. Die Grundwortschatzlexikographie diskutiert auch, ob Wörter, Lexeme oder Sememe die Grundeinheiten sein sollten. Laut Meier (1964) machen die 200 häufigsten Wortformen ca. 54 % aller Textwörter aus . 10 Diese kann unter http: / / www.ids-mannheim.de/ lexik/ personal/ schnoerch.html eingesehen werden. 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 39 2.4.2 Die zeitliche Markierung des deutschen Wortschatzes Dass der Wortschatz der deutschen Sprache ständig anwächst, wurde gerade ausgeführt. Die neu hinzukommenden Wörter sind entweder Neubildungen oder Übernahmen aus anderen Sprachen. Völlig neue Wortschöpfungen, das Bilden völlig neuer Basismorpheme, kommen heute so gut wie nicht mehr vor. In Anlehnung an Riesel und Schendels (1975) wollen wir drei Arten von Neologismen unterscheiden: • okkasionelle Neologismen Okkasionelle Neuwörter sind Bildungen bzw. Schöpfungen, die einmalig sind und es bleiben, die im Rahmen einer Kommunikationssituation gebildet werden und dann aber nicht wieder Verwendung finden. Dies geschieht entweder, um eine momentane Benennungslücke (wie in (28)) zu schließen oder um Expressivität bewusst zu erzeugen (wie in (29)). (28) Ich möchte das mal Zeitinseln nennen. ARD „Frühstücksfernsehen“, 02.12.2002, J.M. Bergzins (29) Däubler-Gmelin, Stötzl, Kohl und Stiegler haben’s vorgemacht. Manchen bricht Extrem-Vergleichung das Genick. Frankfurter Rundschau, 28.09.2002 • vorübergehende Neologismen Vorübergehende Neologismen entstehen zu einem bestimmten Zeitpunkt und werden auch intensiv genutzt, finden dann aber nicht in den Kernwortbestand Eingang. Zu dieser Gruppe gehören die „Modewörter“, die eine Zeit lang in bestimmten sozialen Gruppen oder der ganzen Sprachgemeinschaft übermäßig viel gebraucht werden, aber nach ihrer Abnutzung durch neue Modewörter ersetzt werden (vgl. (30)). (30) Das Wörtchen „kaschubisch“ haben wir lange nicht mehr gelesen. Es hat Mitte der Fünfziger in den westdeutschen Feuilletons Furore gemacht und taugte als schmuckes Beiwort für alles, was ungeläufig und fremd, wenn nicht sogar bedrohlich aggressiv wirkte. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.10.2002, S. 54 Heute gibt es z. B. das übertreibende Übersteigern mit sich ablösenden Steigerungselementen wie ultra-, super-, mega-, brand-, tierisch, geil (Beispielwörter siehe (31)). Wobei ultraunmodern geworden ist. (31) a. Das brandneue Fibel-Programm! Auer Schulbuchkatalog, 2002 40 2 Wortschatzkunde b. Wir freuen uns alle tierisch über alles, was passiert! Robert von „Mia“ in AUDIMAX, 07.08.2002, S. 22 c. . . . , da draußen war vorhin ein geiler Sound beim Soundcheck, [. . . ] Xavier Naidoo in AUDIMAX, 07.08.2002, S. 24 Zur „Zeit des Dreißigjährigen Krieges, dem alamodischen Zeitalter, waren besonders in den Kreisen des Adels und der Höfe der deutschen Kleinstaaten französische Ausdrücke und Wendungen beliebt. Ausgesprochene Modewörter dieser Zeit sind: Mode, a la mode“ (Schmidt, 1972, S. 86). • temporäre Neologismen Temporäre Neologismen sind Neuwörter, die Eingang in den Usus einer Gruppe, in einen Gruppenwortschatz, oder in den Usus einer Varietät finden. Sie verlieren das Merkmal [+neu] und werden festes Mitglied im Wortschatz. Dies ist beispielsweise bei Riesterrente der Fall, das in die Fachsprache abgewandert ist. Zur Zeit verschwinden weniger Wörter als neue hinzukommen. Trotzdem scheiden aber auch welche (sterben aus), oder sie veralten. Das Problem des Wortunterganges im Deutschen wurde bisher sehr stiefmütterlich behandelt (Osman, 1999, S. 11). Wörter werden von den Lexikographen als untergegangen bezeichnet, wenn sie nicht mehr in die allgemeinen Sprachwörterbücher aufgenommen werden (Beispiele in (32)). (32) a. entknüpfen (heute aufknüpfen), entküssen (heute abküssen) b. Windmonat (heute November), Christmonat (heute Dezember) Die Gründe für das Wortuntergehen sind mannigfaltig. Entküssen ist wie andere Bildungen mit entdurch Präfixaustausch verschwunden. Christmonat wurde wie andere altdeutsche Monatsnamen von den römischen Namen verdrängt. Traditionell unterscheidet man bei den veralteten Wörtern Historismen von Archaismen. Historismen bezeichnen Denotate, die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr gibt (aber z. T. noch in historischen Überlieferungen oder im Museum) - siehe (33). In dem Anfangssatz der Anekdote sind drei veraltete Lexeme enthalten: Die Phraseologismen Schlacht von Sedan und Eisernes Kreuz und das Wort Grenadier sind in dem genannten Sinne Historismen. Sie finden dann Verwendung, wenn auf die historischen Denotate referiert werden soll. (33) Nach der Schlacht von Sedan im Jahre 1870 zeichnete sich ein einfacher Grenadier durch Tapferkeit dermaßen aus, dass sein Kompanieführer ihn zur Verleihung des Eisernen Kreuzes vorschlug (Wilhelm Spor: Der kluge Grenadier). 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 41 Archaismen sind dagegen Wörter, bei denen es für die Denotate neue Bezeichnungen gibt, wie oben ausgeführt - vgl. (34). In der 1794 gedruckten Vorlesung haben wir im ersten Satz drei untergegangene Wörter (Archaismen), die durch andere Lexeme ersetzt wurden: verfloßne Sommer-Halb-Jahre heute vergangene Sommersemester und (studierende) Jünglinge heute Studenten. (34) Diese Vorlesungen wurden im verfloßnen Sommer-Halb-Jahre vor einer beträchtlichen Anzahl der bei uns studierenden Jünglinge gehalten. Johann Gottlieb Fichte: Erste Vorlesung. Ueber die Bestimmung des Menschen an sich. Dass sich auch Bedeutungen wandeln können, hatten wir im Kapitel 2.1 dargestellt. 2.4.3 Die internationale Markierung Die Übernahme von Wörtern aus fremden Sprachen gibt es, seit die verschiedenen Volks- und Sprachengruppen in Berührung gekommen sind. So stehen bereits an der Wiege des Germanischen zahlreiche Entlehnungen aus dem Lateinischen und Keltischen, die interessante Einblicke in die Beziehungen der germanischen Stämme zu ihren Nachbarn geben. Auch das frühmittelalterliche Deutsch erfuhr einen Wandel durch das Eindringen neuer, fremder Kultur (Christianisierung). Vor allem griechische (35) und lateinische (36) Lexik wurde damals übernommen. (35) griech. angelos → lat. angelus → ahd. angil → Engel (36) spätlat. nonna → Nonne lat. brevis → Brief Zur Zeit des Rittertums kam mit der Übernahme der französischen Ritterkultur eine Vielzahl französischer Wörter in die deutsche Sprache (37). (37) afrz. aventure → mhd. aventiure → Abenteuer afrz. tornier → mhd. turnier → Turnier Auch in der Folgezeit reicherte sich der deutsche Wortschatz immer mit Übernahmen aus anderen Sprachen an. In neuerer Zeit sind es vor allem Entlehnungen aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. Diese erhitzen zum Teil die Gemüter größerer Bevölkerungsgruppen. Meldungen, wie in (38), erschienen in allen kleineren und größeren Zeitungen Deutschlands. (38) Wer panscht denn hier mit Sprache? Jena. (tlz/ rispe) Vorsicht, liebe Sprechenden und Schreibenden. Der „Verein zur Wahrung der deutschen Sprache“ in Jena wacht über das Reinheitsgebot 42 2 Wortschatzkunde des deutschen Wortes. [. . . ] Die Gruppe verfolgt vornehmlich das Ziel, die deutsche Sprache als eigenständige Kultursprache zu erhalten und zu fördern. TLZ, 08.10.2002, S. 8 Organisierte Ängste vor Überfremdung der deutsche Sprache und Befürchtungen, dass diese ihren eigenständigen Charakter verliert, sind keine Erscheinung unserer Zeit. So interessierte man sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert für den fremdsprachlichen Einfluss auf das Deutsche. Das erste Wörterbuch, das Fremdwörter in der deutschen Sprache aufzeichnete, wurde 1571 von Simon Rothes erstellt. Im darauf folgenden Jahrhundert wurde 1617 in Weimar die „Fruchtbringende Gesellschaft“ begründet, die eine gut organisierte und bedeutende Sozietät war, die an Aktivitäten der Florenzer Academia della Crusa für die italienische Sprache anschloss und sich um die Reinhaltung der deutschen Sprache bemühte. Da sich der prozentuale Anteil an fremdem Wortgut im Deutschen in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich verändert hat, Mackensen (1972) schätzte die Anzahl der Fremdwörter im Deutschen auf 20 000 bis 40 000, von denen nur 10 Prozent in der Alltagssprache Verwendung finden, gibt es u. E. keinen Grund, von einer Überfremdung der deutschen Sprache zu sprechen. Das heißt nicht, dass es in einzelnen Textsorten nicht überflüssigen Fremdwortgebrauch gäbe (z. B. in der Werbung). Die Ursachen für die Aufnahmen fremder Wörter sind unterschiedlicher Art: • Die Kontakte der Völker Diese Kontakte kommen z. B. durch Handelsbeziehungen oder die Verbreitung und Übersetzung von Schriftgut zustande. Die größte Bedeutung kommt hier der Entlehnung mit der Übernahme der Sache, die durch das Wort bezeichnet wird, zu. Über die Handelsbeziehungen sind beispielsweise eine Reihe von Wörtern aus dem arabischen (Zucker, Alkohol, Haschisch, . . . ) oder slawischen Sprachraum (Zobel, Zander, . . . ) in die deutsche Sprache gelangt. • „Stärkere“ Völker beeinflussen „schwächere“ Politische, kulturelle, wissenschaftliche und andere Veränderungen und Umbrüche führen dazu, dass fremdes Wortgut übernommen wird. In unserer Zeit hat der starke Einfluss des Englischen schon im 17. Jahrhundert mit dem wachsenden Interesse am englischen bürgerlichen Lebensstil begonnen (z. B. am Freizeitsport sport → Sport, to box → boxen), und sich später durch die Vormachtstellung der amerikanischen Wirtschaft und Wissenschaft verstärkt. 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 43 • Modeerscheinungen in Musik, Tanz oder Kleidung Einzelne hervorgehobene oder privilegierte Gruppen in einer Gesellschaft beginnen sich häufig auch mit fremden Wörtern von der Masse abzuheben und werden so zu nacheifernswerten Vorbildern. Arten von Entlehnungen Auch wenn viele Klassifikationen fremder Wörter auf dem deutschen Wissenschaftsmarkt sind, gehen sie doch meist auf Betz (1974) zurück und modifizieren seine Klassifikation nur. In Anlehnung an ihn wollen wir die Entlehnungsarten in Abbildung 2.13 unterscheiden. Fremdwörter Internationalismen Lehnwörter Lehnprägungen Lehnbildungen Lehnbedeutungen Entlehnungen Abbildung 2.13: Arten von Entlehnungen • Fremdwörter Fremdwörter werden in allen Klassifikationen von Lehnwörtern abgetrennt. Sie werden häufig dadurch charakterisiert, dass sie unverändert in eine andere Sprache übernommen würden. Dieser Definition können wir für die deutsche Sprache nicht uneingeschränkt zustimmen, weil bei den flektierenden Wörtern immer eine minimale Anpassung erfolgt. So erhalten fremde Substantive einen Artikel (eine Genusfestlegung) und werden mit einem großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Verben bekommen eine Flexionsendung (vgl. (39)). (39) die E-Mail, der Firewall, chatten (sie chattet) Fremdwörter sind dadurch charakterisiert, dass sie in Lautung und Schreibung noch deutlich ihren fremden Charakter bewahrt haben. Fremdheitsmerkmale sind vor allem (vgl. auch Duden (1994)): - Fremdphoneme: Phoneme, die in der deutschen Sprache nicht usuell sind. Beispiele hierfür sind das [ Z ] in Garage [ ga"ra: Z@ ] oder der Nasal in Balkon [bal " k ˜ o: ]. 44 2 Wortschatzkunde - Fremdgrapheme: Grapheme, die nicht im deutschen Grapheminventar vorkommen, so beispielsweise in Złoty (polnische Währung). - Fremde Graphem-Phonem-Relationen: Grapheme, die in einer im Deutschen unüblichen Art Phonemen zugeordnet werden, z. B. <ea> für [i: ] in Team. - Fremde Phonemkombinationen: Kombinationen von Phonemen, die im Deutschen normalerweise nicht auftreten, [sv] oder [sk] sind dann wortinitial wie in Sweatshirt [ "svEtSø: 5 “ t ]] oder Skat [ ska: t ]. - Fremde Graphemkombinationen: Unübliche Graphemkombinationen können im Zuge der Übernahme von fremdem Wortgut auftreten wie <gh> in Ghetto oder <ou> in Courage. - Fremde Akzentuierungen: Fremde Akzentuierungen treten auf. Während im Deutschen der Wortakzent auf der ersten oder der Stammsilbe liegt, kommt es durch Übernahmen auch zum unüblichen Endsilbenakzent (aut " ark oder extempor " ieren). - Fremde Flexionsmarker: Es werden auch flexionsmorphologische Eigenheiten anderer Sprachen übernommen, etwa für die Genitivbildung (des Atlas und nicht des Atlasses) oder die Pluralmarkierung (Kompositum im Singular und Komposita im Plural). - Fremde Wortbildungsmorpheme: Aus anderen Sprachen wurden und werden auch Präfixe oder Suffixe entlehnt (z. B. inter- oder -ismus). • Lehnwörter Lehnwörter werden bei Schippan (1992, S. 263), wie in manch anderer Publikation auch, folgendermaßen definiert: „Man bezeichnet fremdes Wortgut, das dem deutschen Sprachsystem völlig inkorporiert und angeglichen ist, von den Sprachteilnehmern nicht mehr als fremd erkannt wird und somit als deutsch gilt, als Lehnwort.“ Wir übernehmen diese Erklärung nicht, weil sie aus synchroner Sicht unhandlich ist. Wir schließen uns jenen an, die in Lehnwörtern Lexeme sehen, die in Lautung und Schreibung der aufnehmenden Sprache weitgehend angepasst sind. Diese Anpassung ist aber noch nicht völlig erfolgt (wie z. B. in (40)). (40) Telefon, Mikrofon, Megaphon, Phonetik Vor allem bei der Benutzung der Fremdwörter in der Alltagssprache werden diese den deutschen Regeln angepasst, es erfolgt eine schrittweise Integration des fremden Wortgutes. 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 45 • Internationalismen Internationalismen sind Wörter, deren Referenzbereiche ursprünglich auf Gegenstände außerhalb der betreffenden nationalsprachlichen Erfahrungswelt gerichtet waren und z. B. durch einen internationalen Kulturaustausch (wie durch Kolonialismus) allgemein bekannt wurden (Zürn (2001)). Beispiele sind in (41) angegeben. (41) Whisky (deutsch), whisk(e)y (englisch), whisk(e)y (französisch), whisky (italienisch), whiski (spanisch) Man kann die Internationalismen wie Zürn (2001) nochmal in Exotismen und Modewörter trennen. Exotismen bezeichnen Denotate, die es innerhalb des deutschsprachigen Raumes ursprünglich nicht gab (vgl. (42)). (42) Dollar, Geisha, Kaviar, Halloween Außerdem gehören zu den Internationalismen diejenigen Entlehnungen, die international weit verbreitet sind (Beispiele in (43)). (43) Bar, Büro, Chef, Manager • Lehnprägungen Lehnprägungen sind zum einen Lehnbildungen, deutsche Wortbildungen nach fremden Vorbildern (44), und zum anderen Lehnbedeutungen. Bei den Lehnbedeutungen bekommt ein einheimisches Wort entsprechend einem fremden Vorbild eine Bedeutungsvariante hinzu (Beispiele in (45)). (44) a. Lehnübersetzungen wie dies luane → Montag b. Lehnübertragungen wie show business → Unterhaltungsgeschäft c. Lehnschöpfungen wie Universität → Hochschule (45) ahd. heilant = „Heilender“ bekam von lat. salvator die Bedeutung „Heiland“ (Christus) hinzu ahd. riuwa = „Schmerz, Trauer“ bekam von lat. contritio die Bedeutung „Seelenschmerz“ (Schmerz auf Grund einer begangenen oder unterlassenen Handlung) hinzu feuern = „Feuer machen“ bekam von engl. fire in jüngerer Zeit die Bedeutungsvariante „entlassen“ hinzu. 46 2 Wortschatzkunde 2.4.4 Die regionale Gliederung des deutschen Wortschatzes Areale Varietäten im Wortschatz sind Lexeme, die sich auf Grund des räumlich-geographischen Vorkommens voneinander unterscheiden. Sie treten nicht im gesamten deutschen Sprachraum auf. Dabei sind die Standardvarietäten von den regionalen Varietäten zu unterscheiden. 2.4.4.1 Standardvarietäten Schleicher (1860, S. 157) stellte fest: An dem Mangel ausnahmslos durchgreifender Lautgesetze bemerkt man recht klar, daß unsere Schriftsprache keine im Munde des Volkes lebendige Mundart, keine ungestörte Weiterentwicklung der älteren Sprachform ist. Unsere Volksmundarten pflegen sich als sprachlich höher stehende, regelfestere Organismen der wissenschaftlichen Betrachtung darzustellen als die Schriftsprache. Schleicher artikuliert hier den Tatbestand, dass die überregionale deutsche Schriftsprache in ihrer Entstehung von der mündlichen Sprache getrennt war. Schreib- und Schriftkompetenz fielen auseinander. Die Standardsprache wurde über Jahrhunderte hinweg wie eine Fremdbzw. Zweitsprache gelernt. Das hat sich inzwischen für die meisten deutschen Sprecher/ innen geändert. Heute ist Deutsch Amtssprache in fünf Staaten: Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Schweiz und Luxemburg. Deutsch ist außerdem noch regionale Amtssprache in Belgien und Italien und wird als Minderheitensprache in weiteren 27 Ländern benutzt (Ammon, 1995). Es werden drei Standardvarietäten des Deutschen unterschieden, die als gleichberechtigt anzusehen sind: • Österreichisches Standarddeutsch: Austriazismen Die sprachliche Situation in Österreich ist ähnlich beschaffen wie im angrenzenden Süddeutschland, dennoch gibt es österreichische Spezifika (Scheuringer, 1997). Die spezifischen Lexeme nennt man Austriazismen, die es sowohl in den Dialekten als auch in der Standardvarietät (standardsprachliche Austriazismen) gibt. Als typische standardsprachliche Austriazismen gelten Fleischhauer, Kundmachung, allfällig, Rauchfangkehrer oder Jänner, wenngleich sie nicht alle nur in Österreich Verwendung finden. • Schweizer Standarddeutsch: Helvetismen Die Frage, ob es ein mündliches „Einheitsschweizerdeutsch“ (Christen, 1997) schon gibt, wird öfters diskutiert, da die Schweizer, viel stärker als die Deutschen und Österreicher, regionale Dialekte in allen mündlichen Kommunikati- 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 47 onssituationen benutzen. Trotz der starken innerschweizerischen Ausgleichstendenzen sind aber die einzelnen Dialekte im Kern noch vorhanden 11 . Es wird häufig angeführt, dass beispielsweise Bonbon in der deutschsprachigen Schweiz mehrere dialektale Varianten hat (Zältli, Täfeli, Tröpsli und Zückerli), die aber in der Kommunikation zwischen verschiedenen Dialekten nicht zu Problemen führt, da sie als regionale Varianten allgemein bekannt sind. Eine schriftsprachliche Schweizer Standardvarietät gibt es aber sehr wohl. • „Binnendeutsches“ Standarddeutsch: Teutonismen bzw. Germanismen Der eingebürgerte Ausdruck Binnendeutsch gilt heute als „Produkt einer arroganten und anmaßenden Sichtweise, und am meisten wohl in den Ländern des Deutschen, auf deren Sprachgebrauch er anmaßend aufs damit implizierte „Randdeutsch“ herabblickt.“ (Scheuringer, 1997, S. 343) Das deutsche Standarddeutsch überdacht die regionalen Dialekte und Umgangssprachen im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Standdarddeutsch ist aber auch nicht völlig homogen, dies zeigen solche schriftsprachlichen regionalen Varianten wie Samstag / Sonnabend, Fleischer / Metzger oder Guten Tag! / Grüß Gott! . 2.4.4.2 Regionale Varietäten Neben den Standardvarietäten des Deutschen existieren deutsche Dialekte (Mundarten) und Umgangssprachen, die im mündlichen Sprachgebrauch genutzt werden. Abhängig von der Landschaft, der sozialen Schicht, der kommunikativen Situation und Rolle ist die jeweilige Rede mehr oder weniger dialektal eingefärbt. Neben phonetischen und morphosyntaktischen Merkmalen sind es vor allem auch die regional markierten Wörter, die diese Einfärbung bewirken und erkennen lassen, aus welcher Region jemand kommt. Während in der Vergangenheit die dörflichen Dialekte im Zentrum der Forschungen standen, beschäftigt man sich seit geraumer Zeit auch mit den Stadtsprachen, den städtischen Umgangssprachen, die sich von den dörflichen dialektalen Umgangssprachen in verschiedener Hinsicht unterscheiden. Sie sind zum einen in sich differenzierter durch die stärkere Heterogenität der städtischen Bevölkerung und zum anderen eine Mischform aus Dialekt und Schriftsprache. Diese regionalen Umgangssprachen weisen eine unterschiedliche Nähe oder Ferne zu den Umgebungsdialekten auf. Für Deutschland nimmt man ein Nord-Süd-Gefälle an, weil die südlichen regionalen Umgangssprachen deutlicher dialektal gefärbt sind. Neben der Übernahme von dialektalen Lexemen in die städtischen Umgangssprachen gibt es auch eine Sonderlexik der Städte. Schönfeld (1989) führt für die Berliner Stadtsprache u. a. folgende Beispiele auf (46): 11 So Peter Gallmann im Gespräch mit der Verfasserin. 48 2 Wortschatzkunde (46) a. Hackepeter (gehacktes, rohes Schweinefleisch), b. Schusterjungen (Roggenmehlbrötchen), c. Schrippe (Weizenmehlbrötchen) 2.4.5 Die soziale Geprägtheit des deutschen Wortschatzes Dass soziale Faktoren Einfluss auf die Sprache haben, ist unumstritten. Als relevante linguistische Beschreibungskategorie hat sich dafür der Terminus soziale Varietät etabliert. Mit dem Begriff Varietät soll zunächst einmal der Tatsache Rechnung getragen werden, dass wir z. B. innerhalb dessen, was wir als ‘das Deutsche’ betrachten, verschiedene Sprach(gebrauchs)formen unterscheiden können, die sich jeweils als Summe spezifischer Charakteristika beschreiben lassen. Diese Charakteristika können auf allen sprachlichen Ebenen angesiedelt sein (Linke u. a., 1994, S. 303). Den spezifischen Wörtern kommt in den Varietäten aber eine dominante Rolle zu. Neben spezifischen Wörtern sind die Varietäten auch durch Gebrauchshäufigkeiten von Wörtern erkennbar. Auf folgende außersprachliche Parameter wollen wir beispielhaft eingehen: Alter, Geschlecht und Beruf. 2.4.5.1 Transitorische Lexik Lebensaltersprachen werden von Löffler (1994) als „transitorische Soziolekte“ bezeichnet. Auf Grund alterstypischer Merkmale sind vier Stufen zu unterscheiden: • Die Kindersprache Dieser Begriff meint den Erstspracherwerb. Die Kindersprache beginnt mit dem Sprechen des ersten Wortes und kann bis ins Vorschulalter andauern. Bereits mit drei Jahren ist der Wortschatz schon stark angewachsen. • Die Schüler- und Jugendsprache Die Jugendlexik wurde wissenschaftlich zuerst in Bezug auf die Studenten erforscht, indem systematisch Sonderlexik gesammelt wurde, beispielsweise im „Handlexikon der unter den Herren Purschen auf Universitäten gebräuchlichsten Kunstwörter“ (1749 Robert Salmasius). Salmasius führte über diese Studenten u.a. aus: „Was ein praver Pursch war, [. . . ] man schlug sich, man stach auf der Stelle tod; man prellte die Füchse; man schlug dem Professor so wie dem Philister die Fenster ein, so oft man nur Lust hatte“. 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 49 Die spezifische Lebensart der damaligen Studenten brachte auch eine Reihe besonderer Wörter hervor, wie z. B. das oben benutzte Füchse, das Studenten im ersten Semester bezeichnete. Die derben Umgangsformen schlugen sich auch in saloppen und vulgären Lexemen nieder (47). (47) a. Miez: Frauen, die sich kurzzeitig ‘vermieten’ b. hackschen: Zoten reißen In unserer Zeit ist die Jugendsprache einer der am besten untersuchten Soziolekte. Bezüglich der Lexik hat man u.a. festgestellt, dass jugendsprachlich markierte Wörter schwerpunktmäßig in ganz bestimmten funktional-semantischen Bereichen auftreten, vor allem bei den Wertausdrücken und Personenbzw. Gruppenbezeichnungen. Neuland (1994) hat allgemeinsprachliche Wörterbücher des Deutschen daraufhin angeschaut und u.a. folgende jugendsprachlich markierte Lexemhinzufügungen gefunden: (48) a. Wahrig 1986/ 91: cool, geil, prolo b. Duden 1989: abgefuckt, ätzend, geil; Braut, Macker, Torte. Trotz ständigem Wandel und regionalen Unterschieden konnten in der Jugendlexik typische Eigenheiten festgestellt werden: - Schöpferische Abwandlung der Standardlexik, z. B. durch das Hinzufügen neuer Bedeutungsvarianten (jmd. anbaggern, geil, moin). - Das Benutzen provokanter Lexeme, Tabuwörter, Vulgarismen, Fäkalsprache (Wichser). - Häufiger Gebrauch von neu eingeführten Intensitätsadverbien bzw. -adjektiven (cool, megacool, fett). - Vorliebe für Empfindungs- und Lautwörter (ups, würg). - Prägen origineller Gruß- und Anredeformen (tschüssi) und von Wortspielen (Er ist in Topf-Form, Radio Schnulzenburg (Ehmann, 1992, S. 229)). • Die Erwachsenensprache während der Berufstätigkeit Die Erwachsenensprache gilt als die Normalstufe, auf die sich in der Regel linguistische Untersuchungen beziehen. • Die Seniorensprache Die Sprache der alten, nicht mehr berufstätigen Menschen wurde bisher noch nicht so intensiv und mit verschiedenen Forschungsstrategien erforscht (Fiehler und Thimm, 1998). Die ausschließliche Orientierung auf Age-Marker wurde aber bald abgelehnt wie auch die Defizitbzw. Regressionshypothese, weil 50 2 Wortschatzkunde die Sprache der Alten, wie Jacob Grimm schon 1864 in seiner „Rede über das Alter“ feststellte, eine „eigene macht“ mit „besonderen gesetzen und bedingungen“ ist. Bezüglich des Wortschatzes zeichnet sich die Seniorensprache durch folgende Merkmale aus: - Stärkere Frequenz von veralteten Lexemen. - Bessere Kenntnis über den Gebrauch von Phraseologismen, die auch häufiger eingesetzt werden. - Entwickeltere semantische Kompetenz. 2.4.5.2 Habituelle Lexik Unter habituellen Soziolekten versteht Löffler (1994) „solche Soziolekte, deren Träger eine dauernde gesellschaftliche Gruppierung bilden“. Er rechnet hier die geschlechtsspezifischen Varietäten (Frauenvs. Männersprachen) und auch Standes- und Schichtensprachen (z. B. Nichtsesshafte) dazu. Wenngleich geschlechtsspezifische Sprachkompetenz nicht aus dem Biologischen resultiert, so gibt es sie doch, erwachsen aus den sozialen Umständen, aus dem erwarteten Rollenverhalten, der Erziehung und der Berufstätigkeit. Die prototypische Frauensprache 12 ist hinsichtlich der Lexik gekennzeichnet durch: (49) a. Häufigerer Gebrauch von abschwächenden Partikeln, Adverbien bzw. Modalverben, da Frauen traditionell im Familienverband eine vermittelnde Rolle einnehmen Nicht: Es ist so. Sondern: Es könnte so sein. oder Möglicherweise ist es so. b. Geringere Verwendung von Vulgarismen. c. Einsatz von Füllwörtern. 2.4.5.3 Temporäre Lexik Temporäre Soziolekte betreffen nur eine „gewisse Zeit im Tages- oder Jahresablauf [. . . ] Freizeitgruppen, Hobbygemeinschaften, andere Tages- oder Nachtvergnügungsgruppen mit eigenem Jargon oder Wortschatz“ (Löffler, 1994). Hierher gehören auch die Berufs-(Fach-)sprachen. Da sich die Berufswelt immer mehr spezialisiert, nehmen die spezifischen Fachwortschätze als Hauptelemente der Fachsprachen weiter zu. „Gegenüber den Wörtern der Gemeinsprache zeichnen sich die Fachwörter dadurch aus, daß sie präziser und kontextautonomer sind. [. . . ] Seine höchste Präzision 12 Frauensprache wird hier im sozialen Sinn - nicht biologisch - verwendet, d. h. die prototypische Frauensprache wird von Frauen verwendet, die dem tradierten westeuropäischen Frauenbild (Frau als Hausfrau und Mutter) entsprechend sozialisiert wurden. 2.4 Wörter als soziale und kulturelle Phänomene 51 erreicht das Fachwort gewöhnlich im theoretischen Bereich, wo es zumeist Terminuscharakter besitzt, das heißt, definiert und konventionalisiert ist.“ (Fluck, 1996, S. 47) Für die meisten Fachsprachen bietet sich eine Gliederung in drei Bereiche an, in die Theoriesprache, die Berufssprache und die fachbezogene Umgangssprache (Bolten, 1992). Im Zentrum der Fachsprachen stehen die Termini, die idealerweise exakt definiert, nicht vage und nicht mehrdeutig sein sollten. Sie sind Elemente von terminologischen Systemen und unterliegen Normierungen (z. B. durch DIN Regelungen). Die Fachwörter werden dabei in „Begriffsleitern“ und „Begriffsreihen“ eingefügt. Begriffsleitern organisieren die Fachwörter subordinierend mittels relevanter Begriffsmerkmale. In (50) wird der Terminus Wortbildung mit den Termini, die die Unterarten der Wortbildung bezeichnen, in Form einer solchen Begriffsleiter angeordnet. Begriffsreihen organisieren dagegen koordinierend, vgl. z. B. (51). Hier werden die Arten der Wortbildung entsprechend angeordnet. (50) Stufe Begriff Merkmal Oberbegriff Wortbildung 1. Unterbegriff Komposition / Derivation / . . . UK-Status 2. Unterbegriff Determinativkomposition / . . . Relationsbedeutung 3. Unterbegriff Rektionskomposition / . . . hypotaktische Relation . . . (51) (Wortbildungsarten) Komposition Derivation Kurzwortbildung Termini werden durch Definitionen festgelegt, dabei werden in der Logik- und Wissenschaftstheorie zwei Definitionsarten unterschieden, die Nominal- und Realdefinitionen. Bei den Nominaldefinitionen (52) werden die Bedeutungen durch Synonyme oder synonyme Wendungen vereinbart oder gesetzt. Realdefinitionen (53) beziehen sich auf konkrete Denotate und versuchen das Wesentliche zu erfassen, sie können deshalb zutreffen oder nicht. (52) Engelaut: Frikativ(laut) Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini (53) heterosyllabisch: zu verschiedenen (aufeinander folgenden) Silben gehörend, z. B. e und u in beurteilen. [. . . ] Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini Da sich die Fachsprachen, wie oben angesprochen, je nach dem Kommunikationsbereich, der Fachlichkeit (Forschung, Lehre, Beruf, . . . ), dem Medium (mündlich vs. schriftlich) und der Textsorte in Schichten gliedern, gibt es auch eine diesbezügliche 52 2 Wortschatzkunde Gliederung bei den Fachwörtern. Neben den Termini können deshalb noch Halbtermini, die nicht so exakt definiert sind, und Fachjargonismen, „Arbeitswörter“ ohne Anspruch auf Genauigkeit, unterschieden werden. 2.5 Beziehungen zwischen den Wörtern In den „Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft“ von de Saussure (1931, S. 147) heißt es: „So beruht denn bei einem Sprachzustand alles auf Beziehungen.“ Diese Relationen zu erforschen, wurde eine der Leitideen der Strukturalisten. Die Sinnrelationen im Lexikon stellen eine Form dieser Relationen dar. Speziell die deutschen inhaltsbezogenen Grammatiker richteten ihr Augenmerk auf die Wortfelder und Wortfamilien. 2.5.1 Semantische Relationen zwischen Wörtern Mit Sinnrelationen bezeichnet man die Bedeutungsbeziehungen zwischen Wörtern und anderen sinnhaltigen sprachlichen Einheiten. Diese semantischen Relationen können sowohl syntagmatischer als auch assoziativer (paradigmatischer) Art sein. Wir wollen hier nur die assoziativen Beziehungen betrachten. „Andererseits aber assoziieren sich außerhalb des gesprochenen Satzes die Wörter, die irgend etwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis, und so bilden sich Gruppen, innerhalb derer sehr verschiedene Beziehungen herrschen“ (de Saussure, 1931, S. 147). Die Bedeutungen von Wörtern können zueinander in vier Hauptrelationen (vgl. Abbildung 2.14) stehen. synonym partiell synonym hyperonym ungleich kontradiktorisch antonymisch konvers inkompatibel Bedeutung x ist mit Bedeutung y Abbildung 2.14: Semantische Hauptrelationen Relation der Bedeutungsgleichheit Die Relation der völligen Bedeutungsgleichheit liegt dann vor, wenn Wörter in ihren Bedeutungen übereinstimmen. 2.5 Beziehungen zwischen den Wörtern 53 Wenn in diese Übereinstimmung die Extension 13 (Bedeutung) und Intension 14 (Sinn) einbezogen werden, so bezeichnet man dies als Synonymie (54), wenn nur die Extension übereinstimmt, handelt es sich um Referenzidentität (55). (54) a. Apfelsine vs. Orange b. Samstag vs. Sonnabend c. ledig vs. unverheiratet (55) Die Vorleserin - Mareike Fütterer, 23, Geschichtsstudentin, hat einen besonderen Nebenjob: Als Studienhelferin vertont sie ihrem blinden Kommilitonen [. . . ]. Allegra 03/ 2002, S. 150 Relation der Bedeutungsähnlichkeit Die Relation der Bedeutungsähnlichkeit (partielle Synonymie) tritt in drei Formen auf: Erstens wenn die Wörter in unterschiedlichen Varietäten Verwendung finden (56); zweitens wenn zwischen den Wörtern eine minimale semantische Differenz besteht (57) und drittens wenn mit den Wörtern unterschiedliche Selektionsbeschränkungen verbunden sind (58). (56) a. Löwenzahn vs. Pusteblume b. der Vater vs. dorr Babba (57) jmd. schlecht machen vs. jmd. etwas anhängen (58) a. jmd. irrt sich b. jmd. missversteht etwas/ jmdn. Relation des Andersseins Bei der Andersseinrelation ergibt der Austausch der Lexeme eine völlig andere Bedeutung, da die Lexeme, die in der Andersseinrelation stehen, sich nicht gleichzeitig auf die jeweiligen Denotate beziehen können. (Wenn x ein a ist, ist es nicht b.) Die Andersseinrelation tritt in vier Ausprägungen auf: • Kontradiktion: Eine Kontradiktion bilden zwei Kontrastwörter, sie stehen in einem polaren Gegensatz (tot vs. lebendig; einprägen vs. vergessen). 13 Klasse von Objekten, die dem Bezeichneten entspricht. 14 Gedankliche Wiederspiegelung des Objektes, das bezeichnet wird. 54 2 Wortschatzkunde • Antonymie: Eine antonymische Relation liegt vor, wenn zwischen zwei Kontrastwörtern Lexeme zur Bezeichnung der Zwischenstufen existieren (heiß - warm - lauwarm - kalt - eiskalt). • Konversion: Konverse sind Lexeme, deren Bedeutung „spiegelbildlich“ aufeinander bezogen ist (Herr vs. Knecht; kaufen vs. verkaufen). • Inkompatibilität: Als inkompatibel bezeichnet man die Relationen in aufeinander bezogenen, geschlossenen Wortreihen (Januar - Februar - . . . - November - Dezember; Norden - Osten - Süden - Westen). Relation der Abstufung / Bedeutungshierarchie Zwischen bedeutungsähnlichen Lexemen kann auch die Relation der Über- und Unterordnung bestehen (vgl. Abbildung 2.15). Der Oberbegriff wird dabei als Hyperonym und der Unterbegriff als Hyponym bezeichnet. Ähnliche Wortschatzelemente auf der gleichen semantischen Ebene werden Kohyponyme genannt. Eine besondere Lebewesen Menschen Tiere Pflanzen Haustiere Raubtiere Löwen Tiger ... Abbildung 2.15: Relation der Abstufung Form der Bedeutungshierarchie ist die Meronymierelation, die Teil-Ganzes- Relationen zwischen Elementen, die in der Welt zusammengehören, benennt (vgl. Abbildung 2.16). Straße Fußweg Radweg Fahrbahn ... Treppenhaus Stockwerk Haustür ... Gebäude Stadt Abbildung 2.16: Meronymierelation 2.5 Beziehungen zwischen den Wörtern 55 2.5.2 Wortfamilien „Wortfamilien sind Wortverbände, die durch den Bezug auf ein gemeinsames Element (‚Stamm‘) charakterisiert sind. Sie bilden die methodische Voraussetzung für die Untersuchung des Strukturwandels eines Wortschatzes, weil an ihnen der Aus-, Ab- und Umbau des Wortschatzes beschreibbar und erklärbar wird.“ (Hundsnurscher, 2002, S. 675) Sie sind also Wortgruppierungen, die auf Grund einer gemeinsamen Herkunft entstehen. Im Zentrum steht die allen gemeinsame Wortbasis, das Wurzelmorphem, das auch Etymon (griech. „das Wahre“) 15 genannt wird. Häufig sind dies Wurzeln von starken Verben. Die Familien sind oft umfangreich, da die Formen mit den Ablautvarianten für die Bildung verschiedener Wörter genutzt werden. So umfasst die Wortfamilie um Liebe über 900 Einzelwörter (Agricola u. a., 1969, S. 540). Einen kleinen Ausschnitt zeigt Abbildung 2.17. lieb lieben Liebe Liebesbrief Liebeserklärung Liebesbedürfnis verlieben lieblos Lieblosigkeit Geliebter Liebelei Verliebtheit Abbildung 2.17: Wortfamilie Wörter einer Familie lassen z. T. keinen semantischen Zusammenhang mehr erkennen, weil sie sich semantisch voneinander entfernt haben, ihr Zusammenhang ist „verdunkelt“ (wie bei den Beispielen in (59)). (59) a. fließen - Flut, Floß, Flosse b. verschwinden - verschwenden c. Elend - Land d. Fahrt - fertig e. Geselle - Saal f. -bar - Bahre Etymologisch isolierte (undurchsichtige) Wörter werden oftmals an ein lautähnliches bzw. lautgleiches Wort angelehnt und historisch nicht korrekt in eine bestehende Familie eingefügt, man bezeichnet diese Prozesse als sekundäre Motivierung oder auch 15 Wir bezeichnen diese gemeinsame Basis nicht als „Stamm“, weil wir „Stamm“ synchronisch im Sinne von einer komplexen Morphemstruktur schon verwenden. 56 2 Wortschatzkunde als Volksetymologie (Olschansky, 1996). Der Prozess der sekundären Motivierung verläuft also über drei Stufen: 1. Isolation ⇒ 2. sekundäre Motivation/ Interpretation ⇒ 3. Deisolation Zwei Arten der Volksetymologie treten auf: (60) a. Volksetymologien ohne formativische Veränderung: Die Bedeutungen wandeln sich, wie bei Wahnsinn, das ursprünglich auf wan (=LEER) zurückgeht, aber an das homonyme Substantiv Wahn (auch KRANKHAFTE EINBILDUNG) angelehnt wurde. b. Volksetymologien mit formativischen Veränderungen: Neben dem Bedeutungswandel kommt es auch zu lautlichen Veränderungen wie bei Maulwurf, das ursprünglich auf mu ( > Haufen > Haufenwerfer) zurückgeht aber dann, als der erste Wortteil nicht mehr verständlich war, wurde es an molta (Erde) angelehnt. Volksetymologische Prozesse treten besonders häufig bei Fremdwörtern auf, da diese zumeist erstmal in der deutschen Sprache isoliert und für viele unmotiviert sind. Fremdwort-Volksetymologien können auch auf Falschübersetzungen zurückgehen. Dies ist beispielsweise bei dem Wort rasant der Fall, das aus dem Französischen entlehnt wurde (franz. raser = RASIEREN) und ursprünglich soviel wie FLACH bedeutete. In der Alltagssprache wurde es am Beginn des 20. Jahrhunderts an das Verb rasen angelehnt. Bei Augst (2002) werden verschiedene Typen von Wortfamilien unterschieden: • Nach der Motivierung der Wörter: Familien mit morphologisch-semantisch motivierten oder mit figurativ-semantisch motivierten Wortzusammenhängen. • Nach der Einbeziehung oder Nichteinbeziehung des Sprachwandels: synchrone vs. diachrone Wortfamilien. • Nach dem Einordnen in Handlungsfelder in Teilwortfamilien. 2.5.3 Wortfelder Der Terminus Wortfeld wurde 1931 von Trier zur Bezeichnung einer Gruppe von sinnverwandten Wörtern eingeführt. In dieser und weiteren Publikationen hat Trier (1972) Folgendes hervorgehoben: • „Durch die Zwischenwelt der Sprache hindurch ist uns das Sein gegeben“ (S. 145). „Jede Sprache gliedert das Sein auf ihre Weise, schafft damit ihr besonderes Seinsbild, setzt damit ihre, dieser einen Sprache eigentümlichen Inhalte.“ (S. 146) 2.5 Beziehungen zwischen den Wörtern 57 • Den Wortschatz sollten wir uns nicht als „einen Schatz, Vorrat, Thesaurus denken [. . . ] sondern - in einer architektonischen Analogie - als gebauten und gegliederten Raum, als Gefüge, [. . . ] Das Wort ergliedert sich aus dem Ganzen des gebauten, gegliederten Wortschatzes, und umgekehrt gliedert sich der Wortschatz aus in die einzelnen Worte.“ (S. 146-147) • „Felder sind die zwischen den Einzelworten und dem Wortschatzganzen lebendigen sprachlichen Wirklichkeiten; die als Teilganze mit dem Wort das Merkmal gemeinsam haben, das sie sich ergliedern, mit dem Wortschatz hingegen; das sie sich ausgliedern.“ 16 (S. 148) • Felder sind „Intellektualfelder“. (S. 150) „Unser Feldbegriff folgt aus unserem Sprachbegriff. Wenn der gegliederte und gebaute Raum der Sprachinhalte uns das Eigentliche ist, dann gelangt man zum Feld von oben her, teilend, nicht von unter her, sammelnd.“ (S. 177) Triers Wortfelder sind also Begriffsfelder, die die spezifischen Weltsichten aufzeigen sollen, die in den Sprachen eingefroren seien. Damit werden die Ideen von Humboldt mit denen von de Saussure verbunden. 2.5.3.1 Charakteristik von Wortfeldern In neuerer Zeit hat sich vor allem Lutzeier mit dem Feldbegriff bezüglich der deutschen Sprache beschäftigt, ihn weiterentwickelt und ihn auch von den ursprünglichen sprachphilosophischen Implikationen gelöst. Folgende Feldprinzipien hat er aufgestellt (Lutzeier, 2001): • Die Felder bilden einen Substitutionsrahmen, deshalb gehören die Feldelemente der gleichen Wortart an (vgl. (61)). (61) Der Mann erweist sich als [+Adjektiv]. Adjektiv: klug, langweilig, geizig, großzügig, spießig, schön, sinnlich, phantasievoll, . . . • Die Felder weisen eine Form- und eine Inhaltsseite auf. Die Formseite betrifft vor allem die identische Wortart aller Feldelemente. Die Inhaltsseite betrifft das semantische Ähnlichsein aller Feldelemente zueinander (vgl. Beispiel (62)). (62) Der Mann erweist sich als [+Adjektiv]. - Aspekt „Äußeres“: schön, gepflegt, . . . - Aspekt „Charaktereigenschaften“: langweilig, spießig, . . . - . . . 16 Hervorhebungen wie bei Ipsen. 58 2 Wortschatzkunde • Jedes Feldelement erhält seine Bestimmung in Auseinandersetzung mit anderen Feldelementen. Deshalb sind Felder inhaltlich strukturiert in Teilmengen und hinsichtlich der Sinnrelationen (vgl. Beispiel (63)). (63) Der Mann erweist sich als [+Adjektiv]. Teilmenge 1 . . . Teilmenge 2 („Charaktereigenschaften“) Relation „Gegensatz“: spießig vs. offen Relation „Gleichheit“: leidenschaftlich vs. wild 2.5.3.2 Arten von Wortfeldern Die onomasiologischen Felder sind die älteste Form bzw. Art von Feldern. Sie gehen auf J. Trier zurück. In ihren Zentren steht jeweils ein außer- oder übersprachlicher Begriff, der unabhängig von den Einzelsprachen ist bzw. als solcher gesetzt wird. Zu diesen Begriffen werden dann die entsprechenden einzelsprachlichen Wörter zugeordnet und voneinander abgegrenzt. Beispielsweise könnte zu dem Begriff „Haarpflegemittel“ für die deutsche Sprache ein onomasiologisches Wortfeld aufgestellt werden (64): (64) a. Haarwasser, Haarspray, Haaröl: Hier ist das Merkmal [flüssig] relevant zur Abgrenzung gegenüber der zweiten Gruppe von Haarpflegemitteln. b. Frisiercreme, Haargel, Pomade, Brillantine: Sie unterscheiden sich von der ersten Gruppe durch das Merkmal [in Cremeform]. Auch hinsichtlich der speziellen Pflegefunktion könnte das Feld weiter differenziert werden. Die semasiologischen Felder werden wie z. B. bei Schlaefer (1987) auf der Basis distributioneller bzw. kollokativer 17 Merkmale gebildet, die paradigmatischen und syntagmatischen Relationen werden in die Feldkonstituierung einbezogen. So können wir die oben genannten Haarpflegemittel-Lexeme hinsichtlich ihrer paradigmatischen Beziehungen zueinander (ihren Sinnrelationen) charakterisieren, indem wir sie in Kontextrahmen (65) einsetzen: (65) Die Friseuse empfiehlt der Kundin / dem Kunden [. . . ] zur [. . . ] In die erste Leerstelle sind alle oben genannten Haarpflegemittel einsetzbar, weil es sich um bedeutungsähnliche Bezeichnungen handelt. Ihre unterschei- 17 Siehe 5.7. 2.6 Literaturhinweise 59 denden Bedeutungselemente können beispielsweise durch die Analyse der syntagmatischen Verknüpfungen aufgezeigt werden. So verknüpft sich Pomade nur mit männlichen Kunden, weil es ein Mittel zur Festigung von männlichem Haar ist (66). (66) Die Friseuse empfiehlt dem Kunden [Pomade] zur [Haarfestigung]. 