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Aussiedler treffen auf Einheimische

Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen

0315
2006
978-3-8233-7200-4
978-3-8233-6200-5
Gunter Narr Verlag 
Ulrich Reitemeier

Basierend auf Gesprächsaufnahmen, Beobachtungsprotokollen und Interviews untersucht die Studie, was die Identitätsarbeit von Aussiedlern in der Kommunikation mit Hiesigen erschwert bzw. unterstützt, wie sich die Betroffenen auf die Lebenswirklichkeit in Deutschland einstellen, welche Rolle institutionelle Eingliederungsmaßnahmen spielen und welche Probleme dabei der Identitätsentwurf "als Deutsche(r) unter Deutschen leben" bereitet.

<?page no="0"?> 7 Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE i Ulrich Reitemeier Aussiedler treffen auf Einheimische Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen gllW Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRÄCHE 34 <?page no="2"?> Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Ulrike Haß, Werner Kallmeyer und Ulrich Waßner Band 34 • 2006 <?page no="3"?> Ulrich Reitemeier Aussiedler treffen auf Einheimische Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen gnw Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibhothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen NationalbibliograHe; detaihierte bibhograhsche Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © 2006 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Tehe ist urheberrechthch geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-MaU: info@narr.de Satz: Hohwieler/ Tröster/ Volz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert&Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-6200-3 <?page no="5"?> Kapitelübersicht 1. Einleitung 2. Aussiedler kommen nach Deutschland - Skizze des Migrationskontextes und der Aufnahmebedingungen 3. Theoretisch-methodischer Rahmen der Untersuchung 4. Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum und erste Kontakte mit ‘Leuten von hier’ - Identitätsentfaltung und Identitätserfahrungen in Erstbegegnungen mit Einheimischen 5. Inanspruchnahme des Hilfesystems und Umgang mit anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten - Interaktionsprozesse in der Aussiedlerberatung 6. Im Marienhaus - Aussiedler im Schonraummilieu und als Adressaten des veranstalteten Eingliederungsdiskurses 7. Theoretische Modellierung der Befunde: Aussiedlerspezifische Identitätsproblematiken und damit verbundene Schwierigkeiten der Einbindung in Reziprozitätsstrukturen 8. Integrationspragmatische Schlussbetrachtungen 9. Literatur <?page no="7"?> Inhalt Vorwort 15 1. Einleitung 19 1.1 Zur Verortung der Studie 19 1.2 Zum Ablauf der Forschung und zur forscherseitigen Verständnisbildung über den Untersuchungsgegenstand 23 1.3 Aufbau der Untersuchung 31 2. Aussiedler kommen nach Deutschland - Skizze des Migrationskontextes und der Aufnahmebedingungen 35 2.1 Zuwandererzahlen, Migrationsdynamik 37 2.2 Orientierungswandel in der Aussiedlerpolitik 40 2.3 Das Konstrukt der Volkszugehörigkeit und die Rechtsposition des Spätaussiedlers 46 2.4 „Vertriebene“, „Aussiedler“, „Spätaussiedler“ - Vertreibungsdruck und Kriegsfolgenschicksal als Aufnahmekriterien 50 2.5 Zugehörigkeit zum deutschen Volk in der Minderheitenstellung in Polen und in Russland 54 2.6 Exkurs: Hoffnungen auf Heimkehr als kollektivgeschichtlich verankerte Thematik unter den Russlanddeutschen 58 2.7 Der verfahrensmäßige Übergang vom Herkunftsin das Aufnahmeland 62 2.8 Zusammenfassung und Überblicksschema zum Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit 66 2.9 Der symbolische Wert des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens für die aufnehmende Gesellschaft 70 3. Theoretisch-methodischer Rahmen der Untersuchung 73 3.1 Identitätsarbeit in der Marginalitätsposition 73 3.2 Fremdheit, kulturelle Differenz und gemeinsames kommunikatives Handeln 77 3.3 Der interaktionsanalytische Zugang zur Identitätsarbeit von Migranten 79 3.4 Forschungslogik und Untersuchungsmethoden 81 <?page no="8"?> 8 Aussiedler treffen aufEinheimische 3.4.1 Alltagskommunikation als Forschungsgegenstand und als Forschungsressource 83 3.4.2 Methodenvielfalt 84 3.4.3 Fallanalytische Perspektivik und Verallgemeinerbarkeit der Beobachtungen 84 3.4.4 Text- und sinnrekonstruktive Analyseverfahren 85 3.4.5 Formulierung theoretischer Befunde auf dem Wege der analytischen Abstraktion 89 4. Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum und erste Kontakte mit ‘Leuten von hier’ - Identitätsentfaltung und Identitätserfahrungen in Erstbegegnungen mit Einheimischen 91 4.1 Kontaktaufbau als Feldforscher zu einer Aussiedlerfamilie im Übergangswohnheim 94 4.2 Wohn- und Lebensbedingungen im Übergangswohnheim 97 4.2.1 Das Terrain und die Gebäude 97 4.2.2 Das Übergangswohnheim als Objekt des Verwaltungshandelns der kommunalen Eingliederungsbehörde 100 4.2.3 Verbindungen nach draußen und die Außenwelt im ÜWH 102 4.2.4 Wie sich Familie Klein mit der Wohnsituation im ÜWH arrangiert 103 4.3 DAS GASTMAHL als Feldforscher zu Gast bei einem Familientreffen 105 4.3.1 Milieueinbindung des Besucherarrangements und seine Instrumentalisierung für Forschungszwecke 105 4.3.2 Charakterisierung der Gesamtsituation 108 4.3.3 Analyse ausgewählter Gesprächsaktivitäten 113 4.3.3.1 Entfaltung des kulturellen Identitätsbewusstseins als Deutsche aus Russland bei Eintreffen der einheimischen Gäste 114 4.3.3.2 Darstellung und Verarbeitung von Erfahrungen mit Einheimischen und Erzählungen zum Fremdheitserleben in der unmittelbaren Nachaussiedlungszeit 126 4.3.3.3 Thematisierung der Aussiedlung als sich selbst und Familienangehörigen verständlich zu machendes Ereignis 155 4.3.4 Zusammenfassende Charakterisierung der Interaktionsgrundlagen und der kommunikativen Prozesse 164 <?page no="9"?> Inhalt 9 5. Inanspruchnahme des Hilfesystems und Umgang mit anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten - Interaktionsprozesse in der Aussiedlerberatung 169 5.1 Die Stellung der Beratungsdienste im Aufnahme- und Eingliederungsprozess 171 5.1.1 Inhalte der Aussiedlerberatung und ihre Vorkommenshäufigkeiten 173 5.1.2 Wie Aussiedler mit den Professionellen des Hilfesystems in Kontakt kommen 174 5.2 Überlegungen zur Auswahl eines Fallbeispiels 175 5.3 Das Fallbeispiel KEINE WUNDERREPUBLIK 178 5.3.1 Aufnahmebedingungen und sozialer Rahmen des Gesprächs 178 5.3.2 Das ausgewählte Beratungsgespräch im Überblick / Anlage der Analyse 179 5.3.3 Strukturelle Beschreibung 181 5.3.3.1 „Wer bezahlt mir meinen Lehrgang? “ - Situationseröffnung und erste Problempräsentation 181 5.3.3.2 „Meinerseits ist Aufklärung gewünscht und seitens der Frau Wagner auch.“ ~ Telefonische Nachfrage zur Feststellung des Problemsachverhalts 187 5.3.3.3 ,Jdie Ausbildung ist gesichert! “ - Ergebnismitteilung und Absprachen zum weiteren Vorgehen 191 5.3.3.4 „Wir sind nicht einverstanden mit diese Paragraph! “ - Aufdeckung eines weiteren Problems und Zurückweisung der klientenseitig angestrebten Lösungsstrategie durch den Berater 194 5.3.3.5 Fakten sind auch in Deutschland schwer umzuwerfen! “ — Behauptung des Anliegens der Klientenpartei gegenüber der beraterischen Problemsicht 201 5.3.3.6 „... und dann glauben sie. hier wäre Wunderrepublik! “ - Erneute Problematisierung anerkennungsrechtlicher Schwierigkeiten 235 5.3.3.7 „Schauen wir, was wir zusammen machen können.“ - Verabredung der nächsten Problembearbeitungsschritte und weitere Versuche der Klientin, Begründungspotenzial für einen Widerspruch einzubringen 246 5.3.3.8 „Wenn er bekommt Arbeit, das geht mit Sprache noch besser! “ - Nachfrage nach dem Stand der Bemühungen um einen Arbeitsplatz für den Klienten 251 <?page no="10"?> 10 Aussiedler treffen aufEinheimische 5.3.4 Aspekte der analytischen Abstraktion 252 5.3.4.1 Grundlegende Asymmetrien des Interaktionsarrangements ... 252 5.3.4.2 Kommunikative Gesamtformung 254 5.3.4.3 Beeinträchtigung von Kooperativität und Störungen der Reziprozitätsordnung im Helferarrangement 261 5.3.4.4 Das Durchschlagen hoheitsstaatlicher Aufgabenwahmehmung auf die Interaktionsmodalität der Aussiedlerberatung 263 5.3.4.5 Fehlerhafter Umgang mit Beratungsantinomien 270 6. Im Marienhaus - Aussiedler im Schonraum-Milieu und als Adressaten des veranstalteten Eingliederungsdiskurses 273 6.1 Ausgangsorientierungen 274 6.2 Der Veranstaltungsrahmen 275 6.2.1 Aussiedlerseminare im programmatischen Entwurf 276 6.2.2 Das Haus - Ortsrandlage, konfessionelle Bekenntnissymbolik und heimatliche Erinnerungssymbolik 278 6.3 Der Seminarbetrieb 280 6.3.1 Rekrutierung von Seminarteilnehmern 280 6.3.2 Ablaufstruktur und Zeitrhythmik 281 6.3.3 Zusammensetzung der Teilnehmer des beobachteten Seminars 283 6.3.4 Das Personal / Typische Interaktionsanordnungen zwischen Personal und Seminarteilnehmern 284 6.4 Zur Rolle des Feldforschers im untersuchten Aussiedlerseminar..286 6.5 Merkmale des Erlebnisstils eines Aussiedlerseminars 291 6.5.1 Zum Status der Beobachtungen und Beschreibungen ....291 6.5.2 Zwischen Urlaubsatmosphäre und Lembemühungen - Erwartungsformulierungen und darin ausgedrückte Erlebnishaltungen 292 6.5.3 Abstand zu den Problemen des Sicheinlebens und zur Eintönigkeit des Alltagslebens lebensweltliche Hintergründe, die die Seminarwoche zu einem wertvollen Erlebnis machen 297 6.5.4 Unter-sich-Sein und mit anderen in gleicher Lebenslage bekannt werden - Beobachtungen zu Gruppenprozessen 299 <?page no="11"?> Inhalt 11 6.6 Die organisierte Perspektive auf Aussiedler 307 6.6.1 Zur Entdeckung der organisierten Perspektive im Lernprozess des Feldforschers 307 6.6.2 „Wir mögen Aussiedler! “ strikte Akzeptanzhaltung als Mitgliedschaftsbedingung 311 6.6.3 „Das ist euer Haus! “ - Fremdheitsbearbeitung durch Milieudinge 316 6.6.4 „Wir spielen Gemeinde aufZeit! “ - Religiöse Vergemeinschaftung als Integrationskonzept 321 6.6.5 „Wir machen Bildungsarbeit! “ - Beanspruchung partieller und professioneller Zuständigkeit im System der Aussiedlerhilfe 322 6.6.6 „Teilnehmertage! “ - Aussiedler als Wirtschaftsfaktor... 