2.5.3.3 Interdisziplinäre Aspekte von Wortfeldern Wortfelder bergen verschiedenartige interdisziplinäre Aspekte und Punkte zur Anknüpfung, zum einen innerhalb der Lexikologie zur Lexikographie und linguistischen Nachbardisziplinen (Lutzeier, 1993); zum anderen haben Forschungen der Psycho- und Neurolinguistik ergeben, dass wortfeldartige Organisationen im Geist Realität sind. So wird angenommen, dass „das Wissen über die Welt im Langzeitgedächtnis gespeichert [wird] in Form eines konzeptuellen Netzwerks, einer Menge von Begriffen (Konzepten), die durch Bedeutungsrelationen verbunden sind“ (Dijkstra und Kempen, 1993, S. 54). Wortfelder können auch einen Beitrag zur Aufzeigung der Wissensstrukturierung leisten, ohne dass wir Wortfelder mit kognitiven Wissensstrukturen gleichsetzen wollen. Für die Computerlinguistik können Wortfelder für die Strukturierung des maschinellen Lexikons von Relevanz sein. So ist beispielsweise „WordNet“ (Fellbaum, 1998) entstanden als eine lexikalische Datenbasis der englischen Sprache, die von der Universität Princeton entwickelt wurde, begründet auf psycholinguistischen und computationellen Netzwerk-Gedächtnisvorstellungen. „English nouns, verbs, and adjectives are organized into synonym sets.“ (Miller u. a., 1993, S. 1). Es wird also mit semasiologischen Feldern gearbeitet. Auch sprachvergleichende Wortfeldanalysen können für die Computerlinguistik für die Zwecke der automatischen Übersetzung sehr hilfreich sein, weil sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Lexika aufzeigen. Traditionell besteht eine enge Verbindung zur Sprachphilosophie bzw. Anthropologie, da die Wortfelder einen Beitrag zur Analyse der Weltsichten leisten können. 2.6 Literaturhinweise • Peter Eisenberg: Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1. Das Wort. Metzler: Stuttgart, Weimar 1998 • Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Metzler: Stuttgart, Weimar 2000, Kap. III und V • Wilhelm Schmidt: Deutsche Sprachkunde. Volk und Wissen: Berlin 1972 60 2 Wortschatzkunde 2.7 Übungsaufgaben 1. Bestimmen Sie die Motivierungsart der kursiv gedruckten Wörter! Was hängt an der Wand und macht Kikeriki? Eine Kuckucksuhr mit einem verrückten Kuckuck. 2. Du sprichst ein großes Wort gelassen aus. Welche sprachlichen Einheiten in obigem geflügelten Wort haben prototypischen Wortcharakter? Welche sprachlichen Einheiten sind nicht auf allen Sprachsystemebenen Wörter? 3. Charakterisieren Sie die performativen Verben (taufen, verurteilen, . . . ) hinsichtlich ihres pragmatischen Wortcharakters! Informieren Sie sich dazu über performative Verben in einem linguistischen Wörterbuch! 4. Diskutieren Sie, ob in der nachfolgenden Artikelüberschrift „Zonen-Gabi“ diskriminierend gebraucht ist! „Zonen-Gabi“ und die Liebe zur Opposition Die PDS will auf ihrem Parteitag das Chaos in der Parteiführung beenden. Und Gabi Zimmer versteht es, das Pathos der Niederlage zu beschwören. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.10.2002, S. 4) 5. Was bedeuten rostfrei und nichtrostend in der Fachsprache? Wie unterscheiden sich Fachwörter von alltagssprachlichen Lexemen? 6. Stellen Sie eine Begriffsleiter zu Substantiv auf! 7. Ermitteln und bestimmen Sie die enthaltenen Lehnwörter! Dieses POWER! -Taschenbuch gibt Ihnen einen Überblick über die komplette Palette der Office XP-Funktionen. Klappentext von A. Möller: Office XP Power. 8. Welche Sinnrelation liegt bei den Lexempaaren vor? sich anstrengen - sich ausruhen lernen - pauken salzen - würzen atmen - Luft holen verwitwet - geschieden weiblich - männlich 3 Wortbildung 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung Ob die Wortbildung ein selbstständiges Gebiet gegenüber der Flexionsmorphologie ist, wird in der Linguistik kontrovers diskutiert. Wir nehmen, wie im Kapitel 1 ausgeführt, eine Selbstständigkeit an. Außerdem werden der Erklärung von morphologischen Prozessen unterschiedliche Modelle zugrunde gelegt. Die Item-and-processgrammar („Prozessmorphologie“ im Rahmen der Generativen Grammatik) leitet mittels eines Regelsystems die Oberflächenstrukturen aus abstrakten Tiefenstrukturen ab. Die Item-and-arrangement-grammar („Kombinationsmorphologie“ im prägenerativen amerikanischen Strukturalismus) entwickelte eine kombinatorische Morphologie. Aus einem etwas anderen Blickwinkel werden auch outputorientierte (deklarative) von derivationellen Modellen unterschieden. Im Rahmen eines Lehrbuchs möchten wir auf diese Modelle und ihre Weiterentwicklungen nicht eingehen, verweisen beispielsweise auf Spencer und Zwicky (1998). Gegenstand des Bereiches Wortbildung ist die Beschreibung der Wortbildungsprozesse und ihrer Ergebnisse. Wortbildung im engeren Sinne bezieht sich auf die Bildung neuer Wörter aus bereits vorhandenen Elementen (vgl. (1)). (1) Fern-seh-er, Ge-web-e, Bio-an-bau Sie grenzt sich damit von der Wortschöpfung ab, die erstmals völlig neue Lautformen bestimmten Inhalten zuordnet, vgl. Tür, Baum, klein. Die wichtigste Methode in der deutschen Gegenwartssprache neue Wörter entstehen zu lassen, besteht darin, bereits vorhandene Elemente - so genannte Morpheme - in unterschiedlicher Weise zu kombinieren. Die Beschaffenheit dieser Morpheme sowie die Spezifik ihrer Kombination oder auch Weglassung entscheidet im Einzelnen über die Wortbildungsart, das Wortbildungsmodell. Die wichtigsten Wortbildungsarten im Deutschen sind Komposition, Derivation (explizit/ implizit) und Kurzwortbildung. Sie erfolgen nach relativ strengen Regularitäten und Modellen, die es in den folgenden Teilkapiteln darzustellen gilt. Dabei geht es vordergründig um die Behandlung und Diskussion prinzipieller Fragen der Zuordnung von Wortbildungsprodukten zu bestimmten Wortbildungsarten und deren Abgrenzung gegenüber anderen Möglichkeiten. Die Darstellung der Wortbildung erfolgt unter synchronem Aspekt. Da, wo es für heutige Erklärungsversuche hilfreich ist, auf sprachhistorische Fakten zurückzugreifen, oder wo einzelne Erscheinungen einen interessanten Einblick in die sprachliche Entwicklung geben, wird die Diachronie mit einbezogen. 62 3 Wortbildung Zunächst sollen jedoch die „Bausteine“ des Wortes, seine Konstituenten, betrachtet werden. 3.1.1 Morpheme als Konstituenten des Wortes Morpheme sind die kleinsten lautlichen oder graphischen Einheiten mit einer Bedeutung oder grammatischen Funktion (Linke u. a., 1994, S. 60). Sie bilden die Konstituenten der Wortstruktur und ergeben durch Kombination neue Wörter und Wortformen. Wie bereits erwähnt, sind für die Bildung neuer Wörter als Einheiten des Lexikons und die Darstellung der einzelnen Wortbildungstypen die Arten von Morphemen, die eine entsprechende Verbindung eingehen, von grundlegender Bedeutung. Bei ihrer Beschreibung sollen die nativen Morpheme im Mittelpunkt dieser Einführung stehen. Das Morpheminventar des Deutschen lässt sich mit Schippan (1992, S. 80-81) nach vier Kriterien erfassen (2): (2) a. nach Bedeutung/ Funktion der Morpheme, b. nach dem Grad ihrer Selbstständigkeit, c. nach ihrer Position und d. nach ihrer Reproduzierbarkeit. • Nach der Bedeutung/ Funktion sind zu unterscheiden: - Basismorpheme (BM) sind Träger der lexikalisch-begrifflichen Bedeutung. Wir gehen davon aus, dass sie hinsichtlich der Wortartprägung (der Kategorie) nicht neutral sind, sondern kategorial gebunden, kategorial markiert. - Wortbildungsmorpheme (WBM) dienen der Bildung neuer Wörter, und sie vermitteln sowohl lexikalisch-begriffliche Informationen (Schulung ‘abstrakt’, ‘Prozess’) als auch grammatische Informationen (‘Substantiv’,‘feminin’). - Flexionsmorpheme (FM) tragen grammatische Bedeutung und repräsentieren die so genannten grammatischen Kategorien der flektierbaren Wortklassen (Kindern: Numerus ‘Plural’, Kasus ‘Dativ’). Sie konstituieren Wortformen. - Fugenelemente (FE) treten nur wortintern auf und stellen fakultative Funktionszeichen der Verknüpfung von Konstituenten dar. Aber auch das Gegenteil ist anzutreffen: Beim Verknüpfen von zwei Konstituenten wird das auslautende -e des Erstgliedes getilgt, z. B. bei Endkampf, Sprachwissenschaft, Wollkleid. Mitunter verbindet sich mit der Tilgung das Kombinieren mittels Fugenelement, vgl. Hilfsfond, Hilfsverb, Gebirgskamm, 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung 63 Gebirgsmassiv. Teilweise entwickelten sich die Fugenelemente aus Flexionsformen des Erstgliedes einer ursprünglichen Nominalphrase (vgl. des Landes Regierung → Landesregierung) und bildeten ein Muster für zahlreiche Analogien, ohne dass immer eine Flexionsform zugrunde lag (vgl. Arbeitsteilung, Liebesdienst). Die Fugenelemente können mitunter bedeutungsdifferenzierend wirken, vgl. Landmann (‘Bauer’) gegenüber Landsmann (‘aus derselben Gegend stammend’). Unter synchronem Aspekt soll gelten: Jede formale Abweichung von der grammatisch neutralen Grundform einer Konstituente ist wortintern als Fugenelement einzuordnen, z. B. Arbeitsamt, Tagesordnung. (Allerdings werden mit dieser Festlegung auch die bedeutungstragenden Komparationsflexive erfasst, vgl. Höchstleistung - ‘Leistung ohne Steigerung’, verbreitern - ‘breiter machen als vorher’.) Tritt dagegen ein solches Element am Wortrand auf, so kennzeichnet es eine grammatische Wortform und ist Flexionsmorphem wie bei Untersuchungen, gelernt. Eine engere Auffassung von Fugenelementen finden wir z. B. bei Donalis (2002, S. 45), die sie nur auf Elemente bezieht, „die nicht im Flexionsparadigma der ersten Einheit vorkommen“. - Mitunter können zwei oder mehrere Bedeutungsinformationen in eine morphologische Einheit eingehen. Man spricht dann von einem Portmanteau-Morphem (PM), z.B. bei gleichzeitiger Repräsentanz der beiden Morpheme in und dem durch im. • Nach dem Grad der Selbstständigkeit (frei vs. gebunden): - Es sind freie und gebundene Morpheme zu unterscheiden. Freie Morpheme haben ohne zusätzliche Elemente Wortcharakter, gebundene Morpheme müssen immer mit einem Basismorphem kombiniert sein. Abgesehen von den reinen Funktionswörtern - sie gehören aufgrund des Fehlens von lexikalisch-begrifflicher Bedeutung streng genommen nicht zu den Basismorphemen (z. B. dass, der) und werden deshalb z.T. auch als freie grammatische Morpheme bezeichnet, vgl. Pörings und Schmitz (1999, S. 54) - können nur die eigentlichen Basismorpheme frei sein, d. h. Wortstatus einnehmen (Berg, Maus, Tisch). Wortbildungsmorpheme und Flexionsmorpheme sind stets gebunden - sie können ohne Kombination mit einem Basismorphem keinen Wortstatus erhalten (unfrei, Türen). - Aber auch Basismorpheme kommen nicht immer frei vor: Verbale Basismorpheme benötigen grundsätzlich zur Wortfähigkeit das Flexionsmorphem des Infinitiv Präsens Aktiv -en (nehmen, lesen, weinen) oder ein anderes Flexionsmorphem (weinte, nehmt). Ebenso existieren Konfi- 64 3 Wortbildung xe als Basismorpheme fremder Herkunft im Deutschen nur als Bestandteil von Morphemkombinationen (Makrostruktur, fanatisch), es sei denn, Prozesse der Kurzwortbildung wirken dem entgegen (vgl. (3)). (3) Ich trage nur Mini. Zur Disko gehe ich regelmäßig. Auch unikale Morpheme sind als ‘erstarrte’ Basismorpheme in der Regel gebunden. Sie existieren gegenwartssprachlich als Unikate nur noch in einer Kombination und können erst im Zuge etymologischer Untersuchungen formal-semantisch als Basismorpheme interpretiert werden (Sintflut, Unflat). Sie gehen keine Neubildungen ein. • Nach ihrer Position (einsetzbar vs. additiv): - Man unterscheidet additive und einsetzbare Morpheme. Additiv sind solche Morpheme, die dem Basismorphem hinzugefügt werden, also Wortbildungsmorpheme und Flexionsmorpheme. Als Wortbildungsmorpheme sind Präfixe, Partikelpräfixe und die wortbildungsmorphemähnlichen Partikel links vom Basismorphem positioniert: Verband, hinterfragen, abnehmen (zur Bestimmung und Abgrenzung der Partikelpräfixe und Partikel siehe 3.3.1.1.2), Suffixe rechts vom Basismorphem: waschbar, grünlich und Zirkumfixe umschließen das Basismorphem: Gesinge, beschönigen. Diese Erscheinung findet man auch im Bereich der Flexion z. B. bei der Bildung des Partizips Perfekt: gesungen, gelernt. In diesem Kapitel bezieht sich der Terminus Affix in engerer Auslegung immer auf Wortbildungsmorpheme; die Termini Präfix, Suffix und Zirkumfix kennzeichnen hier - thematisch bedingt - nur Arten von Wortbildungsmorphemen und werden nicht auf Flexionsmorpheme bezogen. - Einsetzbare Morpheme kommen im Basismorphem zur Geltung - sie sind entweder implizite Morpheme oder Allomorphe. Kriterium für die Unterscheidung ist die Frage, ob sie im konkreten Fall eine grammatische bzw. semantische Funktion haben oder nicht. In sang, wo der Ablaut das Tempus Präteritum des starken Verbs singen markiert, und in Väter, wo der Umlaut einziger Anzeiger des Plurals ist, sind a und ä implizite Morpheme. In Gesang, wo eine Tempusmarkierung aufgrund der fehlenden Kategorie beim Substantiv gar nicht möglich ist, stellt a ein Allomorph dar. Ebenso das ü in mütterlich, wo der Umlaut eine Konsequenz des Suffixes -lich ist und nichts mit der kategorialen Einordnung als Adjektiv zu tun hat. Die „Reste“ des Basismorphems bezeichnet man mitunter auch als diskontinuierliches Morphem (bei sang beträfe das s . . . ng). 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung 65 • Nach ihrer Reproduzierbarkeit - Morpheme sind in der Regel reproduzierbar und wiederholbar, d.h., sie werden in unserem mentalen Lexikon gespeichert und sind so immer wieder für neue Kombinationen abrufbar. Die bei Eisenberg (1998, S. 209) unter synchronem Aspekt als „morphologischer Rest“ zusammengefassten Elemente werden hier vereinfachend mit zum Basismorphem gezählt, da sie nur noch einen marginalen Status als morphologische Einheiten besitzen. Es handelt sich z. B. um so genannte Pseudoaffixe wie -e und -en in funktional schwachen Endsilben von Substantiven, die z. B. bei Hinzufügen des Diminutivsuffixes -chen wegfallen, (vgl. (4)). (4) Tante - Tantchen, Hase - Häschen, Laden - Lädchen, Faden - Fädchen. - Anders verhalten sich demgegenüber -er und -el in Beispielen wie (5). (5) Bruder - Brüderchen, Onkel - Onkelchen. Sie sind echte Bestandteile des Basismorphems und werden als solche nicht ersetzt. 3.1.2 Zur Syntax von Wortbildungskonstruktionen Obwohl das Lexikon selbstständiger Bestandteil der Grammatik ist, sind Wortbildungsregeln unter strukturellem Aspekt mit den strukturaufbauenden Regeln der Syntax vergleichbar. Komplexe Wörter sind wie syntaktische Strukturen in einer streng hierarchischen Ordnung von Teil-Ganzes-Verhältnissen angelegt. Sowohl für die Darstellung von (syntaktischen) Phrasenstrukturen als auch von Wortstrukturen bietet sich das Instrumentarium der Konstituentenanalyse an. Trotz formaler Parallelen von Phrasenstrukturen und Wortstrukturen unterscheiden sich beide allerdings in verschiedener Hinsicht voneinander. So werden u. a. komplexe Wörter in der Regel als feste Wortschatzelemente im mentalen Lexikon gespeichert, was für syntaktische Strukturen nicht in gleicher Weise gilt. Als klares Abgrenzungskriterium komplexer Wörter gegenüber Phrasenstrukturen hebt Donalis am Beispiel von Komposita europäischer Sprachen das Flexionskriterium hervor. Es besagt, dass diese im Gegensatz zu Phrasen nur am Kopf (Kern, Head) flektiert werden (vgl. Donalis (2003, S. 89)). 66 3 Wortbildung Syntaktische Haupteigenschaften von Wortbildungen im engeren Sinne sind: • Sie stellen meist Morphemkonstruktionen (MK), also Kombinationen aus Morphemen, dar. • Sie sind hierarchisch organisiert und können in ihre Bestandteile, so genannte Konstituenten (unmittelbare und mittelbare), zerlegt werden. Unmittelbare Konstituenten (UK) sind die Konstituenten, in die eine Einheit unmittelbar, d. h. auf der nächstniederen Hierarchie-Ebene, zerlegbar ist. Die so entstandene Konstituentenstruktur kann mittels Stammbaum veranschaulicht werden und lässt sich in einer Morphemdarstellung (vgl. die Abbildung 3.1 auf der nächsten Seite) oder Kategorienschreibung (Verwendung von Symbolen der Wortkategorien/ -klassen) darstellen (vgl. die Abbildung 3.2 auf der nächsten Seite). Als lineare Form bietet sich aus platzsparenden Gründen die Klammerschreibung an (vgl. (6)). (6) Klammerschreibung : [ N [ N Stimme ] FE n [ N [ A gleich ] [ Aff/ Suff heit ]]] Unter Stamm soll hier immer eine Kombination von Morphemen verstanden werden, bestehend aus Basismorphem(en) und Wortbildungsmorphem(en) bzw. aus mindestens zwei Basismorphemen (fruchtbar, untreu, unfruchtbar, ganztägig, Lachgas). Flexionsmorpheme als variable Elemente eines Flexionsparadigmas werden nicht als Bestandteile des Stamms angesehen. Der Begriff Stamm wird in der Linguistik unterschiedlich definiert, teils wird jede Konstituente (komplex oder einfach), die ein Basismorphem enthält, als Stamm bezeichnet (vgl. Fleischer und Barz (1995, S. 25)), teils werden Flexionsmorpheme mit in den Stamm einbezogen (vgl. Motsch (1996, S. 161)). Als Wurzel soll das Basismorphem gelten, das im konkreten Fall Grundlage für Wortbildungsprozesse ist (Lehramt, nachlässig). Sie ist der Teil, der nach Abstreichen von Wortbildungsmorphemen und/ oder erweiternden (determinierenden) Basismorphemen übrig bleibt. Es können mitunter auch mehr als eine Wurzel in einem Wort enthalten sein (Studienbewerber, Altstadtfest). Da Fugenelemente, synchron gesehen, in der Regel keine bedeutungstragenden Einheiten sind (vgl. Schippan (1992, S. 84) und Fleischer und Barz (1995, S. 137)), werden sie meist nicht als echte Morpheme betrachtet (Schippan bezeichnet sie als „leeres Morph“). Deshalb erhalten sie in unserer Morphem- und Kategorienschreibung nicht den Status einer Konstituente, sondern werden mit Komma an die Konstituente (meist 1. UK) angeschlossen, die sie gemäß ihrer Funktion mit einer anderen (meist 2. UK) verknüpfen. In der Kategorien- und Klammerschreibung wird der Terminus ‘Affix’ (Aff) immer auf Derivationsaffixe bezogen. Somit ist ‘Präfix’ (Präf) als Derivationspräfix, ‘Suffix’ (Suff) als Derivationssuffix zu verstehen. Die wortkategorieprägende Funktion 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung 67 Wort Stamm BM, FE Stamm Wurzel WBM BM Suff Stimme n gleich heit Abbildung 3.1: Morphemschreibung: Stimmengleichheit N N, FE N A Aff/ Suff gleich heit Stimme n Abbildung 3.2: Kategorienschreibung: Stimmengleichheit 68 3 Wortbildung der Suffixe wird nicht ausdrücklich expliziert (also nur ‘Aff/ Suff’). Das Flexionsmorphem erhält das Symbol F. • Wortbildungskonstruktionen (WBK) sind in der Regel binär strukturiert (sie besitzen 2 UK). Ausnahmen bilden Strukturen wie Tunichtgut, Vergissmeinnicht (3 UK) und Uni, FAZ (ohne UK-Struktur). Der morphologische Head (Kern, Kopf; zum morphologischen Head siehe auch 3.3.1.1.1) kann rechts oder links positioniert sein, sprachspezifisch gilt allerdings für das Deutsche als rechtsköpfiger Sprache die Wortstrukturregel X → YX. Sie drückt aus, dass die rechte UK den morphologischen Head bildet, der die kategorialen Eigenschaften des Gesamtwortes festlegt, (vgl. (7)). (7) haushoch: [ A [ N haus ] [ A hoch ]] Hochhaus: [ N [ A Hoch ] [ N haus ]] Auch hier stellen die Strukturen Tunichtgut, Vergissmeinnicht Ausnahmen dar (ausfühlicher siehe 3.2.3). An Beispielen sollen die Konstituentenstrukturen der einzelnen Wortbildungsarten im Verlauf des Kapitels exemplarisch dargestellt werden. Dabei werden alle drei Schreibungen einbezogen. 3.1.3 Zur Semantik von Wortbildungskonstruktionen Um die Bedeutung von WBK zu ermitteln, bedient man sich allgemein des Kompositionalitätsprinzips, nach dem Mathematiker und Logiker Gottlob Frege auch als Fregeprinzip bezeichnet. Es besagt, dass sich die Bedeutung einer WBK aus der Bedeutung ihrer Bestandteile und der Bedeutung der Relation zwischen den Bestandteilen ergibt. Ist dies der Fall, spricht man von morphosemantischer Motivation. Allerdings tendieren WBK als Benennungseinheiten, diachron gesehen, zu einer ganzheitlichen Semantik, die sich nicht mehr an den Bedeutungen ihrer Bestandteile orientiert (Prozess der Demotivierung, Idiomatisierung). Zwischen den Polen morphosemantischer Motivation einerseits und völliger Idiomatisierung andererseits gibt es Übergänge, die in der geläufigen Abstufung vollmotiviert, teilmotiviert, idiomatisiert deutlich werden. Während bei teilmotivierten WBK die Gesamtbedeutung noch mit den Bedeutungen der Bestandteile assoziiert, aber nicht mehr aus ihnen abgeleitet werden kann (vgl. Tischler = ‘jemand, der Tische herstellt’ gegenüber dem vollmotivierten Lehrer = ‘jemand, der lehrt’), ist der Bedeutungszusammenhang der Bestandteile bei idiomatisierten Bildungen überhaupt nicht mehr transparent (vgl. Buchhalter, Eigenbrötler). Häufig sind die Bestandteile auch formal nicht mehr interpretierbar (vgl. Brombeere, verlieren). Zur Umsetzung des Kompositionalitätsprinzips wird meist das Verfahren der Paraphrasierung angewendet, bei dem durch eine „semantisch mehr oder weniger 3.1 Arten und Modelle der deutschen Wortbildung 69 äquivalente Wortverbindung“ (Fleischer und Barz, 1995, S. 11) die Bedeutungsbeziehung innerhalb einer WBK erhellt werden kann, (z. B. (8)). (8) Schichtarbeit - ‘Arbeit in Schichten’, Schieferdach - ‘Dach, das mit Schieferplatten gedeckt ist’, breitschultrig - ‘breite Schultern habend’. Allerdings muss dieses Verfahren kritisch betrachtet werden (wie das bei Fleischer und Barz (1995) schon anklingt), da es ohne formalisiertes Instrumentarium zur Wiedergabe semantischer Zusammenhänge relativ vage bleibt. Mit den Mitteln der logischen Semantik lassen sich diese präziser erfassen, ohne auf eine Beschreibung durch Paraphrasen zu verzichten, vgl. Motsch (1999). Da hier eine vollständige semantische Beschreibung der WBK nicht angestrebt werden kann, sollen die Beispiele, deren Konstituentenstruktur dargestellt wird, auf der Grundlage von Motsch (1999) ergänzt werden durch 1. das ihnen zugrunde liegende allgemeinere semantische Muster für Wortbildungen, 2. ihre konkrete semantische Repräsentation und 3. deren Paraphrasierung. Drei WBK unterschiedlicher Kategorie und Wortbildungsart sollen dies demonstrieren: schlammig (9) a. [BESTANDTEIL VON (N)] (x) b. [BESTANDTEIL VON (SCHLAMM)] (x) c. ‘Schlamm als Bestandteil zu haben ist die Eigenschaft von x’ Glasplatte (10) a. [N & MATERIAL VON (N’, N)] (r) b. [PLATTE & MATERIAL VON (PLATTE, GLAS)] (r) c. ‘Referent ist eine Platte, die aus Glas hergestellt ist’ erklingen (11) a. [BEGINN (V(x,s))](x,s) b. [BEGINN (KLING (x,s))](x,s) c. ‘ein Aktant vollzieht die Anfangsphase des Geschehens ‘klingen’ ’ Erklärung der semantischen Beschreibung (nur soweit für die Analyse der Beispiele notwendig): 70 3 Wortbildung • Die Einträge der einzelnen WBK werden als Prädikat-Argument-Strukturen dargestellt. Es sind Strukturen, die aus dem ergänzungsbedürftigen semantischen Prädikat und seinen diese Ergänzungen liefernden Argumenten bestehen. Ihre semantische Repräsentation erfolgt in Großbuchstaben, die Paraphrasierung wird in einfache Anführungszeichen gesetzt. • N, V, A beziehen sich auf die Wortkategorien Nomen, Verb und Adjektiv und deren semantische Repräsentationen. • x bei Adjektiven repräsentiert die Argumentstelle für das Bezugswort (wobei relationale Adjektive mehr als eine Argumentstelle besitzen). x bei Verben repräsentiert die Argumentstelle für Aktanten. Aktanten sind die an einem Sachverhaltstyp beteiligten Argumentstellen, die durch semantische Rollen gekennzeichnet sind, z. B. ‘Agens’ ( x 1 ‘ein Aktant ist physisch oder geistig aktiv’), ‘Thema’ ( x 2 ‘ein Aktant entfaltet keine Eigenaktivität bzw. ist von der Aktivität des Agens betroffen’). s bei Verben repräsentiert die zu ihrer Argumentstruktur gehörige Referenzstelle für den Sachverhalt, auf den sich die semantische Repräsentation bezieht. r repräsentiert die Referenzstelle des Nomens 1 . • Bei polysemen WBK mit mehreren Lesarten wird stellvertretend eine Variante analysiert. Ansonsten werden relevant erscheinende Fragen der Bedeutung in den Text einbezogen, ohne auch hierbei Vollständigkeit anzustreben. 3.1.4 Zur Beschaffenheit der unmittelbaren Konstituenten in den Hauptwortbildungsarten Im Überblick sollen die Hauptarten der deutschen Wortbildung an Hand der Beschaffenheit ihrer unmittelbaren Konstituenten kurz charakterisiert werden, bevor jede Art einzeln vorgestellt wird. Dabei soll ‘freies Basismorphem’ bzw. ‘freie Morphemkonstruktion’ im strengen Sinne als alleiniger Repräsentant eines Wortes verstanden werden (vgl. Tor / Gartentor). Sobald zur Wortfähigkeit Wortbildungsmorpheme bzw. Flexionsmorpheme notwendig werden - wie z. B. grundsätzlich bei verbalen Basismorphemen - liegt bereits Gebundenheit vor, (vgl. les(bar) = gebundenes BM, vorles(en) = gebundene MK). • Komposition : Die UK stellen BM (frei/ gebunden) bzw. MK (frei/ gebunden) dar. 1 Ausführlich siehe Motsch (1999). 3.2 Komposition 71 [ BM/ MK freie/ gebundene UK]+[ BM/ MK freie UK]: [Wäsche] [leine], [Lehr][stoff ], [Erkältung]s[krankheit] • Derivation : Nur eine UK ist ein BM bzw. eine MK (frei/ gebunden). - Explizite Derivation : Die gebundene UK (WBM) ist phonetisch-phonologisch expliziert. ∗ Präfigierung [ Präf gebundene UK] + [ BM/ MK freie UK]: [ver] [trauen], [Un] [freiheit] ∗ Suffigierung [ BM/ MK freie/ gebundene UK] + [ Suff gebundene UK]: [freund] [lich], [gebräuch] [lich] ∗ Kombinatorische Derivation (Zirkumfixderivation): [ Praef gebund.UK] + [ BM/ MK freie/ gebund.UK] + [ Suff gebund.UK]: Zirkumfix [be] [tag] [t], [Ge] [wasch] [e] Zirkumfix Zirkumfix - Implizite Derivation : Die gebundene, rechte UK ist phonetisch-phonologisch nicht expliziert, das Wortbildungsmorphem ist ein Nullmorphem, ein Ø-Suffix. [freies Wort] → [ BM/ MK gebundene UK] + [leere UK] - FM: [schauen] → [ Schau ] [ Ø ], [abwaschen] → [Abwasch] [ Ø ] [ BM/ MK freie UK] + [leere UK] ( + FM ): [grün] → [Grün][Ø], [ Salz ] → [ salz ] [ Ø ] + ( en ) • Kurzwortbildung: Bei dieser Wortbildungsart spielt die UK-Struktur nur eine sehr eingeschränkte Rolle. Nur der Typ ‘Partielle Kurzwörter’ besitzt eine solche. [ MK freies Wort ] → [ gekürzte UK ] + [ BM/ MK freie UK ] : [ Untergrundbahn ] → [ U ] [ Bahn ], [ Schutzkontaktstecker ] → [ Schuko ] [ stecker ] 3.2 Komposition Die Komposition ist eine Wortbildungsart, bei der durch die Verbindung von mehreren, mindestens aber zwei Basismorphemen oder Stämmen ein neues Wort (Kompositum) entsteht (vgl. (12) und die Abbildungen 3.3 und 3.4 auf Seite 73). 72 3 Wortbildung (12) a. Bildung + Bedürfnis → Bildungsbedürfnis, b. neun + zehn → neunzehn Wort Stamm Stamm, FE Stamm Wurzel WBM Stamm WBM Präf BM BM Suff WBM Wurzel Suff Bild ung s be dürf nis Abbildung 3.3: Morphemschreibung: Bildungsbedürfnis Semantische Charakterisierung von Bildungsbedürfnis (13): (13) a. [N & BESCHRÄNKUNG VON (N’, N)] (r) b. [BEDÜRFNIS & BESCHRÄNKUNG VON (BILDUNG, BEDÜRFNIS)] (r) c. ‘Referent ist ein Bedürfnis, das sich auf Bildung bezieht’ Komposita sind in der Regel binär strukturiert (Ausnahmen siehe 3.2.2, 3.2.3), die 2. UK legt als morphologischer Head die kategorialen Merkmale des Gesamtwortes fest (Ausnahmen s. 3.2.3). Der Prototyp des Kompositums ist das substantivische Kompositum, das deshalb auch im Zentrum der Darstellung steht. Es ist darüber hinaus der Worttyp, der im Deutschen am verbreitetsten ist. Nach der semantischen Beziehung, die zwischen den UK von Komposita vorliegen kann, soll zwischen Determinativkomposita (DK) mit semantischhypotaktischer Relation und Kopulativkomposita (KK) mit semantisch-parataktischer Relation unterschieden werden. Da die Trennung in diese beiden Kompositionstypen primär semantisch bedingt ist, wird sie in neueren Ansätzen oft nicht mehr vollzogen und die Kopulativkomposita als ein Spezialfall von Determinativkomposita betrachtet (s. 3.2.2). 3.2 Komposition 73 FE N N V Aff/ Suff V Aff/ Suff Bild ung s be dürf nis Aff/ Präf V N, Klammerschreibung : [ N [ N [ V Bild][ Aff/ Suff ung]] FE s [ N [ V [ Aff/ Präf be][ V dürf ]][ Aff/ Suff nis]]] Abbildung 3.4: Kategorienschreibung: Bildungsbedürfnis 3.2.1 Determinativkomposita Sie repräsentieren die umfangreichste und produktivste Gruppe unter den Komposita. Durch weitere Kombination zweigliedriger Komposita kann man theoretisch zu unendlichen Gebilden gelangen, lediglich eingeschränkt durch unsere begrenzte mentale Speicherfähigkeit bzw. durch inhaltliche Grenzen der konkreten Bildungen. Eines der längsten lexikalisierten gegenwartssprachlichen Determinativkomposita ist Überseereichweitenfernsehrichtfunkverbindung. Die semantisch-hypotaktische Relation zwischen den beiden Kompositionsgliedern zeigt sich darin, dass die 1. UK (= Determinans) die 2. UK (= Determinatum) semantisch determiniert, d. h. in ihrem Geltungsbereich, ihrer Extension einschränkt: Der Geltungsbereich von Fenster ist in Kellerfenster auf eben diese Art reduziert und bezieht sich nicht auf irgendein Fenster, sondern nur auf eine Teilklasse. Diese Relation wird auch als Modifikator- Kopf-Relation bezeichnet. Bei substantivischen (nominalen) Determinativkomposita muss - entsprechend der Regel X → YX - die 2. UK ein Nomen sein. Dabei unterliegen NN-Komposita den geringsten Bildungsbeschränkungen. Beide Nomen können einfach, wiederum zusammengesetzt, aber auch abgeleitet sein (14): (14) Garten-zaun, Lehramts-studiengang, Schul-behörde, Schönheits-farm. 74 3 Wortbildung ANbzw. VN-Komposita unterliegen bezüglich der 1. UK stärkeren Restriktionen. Allgemein scheint zu gelten, dass ein Adjektivstamm und ein Verbstamm dann zugelassen ist, wenn er als solcher gut erkennbar ist und eine ‘einfache’ adjektivische bzw. verbale Bedeutung hat. Kann mit einem substantivischen Determinans dasselbe erreicht werden wie mit einem adjektivischen oder verbalen, so wird ihm in der Regel der Vorzug gegeben. (Eisenberg, 1998, S. 218) So sind z. B. affigierte Adjektive als 1. UK in der Regel nicht möglich (vgl. (15)). (15) a. Früh-beet, Rein-erlös, Fremd-bestimmung b. aber *Zeitig-schicht, *Reinlich-schrift, *Waschbar-stoff Unter formalem Aspekt werden Determinativkomposita dann als Zusammenbildungen bezeichnet, wenn zwischen den UK eine Wortgruppe-Wort-Relation besteht. Dabei muss die Wortgruppenkonstituente nicht alle Bestandteile der zugrunde liegenden Wortgruppe enthalten. Ihre Glieder können auch unflektiert in die erste UK eingehen. Häufig ist als Bestandteil der Wortgruppe ein Zahladjektiv (Numerale) beteiligt: (16) Dreiraumwohnung: ‘Wohnung aus drei Räumen bestehend’ ([ N [ WG [ ZA Drei ] [ N raum ]] [ N wohnung ]]), Rundtischgespräch, Lasthebemagnet, Viersternehotel, Sechstagerennen, Achtstundentag. In den genannten Beispielen ist die WG-Konstituente intern hypotaktisch organisiert (‘vier Sterne’, ‘runder Tisch’), sie kann aber auch parataktische Elemente enthalten: (17) Hell-Dunkel-Effekt (‘Effekt aus Hell und Dunkel’), Arzt-Patienten-Verhältnis ( ‘Verhältnis zwischen Arzt und Patienten’), Schwarz-Weiß-Aufnahme (‘Aufnahme nur bestehend aus Schwarz und Weiß mit Übergängen, ohne Farben’). In hypotaktisch organisierten WG-Konstituenten wird hier nur das Kernwort als Wurzel betrachtet, in parataktisch organisierten WG-Konstituenten sind alle Bestandteile potentiell Wurzeln, meist sind es zwei (siehe Beispiele und vgl. Abbildung 3.5 auf der nächsten Seite). Ist in den Strukturdarstellungen das Basismorphem mit einem Häkchen versehen, soll dies auf eine Vokaländerung im Zuge der Wortbildung hinweisen. Es enthält dann ein einsetzbares Morphem, meist ein Allomorph. Eine Zusammenbildung kann auch bei der expliziten Derivation/ Suffigierung vorliegen, die z. B. Erben (2000) als einzigen Zusammenbildungstyp anerkennt (Näheres unter 3.2.3). 3.2 Komposition 75 Wort Stamm WG Stamm Wurzel Wurzel Stamm WBM Part BM’ Schwarz − Weiß − Auf nahm e BM BM WBM Wurzel Suff Abbildung 3.5: Schwarz-Weiß-Aufnahme So genannte Konfixkomposita sind Determinativkomposita, wenn eine der beiden UK ein gebundenes Basismorphem fremder Herkunft (meist griechischen und lateinischen Ursprungs) darstellt, z. B. Biogas, Photothek. Auch Konfixkomposita mit zwei gebundenen fremden Basismorphemen als UK kommen vor: Astro/ nom, Mono/ log. 3.2.1.1 Endozentrische vs. exozentrische Determinativkomposita Wenn die 2. UK nicht nur morphologischer, sondern auch semantischer Head ist (auch als semantischer Kern bezeichnet), spricht man von endozentrischen Determinativkomposita. Bei allen bisherigen Beispielen ist dies der Fall. Ein solches endozentrisches Determinativkompositum kann semantisch erweitert werden, um ein Lebewesen oder Objekt zu benennen, das die im Wort bezeichnete Eigenschaft besitzt oder dem metaphorisch eine solche Eigenschaft zugeschrieben wird (vgl. Olsen (1990a, S. 143)). Es entsteht dann eine exozentrische Lesart: Das, was bezeichnet werden soll, wird durch das Kompositum selbst nicht erfasst. Löwenmaul kann sich als endozentrisches Determinativkompositum auf das Maul eines Löwen beziehen; als exozentrisches Determinativkompositum oder Possessivkompositum benennt es eine Blume, deren Blütenform vergleichbar mit dem Körperteil dieses Tieres ist. Der Terminus ‘Possessivkompositum’ verweist darauf, dass jeweils ein besitzendes Merkmal (z.T. als Metapher) ausschlaggebend für die Benennung ist. Possessivkomposita liegt eine pars-pro-toto-Relation (ein Teil steht für das Ganze) zugrunde (18): 76 3 Wortbildung (18) a. Rotkäppchen = Märchengestalt der Gebrüder Grimm mit rotem Käppchen, b. Blauhelme = UNO-Soldaten, erkennbar an ihren blauen Schutzhelmen, c. Grünrock = Förster in seiner grünen Uniform, d. Pfauenauge = Schmetterling mit markanter Flügelzeichnung, vergleichbar mit dem Auge eines Pfauen. Possessivkomposita sind immer Nomen. Da sie der Wortstrukturregel X → YX folgen und die interne semantische Relation zwischen den UK eine Modifikator-Kopf- Relation ist, werden sie nicht als selbstständiger Kompositionstyp betrachtet, sondern als Sondergruppe von Determinativkomposita behandelt. Daneben gibt es auch exozentrische Determinativkomposita, bei denen die parspro-toto-Relation nicht gegeben ist und die deshalb nicht zu den eigentlichen Possessivkomposita zählen. Als Metaphern verbalisieren sie bereits ein Ganzes (19): (19) a. Angsthase = ängstlicher Mensch, b. Himmelschlüsselchen = Blume, c. Schluckspecht = jemand, der viel trinkt. Ein Objekt als Ganzes (vgl. Tier ...hase, ...specht) steht hier metaphorisch für ein anderes Objekt als Ganzes (Mensch), während bei den echten Possessivkomposita z. B. ein Kleidungsutensil als Teil (...käppchen, ...helme, ...rock) zur Bezeichnung für ein Objekt als Ganzes (Mensch) herangezogen wird. 3.2.1.2 Rektionskomposita vs. Nichtrektionskomposita Die semantische Relation zwischen den UK von Determinativkomposita kann sehr vielfältig sein. In den meisten Fällen ist sie nicht festgelegt, sondern muss vom Sprachträger aufgrund seines Weltbzw. Sprachwissens erst erschlossen werden. So wird man einen Weinkeller als ‘Keller, in dem Wein aufbewahrt wird’ verstehen, Physikstunde als ‘Unterrichtsstunde im Fach Physik’ interpretieren und Holzschuppen entweder als ‘Schuppen, der aus Holz besteht’ oder als ‘Schuppen, in dem Holz gelagert wird’ auffassen. Grammatisch vorhersagbar ist die semantische Relation bei den so genannten Rektionskomposita aufgrund einer Argument-Prädikat-Relation zwischen den UK: Bei dem Kompositum Postzusteller z. B. ist die Head-Konstituente ein Derivat des Verbs zustellen. Dieses besitzt aufgrund seiner Rektionseigenschaft eine Argumentstruktur, die ein Agens (‘jemand’), einen Adressaten (‘jemandem’) und ein Thema (‘etwas’) als Argumente enthält. Im Zuge der Derivation von V zu N kann diese Argumentstruktur an das komplexe Nomen vererbt werden (wobei in Wortstrukturen aufgrund ihrer Binarität in der Regel nur ein Argument realisierbar ist). Das Erstglied Post wird 3.2 Komposition 77 somit als Argument des deverbalen Heads Zusteller verstanden, vgl. Olsen (1986b, S. 66ff.). Weitere Beispiele für Rektionskomposita sind (20): (20) a. Autofahrer (‘ein Auto fahren’), b. Mathematiklehrer (‘Mathematik lehren’), c. Stromverbrauch (‘Strom verbrauchen’), d. Grippevorbeugung (‘der Grippe vorbeugen’), e. Messeteilnahme (‘an der Messe teilnehmen’), f. Amtsenthebung (‘des Amtes entheben’), g. Englisch-Deutsch-Übersetzung (‘vom Englischen ins Deutsche übersetzen’), h. Mutter-Kind-Betreuung (‘die Mutter betreut das Kind’; aber auch: ‘Mutter und Kind betreuen’). In den Beispielen g und h wird durch Determinativkomposita mit Wortgruppenkonstituente die Möglichkeit genutzt, mehr als jeweils nur ein Argument in die Wortstruktur einzubringen. Allerdings ist auch die Rektionslesart nicht immer zwingend und somit die grammatische Vorhersagbarkeit der semantischen Relation zwischen den UK nicht garantiert. Ein Bürovermieter kann zwar Büros vermieten. Dieses Wort kann aber genauso gut jemanden bezeichnen, der Häuser und Wohnungen von seinem Büro aus vermietet. Gleiches gilt für Schmuckräuber, das einen Räuber von Schmuck bezeichnen kann, oder aber einen Räuber, der unter einer dicken Schmucktarnung Sparkassen ausraubt. (Olsen, 1990b, S. 145) Besetzt die 1. UK kein Argument innerhalb der Argumentstruktur der Head-Konstituente wie in der sekundären Interpretation von Bürovermieter und Schmuckräuber, liegt auch kein Rektionskompositum, sondern ein Nichtrektionskompositum vor. Nur als solche zu interpretieren sind Unfallfahrer, Hochschullehrer, Sofortverbrauch. Zu ihnen werden auch die Bildungen Weinkeller, Physikstunde, Holzschuppen gezählt, deren 2. UK gar keine Argumentstruktur besitzt. Mitunter können Rektionskomposita auch in ihrer Rektionslesart ambig sein. In Senatsvorlage kann die 1. UK als „Agens-Argument“ (‘der Senat legt x vor’) oder „Adressaten-Argument“ (‘dem Senat x vorlegen’) verstanden werden, in Personalausstattung kann ebenfalls zwischen zwei Argumenten gewählt werden (‘mit Personal ausstatten’ neben ‘das Personal ausstatten’). Die Rektionslesart ist nicht nur bei deverbaler 2. UK nominaler Determinativkomposita gegeben (wenn die Argumentstruktur bei Verben auch am ausgeprägtesten ist), sondern auch einige andere Wortkategorien können eine Argumentstruktur besitzen 78 3 Wortbildung und bei Belegung der 2. UK Rektionskomposita bilden, vgl. einbruchsicher - ‘sicher vor Einbruch’, keimfrei - ‘frei von Keimen’. 3.2.2 Kopulativkomposita Kopulativkomposita unterscheiden sich von Determinativkomposita durch die semantisch-parataktische Relation zwischen ihren UK. Damit diese semantische Gleichrangigkeit beider UK hergestellt werden kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: • Die UK müssen der gleichen Wortkategorie angehören. • Die UK müssen die gleiche Bezeichnungsklasse vertreten, sich auf derselben Stufe innerhalb der Begriffshierarchie befinden. Lang (1977, S. 259) spricht auf der semantischen Ebene von einer gemeinsamen Einordnungsinstanz der Konjunktbedeutungen (GEI). Diese besteht „aus den gemeinsamen Fundierungsmerkmalen und zwei Spezifizierungshierarchien, in der die Komponenten des Kompositums, wenn es koordinativ sein soll, dieselbe Platznummer haben müssen“. So ist das gemeinsame Fundierungsmerkmal für Dichterkomponist CREA- TOR, die beiden Spezifizierungsmerkmale (auf derselben Ebene) „musikalisch“ und „literarisch“. Weitere ideale Vertreter sind z. B. (21): (21) taubstumm (Fundierungsmerkmal ORGANISCHE UNFÄHIGKEIT, Spezifizierungsmerkmale „decodieren“ / „encodieren“), Fürstbischof (Fundierungsmerkmal ADMINISTRATOR, Spezifizierungsmerkmale„weltlich“ / „kirchlich“), (bisherige Beispiele nach Lang, ebenda) Hassliebe (Fundierungsmerkmal EMOTION, Spezifizierungsmerkmale „extrem negativ“ / „extrem positiv“). Für taubstumm vgl. die Abbildungen 3.6 und 3.7 auf der nächsten Seite und (22), (23). 