326 6.7 Zusammenfassende Charakterisierung: Das Aussiedlerseminar als Erfahrungsraum in der Übergangssituation 327 6.8 VORSTELL UNGEN UND WIRKLICHKEIT - Analyse einer thematisch fokussierten Seminarveranstaltung 329 6.8.1 Theoretische Überlegungen zur Auswahl einer Kommunikationssituation aus dem Seminarprogramm 329 6.8.2 Zum Gesamtarrangement der ausgewählten Seminarveranstaltung / Vorgehensweise bei der Analyse 332 6.8.3 Strukturelle Beschreibung eines Ausschnittes der Seminarveranstaltung 334 6.8.3.1 Situationsherstellung und Etablierung von Gruppensprecherinnen 334 6.8.3.2 Stellungnahmen zur Lebenssituation nach der Aussiedlung 341 6.8.3.3 Aufdeckung und Verarbeitung enttäuschender Erfahrungen in Deutschland 357 6.8.3.4 Aufdeckung einer ablehnenden Haltung gegenüber der deutschen Sprache und Herstellung von Konsens über die Irrationalität dieser Einstellung 376 6.8.4 Aspekte der analytischen Abstraktion 390 6.8.4.1 Zur Gesamtformung der Seminardiskussion: Biografischer Themenbezug und De-Thematisierung des Biografischen 390 6.8.4.2 Der Diskurs über Eingliederungsproblematiken als rituelle Übung 392 6.8.4.3 Dilemmata, in die der Professionelle gerät 395 <?page no="12"?> 12 Aussiedler treffen aufEinheimische 1. Theoretische Modellierung der Befunde: Aussiedlerspezifische Identitätsproblematiken und damit verbundene Schwierigkeiten der Einbindung in Reziprozitätsstrukturen 399 7.1 Die Aussiedlungsbewegung auf der Landkarte der Migrationsströme 403 7.2 Die Besonderheit in der Lebenslage von Aussiedlem: Fremde in der Position des historischen Heimkehrers 407 7.3 Identitätsproblematiken in der Position des historischen Heimkehrers 413 7.3.1 Ausblendungstendenzen der Fremdheitsproblematik in der Erlebnishaltung des historischen Heimkehrers 413 7.3.2 Die vormalige Lebensweise und die Bearbeitung von Fremdheits- und Verlusterfahrungen 415 7.3.2.1 Identitätshaltung der strikten Annahme der neuen Lebenssituation 416 132.2 Das Bestreben der Selbsteinbindung in Herkunftsgemeinschaften 417 13.23 Offenhalten von Heimatoptionen im Herkunftsland 421 7.3.3 Der historische Heimkehrer und die Herausbildung disparater Identitätsorientierungen im Generationenverhältnis 423 7.3.4 Das Einbürgerungsprivileg und die Me-Bilder der Einheimischen - Ratifizierungsmängel des Identitätsanspruchs als Deutsche 426 7.3.5 Das Dilemma der Ankopplung an eine Täter-Nation 431 7.3.6 Entfremdung von der bundesdeutschen Gesellschaft durch Existenz anderer Fremder 435 7.3.7 Authentizitätsauseinandersetzungen deutscher als die anderen Aussiedler? 436 7.4 Mechanismen der Identitätsänderung im offiziellen Aufnahme- und Eingliederungsprozess 438 7.4.1 Deutschwerdung im Zuge eines Beantragungsprocederes 439 7.4.2 Eingliederung durch Segregation 441 7.4.3 Ankoppelung an Identitätsmuster des Aufnahmelandes durch Eingliederungsprozessoren 444 7.4.4 Zugehörigkeitsgestaltung mittels Sprachauflage 447 <?page no="13"?> Inhalt 13 7.5 Im Wechselbad der kulturellen Identitäten - Widerstände und Tendenzen bei der Herausbildung des Cultural Hybrid 450 7.6 Identitätsarbeit im Interpretationskontext zweifelhafter Loyalität - Merkmale der Identitätsentfaltung von Aussiedlern in Kommunikationssituationen mit Einheimischen 456 7.6.1 Überfokussierung des Deutschseins 460 7.6.2 Konformitätsdemonstrationen 461 7.6.3 Kommunikative Selbstbeschränkungen 462 7.6.4 Abschließende Bewertung der interaktiven Identitätsstrategien 464 8. Integrationspragmatische Schlussbetrachtungen 467 9. Literatur 473 Anhang: Transkriptionszeichen 493 <?page no="15"?> Vorwort Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Integrationsprozess von Aussiedlem 1 ', die in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Deutschland gekommen sind. Der Forschungsstrategie der natürlichen Ablaufgeschichte (Natural History) folgend werden wichtige Stationen des Eingliederungsprozesses untersucht. Im Mittelpunkt des Interesses stehen zum einen die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen und das Funktionieren der jeweiligen Eingliederungsphasen, zum anderen kommunikative Prozesse, die für die jeweiligen Stationen typisch sind und in denen Einheimische zum Interaktionsgegenüber für Aussiedler werden. Darüber hinaus wird punktuell die biografische Identitätsarbeit untersucht, die Aussiedler in den Begegnungen mit Einheimischen leisten. Wie jede Forschungsarbeit ist auch diese Resultat des Austausches und der Kooperation mit anderen. Sie ist entstanden im Rahmen des IDS-Forschungsprojektes „Sprachliche und soziale Integration von Aussiedlem“. Meinen Kolleginnen Nina Berend und Katharina Meng danke ich für den Erfahrungsaustausch über die Lebenswirklichkeit von Aussiedlem in Deutschland und in ihren Herkunftsgebieten. Werner Kallmeyer danke ich für die institutioneile Unterstützung meiner Forschungsinteressen. Zahlreiche Aussiedler haben mich an ihren Gemeinschaftsaktivitäten teilnehmen lassen und mich in die Probleme und Sorgen ihres Alltagslebens einbezogen. Ich habe durch sie viel über mir fremde Lebensbedingungen und Lebensweisen gelernt. Hierfür bin ich ihnen sehr dankbar. Desgleichen danke ich den zahlreichen Aussiedlerbetreuem, Lehrern und Ehrenamtlichen*, die mir als Informanten zur Verfügung standen und als Kontaktvermittler behilflich waren. Auch bei ihnen kann ich mich aus Anonymisierungsgründen nicht namentlich bedanken. Johannes Stefan Müller verdanke ich die Anregung zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Lebenssituation von Aussiedlem; für intensive Kooperation bei der Erschließung des Untersuchungsfeldes schulde ich ihm ebenfalls Dank. Für die kritische Durchsicht von Manuskriptteilen und für ihre Diskussionsbereitschaft danke ich Arnold Otten, Marcel Schilling, Reinhold Schmitt, Peter Schröder und Ricarda Wolf. Auf Gruppen von Zuwanderern sowie auf Berufs- und andere Personengruppen beziehe ich mich in dieser Arbeit mit generischen Ausdrücken, die natürlich beide Geschlechter einschließen. <?page no="16"?> 16 Aussiedler treffen aufEinheimische Mein besonderer Dank gilt Fritz Schütze, der diese Arbeit stimulierend und ermutigend betreut hat. ln dem von ihm geleiteten Forschungskolloquium „Biografieanalyse, Interaktionsanalyse, Analyse Sozialer Welten“ (zunächst in Kassel, dann in Magdeburg) konnte ich Teile meiner empirischen Materialien vorstellen. Die Hinweise und Kommentare der Kolloquiumsteilnehmer haben mein Forschungshandeln maßgeblich beeinflusst und mein Verständnis der in den Daten repräsentierten Phänomene geschärft. Die solidarische Arbeitsatmosphäre und der kooperative Stil der Erkenntnisgenerierung, den ich dabei kennen lernen konnte, waren außerordentlich wichtige Erfahrungen für mich. Für besonders hilfreiche Kommentare zu meiner Untersuchung möchte ich mich bei Thomas Reim und Peter Strauß bedanken. Mannheim, August 2004 Ulrich Reitemeier <?page no="17"?> Vor 230 Jahren War in Deutschland nicht alles gut. Da haben unsere Vorfahren Zum Auswandern geäußert den Mut. Sie zogen aus nach Rußland so weit in die Steppe hinein. Viele sind in der Steppe tot geblieben, die Lebendigen kehr'n wieder heim. Das Leben war immer in Gefahr, keinem da drüben ging es wohl. Wir danken der deutschen Regierung, besonders Herrn Helmut Kohl, daß wir das Glückjetzt hatten, zu kommen ins Vaterland. Auch wir wollen wieder Deutsch sprechen, singen und lachen, gemeinsam arbeiten, Hand in Hand. Und heute, zu dieserfreudigen Stunde, klingt alles wie Glockenklang so süß. Wir erhielten die Einbürgerungsurkunde, wir sind befreit vom Sowjetparadies. Wir danken der deutschen Regierung. Wir geben euch die Hand, wir werden uns nicht blamieren. Hoch lebe Deutschland unser Vaterland. (Gedicht eines russischen Aussiedlers, verfasst anlässlich der Überreichung der Einbürgerungsurkunde; in: „Wir in Germersheim“.) die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, sind für ihn kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel, um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst und eine, die hart zu meistern ist.“ (Alfred Schütz) <?page no="19"?> 1. Einleitung In diesem Kapitel wird die Untersuchungsperspektive dieser Studie erläutert und in die Forschungslandschaft eingeordnet. Dabei wird auch auf konzeptuelle Grundlagen der Arbeit eingegangen. Weitere Ausführungen zu forschungsleitenden Theoriekonzepten und zum Forschungsstil enthält das Kap. 3. Auf bereits vorliegende Beiträge zur Aussiedlerforschung nehme ich in diesem Einleitungskapitel sowie bei der Darstellung des Migrationskontextes (Kap. 2.) und bei den theoretischen Überlegungen in Kap. 7. Bezug. In diesem Einleitungskapitel will ich ferner Auskunft über meinen persönlichen Zugang zur Forschungsthematik geben. Auf die im Titel der Arbeit genannte Gruppe von Migranten gehe ich ausführlich in Kap. 2. ein. 1.1 Zur Verortung der Studie Situationen, in denen Aussiedler und Einheimische in Kontakt kommen, haben in der sozial- und sprachwissenschaftlichen Forschung bisher wenig Interesse gefunden. Zwar wird vielerorts problematisiert, dass Begegnungen und Erfahrungen der Zuwanderer mit Alteingesessenen eine wichtige Rolle im Integrationsprozess spielen, vorliegende Forschungsarbeiten zu diesem Problemfeld befassen sich aber lediglich mit Kontakthäufigkeiten und Kontaktwünschen 1 sowie mit der von Aussiedlem erfahrenen Akzeptanz oder Ablehnung in der neuen Umgebungsgesellschaft. 2 Als kommunikative Ereignisse mit ganz eigenen Durchführungs- und Gestaltungsproblemen und als soziale Orte des Aushandelns von Gemeinsamkeiten und Differenzen wurden Faceto-Face-Situationen zwischen Aussiedlem und Einheimischen bisher kaum untersucht. Hierzu hat sicherlich die allgemeine, auch in der Wissenschaft verbreitete Auffassung beigetragen, dass das Verhältnis zwischen Aussiedlern und Einheimischen wie bei anderen Konstellationen zwischen Zuwanderem und Alteingesessenen auch weitgehend von Kontaktvermeidung und wechselseitigen Akzeptanzproblemen bestimmt ist. Wenig Beachtung finden solche Face-to-Face-Situationen aber auch, weil unter den Sachwaltern der Aus- 1 Die bislang vorgenommenen Erkundungen versuchen das Verhältnis zwischen Aussiedlem und Einheimischen mittels standardisierter Erhebungsmethoden zu bestimmen; vgl. Wilkiewicz (1989, S. 56ff.); Drexler/ Hoffmann/ Pütz. (1992, S. 26ff.) sowie Dietz/ Hilkes (1994, S. 101f.) Siehe hierzu Dietz (1995, S. 167ff.) 2 <?page no="20"?> 20 Aussiedler treffen aufEinheimische Siedlerpolitik ebenso wie in der Forschung die Lebenslage von Aussiedlem vornehmlich als eine fokussiert ist, in der Eingliederungs-, Anpassungs- und Akkulturationsleistungen zu erbringen sind bzw. erwartet werden. Solche Perspektivierungen der Lebenssituation von Zuwanderem stellen die Migrantenpersönlichkeit in den Mittelpunkt, um ihre Schwierigkeiten in der Übergangssituation' an eben dieser Persönlichkeit und ihrer ‘kulturell unzulänglichen Ausstattung’ 4 festzumachen. Generell geraten so Lebensschwierigkeiten von Fremden und Zuwanderem als Schwierigkeiten ins Blickfeld, die ihrem Anderssein oder ihren ‘kulturellen Fehlanpassungen’ geschuldet sind. Als Schwierigkeiten, die durch Vorgefundene Verhältnisse miterzeugt werden und die in der Auseinandersetzung mit der neuen Umgebungsgesellschaft vermittelt und produziert werden, 5 sind sie dabei nur bedingt erkenn- und thematisierbar. Mein Interesse an konkreten Kommunikationssituationen 6 zwischen Aussiedlem und Einheimischen gilt eben diesen sozialen Erzeugungsmecha- Dieser allgemeine Begriff wird in der Soziologie auch auf sich verändernde Zugehörigkeiten zu Generationen, zu sozialen Schichten und Statusgruppen angewandt. Ich verwende ihn hier zur Kennzeichnung einer Lebenssituation, die wie bei Migranten wesentlich durch Loslösung von vertrauten Lebenswelten und sozialen Bindungen, sowie durch Zwänge, mit neuen identitätsbestimmenden Wirklichkeitsstrukturen umgehen zu müssen, geprägt ist. Verschiedentlich werde ich auch von Nachaussiedlungssituation sprechen. 