3.2 Komposition 79 Wort Stamm Wurzel Wurzel BM BM taub stumm Abbildung 3.6: Morphemschreibung: taubstumm Aufgrund der parataktischen Beziehung zwischen den UK eines Kopulativkompositums werden hier beide Basismorpheme als Wurzeln bezeichnet. A A A taub stumm Abbildung 3.7: Kategorienschreibung: taubstumm (22) [ A [ A taub][ A stumm]] Semantische Charakterisierung von taubstumm (23): (23) a. [UND (A 1 , A 2 )](x) b. [UND (TAUB, STUMM)](x) c. ‘taub und stumm sind Eigenschaften von x’ Das logisch-semantische UND als Anzeiger der parataktischen Relation zwischen den UK wird bei vielen Zahlen-Komposita wie einundzwanzig, vierundsechzig, neunundneunzig sprachlich expliziert. Über die Enge der Interpretation als Kopulativkompositum gibt es unterschiedliche Auffassungen in der Wortbildungsforschung - bis hin zur Negation dieser Bildungen als eigener Kompositionstyp. So zählen z. B. Breindl und Thurmaier (1992, 80 3 Wortbildung S. 36-37) zu den nominalen Kopulativkomposita auch Komposita, deren UK nicht unbedingt auf derselben Spezifikationsebene liegen (Gastdozent, Prinzgemahl, Schülerlotse, Waisenknabe) und solche, bei denen die 2. UK Hyperonym gegenüber der 1. UK ist (Jeanshose, Eichbaum, Rindvieh). U. E. müssen die von Lang angegebenen Merkmale der GEI für die UK streng eingehalten werden, damit man von Kopulativkomposita sprechen kann. Bei ihnen wird der Geltungsbereich des Bezeichneten erst durch die Koordination der UK abgesteckt, vgl. Motsch (1999, S. 373-374): So ist Dichterkomponist ‘eine Person, die sowohl Dichter als auch Komponist ist’, Strichpunkt ‘ein Satzzeichen, das als Bestandteile sowohl Punkt als auch Strich besitzt’ und bittersüß ‘eine Geschmacksrichtung, die sowohl eine bittere als auch süße Note hat’. Bei Gastdozent, Prinzgemahl... und Jeanshose, Eichbaum... wird der Geltungsbereich des Zweitgliedes durch die Eigenschaften des Erstgliedes eingeschränkt. Es liegt eine Modifikator-Kopf-Relation der 1. UK gegenüber der 2. UK vor. Altmann und Kemmerling (2000, S. 32) möchten sich auf das semantische Kriterium zur Unterscheidung von Determinativ- und Kopulativkomposita nicht verlassen und ziehen dafür Formmerkmale heran: „Liegt der Akzent auf dem Erstelement und ist ein Fugenelement vorhanden, präferieren wir in jedem Fall eine Klassifikation als Determinativkompositum“, bei kopulativer Interpretation dagegen muss der Hauptakzent auf der rechten UK liegen (vgl. (24)): (24) a. Kosmo’nautenarzt (mit FE en) tendiert eher zu ‘ein Arzt, der speziell Kosmonauten betreut’ → DK b. Arztkosmo’naut / verdeutlichend auch Arzt-Kosmo’naut ‘eine Person, die Arzt und Kosmonaut ist’ → KK c. ‘rotbraun ‘ein zu Rot tendierendes Braun’ → DK d. rot’braun / verdeutlichend auch rot-‘braun ‘rot und braun (gestreift)’ → KK. Kopulativ zu interpretierende Farbadjektive bezeichnen immer farblich abgrenzbare Teile von Objekten (schwarz-weiß, rot-weiß, rot-grün), während determinativ zu interpretierende Farbadjektive immer eine Farbmischung bzw. Farbabstufung bezeichnen müssen (blaugrün ‘bläuliches Grün’, dunkelrot ‘dunkles Rot’, hellblau ‘helles Blau’). Morphologischer Head der Kopulativkomposita ist die rechte UK. Da für diese Komposita kategoriale Gleichheit der UK verlangt ist, wird die Festlegung der Wortkategorie durch die rechte UK nicht vordergründig. Allerdings prägt sie auch die grammatischen Merkmale des Gesamtwortes. Das wird an der Genuszuweisung substantivischer Bildungen deutlich: 1. UK (der) Hass + 2. UK (die) Liebe → die Hassliebe In Bezug auf die Position des morphologischen Heads als strukturelles Merkmal verhalten sich Kopulativ- und Determinativkomposita gleich. Das ist ein Grund dafür, 3.2 Komposition 81 dass in neueren Wortbildungsbeiträgen die Grenze zwischen beiden Kompositionstypen oft nicht mehr so streng gesehen wird und Kopulativkomposita aufgrund der oft schwierigen Entscheidung bezüglich des Vorliegens einer echten parataktischen Relation zwischen den UK als ein Spezialfall von Determinativkomposita behandelt werden, vgl. Eisenberg (1998), Breindl und Thurmaier (1992). Diese Bedenken teilen wir bezüglich der nominalen Kopulativkomposita. Selbst wenn Langs strenge semantische Bedingungen zutreffen, bleibt die Möglichkeit, die 1. UK auch als Modifikator zu sehen (vgl. (25)). (25) a. Dichterkomponist → ‘Komponist, der auch Dichter ist,’ b. Strichpunkt → ‘Punkt, der mit einem Strich kombiniert ist’, c. Hassliebe → ‘Liebe, die mit Hass verbunden ist’. Bei den Nomen wirkt die 2. UK als morphologischer Head so stark, dass sie auch in Richtung semantischer Head verstanden werden kann und sogar hyperonymisch als koreferenter Ausdruck für das Kompositum gebraucht werden kann, vgl. „Sie kaufte sich einen Hosenrock. Dieser bequeme Rock war nicht einmal teuer.” (Römer (2000, S. 44)). Bei adjektivischen Kopulativkomposita, die die genannten semantischen Bedingungen erfüllen, ist der Versuch einer determinativen Interpretation ausgeschlossen. Deshalb wird in diesem Abriss zur Wortbildung zwar das Kopulativkompositum als eigenständiger Typ betrachtet, allerdings in erster Linie bezogen auf adjektivische Komposita. Da zwischen den UK von Kopulativkomposita semantische Gleichrangigkeit besteht, ist ihre Reihenfolge prinzipiell vertauschbar (süßsauer vs. sauersüß). Bei Zahlen-Komposita und in lexikalisierten Bildungen ist sie jedoch festgelegt (dreizehn, taubstumm). Manchmal kann die Reihenfolge der UK durch außersprachliche Konvention bestimmt sein: die schwarz-rot-goldene Fahne. Hier haben wir zudem eines der wenigen Beispiele, in denen die binäre Struktur durchbrochen wird und drei koordinativ verknüpfte UK vorliegen. Problematisch ist die Beschreibung von WBK mit der Struktur 1. UK: A/ N/ V + 2. UK: V. Traditionell werden sie als Verbkomposita eingeordnet, ungeachtet der Tatsache, dass bei einem großen Teil die beiden UK - untypisch für Komposita - morphologisch und syntaktisch trennbar sind, (vgl. (26)) (26) stilllegen aber stillgelegt (statt *gestilllegt) und man legte das Bergwerk still (statt *man stilllegte das Bergwerk). Wir schließen uns entsprechenden Argumenten von Eisenberg (1998), Motsch (1999) und Altmann und Kemmerling (2000) an und betrachten solche Konstruktionen nicht als Komposita. Sie werden unter Partikelverbbildung als besondere Erscheinung in- 82 3 Wortbildung nerhalb der expliziten Derivation behandelt (s. 3.3.1.1.2). Eine Reihe von ihnen wird nach der Orthografiereform nicht mehr als ein Wort betrachtet, (vgl. (27)) (27) blank bohnern, fertig bringen, hoch achten, kennen lernen, sitzen bleiben. Einige wenige Fälle von V+V-Bildungen müssen jedoch dem Typ Kopulativkompositum zugeordnet werden (die 1. UK erscheint ohne Infinitiv -en). Sie werden besonders im Fachwortschatz verwendet bzw. treten in der Belletristik okkasionell auf. Zwischen ihren beiden UK besteht eine semantisch-parataktische Relation: drehbohren - ‘drehen und bohren’, fluchbeten - ‘fluchen und beten’. 3.2.3 Zusammenrückungen Zusammenrückungen werden hier als besonderer Typ von Komposita beschrieben, weil ihre UK ebenfalls Basismorpheme sind und im Gegensatz zu oben beschriebenen verbalen „Pseudokomposita“ in keiner Verwendungsweise trennbar sind. Allerdings weichen sie in einigen Merkmalen deutlich von anderen Komposita ab: • Auch bei Zusammenrückungen liegt wie bei possessivischen Determinativkomposita primär eine exozentrische semantische Relation vor, vgl. Vaterunser (‘Gebet mit Namen . . . ’), Gernegroß (‘Person mit Eigenschaft, gern groß sein, d.h. im Mittelpunkt stehen zu wollen’). • Zusammenrückungen folgen nicht der Strukturregel X → YX, da ihre rechte UK nicht den morphologischen Head der Bildung darstellt und somit keinen Einfluss auf die Kategorie des Gesamtwortes hat, vgl. N Taugenichts (aber 2. UK: Pronomen), N Nimmersatt (aber 2. UK: Adjektiv). Dadurch unterscheiden sie sich eindeutig von Possessivkomposita. Dass manche substantivische Zusammenrückungen als rechte UK ebenfalls Nomen besitzen (Wagehals, Fürchtegott), beeinflusst die Kategorisierung nicht, da sie in ihrem exozentrischen Bezug auf Personen bereits nominal geprägt sind. Auch die Genusvergabe erfolgt nicht über die 2. UK. Olsen (1990b, S. 145) vermutet, dass das Genus über eine Defaultregel zu erklären ist und sich nach dem Bezeichneten richtet: bei Bezug auf Menschen sei es maskulin, bei Bezug auf Objekte (im weiteren Sinne) sei es neutral. Dem beugen sich allerdings solche Zusammenrückungen wie der Rollfix (‘kleiner Handwagen’) und der Kehraus (‘letzter Tanz eines Festes’, ‘Schluss einer Veranstaltung’) nicht. • Zusammenrückungen sind häufig nicht binär strukturiert, sondern können aus drei und mehr UK bestehen, vgl. Vergissmeinnicht, Tunichtgut. Diese Komposita gehen auf Syntagmen zurück, meist imperativische Sätze (Rührmichnichtan, Stelldichein) und Wortgruppen, die unter Beibehaltung ihrer konkreten grammatischen Ausprägung einfach „zusammengerückt“ wurden. 3.3 Derivation 83 Als Zusammenrückungen betrachtet Erben (2000, S. 34) auch Wörter wie Sauregurkenzeit, bei denen eine syntaktische Gruppe zur 1. UK wird. U. E. haben wir es hier nicht mit einem exozentrischen Kompositum zu tun, sondern mit einem endozentrischen Determinativkompositum (metaphorisch für ‘entbehrungsreiche Zeit’), dessen 2. UK als Determinatum auch morphologischer Head ist (siehe auch 3.2.1). 3.3 Derivation Die Derivation ist eine Wortbildungsart, bei der grundsätzlich Wortbildungsmorpheme (Derivationsaffixe) als gebundene Morpheme zur Bildung neuer Wörter (Derivate) herangezogen werden. Diese können phonetisch-phonologisch realisiert bzw. nicht realisiert sein. Derivate sind ebenfalls binär strukturiert - eine UK ist als Wortbildungsmorphem gebunden, die zweite repräsentiert ein Basismorphem / eine Morphemkonstruktion. 3.3.1 Explizite Derivation Bei der expliziten Derivation erfolgt die Bildung neuer Wörter mit phonetisch-phonologisch realisierten Derivationsaffixen. Diese können Präfixe, Suffixe oder Zirkumfixe (Kombination von Präfix/ Suffix) sein. Ein Sonderfall bezüglich der phonetisch-phonologischen Affixrealisierung kann die kombinatorische Derivation darstellen, wenn das Suffix als Teil des Zirkumfixes ein Nullmorphem ist. Das Präfix jedoch muss dabei immer realisiert sein (vgl. 3.3.1.3). Die Positionen der gebundenen, nicht basisfähigen UK gegenüber BM/ MK bestimmen die Subklassen der expliziten Derivation: Präfigierung, Suffigierung, kombinatorische Derivation (Zirkumfixderivation). 3.3.1.1 Präfigierung Bei der Subklasse ‘Präfigierung’ ist die 1. UK gebunden und wird durch ein Wortbildungsmorphem/ Präfix realisiert, während die 2. UK prinzipiell frei ist, d.h. Wortcharakter haben muss: vgl. unfreundlich: 1. UK Präfix un- / 2. UK Wort freundlich → explizite Derivation / Präfigierung, aber Beleg: legohne Wortstatus → implizite Derivation (s. 3.3.2.1). Dabei kann die 2. UK ein freies BM (a) oder eine freie MK (b) sein (vgl. 3.8 und 3.9 auf der nächsten Seite). 84 3 Wortbildung Wort Stamm WBM Wurzel N Aff/ Präf N Un glück Präf BM Un glück [ N [ Aff/ Präf Un][ N glück]] Abbildung 3.8: (a) Unglück Semantische Charakterisierung von Unglück (28): (28) a. [NON (N)] (r) b. [NON (GLÜCK)] (r) c. ‘Referent ist konträrer Gegenstand zu ‘Glück’ ’ Wort Stamm WBM Wurzel Suff Präf BM’ Präf Stamm WBM V Aff/ Suff WBM Stamm Aff/ Präf N N Aff/ Präf V’ Miss ver hält nis Miss ver hält nis [ N [ Aff/ Präf Miss][ N [ V [ Aff/ Präf ver] [ V’ hält]] [ Aff/ Suff nis]]] Abbildung 3.9: (b) Missverhältnis Semantische Charakterisierung von Missverhältnis (29): (29) a. [N & (NON (NORMAL)) (N)] (r) b. [VERHÄLTNIS & (NON (NORMAL)) (VERHÄLTNIS)] (r) c. ‘Referent hat die Eigenschaften von ‘Verhältnis’, ist aber kein normales Verhältnis’ 3.3 Derivation 85 3.3.1.1.1 Morphologischer Head und Präfix Wenn davon ausgegangen wird, dass der morphologische Head einer binären Wortstruktur die am weitesten rechts stehende Konstituente ist, die eine Wortkategorie trägt (vgl. Olsen (1990b)), so stellt im Deutschen das linkspositionierte Präfix keinen Kandidaten für den Head dar. Da hier die Funktion des morphologischen Heads wie bei Schultink (1988) und Schmidt (1996) streng darauf bezogen wird, die Kategorie des abgeleiteten Wortes zu bestimmen, scheidet das Präfix als nicht kategorieprägend für diese Funktion aus, (vgl. (30)): (30) [ A [ Aff/ Präf un ] [ A treu ]], [ N [ Aff/ Präf Un ] [ N treue]]; [ N [ Aff/ Präf Miss ] [ N ernte ]], [ V [ Aff/ Präf miss ] [ V trauen ]]. Dies schätzt auch Eisenberg (1998, S. 237) für Nominalpräfixe so ein. Sie wirken bezüglich des Basisadjektivs bzw. -substantivs nur modifizierend, z. B. im Sinne einer Graduierung (erzkonservativ, urgemütlich) bzw. Negation (unproduktiv). Verbpräfixe jedoch betrachtet Eisenberg als Köpfe des Gesamtwortes, da Merkmale wie Festlegung von Argumentstruktur und Theta-Rollen für ihn zu den Kopfmerkmalen zählen. U. E. bringen Präfixe wie be-, ent-, er-, ver- und zerkeine Verben hervor, sondern sie verbinden sich lediglich mit ihnen (vgl. auch Abraham (1995)). Deshalb sollen Morphemkonstruktionen wie beschriften, entfremden, erblinden, versilbern, zermürben, zu denen es keine Simplexverben gibt (vgl. *schriften, *fremden, *blinden, *silbern, *mürben), auch nicht dem Wortbildungstyp Präfigierung zugeordnet werden, sondern zur kombinatorischen Derivation gerechnet werden (ausführlicher unter 3.3.1.3.2). Dass neben kategorialen Merkmalen auch distributionelle und semantische Merkmale auf das komplexe Wort übergehen, wird nicht bestritten. Nur sind es eben keine Merkmale des morphologischen Heads (vgl. die semantisch modifizierende Funktion der linken UK bei Determinativkomposita). Gerade bei der Präfigierung sind die semantischen Merkmale, die vom Nicht-Head Präfix geliefert werden, für die Gesamtbedeutung besonders relevant. So ist dieser Wortbildungstyp ein wichtiges Mittel zur Aktionsartdifferenzierung bei Verben, (vgl. z. B. (31)): (31) a. [er] [blühen], [ent] [brennen] ingressiv (Beginn, Ansatz eines Prozesses), b. [ver] [blühen], [zer] [stören] perfektiv (Verlauf und Ende eines Prozesses). Eine wesentliche semantisch-syntaktische Modifizierungsleistung haben Präfixe, die Transitivierung bewirken können, (vgl. (32). Diese geht mit Argumentveränderung einher (32 a,b), sie kann aber auch mit Argumentstellenerweiterung verbunden sein (32 c)): (32) a. auf den Berg steigen → den Berg ersteigen, b. in dem Haus wohnen → das Haus bewohnen, c. schlafen → (den Termin) verschlafen. 86 3 Wortbildung Bezüglich der Präfixleistung aufschlussreich ist ein Rückblick auf das Frühneuhochdeutsche: Das Präfixverb übernahm häufig eine (meist seltenere) Verwendungsweise des entsprechenden polysemen Simplexverbs. In der Folge verlor dieses die vom Präfixverb übernommene Bedeutungsvariante, so dass das Präfix synchron als Träger der (ursprünglich dem Simplexverb eigenen) semantisch-syntaktischen Modifizierung erscheint. So wird beweinen seit dem 15. Jh. generell transitiv gebraucht. Mit seiner Etablierung verschwand die transitive Verwendung von weinen. 3.3.1.1.2 Präfixverben vs. Partikelverben Es gibt eine Reihe von Präfixen, die nur Verben selegieren (s.o.). Die synchron wichtigsten sind be-, ent-, er-, ver- und zer-. Diese Verbpräfixe weisen folgende Merkmale auf: • Sie sind gebundene Morpheme und besitzen keine freien Entsprechungen. • Sie sind generell unbetont (vereinzelte Ausnahmen beim Folgen wenigstens einer unbetonten Silbe: ‘missverstehen vs. miss‘trauen). • Sie sind weder morphologisch noch syntaktisch trennbar. Ihre morphologische Nichttrennbarkeit zeigt sich z. B. darin, dass sie bei der Bildung des Partizips Perfekt direkt mit dem verbalen Basismorphem verbunden sind, vgl. misstraut, entwurzelt, bestiegen vs. an / ge / kommen, auf / ge / holt, mit / ge / bracht. Geht das entsprechende finite Verb eine syntaktische Zweitstellung ein, so bleibt das Präfix ebenfalls untrennbar mit dem Verb verschmolzen, (vgl. (33)): (33) Wir bestiegen den Gipfel gegen Mittag. vs. Wir kamen gegen Mittag auf dem Gipfel an. Daneben gibt es präfixähnliche Morpheme wie über-, unter-, hinter-, voll-, wider-, die sich von echten Präfixen nur dadurch unterscheiden, dass ihnen freie Morpheme entsprechen. In allen anderen Merkmalen stimmen sie mit Präfixen überein. Sie sollen in Anlehnung an Altmann und Kemmerling (2000) als Partikelpräfixe bezeichnet werden. Den Wortbildungstyp betreffend sind Partikelpräfixverben wie überfordern, unterzeichnen, hinterfragen, vollstrecken und widerrufen eindeutig Präfigierungen. Als Partikel werden in Kombinationen mit Verben, den so genannten Partikelverben 2 , Morpheme bezeichnet, die in ihren Merkmalen deutlich von Präfixen und Partikelpräfixen abweichen: 2 Es gibt in jüngster Zeit eine Reihe von Publikationen zur Problematik der Partikelverben, vgl. beispielsweise Müller (2003b). 3.3 Derivation 87 • Sie besitzen freie Entsprechungen. • Sie werden generell betont. • Sie sind sowohl morphologisch als auch syntaktisch trennbar. Morphologisch sind sie z. B. in Formen des Partizips Perfekt durch das Flexiv gevom verbalen Basismorphem getrennt, vgl. abgesagt, angefahren, aufgestellt, zugebunden. Bei syntaktischer Zweitstellung des finiten Verbs nimmt die Partikel eine gegenüber dem Verb gesonderte Position ein (siehe oben). Partikelverben sind sehr produktiv. Die Partikelkonstituente findet Entsprechungen in unterschiedlichen Wortkategorien, z. B. (34) (34) a. in Präpositionen: abnehmen, anreisen, aufladen, zuschneiden, b. in Adverbien: zusammenbrechen, fortsetzen, zurückweisen, c. in Adjektiven: festnageln, stilllegen, totlachen, d. in Substantiven: preisgeben, wundernehmen, heimgehen. Auch Partikelpräfixe unterschiedlicher Kategorie können der Partikelkonstituente entsprechen, was folgende Verben verdeutlichen sollen (35): (35) a. ‘umfahren (Partikelverb) - um‘fahren (Partikelpräfixverb), b. ‘wiederholen (Partikelverb) - wieder‘holen (Partikelpräfixverb), c. ‘übersetzen (Partikelverb) - über‘setzen (Partikelpräfixverb). Partikel tragen ebenfalls zur semantischen Modifizierung der Verben bei (z. B. Umwandlung von Durativa in Ingressiva: schlafen - einschlafen, fahren - losfahren; Richtungsänderung bei Bewegungsverben: setzen - umsetzen); Transitivierung ist relativ selten. Bei den so genannten Doppelpartikelverben befinden sich zwei Partikel vor dem Simplexverb. Nach ihrer Wortbildung unterscheidet man zwei Gruppen (vgl. auch (Altmann und Kemmerling, 2000, S. 88f)). Bei der ersten Gruppe erfolgt die Wortbildung in einem Schritt (Doppelpartikel + Verb), vgl. gegenübersitzen (*übersitzen), vorauseilen (*auseilen), bei der zweiten Gruppe erfolgt die Wortbildung in zwei Schritten (Partikel + (Partikel + Verb)), vgl. mitansehen (ansehen), einhergehen (hergehen). Auch die Kombination von Partikel und Präfix ist anzutreffen. Allerdings treten beide nicht gleichzeitig (in einem Wortbildungsschritt) vor das Verb, sondern stets bildet ein bereits sprachübliches Präfixverb die Basis, vgl. anerziehen (erziehen), aberkennen (erkennen), umverteilen (verteilen). Besonders bei obigen Verben mit Adjektiven und Substantiven als 1. UK bestehen in der Literatur Unsicherheiten bezüglich des Wortbildungstyps. So sind sie bei Fleischer und Barz (1995) unter den Komposita angeführt. Gegen eine solche Einordnung spricht jedoch das Partikelmerkmal ‘morphologische und syntaktische Trennbarkeit’, 88 3 Wortbildung über das Komposita (wie allerdings auch die Resultate der anderen traditionellen Wortbildungstypen) grundsätzlich nicht verfügen, aber: totlachen - totgelacht - er lachte sich tot; preisgeben - preisgegeben - man gab das Geheimnis preis. Hier soll die Bildung von Partikelverben als ein relativ eigenständiger Typ innerhalb der expliziten Derivation neben die Präfigierung gestellt werden. Ein wesentliches Argument, die Partikel mit in den Derivationsprozess einzubeziehen und sie wie Wortbildungsmorpheme zu behandeln, liefert die Tatsache, dass z. B. Partikel, die mit Präpositionen korrespondieren, genauso wie Präfixe eine Aktionsgemeinschaft mit Suffixen (phonetisch-phonologisch teils realisiert, häufig nicht realisiert) eingehen können und dann als Zirkumfixe wirken, vgl. aushändigen, ausnüchtern (s. auch 3.3.1.3.1, 3.3.1.3.2). Solch eine Aktionsgemeinschaft kann nur von Morphemen der gleichen Klasse aufgebaut werden. Somit kann eine Basismorphem-Suffix- Kombination nicht als Zirkumfix wortbildend sein. Die Partikelverben verdeutlichen in besonderer Weise, wie Elemente einer natürlichen, sich fortwährend weiterentwickelnden Sprache in Übergangsbereichen agieren: Die Wortbildung betreffend stehen sie letztlich im Übergangsbereich von Komposition und Derivation, in ihrem grammatischen Wirken stehen sie im Übergangsbereich von Morphologie und Syntax. 3.3.1.2 Suffigierung Bei dieser Subklasse der expliziten Derivation besteht die 1. UK (a) aus einem BM (frei/ gebunden), (b) aus einer MK (frei/ gebunden) oder (c) aus einer Wortgruppe - die 2., gebundene UK repräsentiert das Suffix (vgl. die Abbildung 3.10, 3.11 und 3.12 auf Seite 90). Wort Wurzel WBM BM Suff V Aff/ Suff Druck erei Druck erei Stamm N [ N [ V Druck] [ Aff/ Suff erei]] Abbildung 3.10: (a) Druckerei 3.3 Derivation 89 Semantische Charakterisierung von Druckerei (36): (36) a. [INST & ZWECK (V (AGENS, THEMA))] (r) b. [INST & ZWECK (DRUCK (AGENS, THEMA))](r) c. ‘Referent ist eine Institution, deren Zweck es ist, die Tätigkeit ‘drucken’ auszuüben’ Stamm BM Wort N Stamm WBM N Aff/ Suff BM Wurzel Suff N N Welt rekord ler Welt rekord ler [ N [ N [ N Welt ] [ N rekord ]] [ Aff/ Suff ler ]] Abbildung 3.11: (b) Weltrekordler Semantische Charakterisierung von Weltrekordler (37): (37) a. [PERSON & HABEN (PERSON, N)] (r) b. [PERSON & HABEN (PERSON, WELTREKORD)] (r) c. ‘Referent ist eine Person, die über einen Weltrekord verfügt’ 90 3 Wortbildung Stamm Wortgruppe WBM NP Aff/ Suff Wort A BM Wurzel Suff A N lang haar ig lang haar ig BM [ A [ NP [ A lang ] [ N haar ]] [ Aff/ Suff ig]] Abbildung 3.12: (c) langhaarig Semantische Charakterisierung von langhaarig (38): (38) a. [TEIL VON (NP)] (x) b. [TEIL VON (LANG HAAR)] (x) c. ‘Lange Haare als Teil zu haben ist eine Eigenschaft von x’ Unter den Zusammenbildungen (Typ c) ist das Muster ‘Wortgruppe + -ig’ zur Bildung von Adjektiven besonders produktiv, (vgl. 39) (39) blauäugig, langlebig, breitschultrig, vierblättrig, mehrsilbig (‘blaue Augen, ein langes Leben, breite Schultern, vier Blätter, mehrere Silben habend’). Aber auch zur Bildung von Nomen wird Typ c herangezogen, (vgl. 40) (40) Dreimaster, Vierbeiner, Dickhäuter, Viertakter, Wichtigtuer. Die rechte UK Suffix als morphologischer Head des Wortes hat kategorieprägende Funktion. Dies zeigt sich meist in der Änderung der Kategorie. So werden beispielsweise mit Hilfe der Suffixe -ung, -er, -keit, -heit, -nis aus unterschiedlichen Wortkategorien Nomen: Leitung, Helfer, Freundlichkeit, Klugheit, Hemmnis; mit Hilfe der Suffixe -bar, -lich, -sam, -isch aus anderen Kategorien Adjektive: waschbar, kindlich, furchtsam, neidisch; mit Hilfe der Suffixe -halber, -lings, -mals, -s aus anderen Kategorien Adverbien: ehrenhalber, bäuchlings, vielmals, mittags 3.3 Derivation 91 und mit Hilfe einiger weniger Suffixe wie -ig, -(e)l, -er aus anderen Kategorien Verben: sättigen, kränkeln, wildern. Aber nicht jede Anfügung eines Suffixes führt zu einer Änderung der Wortkategorie (41): (41) Lehrer - Lehrerin, Vogel - Vögelchen, Tisch - Tischler, arm - ärmlich, tropfen - tröpfeln. Entscheidend ist, dass das Suffix als 2. UK und Head die Kategorie des Gesamtwortes anzeigt. Die Semantik der Suffixe ist sehr vielfältig, häufig bestehen zwischen einzelnen Suffixen semantische Oppositionen, wie z. B. bei -ig / -lich (42): (42) vierzehntägig vs. vierzehntäglich (z. B. bezogen auf Kurs) ‘vierzehn Tage lang’ ‘alle vierzehn Tage’ fremdsprachig vs. fremdsprachlich (z. B. bez. auf Vorlesung ) ‘in einer fremden Sprache’ ‘über eine fremde Sprache’ Häufig kann es zwischen Präfigierung und Suffigierung zu Ambiguität kommen (vgl. (43)). (43) Unverbindlichkeit [Un] [verbindlichkeit] [Unverbindlich] [keit] Präfigierung Suffigierung In vielen primär an der Bedeutung orientierten Beiträgen zur Wortbildung werden substantivische und adjektivische Konstituenten einer binären Struktur mit affixähnlichen Eigenschaften, aber freien Entsprechungen als Affixoide bzw. Halbaffixe bezeichnet. Um diese „Übergangszone“ zwischen Basismorphem und Präfix (Präfixoid/ Halbpräfix) bzw. Basismorphem und Suffix (Suffixoid/ Halbsuffix) entspann sich eine rege Diskussion mit unterschiedlichem Ergebnis, je nachdem, ob bzw. inwieweit man die oft zitierten Kriterien für die Zugehörigkeit zu Wortbildungsmorphemen (wie z. B. abstraktere, allgemeinere Bedeutung als das homonyme Basismorphem; starke Reihenbildung; Verlust des Status’ als freies Morphem) akzeptierte. Hier soll - unter Umgehung des Terminus „Affixoid“ - nur zwischen Basismorphem und Affix (Präfix, Suffix) unterschieden werden. Die klassenbildenden Eigenschaften von Basismorphem und Affix sind in unterschiedlichen Graden ausgebildet - beide Morphemarten verfügen über Zentrum und Peripherie. Das Argument ‘Reihenbildung’ kann man vernachlässigen, denn auch 92 3 Wortbildung Konstituenten von Determinativkomposita können dieses Merkmal (bei gleicher Bedeutung) besitzen, zumal, wenn sie relationale Elemente sind, vgl. Olsen (1986a). Auch bei Determinativkomposita gibt es semantisch idiomatisierte Konstituenten, so dass das Argument der Bedeutungsveränderung sehr differenziert zu betrachten ist. Bereits zu den Präfixen sollen solche Konstituenten gehören, • die zwar noch einen Nebenakzent tragen können, aber nicht mehr den Hauptakzent und sich so von Erstgliedern heimischer Determinativkomposita unterscheiden, • deren stark verallgemeinerte Bedeutung nur noch in semantischer Nuancierung wie z. B. ‘Intensivierung’ besteht. Solche Beispiele sind hochmodern, hochintelligent, hochsensibel (‘sehr modern, intelligent, sensibel’); erzreaktionär, erzkonservativ, erzkommunistisch (‘in hohem Maße reaktionär, konservativ, kommunistisch’); Affenhitze, Hundekälte (‘sehr große Hitze, Kälte’) - dieser Typ wird mitunter auch als ‘Steigerungsbildung’ bezeichnet, vgl. Altmann und Kemmerling (2000). Als Suffixe sollen solche Zweitglieder betrachtet werden, die - nicht relational (also Bildungen wie staubfrei, knitterarm, einbruchssicher ausgenommen) - entgegen den Zweitgliedern von Determinativkomposita das Gesamtwort semantisch und grammatisch nicht allein repräsentieren können (44): (44) Zementwerk (‘ein Zement produzierendes Werk’) aber: Laubwerk (‘das gesamte Laub eines Baumes’; -werk, nicht *das Werk) Handlungsweise (‘die Weise des Handelns’) aber: probeweise (‘zur Probe’; -weise, nicht *die Weise) 3.3.1.3 Kombinatorische Derivation (Zirkumfixderivation) Bei dieser Subklasse bilden WBM Präfix + WBM Suffix zusammen eine nichtwortfähige diskontinuierliche UK, d. h., ihre Bestandteile agieren zwar zusammen, sind aber nicht benachbart, sondern umspannen als Zirkumfix die andere UK. Kombinatorische Derivate sind trotz ternär erscheinender Verzweigung binär strukturiert. Diese ternäre Verzweigung wird häufig von syntaktisch orientierten Wortstrukturtheorien kritisiert, doch handelt es sich hier nicht wirklich um drei UK, wie sie in Einzelfällen bei Komposita zu finden sind (schwarz-rot-gold, Vergissmeinnicht). Das lässt sich strukturell durch Hinzufügen einer zusammenführenden Klammer verdeutlichen (vgl. dazu auch Eisenberg (1998, S. 243-244)). Das Suffix als rechter Teil des Zirkumfixes kann phonetisch-phonologisch realisiert (expliziert) bzw. nicht realisiert sein. 3.3 Derivation 93 3.3.1.3.1 Expliziertes Präfix und Suffix als diskontinuierliche Konstituente In folgenden Strukturdarstellungen (vgl. 3.13 und 3.14 auf der nächsten Seite) sind Präfix und Suffix als Komponenten der diskontinuierlichen Konstituente expliziert, die andere UK besteht (a) aus einem BM oder (b) aus einer MK (frei/ gebunden). Stamm WBM Wurzel WBM Aff/ Präf V Aff/ Suff Wort N Präf BM Suff Ge renn e Ge renn e Zirkumfix Zirkumfix [ N [ Aff/ Präf Ge ] [ V renn ] [ Aff/ Suff e ]] Zirkumfix Abbildung 3.13: (a) Gerenne Semantische Charakterisierung von Gerenne (45): (45) a. [(PEJORATIV & ITERATIV (V)) (x agens ,...,s)] N ((x agens ,...,) r) b. [(PEJOTATIV & ITERATIV (RENN)) (x agens ,...,s)] N ((x agens ,...,) r) c. ‘Referent ist ein Geschehen, das sich aus dem wiederholten Geschehen ‘rennen’ zusammensetzt und pejorativ bewertet ist’ Semantische Charakterisierung von verunreinigen (46): (46) a. [CAUS(TUN(x 1 agens ),WERD(A,x 2 thema ))](x 1 agens , x 2 thema ,s) b. [CAUS(TUN(x 1 agens ),WERD(UNREIN,x 2 thema ))] (x 1 agens ,x 2 thema ,s) c. ‘verursachen, dass ein Aktant die Eigenschaft ‘unrein’ annimmt’ Morphologischer Head des Wortes ist das Suffix als rechter Teil des Zirkumfixes. Es wirkt in der Regel kategorieverändernd - zumindest die heute produktiven Bildun- 94 3 Wortbildung Stamm FM V F WBM Stamm WBM Aff/ Präf A Aff/ Suff Wort V Präf WBM Wurzel Suff Aff/ Präf A Präf BM ver un rein ig en ver un rein ig en Zirkumfix Zirkumfix [ V [ Aff/ Präf ver ][ A [ Aff/ Präf un ] [ A rein ]] [ Aff/ Suff ig ]] F en Zirkumfix Abbildung 3.14: (b) verunreinigen gen betreffend. Das Präfix als linker Teil des Zirkumfixes hat wiederum vorwiegend semantisch modifizierende Funktion. Die wichtigsten Kombinationen von Präfix und Suffix als Zirkumfix sind • zur Bildung von Substantiven (Nomen): Ge- -e (Gelaufe, Gesinge), • zur Bildung von Adjektiven: ge-/ be- -t, un- -lich, ge- -ig (geblümt, benachbart, unausweichlich, geräumig), • zur Bildung von Verben: be-/ ver- -ig (beschönigen, vereidigen). Dabei geht ein Teil von Bildungen, die gegenwartssprachlich als adjektivische kombinatorische Derivate betrachtet werden, sprachhistorisch auf Formen des Partizips Perfekt inzwischen untergegangener Verben zurück, vgl. betagt: mhd. betaget zu sich betagen ‘alt werden’ (ebenso bejahrt, vernarrt). Auch unter synchronem Aspekt kommt es leicht zu Verwechslungen: Nur Adjektive, die der partizipialen Struktur entsprechen, ohne einem verbalen Paradigma zu entstammen, sind das Ergebnis kombinatorischer Derivation. Bei den Adjektiven beherzt (*beherzen) und verfrüht (*verfrühen) z. B. bilden be-/ ver- -t ein echtes Zirkumfix, während bei bezahlt und verzweifelt das -t (nur) Flexiv des Partizips Perfekt der Verben bezahlen und verzweifeln ist. Im Hinblick auf Verben betonen 3.3 Derivation 95 Fleischer und Barz (1995, S. 313) zu Recht: „Verben, bei denen die suffigierte Form auch ohne Präfix geläufig ist (ver-/ ängstigen, ver-/ prozessieren, ent-/ schädigen, zer- / stückeln), werden als deverbale Präfigierungen betrachtet.“ (1. UK = Präfix; 2. UK = Verb) Häufig haben synchron als kombinatorische Derivate ausgewiesene Bildungen ihren Ursprung in alten, heute nicht mehr existenten suffigierten Verben, die dann präfigiert bzw. mit Partikeln kombiniert wurden, (vgl. (47)): (47) a. bewilligen - mhd. willigen, b. anschuldigen - mhd. schuldigen, c. anheimeln - mhd. heimeln. 3.3.1.3.2 Nullsuffix als rechter Teil der diskontinuierlichen Konstituente Ausgehend vom Prinzip der strengen Rechtsköpfigkeit bzw. der Unfähigkeit von Präfixen in der deutschen Gegenwartssprache, die kategoriale Prägung einer Wortstruktur zu beeinflussen, wird für Fälle wie bemuttern, ermatten, verarzten die Existenz eines Nullsuffixes als rechter Teil des Zirkumfixes angenommen, vgl. auch Olsen (1990a, S. 208-209) und Abraham (1995, S. 100). Dieses wirkt wie phonetisch-phonologisch realisierte Suffixe und sichert die kategoriale Einordnung des Gesamtwortes, vgl. Abbildung 3.15. Wort Wort WBM Wurzel WBM WBM Wurzel WBM Stamm FM Stamm FM Präf BM Suff Präf BM Suff be herz ig en er blind O en Zirkumfix Zirkumfix Abbildung 3.15: (a) beherzigen (b) erblinden Es sind zwei Klassen von Nullsuffixen als rechter Teil des Zirkumfixes anzusetzen: 96 3 Wortbildung • (1) ein nominalisierendes Ø-Suffix (Ge-wisper-Ø), • (2) ein verbalisierendes Ø-Suffix (er-matt-Ø(en), be-rente-Ø(n)). Bei den Strukturen unter (1) handelt es sich um verbale Basen mit unbetontem -el oder -er als gegenwartssprachlich produktives Muster: Gebettel, Gedrängel, Gefiedel, Geholper, Geknister, Geläster (in der Regel mit der Semantik ‘dauerndes Betteln, Drängeln . . . ’, häufig negativ bewertet). Um die älteren, bereits usualisierten und häufig lexikalisierten Bildungen des Ge- Ø-Musters mit verbaler/ nominaler Basis (Gebräu, Geräusch, Gewächs, Gebälk, Gestein, Gestirn) entspann sich in der Wortbildungsliteratur eine rege Diskussion, vgl. z. B. Plank (1986) und Olsen (1991), außerdem Neef (1996). Kernproblem der Diskussion, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, ist die Position des morphologischen Heads in den betreffenden Bildungen. Festgestellt werden kann aber zumindest, dass das Ge- -e/ Ø-Modell sprachhistorisch eine wechselvolle Entwicklung genommen hat, die in ihren Ausprägungen nicht einheitlich zu beurteilen ist. Die Strukturen unter (2) stellen ein produktives Muster dar, sicher auch beeinflusst von dem Umstand, dass im Deutschen kaum phonetisch-phonologisch realisierte Suffixe für die Verbbildung zur Verfügung stehen. Die Basiskategorie dieser kombinatorischen Derivate sind Nomen (beflecken, bemuttern, beziffern, verschlüsseln, verabschieden, verbrüdern) und Adjektive (befähigen, betreuen, erkalten, verflachen, vereinsamen, verdummen). Auch hier finden sich zahlreiche Fälle, die unter heutiger Sicht als kombinatorische Derivate eingeordnet werden, ursprünglich aber Präfigierungen untergegangener Verben darstellten, (vgl. (48)): (48) verfinstern - mhd. vinstern (‘finster werden’), ebenso befremden (mhd. vremden), bedachen (mhd. dachen), beengen (mhd. engen), beherbergen (mhd. herbergen), beurlauben (mhd. urlauben). Kombinatorische Derivate mit Nullsuffix sind selbst wiederum Basis für weitere Ableitungsprozesse (Befähig / ung, Verharmlos / ung, Vergesellschaft / ung, Betreu / er). Bei der graphischen Umsetzung dieser Wortstrukturen muss beachtet werden, dass jeweils die 1. UK auch entsprechend dargestellt wird, da sonst das Kopfprinzip verletzt würde und es zu defekten Strukturen käme, vgl. die Darstellung von Vernetzung in Abbildung 3.16 auf der nächsten Seite. In Analogie zum Präfix gehen auch Partikelpräfixe und Partikel die Verbindung mit einem Nullsuffix ein, während beide in Kombination mit einem phonetisch-phonologisch realisierten Suffix nur vereinzelt auftreten (überwältigen, aushändigen). Dabei werden sie zur Bildung von Verben herangezogen. 3.3 Derivation 97 falsch: richtig: Zirkumfix N N V Aff/ Suff V Aff/ Suff Aff/ Präf N Aff/ Präf N Aff/ Suff Ver netz ung Ver netz Ø ung Abbildung 3.16: Vernetzung Partikelpräfix + Ø-Suffix (49): (49) eingemeinden, umgarnen, umarmen, überbrücken, unterkellern Partikel + Ø-Suffix (50): (50) ausbooten, ausnüchtern, ausufern, absahnen, anfeinden, aufrauen, auftischen, einbürgern, einsargen, einschüchtern. Viele interessante Details hierzu finden sich in Fehlisch (1998) am Beispiel der von ihr als „denominale ein-Verben“ bezeichneten Zirkumfixverben. 3.3.2 Implizite Derivation Als ein Gegenpol zur expliziten Derivation soll die implizite Derivation alle Bildungsweisen subsumieren, die ohne ein phonetisch-phonologisch realisiertes Wortbildungsmorphem operieren, sondern grundsätzlich als wortbildende Konstituente ein Nullsuffix aufweisen. Damit soll dieser große Bereich innerhalb der Wortbildung nicht als „Ausnahmebereich“ dargestellt werden, in dem die wesentlichen Wortstruktur- und Wortbildungsregeln des Deutschen nicht greifen, sondern es soll der Versuch unternommen werden, für diesen Typ ebenfalls einen kombinatorischen Wortbildungsprozess anzunehmen, wie es Olsen (1990b) bereits für die Konversion vorgeschlagen hat. Unter Einbeziehung der Erkenntnisse von McCarthy (1981) und Marantz (1982), die die Berechtigung eines phonologisch nicht festgelegten Affixes aus der Phonologie ableiten, postulierte Olsen (1990a, S. 213) (in Anlehnung an Marchand (1964, 1969)) für denominale bzw. deadjektivische Verben: 98 3 Wortbildung Ein vollspezifiziertes Morphem . . . , das mit einer leeren phonologischen Melodie versehen ist, verbindet sich mit nominalen oder adjektivischen Basen zur Ableitung von Verben . . . Dabei könnten sich phonologisch leere Köpfe in Wortstrukturen verhalten wie explizite Suffixe - anders als es für leere Köpfe in der Syntax angenommen wird, vgl. Olsen (1992, S. 8). 3 Das Einbeziehen der impliziten Derivation in die auf Kombination beruhenden Wortbildungsmechanismen bedeutet: Auch auf die Modelle der impliziten Derivation wird die für Komposition und explizite Derivation verbindliche Wortstrukturregel X → YX bezogen. Das heißt wiederum: • Wir haben es auch hier mit endozentrischen, binären Strukturen zu tun, obwohl die primären Daten nicht klar darauf schließen lassen, wie Lauf, Griff, härten zeigen (Olsen, 1992, S. 7). • Auch hier gilt das Prinzip der Rechtsköpfigkeit. Das Nullsuffix ist morphologischer Head der Wortstruktur und so für ihre kategoriale Festlegung verantwortlich. Wie es innerhalb der expliziten Derivation alternierende Möglichkeiten der Suffix- Realisierung (unter Einbeziehung eines Nullsuffixes) gibt - vgl. Schrei-erei vs. Geschrei-Ø, Winsel-ei vs. Ge-winsel-Ø, be-lob-ig(en) vs. be-vorrat-Ø(en) - so könnte man in einem weiter gefassten Rahmen, einem weiteren Verständnis auch die Muster der impliziten Derivation als alternative Möglichkeit zu Bildungen mit phonetischphonologisch realisiertem Suffix verstehen. Es könnten dann in eine Reihe gestellt werden z. B. (51): (51) rein → rein-ig(en) und weit → weit-Ø(en) (‘machen, dass . . . rein, weit ist’) Ei → ei-er(n) und Diener → diener-Ø(n) (‘verhalten wie . . . ’), erwerben → Erwerb-ung und ertragen → Ertrag-Ø (‘Resultat von . . . ’). Mit dem kombinatorischen Ansatz auch für implizite Derivate wird es möglich, dem durch die Begleiterscheinungen sprachhistorischer Entwicklung (Lexikalisierung, Idiomatisierung) ohnehin schon schwer genug nachvollziehbaren, komplexen Prozess der deutschen Wortbildung einen gemeinsamen Rahmen zu geben und die einzelnen Wortbildungstypen nach relativ einheitlichen Kriterien zu behandeln. Bei aller Skepsis, die diesem Modell in der Wortbildungsforschung z.T. entgegengebracht wird, ist andererseits „der Vorteil, ‘alle vermeintlichen nicht-kombinatorischen Wortbildungstypen auf eine zugrundeliegende kombinatorische Operation reduzieren’ zu können, nicht gering zu veranschlagen“ (Erben, 2000, S. 60). 3 Damit würden hier die strengen Lizensierungsbedingungen für leere Kategorien der Syntax hinfällig - das von Olsen (1990a) noch angenommene so genannte Klammerparadoxon, bei dem die Strukturdarstellung der semantischen Interpretation widerspricht, würde gegenstandslos. 3.3 Derivation 99 Innerhalb der impliziten Derivation gibt es zwei Hauptarten kategorieverändernder Nullsuffixe: ein verbalisierendes (Ø V ) und ein nominalisierendes (Ø N ) (vgl. (52)): (52) (a) süßen [ V [ A süß ] [ Aff/ Suff(+V) Ø ]] ( en ) (b) salzen [ V [ N Salz ] [ Aff/ Suff(+V) Ø ]] ( en ) (c) Kauf [ N [ V kauf ] [ Aff/ Suff(+N) Ø ]] Diese beiden Hauptarten von Nullsuffigierung mit ihren Varianten sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. 3.3.2.1 Implizite Derivation mit nominalisierendem Nullsuffix Hauptvarianten dieses Typs sind (a) Verb (1. UK) + Ø-Suffix (2. UK) = N (b) Adjektiv (1. UK) + Ø-Suffix (2. UK) = N Diese Varianten können sich wiederum unterscheiden bezüglich des Einbringens von Flexionsmorphemen in das implizite Derivat. Bei (a): • Das Infinitiv-Flexionsmorphem -en ist nicht Bestandteil der Derivationsbasis. Fleischer und Barz (1995) sprechen in diesem Fall von Verbstammkonversion. Die 1. UK ist als verbale Konstituente ein BM (treff-, dreh-) oder eine MK (Stamm), bestehend aus: - Präfix + BM (erwerb-, befehl-), - Partikelpräfix + BM (unterhalt-, widerruf-) oder - Partikel + BM (abwasch-, aufbau-). Die 2. UK wird durch das Nullsuffix besetzt, das die Binarität der Wortstruktur garantiert und den Kategorienwechsel V → N bewirkt (vgl. Abbildung 3.17 auf der nächsten Seite). Semantische Charakterisierung von Zerfall (53): (53) a. [V (x, s)] N ((x) r) b. [ ZERFALL (x, s)] N ((x) r) c. ‘Referent ist das Geschehen ‘zerfallen” (ohne semantische Veränderung gegenüber V) 100 3 Wortbildung zerfallen → (der) Zerfall Wort Stamm N Stamm WBM V Aff/ Suff WBM Wurzel Suff Aff/ Präf V Präf BM Zer fall O Zer fall O [ N [ V [ Aff/ Präf Zer ] [ V fall ]] [ Aff/ Suff Ø]] Abbildung 3.17: Zerfall In diesen Typ werden auch nominale Bildungen einbezogen, die eine Änderung des Stammvokals zeigen (54): (54) wachsen - Wuchs, finden - Fund, werfen - Wurf. Diese in historischen Wortbildungsprozessen wichtige Markierung bezog sich auf die Derivation vorwiegend starker Verben. Da die Bildungsweise nicht mehr produktiv ist, soll sie hier keine separate Subklasse darstellen, wie das in anderen Wortbildungsdarstellungen z.T. der Fall ist (vgl. implizite Derivation als stammvokaländernder Wortbildungstyp bei Fleischer und Barz (1995), Eisenberg (1998) und Eichinger (2000)). Unter synchronem Aspekt ist ihr mit dem dargestellten zerfallen → Zerfall der Kategorienwechsel in Verbindung mit dem Fehlen des Infinitiv-Flexivs gemeinsam. Obwohl Nomen aus starken Simplexverben nicht mehr entstehen, sind komplexe Nomen aus solchen Verben, die mit Präfixen, Partikelpräfixen und Partikeln kombiniert sind, heute weit verbreitet (vgl. (55)). (55) bewachsen → Bewuchs, widersprechen → Widerspruch, aussteigen → Ausstieg. • Die verbale Derivationsbasis bringt das Infinitiv-Flexionsmorphem -en mit in das Nomen ein (bei Fleischer und Barz (1995) ‘Infinitivkonversion’). Dieses 3.3 Derivation 101 agiert nicht mehr als solches. Die Flexion erfolgt wie bei starken Neutra, aber ohne Pluralbildung, vgl. lachen → Lachen, des Lachens, des Lernens . . . Bei (b): • Das Adjektiv als Derivationsbasis bringt kein Flexionsmorphem in das implizite Derivat ein. Es ändert sich durch die Derivation lediglich die Wortkategorie, wofür wiederum die phonetisch-phonologisch nicht realisierte Suffix-Konstituente verantwortlich ist. Auf diese Weise werden besonders Farb- und Zahladjektive zu Nomen (vgl. schwarz → Schwarz, zwei → Zwei. und Abbildung 3.18 und Abbildung 3.19 auf der nächsten Seite): Wort N Stamm Wurzel WBM A Aff/ Suff BM Suff Grün O Grün O [ N [ A Grün ] [ Aff/ Suff Ø ]] Abbildung 3.18: grün → (das) Grün Semantische Charakterisierung das Grün (das Grün der Tischdecke (56)): (56) a. [A (x)] N ((x) r) b. [GRÜN (x)] N ((x) r) c. ‘Referent ist die Eigenschaft ‘grün” (ohne semantische Veränderung gegenüber A) • Das adjektivische Deklinationsmorphem wird mit ins Nomen eingebracht, welches dann ebenso wie Adjektive stark/ schwach flektiert, (vgl. (57)): (57) ein grüner Politiker → ein Grüner (stark), der grüne Politiker → der Grüne (schwach), 102 3 Wortbildung ein grünes Kleid → ein Grünes (stark), das grüne Kleid → das Grüne (schwach). Stamm FM N F Wort N Wurzel WBM A Aff/ Suff BM Suff Grün Ø e Grün Ø e [ N [ A Grün ] [ Aff/ Suff Ø ]] F e Abbildung 3.19: grün → (das) Grüne 3.3.2.2 Implizite Derivation mit verbalisierendem Nullsuffix Hauptvarianten dieses Typs sind (a) Nomen (1. UK) + Ø-Suffix (2. UK) = V (b) Adjektiv (1. UK) + Ø-Suffix (2. UK) = V Da in beiden Varianten das implizite Derivat verbal geprägt ist, muss in der verbalen Grundform (Infinitiv Präsens Aktiv) das Flexionsmorphem -en/ n hinzutreten (vgl. (58)): (58) N → V: Leim → leimen, Öl → ölen, Zucker → zuckern, Feile → feilen; A → V: kühl → kühlen, weit → weiten. Es sei nochmals darauf verwiesen, dass -en / n kein WBM Suffix und somit nicht Bestandteil des Wortstammes ist. In der Verbflexion wird -en / n durch die Flexionsmorpheme der jeweiligen Konjugationsform ersetzt (salzen, er salzt, salzte), wovon Wortbildungsmorpheme nicht betroffen sind (reinigen, er reinigt, reinigte) (vgl. Abbildung 3.20 auf der nächsten Seite). Semantische Charakterisierung von salzen (59): (59) a. [CAUS (TUN (x 1 agens ), WERD (BESTANDTEIL VON (N, x 2 thema ) ))] (x 1 agens, x 2 thema, s) 3.3 Derivation 103 Wort V Stamm FM V Wurzel WBM N Aff/ Suff BM Suff salz Ø en salz Ø en F [ V [ N salz ] [ Aff/ Suff Ø ]] F en Abbildung 3.20: Salz → salzen b. [CAUS (TUN (x 1 agens ), WIRD (BESTANDTEIL VON (SALZ, x 2 thema )))] (x 1 agens, x 2 thema, s) c. ‘ein Aktant verursacht durch eine Tätigkeit, dass ‘Salz’ Bestandteil eines Aktanten wird’ Ein interessantes Phänomen ist, dass mittels verbalisierendem Nullsuffix in der Regel nur Derivate aus morphologisch einfachen Wörtern entstehen. Das gilt besonders für Adjektive, wo komplexe Basen generell ausgeschlossen sind, vgl. *waschbaren, *freundlichen, *untreuen. Da die Menge einfacher Adjektive relativ klein ist (Neubildungen von Adjektiven sind komplexer Natur), ist auch die Menge der deadjektivischen Verben gegenüber denominalen Bildungen begrenzt. Hier bietet die Zirkumfixderivation unter Beteiligung des Nullsuffixes eine produktive Ausweichmöglichkeit, vgl. befähigen, vereinfachen, vereinsamen, verharmlosen, veruntreuen. Bei denominalen Verben findet man vereinzelt komplexe Basen, teils Nomen mit dem Suffix -er (berlinern, töpfern), teils Komposita (frühstücken, schlafwandeln). Die in der Wortbildungsliteratur häufig vorgenommene Unterscheidung zwischen so genannter lexikalischer bzw. morphologischer Konversion und syntaktischer Konversion wird hier in dem Sinne aufgehoben, dass beide unter einem anderen Aspekt subsumiert werden: dem der Wortkategorienprägung des Nullsuffixes als 2. UK. Trotzdem soll der im Allgemeinen gemachte Unterschied kurz erläutert werden: Der in der Literatur geläufige Terminus ‘Konversion’ bezeichnet im nichtkombinatorischen Ansatz solche Wortbildungstypen, die nicht in irgendeiner Weise (z. B. durch Affix, Vokalwechsel) formal auf eine Basis beziehbar sind, vgl. Eisenberg (1998, S. 280). Lexikalische (morphologische) Konversion wird dabei auf solche Wortbildungsprozesse bezogen, bei denen keine syntagmatisch motivierten Flexionsmorphe- 104 3 Wortbildung me der Derivationsbasis in das neue Wort übergehen. Es wirken stärkere kategoriale Einschränkungen. Gemeint sind Kategorienwechsel V → N (stauen → Stau, vgl. 3.3.2.1), A → V (rund → runden) und N → V (Film → filmen). Bei syntaktischer Konversion werden Flexionsmorpheme in das neue Wort überführt. Der Prozess ist umfassender und ohne Einschränkungen, wobei „eine ganze Kategorie bzw. eine bestimmte morphologische Form betroffen ist“ (Altmann und Kemmerling, 2000, S. 39). So kann der substantivische Infinitiv von allen Verben gebildet werden, kaum kommt es dabei zu Lexikalisierung und Idiomatisierung (vgl. Eisenberg (1998, S. 282)). Jedes beliebige Adjektiv einer ursprünglich nominalen Gruppe, stark/ schwach dekliniert, kann aus der Wortgruppe heraustreten und unter Beibehaltung seiner Flexionsmorpheme zum Nomen werden (vgl. 3.3.2.2 (b)). Da in dieser Einführung die implizite Derivation (im engeren Sinne), die sich auf Wortbildung mittels Stammvokaländerung bezieht, keine Rolle spielt - Basis ist hier ja ein anderes, binäres Konzept (s. 3.3.2) - gilt es noch eine begrenzte Gruppe von Kausativa einzuordnen, die nicht mit Kategorienwechsel, wohl aber mit Vokaländerung verbunden ist (60): (60) fallen → fällen, saugen → säugen, trinken → tränken ... Man könnte sie mit den Iterativa vom Typ (61) (61) hüsteln, spötteln, tänzeln, tröpfeln, lächeln, köcheln vergleichen, bei denen das Suffix -el zwar keine Kategorienänderung, aber Umlautung des Stammvokals bewirkt. Parallel wäre zu überlegen, diese Kausativa als implizite Derivate zu beschreiben, deren phonetisch-phonologisch nicht realisiertes Suffix (Nullsuffix) zwar Vokaländerung mit sich bringt, aber die Wortkategorie beibehält. 