4 Einfache Anführungszeichen verwende ich für Ausdrücke, die Realitätsdeutungen und verbreitete Sichtweisen im Alltag bzw. Interpretationsperspektiven und Sinnkonzepte natürlich Handelnder kennzeichnen. Desgleichen setze ich im Alltag geläufige Mittel sozialer Kategorisierung in einfache Anführungszeichen. 5 Zu dieser Perspektive auf die Lebenssituation von Zuwanderern generell Bukow/ Llaryora (1988); Stölting-Richert (1988); Hinnenkamp (1989a; 1990) sowie Bommes (1993). 6 Kommunikationssituationen sind stets kontextspezifisch eingebundene Ereignisse; ich spreche in Anlehnung an Goffman (1980) auch von sozialen Rahmen der Kommunikation (bzw. der Interaktion). Soziale Rahmen sind bestimmt durch Auffassungen dessen, was aktuell vor sich geht, hierauf stimmen Interaktionsbeteiligte ihre Handlungen ab. Goffman verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass unterschiedliche „Organisationsprämissen“ bzw. Verankerungen mit der Außenwelt wirksam sind (ebd.; S. 274ff.). An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass ich in dieser Arbeit keine strikte Unterscheidung zwischen den Begriffen „Kommunikation“ und „Interaktion“ vornehme. Ich beziehe mich mit beiden Begriffen auf Situationen, in denen Akteure in einen symbolischen Austausch eintreten, den sie mit verbalen und nonverbalen Mitteln gestalten. <?page no="21"?> Einleitung 21 nismen und symbolischen Vermittlungszusammenhängen der Identitätsproblematiken, 7 von denen Aussiedler in Deutschland betroffen sind. Forschungsansätze der interpretativen Soziologie und neuere soziolinguistische Forschungsbeiträge 8 stimmen darin überein, dass dort, wo sich Lebensbedingungen auf dramatische Weise verändern, der Kommunikation über diese Wandlungsprozesse eine außerordentlich hohe Bedeutung zukommt. Kommunikationssituationen sind das Medium zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit (Berger/ Luckmann 1969), das Medium, in dem sich soziokulturelle Gemeinschaften konstituieren und differenzieren und damit auch ein Medium, in dem sich Schwierigkeiten im Zusammenleben von Angehörigen verschiedener soziokultureller Gemeinschaften manifestieren. Mit der Analyse kontextspezifisch eingebundener Interaktionsereignisse eröffnen sich somit auch Zugänge zu den Lebensschwierigkeiten, von denen Migranten betroffen sind, und zu den sozialen Wirkgrößen, die diese Schwierigkeiten hervorbringen. Die wirklichkeitsanzeigenden Funktionen sprachlich-interaktiven Äußerungsverhaltens lassen Veränderungen sozialer Lagen wie sie in der Folge von Migration entstehen dabei auch als Veränderungen subjektiver Wirklichkeiten erkennbar werden. 7 Bei der Verwendung des Identitätsbegriffs orientiere ich mich an Mead (1975), der Identität als gesellschaftliche und als veränderliche Eigenstruktur konzeptualisiert hat. Dieses Verständnis basiert auf der Unterscheidung von einem aktiven bzw. reaktiven Teil der Identität, dem 7, und dem selbst-bewussten bzw. einem selbst-reflexiven Teil, dem Me. Das Me befähigt das Individuum dazu, in eine Objektbeziehung zu sich selbst einzutreten. Diesen reflexiven Mechanismus des Aufbaus von Identität fasst Mead auch mit dem Begriff des Selbst. Interaktionen mit signifikanten Anderen und soziale Orientierungsbezüge des Individuums strukturieren seine Selbstidentität in einem fortlaufenden Veränderungsprozess. Dass Identitäten ständigen Modifikationsprozessen ausgesetzt sind und subjektive Wirklichkeiten in Interaktionszusammenhängen etwas Gefährdetes sein können (somit zum Problem für den Identitätsträger werden), ist zentrale Thematik in den Arbeiten von Strauss (1974), Berger/ Luckmann (1969) und Goffman (1973; 1975; 1979a; 1982; 1983). 8 Als soziolinguistische Beiträge, die Migrationsfolgen im Kontext von Interaktion und Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener kultureller Gemeinschaften untersuchen, seien hier die Arbeiten von Hinnenkamp (1985; 1989a; 1989b; 1990) sowie die von Czyzewski/ Gülich/ Hausendorf/ Kastner (1995) und Schmitt/ Stickel (1997) herausgegebenen Sammelbände genannt. <?page no="22"?> 22 Aussiedler treffen aufEinheimische Die hier auf kommunikative Prozesse zwischen Aussiedlem und Binnendeutschen eingenommene Untersuchungsperspektive lehnt sich an Forschungsansätze an, die soziale Strukturen und kulturelle Bedeutungen aus dem subjektiven Erfahrungssinn von Gesellschaftsmitgliedem sowie aus Prozessen der Reziprozitätskonstitution zwischen konkret Flandelnden zu erschließen suchen. Grundlagen für die Herausbildung einer solchen soziologischen Perspektive wurden mit den Feldforschungsstudien der Chicago- Soziologie (Park 1950a; Park/ Miller 1971; Thomas/ Znaniecki 1974; Cressey 1969) geschaffen. Theoretisch weiterentwickelt und methodologisch fundiert wurden sie in Forschungsbeiträgen, die dem Symbolischen Interaktionismus (Mead 1975; Strauss 1974), der wissenssoziologisch orientierten Lebensweltanalyse (Berger/ Luckmann 1969), der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Schegloff/ Sacks 1973; Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974; Kallmeyer/ Schütze 1976; Bergmann 1981), der Biografieforschung (Schütze 1981; 1987a; Riemann 1987) sowie der ethnografischen Interaktionsanalyse (Schütze 1987b; 1993; 1994) zuzuordnen sind. Bei der Erforschung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft gehen diese Forschungsansätze von alltäglichen Lebensvollzügen aus, die Menschen in den ihnen zugänglichen Milieus und institutioneilen Settings realisieren. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie „das Potential sprachlich-kommunikativer Konstitutions- und Rekonstruktionsmechanismen für die Präsentation und Erzeugung der sozialen Realität“ (Schütze 1994, S. 193) auszuschöpfen suchen. Im Gesellschaftsverständnis dieser Ansätze realisieren sich gesellschaftlich allgemeine Existenzbedingungen im kommunikativen Austausch mit signifikanten Anderen, in kontextspezifisch situierten Ereigniszusammenhängen und den darin ablaufenden Prozessen kommunikativer Vergemeinschaftung 9 bzw. Dissoziation. Die vorliegende Arbeit wertet empirische Materialien aus, die Interaktionsverläufe zwischen Aussiedlem und Einheimischen sowie ihre sozialen und 9 Ich wähle hier einen Begriff, der sich anlehnt an die auf Tönnies (1972) zurückgehende Begriffsdichotomie „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Die Begriffe werden bei Tönnies zur Unterscheidung grundlegender Formen menschlicher Verbundenheit verwendet. Vergemeinschaftung zeichnet sich danach durch enge persönliche Beziehungen aus, die um ihrer selbst willen aufrechterhalten werden und in denen gemeinsame Ideen verfolgt werden. Hingegen gründet Verbundenheit mit Gesellschaft bei Tönnies in Zweckerwägungen und geplanten Handlungsabstimmungen. Zu den vorgenannten Begriffen und zum Lebenswerk Tönnies' siehe auch Bellebaum (1976). <?page no="23"?> Einleitung 23 institutionellen Einbettungsverhältnisse dokumentieren. In ethnografischer Forschungshaltung werden Schauplätze beschrieben, auf denen Aussiedler und Einheimische Interaktionsbeziehungen eingehen und gestalten. Die im Rahmen eines längeren Feldforschungsprozesses erhobenen Materialien repräsentieren Ereignisrahmen, in denen durch Herkunftserfahrungen und Migrationserleben geprägte Identitätsverfassungen von Aussiedlem entfaltet werden, wobei Angehörige der einheimischen Bevölkerung an diesem Entfaltungsprozess beteiligt sind, ihn evozieren, steuern, unterstützen, erschweren, abblocken usw. Auf dieser Materialbasis wird die Nachaussiedlungssituation als gedeutete von Betroffenen wie Einheimischen - und in konkreten Interaktionszusammenhängen entfaltete Lebenswirklichkeit analysiert. Ziel der Studie ist es, zu einem tieferen Verständnis (a) der spezifischen Schwierigkeiten gemeinsamen Handelns zwischen Aussiedlem und Einheimischen und (b) der aussiedlerspezifischen Identitätsproblematiken, ihrer sozialen Vermittlungsmechanismen und ihrer Bearbeitungswiderstände zu gelangen. 1.2 Zum Ablauf der Forschung und zur forscherseitigen Verständnisbildung über den Untersuchungsgegenstand Aus vorausgegangenen empirischen Beschäftigungen mit Interaktionssituationen 10 interessierten mich Kommunikationsereignisse zwischen Aussiedlern und Einheimischen als ein relativ neuartiger Ausschnitt aus der kommunikativen Wirklichkeit unserer Gesellschaft, in dem der Aufbau gemeinsamer Ordnungs- und Sinnstrukturen zwischen Handelnden problematisch ist. In mangelnden Gemeinsamkeiten interpretationsleitender Wissensbestände (siehe hierzu auch Gumperz 1975; 1978; 1982), in starken Ressentiments, die von vornherein zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen bestehen können (vgl. Elias/ Scotson 1990), und auch im Verlust vertrauter Sinnwelten und ihren identitätsverändemden Wirkungen, von denen Migranten betroffen sind (Schütz 1972a und b), sah ich die Hauptgründe dafür, dass prekäre Situationen in der Kommunikation zwischen Aussiedlem und Einheimischen entstehen. Insbesondere wollte ich etwas in Erfahrung bringen über interaktive Handhabungsweisen der Position des deutschstämmigen Zuwanderers, also über die von Einheimischen wie auch von den Betroffenen selbst realisierten Bezüge auf die Aussiedler- 10 Siehe Reitemeier (1987; 1994; 1995). <?page no="24"?> 24 Aussiedler treffen aufEinheimische eigenschaft. Daran interessierten mich zum einen Probleme des Aufbaus von Interaktionsbeziehungen und der Herstellung von Interaktionsgrundlagen, zum anderen die ablaufenden Defmitionsprozesse, die Aussiedler zu relevanten Interaktionspartnem für Hiesige machen sowie die Strategien, mittels derer sie in lokale Handlungskontexte eingebunden werden. Klar war, dass sich solche Untersuchungsinteressen nicht losgelöst von den Rahmenbedingungen, unter denen Aussiedler und Einheimische konkrete Interaktionsbeziehungen eingehen, verfolgen lassen würden. In breit gestreuten Erkundungs- und Erhebungsaktivitäten habe ich daher zunächst einmal ganz unterschiedliche Interaktionsfelder erschlossen und unterschiedliche Datenmaterialien erhoben. Die zwischen 1992 und 1997 entstandenen Materialien (Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, ethnografische Interviews, Tonband- und Videoaufzeichnungen) stammen aus Familienmilieus, Behörden, Schulen, Bildungseinrichtungen für Erwachsene, sozialpädagogischen Betreuungsarrangements sowie aus Beratungsstellen für Aussiedler. Die vorliegende Studie wertet diese Materialien selektiv aus. Die Gründe hierfür liegen teils in Ökonomieerfordemissen, teils darin, dass Feldzugänge und gewonnene Materialien unterschiedlich ergiebig waren. Ausführlich untersucht werden drei Handlungskontexte (ich bezeichne sie auch als Eingliederungskontexte) und jeweils ein daraus ausgewähltes Kommunikationsereignis. Der Aufbau dieser Studie und die damit verbundenen Beschränkungen sind Resultat einer Verständnisbildung über die Lebenssituation von Aussiedlem, die auf Interaktionen mit dem Forschungsfeld sowie auf schon früh einsetzende Konsultationen und Reflexionen vorliegender Datenmaterialien zurückgehen. Über diese Prozesse der Herausbildung forscherseitiger Orientierungen und der Verständnisbildung über den Untersuchungsgegenstand sei hier in einem ersten Schritt Auskunft gegeben." Diese Ausführungen sind geleitet von der Überzeugung, dass Prozesse der Datengewinnung unvollständig dargestellt sind, wenn sie als rein erhebungstechnischer Vorgang und nicht auch als Lernprozess des Forschers wiedergegeben werden. Mein eigenes Bekanntwerden mit der Lebenswirklichkeit von Aussiedlem geht zurück auf eine medial vermittelte Begegnung, auf einen befremdlich 11 Die empirischen Kapitel enthalten weitere Ausführungen zum Ablauf der Forschung und zu den aus der Felderkundung hervorgegangenen forschungsleitenden Orientierungen. <?page no="25"?> Einleitung 25 anmutenden Eindruck, den ich beim erstmaligen Hören russlanddeutscher Dialekte hatte. Es handelte sich um Tonbandaufnahmen von Interviews mit Aussiedlern mennonitischen Glaubens. Ein Forscherkollege hatte für eine Milieustudie Aussiedler aus dieser konfessionellen Gemeinschaft interviewt (vgl. Müller 1992); die entstandenen Tonbandaufnahmen dokumentierten Formen dialektalen Sprechens, die für mich nur bruchstückhaft verständlich waren. Das Gehörte vermochte ich keinem mir bekannten Dialekt zuzuordnen. Nach diesem ersten Höreindruck - und auch angeregt von den gründlichen Kenntnissen, die der Forscherkollege nicht nur über das mennonitische Aussiedlermilieu besaß begann ich mich stärker für die faktische Lebenssituation der für mich bis dahin ‘fremden Deutschen’ 12 zu interessieren. Ich wollte etwas darüber in Erfahrung bringen, wie ihre Lebenssituation durch hier Vorgefundene Verhältnisse und durch die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung bestimmt wird. Im Kern übertrug ich damit eine aus der Ethnizitätsdebatte 13 und aus neueren Forschungsbeiträgen der interkulturellen Kommunikation 14 bekannte Position auf die Eingliederungsproblematik deutschstämmiger Zuwanderer. 12 Auf die besonderen Fremdheitstypisierungen, die in der Wahrnehmung von Aussiedlern geläufig sind, komme ich in Kap. 2. ausführlicher zu sprechen. 13 Die Ethnizitätsthese besagt, dass unüberbrückbare kulturelle Differenzen zwischen Mehrheitsgesellschaft und zugewanderten Minderheiten diskursiven Bearbeitungen kultureller Unterschiede entspringen. Ausgrenzung und Beherrschung der Zuwanderer werden demnach als Resultat vorgestellter und zugeschriebener kultureller Unterschiede angesehen. Ethnizitätsdiskurse beziehen sich auf spezifische Eigenschaften und dienen so der Selbstvergewisserung von Wir-Gemeinschaften und der Sicherung von Vorteilen gegenüber den als kulturell andersartig Definierten. Zur Ethnizitätsthese siehe auch den von Dittrich/ Radtke (1990) herausgegebenen Sammelband sowie Bukow/ Llaryora (1988) und Bukow (1993). 14 Dieser soziolinguistische Forschungszweig macht die Kommunikations- und Kooperationsstörungen in Gesprächen zum Untersuchungsgegenstand, die im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprach- und Wissenssysteme entstehen (siehe hierzu auch Gumperz 1978; 1982). In den Forschungsbeiträgen zur interkulturellen Kommunikation steht das Interesse am Wirksamwerden sprachlich-kultureller Differenzen zwischen Kommunikationspartnem im Vordergrund. Diese Wirksamkeit erstreckt sich auf „kommunikative Formen der Wahrnehmung und Unterdrückung, der strategisch-taktischen Bearbeitung, der fragmentarischen Beibehaltung und Veränderung, der Klärung und der Scheinlösung sprachlichkultureller Differenzen“ (Rehbein 1985, S. 7). <?page no="26"?> 26 Aussiedler treffen aufEinheimische Prinzipien der Ethnografie der Kommunikation 15 folgend sah ich es als vordringliche Aufgabe an, Zugang zu zentralen Vorkommenszusammenhängen von Situationen zu finden, in denen Aussiedler auf Einheimische treffen. Zum Zeitpunkt meiner ersten Forschungsplanungen war mir zwar bekannt, dass es speziell für Aussiedler eingerichtete Deutschkurse gibt, meine Bemühungen der Erkundung von Vorkommenszusammenhängen von Begegnungen zwischen Aussiedlem und Einheimischen zielten anfangs aber auf andere Konstellationen. Ich ließ mich von der Vermutung leiten, dass das Geschehen zwischen Kursteilnehmern und Lehrern sehr stark durch Sprachlernzwänge und durch Handlungsschemata des Unterrichtens bestimmt ist, so dass die dort ablaufenden kommunikativen Prozesse in erster Linie für Fragestellungen der Fremd- und Zweitsprachenforschung bzw. der Sprachdidaktik interessant sind. 16 Meine Bemühungen, Vorkommenszusammenhänge der Aussiedler-Einheimische-Kommunikation zu erkunden, waren zum einen auf andere institutionelle und professionelle Interaktionsfelder gerichtet, zum anderen auf Kontexte, in denen das Aufeinandertreffen weniger erwartungssicher ist, weniger durch institutioneile Vorkehrungen eingeleitet und vorstrukturiert ist. Solche Vorkommenszusammenhänge aufzuspüren hieß für mich da ich keine nachbarschaftlichen oder andere private Kontakte zu Aussiedlem hatte mich auf Schauplätze zu begeben, die mir selbst relativ fremd waren. Zu den Orten vorzudringen, an denen Aussiedler auf Binnendeutsche treffen, bedeutete, dass ich mich auf Lebenswelten und Organisationsmilieus einstellen musste, in denen ich selbst nicht zu Hause war, deren Sinnstrukturen und Regelungsmechanismen mir nicht gewohnheitsmäßig zugänglich waren. Das Aufspüren und Dokumentieren von Interaktionen zwischen Aussiedlem und Einheimischen war für mich ein Prozess, in dem einheimische Kontaktpersonen wichtige Schlüsselfunktionen inne hatten. Diese standen einerseits in 15 Hierzu ausführlich Gumperz/ Hymes (1972) sowie Hymes (1973). 16 Erst später, durch Erfahrungsberichte von Lehrern, die solche Sprachkurse abhielten, erkannte ich, dass die dort laufende Unterrichtskommunikation und auch die sich dort entwickelnden informellen Arrangements von Wert für meine Untersuchungsinteressen sein können. Da ich nach und nach Erhebungsmöglichkeiten in anderen Bildungseinrichtungen erschließen konnte, bin ich auf diesem Feld nicht tätig geworden. Instruktive Beobachtungen und Reflexionen zum Sprachunterricht mit Aussiedlern finden sich in Gehrke (1993) und in Oxen (1993; 1995a; 1995b). <?page no="27"?> Einleitung 27 enger Verbindung mit Aussiedlem, andererseits waren sie aber auch fest in institutioneile Abläufe eingebunden. Mein Vordringen zu den ‘neuen Fremden’ oder ‘fremden Deutschen’ gestaltete sich daher auch als ein Eindringen in institutioneile Kontexte, in denen Aussiedler eingegliedert und prozessiert werden. Es gestaltete sich als Erfahrungsprozess, in dem ich selbst die Position des Fremden einnahm und in dem ich wichtige Lernprozesse zu durchlaufen hatte. Zusammenfassend ist über die Verhandlungen, Gespräche und Interviews während der Feldforschungsphase zu sagen, dass ich dabei nicht nur etwas über die Handlungsroutinen und Arbeitsabläufe, über die die Schlüsselpersonen mit Aussiedlem in Kontakt kommen, erfahren habe, sondern auch darüber, wie Aussiedler und ihre Eingliederungsprobleme unter den jeweiligen Arbeitsbedingungen gesehen werden und ‘zu sehen sind’. Mit anderen Worten: Die Feldeinstiegs- und Felderkundungssituationen 17 waren der Tendenz nach immer auch Situationen der Einsozialisiemng in Realitätsstrukturen, denen mein Forschungshandeln Rechnung tragen sollte. So wurden in diesen Feldeinstiegssituationen Eigenschaften beschrieben, die die Informanten als ‘typisch für Aussiedler’ ansahen. Desgleichen wurden diesen Menschen Probleme zugeschrieben, die als ‘typisch’ für ihre Herkunft und für ihre aktuelle Lebenslage angesehen wurden. Viele meiner Verhandlungspartner und Informanten äußerten sich als Experten in Sachen Aussiedlerintegration. Sie demonstrierten, was für Aussiedler getan werden müsste, damit ihre Eingliederung gelingen kann; sie benannten Tntegrationshindernisse’ und zeigten so Engagement für ihre Klientel. Sie charakterisierten ihre eigenen Beziehungen und ihre Einstellungen gegenüber Aussiedlem und deckten Schwierigkeiten auf, die sie in ihrer Arbeit mit ihnen haben. Auch gaben sie bewertende Stellungnahmen zur Arbeit anderer Instanzen der Aussiedlerintegration ab. Schließlich erstreckten sich die Versuche der Einsozialisiemng des Forschers in die eigenen professionellen und institutionellen Relevanzsysteme auch darauf, zu formulieren, ‘was dringend untersucht werden müsste’, darauf also, wie die von außen kommenden Forschungsin- 17 Ich beziehe mich hier auf Situationen, in denen ich wenig erfolgreich mit Vertretern von Institutionen Verhandlungen über Möglichkeiten der ethnografischen Datenerhebung geführt habe, ferner auf Gesprächs- und Interviewsituationen, die ich in institutionellen Milieus führen konnte, in denen mir umfangreichere Erhebungen möglich waren. <?page no="28"?