3.3.2.3 Das Problem der Ableitungsrichtung Da die 2. UK bei der impliziten Derivation phonetisch-phonologisch nicht realisiert ist, können sich aus synchroner Sicht Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Ableitungsrichtung ergeben. Nehmen wir z. B. das Nomen Fisch, das mit dem Verb fischen korrespondiert. Es stellt sich die Frage nach der Primärbildung: Ist das Nomen aus dem Verb abgeleitet oder umgekehrt? Im Allgemeinen greift man bei der Beantwortung auf ein semantisches Kriterium zurück: Ein Wort A ist von einem Wort B abgeleitet, wenn A seine Semantik erst durch den Bezug auf B erhält (vgl. auch Eisenberg (1998, S. 285)). Fischen als ‘Fische fangen’ setzt die Existenz des Nomens Fisch voraus (also ist fischen ein implizites Derivat mit der Derivationsbasis Fisch). Parallele Fälle sind (62). (62) Feile → feilen, Film → filmen, Quirl → quirlen, Stempel → stempeln. 3.3 Derivation 105 Anders ist es bei dem Wortpaar Schau - schauen. Das Nomen bezeichnet einen Veranstaltungstyp, bei dem optische Wahrnehmung eine vordergründige Rolle spielt. Schau ist somit durch schauen semantisch motiviert und nicht umgekehrt (schauen bedeutet nicht ‘eine Schau veranstalten’). Allerdings gibt es auch Grenzfälle, bei denen in der synchronen Analyse beide Ableitungsrichtungen zu akzeptieren sind wie etwa im Verhältnis Ruf - rufen. Zur Unterstützung des semantischen Kriteriums können zusätzlich einige strukturelle Fakten herangezogen werden (teils diachrone Zusammenhänge berücksichtigend): • Nomen, die außer dem Basismorphem noch ein Präfix enthalten, das sich nur mit Verben verbindet, können auch nur vom Verb abgeleitet sein, vgl. Entscheid, Ertrag, Verbrauch. • Nomen wie Fund, Griff, Tritt, deren Stammvokal abgelautet ist, können strukturell nur durch die Ableitungsrichtung V → N erklärt werden, da sie aus Ablautformen des Verbparadigmas entstanden sind und nicht umgekehrt, vgl. *funden, *griffen, *tritten, vgl. auch Olsen (1986b, S. 122). • Da im Deutschen das Ableitungsschema V → A nicht produktiv ist, während A → V zumindest begrenzt anzutreffen ist, gehen Verben wie kürzen, leeren, schwärzen, weißen auf die entsprechenden Adjektive zurück. Die Frage nach der Ableitungsrichtung ist auch relevant bei den Prozessen der so genannten Rückbildung, die mittels Suffixtilgung „aus komplexen Wortstrukturen morphologisch reduzierte Derivationen anderer Wortklassen ableiten“ (Erben, 2003, S. 93) wie z. B. das historisch später belegte Kleinstadt aus dem früher belegten kleinstädtisch. Diese retrograde Ableitung spielt in unserem Abriss insofern keine Rolle, als es sich vorwiegend um eine Erscheinung der diachronen Wortbildungslehre handelt. Erben verweist jedoch auf ihre wenn auch sehr begrenzte Berechtigung in synchronen Beschreibungen als einem Verfahren, „wo Wortbildung nicht als Aufbau, sondern auffälligerweise als Reduktion von Morphemgefügen . . . zu begreifen ist“ (Erben, 2003, S. 99). Voraussetzung für diese Möglichkeit ist die morphologischsemantische Motiviertheit eines suffigierten Wortes anderer Kategorienzugehörigkeit. In unserem Rahmen würde sich das Nomen Beweis als implizites Derivat mit nominalisierendem Nullsuffix aus dem Verb beweisen beschreiben lassen, das Verb zwangsräumen durch Suffixtilgung von -ung als Rückbildung aus dem Nomen Zwangsräumung, das die semantische Motivationsbasis darstellt. Die Tilgung von -ung und die Kombination mit einem verbalisierenden Nullsuffix würden nach unserem Modell die morphologischen Voraussetzungen für das Verb zwangsräumen bilden. 106 3 Wortbildung 3.4 Kurzwortbildung Hatten wir es bei Komposition und Derivation bisher mit Wortbildungsprozessen zu tun, deren Ergebnisse Wortbildungsprodukte mit in der Regel binärer Struktur waren, die X → YX folgten, so sind Kurzwörter im Allgemeinen nicht binär strukturiert, d.h., die fürs Deutsche bisher geltende Regel greift in diesem Bereich der Wortbildung nicht. Eine kategoriale Änderung der Ausgangsbasis tritt ebenso wenig auf wie deren semantische Modifikation (vgl. hierzu auch Fleischer und Barz (1995, S. 52)). Kurzwörter sind die einzigen Wortbildungsprodukte, die ausschließlich durch den Prozess der Kürzung aus anderen - bedeutungsäquivalenten - Wortschatzelementen entstehen (vgl. Kobler-Trill (1994, S. 137)). Sie verfügen nicht nur über eine gekürzte graphische Form, sondern sie sind auch phonemisch-phonetisch realisiert. Somit fallen Formen wie usw., bzw., vgl. als reine Schreibkürzel nicht unter den Begriff des Kurzwortes (vgl. Kobler-Trill (1994, S. 13) und Bellmann (1980, S. 369)), sondern vertreten den eigentlichen Bereich der Abkürzungen. Die vollständige Ausgangsform, die Vollform, kann sowohl ein Einzelwort (vgl. Trafo für Transformator) als auch eine lexikalisierte Wortgruppe (Wortgruppenlexem) sein (vgl. MDR für Mitteldeutscher Rundfunk). Auf diese Weise werden für eine (besonders in Fachsprachen) funktionierende Kommunikation kürzere, gleichbedeutende Wörter bereitgestellt, die die Vollform in der Regel nicht ganz verdrängen, sie jedoch in der Frequenz ihrer Verwendung einschränken. Bei fremdsprachigen Kurzwörtern war/ ist meist die entsprechende Vollform im Deutschen nicht in Gebrauch, vgl. (63) a. PIN für engl. Personal identification number, b. BSE für engl. Bovine Spongioform Encephalopathy. Man kann die Kurzwörter (KW) weiter klassifizieren (s. nachfolgende Abbildung) nach der Zahl ihrer Segmente (vgl. Kobler-Trill (1994, S. 20ff.) und Bellmann (1980, S. 370ff.)): Kurzwörter (1) unisegmentale KW (2) partielle KW (3) multisegmentale KW (1) Unisegmentale Kurzwörter bestehen aus einem zusammenhängenden Teil ihrer Vollform. Je nach Position dieses Teils in der Vollform lassen sich die unisegmentalen Kurzwörter weiter untergliedern in: • Kopfwörter (eine Vollform wird auf ihren Anfang verkürzt): Abi (tur), Akku (mulator), Demo (nstration), Abo (nnement), Jumbo (jet) 3.4 Kurzwortbildung 107 • Endwörter (eine Vollform wird auf ihr Ende verkürzt): Achim < Joachim, Bus < Omnibus, Cello < Violoncello • Rumpfwörter (eine Vollform wird auf einen mittleren Teil verkürzt): Lisa < Elisabeth, Basti < Sebastian Eine Art kombiniertes Wortbildungsverfahren im Übergangsbereich von Kürzung und expliziter Derivation liegt bei solchen gegenwartssprachlichen Beispielen vor, wo gleichzeitig Kürzung und Suffigierung erfolgt, da die Kurzform allein nicht existiert, (vgl. (64)) (64) Pulli < Pullover (*Pull), Gorbi < Gorbatschow (*Gorb), Profi < engl. Profesional (*Prof). Alle Kurzwörter, die aus mehr als einem Segment ihrer Vollform bestehen, sprengen den Rahmen der unisegmentalen Kurzwörter und gehören den partiellen oder multisegmentalen Kurzwörtern an. (2) Bei partiellen Kurzwörtern - der einzigen Gruppe mit UK-Struktur - wird die komplexe Vollform, ein Determinativkompositum, nur teilweise gekürzt, und zwar nur der determinierende Teil (= 1. UK). Das Determinatum (=2. UK) bleibt von dem Kürzungsprozess unberührt: (65) (65) a. U-Bahn < Untergrundbahn, b. V-Mann < Verbindungsmann, c. E-Mail < Electronic Mail, d. Schukostecker < Schutzkontaktstecker. Um von partiellen Kurzwörtern sprechen zu können, darf die gekürzte Form nicht bereits als isoliertes Kurzwort gleicher Bedeutung existieren, ansonsten hätten wir es primär nicht mit Kürzung, sondern - wie bei OP-Schwester und Uni-Leitung - mit Komposition zu tun: Kurzwort OP (<Operation) + Nomen Schwester → Determinativkompositum; Kurzwort Uni (<Universität) + Derivat Leitung → Determinativkompositum. Die in der Literatur häufig als „Kopf-Schwanz-Wörter“ bezeichneten Bildungen (z. B. bei Altmann und Kemmerling (2000, S. 41)) vom Typ Ku(rfürsten)damm, Deo- (dorant)-Spray wären dann entweder den partiellen Kurzwörtern (Kudamm) oder den Komposita mit Kurzwort als 1. UK (Deospray, Deoroller) zuzuordnen. (3) Multisegmentale Kurzwörter stellen die Gruppe von Kürzungen dar, die aus mehreren, nicht zusammenhängenden Segmenten der Vollform bestehen bzw. deren komplexe Vollform (Wort, Wortgruppenlexem) nicht nur teilweise, sondern in allen 108 3 Wortbildung ihren Bestandteilen reduziert wird. Nach dem Grad der Kürzung können die meisten multisegmentalen Kurzwörter weiter differenziert werden in • Initialkurzwörter (als häufigste Gruppe auch als Acronyme bezeichnet) - mit alphabetischer Aussprache: BND < Bundesnachrichtendienst, EG < Europäische Gemeinschaft, IOK < Internationales Olympisches Komitee, IQ < Intelligenzquotient - mit phonetisch gebundener Aussprache: TÜV < Technischer Überwachungs-Verein, UNO < engl. United Nations Organization • Silbenkurzwörter (die Segmente des Kurzwortes entsprechen dessen Silben): Juso < Jungsozialist, Kripo < Kriminalpolizei, Stasi < Staatssicherheit • Mischkurzwörter (sie stellen in geringer Zahl eine Kombination von Initial- und Silbenkurzwörtern dar): Edeka < Einkaufsgenossenschaft deutscher Kolonialwarenhändler. Nicht unter die Kurzwortbildungen sollen eingeordnet werden • Morphemkonstruktionen mit Konfixen als Bestandteilen (vgl. Biochemie, Psychothriller). Sie werden je nach Wortbildungsverfahren den Komposita oder den expliziten Derivaten zugeordnet. • Wortkreuzungen (-kontaminationen, -mischungen). Sie stellen keine Kurzform zu einer umfangreicheren und bedeutungsäquivalenten Vollform dar, sondern haben Neubenennungscharakter mit oft expressiver Wirkung (vgl. Kurlaub < Kur + Urlaub, Milka < Milch + Kakao, Medizyniker < Mediziner + Zyniker). 3.5 Wortbildungsarten im Deutschen (Übersicht) 1. Komposition (Zusammensetzung von BM / MK mit 2 UK) a) Determinativkompositum Hypotaktisches Verhältnis der UK: 1. UK = Determinans, 2. UK = Determinatum. Typ: Haus / tür - Haus (1. UK) / tür (2. UK); Rundtischgespräch - Rundtisch (1. UK als Wortgruppe) / gespräch (2. UK) Sondergruppe: Possessivkompositum als exozentrisches Kompositum. Typ: Löwenzahn (= Pflanze) - Löwen (1. UK) / zahn (2. UK) b) Kopulativkompositum Parataktisches Verhältnis der UK. Typ: taubstumm - taub (1. UK) / stumm (2. UK) 3.5 Wortbildungsarten im Deutschen (Übersicht) 109 c) Zusammenrückung Exozentrisches Kompositum aus syntaktischer Gruppe; letzte UK ist kein morphologischer Head. Typ: Gernegroß - Gerne (1. UK) / groß (2. UK) 2. Derivation (Ableitung) a) Explizite Derivation Derivation durch Affixe bei Vorhandensein von 2 UK. i. Präfigierung 1. UK = Affix/ Präfix. Typ: Unschuld - Un (1. UK) / schuld (2. UK) ii. Suffigierung 2. UK = Affix/ Suffix. Typ: Lesung - Les (1. UK) / ung (2. UK); Zweiteiler - Zweiteil (1. UK als Wortgruppe) / er (2. UK) iii. Kombinatorische Derivation Diskontinuierliche Konstituente aus Präfix und Suffix als Zirkumfix. Typ: Gelaufe - Ge-e = UK, lauf = UK b) Implizite Derivation Derivation ohne phonetisch-phonologisch realisiertes Affix, da 2. UK ein Null-Suffix ist. i. Derivation mit nominalisierendem Nullsuffix Typ: belegen → Beleg - Beleg (1. UK) / Ø(2. UK) ii. Derivation mit verbalisierendem Nullsuffix Typ: Öl → ölen - öl (1. UK) / Ø (2. UK) / en (FM); 3. Kurzwortbildung a) Unisegmentales Kurzwort Kurzwort aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform: Kopfwort vom Typ Abi(tur) besteht aus dem Anfang der Vollform. Endwort vom Typ Bus < Omnibus besteht aus dem Ende der Vollform. Rumpfwort vom Typ Lisa < Elisabeth besteht aus dem Mittelteil der Vollform. b) Partielles Kurzwort Kurzwort als einzige Gruppe mit UK-Struktur, wobei nur die 1. UK gekürzt ist. Typ: V-Mann < Verbindungsmann - V (1. UK) / Mann (2. UK) 110 3 Wortbildung c) Multisegmentales Kurzwort Kurzwort aus nicht zusammenhängenden Teilen der Vollform: Initialkurzwort mit alphabetischer bzw. phonetisch gebundener Aussprache vom Typ IQ < Intelligenzquotient, Silbenkurzwort vom Typ Kripo < Kriminalpolizei, Mischkurzwort (Kombination von Initial- und Silbenkurzwort) vom Typ Edeka < Einkaufsgenossenschaft deutscher Kolonialwarenhändler. 3.6 Literaturhinweise Eine ausführliche Darstellung des deutschen Morpheminventars liefern Fleischer und Barz (1995). In ihrer umfassenden, synchron orientierten Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache geben sie nicht nur über die heimischen Wortbildungsmorpheme ausführlich Auskunft, sondern auch über Fremdmorpheme. Ebenso kann man sich bei Eisenberg (1998) und Altmann und Kemmerling (2000) informieren, die ebenfalls einen Überblick über alle Wortbildungsarten geben. Während Fleischer und Barz (1995) nicht zwischen Präfix und Partikel unterscheiden, differenzieren diese Autoren hier stärker. Erben (2000) betrachtet die deutsche Wortbildung sowohl unter synchronem als auch unter diachronem Aspekt. Die umfangreichste Beschreibung der deutschen Wortbildung in mehreren Bänden liegt mit der Deutschen Wortbildung (1973-1992) des Instituts für Deutsche Sprache vor. Motsch (1999) wählt für seine Deutsche Wortbildung in Grundzügen einen streng lexikalistischen Ansatz und widmet sich besonders den semantischen Grundlagen von Wortbildungsregularitäten. Mit Fragen der Wortstruktur und der Gültigkeit des kombinatorischen Ansatzes für alle wesentlichen Wortbildungsprozesse im Deutschen setzt sich besonders Olsen (1990a,b, 1992) auseinander. In vielen Einzeluntersuchungen, u.a. Eschenlohr (1999) und Neef (1996), wird die bejahende Position zur Binarität und Rechtsköpfigkeit im Deutschen hinterfragt und teils durch andere Lösungsansätze ergänzt. Eine umfangreiche Aufgabensammlung mit Lösungsteil legen Barz, Schröder, Hämmer und Poethe (2000) in Wortbildung - praktisch und integrativ vor. 3.7 Übungsaufgaben • Zu 3.1.1 Zerlegen Sie folgende Wörter in Morpheme und bestimmen Sie diese: frischer Fisch, (eine) freundliche Bedienung, Arbeitslosigkeit, beleidigen, drogensüchtig, Hundebiss, Größe, Nachtigall, Mikrofilm, Wortbildungsart 3.7 Übungsaufgaben 111 • Zu 3.1.2 Segmentieren Sie binär in die unmittelbaren Konstituenten: Handtasche, Handhabung, Handballmannschaft, vierhändig (Klavier spielen), Wirkungslosigkeit, Beliebigkeit, sprachwissenschaftlich, hochwissenschaftlich, Frühaufsteher, Straßenbahner, beleibt, Winkelmesser, Taschenmesser, Unabhängigkeit, Dreitagebart • Zu 3.2 Bestimmen Sie die Art des Kompositums und stellen Sie seine interne Struktur in Morphem-, Kategorien- und Klammerschreibung dar: Landesprüfungsamt, Dreikönigsfest, süßsauer, Dreikäsehoch, Bedeutungslehre, Stellenausschreibung, Schwarzkittel Entscheiden Sie zwischen Rektionskompositum und Nichtrektionskompositum: Zigarrenraucher, Gelegenheitsraucher, Parteibeitritt, Umweltschutz, Schnellreinigung, Textilreinigung, Personenfahndung, vitaminreich • Zu 3.3.1 Bestimmen Sie den Subtyp der expliziten Derivation und geben Sie die Wortstruktur in der verlangten Schreibung an (M = Morphemschreibung, K = Kategorienschreibung, [ = Klammerschreibung): annehmbar (M), unverträglich (K), Einzeller ( [ ), Getöse (K), beerdigen (M), dreispurig ( [ ), Kinderlosigkeit (M), blödeln (K) Missachtung ( [ ) Weshalb können folgende Bildungen trotz Vorhandensein eines Präfixes primär nicht dem Wortbildungstyp Explizite Derivation / Präfigierung zugeordnet werden? - Befehl, Behelf, Bericht - Erhalt, Ertrag, Erwerb - Verleih, Verweis, Verzehr Unterscheiden Sie zwischen Präfixverb, Partikelpräfixverb und Partikelverb: wegnehmen, bestellen, umschmeicheln, zerfließen, umbuchen, umschreiben, enttarnen, auslachen, verführen, hinterlegen, aufzählen, geloben, stillhalten, vollenden Unterscheiden Sie zwischen Präfigierung, kombinatorischem Derivat und grammatischer Wortform Partizip II: beraten, beauftragen, befreien, entsagen, entmutigen, entledigen, ermüden, erfrieren, ertrinken, beleibt, bemüht, verarmen, vertreiben, bestrumpft, verfestigen, beklebt, zerfleischen, zerrinnen, behaart, genarbt, gemalt 112 3 Wortbildung • Zu 3.3.2 Geben Sie von folgenden impliziten Derivaten die Wortstruktur in der verlangten Schreibung ( M, K, [ ) an: Wurf (M), geigen (K), (das) Blau ( [ ), (ins) Blaue (fahren) (M), Verhör (K), reifen ( [ ) • Zu 3.4 Welche Wortbildungsart verkörpern folgende Bildungen mit den Basismorphemen rot, grün und kalt? (die) Rote, (die) Röte, sich röten, ziegelrot, rot - grün, Rotschwänzchen, Begrünung, hellgrün, grünlich, Grünschnabel, Grünpflanze, grünstichig, (die) Kälte, erkalten, nasskalt, Kaltblüter, eiskalt, kaltschnäuzig • Zu 3.5 Klassifizieren Sie folgende Kurzwörter nach der Zahl ihrer Segmente und bestimmen Sie den Subtyp! ZDF, Thea, Dia, Schieri, Limo, Ufo, DAAD, Kita, Lok, Gitte 4 Lexikalische Semantik 4.1 Zum Problem der Wortbedeutung Was Bedeutungen sind, ist genauso umstritten wie die Frage nach den angemessenen Methoden zu ihrer Beschreibung. J. Barwise und J. Perry leiten ihr Buch „Grundlagen der Situationssemantik“ in diesem Sinne auch ein: Semantik zu betreiben, d. h. sprachliche Bedeutung zu erforschen, ist ein notorisch schwieriges Geschäft - man begibt sich damit regelmäßig aufs Glatteis. Die Feststellung, daß sinnvolle Ausdrücke Bedeutung tragen, ist nichts als eine Tautologie; dennoch hat sich als äußerst schwierig erwiesen, wesentlich mehr über diese Eigenschaft von Bedeutung zu sagen. (Barwise und Perry, 1987, S. 3) Wir wollen denen zustimmen, die der Meinung sind, dass es nicht nur eine Bedeutungsdefinition gibt, weil es sich bei Bedeutungen um komplexe Phänomene handelt. Sowohl die Bestimmung des Bedeutungsbegriffs als auch die Wahl der Beschreibungsmethode ist funktional bestimmt. Das heißt, dass die Zwecke der Fragestellungen die Antworten bestimmen. Für die Ausdrucksausbildung im Deutschunterricht sind andere Antworten nötig als für die Zwecke der automatischen Übersetzung. Eine Bedeutungsbeschreibung sollte aber mindestens die folgenden fünf Aspekte berücksichtigen: • das Beschreibungsdenotat (= die Extension) • das usuelle Wissen über das Denotat (= die Intension) • die Zeichenverwender (den Sprechenden und Hörenden) • die Verwendungssituation • das verwendete Sprachsystem 4.2 Enge und weite Modelle der Wortbedeutung Je nachdem, welche dieser Aspekte besonders beachtet, akzentuiert werden, können wir verschiedene Modelle der Wortbedeutung unterscheiden, denen dann häufig auch spezifische Beschreibungsmodelle zugeordnet werden. Sehr sinnvoll scheint eine Unterscheidung in enge und weite Bedeutungsmodelle zu sein. Während die engen 114 4 Lexikalische Semantik Modelle auf der klassischen Logik (Aristoteles und Frege) und Lexikographie fußen, sind die weiten Modelle zum einen in Anlehnung an die Rhetorik/ Stilistik und in neuerer Zeit an die Pragmatik entstanden. Sie werden deshalb pragmatische Modelle genannt. Als weite Modelle sind zum anderen auch die grammatischen Modelle zu bezeichnen, die versuchen, die wortsyntaktischen Eigenschaften einzubeziehen, hier grammatische Modelle genannt. Während die engen und grammatischen Modelle oftmals um eine Formalisierung ihrer Beschreibungen bemüht sind, ist das bei den weiten Modellen meist nicht der Fall. Die engen Modelle nehmen, wie Frege es getan hat, eine Unterscheidung von Bedeutung (heute Extension) und Sinn (heute Intension) vor: Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist. (Frege, 1994, S. 41) Frege nahm außerdem noch eine individuelle Vorstellung an, die im Gegensatz zum Sinn aber subjektiv sei und deshalb für Bedeutungserfassungen nicht in Betracht käme. Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen; die Vorstellung, welche wir dabei haben, ist ganz subjektiv; dazwischen liegt der Sinn, der zwar nicht mehr subjektiv wie die Vorstellung, aber doch auch nicht der Gegenstand selbst ist. (Frege, 1994, S. 44) In der Regel versuchen die engen Modelle dann aber nur die wesentlichsten, unterscheidenden Eigenschaften des Denotats zu erfassen. Alle subjektiven Momente bzw. auch die Verwendungseigenschaften werden aus der Bedeutungsbeschreibung ausgeschlossen. Die engen Bedeutungsmodelle nehmen also zwei Bedeutungskomponenten an: Die Extension, die den Bezug auf ein Denotat realisiert, und die Intension, die die Informativität ermöglicht. So haben beispielsweise die Lexeme Streichhölzer und Zündhölzer zwar denselben Sachbezug, sie geben aber unterschiedliche Informationen über diese Gegenstände: Bei Streichhölzer wird betont, dass diese Hölzer durch Streichen auf einer rauen Fläche entzündet werden können. Mit der Bezeichnung Zündhölzer dagegen wird die Funktion, dass es Hölzer zum Anzünden sind, hervorgehoben. Das Wort Bundespräsident hat zu unterschiedlichen Zeiten (in verschiedenen „möglichen Welten“) eine andere Extension: 2002 die von Johannes Rau. Während die weiten Modelle und besonders die pragmatisch-kognitiv-basierten Modelle das gesamte enzyklopädische Wissen, das Menschen über ein Denotat angehäuft haben, zur Intension rechnen (in den kognitiven Modellen als Konzept bezeichnet), tun dies enge Modelle (im Besonderen die logische Semantik und die 4.2 Enge und weite Modelle der Wortbedeutung 115 grammatisch-kognitiv-basierten Modelle) nicht. Sie trennen vom Weltwissen das sogenannte Sprachwissen ab, das das einzelsprachliche semantische Wissen erfasst, das für die Abgrenzung der Lexikoneinheiten relevant ist. Lang (1994) argumentiert im Rahmen des „Zwei-Ebenen-Modells“ in diese Richtung und unterscheidet semantische von konzeptuellen Strukturen. Lang (1994, S. 26) beschreibt die „semantische Interpretation eines Ausdrucks“ als „die Abbildung seiner semantischen Form (SF) auf die Ebene der konzeptuellen Struktur (CS)“. Die SF ist „sprachgebunden“, „lexikonbasiert“ und „kompositionell“ (Lang, 1994, S. 27). Die „Binnenstruktur eines Lexikoneintrags in der SF“ (als „abgepackte“ Strukturbildung) umfasst bei Lang folgende Komponenten (1): (1) a. die phonetische Form (phonologische Merkmale) b. die grammatischen Features (grammatische Charakteristika) c. die semantische Form (formale, kompositionelle Beschreibung) d. die Argumentstruktur (thematische Rollenvergabe) Die CS dagegen ist „sprachunabhängig“, „intermodal“ und „kombinatorisch“. Die CS stellt die begriffliche Struktur dar, die „vor- und außersprachlich“ ist (Lang, 1994, S. 27). Die weiten Modelle dagegen nehmen keine solch strikten Trennungen vor. Sie beziehen die Verwendungsbzw. grammatischen Eigenschaften und Sprecherintentionen mit ein und sehen die Trennung von Sprach- und Weltwissen auch nicht als relevant an. Sie legen deshalb häufig ein holistisches Wissensmodell zu Grunde, während die engen Modelle mit modularen Ansätzen verbunden werden können (vgl. Kapitel 2.4). Eine andere Art von Modellunterscheidung ist die nach dem dominant angesehenen Wissensaspekt. So gibt es Modelle, die den kognitiven Aspekt von Bedeutungen akzentuieren, und andere, die den sozialen Aspekt hervorheben. Die kognitive Semantiktheorie sieht in den Bedeutungen mentale Entitäten. Schwarz (1992, S. 23) führt beispielsweise u. a. aus: „Man kann [. . . ] drei Aspekte unterscheiden, die mit dem Bedeutungsbegriff verknüpft sind: (2) a. den Bedeutungsinhalt, d.h. die Menge aller semantischen Informationen, die im mentalen Lexikon gespeichert sind und das semantische Potential eines Sprachausdrucks darstellen, b. die Repräsentation, d.h. die Art und Weise der Speicherung im Lexikon, c. die Verarbeitung, d.h. die Aktualisierung der Bedeutungsrepräsentation in bestimmten Referenzsituationen.“ Die soziologisch orientierten Auffassungen, wie von H. Putnam, dem späten L. Wittgenstein oder S. Kripke, interpretieren Bedeutungen vor allem als soziale Entitäten, 116 4 Lexikalische Semantik die durch die kommunikative Tätigkeit der Sprachgemeinschaft festgelegt werden bzw. durch Experten, die die bezeichneten Denotate untersuchen. Den Bedeutungen wird so auch eine historische Dimension verliehen, da die Sprachgemeinschaft bzw. die Experten Bedeutungen verändern können (vgl. Abschnitt 4.6). 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 4.3.1 Enge Bedeutungsbeschreibungen Als Beispiele für enge Modelle sollen hier Bedeutungsbeschreibungen angesprochen werden, die im Rahmen der Lexikographie entstanden sind. Auch die logische Komponentenanalyse und die klassische Semanalyse gehören in diese Gruppe (vgl. 4.3.4). Gemeinsam ist ihnen, dass sie die stilistischen und syntaktischen Verwendungseigenschaften nicht zur Bedeutung rechnen und davon ausgehen, dass man das Sprachvom Weltwissen und das semantische vom syntaktischen Wissen trennen kann und muss. 4.3.1.1 Bedeutungsbeschreibungen in Wörterbüchern Wörterbücher als Nachschlagewerke können in zwei Gruppen eingeteilt werden: Zum einen die Sach- und zum anderen die Sprachwörterbücher (in Hinsicht auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Lexika und Wörterbüchern vgl. Herbst und Klotz (2003), Kapitel 2.1.3). Nach Herbst und Klotz (2003, S. 16) haben die uns hier interessierenden Sprachwörterbücher (siehe die nachfolgende schematische Abbildung 4.1 auf der nächsten Seite) drei wesentliche Funktionen: Sie dienen als Nachschlagewerke bei der Sprachrezeption, Sprachproduktion oder bei der Sprachkorrektur. Die Wörterbücher sind in der Regel auf diese Funktionen spezialisiert. Wir möchten uns den synchronen Bedeutungswörterbüchern zuwenden. Die synchronen Bedeutungswörterbücher haben die Aufgabe, für den deutschen Wortschatz die exakten Bedeutungen informativ anzugeben (vgl. Harras (1991, S. 5)). Diese Aufgabe ist mit zahlreichen Problemen behaftet. So stellen sich u. a. folgende Fragen: • Was sind die Wörter der deutschen Sprache? (vgl. 2.3) Es können natürlich nur für semantische Wörter Bedeutungsbeschreibungen gegeben werden. Zum anderen kann nicht jeder Neologismus und jedes untergegangene Wort einbezogen werden. • Was sind Bedeutungen; durch welche Methoden können sie erschlossen und beschrieben werden? 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 117 Sprachwörterbücher Sachwörterbücher einsprachig zweisprachig mehrsprachig Fachwörterbücher Enzyklopädien Wörterbücher diachron synchron Bedeutungs− normative wörterbücher Wörterbücher Abbildung 4.1: Wörterbücher Wichtig ist hier u.a., dass die Adressaten der Wörterbücher berücksichtigt werden. In der Regel streben die Verlage aus ökonomischen Gründen ein breites Publikum an. Das schließt stark formalisierende Beschreibungen aus. • Wie vereinbare ich die Exaktheit der Bedeutungsbeschreibung mit der grundlegenden Unbestimmtheit von Bedeutungen? (vgl. 4.4) • Wie erfasse ich den systematischen Zusammenhang der Wortbedeutungen untereinander? Völlig zu Recht hatte de Saussure (1931, S. 143) betont, dass die Wörter erst durch die Sinnrelationen und ihre Verknüpfung zu Wortgruppen und Sätzen ihren vollen Wert erhalten. „Alles [. . . ] läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.“ Die neuen elektronischen Wörterbuchformen eröffnen viele Möglichkeiten, die Relationen zwischen den Wörtern und Wortbestandteilen aufzuzeigen, indem sie den Wortschatz in Hypertextform aufbereitet darbieten. • Welche lexikalischen Wissensbereiche beziehe ich ein? Sollen grammatische, etymologische, konnotative, pragmatische (wie spezifische Verwendungsbereiche), soziolektale (wie Gruppenlexik) und textuelle (wie Textvorkommenseigenschaften) einbezogen werden? • Welche Methodik der Wörterbucherstellung wende ich an? In der Regel gehen die Wörterbuchmacher nach einer induktiven Methode vor. 118 4 Lexikalische Semantik Sie gewinnen die Daten aus einem oder mehreren Korpora, die heute häufig elektronisch aufgearbeitet und auswertbar sind. Die daraus gewonnenen lexikographischen Aussagen (wie Bedeutungsangaben) werden wiederum durch ausgewählte Korpusdaten belegt (gerechtfertigt und gestützt). Die bekanntesten Bedeutungswörterbücher für die deutsche Sprache sind: Das Grimmsche Wörterbuch Das deutsche Wörterbuch wurde von Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786- 1859) Grimm 1838 1 begründet. Sie hatten angenommen, dass das Wörterbuch sechs bis sieben Bände umfasse und in zehn Jahren abgeschlossen werden könnte. Dies gelang ihnen nicht, da sie zum einen hohe Maßstäbe an die wissenschaftliche Methodik stellten (Korpus-, Beleg- und Quellenprinzip einhalten 2 ) und zum anderen den gesamten Wortschatz seit dem 15. Jahrhundert in seiner inhaltlichen und formalen Entwicklung erfassen wollten. Mit dem eigentlichen Verfassen des Wörterbuchs begannen die Grimms erst 1841. Wilhelm konnte bis zu seinem Tod nur die Lexeme mit dem Buchstaben D bearbeiten und Jacob A, B, C und partiell die F-Lexeme. Erst 1961 konnte dieses großartige Produkt deutscher Geistesgeschichte abgeschlossen werden. Es umfasst 33 Bände. DUDEN-Bedeutungswörterbuch „Das große Wörterbuch der deutschen Sprache“ wurde in seiner ersten Auflage (1976-1981) in acht Bänden unter der Leitung von Günther Drosdowski erstellt. Es hat sich laut Klappentext zur zweiten Auflage (1993) „zwei fundamentale Aufgaben“ gestellt: Zum einen soll es den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache mit allen Ableitungen und Zusammensetzungen so vollständig wie möglich erfassen, auch die Umgangssprache einschließlich der derben und gossensprachlichen Ausdrücke sowie die landschaftlichen Varianten und die sprachlichen Besonderheiten in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz. Zum anderen soll es den Wortgebrauch an Hand von Beispielen und Belegen aus dem Schrifttum der Gegenwart und der klassischen Literatur von Lessing bis Fontane darstellen. Im Vorwort wird als Aufgabe benannt: 1 Am 6. Oktober 1838 unterschrieb Jacob Grimm auch im Namen seines Bruders bei dem Verleger Salomon Hirzel den Vorvertrag. 2 Siehe das von den Grimms verfasste Vorwort zum Wörterbuch. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 119 Dieses Wörterbuch hat die Aufgabe, die deutsche Sprache in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu dokumentieren und damit auch bewusst zu machen. Es ist zugleich ein Spiegelbild unserer Zeit und ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch hinsichlich des letztgenannten Aspektes sind die beiden folgenden Wörterbücher interessant, weil sie Spezifika des offiziellen Denkens in der DDR reflektieren. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache Das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ in sechs Bänden (Akademie-Verlag (Ost)-Berlin) wurde von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz 1961-1977 herausgegeben. Es gilt als ein Wörterbuch, das sich um für die damalige Zeit moderne lexikographische Standards bemüht hat. Neben „der Angabe der Bedeutung des Einzelwortes, seiner stilistischen Kennzeichnung“ bemühte es sich auch, „seine grammatische Kennzeichnung und seine Verwendung im Satz“ aufzuzeigen. (Klappenbach und Steinitz, 1961, S. 3) Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache Das „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ in zwei Bänden wurde von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Günther Kempcke (Akademie-Verlag (Ost)-Berlin 1984) erarbeitet. Die Praxis der Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern ist sehr unterschiedlich, auch in den hier nur betrachteten Definitionswörterbüchern, die die Bedeutungen erklären bzw. explizieren. Zu den Lemmata (Wörter, die definiert werden) werden neben weiteren Angaben (Schreibung, eventuell Lautung und Grammatik) Aussagen zur Bedeutung gemacht. In den oben genannten bekanntesten Bedeutungswörterbüchern kommen unterschiedliche Definitionsverfahren zum Einsatz (vgl. auch (Schlaefer, 2002, S. 96-99). Dies soll mit Beispielen aus dem großen DUDEN-Bedeutungswörterbuch, die fast alle auf zwei benachbarten Seiten auftreten, (Band 1, Seiten 144, 145, 263, 402) jeweils belegt werden: 1. Erklärung mit einem bedeutungsgleichen oder -ähnlichen Wort (3) allerwärts: überall. (4) Alleinverschulden, das: Alleinschuld. 2. Erklärung mit einem negierten, bedeutungsgegensätzlichen Wort (5) asomatisch: nicht körperlich, körperlos. 120 4 Lexikalische Semantik 3. Erklärung mit einem allgemeineren Wort (6) Alleinvertretungsanspruch, der: Anspruch auf die alleinige Vertretung. 4. Erklärung durch Angabe des sprachlichen Kontextes bzw. durch Kollokationen (7) allewege: was . . . alles gemacht werden muß, bis es richtige Bauten sind . . . Da klingelt es a., und egalweg ist etwas zu machen (Kant, Impressum 104). 5. Erklärung durch Angabe typischer Wortzusammensetzungen (8) Balte, der: Ew.: Baltenland, das 6. Erklärung unter Einbeziehung metasprachlicher, linguistischer Charakterisierung (9) alleräußerst: verstärkend für äußerst. 7. Klassische Bedeutungsdefinition (10) Alleskleber, der: wasserfester Klebstoff, der die verschiedensten Materialien zusammenklebt. 8. Mischformen (11) Allerlei, das: buntes Gemisch, kunterbuntes Durcheinander; Mischung, Kunterbunt. 4.3.1.2 Klassische Bedeutungsdefinition Die so genannte klassische Bedeutungsdefinition, die schon auf Aristoteles zurückgeht, nimmt an, dass es möglich ist, eine adäquate Bedeutungsbeschreibung zu finden. Aristoteles meinte, dass die Definition das Wesen einer Sache erfasst und damit besagt, was sie ist. Es wird eine Gleichheit zwischen zu beschreibender Form (Definiendum) und der beschreibenden Form hergestellt (Definiens). Dass dies möglich ist, ist schon vielfach bezweifelt worden. Beispielsweise von Eco (1989), der besonders in den Differentiae (Artmerkmale) und ihrer porphyrischen Baumstruktur (hierarchische Anordnung der Begriffe) das dafür verantwortliche Hauptproblem sieht. Er findet deshalb auch (Eco, 1989, S. 111), „daß die theoretische Idee einer semantischen Darstellung im Format eines Wörterbuchs unhaltbar ist“. Trotzdem geht die Grundstruktur der klassischen Bedeutungsdefinition in die meisten Bedeutungsbeschreibungen in irgendeiner Form ein. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 121 Die klassische Bedeutungsdefinition ist dadurch gekennzeichnet, dass das „genus proximum“ (die Arteinordnung des Definiendum) und „differentia specifica“ (invariante Artmerkmale) ausreichen, um die begriffliche Seite eines Wortes exakt zu bestimmen. Schematisch kann man dies in Anlehnung an Viehweger (1977) wie in Abbildung 4.2 darstellen. einen Handgriff hat. "Koffer" Differentia specifica = Genus proximum <konkretum> <behältnis> <aufklappbar> <mit handgriff><sachen aufnehmend> Definiendum Definiens BD: Ein Koffer ist ein Behältnis zum Aufnehmen von Sachen, der aufklappbar ist und Abbildung 4.2: Klassische Bedeutungsdefinition Problematisch ist an der klassischen Bedeutungsdefinition vor allem, die relevante Arteinordnung zu finden. Es stellen sich auch die Fragen nach den invarianten Artmerkmalen und danach, wie man mit der Vagheit umgeht. Diskutiert wurde vor allem auch, was ist, wenn eines dieser invarianten Merkmale bei Einzelexemplaren nicht vorhanden ist. Ist ein Koffer noch ein Koffer, wenn der Handgriff abgefallen ist? Ist ein Koffer noch ein Koffer, wenn er als Ablage, als „Tisch“ benutzt wird? Die letzteren Fragen kann man dahingehend lösen, dass man davon ausgeht, dass die klassische Bedeutungsdefinition die prototypischen Exemplare beschreibt. Relativ einfach lassen sich mit diesem Verfahren konkrete Substantive beschreiben, wenn man von den Problemen der Mehrdeutigkeit absieht. Man muss dann für jede feste Bedeutungsvariante eines Wortes eine eigene Definition anfertigen, dabei geht natürlich der Zusammenhang zwischen den Sememen (Bedeutungsvarianten) verloren. Schwierigkeiten bereiten die anderen Wortklassen u. a. hinsichtlich der Arteinordnung. Man könnte hier auf die traditionelle semantische Klassenbeschreibung der einzelnen Wortarten zurückgreifen, vgl. die beispielhaften Übersichten zu den Substantiven, Adjektiven und Verben in (12). Die Einordnung in die Art könnte neben der Angabe der semantischen Klasse auch ein sogenanntes „Überwort“, das mehrere speziellere Lexeme zusammenfasst, beinhalten (Beispiele in (13)) . 122 4 Lexikalische Semantik (12) a. Substantive Konkreta: Individuativa (ein Apfel, Heinrich Böll) Stoffbezeichnungen (Schnee, Milch) Kollektiva (Familie, Besteck) Abstrakta: Vorgänge (Prozess, Verkauf ) Eigenschaften (Dummheit, Schönsein) Beziehungen (Freundschaft, Besitzer) b. Adjektive Eigenschaften (klein, klug) Relationen (verwandt, missgünstig) c. Verben Tätigkeiten (arbeiten, verkaufen) Vorgänge (hinfallen, erröten) Zustände (schlafen, liegen) (13) temperiert: heiß, warm, . . . bewegen: rennen, werfen, . . . Das Adjektiv primitiv erhielte dann nachfolgende klassische Bedeutungsdefinition in Abbildung 4.3. etwas befindet. Differentia specifica = Genus proximum "primitiv" <zustand> <befindlich> <unentwickelt> <einfach> Definiendum Definiens BD: "primitiv" bezeichnet einen unentwickelten, einfachen Zustand, in dem sich Abbildung 4.3: Klassische Bedeutungsdefinition 4.3.2 Weite Bedeutungsbeschreibungen: Pragmatisches Bedeutungsmodell Pragmatische Bedeutungsmodelle (wie bei Schippan (1992) und Leech (1981) angenommen) sind solche, die in Bedeutungen nicht nur die Benennungsfunktionen 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 123 von Wörtern sehen, sondern auch keine Trennung von Sprach- und Weltwissen vornehmen. Sie beziehen das für das Glücken einer Kommunikation nötige Welt- und Handlungswissen ein. Sie gehen davon aus, dass Wörter neben der Benennungsbzw. Identifizierungsfunktion eine bewertende bzw. emotionale Komponente haben. Außerdem rechnen sie die Konnotationen (die Nebensinne) und stilistischen Worteigenschaften zum Wortinhalt (vgl. Abbildung 4.4). Bedeutung denotative begriffliche wertend−emotive stilistische soziale konnotative Abbildung 4.4: Komponenten der Bedeutung Die Bedeutungskomponenten können folgendermaßen charakterisiert werden: • Die denotativ-begriffliche Bedeutung gibt an, auf welches „Objekt“ sich das Wort beziehen kann (extensionale Bedeutung). Dieser Referenzakt wird durch das gedankliche Abbild des „Objektes“, durch den Begriffsinhalt (intensionale Bedeutung) möglich. (14) Diese Kastanie (wird eingehen). Extension: BAUM Intension: mit Stamm, Krone, Ästen, Blättern, Blütenkerzen oder Kastanien, . . . • Die wertend-emotionale Bedeutung 3 kommt durch die Möglichkeit zustande, dass die Sprecher/ innen den Kommunikationspartner/ innen ihre Emotionen auch im Wortschatz sprachlich sichtbar machen können (aber nicht müssen). Außerdem stellt der Wortschatz auch bewertende Lexik bereit. (15) Dass Österreichs Polizei, pardon: Gendamerie, seit jeher ein besonders wachsames Auge auf all diejenigen wirft, die mit ausländischen oder gar deutschen Autokennzeichen in der Alpenrepublik unterwegs sind, ist allseits bekannt und wird immer wieder lauthals beklagt. Abkassiert wird in nicht immer nachvollziehbarem Maße; die, die es hart trifft, 3 siehe 2.3.2 124 4 Lexikalische Semantik empfinden es als gnadenlos; die die es tun, als konsequent. Süddeutsche Zeitung, 10./ 11.08.2002 In dem kleinen Ausschnitt (15) aus einer Zeitungsglosse wird durch den Autor das Verhalten der österreichischen Polizei in verschiedener Weise negativ bewertet, besonders durch die Lexeme abkassieren und gnadenlos, die beide den Handlungsträger negativ bewerten. Gnadenlos bezeichnet außerdem eine vermeintliche Emotion der handelnden Polizisten. • Konnotationen (Assoziationen) sind Zusatzinformationen, die die Sprechenden über sich und über die historischen und sozialen Bedingungen mit dem Wortschatz „versenden“. Sie können durch die Wortmotivierung und/ oder das angelagerte Weltwissen ausgelöst werden. (16) Großstadt-Frauen suchen reiche Partner Frauen aus der Großstadt suchen eher Männer mit Geld. Für Frauen vom Land ist die dauerhafte Bindung wichtiger. Wissenschaftler werteten 2300 Kontaktanzeigen aus 23 Städten aus. Ergebnis: Je größer die Stadt und je höher die Lebenshaltungskosten, . . . Bildzeitung, 14.08.2002 In (16) haben wir die neue Wortbildung Großstadt-Frauen, von der, wie es bei der Bildzeitung häufig ist, weil sie wohl den Leser/ innen nicht viel zutraut, die Motivierung mitgegeben wird: Großstadt-Frauen = „Frauen aus der Großstadt“. Über Frauen aus der Großstadt haben die Leser/ innen sicherlich Wissen und/ oder Vorurteile angesammelt. Welches Wissen für das Verstehen des angesprochenen Sachverhaltes relevant ist, wird im Text hervorgehoben: „Je größer die Stadt und je höher die Lebenshaltungskosten“. Zu den Konnotationen rechnet man die stilistischen Markierungen der Lexeme. Dies sind vor allem die Markierungen hinsichtlich der Stilschichten, Stilfärbungen und Funktionalstilbereiche. Die Stilschichtenmarkierungen in (17) geben an, ob die Lexeme Beschränkungen hinsichtlich des Einsatzes in verschiedenen Kommunikationssituationen haben. Unter der „normalen“ Stilschicht wird die schriftliche, neutrale Kommunikation verstanden. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 125 (17) Stilschichten poetisch-gehoben die Seele aushauchen normal sterben umgangssprachlich aus sein umgangssprachlich-salopp abkratzen vulgär den Arsch zukneifen Die Stilfärbungenmarkierungen betreffen zusätzliche stilistische Informationen, wie in (18) angedeutet. (18) Stilfärbungen scherzhaft verlängerter Rücken spöttisch der Neunmalkluge übertreibend vor Ärger die Haare raufen verhüllend mollig sein gespreizt geben sie mir bitte Postwertzeichen in Alltagssprache verwendet . . . . . . Die Markierungen der Funktionalstilbereiche (19) beziehen sich auf die Großbereiche der Sprachhandlungen. (19) a. Presse und Publizistik (Zeitungssprache): zwecks Freizeitgestaltung, Bildzuschrift erwünscht, . . . (vorkommend in Kontaktanzeigen) b. Verwaltung (Amtsprache): Postzusteller, Bundesverwaltungsgericht, . . . c. Künstlerische Kommunikation (Belletristik): Odem, Leu, . . . d. Alltagssprache: machen, eins auf die Mütze bekommen, . . . Soziolektale Markierungen gehören nach dem weiten Bedeutungsverständnis auch zum Bedeutungswissen. So muss beim Einsatz eines Lexems beachtet werden, ob Folgendes auftritt: - eine Beschränkung hinsichtlich der Kommunikationsform (mündlich vs. schriftlich): z. B. Er macht das Essen. vs. Er kocht. - eine Beschränkung, die sich aus der dialektalen Markierung ergibt: z. B. Lorke kochen. 126 4 Lexikalische Semantik - eine Information über das Alter der Kommunizierenden, z. B. jugendlich (Kochen is cool.) - eine Information über den Beruf, z. B. (Das Fleisch tranchieren.) - eine Information über die Hobbys, z. B. (Kochklubmitglied werden..) - . . . Hinweise auf die Zeitlichkeit und die Einstellungen haben wir in (20) . (20) CD-TIPP Der Film ist schon ein Hammer, und die beiden Soundtrack-CDs haben nun fast noch eine gewaltigere Power. Fokus, 34 (2002), S. 74 Mit ein Hammer sein und Power haben bewertet der Rezensent die vorgestellte CD. Er gibt ihr (und sich selbst) damit indirekt die Attribute „zeitgemäß, aktuell, jugendlich“. Dies soll sicher auch durch die Anglizismen erreicht werden. Ein weites, pragmatisch orientiertes Wortbedeutungsmodell ist das von Leech (1981). Leech begründet seine Semantikkonzeption damit, dass er den gesamten Kommunikationsprozess betrachtet. Er unterscheidet deshalb sieben Bedeutungskomponenten: • Konzeptuelle Bedeutung (Sinn) Für woman gibt er hier die konzeptuellen Merkmale [+ menschlich], [- männlich], [+ erwachsen] an. • Konnotative Merkmale (kommunizierte Verweise) Zu den konzeptuellen Merkmalen kommen noch die gelernten und sich ändernden Merkmale, die auf das Denotat referieren, hinzu, z. B. solche, die sich auf physikalische, psychologische und soziale Eigenschaften beziehen. Was der Autor hier für Frau anführt, lässt nicht auf einen Autor aus dem 20. Jahrhundert schließen, der Leech aber ist: [Zweifüßler], [Gebärmutter habend], [in Gemeinschaft lebend], [Subjekt mit Mutterinstinkt], [erfahren in Kochkunst], [mit Rock oder Kleid bekleidet]. In der Vergangenheit hätten die Merkmale [emotional], [irrational], [Unbeständigkeit] dominiert. • Soziale Bedeutung (kommunizierte soziale Umstände: soziale und geographische Charakteristika des Kommunizierenden werden deutlich) • Affektive Bedeutung (kommunizierte Wertungen und Einstellungen zum Denotat) 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 127 • Reflektierte Bedeutung (das Ineinanderreflektieren von Sememen bei einem Wort) Leech führt als Beispiel erection an, wo die beiden Sememe „Bau eines Gebäudes“ und „biologische Erektion“ ineinander reflektieren würden. • Kollokative Bedeutung (semantische Verknüpfbarkeit des aktuellen Semems mit anderen Wörtern) • Thematische Bedeutung (Thema- oder Rhemasein und semantischer Rollencharakter) Zu den weiten pragmatischen Modellen sind auch jene zu rechnen, die explizit an den späten L. Wittgenstein („Philosophische Untersuchungen“ 4 ) anknüpfen und in Bedeutungen Gebrauchsregeln sehen. Dies ist z. B. bei Keller und Kirschbaum (2003, S. 11) der Fall: Die Bedeutung eines Wortes ist die Regel (die Konvention) eines Gebrauchs in der Sprache; diese lernt man, wenn man die Sprache lernt. Was ein Sprecher in einer bestimmten Situation mit einer bestimmten Verwendung eines Wortes meint, wollen wir den Sinn dieser Verwendung nennen. Das Situationswissen wird also in den Sinn einbezogen. Wenn beispielsweise geäußert wird Diese Publikation ist völlig schwachsinnig, ist nur durch den Kontext ersichtlich, dass schwachsinnig hier nicht seine usuelle Bedeutung ‘psychisch krank seiend’ hat. Es ist wahrscheinlich auch nicht gemeint, dass die Autoren psychisch krank sind, sondern, dass die Publikation so mangelhaft ist, dass sie von psychisch Kranken verfasst sein könnte. Es handelt sich um eine metaphorische Verwendung von schwachsinnig. 4.3.3 Weite Bedeutungsmodelle: syntaktische Modelle Vor allem Wissenschaftler, die von der Generativen Grammatik kommen (Jackendoff (1990), Pustejovsky (1993, 1995)), sehen in den syntaktischen Worteigenschaften, die von den Fügungspotenzen herrühren, wichtige lexikalische Bedeutungselemente. In „The Generative Lexicon“ fasst Pustejovsky dazu u. a. Folgendes zusammen (S. 238-239): 1. Interpretationen sollen in Kontexten erfolgen. 4 „432. Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? - Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? - Oder ist der Gebrauch sein Atem? “ (Wittgenstein, 1990, S. 273) 128 4 Lexikalische Semantik 2. Es soll eine potentiell infinite Menge von Sememen von finiten Ressourcen abgeleitet werden. 3. Die Bedeutungsbeschreibungen sollten u.a. formal sein, kreuzkategoriell und nicht nur die Restriktionen der Verbsemantik einbeziehen. In „Semantics and the Lexicon“ hatte er vier diesbezügliche Beschreibungsebenen als notwendig angesehen: Die Argumentstruktur (Argument structure) Die Ereignisstruktur (Event structure) Die Beschaffenheitsstruktur der Argumente (Qualia structure) Die Beziehungsstruktur (Lexical inheritance structure) Das Lexem brother hat bei ihm (Pustejovsky, 1995, S. 152) die semantische Struktur in Abbildung 4.5. Bezüglich Bruder wird ausgesagt, dass es ein relationales Sub- "brother" ARGSTR = QUALIA = ARG1 = x: human D−ARG1 = y: human CONST = male (x) FORMAL = brother_of (x,y) Abbildung 4.5: Semantische Struktur stantiv ist und nach dieser Strukturbeschreibung die Bedeutung hat, ein männlicher Mensch zu sein (x) und in einer Verbindung zu einem anderen Menschen zu stehen (y). 4.3.4 Kompositionelle Bedeutungsbeschreibung 4.3.4.1 Methodik der Bedeutungsbeschreibung Neben der Frage, was zur Bedeutung eines Wortes gehört, ist auch umstritten, wie die Beschreibung erfolgen soll, ob sie formalisiert sein sollte oder nicht, ob die Bedeutungen kompositionell, dekompositionell oder ganzheitlich erfasst werden sollen. Auch hier heiligt der Zweck die Mittel. Wenn eine wissenschaftliche Beschreibung angestrebt wird, sollte man sich u. E. aber um Formalisierung bemühen, weil nur so vom Einzelfall zum Generellen und auf neue Fälle nachvollziehbar übergegangen werden kann. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 129 4.3.4.2 Logische Komponentenanalyse 4.3.4.2.1 Allgemein Die logische Komponentenanalyse geht vor allem auf den polnischen Logiker K. Ajdukiewicz (1890-1963) zurück und verwendet das Inventar der Kategorialen Grammatik und der Modelltheoretischen Semantik. Sie will nur die logische Form erfassen und stellt in ihrer klassischen Form eine Rekognitionsbeschreibung (Anerkennungsbeschreibung hinsichtlich der Wohlgeformtheit) dar. Sie definiert bedeutungshaltige Wörter auf der Satzebene. Der Bezug zur Satzebene berücksichtigt vor allem die relationalen Eigenschaften der Wörter. Die Bedeutungen komplexer Ausdrücke werden nach dem „Frege-Prinzip“ aus den Bedeutungen der Teilausdrücke ermittelt, das heißt kompositionell. 4.3.4.2.2 Grundinventar an Bedeutungskategorien Auf der Satzebene werden zwei lexikalische Grundkategorien (Name und Satz) unterschieden, die sich nach Ajdukiewicz (1988) durch den Sinn der Wörter ergeben: Namenkategorien (N) bedürfen keiner Ergänzung. Satzkategorien (S) beinhalten im Regelfall Argumente und Funktoren (Prädikate) und haben, wenn sie wohlgeformt sind, einen Wahrheitswert. Die nachfolgende Übersicht führt die wichtigsten Komponenten auf der Satzebene auf (ausführlicher bei von Heusinger (1991)). Komponente Abkürzung Beispiel Satz S Das blaue Meer rauscht leider immer. Name N Meer einstellige Prädikate S/ N rauscht zweistellige Prädikate S/ NN überflutet dreistellige Prädikate S/ NNN hilft Artikel N/ N das Adjektivattribut N/ N blaue Adverb (S/ N)/ (S/ N) immer Satzadverb S/ S leider Für den Beispielsatz Leider rauscht das blaue Meer. können wir zur Durchführung des Wohlgeformtheitstests folgende Strukturübersicht aufstellen: 130 4 Lexikalische Semantik Leider rauscht das blaue Meer S/ S S/ N N N S S N/ N N/ N N Abbildung 4.6: Wohlgeformtheitsprüfung Der Satz ist wohlgeformt, weil er die Kategorisierung S erhalten kann. Der gesamte zusammengesetzte Ausdruck bestimmt u.a. den Wert von ungesättigten Zeichen (Funktoren). So hat das Adverb immer im nachfolgenden Satz den Wert (S/ NN)/ (S/ NN), weil es zu dem divalenten Verb katalogisieren tritt. (21) Ein Wissenschaftsbeamter katalogisiert immer etwas. Ein komplexer Ausdruck kann erst hinsichtlich seiner Bedeutung (Wahrheit) beurteilt werden, wenn alle Argumentstellen (alle Ns) durch einen Quantor gebunden sind, d. h. wenn interpretiert wird, um welche Mengen es sich handelt: • Ein N kann für eine Teilmenge stehen, es wird dann mit dem partikulierenden Existenzoperator (auch Partikularisator genannt) quantifiziert. Formalisiert mit v oder ∃ (= Es gibt mindestens ein Element x in der Menge y, für das gilt . . . ). (22) Einige / viele / die meisten Männer irren. • Ein N kann für eine Menge stehen, der Alloperator (auch Generalisator) quantifiziert es dann (= Für jedes Element gilt . . . ). Symbolisiert durch λ oder ∀ . (23) Ein (alle) Mann irrt immer. • Ein N kann für ein Individuum stehen, es wird dann mit dem namenbildenden Jotaoperator (auch Kennzeichnungsoperator) quantifiziert (symbolisiert durch ι . = Dasjenige x, für das gilt . . . ). (24) Ein (bestimmter) Mann, Sven Schmidt, irrt. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 131 Auf der Wortebene können Wörter in semantische Bausteine (Primes) zerlegt (dekomponiert) werden. Darüber, wie diese Bausteine zu gewinnen sind, gibt es unterschiedliche Auffassungen (vgl. Wierzbicka (1996)). Die universalistischen Auffassungen gehen davon aus, dass sie aus der semantischen Analyse aller natürlichen Sprachen gewonnen werden sollten (so z. B. Bierwisch (1967, S. 2)). Andere relativistische Auffassungen betonen in Anlehnung an W. v. Humboldt die kulturellen Unterschiede zwischen den Sprachen und wollen sprachspezifische Bausteine annehmen. Es gibt Ansätze, die in den Primes konzeptuelle Gegebenheiten sehen und andere, die sie nur als Beschreibungsmittel ansehen. In jüngerer Zeit ist vor allem Wierzbicka (1996) mit ihren diesbezüglichen Untersuchungen hervorgetreten. Sie möchte, um die Bedeutungen der Einzelsprachen zu beschreiben, eine die „lingua metalis”’ repräsentierende Metasprache schaffen, die aus „semantic primitives”’, die als „indefinables“ anzusehen sind, besteht. Die Primes sind vor allem „indefinable words“, d. h. sie besitzen jeweils als signifiant eine Realisation in den natürlichen Sprachen. Diesen „semantic Primitives“ gehören in der Darstellung von 1996 zu 22 Gruppen, beispielsweise die der • mentalen Prädikate: THINK, KNOW, WANT, FEEL • Aktionen und Ereignisse: DO, HAPPEN • Evaluierer: GOOD, BAD • Beschreiber: BIG, SMALL • Zeit: WHEN, BEFORE, AFTER • Substantive: I, YOU, SOMEONE, SOMETHING, PEOPLE Wierzbicka versucht die objektivistische und relativistische Sicht in der Weise zu versöhnen, dass sie auch kulturspezifische Primes annimmt. Andere Forscher gehen in der Dekomposition noch weiter und nehmen Merkmale an, die speziellere Objektcharakteristika kennzeichnen. Beispielsweise kann PEOPLE u. a. noch weiter mit ± PARENT (Eltern von bzw. Kind von) oder ± MALE (männlich bzw. weiblich) zerlegt werden. Das relationale Substantiv Mutter [N/ N] bekäme die Beschreibung in (25) und das zweiwertige kochen [S/ NN], die in (26). (25) Mutter: <people>: <+ parent> <+ weiblich> (26) kochen: X TU-KAUS Y WERD-ZU NEG ROH 5 5 Zu lesen: jemand tut etwas und bewirkt, dass etwas nicht mehr roh ist. 132 4 Lexikalische Semantik Im Rahmen der hier vorgelegten Einführung in die Lexikologie wird auf weitere notwendige Komponenten der logisch adäquaten Beschreibung nicht eingegangen. Sie können sich dazu (z. B. zur Lambda-Abstraktion) u. a. bei Zifonun u. a. (1997) informieren. 4.3.4.3 Semanalyse Die Idee, Wortbedeutungen in kleinste, universelle Merkmale zu zerlegen, hat viele Väter und dementsprechend gibt es verschiedene Namen für diese Grundbausteine (Marker, Plerem, Noem, . . . ). Im deutschsprachigen Raum hat sich das Fachwort Sem, das auf Pottier (1963) zurückgeht, durchgesetzt. Bereits im klassischen Strukturalismus (in der Prager phonologischen Schule und in der Glossematik von L. Hjelmslev) wurde mit distinktiven Merkmalen bzw. Inhaltsfiguren gearbeitet. Seme sind universelle, überschaubare und eindeutige Bausteine der Wortbedeutung. Sie sind strukturiert, d. h., sie stehen zueinander im Verhältnis der Über-, Neben- und Unterordnung, wie in (27) angedeutet ist. (27) Wissenschaftlerin <stofflich> <belebt> <human> <weiblich> <erwachsen> <studiert> <in Wissenschaft tätig> Kritisch wurde das Verfahren, Bedeutungen mittels kleinster Bausteine beschreiben zu wollen, vor allem deshalb betrachtet, weil der Anspruch dies restfrei und eindeutig tun zu wollen, mit der Eigenschaft der Unbestimmtheit der Wortbedeutungen nicht vereinbar ist. Blank (2001, S. 20) fasst die bisher geäußerte Kritik zum Status der semantischen Merkmale treffend zusammen: Sind sie alle notwendig und inwieweit müssen konkrete Referenten alle Merkmale aufweisen, um als Realisierung des Konzepts bzw. des Semems erkannt zu werden? Anders gefragt: Wann hört der Stuhl auf, ein Stuhl zu sein, und wann beginnt der Bereich des Sessels? Warum können wir einen Hund als solchen erkennen, auch wenn er nur drei Beine hat (widerspricht dem Merkmal [Vierbeiner]) oder tot ist (Merkmal [belebt])? Wir stimmen Blank auch zu, wenn er darin nur ein Scheinproblem aus der Sicht der Strukturellen Semantik sieht, da mit den Merkmalen die prototypischen Vertreter beschrieben werden. Fundamental ist sein folgender Einwand (Blank, 2001, S. 21): 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 133 Auf der anderen Seite zeigen konkrete Referenten, die ein semantisches Merkmal nicht realisieren, die wir aber dennoch der entsprechenden Kategorie zuordnen und mit dem sprachlichen Zeichen benennen können, doch ein Problem der Merkmalsemantik auf. Der dreibeinige Hund und die kaputte Tasse haben nämlich etwas, was allein mit semantischen Merkmalen nicht erfasst werden kann, etwas ‘typisch Hundehaftes’, ‘typisch Tassenhaftes’, was in unseren Augen den Kern der Sache ausmacht. Es kommt hier eine ganzheitliche Wahrnehmung mit ins Spiel, die sich nicht aus den semantischen Merkmalen und nicht einmal aus der Summe der Merkmale ergibt. Damit wird noch einmal klar, dass die Strukturelle Semantik nicht Sachen oder Konzepte, sondern immer nur Wörter einer Einzelsprache und dass sie letztlich nur eine semantische Teilbeschreibung liefern kann. Die resignative Bewertung der Strukturellen Semantik teilen wir nicht. Wir sehen es als ein positives Faktum an, wenn die Bedeutungen von Wörtern beschrieben werden, und die Strukturelle Semantik beschreibt die Bedeutung von Wörtern und weiter nichts. Mehr will und muss sie auch nicht tun. Es gibt verschiedene Ansätze, die Merkmale zu klassifizieren und ihre Gewinnung auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Ein wichtiger Versuch, an den wir uns hier anlehnen wollen, ist der von Viehweger (1977), der u. a. den Vorzug hat, dass er die Lexembeschreibung im Satz, in der Verwendung vollzieht. Damit gelingt es, u. a. die Probleme der Unbestimmtheit in den Griff zu bekommen. Es wird damit das sogenannte Kontextprinzip anerkannt, das schon G. Frege als beachtenswert angesehen hat. Er verlangte, dass die Bedeutung von Wörtern im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung erfragt werden müßte. Wir wollen wie Viehweger zwei Hauptarten von Semen unterscheiden, inhaltliche und strukturelle, die mittels eines Algorithmus aufgezeigt werden können, der die Bedeutungen der Wörter im konkreten Satz sichtbar macht. Algorithmus der Semanalyse Inhaltliche Semarten • Objektseme Die Objektseme geben die notwendigen Merkmale für die Identifizierung der „Objekte“ an (siehe Beispiel in (28)). • Wertungsseme Die Wertungsseme (<positiv>, <negativ>) geben, wenn vorhanden, an, wie die Sprechenden das „Objekt“ bewerten. 134 4 Lexikalische Semantik (28) Porsche kommt von der Straße ab. (Welt am Sonntag, 18.08.2002) <stofflich> <vorgang> <unbelebt> <orientierung verlieren> <auto> <negativ> • Verallgemeinerungsseme Die Verallgemeinerungsseme entsprechen der Quantifizierung in der logischen Bedeutungsbeschreibung. <gener> meint die Generalisierung in Richtung einer ganzen Klasse. <singul> bezieht sich auf Einzelstücke und <partik> auf einige Elemente aus einer Klasse. (29) Aber so Frauen (<gener>) wie Jenny Elvers (<singul>) so Möchtegern- Schauspielerinnen (<gener>), davon laufen bei uns einige Frauen (<partik>) in echt rum. (Rainald Goetz: Abfall für Alle) • Sprechaktseme (Verzeitungs- und Deixisseme) Die Deixisseme (<deikt>) treten bei Lexemen auf, die semantisch in der Weise unterspezifiziert sind, dass sie obligatorisch Informationen zum Urheber der Äußerung bzw. zum Adressaten (ich, du, . . . ), etc. benötigen. <deikt>-Seme können, wenn ihr Anker (Bezugspunkt) im verbalisierten Text liegt, in anaphorische (<anaph>) und kataphorische (<kataph>) modifiziert werden (vergl. dazu Consten (2004)). <anaph>-Seme sind rückbezüglich. (30) Seit genau 15 Jahren ist Alan Greenspan im Amt. Kaum einer (<anaph>) bewegt die Finanzmärkte wie er (<anaph>). Welt am Sonntag, 18.08.2002 <kataph>-Seme sind vorausweisend. (31) Er (<kataph>) war der König einer ganzen Generation. Dank Elvis . . . Welt am Sonntag, 18.08.2002 Die zeitlichen Seme setzen die absolute und relative Zeitbedeutung fest. Die absolute Zeitbedeutung (Verhältnis zwischen Handlungs- und Kommunikationszeit) kann gegenwärtig (<gegenw>), vergangen (<verg>), zukünftig (<zukunft>) und allgemeingültig (<allg>) sein. Im Deutschen gibt es keine Eins-zu-eins-Zuordnung von Zeitbedeutung und Tempusformen beim Verb. Die Zeitlichkeit wird deshalb auch mit lexikalischen Mitteln (Adverbien, . . . ) ausgedrückt. In (32) wird dies am Beispiel des Präsens sichtbar. 4.3 Methoden der Wortbedeutungsbeschreibung 135 (32) a. Ich will küssen! Küssen, sag ich! <zukunft> (Goethe: Westöstlicher Divan) b. Und nun leb wohl, „Schatz und Augentrost“, grüße, küsse und sei geküßt von Deinem Theodor. <gegenw> (Fontane: Brief 12.06.1863) c. Seit gestern schießt und küßt er wieder: James Bond. <vergangen> (Mannheimer Morgen, 29.12.1995) d. Warum küssen sich die Menschen? <allg> (Scheffel: Der Trompeter von Säckingen) Die relative Zeitbedeutung zeigt das zeitliche Verhältnis zwischen zwei verbalisierten Handlungen auf (33). Die Handlungen können gleichzeitig (<gleichz>), vorzeitig (<vorz>) und nachzeitig (<nachz>) ablaufen. (33) a. Küsse mich, sonst küss’ ich dich. <vorz> (Gretchen im „Faust“) b. Außerdem habe ich es zugelassen, daß er mich küßt. <nachz> (V. Larsen: Die heimlichen Wege der schönen Prinzessin) c. Heiko (22) umarmt eine DRK-Schwester und küßt sie. <gleichz> (Bildzeitung, 08.10.1989) • Realitätsgradseme Realitätsgradseme geben an, ob eine Aussage von dem Kommunizierenden als reale Feststellung (<.>), als etwas Gewünschtes oder Gewolltes (<! >) oder Unbekanntes (<? >) markiert wird (34) . (34) Als alle fort waren, beschloß ich, zu dem Toten hinüberzugehen. <.> E. v. Keyserling: Schwüle Tage (S. 87) Strukturelle Semarten beinhalten: • den kategorialsemantischen Status der Lexeme (siehe oben) Die kategorialsemantischen Seme geben an, ob es sich um eine Satz- oder Namenkategorie bzw. um einen Funktor 6 handelt. • Argumentstellenrelationen Die Seme der Argumentstellenrelation geben bei Funktoren an, ob die Argumentstellen symmetrisch bzw. transitiv zueinander sind. Die Relation der Symmetrie (<sym>) liegt dann vor, wenn die Argumente vertauscht werden können (35) . 6 Ein Ausdruck der einen anderen Ausdruck näher bestimmt. 136 4 Lexikalische Semantik (35) Peter und Sven sind gleich groß. = Sven und Peter sind gleich groß. gleich groß = <sym> Asymmetrisch (<asym>) sind die Argumentstellen zueinander, wenn der Argumentstellentausch zum Bedeutungswandel führt (36) . (36) Peter ist älter als Klaus. = ∗ Klaus ist älter als Peter. älter = <asym> Mesosymmetrisch (<mesosym>) ist das Argumentstellenverhältnis, wenn der Argumentstellenaustausch zu Bedeutungsgleichheit führen kann, aber nicht muss (37). (37) Peter streitet mit Klaus. = ? Klaus streitet mit Peter. streiten = <mesosym> Die Relation der Transitivität (<trans>) liegt dann vor, wenn zwei Argumente mit einem dritten in der gleichen Relation stehen (38). (38) Ein Porsche ist schneller als ein Opel. + Ein Opel ist schneller als ein Trabi. = Ein Porsche ist schneller als ein Trabi. schneller = <trans> Argumente sind nichttransitiv (<atrans>), wenn die drei Argumente nicht in der gleichen Relation stehen (39). (39) Peter ist der Vater von Klaus. + Klaus ist der Vater von Sven. = ∗ Peter ist der Vater von Sven. Vater sein = <atrans> Die Relation der Mesotransitivität (<mesotrans>) liegt vor, wenn die Argumente in der gleichen Relation stehen können, aber nicht müssen (40). (40) Peter ist ein Freund von Klaus. + Klaus ist ein Freund von Inge. = ? Peter ist ein Freund von Inge. Freund sein = <mesotrans> 4.4 Unbestimmtheit der Bedeutung 137 Der Algorithmus der Semanalyse nach Viehweger soll abschließend am Beispiel ( 41) nochmal aufgezeigt werden (vgl. Tabelle 4.1). (41) Mancher Philologe weiss alles besser! Mancher Philologe weiss alles besser (Objektseme) <anzahl> <menschlich> <tätigkeit> <menge> <nicht alle + <erwachsen> <besitzen> <jedes element> mehr als eins> <studiert> <kenntnisse mehr <lehrend / forschend als andere> über sprachen> <abwertend> (Verallgemeinerungsseme) <partik> <gener> (Sprechaktseme) <deikt> <allgemein> <deikt> (Realitätsgradseme) < ausruf > (Strukturseme) N/ N N S/ NN N <asym> <atrans> Tabelle 4.1: Semanalyse 4.4 Unbestimmtheit der Bedeutung 4.4.1 Einordnung der Problematik Naive Auffassungen von der Sprache und dem Wortschatz gehen davon aus, dass im Idealfall eine Sprachform mit einer Bedeutung verbunden sein soll. Dies ist weder so, noch wünschenswert, weil die Inhalte der Wörter von dem sprachlichen und nichtsprachlichen Kontext abhängig sind bzw. an ihn angepasst werden müssen. Aus diesem Grund sind sie auch vage. So kann in der Regel nicht genau bestimmt werden, ob eine Zimmerecke genau rechteckig ist, bevor man sie bezeichnet. Dies ist in der Alltagssprache auch nicht nötig, da alle Kommunizierenden über die Ungenauigkeiten Bescheid wissen. Auch die Mehrdeutigkeit ist in der Alltagssprache kein Mangel. Sie ermöglicht eine effektive und erfolgreiche Kommunikation. Auffassungen, wie sie die analytische Philosophie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat, die es als Aufgabe der Sprachtheorie ansah, die Rekonstruktion einer präzisen und eindeutigen Sprache vorzunehmen, werden heute nicht mehr geteilt. So meinte Carnap: 138 4 Lexikalische Semantik Mit der Zeit wurde mir klar, daß unsere Aufgabe, die Planung von Sprachformen ist. Planen heißt, sich die allgemeine Struktur eines Systems auszudenken und an verschiedenen Stellen des Systems eine Wahl unter vielfältigen, theoretisch unendlichen Möglichkeiten zu treffen, und zwar so, daß die vielfältigen Merkmale zusammenpassen und das sich ergebende Gesamtsystem bestimmte vorgegebene Anforderungen erfüllt. (Carnap, 1993, S. 106) Die Unbestimmtheit (auch Unterspezifikation genannt) tritt im Wortschatz in drei Formen auf. Darauf soll nachfolgend eingegangen werden: • die Kontextabhängigkeit • die Vagheit • die Mehrdeutigkeit 4.4.2 Kontextabhängigkeit Semantisch kontextabhängig sind zunächst einmal alle mehrdeutigen Wörter, weil erst der Kontext für die Hörenden entscheidet, welche Bedeutungsvariante gemeint ist. In dem Beispiel (42) bleibt bei der Kapitelüberschrift noch offen, ob Zosine ein Sportgerät zum Geburtstag bekommen hat. Erst durch das Lexem tanzt wird klar, dass die andere Lesart gemeint ist, dass es kein Sportgerät gewesen ist. (42) Zosines Geburtstagsball Ein Ball ist für ein junges Mädchen nicht allein ein Erlebnis, es ist eine Offenbarung. Wenn sie tanzt, . . . Tania Blixen: Die Rache der Engel. S. 47 Auch die deiktischen Wörter (Pronomen, Pronominaladverbien), von Bühler (1934) mit der Zeigefeldmetaphorik charakterisiert, bedürfen eines sprachlichen bzw. außersprachlichen Kontextes, um ihre „offenen semantischen Stellen“ zu schließen. Wer nach einer Urlaubsreise einen Zettel wie in (43) im Briefkasten vorfindet, kann wahrscheinlich damit nichts anfangen, weil unklar ist, wer ich, wann heute und wo dort ist. Wenn es sich um eine mehrköpfige Familie handelt, kann sie auch mit dich nichts anfangen. (43) Ich warte heute um 18: 00 Uhr dort auf dich. Kontextabhängigkeit ist auch den bewertenden, graduierenden und dimensionierenden Lexemen immanent. Sie erhalten ihren „Wert“ erst mit einer Maßangabe bzw. einem Bezugspunkt und dem Weltwissen (44). 4.4 Unbestimmtheit der Bedeutung 139 (44) a. x ist groß. x = Sven (ein Kind von 6 Jahren) = 1,50 Meter x = Sven (ein erwachsener Mann) = 1,90 Meter b. x ist schnell. x = ein Auto = fährt über 100 km/ h x = eine Schildkröte = 2 m/ h 4.4.3 Vagheit Während sich die kontextbestimmte Mehrdeutigkeit bei der Einbettung in einen Kontext auflöst, bleibt bei den semantisch vagen Wörtern bei ihrer Verwendung eine semantische Unbestimmtheit. Vage Wörter lassen immer einen gewissen Interpretationsspielraum zu. Die Logik hat dieses Phänomen u. a. durch die Einführung eines dritten Wahrheitswertes (neben wahr und falsch noch unbestimmt) zu lösen versucht. Wenn wir an einem Kiosk das Schild (45) vorfinden, können wir mit Blick auf unsere Uhr den Wahrheitswert genau feststellen. (45) Wir öffnen um 12: 00 Uhr. Wenn wir aber das Schild (46) angebracht finden, können wir uns vielleicht nach 15 Minuten fragen, ob überhaupt noch jemand kommt. Die Quelle der Ungenauigkeit ist das Wort gleich. (46) Wir kommen gleich wieder. In Anlehnung an Schwarze und Wunderlich (1985) wollen wir drei Klassen von vagen Wörtern unterscheiden. • Relative Wörter sind die vagesten, weil sie in jedem Kontext alternative Interpretationen zulassen (z. B. oft, gleich). • Überlappende Wörter besitzen einen exakten Kernbereich und unbestimmte Übergangszonen (z. B. Farbadjektive). • Punktuelle Wörter sind exakt definiert, werden in der Alltagssprache mit Abweichungen verwendet (z. B. rechteckig). 4.4.4 Mehrdeutigkeit Mehrdeutigkeiten, auch Ambiguitäten genannt, treten bei Lexemen in verschiedenster Form auf (47): (47) a. Polysemie (einmischen (hineinmischen in etwas - an etwas beteiligen)) b. Homonymie (Band (Buch - Stoffstreifen - Musikgruppe)) 140 4 Lexikalische Semantik c. Homophonie (wer - Wehr) d. Homographie (Montag(e) / "mo: nta: g@/ - Montage / mOn"ta: Z@/ ) Mehrdeutigkeiten werden in der Regel durch den Kontext aufgelöst. Für die Problematik der Mehrdeutigkeit sind die Homophonie (lautlich identisch, aber in der Schreibung unterschiedlich) und Homographie (Unterschiedliche Lautung, aber identische Schreibung) nicht so interessant, da die Formative Hinweise auf die Bedeutungsdifferenz geben, aber nur in einer Kommunikationsform entweder in der Rede oder der Schrift. Bei völlig identischen Formativen werden, je nachdem ob es feste, unterschiedliche Bedeutungsvarianten zu einem identischen Formativ im Lexikon gibt, in der traditionellen Lexikologie Kontextvarianten von Polysemie und Homonymie abgegrenzt. Kontextvarianten beziehen sich auf dieselben Referentenklassen und Konzepte. Durch die Vagheit der Bedeutungen ist es aber nicht immer leicht festzustellen, ob es sich um eine kontextuelle Variante eines Semems oder um ein eigenständiges Semem handelt. Wir verstehen unter Polysemie die reguläre Mehrdeutigkeit, d. h. mit einem Formativ werden mehrere Bedeutungsvarianten (Sememe) fest verbunden (wie in 48). (48) die Blume Semem 1: Pflanze, die Blüten hervorbringt (Blumen pflanzen) Semem 2: Blüte von einer Pflanze (An einer Blume riechen.) Semem 3: Duft, Aroma (Der Wein hat eine köstliche Blume) Semem 4: Schaum (Die Blume abtrinken) Semem 5: Schwanz (Jägersprache: Vom Hasen die Blume sehen) Dabei ist es für die heutigen Sprachverwender/ innen unerheblich, ob zwischen den Sememen historisch ein Zusammenhang besteht oder nicht. Wir legen deshalb auch die Etymologie nicht für die Abgrenzung von Polysemie und Homonymie zu Grunde, wie dies Blank (2001, S. 104) tut, wenn er feststellt: Polysemie wird hier also als synchronische Konsequenz von Bedeutungswandel gesehen [. . . ] Damit wäre zunächst auch eine Abgrenzung von der Homonymie möglich, die sich nicht durch Bedeutungswandel, sondern als Folge von Lautwandel ergibt. Ebenso sehen wir es als nicht machbar an, nach der Enge des Zusammenhangs der Sememe zu entscheiden, weil in den meisten Fällen Zusammenhänge hergestellt werden können. Wie auch bei dem von Conrad (1981, S. 107) u.a. angeführten Beispiel Bremse in den Bedeutungen INSEKT und HEMMSCHUH, die synchron auf Grund „völlig unterschiedlicher Bedeutung“ als Homonyme eingestuft werden. Man könnte aber eine metaphorische Beziehung über das gemeinsame Merkmal „Stachel“ konstruieren. Es bestehen zwischen den Sememen typische Relationen (Beispiele bei Kopf in (49)). 4.4 Unbestimmtheit der Bedeutung 141 (49) a. metaphorische Relation (ein Kopf [KÖRPERTEIL] vs. ein Kohlkopf, ein Brückenkopf ) b. metonymische Relation (ein Kopf [KÖRPERTEIL] vs. ein Euro pro Kopf ) Auf Bierwisch (1983) und Lang (1994) und deren Modell der Zweistufensemantik wurde unter 4.2 schon verwiesen. Ihr Modell der Konzeptverschiebung und Konzeptdifferenzierung zeigt auch die typischen Verbindungen zwischen den Konzepten auf. Man spricht in dieser Hinsicht auch von konzeptueller Mehrdeutigkeit. Man nimmt bei einem Wort eine Bedeutung (Semantische Form) an, die in verschiedenartigen Kontexten unterschiedliche begriffliche Interpretationen (Konzeptfamilien) erfährt. Beim Beispiel Buch könnte sich das folgendermaßen darstellen: 1. Die semantische Form: GEGENSTAND x MIT INHALT y 2. Die Konzeptfamilie: • BUCH 1 : INFORMATIONSMITTEL (Das Lehrbuch liegt auf dem Tisch.) • BUCH 2 : DING (Das nasse Buch ist nicht mehr zu retten.) • BUCH 3 : GATTUNG (Die Rolle des Buches hat sich durch die Erfindung der elektronischen Medien verändert.) Die Einführung von Buch in konkrete Texte führt zur „Verschiebung der Konzepte“, eines der drei Konzepte wird aktualisert. Löbner (2003) beispielsweise, der das traditionelle Polysemie-Homonymie-Konzept vertritt, führt aus: Etwas vereinfacht gesagt handelt es sich bei Homonymie um Lexeme mit verschiedenen Bedeutungen, die zufällig dieselbe Form haben. Von Polysemie spricht man dagegen, wenn ein Lexem ein Spektrum von zusammenhängenden Bedeutungsvarianten hat, wenn also [. . . ] nur „kleinere “ Bedeutungsvariation vorliegt. Er unterscheidet noch zwischen „totaler und partieller Homonymie“ (Löbner, 2003, S. 59): Totale Homonymie liege dann vor, wenn Lexeme außer in ihrer Bedeutung in allen Lexemeigenschaften, „insbesondere in ihrem gesamten Formenspektrum“ übereinstimmen, wie bei Weiche 1 (’Gleisverbindung’) und Weiche 2 (’Körperteil’). Partielle Homonyme stimmten nicht in allen Formen überein, wie bei Bank: Banken vs. Bänke. Wie schon angedeutet, liegt das Problem bei den so genannten totalen Homonymen, bei der Bestimmung bzw. Beurteilung des vorhandenen bzw. hier nichtvorhandenen Bedeutungszusammenhanges. 142 4 Lexikalische Semantik Von Homonymen, von homonymischer Mehrdeutigkeit (Gleichnamigkeit von Wörtern) sprechen wir nur dann, wenn zu den Bedeutungsvarianten wesentliche grammatische Unterschiede kommen. Das sind insbesondere Artikel-, Numerus- und Wortartunterschiede: • Artikelunterschied der Erbe, das Erbe; der Leiter, die Leiter • Pluralform die Banken, die Bänke • Wortartunterschied das Essen, essen 4.5 Kognitive Bedeutungsbeschreibungen 4.5.1 Allgemeine Einordnung Aus der Psychologie wurden in jüngerer Zeit Bedeutungsbeschreibungen in die Linguistik übernommen, weil man damit u. a. hoffte, das Problem der Bedeutungsunbestimmtheit besser einbeziehen zu können. Im Zentrum der Beschreibung steht bei kognitiven Beschreibungen der Begriff (das Konzept), der häufig nicht von der Bedeutung abgegrenzt wird bzw. gleichgesetzt wird, so auch bei Löbner (2003, S. 24): Auch die Bedeutung des Wortes Hund, die allgemeine Beschreibung eines Hundes, muss etwas sein, das sich im [. . . ] Kopf befindet. Es muss Wissen sein, das direkt mit dem lautlichen Muster des Wortes verknüpft ist. Die Bedeutung ist daher eine m e n t a l e Beschreibung. Mentale Beschreibungen werden allgemein Konzepte genannt. Die Grenzen zwischen den Begriffen werden als unscharf angesehen, so dass nicht alle Vertreter einer Kategorie die gleichen Charakteristika haben. Sie zeichnen sich aber durch die so genannte Familienähnlichkeit aus. Wittgenstein (1997, S. 66-67) hat dies in den „Philosophischen Untersuchungen“ sehr schön am Beispiel des Begriffs „Spiel“ dargestellt. Es heißt dort: Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‘Spiele’ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. ˙ Was ist allen diesen gemeinsam? [. . . ] wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.[. . . ]. Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. [. . . ] Ich kann 4.5 Kognitive Bedeutungsbeschreibungen 143 diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‘Familienähnlichkeiten’; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. 4.5.2 Prototypensemantik 4.5.2.1 Allgemeine Charakteristik Die Prototypensemantik hat ihre Ursprünge in der Prototypentheorie der experimentellen, kognitiven Psychologie (E. Rosch vor allem). Sie wurde jedoch auch von Philosophen (L. Wittgenstein, H. Putnam), Sprachwissenschaftlern (H. Paul, K. O. Erdmann) und strukturellen Linguisten (Greimas, Portier u. a.) vorbereitet. Die Termini Familienähnlichkeit und Stereotyp meinen Ähnliches wie Prototyp. Gemeinsam ist allen, dass am aristotelischen Objektivismus gezweifelt wird. Man glaubt nicht, dass eine abgegrenzte Menge von notwendigen Eigenschaften konstitutiv für das Aufstellen und Erkennen einer Kategorie ist. Man geht deshalb nicht von der logischen Wesensanalyse aus, sondern stellt referentielle Ähnlichkeiten ins Zentrum der Kategorisierungen. Außerdem hat man u. a. durch psychologische Experimente festgestellt, dass nicht alle Begriffe gleich wichtig für das Kommunizieren und das Erlernen der Sprachen sind. Es gibt welche, die werden im Kommunikationsprozess schneller erkannt bzw. zugeordnet als andere. Die Analyse der Farbwörter war auch sehr wichtig für das Entstehen kognitiver Bedeutungsmodelle. Die Untersuchungen von Berlin und Kay (1969) erbrachten folgende Ergebnisse: (50) a. Es gibt zentrale, prototypische und randständige Vertreter einer Farbe (blutrot vs. pink). b. Die prototypischen Farben haben universellen Status. c. Die einzelnen Sprachen haben zwar unterschiedlich viele Grundfarbenwörter, sie haben aber wahrscheinlich typische Hierarchien: schwarz/ weiss < rot < gelb < blau < braun < grau/ orange/ lila/ rosa. Blutner (1995, S. 230) meint, dass die psychologischen Mechanismen der Kategorienbildung „auf die typischen oder charakteristischen Merkmale der Kategorien“ zurückzuführen seien. „Ein zu klassifizierendes Objekt wird derjenigen Kategorie zugeordnet, deren Prototyp es am ehesten ähnelt.“ 4.5.2.2 Prototypen Über die Repräsentation der Prototypen gibt es unterschiedliche Auffassungen; diese 144 4 Lexikalische Semantik hier darzustellen, würde den gewählten Rahmen sprengen. Wahrscheinlich ist es auch so, dass nicht alle Begriffe in gleicher Weise gespeichert sind (Merkmalsets, Bilder oder Schemata). In der klassischen Standardversion wird Prototypikalität als Ähnlichkeit mit einem typischen Referenten (z. B. „beste“ Tasse) und/ oder als das Vorhandensein aller typischen Merkmale (z. B. „typischer“ Vogel) definiert. Dabei wird eine kulturelle Abhängigkeit angenommen. So gibt es in Deutschland einen anderen typischen Vogel („Spatz“) oder eine andere typische Obstsorte („Apfel“) als in Australien („Zebrafink“, „Kiwi“). Der Prototyp zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus: • Er ist der typischste Vertreter seiner Kategorie. • Er hat die maximale Ähnlichkeit mit den Vertretern seiner Kategorie und die geringste Ähnlichkeit mit Vertretern von Kontrastkategorien. • Er wird schneller zugeordnet und erkannt. • Er wird in der Ontogenese eher erworben. • Er dient als Bezugspunkt für Gedächtnisleistungen. Die prototypischen Begriffe werden der Basisebene der begrifflichen Kategorisierung zugeordnet. Sie sind deshalb keine komplexen und speziellen Begriffe, wie die Abbildungen 4.7 und 4.8 aufzeigen sollen. Während Möbel ein zu allgemeiner Begriff ist, sind Drehstuhl, Küchenstuhl und Hocker zu spezielle Begriffe, die auch schwer voneinander abgrenzbar sind. Möbel Schrank Drehstuhl komplexe Kategorie Basiskategorie spezielle Kategorie Stuhl Sofa Tisch Küchenstuhl Hocker Abbildung 4.7: Begriffsstruktur Fußball ist im deutschen Sprachraum ein typisches Sportspiel, das deutlich von Handball oder Volleyball abgrenzbar ist. Frauenfußball ist noch weniger bekannt und schlecht abgrenzbar von Mädchenfußball, da in den Frauenmannschaften oft sehr jugendliche Frauen spielen (vgl. Abbildung 4.8 auf der nächsten Seite). 4.5 Kognitive Bedeutungsbeschreibungen 145 Sport komplexe Kategorie Frauenfußball spezielle Kategorie Fußball abgrenzbare Kategorie Spiel komplexe Kategorie Abbildung 4.8: Komplexität der Begriffe 4.5.3 Frames und Scripts 4.5.3.1 Allgemeine Charakteristik Wie Weiermann (2000, S. 5) zusammengefasst hat, „unterscheidet man prinzipiell zwei Arten von Wissensrepräsentationen: 1. die interne Wissensrepräsentation, die in einem einzelnen menschlichen Gehirn existiert und mit kognitiven Modellen von Objekten unserer Welt operiert; 2. die externe Wissensrepräsentation, die außerhalb des Gehirns existieren kann und damit transferierbar ist. Dessen wichtigste Form ist die Sprache.“ Mit der Struktur der Wissensrepräsentationen beschäftigen sich neben der Linguistik auch die „Bindestrichdisziplinen“: Die Psycholinguistik fragt nach der internen Wissensrepräsentation im Gehirn und stellt diesbezügliche kognitive Modelle auf. Sie geht davon aus, dass Begriffe in organisierten Strukturen (Netzen) agieren. Es wird zwischen Tatsachenwissen in konzeptuellen Strukturen (Frames) und Prozeduralwissen in Äußerungsnetzen (Scripts 7 ) unterschieden. Frames „beschreiben“, was es gibt, und Scripts, wie etwas zu tun ist bzw. wie etwas geschieht. Auch die Computerlinguistik stellt Modelle für die Wissensrepräsentation zur Verfügung und eröffnet vor allem die Möglichkeit, mittels Simulationen Theorien und Modelle hinsichtlich ihrer theoretischen und empirischen Adäquatheit zu überprüfen. Weber (1999, S. 15) stellt „Grundmerkmale semantischer Repräsentationssystem und -elemente“ gegenüber: (51) a. deskriptive (natürlichsprachlich oder künstlichsprachlich basiert) und prozedurale Repräsentationen b. strukturale und funktionale/ relationale Repräsentationen 7 Auch Szenarien genannt. 