> 28 Aussiedler treffen aufEinheimische teressen mit der Perspektive der in der Aussiedlerarbeit Tätigen zu verbinden ist. Dementsprechend musste ich mich im Feldforschungsprozess darauf einstellen, dass die jeweiligen Institutionenvertreter und Professionellen mich nicht einfach nur als jemand ansehen, der Forschungsinteressen verfolgt, sondern auch als Eindringling, den es an institutioneile Sinnwelten und an Relevanzsysteme beruflichen Handelns anzuschließen gilt. Diese Einsozialisierungstendenzen sollen an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Bei den Beschreibungen der ausgewählten Eingliederungskontexte habe ich versucht, das forscherseitige Hineingezogenwerden in die Rationalitätsstrukturen der Alltagspraxis transparent zu halten. In den Verhandlungs- und Erhebungssituationen lernte ich, dass die jeweiligen Eingliederungsinstanzen auf spezifische Weise auf ihre Klientel Bezug nehmen, und dass sie dabei in Diskurszusammenhänge involviert sind, in denen es um ‘adäquaten Umgang’ mit und um ‘sinnvolle Maßnahmen’ für Aussiedler geht. Im Aufbau dieser Studie finden diese Erfahrungen insofern ihren Niederschlag, als ich mich um eine Darstellungsform bemüht habe, die geeignet ist, standortgebundene Perspektivierungen der Lebenslage von Aussiedlem sowie Verbindungen zwischen den mit Aussiedlerintegration befassten Instanzen frei zu legen. Bei der gewählten Darstellungsform geht es mir nicht zuletzt darum, die Eingliederung von Aussiedlem als ein Geschehen wiederzugeben, das in spezifischen sozialen Welten 18 angesiedelt ist und diese mitkonstituiert. 18 Riemann (1987) definiert soziale Welten als „Kommunikationszusammenhänge unterschiedlicher (lokaler bis internationaler) Ausdehnung, die aus bestimmten Sinnquellen schöpfen, spezifische Kernaktivitäten aufweisen, Prozesse der Segmentierung (in Subwelten) und Überschneidung (mit anderen sozialen Welten) durchlaufen, durch Auseinandersetzungen in Binnen- und Außenarenen geprägt sind, Technologien und Territorien benutzen, Organisationen hervorbringen und sich durch bestimmte Rekrutierungs-, Sozialisations- und Ausschließungsprozesse (»non-authenticating processes«) kennzeichnen lassen“ (ebd., S. 35; Hervorhebungen im Original). Das Konzept der sozialen Welt findet sich schon in frühen Arbeiten der Chicago-Soziologie (Cressey 1932/ 1969); zu seiner weiteren Verbreitung haben die Arbeiten von Strauss maßgeblich beigetragen (siehe Strauss 1974; 1978b; 1982; 1984). Eine Einordnung dieses Konzepts in die Forschungslogik und in die Forschungsstrategien interpretativer Sozialforschung findet sich in Schütze (1987d). Für sprachwissenschaftliche Untersuchungszwecke wurde das Konzept der sozialen Welt in dem Projekt „Kommunikation in der Stadt“ (Kallmeyer 1994b) fruchtbar gemacht. <?page no="29"?> Einleitung 29 Noch einmal kurz zurück zu dem vorne erwähnten Hörerlebnis und zu der dadurch angeregten Verständnisbildung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes: Wie gesagt, sah ich mich beim Hören der auf Tonband aufgezeichneten Interviews mit massiven Verständlichkeitsproblemen russlanddeutscher Dialekte konfrontiert. Das Forschungsinteresse, das ich hinsichtlich der Kommunikation zwischen Aussiedlem und Einheimischen daraus entwickelte, zielte aber nicht auf das Gelingen des bloßen sprachlichen Verständigungsprozesses, es zielte theoretisch und allgemein formuliert auf den Umgang mit interaktionskonstitutiven Erfordernissen der Reziprozitätskonstitution. 19 Die empirische Beschäftigung mit Prozessen der Reziprozitätskonstitution im kommunikativen Austausch erachtete ich als wichtig (a) für das Verständnis interaktiver Praktiken des Umgehens mit eigener bzw. beim Interaktionsgegenüber wahrgenommener Fremdheit, (b) für das Verständnis von Schwierigkeiten des Sich-aufeinander-Beziehens und der Handlungskoordination, die aufgrund unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten und unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsbestände erwartbar waren. Dieses an Konzepten der Sozialphänomenologie und der Konversationsanalyse orientierte Untersuchungsinteresse habe ich durch analytische Konsultationen des nach und nach erhobenen Datenmaterials modifiziert und spezifiziert. Von mir angefertigte strukturelle Beschreibungen von Interakti- 19 Diese Überlegung war ausschlaggebend dafür, solche Gesprächsmaterialien zu erheben, in denen die Akteure hauptsächlich deutsch sprechen. Bei Mead (1975), dem Wegbereiter des Symbolischen Interaktionismus, sowie in der phänomenologischen und wissenssoziologischen Tradition interessieren Interaktionsprozesse im Hinblick auf gesellschaftlich elementare Konstitutionsmechanismen von Sozialität bzw. Intersubjektivität. Die Existenz eines gemeinsamen sprachlichen Symbolsystems gilt dabei als Grundvoraussetzung. Die grundlagentheoretische Ausarbeitung von Reziprozität als Grunderfordemis des Aufbaus gemeinsamer Sozialwelten und der Realisierung gemeinsamer Handlungen wurde maßgeblich von Alfred Schütz mit dem Konzept der Sozialitätsidealisierungen (Kongruenz der Relevanzsysteme; Austauschbarkeit der Interaktionsstandpunkte) geleistet (vgl. Schütz 1971). In der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ist der Gedanke der Reziprozitätskonstitution wichtig geworden für die Untersuchung sozialer Ordnungs- und Unordnungserscheinungen in Gesprächszusammenhängen (vgl. Kallmeyer/ Schütze 1976), also für die Analyse kommunikativer Prozesse, in denen Gegenseitigkeitsstrukturen aufgebaut und bestätigt bzw. vorenthalten, ausgehöhlt oder sonst wie destruiert werden. <?page no="30"?> 30 Aussiedler treffen aufEinheimische onstexten konnte ich mit Forscherkollegen 20 diskutieren, ln den gemeinsamen Reflexionen empirischer Materialien lernte ich eine analytische Sensibilität kennen, die die von Sprechern realisierten Äußerungen auch als Dokumente biografisch präformierter und lebensweltlich geprägter Identitätshaltungen zu deuten sucht. Dieser Analysestil regte mich dazu an, kommunikative Prozesse zwischen Aussiedlern und Einheimischen als Abläufe anzusehen, in denen subjektive Wirklichkeitsveränderung von Aussiedlem angezeigt, unterdrückt, reflektiert und von einheimischen Interaktionspartnern mitbetrieben und mitgestaltet wird. Außerdem sah ich darin eine Möglichkeit über die Erfassung der Mechanismen interaktiver Organisation hinaus die analytische Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie Erfahrungen und Orientierungen, über die man nur mit einer Biografie als Aussiedler authentisch verfügen kann, in Situationen mit Einheimischen entfaltet werden, sei es als symptomatischer, wenig expliziter Identitätsausdruck, sei es mittels narrativ rekonstruierter Erfahrungszusammenhänge oder sei es im Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel. Einem solchen Interesse ließ sich aber nur nachgehen anhand von Interaktionstranskripten, in denen biografische und familiengeschichtliche Hintergründe, kollektive Identitätsbilder, mitgebrachte Wissensbestände und kulturelle Orientierungen von Aussiedlem thematisiert werden. Dass es für das Verständnis des bei Aussiedlem beobachtbaren Identitätsmanagements zudem sehr wichtig ist, den einbürgerungsadministrativen Kontext zu beachten, lehrte mich die Erklärung, die für eine bestimmte behördliche Praxis gegeben wurde (Ausgabe von Formularen an Aussiedler, die lediglich in deutscher Sprache abgefasst sind) und von der ich im Zuge ethnografischer Interviews mit Sozialpädagogen Kenntnis erlangt habe: Im Rahmen dieser Interviewaktion mit Professionellen der Aussiedlerbetreuung stieß ich verschiedentlich auf Klagen darüber, dass kommunale Eingliederungsbehörden bestimmte Arbeiten auf sie abwälzten und ihnen unnötige Probleme bereiteten; auch wurde darüber geklagt, dass sich ihre Arbeit mit Aussiedlem mehr und mehr auf so genannte Formularhilfe reduzieren würde. Aus Sicht der Aussiedlerbetreuer war ein gewisser behördlicher Rigorismus verantwortlich sowohl für das Anwachsen dieser Formularhilfen als auch für enorme Schwierigkeiten, mit denen Aussiedler bei Erledigung behördlicher 20 Gemeint sind hier die Teilnehmer des von Fritz Schütze geleiteten Forschungskolloquiums zur Biografie- und Interaktionsanalyse (Kassel und Magdeburg). <?page no="31"?> Einleitung 31 Angelegenheiten zu kämpfen haben. Zur Exemplifizierung der behördlichen Vorgehensweise, die professionelle Helfer mit Mehrarbeit belastet und Aussiedlem unnötige Probleme bereitet, zitierte eine Informantin die Äußerung des Leiters einer kommunalen Eingliederungsbehörde. Dieser hatte ein Ersuchen der Aussiedlerbetreuer zurückgewiesen, den Vorschlag nämlich, Formulare, die Aussiedler auszufüllen haben, auch in den Sprachen der Herkunftsländer abzufassen. Die Begründung seiner Ablehnung lautete (ich zitiere aus dem Interviewmitschnitt; die Äußerung bezieht sich auf Aussiedler): Sie wollen Deutsche sein, also sollen sie auch deutsche Formulare ausfallend Es handelt sich hier um eine Äußerung, von der ich zwar nur aus zweiter Hand Kenntnis bekam; insofern aber, als darin eine behördliche Perspektive auf Aussiedler charakterisiert wird bzw. insofern als diese Äußerung eine praktische Erklärung (Scott/ Lyman 1976) für behördliches Vorgehen wiedergibt, war sie durchaus geeignet, forscherseitiges Handeln zu orientieren. Jedenfalls wurde ich dazu angeregt, mich intensiver mit einem von mir bis dahin wenig beachteten Aspekt zu befassen: Durch Wiedergabe der Äußerung des Behördenleiters wurde mir bewusst, dass Aussiedler vor allem im behördlichen Kontext unter dem Primat der nationalen Identitätskategorie zu einem relevanten Interaktionsgegenüber für Hiesige werden. Das Äußerungszitat machte mir klar, dass Aussiedler im Einbürgerungsprocedere Adhoc-Sinngebungen ihres Deutschseins und Ad-hoc-Interpretationen ihres Anspruchs auf eine Identität als Deutsche ausgesetzt sind. Ich erachtete es daher als wichtig, die offiziellen Aufnahmebedingungen von Aussiedlem stärker zu berücksichtigen, als ich es anfangs getan hatte. Zugleich wurde ich neugierig auf Aspekte des „Innen- und Unterlebens“ (vgl. Goffman 1973), die über die offizielle Eindeutschung hinaus im Aufnahme- und Eingliederungsprozess auftauchen. 1.3 Aufbau der Untersuchung Die Identitätsproblematiken in der Lebenssituation von Aussiedlem interessieren hier in ihren sozialen Vermittlungszusammenhängen. Von grundle- 21 Der Korrektheit halber sei erwähnt, dass zum Zeitpunkt des Interviews (1992) bereits eine Ändemng der behördlichen Praxis eingetreten war und Formulare ausgegeben wurden, die auch in den Sprachen der Herkunftsländer abgefasst waren. Für Zitate aus dem Interviewmaterial verwende ich die kursive Schreibweise. <?page no="32"?> 32 Aussiedler treffen aufEinheimische gender Bedeutung sind dabei Geschichtsprozesse, mit denen die Aufnahme deutschstämmiger Zuwanderer im Zusammenhang steht, aber auch die Aufnahmebedingungen in Deutschland. Wesentliche Aspekte dieses allgemeinen Prozessrahmens stelle ich im nächsten Kapitel dar (Kap. 2.). Den empirischen Analysen typischer Vorkommenszusammenhänge und Verläufe von Situationen, in denen Aussiedler auf Einheimische treffen (Kap. 4.-6.) gehen weitere Ausführungen zu theoretischen Grundlagen der soziologischen Erforschung migrationsbedingter Identitätsarbeit voraus (Kap. 3.). In diesem Zusammenhang wird auch der forschungsstrategische und epistemologische Stellenwert von Alltagskommunikation einschließlich der methodischen Prinzipien ihrer Analyse behandelt. Die Analysekapitel enthalten Beschreibungen der sozialen und institutioneilen Kontexte, in denen Aussiedler auf Einheimische treffen, sowie detaillierte Analysen ausgewählter Interaktionsereignisse. Den Eingliederungskontext Übergangswohnheim stelle ich an den Anfang des empirischen Teils (Kap. 4.), da für Aussiedler das Leben in Deutschland in der Regel mit einem Leben im Übergangswohnheim beginnt (sieht man einmal von dem meist sehr kurzen Aufenthalt in einem zentralen Aufnahmelager ab). 22 Ich werte dann Gesprächsmaterial aus, das anlässlich eines Besuches des Feldforschers und einer Begleiterin bei einer Aussiedlerfamilie im Übergangswohnheim entstanden ist. Die Gesprächsaufnahme enthält narrativ wiedergegebene Erfahrungen mit Einheimischen, zugleich ist sie selbst Dokument einer Situation mit Erstbegegnungscharakter. Anhand dieses Materials untersuche ich, wie die beteiligten Aussiedler ihre russlanddeutsche Identität, ihre Fremdheit und ihr marginales Identitätsbefmden entfalten und wie einheimische Interaktionsgegenüber diesen Vorgang stützen bzw. blockieren. Zur Bewältigung behördlicher Angelegenheiten und auch bei den Bemühungen um Arbeitsaufnahme sind Aussiedler gewöhnlich auf Hilfeleistungen von professionellen Betreuern und Beratern angewiesen. In Kap. 5. befasse ich mich mit dem Eingliederungskontext „Aussiedlerberatung“ und untersuche ein Gespräch, in dem es u.a. um anerkennungsrechtliche Probleme geht. Auf dieses Beratungsgespräch greife ich nicht zuletzt deshalb zurück, weil mir Zugänge zu behördlichen Situationen, in denen Einbürgerungsangele- 22 Die Feststellung gilt zumindest für die erste Hälfte der 90er-Jahre, als Aussiedler in sehr hoher Zahl kamen und Wohnraum zunehmend knapper wurde. <?page no="33"?> Einleitung 33 genheiten besprochen werden, nicht möglich waren. 23 An dem ausgewählten Fall untersuche ich, wie das hoheitsstaatliche Aufnahme- und Anerkennungsverfahren auf das kommunikative Handeln der Beratungsakteure durchschlägt. In Kap. 6. steht ebenfalls ein institutioneller Eingliederungskontext im Blickpunkt: eine Bildungsstätte, die Seminare für Aussiedler durchführt. Während es in den Kapiteln 4. und 5. ausschließlich russlanddeutsche Aussiedler sind, die mit Einheimischen im Gespräch sind, stammen die Teilnehmer des beobachteten Seminars aus Polen und aus Russland bzw. aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Im ethnografischen Teil dieses 6. Kapitels untersuche ich die institutioneilen Grundlagen und organisatorischen Anstrengungen, die als rahmendefmierende Elemente in diese Form der Eingliederungshilfe eingehen. Auch wird hier der Erlebnismodus beschrieben, in dem Aussiedler in diesen Eingliederungskontext gleichsam eintauchen. Gegenstand der detaillierten Gesprächsanalyse ist eine Seminarveranstaltung, die unter Anleitung eines pädagogischen Mitarbeiters stattgefunden hat. An einem längeren Ausschnitt aus einer Seminarveranstaltung untersuche ich, wie im institutionell veranstalteten Eingliederungsdiskurs die Nachaussiedlungssituation thematisiert wird und wie die identitätskritische Lebenslage von Aussiedlem präsent ist und bearbeitet wird. Zwar kann mit den herangezogenen Materialien und dem Aufbau des empirischen Teils dieser Arbeit die soziale Welt der Aussiedlereingliederung nicht erschöpfend beschrieben werden. 24 Die ethnografische Durchleuchtung der drei Subwelten, die hier im Mittelpunkt stehen, ist aber so ausgerichtet, dass institutionell-organisatorische Verflechtungen mit anderen Einrichtungen und typische Orientierungsbezüge auf andere Akteure im Feld der Eingliederungsarbeit sichtbar werden. 23 Auf Probleme des Feldzugangs und auf dafür gefundene Auswege gehe ich bei der Darstellung der jeweiligen Eingliederungskontexte ein. 24 Andere, hier nicht berücksichtigte Aussiedler-Einheimische-Konstellationen wären etwa der Kontakt zu Funktionsträgem, die offiziell keine Eingliederungsprozessoren sind, sondern vorrangig andere berufliche Handlungsschemata realisieren (beispielsweise im Gesundheitssektor, in der Arbeitswelt usw.). Zu denken wäre hier aber auch an das Aufeinandertreffen von neuen Aussiedlem mit solchen, die schon früher nach Deutschland gekommen sind und schon seit längerem eine Aussiedlerbiografie leben (solche Konstellationen sind im Umkreis der Landsmannschaften, in Familienmilieus und wohl auch in Wohnbezirken anzutreffen). <?page no="34"?> 34 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Analysen der in den Kapiteln 4.-6. dokumentierten Interaktionsereignisse zielen zum einen auf die sich darin manifestierenden interaktiven Paradoxien, zum anderen auf darin angezeigte Diskrepanzen und systematische Schwierigkeiten in der Lebenssituation von Aussiedlern. 2: 1 Die theoretische Modellierung dieser Lebenssituation (Kap. 7.) setzt bei Grundeinsichten an, die frühen migrationssoziologischen Studien (vgl. Park 1950a; Park/ Miller 1971; Thomas/ Znaniecki 1974; Wirth 1956; Zorbaugh 1976) zu verdanken sind. Danach ist es für die Bewältigung der identitätskritischen Lebenslage von Zuwanderem wichtig, Lebensformen entwickeln zu können, die geeignet sind, die vom Kulturkonflikt und von Fremdheitserfahrungen ausgehenden Belastungen zu reduzieren. Die Bewältigung der identitätskritischen Lage ist zudem daran geknüpft, dass Potenziale der Identitätsgestaltung ausgeschöpft werden können, die sich in der Fremdheitsposition und in der marginalen Lage eröffnen. Ein Ausschöpfen dieser Potenziale ist dann erleichtert, wenn die Betroffenen einen anerkannten Status als Fremde einnehmen können. Es ist die zentrale These dieser Arbeit, dass es Aussiedlem auf spezifische Weise erschwert ist, Fremdheit und Marginalität als Sinnquellen der Identitätsarbeit produktiv nutzen zu können. In Kap. 7. befasse ich mich mit den Konstitutionszusammenhängen dieser grundlegenden Paradoxie und anderer diskrepanter Momente in der Lebenssituation von Aussiedlern. Die dort angestellten theoretischen Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei den äußeren Bedingungen der Zuwanderung und Aufnahme von Aussiedlem (Ablaufgeschichte der Russlanddeutschen, einbürgerungsrechtliche und integrationspolitische Regelungen, Vorgefundene Verhältnisse und Beziehungen zu anderen Kollektivitäten) und diskutieren sie hinsichtlich ihrer ambivalenten Implikationen für die Identitätsgestaltung in der Nachaussiedlungssituation. 25 Die Aufdeckung von Paradoxien ist ein Untersuchungsansatz, der die Entfaltung allgemein-gesellschaftlicher Bedingungen als nicht wirklich behebbare Schwierigkeiten in konkreten Lebensvollzügen und Handlungszusammenhängen zu fassen versucht. Schütze bezieht sich mit dem Paradoxie-Begriff auf „die Geordnetheit des Widersprüchlichen und des Chaotischen in der individuellen Existenz und im Zusammenleben der Menschen miteinander“ (Schütze 1995, S. 152). Zu Paradoxien professionellen Handelns siehe Schütze (1992; 1996) sowie Schütze/ Bräu et al. (1996). Interaktive Paradoxien resultieren aus kontrafaktischen Idealisierungen; sie entstehen dort, wo mit Unterstellungen operiert wird, die den tatsächlich gegebenen Bedingungen zuwiderlaufen (zum Wirksamwerden anomischer Lebenssituationen in Interaktionsparadoxien siehe Schütze 1995). <?page no="35"?> 2. Aussiedler kommen nach Deutschland - Skizze des Migrationskontextes und der Aufnahmebedingungen Die gesellschaftliche Wahmehmungsweise von Aussiedlem in Deutschland ist schillernd. Im Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung gelten Aussiedler meist als Menschen aus einer anderen Welt, als Menschen, deren Zugehörigkeitsstatus zum Staatsvolk der Deutschen nicht ganz klar ist. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts bezeichnete 1988 ein Drittel (36%) der einheimischen Bevölkerung Aussiedler als Ausländer, ein weiteres Drittel (38%) sah sie als Deutsche an, und der übrige Teil der Befragten nahm keine eindeutigen Zuordnungen vor (vgl. Malchow/ Tayebi/ Brand 1990, S. 72). Einen Wahmehmungswandel innerhalb von vier Jahren dokumentiert eine in Nordrhein-Westfalen durchgeführte Repräsentativbefragung. Danach haben 1988 zwei Drittel der Befragten Aussiedler als Deutsche angesehen, im Jahre 1992 war es nur noch ein Drittel der Befragten (vgl. Graudenz/ Römhild 1996b, S. 53). Teils werden Aussiedler mit fremdmachenden und pejorativen Herkunftskategorisierungen wie ‘Polacken’, ‘Russen’ oder ‘Osttürken’ belegt, teils gelten sie als ‘unbekannte Wesen’, als ‘Fremde aus dem Osten’, als ‘fremde Deutsche’ 26 , oder sie werden in einer „Grauzone zwischen Fremdsein und Deutschsein“ (Graudenz/ Römhild 1996b) 27 verortet. 26 Diese Bezeichnung wird gern in den Medien und auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen verwendet, siehe beispielsweise Malchow/ Tayebi/ Brand (1990) oder Dembon/ Hoffmeister/ Ingenhorst (1994). Intensiveres Befasststein mit Aussiedlem befähigt Einheimische offenbar dazu, spezifischere Kategorisierungen für die Fremdheit, die sie an Aussiedlem wahrnehmen, zu entwickeln, ja gewissermaßen sprachschöpferisch tätig zu werden. Einem Zeitungsartikel entnehme ich, dass ein Gemeindepolitiker deutschstämmige Zuwanderer auch als ‘Mullah-Baptisten’ bezeichnet. Mit diesem Ausdruck macht er Aussiedler zu Fremden, die sowohl die islamische Welt als auch die christlich-täuferische Glaubensgemeinschaft repräsentieren (vgl. DIE ZEIT, Nr. 15, 1996, S. 10, „Immer Ärger mit den Deutschen“). 27 Die Autorinnen ziehen es vor, von „deutschstämmigen Migranten aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion“ zu sprechen. Ich werde in dieser Arbeit, wenn es wichtig ist, Herkunftsländer zu beachten, diese Bezeichnungen übernehmen oder ähnliche Formulierungen verwenden. In diesem Zusammenhang sei betont, dass Ausdrücke wie „Deutschstämmigkeit“ oder „deutschstämmige Zuwanderer“ hier nicht als essenzielle Identitätsbestimmungen zu verstehen sind. Bei Verwendung solcher Ausdrücke beziehe ich mich allein auf den geschichtlichen Kontext und auf rechtliche Hintergründe, die die Zuwanderer in die Lage versetzen, die nationale Identitätskategorie auf sich zu beziehen. Meist aber behalte ich die Be- <?page no="36"?