146 4 Lexikalische Semantik Die Repräsentationen können nach der analytischen Methode vorgehen (dekompositionell) oder nach der synthetischen Methode, die kategorielle Konstruktionen vornimmt, mittels logischer, ontologischer oder konzeptueller Kategorien. Bei dieser analytischen Methode werden die Bedeutungen nicht durch Zerlegungen in kleinere Einheiten (Dekomposition), sondern als Einheiten in Hierarchien oder in Netzen, also aus den Relationen, ermittelt. Da nicht nach der isolierten Einzelbedeutung gefragt wird, wird diese analytische Methodik auch als funktionale Wissensrepräsentation bezeichnet. Sowohl aus der strukturellen Sprachwissenschaft, der Psycho- und der Computerlinguistik sind Erkenntnisse in die Frames- und Scriptskonzeptionen der heutigen Linguistik eingegangen. 4.5.3.2 Frames Der Framebegriff wurde 1975 durch Minsky in der hier verwendeten Bedeutung in die Linguistik eingeführt („situationsspezifisches verfügbares ‘Wissen’, das mit der Verwendung von lexikalisierten Ausdrücken verbunden ist“ (Konerding, 1993, S. 165)). Diese Art der Wissensbeschreibung hat ihren Ursprung im Schemabegriff der Kognitionspsychologie und wurde seitdem in vielfältiger Form weiterentwickelt. Psycholinguistische Begriffsnetze (wie bei Hoffmann (1986)) nehmen an, dass diese Begriffsnetze unterschiedliche Arten von „Merkmalen“ enthalten (52): (52) a. Begriffliche (sensorische, . . . ) Begriffshierarchien: Oberbegriffe [ob], Unterbegriffe [ub], . . . b. wertende und affektive [w] c. stereotype Attribute [a] d. sprachliche [s] Die Abbildung 4.9 auf der nächsten Seite zeigt das am Beispiel Frauenfußball. Frameartige Repräsentationen in der Computerlinguistik gehen davon aus, dass sie Modelle für Gedächtnisstrukturen anfertigen, „die dem Phänomen stereotypischer Erinnerungsmuster“ Rechnung tragen (Reimer, 1991, S. 159); Frames setzen sich hier „aus mehreren Slots zusammen, die in manchen Frame-Sprachen auch ‘Rollen’ genannt werden. Diese Slots stehen dabei jeweils für ein Beschreibungsmerkmal des durch den Frame repräsentierten Konzeptes. Entsprechende Merkmalsausprägungen werden durch Slot-Einträge dargestellt.“ (Weiermann, 2000, S. 15) So hat bei Reimer (1991) Hochgebirge drei Slots mit den Benennungen „Flora“, „Fauna“ und „Landschaft“. Diese Slots besitzen wiederum Slot-Einträge, die für „Landschaft“ sind in der Abbildung 4.10 auf der nächsten Seite aufgeführt. 4.5 Kognitive Bedeutungsbeschreibungen 147 WA: +N Frauenfußballmannschaft Fußball ob a a ob ub Mannschaftsspiel a Frauenfußball Fußballspiel a GF: "Frauenfußball" Ballspiel a Wettkampf s 2 X 11 Mitspielerinnen Abbildung 4.9: Frame schroffe Felsen Steilheit gross Gestein ... Geröllhalde Material Geröll ... Schneehalde Material Schnee ... Landschaft Abbildung 4.10: Slotbeispiel nach Reimer 148 4 Lexikalische Semantik 4.5.3.3 Scripts Scripts sind gespeicherte „Drehbücher“ für Handlungsabläufe, die es uns ermöglichen, ökonomisch zu kommunizieren. So braucht bei einem Fußballspiel der Schiedsrichter nicht erst erklären, warum und wieso er befugt ist, eine rote Karte zu zeigen, oder er muss den Spielern nicht erklären, was dieses Rote-Karte-Zeigen bedeutet (vgl. Abbildung 4.11). T(orhüter) steht im Tor & E(lfmeterschießende(r)) 11 Meter vorm Tor T hält Ball E trifft mit Ball ins Tor kein Treffer für Mannschaft von E Ein Treffer für Mannschaft von E E schießt den Ball aufs Tor Abbildung 4.11: Script Bei der Beschreibung der Scripts wird das beschriebene Ereignis in seiner prototypischen Form in seine Teilereignisse zerlegt. Es werden außerdem die Eingangsbedingungen angegeben, die erfüllt sein müssen, damit die repräsentierte Ereignisfolge überhaupt eintreten kann, und es wird der Ereigniszustand beschrieben, der durch die Ereignisfolge entsteht (Reimer, 1991, S. 209-210). 4.6 Stereotypensemantik Die Stereotypensemantik, die der amerikanische Philosoph H. Putnam in seiner Publikation „The meaning of meaning“ entwickelt hat, ist nicht mit der angebrachten Aufmerksamkeit in der Linguistik aufgenommen worden. Sie hat den Vorzug, dass sie neben dem kognitiven auch den sozialen Aspekt der Wortbedeutung berücksichtigt. Sie ist deshalb gut geeignet, die Bedeutung von Wörtern zu beschreiben. Putnam nimmt einen materialistischen Standpunkt ein, wenn er in der Extension den objektiven Teil der Bedeutung sieht, der von den Experten ermittelt wird und dem Wahrheitswert zukommt. Die Intension dagegen wird über stereotype Merkmale bestimmt, die auch sprachliche Charakteristika einschließen. Alle diese Merkmale 4.7 Bedeutungswandel 149 treffen nur auf die prototypischen Vertreter zu. So ist die Flüssigkeit der Saale Wasser, obwohl es weder farblos, noch geruchlos, wahrscheinlich auch nicht geschmacklos ist. Die Normalformbeschreibung einer Wortbedeutung sollte u. E. (in Anlehnung an Putnam) enthalten: • Die syntaktischen und morphologischen Wortmerkmale (Verb, . . . ) • Die semantischen Grundkategorien 8 (VORGANG, GEGENSTAND, STOFF, . . . ) • Stereotype Merkmale (würzend, . . . ) • Extensionsbeschreibung (NaCl, . . . ) Putnams berühmtes Wasserbeispiel erhält danach folgende Beschreibung: • Substantiv • STOFF, FLÜSSIGKEIT • farblos, durchsichtig, ohne Geschack, durstlöschend, etc. • H 2 O (mit und ohne Beimengungen) 4.7 Bedeutungswandel Nach Fritz (1998) hat seit Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die wissenschaftliche Beschäftigung mit der historischen Semantik international deutlich zugenommen. Dabei „zeigt sich eine Tendenz, historische Semantik unter der Perspektive der Sprachwandeltheorie und der Bedeutungstheorie zu betreiben“ (Fritz, 1998, S. 860); diese der Etymologie (Zurückführung der Wörter auf ihre Ursprungsform und Bedeutung) zur Seite zu stellen. Frühere Theorien so auch bei H. Paul legten dem Bedeutungswandel okkasionelle Abweichungen zu Grunde, die unter bestimmten Umständen usuell werden konnten. Bei diesen Erklärungen stand vor allem die Klassifikation (metaphorischer, metonymischer oder euphemistischer Gebrauch beispielsweise als Ausgangspunkt) im Zentrum und weniger der Prozess des Bedeutungswandels. Die diachronen strukturalistischen Semantiktheorien betrachteten besonders die begrifflichen, abgrenzenden Beziehungen zwischen den Wörtern (Wortfeldtheorien) und den Bedeutungswandel innerhalb der Felder. Ausgehend von der kognitiven Sematik wurde in der jüngeren Vergangenheit verstärkt nach Regularitäten des Bedeutungswandels gesucht. Diesem Konzept war auch 8 Die onthologischen Grundkonzepte nach Jackendoff (1983, 50-56). 150 4 Lexikalische Semantik A. Blank verpflichtet. Nach ihm können beim lexikalischen Bedeutungswandel drei Hauptvorgänge (Blank, 2001) unterschieden werden: der innovative, der reduktive und der verändernde. Innovativer Bedeutungswandel ist dadurch charakterisiert, dass zu der schon vorhandenen Bedeutung eine neue, feste Bedeutungsvariante hinzutritt. Dabei kommt es zum Entstehen bzw. zum Ausbau der Polysemie. Der Bedeutungswandel kann in drei Prozesse zerlegt werden: 1. Assoziation 2. Innovation 3. Lexikalisierung Der Assoziationsvorgang kann auf der Ähnlichkeit (Similarität), dem Kontrast oder der Kontiguität (Nachbarschaft) der Denotate oder Zeichen beruhen. So beruhte der innovative Bedeutungswandel des Wortes Flegel, das ursprünglich BÄUERLICHES ARBEITSGERÄT bedeutete, auf Kontiguität (Metonymie) bei dem Semem BAUER MIT DEM BÄUERLICHEN ARBEITSGERÄT und auf Ähnlichkeiten bei der heute auch existierenden Bedeutungsvariante GROBER MENSCH. Der zu Grunde liegende Konzeptvergleich kann wie in Abbildung 4.12 dargestellt werden. Durch Verglei- Similarität Flegel −− BÄUERLICHES ARBEITSGERÄT MENSCH MIT ... GROBER MENSCH Kontiguität Similarität Abbildung 4.12: innovativer Bedeutungswandel chen, Assoziieren werden Konzepte in Verbindung gesetzt und auf diese Weise neue Sememe (Bedeutungsvarianten) geschaffen. Reduktiver Bedeutungswandel ist dadurch gekennzeichnet, dass eine lexikalisierte Bedeutung ungebräuchlich wird und dann wegfällt. Polysemie wird hier abgebaut. Dies kann durch sozialen Wandel verursacht werden, wie bei (sozialistische) Demokratie, wo das im „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ angeführte Semem „aus der Diktatur des Proletatriats erwachsender Typ des soz. Staats- und Gesellschaftsgefüges“ durch den Zusammenbruch der sozialistischen Diktatur in der DDR obsolet geworden ist. Reduktiver Bedeutungswandel liegt auch vor, wenn es zur Bedeutungsverengung kommt wie bei (53). Keller und Kirschbaum (2003, S. 1) 4.7 Bedeutungswandel 151 verweisen auch darauf, dass billig „noch zu Goethes Zeiten ausschließlich in der Bedeutung von ‚fair‘ und ‚angemessen‘ verwendet wurde; ein billiges Argument war ein angemessenes, kein schlechtes. “ (53) billig - ahd. ANGEMESSEN, PASSEND billige Preise angemessene Preise niedrige Preise billige Schuhe Schuhe mit niedrigem Preis billige Ausrede einfallslose Ausrede billig ↪→ Bedeutungsverengung mit Wertminderung Eine dritte Form von Bedeutungswandel (Bedeutungsveränderung) liegt vor, wenn ein Semem seine Bedeutung verändert, z. B. durch erkenntnistheoretische oder soziokulturelle Veränderungen wie bei Sternschnuppen, die man früher für entzündete, von der Erde aufgestiegene Gase hielt, oder bei Homosexualität, die als Krankheit oder Entartung angesehen wurde. Im Rahmen der kognitiven Semantik sind auch diachrone Arbeiten entstanden, die an die Prototypentheorie anknüpfen. Dies trifft auf die Arbeiten von Di Meola (2000) und Heinemann (2001) zur Grammatikalisierung und dem Bedeutungswandel von Präpositionen zu. Heinemann (2001, S. 23) sieht bei mehrdeutigen Wörtern für „die diachrone Semantik [. . . ] als zentrale Bedeutung diejenige [. . . ], die zeitlich überdauert, während periphere Bedeutungen Spezifizierungen darstellen, die sich als nicht allzu beständig erweisen.“ Diese zentrale Bedeutung muss nicht mit der aus synchroner Sicht geläufigsten, häufigsten Bedeutung übereinstimmen. Auch im Rahmen kommunikativer bzw. pragmatisch orientierter Betrachtungen kam es zu neuen Einsichten zum lexikalischen Sprachwandel. Stellvertretend seien R. Kellers Erklärungen in Anlehnung an die „Theorie der unsichtbaren Hand“ (Keller (1994)) und R. Busses pragmatischer Ansatz, der an Grice und die linguistische Diskursanalyse anknüpft, erwähnt (Busse (1987, 1991); Busse und Teubert (1994)). D. Busse und W. Teubert (1994) sehen in einem diachronen diskurssemantischen Ansatz eine Erweiterung der historischen Semantik. Bezüglich der Bedeutungsveränderung werden Wörter durch inhaltliche Kriterien (Diskurse) konstituierte Textkorpora betrachtet. Es werden vor allem die semantischen Beziehungen im Diskurs betrachtet (Intertextualität). Beispielsweise kann man die Bedeutungsdifferenzierung von Abfall vs. Müll in Westdeutschland und Sekundärrohstoff vs. Müll in Ostdeutschland nur im Kontext der Diskussionen um den Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verstehen. In den sich differenzierenden Lexemen manifestieren sich alternative Sichtweisen und Vorstellungswelten. Hänse (1978, S. 738), Sprachwissenschaftler der DDR, führte aus: 152 4 Lexikalische Semantik Dabei erfolgt die Benennung solcher Objekte nach den Merkmalen, die der Kommunikationsgemeinschaft als wichtig erscheinen. Zum Beispiel werden von der Volkswirtschaft dringend benötigte Stoffe heute meist als Sekundärrohstoffe bezeichnet. Für dieselben Stoffe ist daneben auch noch das Lexem Altstoffe gebräuchlich. Beide Wörter sind referenzidentisch; trotzdem aber können wir sie nicht als semantisch äquivalent betrachten: Sie haben unterschiedliche Benennungsmotive. Das Benennungsmotiv von Sekundärrohstoff ist mit der Wortbedeutung von roh, zusätzlich bestimmt durch sekundär, gegeben, das von Altstoff mit der Semantik von alt. [. . . ] Daß diese auf den Bennungsmotiv beruhenden Nebensinnassoziationen für die Wirkung von Wörtern eine wichtige Rolle spielen können, zeigt der Vergleich der Berufsbezeichnungen Aufkäufer für Sekundärrohstoffe, Altstoffhändler und (früher) Lumpenmann. Entsprechendes wird bei der Gegenüberstellung der heutigen Berufsbezeichnungen Müllwerker und der (abwertenden) älteren Bezeichnung Aschenmann deutlich. Wenngleich sich Sekundärrohstoff nicht durchgesetzt hat (es ist eine typische offizielle DDR-Bildung, mit überdeutlicher Motivation), so zeigt doch Hänse den Bedeutungswandel und seine Motivierung bei Altstoff, Lumpenmann und Aschenmann. Von Interesse für die diachrone diskurssemantische Forschung ist auch das Entstehen von „Leitvokabeln“ die „als diskursstrukturierende und Diskursströmungen benennende Elemente aufgefasst werden, die einen Teil der diskursiven Beziehungen widerspiegeln.“ (Busse und Teubert (1994)) Innerhalb der Sprachwandeltheorien war und ist ein wichtiger Diskussionspunkt, welche Wichtigkeit sprachexterne und sprachinterne Faktoren beim Sprachwandel haben. Dies ist besonders strittig für den nichtlexikalischen Bereich der Sprache. Man unterscheidet in diesem Problemkreis auch zwischen grammatischem und funktionalem Wandel. Wurzel (1994, S. 8) sieht im Sprachwandel „jede Veränderung des Sprachsystems, einschließlich des dazugehörigen Lexikons.“ Er ist durch „zwei verschiedene Bedingungsgefüge, ein Gefüge grammatisch-innersprachlicher und ein Gefüge sozial-außersprachlicher Bedingungen“ bestimmt. (Wurzel, 1994, S. 9) Die grammatisch-innersprachlichen Faktoren betreffen deshalb die Verhältnisse im Sprachsystem und die sozial-außersprachlichen die sozialen, gesellschaftlichen innerhalb der Sprachgemeinschaft. Wenngleich zwischen beiden Faktoren Zusammenhänge bestehen, können sie aus linguistischer Sicht getrennt betrachtet werden. Der heute noch im Gang befindliche morphologische Wandel beim Übergang von starken zu schwachen deutschen Verben (molk > melkte) ist durch den fortgeschrittenen Abbau von starken Verben im deutschen Sprachsystem bestimmt. Der Bedeu- 4.7 Bedeutungswandel 153 tungswandel bei schwul oder Krüppel ist dagegen durch die sozialen Verhältnisse, den gesellschaftlichen Normenwandel bestimmt. Es ist ein Verdienst von Kellers Theorie der unsichtbaren Hand, dass einsichtig wurde, dass Sprachwandel meist nicht direkt zielgerichtet erfolgt. Die Sprache ist „ein Phänomen der dritten Art“, weil sie zu den Dingen gehört, welche Ergebnis menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen sind (Keller (1994)). Bei den deutschen Geruchsverben haben wir auch das von Keller an den Beispielen Frau und Dame beschriebene Pejorisierungs-Phänomen. W. Schmidt hatte dies schon beschrieben: „Eine weitere Triebkraft der Bedeutungsveränderung ist die Tendenz zur rücksichtsvollen Ausdrucksweise“ (Schmidt, 1972, S. 196). Um höflich zu sein, wurden bzw. werden Verben, die das Verursachen von Gerüchen ursprünglich neutral bezeichnen - wie stinken -, verhüllend oder beschönigend gebraucht. Dieser verhüllende Charakter nutzt sich aber im Laufe der Zeit ab und die Wörter bekommen die Bedeutung des Ausdrucks, den sie beschönigend ersetzen sollten. (Schmidt, 1972, S. 197) Dies ist zur Zeit bei riechen der Fall. Neben der neutralen Verwendung (54) Um eine Substanz riechen zu können, muss sie „flüchtig“ sein. http: / / www.Weinserver.at/ wissen/ verkost/ geruch.htm (02.06.2004) kommt es auch zu verhüllendem Gebrauch (an Stelle von stinken) (55) Sportschuhe riechen http: / / www.for-me-online.de/ ... (02.06.2004) Es entwickelt sich dabei, von den Sprachbenutzern nicht intendiert, eine „selbstzerstörerische Verwendungsfunktion“ der Geruchsverben. Bei diesem Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz (Pejorisierung von Geruchsverben) Resultat einer Vielzahl individueller Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen (Beschönigung bzw. Höflichsein-Wollen). Andererseits gibt es auch bewusst herbeigeführten Bedeutungswandel. Dies ist in Fachsprachen der Fall, wenn Bedeutungen durch Festsetzungsdefinitionen festgelegt werden; wenn man Wörter der Gemeinsprache mit fachsprachlichen Bedeutungen versieht, wird dies auch als Terminologisierung bezeichnet. Dies erfolgte bei zahlreichen linguistischen Fachwörtern (z. B. in der Wortbildung bei Wurzel, Stamm oder Fuge). Bei der Sprache des Rechts führen diese Prozesse zu so genannten semantisch schweren Wörtern (Strauss und Zifonun (1985)), zu Wörtern, die die Kommunikation durch ihre Bedeutungsunterschiede im juristischen und alltäglichen Sprachgebrauch erschweren. Da Gesetzestexte auch für die Normalbürger/ innen verständlich sein sollten, 9 kann es zwischen Juristen und Laien, bei Lexemen, die eine abweichende fachsprachliche Bedeutung bekommen haben, zu Kommunikationsstörungen 9 Im Artikel 20 des Grundgesetzes ist sinngemäß niedergelegt, dass „Vorraussetzungen und Inhalt 154 4 Lexikalische Semantik kommen. Dabei gibt es Wörter, deren fachsprachliche Bedeutung sich gänzlich von der alltagssprachlichen entfernt hat. Dies ist bei (56) Auflassung = „ist die zur Übertragung des Eigentums an einem Grundstück erforderliche Einigung (§ 873 BGB) des Veräußerers und des Erwerbers über den Eigentumsübergang. Sie ist ein abstrakter, sachenrechtlicher Vertrag. Sie muß bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Teile vor einer zuständigen Stelle erklärt werden (§ 925 BGB).“ (Köbler und Pohl, 1991, S. 40) der Fall. Bei einer zweiten Gruppe scheinen sich die fachsprachlichen Bedeutungen an den alltagssprachlichen zu orientieren. In Wirklichkeit hat bei ihnen eine Begrenzung oder Spezifizierung der Bedeutung stattgefunden. Dies ist bei Besitz und Eigentum so. In der Regel werden diese Lexeme in der Alltagssprache als Synonyme betrachtet, juristisch sind sie aber komplementär zueinander. (57) a. Besitz = „ist (§§ 854 ff. BGB) die tasächliche Gewalt einer Person über eine Sache (unmittelbarer Besitz, z. B. Mieter an einer Mietsache, Dieb an gestohlener Sache). Es ist kein rechts-, sondern ein tatsächliches Verhältnis, das vom Eigentum streng zu trennen ist, jedoch in verschiedener Hinsicht wie ein Recht (§§ 858 ff. 1007, 812, 823 BGB) geschützt wird.“ (Köbler und Pohl, 1991, S. 73-74) b. Eigentum = „ist im Verfassungsrecht (Art. 14 GG) jede vermögenswerte privatrechtliche Rechtsposition, die überwiegend das Äquivalent eigener Leistung, d. h. des Einsatzes eigener Arbeit oder eigenen Kapitals ist. Im Sachrecht ist Eigentum das Recht, mit einer Sache grundsätzlich nach Belieben zu verfahren (z. B. benutzen, verbrauchen, belasten, veräußern) und andere von jeder Einwirkung auszuschließen. Eigentum in diesem Sinn steht dem Besitz und den beschränkten dinglichen Rechten gegenüber.“ (Köbler und Pohl, 1991, S. 130) Bedeutungen können sich auch durch den Einfluss fremder Sprachen verändern. Es können z. B. neue Bedeutungsvarianten hinzukommen. So hat Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts das Wort Bank unter dem Einfluss der englischen Sprache das Semem ‘Ersatzteilbzw. Vorratslager’ (Datenbank, Samenbank, Blutbank, . . . ) hinzu bekommen. Bereits das zweite Semem neben ‘Sitzgelegenheit’, ‘Stelle an der Geld aufbewahrt wird’, ist entlehnt worden und zwar im 16. Jahrhundert aus dem Italienischen. Im Englischen kam „bank in der Bedeutung ‘Ersatzteilbzw. Vorratslager’ in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts auf [. . . ] Das Deutsche hat spätestens 1963 diese Entwicklung mitgemacht, doch ist es angesichts der internationalen gesetzlicher Vorschriften so klar und eindeutig formuliert sein müsse, daß für den Betroffenen, vor allem dem Bürger, die Rechtslage erkennbar ist.“ (Duve, 1981, S. 35) 4.8 Literaturhinweise 155 Entwicklung der Medizin wahrscheinlicher, daß der zeitliche Abstand geringer ist.“ (Carstensen, 1982, S. 368) 4.8 Literaturhinweise • Andreas Blank: Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten. Max Niemeyer Verlag: Tübingen 2001 • Rudi Keller/ Ilja Kirschbaum: Bedeutungswandel. Eine Einführung. Walter de Gruyter: Berlin, New York 2003 • Sebastian Löbner: Semantik. Eine Einführung. Walter de Gruyter: Berlin, New York 2003 • James Pustejovsky: Semantics and the Lexicon. Kluwer: Dordrecht, Boston, London 1993 • Hilary Putnam: Die Bedeutung von „Bedeutung“. Klostermann: Frankfurt a.M (2. Auflage). 1990 • Monika Schwarz/ Jeanette Chur: Semantik: ein Arbeitsbuch (3. Auflage). Gunther Narr Verlag: Tübingen 2001 • Anna Wierzbicka: Semantics. Primes and Universals. Oxford University Press: Oxford, New York 1996, Kapitel 2 + 3 4.9 Übungsaufgaben 1. Welche lexikographische Bedeutungsbeschreibung wurde für die folgenden Wörterbucherklärungen gewählt? blau: ein kornblumenblaues Kleid Kornschnaps: umgangssprachlich Kornbranntwein tapfer: nicht feige Camping: das Leben im Zelt 2. Fertigen Sie verschiedene lexikographische Beschreibungen für jähzornig an! 3. Stellen Sie klassische Bedeutungsdefinitionen für Lebensretter, leblos, retten auf! 4. Welchen Stilschichten sind besoffen, beschwipst; Bargeld, Moneten zuzuordnen? 156 4 Lexikalische Semantik Welche Stilfärbungen liegen bei Bedürfnisanstalt, auf etwas stehen, Geheimratsecken bekommen im alltäglichen Gebrauch vor? In welchem Funktionalstilbereich werden Tiefausläufer, eins auf die Mütze bekommen, Widerspruch einlegen in der Regel eingesetzt? Charakterisieren Sie Elfer, äh hinsichtlich der soziolektalen Markierung! 5. Weisen Sie mit dem weiten, pragmatischen Bedeutungsmodell nach, dass Rentnerschwemme, Gewinnwarnung, Kollateralschaden zu Recht als Unwörter bezeichnet wurden! 6. Überprüfen Sie mit der logischen Komponentenanalyse, ob - Die gelben Rosen duften stark. - ein sinnvoller Satz ist! 7. Fertigen Sie eine Semanalyse von - Leni Riefenstahl wird weiterhin von der Öffentlichkeit angeklagt. - an! Analysieren Sie auch die unbestimmten Lexeme! 8. Welche Lexeme sind unbestimmt in der Aussage von Sven Ottke? In meinem Leben trifft nur einer die Entscheidungen und das bin ich. (Süddeutsche Zeitung: Magazin 34 (2002)) 9. Liegt primär Polysemie oder Homonymie vor bei Fuß, Steuer, übersetzen, blau, Note, Bauer? 10. Welches Lexem steht für den Prototyp eines Fahrzeugs: Fahrzeug, Auto, Fahrrad, Rollschuhe, Jaguar? 11. Fertigen Sie von der Käse ein Frame an! 12. Ordnen Sie Kofferpacken in ein Script ein! 13. Beschreiben Sie die Wüste, die Apfelschorle mit dem Bedeutungsmodell von H. Putnam! 5 Phraseologie In diesem Kapitel soll ein Überblick über die Gegenstände der Phraseologie gegeben werden. Dabei folgen wir weiten Auffassungen, die auch die Kollokationen (usuelle Wortverbindungen wie Schuhe putzen) einbeziehen, ohne diese jedoch ausführlich zu beschreiben, weil dies in den Bereich der Satzgrammatik führen würde. 5.1 Gegenstände und Forschungsstand Mit den festen Wortverbindungen beschäftigt sich die germanistische Lexikologie noch nicht so lange. Die ersten deutschsprachigen Monographien legten 1982 die Germanisten Fleischer (Fleischer, 1997) und Burger, Buhofer und Sialm (Burger u. a., 1998) vor. Trotzdem ist heute die Rede davon, dass dieses Gebiet gut erforscht sei. Dies resultiert aus der Vielzahl und Vielfältigkeit von Publikationen zur Thematik im letzten Jahrzehnt. Während anfangs die Idiome im Zentrum des Interesses standen, werden heute dynamische Phraseologieauffassungen vertreten, die durch eine Ausweitung des Forschungsbereiches gekennzeichnet sind. So werden verstärkt die nichtidiomatischen festen Wortverbindungen bis hin zu den Kollokationen einbezogen und auch textuelle, pragmatische und soziolinguistische Eigenschaften erfasst (Duhme, 1991, S. 23.). 1 Außerdem kam es zur Herausbildung von eigenständigen Teildisziplinen, wie allgemeine und kontrastive Phraseologie oder Phraseographie; letztere beschäftigt sich mit der Herstellung von Phraseologismen-Wörterbüchern. Eine strengeren linguistischen Maßstäben genügende grammatische Charakteristik gibt es noch nicht. Meist wird bei der Beschreibung der Phänomene stehen geblieben, zu formalisierenden, regelbasierten Erklärungen kommt es kaum. Auch die Grammatiktheorie beschäftigt sich mit den Phraseologismen. Besonders die Idiome werden betrachtet. Sie werden allerdings zum Teil fälschlicherweise als Randprobleme angesehen, die keinen Aufschluss hinsichtlich der gesuchten universellen Regeln geben könnten. Die kognitive Linguistik hingegen hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine Reihe von konstruktiven Untersuchungen zu Speicherung, Produktion und Verarbeitung von Phraseologismen vorgelegt. 1 Duhme unterscheidet vier Phraseologien: die germanistische, die anderer Sprachen, die kontrastive und die fachsprachliche. 158 5 Phraseologie 5.2 Merkmale von Phraseologismen 5.2.1 Grammatische Charakterisierung Als Merkmale von Phraseologismen werden von Fleischer (1983, S. 307) folgende Charakteristika angeführt: Ihr besonderer Charakter als feste Wortverbindungen ergibt sich vor allem aus ihrer (semantischen) Idiomatizität und ihrer (semantisch-syntaktischen) Stabilität. Damit zusammen hängt ihre Speicherung (Lexikalisierung) als lexikalische Einheit, die bei der Textgestaltung reproduziert wird. Burger (1998) hebt Polylexikalität, Festigkeit und Idiomatizität hervor und Nunberg, Sag und Wasow (1994) betonen „conventionality, inflexibility, figuration, proverbiality and affect“. Aus grammatischer Sicht sind Phraseologismen also Wortverbindungen, die den Sprecher/ innen des Deutschen bekannt sind und Standardverwendungen repräsentieren (Konventionalität). Sie sind wie Wörter feste Bestandteile des Lexikons (Festigkeit) und haben obligatorisch die grammatischen Merkmale der Polylexikalität und Lexikalisierung. Eine größere Gruppe trägt außerdem das Merkmal der Metakommunikativität. Phraseologismen im engeren Sinne sind häufig bildhaft und haben bewertenden Charakter. Sie werden deshalb besonders in der mündlichen Sprache verwendet. 5.2.1.1 Phonetisch-graphisches Merkmal der Polylexikalität Phraseologismen umfassen mehrere Wörter, mindestens zwei und maximal einen Satz. Es werden deshalb Phraseologismen mit Wortgruppen- (1a) und Satzstruktur (1b) unterschieden. (1) a. Wie ein geprellter Frosch (daliegen) b. Sei kein Frosch! Ausgeschlossen werden so durch den orthographischen Usus Einwortidiome wie (2) oder (3). (2) Gernegroß, sich großtun (3) Damoklesschwert, . . . Da der orthographische Usus nach Meinung mancher mehr zufälliger Natur ist, nehmen sie idiomatische Wortbildungskonstruktionen mit in das Phraseolexikon auf. Nicht alle Autor/ innen sind sich darüber einig, ob Phraseologismen mindestens ein 5.2 Merkmale von Phraseologismen 159 Autosemantikon beinhalten müssen. Diejenigen, die das annehmen (z. B. W. Fleischer), schließen deshalb Verbindungen, die nur aus Synsemantika bestehen (wie in (4)) aus. Wir folgen Fleischer in diesem Punkt nicht. (4) a. entweder . . . oder b. so dass; ohne dass; als ob 5.2.1.2 Semantisches Merkmal der Lexikalisierung Die Bedeutung eines Phraseologismus bildet eine feste Einheit, die durch eine Bedeutungsvereinigung der Wörter, aus denen er besteht, entstanden ist. Dabei kann die Bedeutungsverschmelzung der Komponenten lose oder fest, idiomatisch, teilidiomatisch oder wörtlich sein. Sowohl die Bedeutungsverschmelzung als auch die Idiomatizität ist eine graduelle Erscheinung. Lose Verschmelzungen der Komponenten kommen durch usuellen Gebrauch, die häufige gemeinsame Verwendung zu Stande. Die Wörter dieser losen Wortverbindungen sind aber nur in geringem Maße zu einer Bedeutungseinheit geworden. Dass eine gewisse Verschmelzung vorhanden ist, zeigt sich in der Aufhebung der Mehrdeutigkeit der einzelnen Konstituenten. Ein spezielles Semem wird durch die Kontextpartner in der Konstruktion fixiert. Beispielsweise wird in den Wendungen mit zivil in (5) ein Semem mit positiver Wertungskomponente fixiert, das sich von dem Semem GESITTET bei zivilisiert ableitet. Das Semem MODERN von zivilisiert wird unterdrückt. (5) ziviler Ungehorsam, zivile Preise Bei den losen Verschmelzungen lässt sich aber die Gesamtbedeutung noch kompositionell aus den Gliedern erschließen. Feste Verschmelzungen liegen vor, wenn keine kompositionelle Bedeutungserschließung erfolgen kann. Dies haben wir besonders auffällig bei bildhaften Wendungen wie in (6) oder bei Konstruktionen mit unikalen Komponenten wie in (7). (6) unter dem Pantoffel stehen (7) Maulaffen feilhalten. Nichtidiomatische Phraseologismen sind u. a. die strukturellen Phraseologismen wie (8) oder (9), die Relationen zwischen Größen anzeigen. (8) in Bezug auf (9) sowohl . . . als auch 160 5 Phraseologie Auch die Kollokationen in (10) oder (11) gehören zu dieser Gruppe. (10) Wäsche waschen (11) einen Vertrag abschließen Idiomatische Phraseologismen sind Wortverbindungen, bei denen die Gesamtbedeutungen nicht direkt aus den Bedeutungen der Einzelelemente ableitbar sind. So ist für die umgangssprachliche Wortverbindung (12) die Gesamtbedeutung VOR ÜBERRASCHUNG EINFÄLTIG AUSSEHEN nicht kompositionell aus den Wortbedeutungen der Komponenten herstellbar. (12) dumm aus der Wäsche gucken 5.2.1.2.1 Idiomatizität Auch bei der Idiomatizität muss betont werden, dass es sich um ein graduelles Phänomen handelt. So können die Idiome noch durchsichtig sein, d. h. sie können noch motiviert werden, wie in (13). (13) Dabei ist Johannes B. Kerner fast so nett wie ein Schaulustiger, der vorbeikommt, wenn Brandstifter einem das Haus angezündet haben, Öl ins Feuer gießt, einem dann anteilnehmend auf die Schulter klopft und kopfschüttelnd fragt, was für Leute so was nur machen. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.12.2002, S. 27 Der Journalist St. Niggemeier spielt hier mit der Wendung Öl ins Feuer gießen. Hier gehört zum Weltwissen, dass man ein Feuer intensivieren kann, wenn man brennbare Flüssigkeiten hineingießt. Analog kann ein Streit intensiviert werden, wenn weitere streitbare Argumente eingeführt werden. Der andere Pol der Idiomatizität ist die Undurchsichtigkeit, die Muttersprachler/ innen können keine Motivierung mehr herstellen wie in (14). (14) den Advocatus Diaboli spielen Dieser Phraseologismus bedeutet soviel wie ‘mit Argumenten der Gegenseite helfen, ohne ihr anzugehören’. Advocatus Diaboli hat die fachsprachliche Markierung [+ aus dem katholischen Kirchenrecht], die den wenigsten Sprachteilnehmer/ innen bekannt ist. Als teilidiomatische Phraseologismen werden Konstruktionen bezeichnet, bei denen nur ein Teil der Konstruktion umgedeutet ist, wie in (15). (15) ein bunter [ABWECHSLUNGSREICHER] Abend. 5.2 Merkmale von Phraseologismen 161 Bei den idiomatischen Phraseologismen handelt es sich um Wendungen, bei denen alle Komponenten umgedeutet sind. Es sind meist „bildhafte“, metaphorische oder metonymische Ausdrücke, die durch einen Vergleich motiviert sind. (16) (jmdm.) das Wort im Munde herumdrehen = DIE AUSSAGE INS GEGEN- TEIL VERKEHREN In (16) besteht zwischen Wort und AUSSAGE eine logische (metonymische) Beziehung, ein Teil (das Wort) wird für das Ganze (DIE AUSSAGE) gesetzt. Zwischen herumdrehen und verkehren besteht eine metaphorische Beziehung. Ein abstrakter Vorgang wird mit einem konkreten veranschaulicht. 5.2.1.2.2 Sinnrelationen In die Semantik der Phraseologismen geht auch ein, dass zwischen ihnen Sinnrelationen bestehen. Wie unter 2.6.1 ausgeführt, gibt es im Lexikon verschiedene Arten von semantischen Relationen. Diese bestehen auch im Phraseolexikon. Die Gleichheitsrelation (Synonymie) im strengen Sinne kommt bei Phraseologismen kaum vor. Sie ist bei dem Nebeneinanderstehen von entlehnten und entsprechenden muttersprachlichen Wendungen annehmbar (17): (17) a. up to date sein aktuell sein b. E(lectronic) Mail elektronische Post c. world wide web weltweites Netz d. ad hoc eigens für diesen Zweck Die Ähnlichkeitsrelation (Feldverbindung) tritt dagegen häufig auf. Palm (1997), Dobrovol’skij (1995), Hessky und Ettinger (1997) und andere haben Felder von Phraseologismen ermittelt und zusammengestellt. Als ein Beispiel soll hier ein kleines Feld von bedeutungsähnlichen Phraseologismen mit dem begrifflichen Bedeutungskern UNANGEMESSEN GEKLEIDET SEIN aufgeführt werden (18): (18) a. overdressed sein [+ zu elegant] b. wie eine Vogelscheuche herumlaufen [+ unattraktiv] c. wie ein Pfingstochse herausgeputzt [+ auffallend + geschmacklos] d. wie ein Pfingstochse geschmückt sein [+ auffallend + geschmacklos] 162 5 Phraseologie e. wie ein Lackaffe herumlaufen [+ zu auffallend] f. aufgetakelt wie eine Fregatte sein [+ zu sehr herausgeputzt] Die Andersseinrelation kommt auch vor: Kontradiktion (bipolarer Gegensatz) wird beispielsweise durch den Austausch einer Komponente angezeigt (19): (19) auf dem aufsteigenden Ast sein auf dem absteigenden Ast sein ums Leben kommen das Leben geben auf der Bildfläche erscheinen von der Bildfläche verschwinden Antonymie (skalare Bedeutungsabgrenzung) ist ebenfalls feststellbar (vgl. (20) und (21)): BETRUNKEN SEIN: (20) a. einen Affen sitzen haben b. Schlagseite haben c. voll wie eine Strandhaubitze sein ÄLTER WERDEN: (21) a. den Kinderschuhen entwachsen b. in die Jahre kommen c. aus den besten Jahren heraus sein d. Moos ansetzen e. grau werden Die Bedeutungen der Phraseologismen stehen auch in der Allgemeiner-spezieller- Relation (22): (22) sich in Bewegung setzen in See stechen (Hyperonymie) den Schleier nehmen einen Beruf ergreifen (Hyponymie) 5.2.1.2.3 Semantische Unbestimmtheit Bei der semantischen Charakterisierung der Phraseologismen muss hervorgehoben werden, dass sie wie Einwortlexeme semantisch unbestimmt sein können, die semantische Unbestimmtheit ist bei ihnen sogar der Normalfall. Dies resultiert vor allem aus der besonders ausgeprägten Kontextabhängigkeit der festen Wortverbindungen, die ihrerseits aus der soziolinguistischen Markiertheit folgt (vgl. 5.5.3.), wie auch das folgende Beispiel (23) zeigt: 5.2 Merkmale von Phraseologismen 163 (23) Asylsuchende in Deutschland [. . . ] Ihre Lebenssituation spottet jeder Beschreibung und allen menschenrechtlichen Mindeststandards. TCZ Jena.Thüringische Campzeitung, 12.-19. Juli 2002, S.3 2 Ob der Phraseologismus (24) im positiven oder negativen Sinn gebraucht wird, wird erst durch den Kontext klar. (24) spottet jeder Beschreibung (bedeutet soviel wie JEDES MASS ÜBERSCHREITEN) Phraseologismen können aber auch vage in ihrer Bedeutung sein. Dies trifft besonders auch auf die große Gruppe zu, die vorrangig bewertenden Charakter hat, die Einstellungen verbalisiert. Hier ist der Bezeichnungsaspekt sekundär. Z. B. bei Phraseologismen zum Ausdruck von NACHSICHT (25): (25) a. Gnade vor Recht ergehen lassen b. Nachsicht üben c. durch die Finger sehen d. weiche Welle e. Engelsgeduld haben f. auf (jmdn.) nichts kommen lassen Außerdem tritt Mehrdeutigkeit auf (siehe Schippan (1992)). Von Homonymie kann in den Fällen gesprochen werden, wenn es von dem gleichen Formativ eine phraseologische und eine nichtphraseologische Lesart gibt, wie in (26). (26) a. etwas über Bord werfen b. Man wirft keine Bananenschalen über Bord. c. Er wollte seine eisernen Grundsätze nicht über Bord werfen. Polysemie liegt dann vor, wenn es mehrere phraseologische Sememe gibt, wie in (27). (27) a. passen wie die Faust aufs Auge b. Semem 1: NICHT ANGEMESSEN SEIN c. Semem 2: SEHR ANGEMESSEN SEIN Die Eigenschaft der Mehrdeutigkeit von Phraseologismen nutzen auch der Witz und die Werbung aus (28). 2 Kursivierungen zur Hervorhebung bei allen Beispielen von uns vorgenommen. An diesem Beleg ist auch die Mischung von Genitiv und Dativ interessant. Sie zeigt, dass das Genitivobjekt des Phraseologismus nicht mehr als solches verstanden wird. 164 5 Phraseologie (28) a. „Wie kommt man am schnellsten zu einem großen Vermögen? “ „Ehrlich währt am längsten“. b. Wer das Rennen macht, erfahren Sie hier. T.online - auto - motor - sport c. Grün wirkt: Verschenke Deine Stimme nicht. Wahlwerbung 2002 5.2.1.2.4 Motiviertheit Auch die Transparenz, die Motiviertheit der Phraseologismen ist ein graduelles Phänomen. Die Phraseologismen können wie in (29) morphologisch motiviert sein: (29) Guten Tag! oder semantisch-metaphorisch motiviert sein (wie in (30)): (30) (jmd.) hängen lassen oder semantisch-metonymisch motiviert (wie in (31)) sein: (31) a. (etwas) von der Stange kaufen = im Bekleidungsgeschäft kaufen / nicht maßgeschneidert b. in die Röhre gucken = fernsehen Zwischen der gewählten und gemeinten Bezeichnung besteht jeweils ein sachlicher Zusammenhang: „Die Stange, auf der Bekleidung hängt“ ist ein Teil des Bekleidungsgeschäfts oder „die (Bild)röhre“ ist ein Teil des Fernsehgeräts. 5.2.1.2.5 Bildlichkeit Bildlichkeit kann bei der Bezeichnung zum einen durch anschauliche Wortwahl, vor allem durch konkrete Bezeichnungen, und durch Vergleiche, z. B. Abstraktes mit Konkretem (wie in (32)), entstehen. Mit den gewählten Bezeichnungen werden bekannte Vorstellungen aufgerufen. (32) Noch ist Polen nicht verloren (Polen = Freiheit). Speziell bei den Idiomen spielt Bildlichkeit eine große Rolle. In vielen Idiomen sind Metaphern eingefroren. Im Sinne von Lakoff und Johnson (1980), Baldauf (1997) und anderen Vertretern der kognitiven Metapherntheorie nehmen wir an, dass wir in dem eingefrorenen Bild ein Ausgangskonzept haben, das zur Veranschaulichung eines konzeptuellen Zielbereiches dient (33). (33) mit (jmdm.) auf Kriegsfuß stehen = STREIT HABEN Ausgangskonzept Zielkonzept → STREIT ist KRIEG 5.2 Merkmale von Phraseologismen 165 Wie bei den lexikalisierten Wortmetaphern können wir auch bei den Idiomen verschiedene Arten von konzeptualisierten Metaphern unterscheiden. So treten auf: • Attributsmetaphern (der Zielbereich erhält eine zusätzliche metaphorische Eigenschaft, wie in (34)) (34) Heiner Müller bereitet unserem Theater manche schwere Stunde. Die ZEIT, 22.02.1985, S. 51 • ontologische Metaphern (gut bekannte, konkrete Objekte oder Substanzen werden zur Konzeptualiserung von vagen und/ oder abstrakten Vorstellungen benutzt, wie in (35).) (35) Als sie zum zweiten Mal ins Irrenhaus kam, nahm der Elfjährige, der nicht ins Armenhaus zurück wollte, sein Schicksal selbst in die Hand. Mannheimer Morgen, 30.03.1989 • Bildschematische Metaphern (gestalthafte Strukturen werden auf vage, unstrukturierte Zielbereiche übertragen, wie in (36)). (36) . . . aus Schmerz über den Selbstmord des Schlagersängers und Komponisten Luigi Tenco (27) ist die Hausfrau Maria Celesca (36) ebenfalls freiwillig aus dem Leben geschieden. Bildzeitung, 09.03.1967 In diesem Beispiel wird das Leben als „Behälter“, als ein abgeschlossenes Objekt, aus dem man rein- und herausgelangt, konzeptualisiert. • Konstellationsmetaphern (komplexe (Alltags)situationen (Szenarien) bilden die Ausgangsbereiche für Vergleiche, wie in (37), Politik wird hier mit einem Spiel verglichen). (37) Saddam hat seine Karten überreizt. Mannheimer Morgen, 13.11.1998 5.2.1.2.6 Semantische Beschreibung der Phraseologismen In der formalisiert beschreibenden Semantiktheorie hat sich für die Bedeutungsbeschreibung von Phraseologismen noch keine einheitliche Sichtweise herausgebildet. In der Regel geht man aber von modularen Auffassungen aus. 166 5 Phraseologie In Anlehnung an Wasow u.a. versucht man (z. B. Keil (1997)) die idiomatischen Phraseologismen kompositionell bzw. dekompositionell zu beschreiben, indem man von einer semantischen Teilbarkeit bei den meisten Phraseologismen ausgeht (vgl. (38)). (38) a. „Jeder in der Union weiß jetzt, was die Glocke geschlagen hat“, meinte er vieldeutig. b. wissen, was die Glocke geschlagen hat = Bescheid wissen, über etwas Unangenehmes, das bevorsteht. Glocke steht hier für ETWAS UNANGENEHMES und schlagen für ANGEKÜNDIGT SEIN. Keil (1997, S. 110) unterscheidet hinsichtlich der kompositionellen semantischen Beschreibung drei Grobklassen von Idiomen: • nicht-kompositionelle, die referentiell nicht dekomponierbar sind (nach Wasow u.a. nur eine kleine Gruppe (39)), (39) auf glühenden Kohlen sitzen. • teilkompositionelle, die zumindestens eine Komponente mit wörtlicher Bedeutung haben (40), (40) das Geld zum Fenster hinauswerfen. • übertragen-kompositionelle Phraseologismen (41), die referentiell dekomponierbar sind und in denen „einzelne oder alle Komponenten des Phraseologismus einen mehr oder weniger hohen Grad an semantischer Autonomie aufweisen“ (Keil, 1997, S. 102). (41) (jmdm.) einen Bären aufbinden. Auch eine dekompositionelle semantische Beschreibung wäre zum Beispiel in Anlehnung an Bierwisch und Langs Zweistufensemantik möglich: Als Beispiel soll (42) beschrieben werden. (42) eine Dame von Welt Es handelt sich um einen nominalen Phraseologismus, der vom freien Lexem Dame (siehe auch Römer (1995)) abgeleitet werden kann: 1. Die SF (Semantische Form) vom freien Lexem Dame: Dame: [OBJEKTx] 5.2 Merkmale von Phraseologismen 167 2. Die CF (Konzeptfamilie) zum freien Lexem Dame: DAME 1 (Eine Dame trägt einen Hut.) MENSCH (x: [+stofflich] + [+menschlich]) DAME 2 (Wir können Dame oder Schach spielen.) SPIEL (x: [+stofflich]) DAME 3 (Die Dame schlägt den Springer) SPIELUTENSIEL(x: [+stofflich] + [-menschlich]) In eine Dame von Welt, „eine Frau, die gewandt und selbstsicher im Auftreten ist“ (Drosdowski und Scholze-Stubenrecht, 1998, S. 42), wird aus der Konzeptfamilie DAME 1 eingebracht. Im Unterschied zur freien Verwendung von Dame können im Phraseologismus die anderen Konzepte nicht aufgerufen werden. Die dekomponierte DAME 1 wird in die semantische Beschreibung von Dame von Welt eingebracht. Eine Zerlegung in Archisememe und Seme wie bei Wotjak (1992) ist auch sinnvoll. Seme sind, wie im Kapitel zur lexikalischen Semantik ausgeführt, die kleinsten semantischen Beschreibungseinheiten, und Archisememe sind die Grund- oder Leitbedeutungsvarianten: Am Beispiel (43) soll angedeutet werden, wie eine Analyse mit semantischen Merkmalen aussehen könnte. (i) bis (vi) gibt die möglichen Komponenten an, die mindestens einbezogen werden sollten: (43) Karl bricht einen Streit vom Zaun. • (i) Basisproposition (Prädikatsseme mit Argumenten): x TU-CAUS 3 [x STREITEN]. • (ii) Prädikatsmodifikatorenseme: STREITEN: [x provoziert]. • (iii) Semantische Rollen der Argumente: x: AGENS. • (iv) Semantisch-denotative Distribution der Argumente: x: [+ human]. • (v) Konnotativ-usualisierte Potenzen des Phraseologismus: [+ negativ wertend]. 