> 36 Aussiedler treffen aufEinheimische Wo ihre Deutschstämmigkeit wahrgenommen wird, geraten sie oft in den Verdacht konservativ-nationalistischer Deutschtumspflege. Die Benennungen und Einordnungen, die Hiesige gegenüber Aussiedlem gewöhnlich vornehmen, sind eher geeignet, etwas über Abwehrreflexe gegenüber Fremden bzw. gegenüber Zuwanderem auszusagen als über historische, politische und rechtliche Bedingungen, unter denen Aussiedler nach Deutschland kommen. Auch sagen sie nichts über die Voraussetzungen aus, unter denen diese Zuwanderer zu ‘neuen Deutschen’ werden. Es sind daher einige Vorklärungen hinsichtlich der Migrationsbedingungen und der Rechtsstellung dieser Zuwanderergruppe erforderlich. Eine umfassende Darstellung, die etwa auch die wanderangs- oder kulturgeschichtliche Entwicklung der deutschen Minderheiten in Osteuropa einbeziehen würde, strebe ich dabei nicht an. Abgesehen davon, dass ich mich in dieser Arbeit auf Kommunikationsprozesse und Identitätserfahrungen konzentrieren möchte, sei darauf hingewiesen, dass zur Geschichte der Deutschen in Osteuropa zahlreiche Veröffentlichungen vorliegen. 28 In diesem Kapitel geht es auch nicht um einen migrationstypologischen Einordnungsversuch 29 oder um eine systematische Analyse von Aussiedlungsdispositionen und Wanderungsmotiven, 30 sondern lediglich darum, einen Überblick über den Migrationskontext und über die Voraussetzungen der statusrechtlichen Sonderstellung von Aussiedlem im Migrantenspektmm der Bundesrepublik zu geben. Zeichnung „Aussiedler“ bei, da sie unter den Betroffenen wie auch unter den Einheimischen als Mittel sozialer Kategorisierung weit verbreitet ist. Die gesetzestechnische Verwendung der Bezeichnungen „Aussiedler“ und „Spätaussiedler“ erläutere ich in Kap. 2.4. 28 Zur Geschichte der Russlanddeutschen siehe Baur/ Chlosta/ Krekeler/ Wenderott (1999); Dietz/ Hilkes (1992); Dietz (1995, Kap. 1-3); Eisfeld (1992); Hertel (1996); Meissner/ Neubauer/ Eisfeld (1992); Pauli (1985); Pinkus/ Fleischhauer (1987); Schipan/ Striegnitz (1992); Stricker (1997); Warkentin (1992). Zur Geschichte der Deutschen in Polen siehe Rautenberg (1988). Zur Geschichte der Rumäniendeutschen siehe Gabanyi (1988) sowie Armbruster (1991). Allgemein zur Geschichte und Kultur der Deutschen in Osteuropa: Dralle (1991); Schulz- Vorbach (1989) sowie der von Bade (1992a) herausgegebene Sammelband. 29 Eine migrationstypologische Bestimmung nimmt Wilkiewicz (1989) für die Russlanddeutschen vor. Er charakterisiert sie als „quasi-erzwungene, diffus-orientierte Wanderung“ (ebd., S. 117). Zur migrationstypologischen Einordnung der Aussiedlungsbewegung siehe auch Meister (1997, S. 16-18). 30 Solche Fragestellungen werden verfolgt in den Arbeiten von Dietz (1990) und (1991); Dietz/ Hilkes (1992); Jewtuch/ Suglobin/ Samborskaja (1993); Oxen (1995a) sowie Meister (1997, S. 42-44). <?page no="37"?> Migrationskontext und A ufnahmebedingungen 37 2.1 Zuwandererzahlen, Migrationsdynamik Das Hauptkontingent der in Deutschland lebenden Aussiedler stammt aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen, aber auch aus anderen Staaten sind Aussiedler zugewandert. In der Zeit von 1950-1997 sind insgesamt 3,8 Millionen Aussiedler registriert worden. Auf die verschiedenen Herkunftsländer verteilt sich diese Gesamtzahl folgendermaßen: 31 Polen 36,7% (=1.441.957) ehemalige Sowjetunion 45,4% (=1.781.743) Rumänien 10,9% (= 427.811) ehemalige Tschechoslowakei 2,7% (= 105.022) sonstige Gebiete 4,3% (= 167.418) Ein weiterer Blick auf die Aussiedlerstatistik zeigt, dass die Zuwandererzahlen lange Zeit relativ niedrig waren, und ein Anschwellen des Aussiedlerstroms erst seit 1988 zu verzeichnen ist. Von 1950 bis 1964 sind insgesamt 527.292 Aussiedler registriert worden (Jahresmittel ca. 35.000); in der Zeit von 1965-1979 ging diese Zahl auf 488.312 zurück (Jahresmittel ca. 32.500). Von 1980-1986 stieg das Niveau der jährlichen Zuwandererzahlen im Vergleich zu den Siebzigerjahren nur leicht an (höchster Stand 1981 = 69.455, niedrigster Stand 1984 = 36.459). Nachdem die Gesamtzahl der Zuwanderer aus Osteuropa 1987 noch bei 78.523 lag, erhöhte sich diese Zahl ab 1988 auf über 200.000. Die Jahre 1989 (377.055) und 1990 (397.073) waren die Jahre mit den höchsten Zuwandererzahlen. Mit Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes am 1.7.1990 (ich komme darauf zurück) ist die jährliche Zuzugsquote auf 225.000 Aussiedler pro Jahr begrenzt worden. Zunächst hatte sich die Zahl der neu eintreffenden Aussiedler bei ca. 220.000 eingependelt, inzwischen ist die Tendenz deutlich rückläufig: 1996 wurden noch 177.751, 1997 noch 134.419, 1998 noch 103.080 Aussiedler registriert. Der überwiegende Anteil stammt aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion: Kasachstan, Kirgisistan, Russische Föderation, Usbekistan, Ukraine. 32 Die über Jahrzehnte spärliche Zuwanderung und der plötzliche Anstieg der Aussiedlerzahlen ab 1988 stehen im Zusammenhang mit Verhältnissen in 31 Quelle: Info-Dienst (1999), Nr. 104, S. 7. 32 Alle Zahlen aus Info-Dienst (1999), Nr. 104, S. 13ff; dort findet sich auch eine Aufschlüsselung der Zuwanderer nach den oben genannten Herkunftsgebieten in der ehemaligen Sowjetunion. <?page no="38"?> 38 Aussiedler treffen aufEinheimische den Herkunftsländern, die unterschiedlich restriktiv auf die Herausbildung und Realisierungschancen von Aussiedlungswünschen wirkten. In der Zeit strenger sozialistischer Herrschaftsausübung wurden Ausreisegenehmigungen nur spärlich erteilt. Entspannungstendenzen im Ost-West-Verhältnis, die innere Krisenentwicklung und der Zerfall der sozialistischen Staatssysteme schufen Voraussetzungen dafür, dass Aussiedlungswillige in großer Zahl nach Deutschland gehen konnten. 33 Die seit Ende der 80er-Jahre spürbaren Ausreiseerleichterungen entfachten unter den Russlanddeutschen eine Sogwirkung, die auch als „panikartiges Anschlußhandeln“ (Bade 1992b, S. 408) bezeichnet wurde. Die Sorge, dass die Möglichkeiten zur Ausreise nicht von langer Dauer sein könnten und man zu den Zuspätgekommenen gehören könnte, hat den Ausreisedruck wachsen lassen. Hinzu kam, dass die massenhafte Abwanderung aus deutschen Siedlungsgebieten die Zukunftsperspektiven deutscher Minderheiten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion immer fragwürdiger erscheinen ließ. So ist in der Aussiedlungsbewegung ein „sich selbst weitertreibender und beschleunigender Effekt“ (ebd.) zum Tragen gekommen. Er ist noch dadurch verstärkt worden, dass die Möglichkeit zur Ausreise von anderen Bevölkerungsgruppen in den Herkunftsgebieten als Privileg angesehen wurde, das den Neid auf die Deutschen noch größer werden ließ. Mit dem politisch-wirtschaftlichen Umbruch in den ehemals sozialistischen Ländern gingen einerseits staatsbürokratische Diskriminierungen der Deutschstämmigen zurück (vgl. Dietz 1990, S. 6), andererseits aber entstanden instabile und ungewisse Verhältnisse, deren krisenhafter Charakter durch das Aufleben ethnischen Bewusstseins 34 und ethnischer Spannungen verstärkt wurde (vgl. Graudenz/ Römhild 1996b). Von dieser Entwicklung wurden auch deutsche Minderheiten, insbesondere in den asiatischen Siedlungsgebieten, erfasst. Wirtschaftlich und politisch instabile Zustände und 33 Eine ausführlichere, an den politischen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis orientierte Darstellung der Ausreisebedingungen in Polen, in der ehemaligen Sowjetunion und in Rumänien liefern Malchow/ Tayebi/ Brand (1990, S. 42-51). 34 Bei der Verwendung dieses Begriffs orientierte ich mich an Weber (1972), der ethnische Gemeinsamkeit als geglaubte Gemeinsamkeit definiert: „Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten (...) oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird“, nennt Weber ethnische Gruppen (ebd., S. 37). <?page no="39"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 39 das Ethnie Revival bedeuten für die in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion lebenden Deutschen gleichsam eine Fortsetzung kollektivgeschichtlicher Leidensprozesse. 35 Zwar ist es unter den Deutschstämmigen in der ehemaligen Sowjetunion auch zu einer Neubelebung der Autonomiebestrebungen 36 gekommen, als mehrheitliche Orientierung setzte sich jedoch der Wunsch durch, nach Deutschland auszureisen (vgl. Graudenz/ Römhild 1996b, S. 31). Unter Bezug auf ein in der Migrationssoziologie entwickeltes Konzept zur Erklärung von Wanderungsbewegungen 37 dem Abwägen zwischen den Zukunftsperspektiven im Aufenthaltsland und den im Zielland vermuteten Anreizen (Push- und Pull-Faktoren) 38 — ordnet Nienaber (1995) die Aussiedlungsbewegung als eine in der Migrationssoziologie neu zu beachtende Kombination von Push- und Pull-Effekten ein: ... man [müsste] von einem ‘Anziehungsdruck’, besser noch von einer kombinierten ‘Abstoßungs’- und ‘Anziehungskraft’ sprechen. Was auf der einen Seite als ‘pull’-Wirkung und Erfüllung der dominanten Präferenzen gilt, trägt auf der anderen Seite zu Neid mit ‘push’-Wirkung bei. (Nienaber 1995, S. 33; Hervorhebungen im Original). 35 Ein in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG abgedruckter Bericht von Wolfgang Büscher befasst sich u.a. damit, wie sich die Lebensverhältnisse für die in der Stadt Orlow lebenden Deutschen unter den erleichterten Ausreisebedingungen sowie im aufkommenden nationalistischen Klima in Kirgisistan verändern. Der Autor arbeitet dabei auch Bezüge zu kollektivgeschichtlich geprägten Deutungsschemata der Russlanddeutschen heraus: „Vielleicht würden die Deutschen die bisher bei ihnen eher harmlosen kirgisischen Nationalstreiche weniger beachten und der Verlockung, Orlow gegen eine westdeutsche Existenz einzutauschen, nicht so leicht erliegen, wäre ihnen nicht die Erinnerung an den Stalin-Terror lebendig, an die Arbeitslager, die Deportation, an das große Sterben in sibirischen Bergwerken oder schon unterwegs in den Viehwaggons. Der alte Horror ist leicht zu mobilisieren.“ (SZ, Nr. 47, 23.11.1990). 36 Wichtiger Träger kultureller bzw. territorialer Eigenständigkeitsbestrebungen ist die Organisation „Wiedergeburt“. 37 Ausführlicher zu Wanderungstheorien Esser (1980) sowie Treibei (1990, S. 29- 34). 38 Als Begründer des Ansatzes, der von Vertreibungs- und Anziehungsfaktoren ausgeht, gilt Everett S. Lee (vgl. Treibei 1990, S. 29). <?page no="40"?