3 Dieses Merkmal bewirkt eine Kausativierung: TUN + VERURSACHEN. 168 5 Phraseologie • (vi) Sinnrelationen: die Lunte ans Pulverfass legen: [synonym], (jmdn.) bis zur Weißglut reizen [ähnlich]. Die bisherige Phraseologieforschung hat sich berechtigterweise auch mit den verbalisierten thematischen Bereichen (z. B. Schemann (1987) und Hessky und Ettinger (1997)) befasst, weil die Phraseologismen neben der kulturellen und sozialen Dimension auch eine historische und anthropologische Dimension haben. Beispielsweise spiegeln sie deutsche und europäische Geschichte wider. Noch heute geben eine ganze Reihe von Idiomen Einblick in die Rechtsgeschichte. So ist (44) in der Bedeutung „jemanden bloßstellen, der öffentlichen Verachtung aussetzen“, im Mittelalter durch die Rechtspraxis motiviert gewesen. Verbrecher wurden durch ein Halseisen an einen steinernen Pfeiler oder hölzernen Pfahl fixiert und vor allen Mitbürgern zur Strafe ausgestellt. (44) jemanden an den Pranger stellen Die Wendung (45) ist durch die damalige Folterpraxis motiviert. (45) die Daumenschrauben ansetzen/ anlegen/ anziehen Phraseologismen können auch Auskunft über vergangene Moralvorstellungen geben (46): (46) jemanden an den Mann bringen. (Bedeutet: jemanden verheiraten.) Zahlreiche Phraseologismen stammen aus literarischen Werken (47). So wissen viele Sprachbenutzer nicht, dass die (a)-Beispiele aus Goethes Faust stammen oder die (b)-Wendungen aus der Bibel kommen, Phraseologismen können sich auch auf literarische Werke beziehen, durch sie motiviert sein (c): (47) a. des Pudels Kern sein; eine Gretchenfrage stellen b. sein Kreuz tragen; jemandem ein Dorn im Auge sein c. jeder Hans findet seine Grete 5.2.1.2.7 Konnotative Komponenten Konnotationen sind nach Eco (1972, S. 111) die Summe „aller kulturellen Einheiten, die das Signifikans dem Empfänger institutionell ins Gedächtnis rufen kann“. Obwohl sie ein umstrittener Begriff sind (vgl. Kapitel 4.2.2), wird in allen Überblicken zur Phraseologie mit Recht betont, dass viele Phraseologismen und alle Idiome konnotative Bedeutungselemente tragen. Eine genauere Beschreibung fehlt jedoch noch. Der konnotative Mehrwert der Phraseologismen betrifft u.a.: 5.2 Merkmale von Phraseologismen 169 • die Stilschichten (48) (48) a. homerisches Gelächter (gehoben) b. einen in der Krone haben (umgangssprachlich-salopp) c. zum Kotzen sein (derb) • die Stilfärbungen (49) (49) a. der Esel hat (jemanden) im Galopp verloren (scherzhaft) b. über den Jordan gehen (verhüllend) • die Textsortenrestriktionen (50) (50) a. eine Abmahnung bekommen (amtlich) b. eine rote Karte bekommen (sportsprachlich) • die ausgedrückten Emotionen (51) (51) a. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. b. Scher dich zum Teufel! • die ausgedrückten Bewertungen (52) (52) a. hässlich wie die Nacht b. schön wie der junge Morgen • die Soziolekte (siehe Kapitel 5.5.2) 5.2.1.3 Syntaktisches Merkmal der Festigkeit In syntaktischer Hinsicht unterliegen die Wörter in den fest geprägten Phraseologismen Restriktionen. Sie sind nur eingeschränkt abwandelbar. Das heißt, ihre grammatische Struktur und morphologische Form ist nur gering oder gar nicht veränderbar. In Anlehnung an Burger (2002) kann zwischen mentaler, syntaktischer und pragmatischer Festigkeit unterschieden werden. Die mentale Festigkeit betrifft die Tatsache, dass Phraseologismen im Langzeitgedächtnis als Einheiten abgespeichert und somit abgerufen und reproduziert werden können. Die grammatische Festigkeit betrifft eine Reihe von systemhaften Teilcharakteristika: Die Eingeschränktheit bei Transformationen, Expansionen und Reduktionen zeigt den Grad der syntaktischen Fes/ ”tigkeit an. Gar nicht fest sind die freien (nichtphraseologischen) Wortverbindungen, weniger fest die nichtidiomatischen phraseologischen Konstruktionen, am festesten die idiomatischen Phraseologismen. 170 5 Phraseologie Die Festigkeit hängt auch davon ab, wie häufig die verbundenen Wörter gemeinsam verwendet werden und wie groß die Auswahl an potentiellen Verknüpfungspartnern im Lexikon ist. (53) a. Lorbeeren ernten = ERFOLG HABEN (idiomatischer Phraseologismus) b. Äpfel ernten (freie Wortverbindung) Wenn wir (53a) und (53b) vergleichen, so fällt auf, dass die Passivierung nur bei (53b), bei der freien Wortverbindung, möglich ist, aber nicht beim Phraseologismus (53a), weil bei der Umformung der Phraseologismus seine idiomatische Bedeutung verliert (54): (54) a. * Lorbeeren wurden geerntet. b. Äpfel wurden geerntet. c. ? Mit dieser Arbeit können Lorbeeren nicht geerntet werden. Analoge Befunde haben wir bei der Relativsatz- und Nominalisierungstransformation. Auch hier geht bei den Transformationen die idiomatisierte Phraseologismusbedeutung verloren (55): (55) a. * die Lorbeeren, die er geerntet hat vs. die Äpfel, die er geerntet hat. b. * das Lorbeerenpflücken vs. das Äpfelpflücken. Expansionen durch Attribute sind genauso wenig möglich wie Reduktionen (56): (56) a. * Große, glänzende Lorbeeren pflücken. versus b. Einen großen, saftigen Apfel pflücken. Andererseits kann man das Idiom (57a) sehr wohl grammatisch modifizieren (57b), ohne dass die idiomatische Bedeutung verloren geht: (57) a. (jmdm.) das Fell über die Ohren ziehen. b. Ihm wurde das Fell über die Ohren gezogen. Bezüglich der grammatischen Einschränkungen, denen Phraseologismen unterliegen, gibt es noch viele Unklarheiten und einigen Forschungsbedarf. Dobrovol’skij (1999) hat sich näher mit der Frage, ob es Regeln für die Passivierung deutscher Idiome gibt, beschäftigt und ist dabei zu der Erkenntnis gelangt, dass die Bedingungen, die die Idiompassivierung ermöglichen, komplexer Natur sind und es keine einheitliche Regel gibt, die die Passivtransformation erklären kann. So wurde u. a. die semantische Teilbarkeit der Idiomstruktur als Voraussetzung angenommen, d. h., wenn eine entsprechende semantisch autonome Nominalphrase vorhanden ist, die referentiellen Status bekommen könnte, dann ist das Idiom passivierbar (58). 5.2 Merkmale von Phraseologismen 171 (58) a. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. b. Mit einer Klappe werden zwei Fliegen geschlagen. Andererseits ist aber die Passivierung z.T. auch dann möglich, wenn keine autonome Konstituente vorhanden ist (59). (59) a. Der Karl macht den Fliegen den Garaus. b. Den Fliegen wird der Garaus gemacht. Eine freie Modifizierung bei den morphologischen Kategorien liegt auch nicht vor. So ist der idiomatische Phraseologismus (60) z. B. im Tempus und Modus nicht veränderbar. (60) a. wissen, wo der Frosch die Locken hat b. * wusste / wüsste, wo der Frosch die Locken hat Es tritt auch fester Numerus auf, wie (61) zeigt. (61) a. Karl ist gänzlich auf den Hund gekommen. b. Karl ist vor die Hunde gegangen. Da ein großer Teil der Phraseologismen aus Zeiten mit anderen Sprachverhältnissen stammt, können diese Sprachverhältnisse auch in ihnen eingefroren sein; so haben wir in (62) ein unflektiertes Attribut oder in (63) einen vorangestellten Genitiv. (62) auf gut Glück (63) des Pudels Kern Die nichtidiomatischen Kollokationen (64) können zwar syntaktisch und morphologisch abgewandelt werden, unterliegen aber auch grammatischen Restriktionen. So wirkt beispielsweise der Austausch durch im deutschen Sprachsystem vorhandene Synonyme ungewöhnlich. (64) a. Die Frösche quaken. b. Einen Frosch fangen. c. * Die Frösche rufen. d. * Einen Frosch fischen. Auch hinsichtlich der Textualität können die Phraseologismen Restriktionen unterliegen. So müssen die Grußformeln an ganz bestimmten Stellen im Text stehen. Idiome befinden sich bei journalistischen Texten oft in der Überschrift. Der Grad der Festigkeit kann auch an der Valenz der prädikativen/ verbhaltigen Wortverbindungen abgelesen werden. Es kommt bei idiomatischen Phraseologismen 172 5 Phraseologie häufig zu Unterschieden zwischen externer und interner Valenz. Als wendungsexterne (konstruktionsexterne) Valenz wird das Fordern von Ergänzungen vom ganzen Phraseologismus verstanden und als wendungsinterne bzw. konstruktionsinterne Valenz die vom Verb des Phraseologismus geforderten Ergänzungen, die fester Bestandteil des Phraseologismus sind. So hat der Phraseologismus (65) eine interne Valenzstelle (seinen Mann), die fest geprägt und nicht veränderbar ist, und eine externe, die morphologisch (Nominalphrase im Nominativ) und semantisch (AGENS) festgelegt ist, aber lexikalische Variabilität aufweist. (65) a. seinen Mann stehen b. Peter steht seinen Mann. c. Hans steht seinen Mann. Bei dem idiomatischen Phraseologismus (66) haben wir intern kein Argument und extern das Agens-Argument. Bei der nicht phraseologischen Verwendung von aufblasen ist sowohl das Agensargument als auch ein Patiensargument subkategorisiert. Es kommt also beim Phraseologismus zu einer Argumentreduzierung. Nach Torzova (1983) ist das der häufigste Fall. (66) a. (jmd.) bläst sich auf b. Hans bläst sich auf = TUT SICH WICHTIG c. Hans bläst den Luftballon auf. Es gibt aber auch Fälle der Argumenterhöhung: (67 schlafen) ist einwertig und (68 schlafen schicken) zweiwertig. (67) schlafen (Hans schläft.) (68) jemanden schlafen schicken (Ottke schickte bereits in der zweiten Runde seinen Gegner schlafen.) Extern können Phraseologismen einwertig (69), zweiwertig (70) und dreiwertig (71) sein. (69) (jmdm.) läuft es kalt den Rücken herunter (70) (jmd.) macht sich (bei jmdm.) lieb Kind (71) (jmd.) schiebt (jmdm.) (etwas) in die Schuhe Bei differenzierterer Betrachtung können auch bei den verbhaltigen Phraseologismen verschiedene Valenzarten unterschieden werden, zwischen denen keine Isomorphie bestehen muss, wie am Beispiel (72) sichtbar wird. (72) Es regnet . . . 5.2 Merkmale von Phraseologismen 173 • Logische Valenz (betrifft die Prädikat-Argument-Struktur): Es regnet Bindfäden.: P (extern nullwertig). • Semantisch-begriffliche Valenz (betrifft die inhaltliche Selektion der Argumente): Das beim Beispiel Es regnet Bindfäden. vorhandene syntaktische Argument ist inhaltsleer, es besetzt nur die Subjektsposition. • Syntaktische Valenz (betrifft die Üblichkeit, d. h. das Obligatorisch- oder Fakultativ-Sein bei der Leerstellenbesetzung): Es regnet Bindfäden.: syntaktisch ein externes Argument obligatorisch. • Morphologische Valenz (betrifft die morphosyntaktische Charakteristik der Argumente): Es regnet Bindfäden.: P (es/ das [Nominativ]). • Pragmatische Valenz (betrifft die kontextabhängige lexikalische Auswahl der Argumente): Es regnet Bindfäden. vs. Es regnet Schusterjungen. vs. . . . Mit pragmatischer Festigkeit ist die Vorgeprägtheit eines Teils der Phraseologismen auf bestimmte kommunikative Funktionen gemeint. Darauf soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden. 5.2.2 Pragmatisches Merkmal der Metakommunikativität Dieses Merkmal trifft nicht auf alle Phraseologismen zu, betrifft aber zwei große Gruppen: Die Gruß- und Routineformeln und die Sprichwörter. Gemeinsam ist ihnen, dass sie pragmatische Funktionen übernehmen. Es handelt sich um die Funktion der • Gesprächssteuerung (73) (73) nicht wahr? • Textgliederung (74) (74) siehe unten • Partnerorientierung (75) (75) Gib deinem Herzen einen Stoß! • Äußerungskommentierung (76) (76) Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. • Höflichkeitsanzeige (77) (77) Mit vorzüglicher Hochachtung 174 5 Phraseologie 5.3 Kognitive Beschreibung 5.3.1 Status der kognitiven Beschreibung Die kognitive Beschreibung der Phraseologismen, wie sie im Rahmen der kognitiven Linguistik erfolgt, stellt keine Alternative zur linguistischen Phraseologie dar. Sie ist vielmehr eine wichtige Ergänzung und erfasst das Erlernen, die Wissensstrukturen und Prozeduren, über die die Sprachteilnehmer verfügen, um Phraseologismen verstehen zu können. Dabei beschäftigt sich die kognitive Phraseologie bisher vor allem mit den idiomatisierten Phraseologismen (Idiomen). 5.3.2 Der Erwerb von idiomatischen Phraseologismen Der Erwerb der phraseologischen Kompetenz (korrektes Verstehen und Verwenden) ist noch relativ gering erforscht. So ist zwar klar, dass die meisten Kinder mit etwa einem Jahr das erste Wort produzieren und nach und nach einige Wörter hinzufügen. Es gibt auch Klarheit darüber, dass die weitere Wortschatzentwicklung mit anwachsender Geschwindigkeit verläuft. „Der aktive Wortschatz sechsjähriger Kinder wird auf etwa 5000 Wörter geschätzt, während bereits bis zu 14000 Wörter verstanden werden“ (Kauschke, 2000, S. 1). Zu den Fragen, wann und wie die ersten Phraseologismen erworben werden, konnte man sich noch auf keine einheitliche Lehrmeinung einigen. Man stimmt aber darin überein, dass dafür vor allem die Faktoren Alter und Sozialisationsstufe von größter Wichtigkeit zu sein scheinen. Es kann außerdem angenommen werden, dass der Erwerb des Phraseo-Lexikons deutlich länger dauert und später beginnt. Insgesamt sind veröffentlichte Arbeiten zum Erwerb von Phraseologismen rar. 4 Die empirischen Erhebungen von Haase (1999) haben folgende Entwicklung der phraseologischen Kompetenz vom Kleinkindalter bis zum 18. Lebensjahr ergeben: Vorschulalter (4-6 Jahre): Hier hat das synkretisch-wörtliche 5 Verstehen Vorrang, deshalb finden keine richtigen Bedeutungszuweisungen zu idiomatischen Phraseologismen statt. Die Doppeldeutigkeit von Wendungen wird nicht durchschaut, stattdessen werden auf Nachfrage Erklärungen aus dem kindlichen Erfahrungshorizont gegeben, wie bei der Wendung (78), die kontextfrei motiviert werden sollte. (78) Das geht auf keine Kuhhaut! 4 Zum Erwerb im Kleinkindalter sei verwiesen auf Buhofer (1980), im Schulalter auf Scherer (1982) und im Jugendalter auf Androutsopoulos (1998). 5 Die verschiedenen Bedeutungsvarianten zu einem Formativ fallen zusammen, werden nicht getrennt. 5.3 Kognitive Beschreibung 175 • Phillip (5 Jahre alt): Dass man eine kriegt, denn man haut keine Kuh! • Jan (5): Man soll keine Kuh hauen! • Beatrice (6): Die Kuh haut! Doch bereits in dieser frühen Phase der Entwicklung der phraseologischen Kompetenz wird in Einzelfällen der verstehensfördernde Einfluss eines gegebenen Kontextes sichtbar, wie das Beispiel (79) zeigt, das, in einen Kontext eingebettet, motiviert werden sollte. (79) Rotes Kreuz • Andreas (6): Krankenhaus • Cindy (6): Notarzt • Beatrice (6): Rettungshubschrauber • Phillip (5): rot geworden, wie eine rote Tomate • Jan (5): Das ist das Kreuz hier im Rücken (Demonstration durch Geste) und das blutet. Grundschulalter (7-10 Jahre): Die Sekundärsozialisation setzt ein. Das synkretische Verstehen wird mehr und mehr vom wörtlichen Verstehen abgelöst. Das Beispiel (80) soll das demonstrieren. (80) ein Mann von Welt (in isolierter Betrachtung) • Hans (7): erforscht die Welt • Manuel (7): aus einem anderen Land: Türke, Eskimo • Jakob (8): Vielleicht der Man in Black. Die phraseologische Kompetenz nimmt im 10. Lebensjahr deutlich zu. Mittelstufenalter (11-12 Jahre): Die phraseologische Kompetenz wächst weiter, dies trifft auch auf das Verstehen isolierter Phraseologismen zu. Verwechslungen treten aber noch auf. Ein Beispiel ist das kontextfreie Motivieren der folgenden Wendung (81). (81) gehupft wie gesprungen • Es ist so wie so rum, es gibt keine richtige Lösung. 176 5 Phraseologie • Egal wie man das macht, es kommt das Gleiche raus. • Ein Glas halb voll oder halb leer - nur ein Beispiel. • Wenn zwei oder mehr Redewendungen dasselbe ausdrücken. Jugendalter: Ab dem 14. Lebensjahr kann von einer voll entwickelten phraseologischen Kompetenz ausgegangen werden. Dies zeigt sich auch im jugendtypischen spielerischen Umgang mit Phraseologismen. Ein Beispiel sind Antworten auf die Komplettierungsaufgabe zu (82). (82) Hunger leiden • Hunger schieben • Hunger und Wasser leiden • Hunger und Not leiden Bezüglich der korrekten Erzeugung von Phraseologismen zeigten Komplettierungsaufgaben, dass bis zum 12. - 14. Lebensjahr Probleme bestehen. Rhythmischformelhafte Strukturtypen wie (83) bereiten aber weniger Schwierigkeiten. (83) a. wie Schritt für Schritt b. mit Schimpf und Schande 5.3.3 Die mentale Repräsentation von Phraseologismen Bezüglich des Speicherungsmodus von Phraseologismen gibt es verschiedene Theorien. Die Frage, ob die Idiome als unifizierte Einheiten des Lexikons oder als kombinative Komplexe gespeichert und abgerufen werden, wird unterschiedlich beantwortet, genauso wie die Frage, ob es einen eigenen Phraseologismenspeicher gibt. Die lexikalistische Auffassung besagt, dass die Phraseologismen generell als nichtteilbare Ganzheiten wie Wörter - als ‘long words’ - im Lexikon gespeichert seien. Diese Theorie gilt heute als experimentell widerlegt. Das zeigt sich auch an der Nichtfestigkeit der Wortstellung. Wie im Beispiel (84) zu sehen ist, sind die Phraseologismen in der Regel keine nichtteilbaren Einheiten. (84) a. einen(1) Bären(2) auf(3)binden(4) b. bindet(4) ihm einen(1) Bären(2) auf(3) Die syntaktische Auffassung, die Konfigurationshypothese, nimmt an, dass Phraseologismen als spezifische Ketten gespeichert sind, in denen alle Konstituenten eine relative Eigenständigkeit haben. Aber nicht alle diese Konstituenten seien gleich 5.3 Kognitive Beschreibung 177 wichtig. Es werden Schlüsselelemente (KEYs) angenommen, die Phraseologismenmarker seien. Die Dekompositionshypothese ist ein graduelles Modell und teilt die Phraseologismen in semantisch teilbare und nichtteilbare Konstruktionen auf der Basis von Umformungsmöglichkeiten (z. B. Passivierungsmöglichkeit bzw. keine Passivierungsmöglichkeit). Dieses Modell scheint das angemessenste zu sein, weil es der Heterogenität der Phraseologismen am besten Rechnung trägt. Es fängt die Tatsache ein, dass Phraseologismen oftmals semantisch teilbar sind und damit Phraseologismuskonstituenten eine relative Autonomie zugesprochen werden kann. Wichtig ist auch die Frage, wie die Phraseologismen im Lexikon miteinander verbunden sind. Dobrovol’skij (1995) ist der Meinung, dass hier die hierarchische Organisation weniger relevant sei. Das dynamische semantische Netz, das sich je nach kommunikativer Situation und Absicht umgruppieren kann, wäre die Präsentationsform der Phraseologismen. In thesaurusartigen Zusammenstellungen will er diese Netze, die prototypartig aufgebaut sind, abbilden. In Anlehnung an ihn könnten wir - stark vereinfacht - ein phraseologisches Netz zu NEIDISCH SEIN aufstellen, das mit dem konzeptuellen Neidischsein-Schema korrespondiert. Das konzeptuelle Neidischsein-Schema assoziiert im prototypischen Fall einen Handlungsträger (die neidische Person) mit einer Person oder einer Sache auf die dieser neidisch ist. Das entsprechende phraseologische Netz benennt im Deutschen nicht alle drei Komponenten des konzeptuellen Neidischsein-Schemas. JEMAND x ⇐ NEIDISCH SEIN x,y ⇒ AUF JEMANDEN / ETWAS y NEIDISCH SEIN (X,Y): Der Vorgang des Neidischseins wird verbalisiert. (85) a. scheel blicken b. futterneidisch sein JEMAND (X) + NEIDISCH SEIN (X,Y): Der Neider wird besonders akzentuiert. (86) a. vor Neid grün / blass / gelb werden b. vor Neid erblassen c. ein Neidhammel sein NEIDISCH SEIN (X,Y) + AUF JEMANDEN (Y): Der Beneidete wird hervorgehoben. (87) a. (jmdm.) nicht die Butter auf dem Brot gönnen b. (jmdm.) keinen Bissen gönnen c. (jmdm.) nicht das Schwarze unter dem (Finger)nagel gönnen 178 5 Phraseologie In dem Neidischsein-Thesaurus gibt es wie in jedem kategorialen System prototypischere und peripherere Vertreter. Laut Dobrovol’skij (1995, S. 98) ist ein peripheres Element in mehrere Schemata einordbar, während ein prototypischer Vertreter die Kategorie in reiner Form repräsentiert und deshalb meist nur einmal erscheint. Eine Umfrage bei Studierenden in Jena (Thüringen) hat ergeben, dass den Vorgang Neidisch-Sein am besten die folgenden Phraseologismen (88) bezeichnen: (88) a. vor Neid erblassen b. vor Neid grün (blass, gelb) werden c. (jmdm.) nicht die Butter auf dem Brot gönnen Als einzige Wendung wurde scheel blicken gar nicht in Betracht gezogen. Obwohl in der Aufgabenstellung auf den Vorgang Neidisch-Sein orientiert wurde, richteten die Befragten ihren Blick auf die agens- und patiensbezogenen Varianten. 5.3.4 Die Verarbeitung von idiomatischen Phraseologismen Bei der Verarbeitung von Phraseologismen geht man heute in der Regel davon aus, dass diese nicht für alle Arten gleich geschieht. Es stellt sich hier die Frage, wann generiert und wann reproduziert wird. Bezüglich der idiomatischen, motivierten Wendungen mit einer wörtlichen Lesart nimmt man für bisher unbekannte bzw. weniger geläufige Idiome das „literal-first model“ an, das vermutet, dass erst die wörtliche vor der übertragenen Bedeutung kompositionell erstellt wird. Wenn die wörtliche Lesart nicht in den Kontext passe, würde die idiomatische Lesart aktiviert. Das dies nicht zutrifft, haben psycholinguistische Experimente erbracht, z. B. die von Cronk und Schweigert (1992). Für geläufige Idiome wird, die „direct access hypothesis“ angenommen, die eine direkte Erzeugung der übertragenen Bedeutung postuliert. Für die meisten Idiome wird das Modell der simultanen Verarbeitung angenommen, das davon ausgeht, dass eine gleichzeitige Verarbeitung der wörtlichen und übertragenen Bedeutung erfolgt. Bei der Kontextüberprüfung wird die relevante Bedeutung, die mit dem Kontext kompatibel ist, vom Geist registriert, die nicht kontextverträgliche wird unterdrückt. Für Dobrovol’skij (1997) ist eine ganze Liste von Faktoren (Dekompositionalitätsgrad, semantische Motiviertheit, Vorhandensein einer wörtlichen Lesart, syntaktische Wohlgeformtheit, Metaphorizität, Position des Schlüsselworts, Geläufigkeit, Kontext, semantische und formale Beschaffenheit einzelner Konstituenten) für die Idiomverarbeitung von Wichtigkeit, die von Fall zu Fall unterschiedlich akzentuiert werden. Deshalb könne auch nicht von einer einheitlichen, regelhaften Verarbeitung die Rede sein. 5.4 Phraseologismen als kulturelles Gedächtnis 179 5.4 Phraseologismen als kulturelles Gedächtnis Auch wenn man davon ausgeht, dass die Welt etwas Objektives ist, kann die Tatsache, dass die Sprache unsere Sicht auf die Welt fixiert und damit auch beeinflusst, nicht geleugnet werden. In den idiomatisierten Phraseologismen finden wir ein besonders schönes Beispiel für diesen Sachverhalt, weil in ihnen öfters stereotype Volksmeinungen eingefroren sind. Wir können in ihnen beispielsweise etwas über das Verhältnis von Männern und Frauen erfahren, über die Schönheitsideale, die Einschätzung einzelner Berufsstände oder über moralische Werte. Diese vereinfachenden kulturellen Muster (patterns) entstellen zwar die oftmals sehr differenzierte und komplexe Lebenswirklichkeit, indem sie die Erkenntnisfähigkeit auf schon Bekanntes beschränken. Andererseits helfen diese Stereotype, in der komplizierter werdenden Wirklichkeit zurecht zu kommen. Im Ausland wird ja häufig auf Grund der kriegerischen Aggressionen deutscher Staaten in der Vergangenheit das deutsche Volk als aggressiv angesehen. Deshalb sollen die deutschen Redewendungen zum VERSÖHNEN, EINLENKEN und EIN- MISCHEN bzw. PROTESTIEREN, ANGREIFEN und UNVERSÖHNLICH SEIN beispielhaft hinsichtlich dieser stereotypen Ansicht betrachtet werden: VERSÖHNEN (89) (89) a. (jmdm.) die Hand reichen b. einen Schritt auf (jmdn.) zugehen EINLENKEN / NACHGEBEN (90) (90) a. es mit (etwas) bewenden lassen b. (jmdm.) das Feld überlassen c. das Feld räumen d. die Flagge (Segel) streichen e. die Flinte ins Korn werfen f. das Handtuch werfen g. klein beigeben h. das Spiel verloren geben i. die Waffen strecken EINMISCHEN (91) (91) a. seinen Senf dazugeben b. eine Bresche schlagen für (jmdn./ etwas) 180 5 Phraseologie PROTESTIEREN (92) (92) a. sich (etwas) nicht gefallen lassen b. auf die Straße gehen für/ gegen (etwas/ jemanden) c. (jmdm.) ins Gewissen reden d. (jmdm.) was husten e. (jmdm.) die Zähne zeigen ANGREIFEN (93) (93) a. (jmdm.) die Zähne zeigen b. den Spieß umkehren c. das Blatt wenden UNVERSÖHNLICH SEIN (94) (94) a. das Feld behaupten b. auf sein Recht pochen Die Analyse macht sichtbar, dass die Wendungen mit den ‘friedensstiftenden’, nicht aggressiven Konzepten (VERSÖHNEN/ EINLENKEN/ EINMISCHEN) zum großen Teil negativ konnotiert sind. Alle aufgefundenen Wendungen zum Konzept EINLEN- KEN haben eine negative Wertungskomponente. Die ‘kriegerischen’, aggressiven Konzepte (PROTESTIEREN/ ANGREIFEN/ UN- VERSÖHNLICH SEIN) sind fast alle mit positiven Konnotationen versehen. Ein einziger dieser Phraseologismen trägt eine negative Bewertung (auf sein Recht pochen). Sprachvergleichende Untersuchungen (siehe z. B. Durco (1994)) - sowohl kontrastiv-historische als auch kontrastiv-vergleichende - haben auch zu Tage gebracht, dass Phraseologismen zahlreiche übereinzelsprachliche Charakteristika haben. So kann man davon ausgehen, dass alle Sprachen phraseologische Subsysteme haben. Andererseits bringt die vergleichende Analyse einzelsprachliche und nationale Besonderheiten zu Tage. Die Themen der Phraseologismen geben Auskunft über die geistige Welt und Geschichte einer Sprachnation. Es gibt sogar Sprachwissenschaftler, für die die Idiomatik das Allerheiligste einer Nationalsprache ist. Gerade in ihr manifestiere sich der Geist und die Eigenart jeder Nation. Sie sei unwiederholbar (Babkin (1995)). Was in der einen Sprache polylexikalisch bezeichnet wird, kann in der anderen Sprache monolexikalisch erscheinen. Was in der einen Sprache ein Phraseologismus ausdrückt, kann in einer anderen Sprache auch mittels Phraseologismus, aber auch als Einzelwort, als Wortbildungskonstruktion oder als Umschreibung üblich sein, wie in (95) 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 181 (95) a. historisch (sich auf Geschichte beziehen) engl. relating to history b. historisch (geschichtlich bedeutend) engl. important in history „Übersetzerische Fehlleistungen bei Phraseologismen basieren auch häufig auf einer falschen Einschätzung des kulturellen und sprachlichen Kontextes“ (Marschall, 1999, S. 202). 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 5.5.1 Relevante soziale Faktoren Dass soziale Faktoren Einfluss auf die Sprache haben, ist bekannt. Diese Faktoren schlagen sich vor allem im Lexikon einer Sprache nieder und betreffen auch die Mehrwortlexeme. Die Sprecher/ innen des Deutschen wissen um die Tatsache, dass die Auswahl aus dem Lexikon etwas über den sozialen Hintergrund der Kommunikationsteilnehmer/ innen bzw. die Kommunikationssituationen aussagt. Auf folgende sozial markierte Gruppen von Phraseologismen soll hier eingegangen werden: geschlechts-, alters-, regional-, berufs- und freizeitspezifische. 5.5.2 Soziolektale Phraseologismen 5.5.2.1 Geschlechterspezifische Phraseologismen Auch wenn es noch keine umfassende Untersuchung der geschlechtsbedingten Restriktionen bei deutschen Phraseologismen gibt, so wurde doch eine Reihe von interessanten Studien vorgelegt. So hat Piirainen (1999) einen Überblick über die geschlechtsspezifischen Gebrauchsrestriktionen und ihre Ursachen im gegenwärtigen Standarddeutsch verfasst. Piirainen unterscheidet zwei Hauptgruppen von Restriktionen: 1. Restriktionen, die bedingt sind durch die aktuelle Bedeutung des Phraseologismus. Diese treten bei Phraseologismen auf, die polysem hinsichtlich des Referenzbereiches sind. Wenn sie auf eine Frau referieren, haben sie eine andere Bedeutung, als wenn sie auf einen Mann referieren (96). 182 5 Phraseologie (96) a. Sie kam in voller Kriegsbemalung. (Sie war auffallend geschminkt.) b. Er kam in voller Kriegsbemalung. (Er kam mit allen Orden und Ehrenzeichen.) Wir haben auch die Erscheinung, dass das idiomatische Semem geschlechtspezifisch ist und bei Wechsel verloren geht (97). (97) a. Sie hat viel Holz vor der Hütte. [idiomatisch] b. Er hat viel Holz vor der Hütte. [nicht idiomatisch] 2. Restriktionen, die bedingt sind durch die Bildlichkeit des Phraseologismus. Bei dem folgendem Beispiel haben wir beim Bildspender PFINGSTOCHSE als festes Bedeutungselement [+MÄNNLICH] und bei der Bildempfängerin AUFGEPUTZE PERSON (sie) das Merkmal [+WEIBLICH]. Es kommt so zu einer Unvereinbarkeit, zu einem ungrammatischen Satz wie in (98). (98) *Sie ist herausgeputzt wie ein Pfingstochse. Die Ursachen für die Restriktionen liegen entweder in den biologischen, physiologischen oder soziokulturellen Normen der Gesellschaft. Wenn Phraseologismen auf geschlechtsspezifische biologische Erscheinungen referieren, so führt dies in der Regel zu Gebrauchsrestriktionen. Dies ist beispielsweise bei der Referenz auf den weiblichen Busen oder das männliche Geschlechtsorgan so, die nachfolgenden Sätze in (99) sind deshalb ungrammatisch. (99) a. * Hans hat eine prall gefüllte Bluse. b. * Helga wurden die Eier poliert. Es soll aber auch Frauen geben, die die Wendung das geht mir auf den Sack benutzen. Zum Teil existieren geschlechtsspezifische Dubletten (100): (100) a. eine Frau von Welt b. ein Mann von Welt Soziokulturelle geschlechtsspezifische Restriktionen finden wir vor allem in den Bildbereichen Kleidung, Arbeitswelt und Verhaltensnormen. Zur Illustration sollen wiederum ungrammatische Sätze (101) dienen: (101) a. * Inge guckt dumm aus dem Anzug. b. ? Christa flucht wie ein Bierkutscher. c. * Helmut ist ein blondes Gift. 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 183 5.5.2.2 Altersspezifische Phraseologismen Da Angehörige bestimmter Altersgruppen auf Grund ihrer gemeinsamen Handlungs- und Erfahrungswelten ähnliches Sprachverhalten entwickeln, spricht man auch von ‘Lebensaltersprachen’. Über die Rolle der Phraseologismen in ihnen gibt es einige Studien. Koller (1977) beispielsweise befragte 1977 25 Studierende zwischen 20 und 30 Jahren zu einigen ausgewählten Wendungen und fand heraus, dass „einige der Phraseologismen deutliche Beurteilungen hinsichtlich der Alterszuweisung“ aufweisen. So wurde damals Beispiel (102) eher jüngeren Sprecher/ innen zugeordnet, Beispiel (103) älteren Sprecher/ innen. (102) ins Gras beißen (103) (jemandem) einen Bärendienst erweisen. Eine Quelle für das Entstehen von neuen idiomatischen Phraseologismen ist die Jugendsprache. Aus ihr stammen in jüngerer Zeit die Wendungen (104), die in die Allgemeinsprache übergegangen sind. (104) a. Mit dem Klammersack gepudert sein. b. Das ist krass. Unter 5.3.1 wurde schon darauf hingewiesen, dass mit steigendem Alter der Bekanntheitsgrad bei Phraseologismen zunimmt. Hier gibt es aber auch eine signifikante Verknüpfung mit dem Bildungsgrad der Kommunizierenden, wie u.a. die Untersuchungen von Buhofer und Burger (1994) und von Geier und Sternkopf (2000) erbrachten. Der höhere Bildungsgrad zeigt sich besonders deutlich beim Erkennen und Deuten bildungssprachlicher Phraseologismen, bei solchen mit mythologischen Bezügen oder mit unikalen und fremdsprachlichen Komponenten. 5.5.2.3 Regionalspezifische Phraseologismen Dass es regionalspezifische Redewendungen und regionalspezifische Varianten von Phraseologismen gibt, ist schon länger bekannt. Ihre genauere Untersuchung erfolgt erst in jüngerer Zeit. Dabei ist auch zu beachten, dass neben den Standardvarietäten (Austriazismen, Helvetismen, Teutonismen) auch die regionalen Dialekte zu beachten sind. Bei den regionalspezifischen Varietäten haben wir Phraseologismen, die Varianten zu Ausdrücken anderer Varietäten sind. Diese Varianten können sich in der Grammatik und/ oder Lexik unterscheiden. Beispiele dafür sind (105). (105) a. Jeden Schilling zweimal umdrehen (Austriazismus) b. Jeden Pfennig zweimal umdrehen (Teutonismus). 184 5 Phraseologie Außerdem gibt es aber auch eigenständige regionalspezifische Phraseologismen (106): (106) a. Merci vielmals! (Helvetismus) b. Herzlichen Dank! (Teutonismus) 5.5.2.4 Berufsspezifische Phraseologismen 5.5.2.4.1 Zum Auftreten von berufsspezifischen Phraseologismen Zum einen soll hier darauf verwiesen werden, dass es Berufe gibt, die in Phraseologismen häufig thematisiert werden bzw. aus deren Bereich phraseologische Fachwörter in die Standardsprache gelangt sind. Zum anderen gibt es in den Fachsprachen phraseologische Termini und Fachwörter. Da die Phraseologismen zum großen Teil schon älter sind, spielen die traditionellen Berufsstände der vorindustriellen Zeit thematisch als Bildspender eine große Rolle. Einige wenige Beispiele seien hier aufgeführt: BAUERN (107): (107) a. so fragt man Bauern aus b. dumm wie Bohnenstroh c. dünn gesät sein HANDWERKER (108): (108) a. (einem) ins Handwerk pfuschen b. (jemandem) das Handwerk legen c. trinken (saufen) wie ein Bürstenbinder d. aufpassen wie ein Heftelmacher e. fressen wie ein Scheunendrescher f. frieren wie ein Schneider g. auf Schusters Rappen KAUFLEUTE (109): (109) a. (dem) muss man jedes Wort vom Munde abkaufen b. seine Aktien steigen (fallen) c. (etwas) auf dem Kerbholz haben KRIEGSHANDWERKER (110) (110) a. eine/ die Bombe ist geplatzt b. mit dem Säbel rasseln 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 185 c. in Harnisch geraten SEELEUTE (111): (111) a. (nicht) auf Deck sein b. im Trüben fischen c. unter fremder Flagge segeln JÄGER (112): (112) a. eine(n) Fußangel legen b. aufs Korn nehmen c. (einem) einen Strick drehen MUSIKER (113): (113) a. die erste Geige spielen b. (einem) die Wahrheit geigen c. andere Saiten aufziehen HENKER (114): (114) a. seine Henkersmahlzeit (er)halten b. den Kopf aus der Schlinge ziehen c. hols der Henker RICHTER (115): (115) a. sich zum Richter aufwerfen b. (jemand) an den Pranger stellen c. über (jemandem) den Stab brechen Auch in der germanistischen Sprachwissenschaft gibt es eine Vielzahl von Phraseologismen im Fachwortschatz, dieser beinhaltet sowohl idiomatisierte als auch nicht idiomatisierte Fachwörter. Beispiele sind (116): (116) Generative Semantik, historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, idealer Sprecher/ Hörer, funktionale Satzperspektive, selbsteinbettende Konstruktion, indogermanische Sprachfamilie, unpersönliche Verben, Genus Verbi 5.5.2.4.2 Funktionen berufsspezifischer Phraseologismen Die Funktionen der berufsspezifischen Phraseologismen sollen an der Politikersprache angesprochen werden, weil in ihr Phraseologismen häufig benutzt werden. 6 6 Vgl. Elspaß (1998) und Perennec (1999) 186 5 Phraseologie Die Benennungsfunktion wird in der Politikersprache wie in allen anderen Fachsprachen auch von Phraseologismen realisiert (117). (117) a. innere Sicherheit b. freiheitliche Grundordnung c. der deutsche Bundestag d. die Sitzung ist eröffnet Besonders die idiomatischen Wendungen sind gut geeignet, kompliziertere Sachverhalte einer breiteren Wählerschicht zu veranschaulichen (118). (118) Die Leute bewegen sich ja in der EU wie Fische im Wasser. Jürgen Meyer (Vizechef des Europaausschusses) in Thüringer Allgemeine 21.09. 2001 Überredungsabsicht: Auch die oftmalige Vagheit der Phraseologismen macht sie für Politiker attraktiv, weil sie gern auf vage Ausdrücke zurückgreifen, um eine große Gruppe von Menschen anzusprechen und um sie auf ihre Seite zu bringen (119). (119) a. Peer Steinbrück (SPD) vergleicht die Widerstände gegen Reformen mit einem Sumo-Ringkampf: „Wir müssen den fetten Kerl endlich zu packen kriegen.“ b. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen mahnt mutige Veränderungen an und warnt zugleich vor überholten Rezepten. Süddeutsche Zeitung, 07.02. 2003, S.10 Die Selbstdarstellungsfunktion (Imageschaffung) spielt bei Politikern eine wichtige Rolle, da ihre Redegewandtheit ein wichtiger Qualitätsmaßstab ist (120). Wer mit Phraseologismen schöpferisch umgehen kann, gilt als redegewandt. (120) a. Die Bahnreform von 1994 ist auf halber Strecke stecken geblieben. Kurt Bodewig im Politikerchat b. Auf falsch gestellten Weichen kann man nicht in die richtige Richtung fahren. Angela Merkel im Politikerchat Phraseologismen werden auch benutzt, um eigene Qualitäten herauszustreichen (121). 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 187 (121) (Ihr Erfolgsgeheimnis? ) Den Gegner auf die Matte legen. [. . . ] (Ihre gegenwärtige körperliche Verfassung? ) Fit wie ein Turnschuh. Roland Koch in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.12. 2002, S. 16 Die Bewertungsfunktion von Phraseologismen wird dann realisiert, wenn die Phraseologismen dazu dienen, den politischen Gegner abzuwerten bzw. politische Freunde aufzuwerten (122). (122) Im Ernst [. . . ] es hängt wohl mehr von den Grünen ab, die sich ja zur Zeit auf Gedeih und Verderb an die SPD klammern und von der auch entsprechend behandelt werden. Wolfgang Schäuble im Politikerchat Die Beziehungsfunktion der Phraseologismen meint, dass Phraseologismen genutzt werden beim Ab- oder Aufbau von kommunikativen Barrieren, bei der Ausgestaltung der Kommunikationssituation. Dies betrifft z. B. das Sichtbarmachen der persönlichen Beziehung zwischen Politikern und Gesprächspartnern in der Anredewahl. 5.5.2.5 Freizeitspezifische Phraseologismen Die Menschen kommunizieren nicht nur in berufsgeprägten Gruppen, sondern auch in Freizeitgruppen, wie Sport- und Hobbygruppen. Die sich dabei herausbildenden Sprachvarietäten nennt Löffler (1994) temporäre Soziolekte. Auch hier haben wir zum einen Phraseologismen, die thematisch von Gruppenbeschäftigungen geprägt sind, und zum anderen Phraseologismen, die in diesen Gruppen verwendet werden. Dies soll am Beispiel des Schachsports gezeigt werden. Thematisch vom Schachsport geprägte Phraseologismen (123): (123) a. den Gegner matt setzen = jemanden BESIEGEN b. (mattes 7 Licht = GERINGES Licht) c. (mattes Lächeln = MÜDES Lächeln) d. (jemanden) in Schach halten = NIEDERHALTEN Fachwendungen (124): (124) a. en passant = SCHLAGEN IM VORÜBERGEHN 7 Wird synchron als ein übertragener Gebrauch des gleichlautenden Schachausdrucks empfunden, leitet sich historisch eventuell aus dem afrz. mat, das „schwach, kraftlos“ bedeutet, her (Pfeifer (1989)). 188 5 Phraseologie b. j’adoube bzw. Ich rücke zurecht c. verbundene Bauern = BAUERN(SPIELSTEINE), DIE SICH GEGEN- SEITIG DECKEN d. rückständiger Bauer = EIN ZURÜCKGEBLIEBENER BAUER 5.5.3 Ideologiebezogene Phraseologismen Der Aspekt der Ideologiebezogenheit soll an der politischen Sprache erläutert werden. Wie im sonstigen Wortschatz auch, gibt es Phraseologismen, die ideologische Einstellungen anzeigen. Dies können politische Einstellungen, Urteile und Wertungen sein. Im Folgenden einige Beispiele für ideologiebezogene Phraseologismen: Vorurteile gegen anderen Völker bzw. Religionen (125): (125) a. (etwas) bis zur Vergasung erklären b. es geht zu wie in der Judenschule c. polnische Wirtschaft Politische Schlagwörter (126): (126) a. Recht auf Arbeit, soziale Gerechtigkeit [sozialistisch] b. ökologische und soziale Umgestaltung [sozial-ökologisch] c. dem Vaterland dienen, Achse des Bösen [konservativ] Fahnen- und Stigmawörter (127) (127) a. rote Socken [antikommunistisch] b. den Pfaffen kann selbst der Teufel nichts abgewinnen [antikirchlich] c. fairer Handel [liberal] Politische Werbung: meist mit Modifikationen von usuellen Phraseologismen (128) (128) a. Es geht eben nicht mit Links. (CDU/ CSU-Wahlwerbung 2002) „Etwas mit links tun“ wurde modifiziert. b. Grün wirkt: Für safer Sonnenschein (Bündnis90/ Die Grünen-Wahlwerbung 2002) „safer Sex“ aus Gesundheitskampagnen gegen AIDS bekannt, wurde abgewandelt. 5.5 Soziale Markiertheit von Phraseologismen 189 5.5.4 Interaktionalspezifische Phraseologismen Die traditionelle Phraseologie und Phraseo-Lexikographie hat sich analog zur traditionellen Stilistik damit begnügt, spezifische Gebrauchsanweisungen zu Verwendungsbeschränkungen von stehenden Wendungen als Abweichungen von einer Standardsprache (Schriftsprache) anzugeben. Nach dem Entstehen der Pragma-Soziolinguistik reicht dies aber nicht mehr aus, wie auch Steyer (2000, S. 107) in Bezug auf ein geplantes elektronisches Nachschlagewerk für usuelle Wortverbindungen des Deutschen ausführt: „Die vorherrschenden Etikettierungen und Zuordnungen zu Stilebenen (vgl. z. B. ‘gehoben’ vs. ‘umgangssprachlich’) reduzieren sich auf wenige Wörter. Zum Teil sind es Einwortkommentare, die keinesfalls dem modernen Forschungsstand der Pragmatik, Textlinguistik und Stilistik entsprechen.“ Nicht zugestimmt wird Steyer, wenn sie die pragma-stilistischen Eigenschaften nur als im „hohen Maße kontextabhängig“ und als „variabel“ ansieht (Ebenda), weil es neben der Kontextabhängigkeit und Vagheit auch feste pragma-stilistische Eigenschaften von Phraseologismen gibt. Löbner (2003, S. 36-40) spricht von „Ausdrücken mit sozialer Bedeutung “, und stellt berechtigt fest, dass die „soziale Bedeutung “nicht ein Phänomen der sprachlichen Handlungen sei, sondern auf der selben Ebene, wie die deskriptive Bedeutung liege, dass sie zur lexikalischen Bedeutung gehöre. Dies zeigen die Phraseologismen zur Anrede. Das Anredeverhalten gehört zur Höflichkeit und gehorcht neben universellen auch kulturspezifischen Regeln, die von Generation zu Generation überliefert werden und dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. So gab es in der Anfangszeit der deutschen Sprache kein distanzierendes ihr oder sie. Im “Hildebrandslied”, das Anfang des 9. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde, sprechen sich beispielsweise Hildebrand und Hadubrand mit sie an, obwohl sie sich vermeintlich völlig fremd sind (vgl. Besch (1996)). Das Anredeverhalten definiert und zeigt Beziehungen zwischen Kommunizierenden auf. Bestimmte Textsorten (Gespräch und Brief) verlangen immer eine Ein- und Ausleitung mit Grußformeln. Diese Einrahmung der Kommunikation erfolgt meist mit Phraseologismen, die pragma-stilistische Markierungen aufgrund ihrer lexikalischen Bedeutung hinsichtlich der sozialen Relation [+/ − ÜBERGEORDNET], der persönlichen Beziehung [+/ − BEKANNTHEIT], und Textsorte tragen. In Briefen werden heute folgende Anredeformeln verwendet: Liebe . . . , Lieber . . . , Meine liebe . . . , Mein lieber . . . , Liebste . . . , Liebster . . . , Es kommt auch Hallo oder nur die Anrede mit dem Vornamen vor, vor allem in den elektronischen Kommunikationsmitteln. Die obigen Anreden tragen die Verwendungsbeschränkung [+ BEKANNTHEIT], sie setzen somit voraus, dass sich die Kommunizierenden persönlich kennen. Als Textsorte verlangen sie vor allem den persönlichen Brief. 190 5 Phraseologie Sehr geehrte Frau . . . , liebe . . . 8 , Diese etwas umständliche Anrede (sehr geehrt- + lieb-) trägt die Verwendungsbeschränkungen [+ BEKANNTHEIT], [+ ÜBERGE- ORDNETHEIT DES ADDRESSATEN], [+ OFFIZIELLES SCHREIBEN]. In der DDR war an dieser Stelle die Anrede Werte (Kollegin) . . . üblich. Sehr geehrte Frau . . . , Diese Anredeformel trägt die Verwendungsbeschränkung [+ OFFIZIELLES SCHREIBEN]. Sie wird zum Teil auch bei persönlicher Bekanntheit benutzt, wenn das Merkmal [+ ÜBERGEORDNETHEIT DES ADDRESSA- TEN] in den Vordergrund tritt. Diese Anrede ist auch die Norm, wenn die brieflichen Kommunizierenden sich nicht kennen, [- BEKANNTHEIT] und [- ÜBERGEORD- NETHEIT] vorliegt. Wenn keine Übergeordnetheit besteht oder diese ausdrücklich nicht signalisiert werden soll, wird auch Liebe Kollegin . . . benutzt. Neben diesen drei Hauptanredeformeln für Briefe gibt es im gegenwärtigen Deutsch noch zahlreiche Spezialanredeformeln, die spezielle pragma-soziolinguistische Markierungen tragen, zum Beispiel: Sehr geehrte Frau Direktor, . . . Diese Anredeformeln sind idiomatisiert. Sehr geehrte Frau Direktor, bedeutet im Regelfall nicht, ICH VEREH- RE DIE DIREKTORIN SEHR. Sie signalisiert vielmehr Gesprächsbereitschaft und kennzeichnet die soziale Relation und persönliche Beziehung zwischen den Kommunizierenden. 5.6 Textuelle Eigenschaften von Phraseologismen 5.6.1 Allgemeine Charakterisierung Bisher wurde der textlinguistische Aspekt von Phraseologismen bevorzugt in drei Richtungen untersucht. Es wurde nach dem „Ort des Phraseologismus im Text“ (Burger, 1998), außerdem nach dem Abwandlungscharakter (Variationen und Modifikationen unterschieden (Burger (1998)) und nach Textsortenspezifika gefragt. Bei letzterem standen vor allem die Funktionen, die Phraseologismen in den verschiedensten Textsorten haben, im Vordergrund. Wir sind in 5.5.2.4 auf diesen funktionalen Aspekt eingegangen. Nach Elspaß (1998, S. 25) sind für die mögliche Verwendung von Phraseologismen folgende Faktoren (129) relevant: (129) a. die gewählte Textsorte, b. der ausgewählte Phraseologismus in Bezug zur Textsorte, c. das Passen zur Themenstellung, d. die für die Formulierung zur Verfügung stehende Zeit, e. die gewählte mediale Varietät (mündlich oder schriftlich). 8 Es werden jetzt nur die weiblichen Formen beispielhaft angeführt. 5.6 Textuelle Eigenschaften von Phraseologismen 191 Fehlleistungen bei der Verwendung von Phraseologismen können die Relevanz dieser Faktoren bestätigen. Beispielsweise kamen in jüngerer Zeit verschiedene phraseologische Wendungen mit Wende in der politischen Sprache in Mode (politische Wende oder geistig-moralische Wende). Ob man nun, wie es das „Lexikon der Unwörter“ (Schlosser, 2000, S. 93) tut, „das Wort Wende doch lieber den Schwimmern und Seglern lassen“ sollte, weil es in der Wirklichkeit zu keinen grundlegenden Veränderungen gekommen sei, ist aus textlinguistischer Sicht fraglich, da es für bestimmte Textsorten der Politiker/ innen typisch ist, dass sie anzustrebende, idealisierte, wünschenswerte Ziele formulieren. Zum Teil wird in der Literatur davon gesprochen, dass ein politischer Begriff „keine Extension, d. h. keine konkreten Gegenstände (Referenzobjekte)“ hat. Es handelt sich in den angeführten Fällen mit Wende als Kernwort um keinen manipulatorischen Sprachgebrauch. 5.6.2 Vorkommen von Phraseologismen im Text Topologische Regeln für die Platzierung von Phraseologismen in Texten gibt es für die meisten phraseologischen Klassen nicht. Anders sieht es bei den Routineformeln aus, die u. a. den Textbeginn bzw. das -ende markieren. Besonders für idiomatische Phraseologismen gibt es in der Schriftsprache bestimmte Präferenzen. Sie treten häufig am Anfang oder Ende eines Abschnittes oder Textes auf. (130) ist ein typisches Beispiel für einen Phraseologismus in Anfangsstellung. (130) Der spanische Chefdiplomat Josef Pique wusste, wie er Feuer in die müde Sitzung der 15 EU-Außenminister in Luxemburg tragen konnte. Der Spiegel 24.06. 2002, S. 130 Feuer (wohin) tragen ist ein bildliches Idiom, dass die Rezeption erleichtert und in eine bestimmte Richtung lenkt. Außerdem wird gleichzeitig eine Bewertung abgegeben. (131) ist ein Beispiel für einen typischen abschließenden Phraseologismus (hier am Interviewende). (131) Wir werden das Thema aber wieder auf die Tagesordnung bringen. Miriam Meckel (NRW-Medienstaatssekretärin) Der Spiegel 21.10. 2002, S. 115 Hier fasst der usuelle Phraseologismus etwas wieder auf die Tagesordnung bringen zusammen und stellt in Aussicht, dass man sich nicht mit der Niederlage abfinden will. Häufig findet man idiomatische Phraseologismen auch in den Überschriften bzw. Schlagzeilen von Artikeln oder am Beginn von Reden. Die Rezipienten werden so in die Thematik eingeführt, dass die mit den Idiomen verbundenen Konnotationen 192 5 Phraseologie Bildfelder eröffnen, die Interesse erzeugen können und das Anknüpfen an Bekanntes ermöglichen. In (132) vermittelt der Phraseologismus Ein fauler Hund (sein) in Verbindung mit lange arbeiten einen Überraschungseffekt und macht neugierig auf das nachfolgende Interview. (132) „Wer zu lange arbeitet, ist ein fauler Hund“ Berater Rupert Lay über die 40-Stunden-Woche für Manager, den ständigen Unsinn ständiger Konferenzen [. . . ] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.02.2003, S. 33 Bei der Einbettung in den Kontext gibt es für die Phraseologismen im engeren Sinne verschiedene Besonderheiten: i) Bei der Kohäsionsrealisierung widersetzen sich diese Phraseologismen häufig den üblichen Verfahren. So u. a. bei der Pronominalisierung und anaphorischen Wiederaufnahme. In (133) kann die Flinte z. B. nicht durch ein Pronomen wieder aufgenommen werden, weil sich dann die idiomatische Lesart verliert. (133) Du sollst die Flinte nicht gleich ins Korn werfen. *Sie kann dir noch helfen. Allerdings ist das nicht generell so, wie (134) zeigt. (134) Gehen Sie auf den Strich, Genosse Frauensenator, und fragen Sie, warum da wirklich angeschafft wird. EMMA März/ April 2002, S. 13 ii) Häufig werden Phraseologismen durch Modifikationen dem Kontext angepasst wie in (135), wo wir zum einen eine äußere Modifikation und zum anderen eine inhaltliche Modifikation sehen können. (135) a. In Münteferings Wahlkampfzentrale sorgt man sich inzwischen um die Motivationslosigkeit der Genossen. „Wir müssen da noch ein, zwei Gänge hochschalten“, heißt es fordernd aus den Ländern. Fokus 22.04.2002, S. 36 b. Zunächst einmal stehen Frau Marquardt selbst die Haare zu Berge. Gregor Gysi im Politikerchat 2001 In (a) wird der Phraseologismus einen Gang hochschalten durch zwei erweitert. Dies intensiviert das Bild noch. In (b) wird die phraseologische Bedeutung deaktiviert und eine Kontrastierung erzeugt. iii) Substitutionen sind gängige Modifizierungsmechanismen bei Phraseologismen (vgl. Ptashnyk (2001)). Eine bzw. mehrere Konstituenten von Phraseologismen werden bewusst ausgetauscht (dass es öfters zu fehlerhafter Phraseologismenbildung kommt, soll hier unbeachtet bleiben). Dieser Austausch kann aus stilistisch-rhetorischen Gründen erfolgen oder auch Benennungslücken schließen. Ptashnyk (2001) unterscheidet vier Arten der phraseologischen Substitution: 5.7 Arten von Phraseologismen 193 • Die paradigmatisch bedingte Substitution: zwischen den Substitutionspartnern besteht eine Sinnrelation. (136) Die Bahnreform von 1994 ist auf halber Strecke stehen geblieben. Kurt Bodewig im Politikerchat stehen bleiben vs. stecken geblieben = Bedeutungsähnlichkeit. • Die bildlich bedingte Substitution: der Kontext baut das Bild weiter aus. (137) Auf falsch gestellten Weichen kann man nicht in die richtige Richtung fahren. Angela Merkel im Politikerchat Weichen stellen vs. in eine Richtung fahren = Bildausbau • Die paradigmatisch-kontextuelle Substitution: die Substitutionspartner stehen in einer Sinnrelation, die durch den Kontext bedingt ist. (138) Es gibt noch viel zu passieren vs. es ist viel passiert Süddeutsche Zeitung 18.12.2000, S. 10 • Die kontextuell bedingte Substitution: zwischen den Substitutionspartnern besteht keine Sinnrelation, der Kontext bestimmt die Wahl des Substituendums. (139) Dein Wort in Rüttgers Ohr (aber erst am Wahltag abends). Franz Müntefering im Politikerchat Dein Wort in Rüttgers Ohr vs. Dein Wort in Gottes Ohr 5.7 Arten von Phraseologismen An dieser Stelle soll nicht die Vielzahl von Klassifikationssystemen wiedergegeben werden, die sich zum einen hinsichtlich der zu Grunde gelegten Kriterien (semantisch, syntaktisch und/ oder pragmatisch) bzw. ihrer Gewichtung und zum anderen hinsichtlich der Enge oder Weite des Phraseologismusbegriffes (weite Modelle beziehen heute auch die Kollokationen ein) unterscheiden. In Anlehnung an Agricola (1992), Burger (1998) und Fleischer (1997) sollen die in der folgenden Strukturübersicht dargestellten Hauptarten von Phraseologismen unterschieden werden, die sich semantisch und strukturell abgrenzen. 194 5 Phraseologie Idiome und Teilidiome INPs IVPs SPs Strukturformeln Routineformeln Kollokationen Nichtidiome Phraseologismen Abbildung 5.1: Phraseologismen-Klassen Idiomatische Phraseologismen: Die idiomatischen bzw. teilidiomatischen Phraseologismen stellen traditionell den Kernbereich der Phraseologismen dar. Die Idiome bzw. Teilidiome haben das semantische Merkmal referentiell zu sein, d. h., sie beziehen sich auf wirkliche oder vorgestellte Denotate (140). (140) a. unchristliche Zeit = FRÜHER ZEITPUNKT = Teilidiom b. mit der Zeit gehen = FORTSCHRITTLICH SEIN = Idiom In struktureller Hinsicht können sie [+ bzw. - verbhaltig] sein und [+ bzw. - satzwertig] sein. Es können deshalb INPs (idiomatische bzw. teilidiomatische nominative Phraseologismen), IVPs (idiomatische bzw. teilidiomatische verbale Phraseologismen) und SPs (idiomatische bzw. teilidiomatische satzwertige Phraseologismen) unterschieden werden. INPs (idiomatische bzw. teilidiomatische nominative Phraseologismen): Idiomatische bzw. teilidiomatische nominative Phraseologismen haben die strukturellen Merkmale [- verbhaltig], [- satzwertig]. Sie beinhalten also kein Verb und haben deshalb meist eine Satzgliedbzw. -teilfunktion inne. Sie haben primär eine benennende (nominative) Funktion (141). (141) a. abgefahrene Party = teilidiomatischer nominativer Phraseologismus b. das schwarze Schaf = UNANGEPASSTE(R) = idiomatische nominative Phrase IVPs (idiomatische bzw. teilidiomatische verbale Phraseologismen): Idiomatische bzw. teilidiomatische verbhaltige Phraseologismen haben die strukturellen Merkmale [+ verbhaltig], [- satzwertig]. Das Hauptmerkmal dieser Gruppe ist, dass ihre Vertreter verbhaltig sind. Sie sind aber trotzdem nicht satzwertig, weil sie ein oder mehrere Argumente als Ergänzung benötigen. Bei den teilidiomatischen VPs kann entweder das Verb idiomatisch sein oder ein bzw. mehrere interne Argumente sind idiomatisiert (142): 5.7 Arten von Phraseologismen 195 (142) a. alle Rekorde brechen = EINEN REKORD ERZIELEN b. grünes Licht geben = DIE ERLAUBNIS GEBEN Die vollidiomatischen sind als Ganzes umgedeutet (143). (143) Schmetterlinge im Bauch haben = VERLIEBT SEIN = idiomatische verbale Phrase SPs (idiomatische bzw. teilidiomatische satzwertige Phraseologismen): Satzwertige Phraseologismen (Sprichwörter, Redensarten, Geflügelte Worte) haben die strukturellen Merkmale [+ verbhaltig], [+ satzwertig]. Ob sie zu den Phraseologismen gehören, ist umstritten, da sie keinen Lexemcharakter mehr haben, sondern vielmehr Textkondensate sind [+ textwertig]. Andererseits haben sie auch die Eigenschaften der Festigkeit und Idiomatizität. Nichtidiomatische Phraseologismen: Diese haben strukturierende Funktionen [+/ - strukturierend] bzw. die benennende Funktion [+/ - nominativ]. Strukturelle Phraseologismen: Sie haben die Aufgabe, grammatische Relationen herzustellen. Sie eröffnen Leerstellen, die ausgefüllt werden müssen. Sie haben deshalb alleine keine nominative Funktion, z. B. hin und her [- V ], an der Stelle von [- N ]. Sie haben die Merkmale [+ strukturierend], [- nominativ]. Routineformeln: Sie strukturieren nicht wie die strukturellen Phraseologismen Phrasen sondern Texte, indem sie beispielsweise die Einleitung und den Schluss des Kommunikationsaktes markieren. Sie sind zwar bedeutungshaltig, aber oftmals sehr vage. In (144) ist der Grad der gemeinten Herzlichkeit sehr vage und hängt u.a. von der Kommunikationssituation ab, ob es sich beispielsweise um eine private oder dienstliche Korrespondenz handelt. (144) mit herzlichem Gruß Routineformeln haben die Merkmale [+ strukturierend], [+ nominativ]. Kollokationen: Sie sind nichtidiomatisch, und ihre Bedeutung kann kompositionell aufgebaut werden. Erst in jüngerer Zeit werden sie zu den Phraseologismen gerechnet. Sie sind Mehrwortverbindungen, die statistisch erwartbar, miteinander verbunden werden. Sie haben die Merkmale [- strukturierend], [+ nominativ]. 196 5 Phraseologie 5.8 Literaturhinweise • Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Erich Schmidt Verlag: Bielefeld 1998 • Geoffrey Nunberg, Ivan A. Sag, Thomas Wassow: Idioms. Language 70 (3), p. 491-538 • Dmitrij O. Dobrovol’skij: Idiome im mentalen Lexikon: Ziele und Methoden der kognitivbasierten Phraseologieforschung. Wissenschaftlicher Verlag: Trier 1997 5.9 Übungsaufgaben 1. Ermitteln Sie die im folgenden Text enthaltenen Phraseologismen! Welche phraseologischen Merkmale treffen auf die gefundenen Beispiele zu? Alleine reisen. Wo. Wie. Wunderbar Urlaub! Da packt die Emma-Leserin flugs den Koffer, denn sie tritt am liebsten mehrere Male im Jahr eine Reise an. Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie bekanntlich was erleben. Als die Autorin dieses Textes letzten Sommer allein nach Südfrankreich unterwegs war und am Rastplatz in ihrem Auto ein Nickerchen machte, wachte sie davon auf, dass ein Franzose lautstark an ihre Scheibe hämmerte und mit ihr ‘ön Kaffee’ trinken wollte. (EMMA, März/ April 2002, S.105) 2. In welchen Sinnrelationen stehen die Phraseologismen? (145) a. mit dem Strom schwimmen / gegen den Strom schwimmen b. den Löffel abgeben / über den Jordan gehen c. nicht auf dem Damm sein / die Tage haben 3. Liegt Polysemie oder Homonymie vor? Bestimmen Sie die Sememe! (146) a. auf die Straße gehen b. trocken sein c. in die Röhre gucken d. das Rad der Geschichte zurückdrehen 4. Beschreiben Sie die Bedeutungen! 5.9 Übungsaufgaben 197 Die Studierenden jobben in den Semesterferien, um die Haushaltskassen aufzufrischen. Sie machen aus der Not eine Tugend und lernen den Kochlöffel schwingen. 5. Beschreiben Sie die in den Phraseologismen lexikalisierten Metaphern! Wenn selbst der ‘Spiegel’ auf der Woge des Zeitgeistes schwimmt und begriffslos den „Luxus“ feiert, sollten uns doch die Augen aufgehen. Die Zeit, 09.01. 1987, S. 45 6. Welche soziale Markierung tragen die Phraseologismen? Es läbbert sich zusamm, Eine einstweilige Verfügung erlassen., Auf der Homepage stehen Antworten zur Verfügung. 7. Ermitteln Sie die Phraseologismen und ordnen Sie diese einer Klasse zu! Marke Missgeburt Es hagelte so heftige Proteste, dass der Media Markt einen - pardon - Rückzug machte. . . . Daraufhin zog Media Markt 15.000 schon gedruckte Plakate zurück. (EMMA, März/ April 2002, S.8) 6 Lösung der Übungsaufgaben 6.1 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 2. Wortschatzkunde 1. Kuckucksuhr ist morphologisch-phonetisch motiviert (durchsichtig). Kuckuck ist phonetisch motiviert. 2. Keine prototypischen Wörter vorhanden: Du: kein semantisch vollwertiges Wort, weil es ohne weiteren Kontext eine offene Stelle (x) hat: ANGESPROCHENE PERSON(x). aussprechen: kein phonetisch-graphisches Wort, weil es im Satz in zwei Teile auseinander fällt. ein: kein semantisches Wort, weil keine selbstständige lexikalische Bedeutung (Hilfswort); kein syntaktisches Wort, weil kein Kopf einer lexikalischen Phrase, Teil der Substantivphrase; kein pragmatisches Wort, weil keine Darstellungs-, keine Ausdrucksund/ oder Appellfunktion. großes Wort: keine selbständigen semantischen Wörter, weil eine idiomatische Einheit (BEDEUTUNGSVOLLE ÄUßERUNG). 3. Mit performativen Verben kann in performativen Sätzen eine Handlung vollzogen werden. Z.B. Ich kündige dir meine Freundschaft. 4. Das Wort Zone war zur Zeit der Teilung Deutschlands eine abwertende Bezeichnung für die DDR und trägt deshalb, wenn es heute verwendet wird, diskriminierenden Charakter. 5. Folgende fachsprachliche Bedeutungen liegen vor: rostfrei: VDI-Richtlinie 2270 „Adjektivbildungen . . . mit los und . . . frei“: „-los“ + Substantiv = Abwesenheit von Stoffen oder Gegenständen als wünschenswert (wertend). nichtrostend: Adjektivbildungen mit „-nicht“ betonen Gegensatz. Fachsprachliche Wörter haben festgelegte, eindeutige Bedeutungen, die, wie in den genannten Beispielen, den alltagssprachlichen Bedeutungen nicht entsprechen müssen. 6. Siehe Abbildung 6.1 auf der nächsten Seite. 200 6 Lösung der Übungsaufgaben Substantiv (Merkmal) 2. Unterbegriff: Konkreta Abstrakta Semantik 1. Unterbegriff: Gattungsnamen Eigennamen Semantik 3, Unterbegriff: Individuativa Stoffe Kollektiva Vorgänge Eigenschaften Beziehungen ... Oberbegriff Abbildung 6.1: Fachwortleiter Substantiv 7. POWER! - Taschenbuch: Kompositum mit Fremdwortkomponente komplett: Lehnwort Office: Fremdwort XP - Funktionen: Lehnwort mit Fremdwortkomponente. 8. sich anstrengen - sich ausruhen = Antonymie lernen - pauken = partielle Synonymie salzen - würzen = Hierarchie, Hyponymie atmen - Luft holen = Synonymie verwitwet - geschieden = partielle Synonymie weiblich - männlich = Kontradiktion 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 201 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 6.2.1 Zu 3.1.1 frischer Fisch : frisch = BM, -er = FM, Fisch = BM freundliche : freund = BM, -lich = WBM Suff , -e = FM Bedienung : Be = WBM Präf , dien = BM, -ung = WBM Suff Arbeitslosigkeit : Arbeit = BM, -s = FE, -los = WBM Suff ,-igkeit = WBM Suff beleidigen : be- = WBM Zirkumfix/ Präf , leid = BM, -ig = WBM Zirkumfix/ Suff , -en = FM drogensüchtig : droge = BM, -n = FE, sücht = BM (mit Allomorph), -ig = WBM Suff Hundebiss : Hund = BM, -e = FE, biss = BM (mit Allomorph) Größe : Größ = BM (mit Allomorph), -e = WBM Suff Nachtigall : Nacht = BM, -i = FE, gall = BM (unikales Morphem) Mikrofilm : Mikro = BM (Konfix), film = BM Wortbildungsart : Wort = BM, bild- = BM, -ung = WBM Suff , -s = FE, art = BM 202 6 Lösung der Übungsaufgaben 6.2.2 Zu 3.1.2 Handtasche : Hand (1. UK) / tasche (2. UK) Handhabung : Handhab (1. UK) / ung (2. UK) Handballmannschaft : Handball (1. UK) / mannschaft (2. UK) vierhändig : vierhänd (1. UK / Wortgruppe) / ig (2. UK) Wirkungslosigkeit : Wirkungslos (1. UK) / igkeit (2. UK) Beliebigkeit : Beliebig (1. UK) / keit (2. UK) sprachwissenschaftlich : sprachwissenschaft (1.UK) / lich (2. UK) hochwissenschaftlich : hoch (1. UK) / wissenschaftlich (2. UK) Frühaufsteher : Frühaufsteh (1. UK) / Wortgruppe) / er (2. UK) Straßenbahner : Straßenbahn (1. UK) / er (2. UK) beleibt : be t (diskontinuierliche UK) / leib (andere UK) Winkelmesser : Winkelmess (1. UK / Wortgruppe) / er (2. UK) oder : Winkel (1.UK) / messer (’Messgerät’, 2. UK) Taschenmesser : Taschen (1. UK) / messer (2. UK) Unabhängigkeit : Unabhängig (1. UK) / keit (2. UK) oder : Un (1. UK) / abhängigkeit (2. UK) Dreitagebart : Dreitage (1. UK/ Wortgruppe) / bart (2. UK) 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 203 6.2.3 Zu 3.2 Stamm Wurzel WBM BM BM Suff Wort N N, FE N BM, FE Stamm N, FE N Stamm, FE Wurzel V Aff/ Suff Land es prüf ung s amt Land es prüf ung s amt [ N [ N Land ] FE es [ N [ N [ V prüf ] [ Aff/ Suff ung ]] FE s [ N amt]]] Abbildung 6.2: Landesprüfungsamt = Determinativkompositum BM Wurzel BM Drei könig s fest Wort N WG, FE Wurzel Stamm NP, FE N ZA N BM Drei könig s fest [ N [ NP [ ZA Drei ] [ N könig ]] FE s [ N fest ]] Abbildung 6.3: Dreikönigsfest = Determinativkompositum / Zusammenbildung 204 6 Lösung der Übungsaufgaben Wort Stamm Wurzel Wurzel BM BM A A A süß sauer süß sauer [ A [ A süß ] [ A sauer ] ] Abbildung 6.4: süßsauer = Kopulativkompositum Stamm Wort WG Wurzel BM Wurzel BM N NP A ZA N BM Drei käse hoch Drei käse hoch [ N [ NP [ ZA Drei] [ N käse ]] [ A hoch ]] Abbildung 6.5: Dreikäsehoch = Zusammenrückung N Stamm WBM Wurzel WBM WBM Wurzel Suff BM Suff V Aff/ Suff V Aff/ Suff N, FE N Präf BM Aff/ Präf V Be deut ung s lehr e Be deut ung s lehr e Stamm, FE Stamm Wort Stamm [ N [ N [ V [ Aff/ Präf Be] [ V deut ]] [ Aff/ Suff ung ]] FE s [ N [ V lehr ] [ Aff/ Suff e ] ] ] Abbildung 6.6: Bedeutungslehre = Determinativkompositum 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 205 Stamm Stamm WBM WBM Wurzel Suff Part BM Wort N BM, FE Stamm N, FE N V Aff/ Suff Aff/ Part V Stelle n aus schreib ung Stelle n aus schreib ung [ N [ N Stelle ] FE n[ N [ V [ Aff/ Part aus][ V schreib]][ Aff/ Suff ung]]] Abbildung 6.7: Stellenausschreibung = Determinativkompositum Wort Stamm BM Wurzel BM Schwarz kittel N A N Schwarz kittel [ N [ A Schwarz] [ N kittel ]] Abbildung 6.8: Schwarzkittel = Determinativkompositum / Possessivkompositum Rektionskompositum oder Nichtrektionskompositum? • Rektionskomposita: Zigarrenraucher, Parteibeitritt, Umweltschutz, Textilreinigung, Personenfahndung,vitaminreich • Nichtrektionskomposita Gelegenheitsraucher, Schnellreinigung 206 6 Lösung der Übungsaufgaben 6.2.4 Zu 3.3.1 Stamm Stamm WBM WBM Wurzel Suff Part BM Wort A Aff/ Präf A V Aff/ Suff Aff/ Präf V’ an nehm bar un ver träg lich Abbildung 6.9: annehmbar = Suffigierung unverträglich = Präfigierung • Einzeller = Suffigierung (Zusammenbildung) • [ N [ NP [ ZA Ein][ N zell(e)]] [ Aff/ Suff er]] N Wort WBM Wurzel WBM Ge tös e Präf BM Suff be erd ig en Zirkumfix Zirkumfix Aff/ Präf V’ Aff/ Suff Stamm FM Abbildung 6.10: Getöse = kombinatorische Derivation beerdigen = kombinatorische Derivation • dreispurig = Suffigierung (Zusammenbildung) • [ A [ NP [ ZA drei] [ N spur]][ Aff/ Suff ig]] 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 207 Stamm WBM V F Stamm Wurzel, FE WBM Suff BM Suff Wort V A Aff/ Suff Kind er los igkeit blöd el n Abbildung 6.11: Kinderlosigkeit = Suffigierung blödeln = Suffigierung • Missachtung = Präfigierung oder Suffigierung • [ N [ Aff/ Präf Miss ] [ N [ V acht ] [ Aff/ Suff ung ]]] • oder [ N [ V [ Aff/ Präf Miss ] [ V acht ] ] [ Aff/ Suff ung ]] Warum primär keine Präfigierung? Da Präfixe im Deutschen die linke UK repräsentieren und somit keine grammatische Head-Funktion wahrnehmen können, sind sie nicht verantwortlich dafür, dass trotz Kombination mit verbal kategorisierten Basismorphemen das Gesamtwort ein Nomen darstellt. Geht man von strenger Rechtsköpfigkeit des Deutschen aus, kann dies nur ein phonetisch-phonologisch nicht realisiertes Suffix ( Ø - Suffix) bewirken. Zudem gilt für echte Präfigierungen, dass die rechte UK ein freies Morphem/ eine freie Morphemkonstruktion sein muss (vgl. be-urteilen, ent-sagen, Miss-gunst, unheilbar, Un-mensch, ver-leihen). Leih, leg, richt, weis, zehr usw. erfüllen als verbale gebundene Basismorpheme diese Bedingung nicht. Präfixverb, Partikelpräfixverb oder Partikelverb? • Präfixverben: bestellen, zerfließen, enttarnen, verführen, geloben • Partikelpräfixverben: umschmeicheln, umschreiben (‘anders sagen, nicht mit direkten Worten sagen’), hinterlegen, vollenden 208 6 Lösung der Übungsaufgaben • Partikelverben: wegnehmen, umbuchen, umschreiben (‘Geschriebenes schriftlich ändern’), auslachen, aufzählen, stillhalten Präfigierung, kombinatorisches Derivat oder verbales Partizip II? • Präfigierungen: beraten, entsagen, erfrieren, ertrinken, vertreiben, verfestigen, zerrinnen • Kombinatorische Derivate: beauftragen, befreien (‘frei machen’), entmutigen, entledigen, ermüden, beleibt, verarmen, bestrumpft, zerfleischen, behaart, genarbt • Partizipien II: bemüht, beklebt, gemalt 6.2.5 Zu 3.3.2 Wurzel WBM V F Wort Stamm BM’ Suff Wurf Ø V N Aff/ Suff geige Ø n Abbildung 6.12: Wurf geigen • Blau: • [ N [ A Blau] [ Aff/ Suff Ø ]] 6.2 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 3. Wortbildung 209 Wort Stamm Wurzel WBM FM Blau Ø e N V Aff/ Suff Aff/ Präf V Ver hör Ø BM Suff Abbildung 6.13: Blaue Verhör • reifen • [ V [ A reif ] [ Aff/ Suff Ø]] F en 210 6 Lösung der Übungsaufgaben 6.2.6 Zu 3.4 (die) Rote = implizite Derivation (die) Röte = explizite Derivation / Suffigierung sich röten = implizite Derivation ziegelrot = Determinativkompositum rot - grün = Kopulativkompositum Rotschwänzchen = Determinativkompositum / Possessivkompositum Begrünung = explizite Derivation / Suffigierung hellgrün = Determinativkompositum grünlich = explizite Derivation / Suffigierung Grünschnabel = Determinativkompositum / Possessivkompositum Grünpflanze = Determinativkompositum grünstichig = explizite Derivation / Suffigierung (Zusammenbildung) Kälte = explizite Derivation / Suffigierung erkalten = explizite Derivation / kombinatorische Derivation nasskalt = Kopulativkompositum Kaltblüter = explizite Derivation / Suffigierung (Zusammenbildung) eiskalt = Determinativkompositum kaltschnäuzig = explizite Derivation / Suffigierung (Zusammenbildung) 6.3 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 4. Lexikalische Semantik 211 6.2.7 Zu 3.5 ZDF = multisegmentales KW / Initialkurzwort (alphabetische Aussprache) Thea = unisegmentales KW / Endwort (Dorothea) Dia = unisegmentales KW / Kopfwort (Diapositiv) Schieri = multisegmentales KW / Silbenkurzwort (Schiedsrichter) Limo = unisegmentales KW / Kopfwort (Limonade) Ufo = multisegmentales KW / Initialkurzwort (phonetisch-gebundene Aussprache) (engl. unidentified flying object) DAAD = multisegmentales KW / Initialkurzwort (alphabetische Aussprache) (Deutscher Akademischer Austauschdienst) Kita = multisegmentales KW / Silbenkurzwort (Kindertagesstätte) Lok = unisegmentales KW / Kopfwort (Lokomotive) Gitte = unisegmentales KW / Endwort (Brigitte) 6.3 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 4. Lexikalische Semantik 1. blau: Angabe einer Kollokation Kornschnaps: Bedeutungsgleiches Wort tapfer: mit Bedeutungsgegensatz Camping: Bedeutungsdefinition 2. unbeherrscht: Synonym der jähzornige Mann: Kollokation nicht ausgeglichen: mit Antonym plötzlich unbeherrscht seiend: Bedeutungsdefinition 3. Siehe Abbildungen 6.14 auf der nächsten Seite! 212 6 Lösung der Übungsaufgaben BD: Retten ist eine Tätigkeit, bei der etwas oder jemand aus einer bedrohlichen Definiens Differentia Specifica mensch Genus Proximum rettet leben anderen menschen unter einsatz seines lebens Lebens das Leben rettet. leblos Definiens Genus Proximum Differentia Specifica zustand eines lebewesens ohne lebensanzeichen BD: Leblos bezeichnet den Zustand eines Lebewesens ohne Lebensanzeichen. retten Definiens Genus Proximum Differentia Specifica tätigkeit befreien aus bedrohlicher situation jemanden/ etwas = = Situation befreit wird. Lebensretter = BD: Ein Lebensretter ist ein Mensch, der anderen Menschen unter Einsatzseines Abbildung 6.14: Klassische Bedeutungsdefinition 4. besoffen = umgangssprachlich-salopp beschwipst = umgangssprachlich Bargeld = normal Moneten = umgangssprachlich-salopp Bedürfnisanstalt = amtssprachlich auf etwas stehen = jugendsprachlich Geheimratsecken bekommen = verhüllend Tiefausläufer = Presse und Publizistik (Wetterbericht) eins auf die Mütze bekommen = Alltagssprache Widerspruch einlegen = Verwaltung (Amtssprache) 6.3 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 4. Lexikalische Semantik 213 Elfer = mündlich / freizeitlich äh = mündlich 5. Siehe folgende Abbildungen! Rentnerschwemme denotative Bedeutung Konnotationen begriffliche wertende wachsende Menge von Rentenberechtigten abwertend verglichen mit Naturereignis Pressesprache verhüllend Abbildung 6.15: Rentnerschwemme Gewinnwarnung denotative Bd. Konnotationen begriffliche wertende Warnung einer Firma vor finanziellen Verlusten euphemistisch, manipulierend: Bedeutung verwendet fachsprachlich: Bankwesen Gewinn wird in gegensätzlicher Abbildung 6.16: Gewinnwarnung 214 6 Lösung der Übungsaufgaben Kollateralschaden denotative Bd. Konnotationen begrifflich wertend Tötung von Unbeteiligten kollateral (seitlich) doppelt beschönigend, verharmlosend: Tötung wird mit Schaden gleichgesetzt . Verbrechen als belanglose Nebensächlichkeit bezeichnet. unverständliche Fremdwortkomponente Fachsprache (Nato) Abbildung 6.17: Kollateralschaden 6. Siehe folgende Abbildung! Die gelben Rosen duften stark. N/ N N/ N N S/ N (S/ N)/ (S/ N) N S/ N N S Abbildung 6.18: Überprüfung 7. Siehe Abbildung auf der folgenden Seite! 6.3 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 4. Lexikalische Semantik 215 Leni Riefenstahl wird angeklagt weiterhin von der Öffentlichkeit (Objektseme) <menschlich> <tätigkeit> <zeitraum> <menschlich> <weiblich > <erklären jmdn.> <auch zukünftig> <bevölkerung > <mit namen . . . > <schuldig> <nicht privat> (Verallgemeinerungsseme) <singul> <gener> (Sprechaktseme) <zukünftig + gegenwart> (Realitätsgradseme) < . > (Strukturseme) N S/ NN (S/ NN)/ (S/ NN) N <mesosymmetrisch> <mesotransitiv> 8. meinem: kontextabhängig (deiktisch) Leben: mehrdeutig (polysem) entscheiden: vage ich: kontextabhängig (deiktisch) 9. Fuß: polysem (Körperteil + Teil einer Sache (Lampenfuß)) das Steuer, die Steuer: homonym übersetzen: homonym (befördern + übertragen: unterschiedliche Akzentsetzung und Flexion) blau: polysem (Farbeigenschaft + betrunken) Note: polysem (Musikzeichen + Bewertung + Schriftstück) der Bauer / die Bauern: polysem (Landwirt + Schachfigur) der Bauer vs. das Bauer / die Bauer: homonym (Landwirt + Schachfigur vs. Vogelkäfig) 10. Siehe folgende Abbildung! Fahrzeug komplex abgrenzbar speziell Fahrrad Auto Rollschuhe Jaguar Abbildung 6.19: Prototyp 216 6 Lösung der Übungsaufgaben 11. Siehe folgende Abbildung! GF: Käse +N ... Nahrungsmittel Käse Hartkäse Weichkäse leichtverdaulich fetthaltig aus Milch s ob ub ub a a a Abbildung 6.20: Frame 12. Siehe folgende Abbildung! Fahrkarte besorgen & & ... Sachen raussuchen Koffer packen Reise planen Abbildung 6.21: Script 13. Wüste 1. Substantiv, Gattungsname 2. Landschaft 3. Sand, keine Pflanzen, trocken, heiß . . . 4. Territorium Apfelschorle 1. Substantiv, Stoffangabe 2. Getränk 3. Apfelsaft und Selterswasser, durstlöschend, wohlschmechend, erfrischend, . . . 4. 50 % H 2 0 + 50 % Apfelsaft 6.4 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 5. Phraseologie 1. (packte den Koffer): Polylexikalität wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erleben: Polylexikalität, Festigkeit ein kleines Nickerchen machte: Polylexikalität, Festigkeit, Teilidiomatizität einen Kaffee trinken: Polylexikalität, Festigkeit 6.4 Lösung der Übungsaufgaben zu Kapitel 5. Phraseologie 217 2. mit dem Strom schwimmen / gegen den Strom schwimmen: Kontradiktion den Löffel abgeben / über den Jordan gehen: Synonymie nicht auf dem Damm sein / die Tage haben: Hyperonymie 3. auf die Straße gehen: homonym, da auch wörtliche Lesart möglich, polysem als Idiom (demonstrieren + sich prostituieren) trocken sein: homonym (auch: wörtlich) in die Röhre gucken: homonym (auch: wörtlich) und polysem als Idiom (fernsehen + Nachteil erleiden) das Rad der Geschichte zurückdrehen: nicht homonym (keine wörtliche Lesart) 4. Haushaltskassen auffrischen: Geld verdienen Kochlöffel schwingen: kochen 5. auf der Woge des Zeitgeistes schwimmen: SCHWIMMEN → VORANKOMMEN IM LEBEN (Bildschematische Metapher) die Augen aufgehen lassen: ÖFFNEN → AUFKLÄREN (Bildschematische Metapher) 6. Es läbbert sich zusamm = regional (sächsisch) Eine einstweilige Verfügung erlassen = textsortenspezifisch (amtlich) Auf der Homepage stehen Antworten zur Verfügung = fachsprachlich 7. es hagelt Proteste = IVP (teilidiomatisch) Media Markt = INP einen Rückzug machte = IVP (vollidiomatisch) Plakate zurückziehen = Kollokation Literaturverzeichnis Abney, Steve P. 1987. The English Noun Phrase in its Sentential Aspect. MIT: PHD dissertation. Abraham, Werner. 1995. Deutsche Syntax im Sprachvergleich. Grundlegung einer typologischen Syntax des Deutschen. Tübingen: Stauffenburg Verlag. Agricola, Erhard (Hrsg.). 1992. Wörter und Wendungen. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. 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M., 180 Baldauf, Ch., 164 Barwise, J., Perry, J., 113 Barz, I., Schröder, M., Hämmer, K., Poethe, H., 110 Bellmann, G., 106 Berlin, B., Kay, P., 143 Besch, W., 189 Betz, W., 43 Bierwisch, M., 131, 141, 166 Blank, A., 132, 140, 150 Blutner, R., 143 Bolten, J., 51 Breindl, E., 80, 81 Bühler, K., 138 Buhofer, A., 174 4 Buhofer, A., Burger, H., 183 Burger, H., 158, 190, 193, 196 Burger, H., Buhofer, A., Sialm, A., 157 Busse, D., 151 Busse, D., Teubert, W., 151 Carnap, R., 137, 138 Carstensen, B., 155 Cholewa, J., Bleser, R., 5 Chomsky, N., 34 Christen, H., 46 Conrad, R., 140 Consten, M., 134 Cronk, B. C., Schweigert, W., 178 Deacon, T., 12, 13 Derrida, J., 18 Di Meola, C., 151 Dietrich, R., 32, 34, 35 Dijkstra, T., Kempen, G., 34, 59 Dobrovol’skij, D., 161, 170, 177, 178, 196 Donalis, E., 63, 65 Drosdowski, G., Scholze-Stubenrecht, W., 167 Duhme, M., 157 Durco, P., 180 Eco, U., 120, 168 Ehmann, H., 49 Eichinger, L., 100 Eisenberg, P., 7, 21, 65, 74, 81, 85, 92, 100, 103, 104, 110 Elspaß, St., 185 6 , 190 Engelkamp, J., 32 Erben, J., 74, 83, 98, 105, 110 Eschenlohr, St., 110 Fehlisch, U., 97 Fellbaum, Ch., 59 Fieler, R., Thimm, C., 49 Fleischer, W., 157, 158, 193 Fleischer, W., Barz, I., 66, 69, 87, 95, 99, 100, 106, 110 Fluck, H.-R., 51 Frege, G., 114 Fries, N., 31 Fritz, G., 149 Gallmann, P., vi, 21, 26, 47 11 Geier, R., Sternkopf, J., 183 Haase, A., 174 Haider, H., 27 7 Hänse, G., 151 Harras, G., 116 232 Index Heidolph, K. E., Flämig, W., Motsch, W., 20 Heinemann, S., 151 Herbst, T., Klotz, M., 116 Herrmanns, F., 30 Hessky, R., Ettinger, St., 161, 168 Heusinger, v. K., 129 Heyng, K., vi Hjelmslev, L., 132 Hoffmann, J., 146 Humboldt, v. W., v, 131 Hundsnurscher, F., 55 Jackendoff, R., 127 Kauschke, Ch., 174 Keil, M., 166 Keller, R., 13, 127, 150, 151, 153 Kempcke, G., 119 Keßler, H., vi Klappenbach, R., Steinitz, W., 119 Kobler-Trill, D., 106 Koller, W., 183 Konerding, K.-P., 146 Krohn, D., 38 Kühn, I., v Kunze, K., 7 Lakoff, G., Johnson, M., 164 Lang, E., 78, 81, 115, 141, 166 Leech, G., 122, 126 Leisi, I., Leisi, E., 18 Linke A., Nussbaumer, M., Portmann P. R., 48, 62 Lipka, L., v Löbner, S., 141, 142, 189 Löffler, H., 48, 50, 187 Lutzeier, P. R., v, 1, 3, 4, 15, 57, 59 Mackensen, L., 42 Marantz, A., 97 Marchand, H., 97 Markefka, M., 17 Marschall, G. R., 181 Martinet, A., 19 McCarthy, J., 97 Meibauer, J., 22 Meier, H., 38 Miller, G., 33 Miller, G. A., Beckwith, R., Fellbaum, Ch., Gross, D., Miller, K., 59 Morries, Ch. W., 14 Motsch, W., 66, 69, 70 1 , 80, 81, 110 Müller, S., 13 Müller, St., vi, 86 2 Neef, M., 96, 110 Neuland, E., 49 Nunberg, G., Sag, I. A., Wassow, T., 158, 196 Olschansky, H., 56 Olsen, S., 75, 77, 82, 85, 92, 95-98, 98 3 , 105, 110 Osman, N., 40 Palm, Ch., 161 Paul, H., 149 Perennec, M.-H., 185 6 Pfeifer, W., 187 7 Pierce, Ch., 11 Piirainen, E., 181 Pinker, St., 2 Plank, F., 96 Pöll, B., v Pörings, R., Schmitz, U., 63 Pottier, B., 132 Ptashnyk, St., 192 Pustejovsky, J., 127, 128 Putnam, H., 148 Reichmann, O., v Reimer, U., 146, 148 Reisig, Ch. K., 4 Riesel, E., Schendels, E., 39 Römer, Ch., 81, 166 Römer, W., vi Saussure, de F., 9, 14, 16, 18, 52, 117 Scharnhorst, I., Ising, E., 6 Schemann, H., 168 Scherer, T., 174 4 Index der Namen 233 Scheuringer, H., 46, 47 Schippan, Th., v, 3, 4, 44, 62, 66, 122, 163 Schlaefer, M., v, 3, 58, 119 Schleicher, Au., 46 Schlosser, H. D., 191 Schmidt, R., 85 Schmidt, W., 40, 153 Schmidt-Atzert, L., 29 Schönfeld, H., 47 Schnörch, U., 38 Schulting, H., 85 Schwarz, M., 115 Schwarze, Ch., Wunderlich, D., v, 4, 139 Simpson, A., vi Söhn, J.-P., vi Spencer A., 61 Steyer, K., 189 Strauss, G., Zifonun, G., 153 Thun, v. F. S., 31 Torzova, M. V., 172 Trier, J., 56 Viehweger, D., 121, 133 Wagner, F., 17 Weber, N., 145 Weiermann, St., 145, 146 Wierzbicka, A., 131 Wiesinger, P., 37 Wittgenstein, L., 127 4 , 142 Wotjak, B., 167 Wurzel, W. U., 152 Zifonun, G., Hoffmann, L., Strecker, B., 132 Zimmermann, I., 35 Zürn, A., 45 Index der Termini Affix, 66 Affixoid, 91 Allomorph, 64 Ambiguität, 139 Antonymie, 54, 162 Archaismus, 41 Archisemem, 167 Austriazismus, 46 Autosemantikon, 28 Bedeutung denotativ-begriffliche, 123 wertend-emotionale, 123 Bedeutungsbeschreibung kognitive, 142-148 kompositionelle, 128 pragmatische, 122-127 syntaktische, 127-128 Bedeutungsdefinition, 120-122 Bedeutungshierarchie, 54 Bedeutungsmodell, 113-116 Bedeutungsveränderung, 151 Bedeutungswandel, 149-154 innovativer, 150 reduktiver, 150 Bedeutungswörterbuch, 118-119 Begriffsleiter, 51 Begriffsreihe, 51 Bildlichkeit, 164 Definition, 51 Deixis, 12 Derivation, 71, 83-105 explizite, 83-93 implizite, 97-105 Zirkumfixderivation, 92 Dialekt, 47 Doppelpartikelverben, 87 Eigenname, 28 Emotion, 29 Entlehnungsart, 43-46 Etymologie, 2 Exotismus, 45 Extension, 114 Fachjargonismus, 52 Fachsprache, 50 Feldprinzip, 57 Formativ, 14 Frame, 146 Frauensprache, 50 Fremdwort, 41-45 Fugenelement, 62, 66 Funktionen von Phraseologismen, 185 Gattungsbezeichnung, 28 Genus proximum, 121 Germanismus, 47 Halbterminus, 52 Head morphologischer, 85 Helvetismus, 46 Historismus, 40 Homonymie, 140, 142, 163 Hyperonymie, 162 Idiomatizität, 160 Ikon, 11, 12 Indexzeichen, 11, 12 Inkompatibilität, 54 Intension, 114 Internationalismus, 45 Kollokation, 195 Komposition, 70-82 Determinativkomposition, 73 Konfixkomposition, 75 Kopulativkomposition, 78 Possessivkomposition, 75 Rektionskomposition, 76 Zusammenbildung, 74 Konnotation, 124-126, 168 Konstituente, 66 diskontinuierliche, 93 Index der Termini 235 Kontextabhängigkeit, 138, 162 Kontradiktion, 53, 162 Konverse, 54 Konversion morphologische, 103 syntaktische, 104 Kurzwortbildung, 71, 106-108 Lehnbedeutung, 45 Lehnbildung, 45 Lehnprägung, 45 Lehnwort, 44 Lexikalisierung, 158, 159 Lexikographie, 7 Lexikologie -entwicklung, 3 spezielle, 4 allgemeine, 2 computerlinguistische, 3 historische, 2 kognitive, 3 kontrastive, 180 spezielle, 2 Teildisziplin, 4-7 Lexikon, 2 Eintrag, 115 mentales, 32-35 logische Komponentenanalyse, 129-131 Mehrdeutigkeit, 139, 163 konzeptuelle, 141 Mehrebenenmodell, 20 Metakommunikativität, 173 Metapher eingefrorene, 164 konzeptualisierte, 165 Modalwort, 35 Modewort, 45 Modularität, 35-36 Morphem, 62-65 additives, 64 Basismorphem, 62 diskontinuierliches, 64 Flexionsmorphem, 62 gebundenes, 63 natives, 62 unikales, 64 Wortbildungsmorphem, 62 Morphologie, 7 Motiviertheit, 16 etymologische, 17 morphematische, 16 phonetische, 16 phraseologische, 164 semantische, 16 Motivierung, 18, 68 nicht diskriminierende, 17 Namenkunde, 7 Neologismus, 39-40 Nullsuffix, 95 Onomasiologie, 6 Partikelverb, 86 Phrasenkopf, 5, 26 Phraseologie, 7 phraseologische Festigkeit, 169-173 phraseologische Valenz, 171, 172 Phraseologismen mentale, 176-178 Phraseologismenerwerb, 174-176 Phraseologismus altersspezifischer, 183 Arten, 193-195 berufsspezifischer, 184 dekompositionelle Beschreibung, 166 freizeitspezifischer, 187 geschlechtsspezifischer, 181 ideologiespezifischer, 188 idiomatischer, 160, 161, 194 interaktionsspezifische, 189 interaktionsspezifischer, 189 kompositionelle Beschreibung, 166 nichtidiomatischer, 159, 195 regionalspezifischer, 183 soziolektealer, 181 struktureller, 195 teilidiomatischer, 160 textuelle Charakteristika, 190-193 Polylexikalität, 158 Polysemie, 5, 140, 141, 163 236 Index Präfigierung, 83 Präfix, 85 Präfixverb, 86 Prime, 131 Prototypensemantik, 143 Referenzhierarchie, 12 Routineformel, 195 Schüler- und Jugendsprache, 48 Script, 148 Semanalyse, 132-137, 167 Semantik lexikalische, 5 semantische Unbestimmtheit, 162 Semasiologie, 6 Seniorensprache, 49 Sinnrelation, 52-54, 161-162 Soziolekt, 48-52 sprachlich diskriminieren, 17 Sprachzeichen, 13-14, 21 Stadtsprache, 47 Stamm, 66 Standardvarietät, 47 Standardvarietät, 46 Stereotypensemantik, 148 Suffigierung, 88 Symbol, 11, 12 Synonymie, 53, 161 Synsemantikon, 28, 38 Terminus, 51 Token, 19 Typ, 19 Unbestimmtheit der Bedeutung, 137 Universalie, 2 Vagheit, 139, 163 Volksetymologie, 56 Wissensmodul, 34 Wort emotionales, 30 graphisches, 22 morphologisches, 23 phonetisch-phonologisches, 21 pragmatisches, 29 prototypisches, 32 semantisch schweres, 153 semantisches, 27 syntaktisches, 25 Wortartenbedeutung, 27 Wortbedeutung, 113 Wortbildung, 5 Wortdefinition, 21-32 Wörterbuchbedeutungsbeschreibung, 116−120 Wortfamilie, 55-56 Typen, 56 Wortfeld, 56-59 Wortklasse morphologische, 23 semantische, 27 syntaktische, 26 Wortschatzkunde, 4, 9 Wortschatzumfang, 38 Wortschöpfung, 61 Wurzel, 66 Zeichen nonverbales, 14 Zeichenfunktion, 13, 29 Zeichenmodell, 9-11, 13 Zusammenrückung, 82 Zeichensystem, 18 Zweistufensemantik, 115, 166