> 40 Aussiedler treffen aufEinheimische Statistische Erhebungen, die Aussiedlungsmotive 39 zu ergründen suchen, heben vor allem zwei vom Aufnahmeland ausgehende Anziehungsfaktoren hervor: den Wunsch, ‘als Deutscher unter Deutschen’ leben zu wollen, und die Suche nach einem besseren Leben. Mit dem rapiden Anwachsen der Aussiedlerzahlen Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist als ein treibendes Moment der Migrationsdynamik auch das Verlangen, bei den bereits gegangenen Verwandten und Freunden leben zu wollen, wirksam geworden. Mit Meister (1997) lässt sich die Aussiedlerzuwanderung daher auch als „ein anschauliches Beispiel für Kettenmigration“ ansehen (ebd., S. 43). So weit ein Überblick über statistische Daten und wesentliche Antriebsmomente der Aussiedlungsbewegung. Als Migrationsphänomen wäre die Zuwanderung von Aussiedlem nur sehr oberflächlich und einseitig skizziert, würde man die Aufnahmebedingungen in der Bundesrepublik unberücksichtigt lassen. Um politische und rechtliche Bedingungen sowie um historische Hintergründe der Aufnahme von Aussiedlem soll es im Folgenden gehen. 2.2 Orientierungswandel in der Aussiedlerpolitik Solange die Zugangszahlen relativ niedrig waren, wurden Aussiedler im öffentlichen Bewusstsein und in politischen Auseinandersetzungen wenig beachtet. Dies änderte sich mit dem Anschwellen des Aussiedlerstroms, mit dem Anstieg der Zuwandererzahlen anderer Migrantengruppen 40 und mit wachsenden binnenstrukturellen Problemen des Aufnahmelandes. Mit dem Fall der Mauer erreichten Ost-West-Wandemngsbewegungen ein bisher nicht gekanntes Ausmaß; eine Verschärfung wirtschaftlicher, Finanz- und In Studien, in denen Motive für die Aussiedlung mittels vorgegebener Antwortkategorien erhoben werden, wird die Rolle des ethnisch-kulturellen Identitätsbewusstseins mit Motivbezeichnungen wie „ethnische Gründe“ oder „als Deutscher unter Deutschen leben“ erfasst (vgl. Dietz/ Hilkes 1992, S. 115ff.; Dietz 1995, S. 105ff.; Graudenz/ Römhild 1996b). Aussiedlungsmotive finden in der vorliegenden Arbeit insoweit Berücksichtigung, wie die Betroffenen selbst sich mit Motivfragen auseinandersetzen, sei es als erinnertes Motiv, das auf die aktuelle Erfahrungswirklichkeit bezogen wird, oder sei es als von anderen, insbesondere Einheimischen, zugeschriebenes Motiv. 40 So war 1989 die Zahl der Übersiedlungen aus der DDR (343.854) fast genauso hoch wie die Zahl der Aussiedler (377.055), die in diesem Jahr ihren Höchststand erreichte. Die Zahl der Asylbewerber belief sich 1989 auf ca. 193.100 (vgl. Bade 1992c, S. 415). <?page no="41"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 41 sozialpolitischer Schwierigkeiten war unabwendbar. Bis Ende der 80er-Jahre war die Zuwanderung von Aussiedlern im politisch-öffentlichen Diskurs umgeben von einer „Positiv-Symbolik“ (Puskeppeleit 1996). Von regierungsamtlicher Seite und auch von Verbandssprechern wurde die Zuwanderung der meist kinderreichen Aussiedlerfamilien als Gewinn für den ungünstigen Bevölkerungsaufbau, als Korrektiv des demografischen Alterungsprozesses der bundesrepublikanischen Gesellschaft und als Quelle zur Deckung sich abzeichnender Finanzierungslücken im Rentensystem angesehen. Auch galten Aussiedler in der Wirtschaft als geschätzte Arbeitskräfte, da sie sich als handwerklich geschickt, zuverlässig, fleißig und tüchtig erwiesen und willens waren, niedrig bezahlte Arbeit anzunehmen. Mancherorts wurden Aussiedler auch zu willkommenen Zuwanderem, weil sie als Potenzial galten, das den Trend zu kultureller Überfremdung umkehren kann oder ihn zumindest nicht verstärkt. 41 Vor diesem Hintergrund wurde die Eingliederung von Aussiedlem von der Bundesregierung zur „nationalen Aufgabe“ erklärt (vgl. Puskeppeleit 1996). Engpässe bei der Wohnraumbeschaffung und eine immer stärker werdende Eingleichverteilung von Aussiedlern auf Kommunen und Bundesländer überschatteten die politisch-öffentliche Positiv-Symbolik. In einheimischen Bevölkerungskreisen machte sich immer deutlicher eine fremdenfeindliche Grundstimmung bemerkbar. Das Verhältnis vieler Bundesbürger zu Aussiedlern wurde stärker von Benachteiligungsempfmden und Sozialneid 42 bestimmt. Die Bundesregierung reagierte mit einer Reihe von 41 In einem Artikel des SPIEGEL wird von einer „verblüffenden Fremdenfreundlichkeit“ gegenüber Aussiedlem, die in einem hessischen Dorf angesiedelt wurden, berichtet. Durch die Aufnahme von Russlanddeutschen blieb dieses Dorf sozusagen davon verschont, Asylbewerber aufnehmen zu müssen (vgl. DER SPIE- GEL, 1992, Nr. 48, S. 67ff., „Unsere Russen“). 42 Den Ergebnissen von Meinungsumfragen zufolge wurde der Sozialneid vor allem von Eingliederungshilfen und Entschädigungsleistungen hervorgerufen, die für Aussiedler gezahlt werden. Auch eine vermeintliche Vorzugsbehandlung bei der Vergabe von Sozialwohnungen ließ das Benachteiligungsempfinden stärker werden (vgl. Puskeppeleit 1996, S. 102f). Desgleichen machten sich Neid und Argwohn gegenüber dem Hausbesitz, zu dem viele Aussiedlerfamilien rasch gelangten, breit (vgl. DIE ZEIT, Nr. 15, 1996, S. 10, „Immer Ärger mit den Deutschen“). Missbilligt wurde (und wird) von vielen Bundesbürgern auch die nach dem Fremdrentengesetz vorgesehene Zahlung von Renten an Aussiedler, die keine Beitragszahler waren (vgl. Malchow/ Tayebi/ Brand 1990, S. 63). <?page no="42"?> 42 Aussiedler treffen aufEinheimische Gesetzesinitiativen auf diese Entwicklung, die Aufnahme- und Eingliederungsbedingungen wurden restriktiver. 43 Eine erste Maßnahme zur besseren Steuerung der Zuwanderung war ein Gesetz, das den Bundesländern gestattete, den vorläufigen Wohnsitz für Aussiedler und für Übersiedler auf drei Jahre festzulegen (Wohnortgesetz, 1989). 44 Auf den enormen Anstieg der Zuwanderungsraten reagierte die Bundesregierung im Jahre 1990 mit dem Erlass eines Aussiedleraufnahmegesetzes. Es sollte die Aufnahme von Aussiedlem nicht stoppen, der Zustrom sollte aber wegen der Engpässe bei der Wohnraumversorgung und wegen aufgetretener Ungleichgewichte bei der Verteilung auf Länder und Kommunen in kontrolliertere Bahnen gelenkt werden. Einen Einschnitt in der Aussiedlerpolitik markiert dieses Gesetz insofern, als damit eine Änderung des bis dahin üblichen Aufnahme- und Antragsverfahrens beschlossen wurde (siehe auch Kap. 2.7). Eine weitere wichtige Änderung, die das Aussiedleraufnahmegesetz brachte, war die Einführung von Zuzugsquoten (Festlegung auf maximal 225.000 aufzunehmende Aussiedler pro Jahr). Zur Begründung hierfür wurde auf Artikel 116 des Grundgesetzes verwiesen, aus dem „nur das generelle Recht auf Aufnahme in der Bundesrepublik abgeleitet werden (könne), nicht aber der Anspruch auf sofortige Aufnahme“ (Sandfuchs 1992, S. 6). Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR machte Regelungen erforderlich, die sicherstellten, dass auf Aussiedler, die in den neuen Bundesländern aufgenommen werden, die gleichen Gesetze 45 über 43 Wie bei Puskeppeleit gezeigt wird, blieb die im Zusammenhang mit der Asyldebatte von rechtsgerichteten Parteien geschürte Fremdenfeindlichkeit nicht ohne Wirkung für die Aussiedlerpolitik: „Neben den Maßnahmen zur Regulierung der Einwanderung konzentrierten sich die regierungsamtlichen Bemühungen auf die politische Kanalisierung des Unmutes der Bevölkerung über die Einwanderung, indem schrittweise die materiellen und ideellen Leistungen abgebaut wurden. Im Bereich der Aussiedlerpolitik erfolgte nun wie in anderen sozialpolitischen Bereichen (...) eine Umverteilung, Dezentralisierung und Individualisierung sozialer Risiken und Lasten.“ (Puskeppeleit 1996, S. 112). 44 Aus- und Übersiedler, die sich nicht an entsprechende Auflagen hielten, verwirkten Ansprüche auf Betreuung durch die Kommunen (vgl. Puskeppeleit 1996, S. 105). 45 Es handelt sich um die Gesetze, die durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) am 1.1.1993 abgelöst wurden: das Bundesvertriebenen- und Flüchtlings- <?page no="43"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 43 1991 hinaus anwendbar sind wie für die Aussiedler, die in den alten Bundesländern ihren Wohnsitz haben. Mit dem dafür geschaffenen „Gesetz zur Regelung des Verhältnisses von Kriegsfolgengesetzen zum Einigungsvertrag“ vom 28.12.1991 wurden Quoten für die Verteilung von Aussiedlem auf die alten und neuen Bundesländer festgelegt (vgl. Info-Dienst 1992, Nr. 33 und 34). Nach diesem Quotierungssystem wird Aussiedlem im Zuge des Aufnahmeverfahrens ein bestimmtes Bundesland zugewiesen, in dem sie ihren Wohnsitz nehmen müssen. Das am 26.2.1996 erlassene Wohnortzuweisungsgesetz erlaubt es, zur gleichmäßigeren Verteilung von Aussiedlern auf Städte und Gemeinden, Aussiedlern ganz bestimmte Wohnorte zuzuweisen, sofern sie keinen Arbeitsplatz besitzen und auf Sozialhilfe angewiesen sind (vgl. Info-Dienst 1996, Nr. 76). Dies beinhaltet eine Einschränkung des Grundrechtes auf Freizügigkeit (Artikel 11, Abs. 1 des Grundgesetzes). 46 Parallel zu den Reglementiemngen der Aufnahme von Aussiedlem wurden finanzielle Eingliederungshilfen zurückgeschraubt. Ein für Aussiedler aufgelegtes Wohnungsförderungsprogramm wurde 1990 eingestellt. Im selben Jahr vorgenommene Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) brachten Kürzungen der Eingliederungsgelder mit sich. Bis zu diesem Zeitpunkt erhielten Aussiedler aus der Kasse der Bundesanstalt für Arbeit Eingliederungshilfen, die in der Höhe etwa dem Arbeitslosengeld entsprachen. Seit dem 1.1.1990 wird sofern im Herkunftsland ein Beschäftigungsverhältnis von mindestens 150 Tagen bestand ein pauschaliertes Eingliederungsgeld bezahlt. Es liegt knapp über dem Sozialhilfesatz. Dieses Eingliederungsgeld wird nur noch für die Dauer eines halben Jahres bezahlt; danach sind Aussiedler auf Sozialhilfe angewiesen, wenn sie bis dahin keinen Arbeitsplatz gefunden haben (vgl. Puskeppeleit 1996, S. 108, 114f.). Weitere Kürzungen betrafen die Ausbildungsförderung aus Mitteln des Garantiegesetz (BVFG), das Häftlingsgesetz, das Lastenausgleichsgesetz und das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz. 46 Eine andere Rechtsauffassung wird in Otto (1990) vertreten. Danach sei eine gleichmäßige Verteilung auf Kommunen vereinbar mit dem grundgesetzlich garantierten Recht auf Freizügigkeit, da dieses Recht nur für Deutsche gelte und Aussiedler erst zu Deutschen werden würden, wenn sie Aufnahme gefunden hätten. Der Begriff „Aufnahme“ wiederum ist nicht exakt festgelegt. Es wird darunter mehr verstanden als der bloße Tatbestand des Sichaufhaltens. Aufnahme im Sinne des Gesetzgebers hat stattgefunden, wenn die deutsche Volkszugehörigkeit festgestellt worden ist und mit behördlicher Billigung ein Wohnsitz in der Bundesrepublik genommen wurde; vgl. ebd., S. 59f. <?page no="44"?> 44 Aussiedler treffen aufEinheimische fonds, 47 die Betreuungs- und Beratungsdienste der Wohlfahrtsverbände sowie Einrichtungsdarlehen. Ferner wurden mit Erlass des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes (KfbG, 1993) Entschädigungen, die nach dem Kriegsgefangenengesetz (i.d.R. 8.000,- DM) und nach dem Häftlingsgesetz (max. 15.420,- DM) geleistet worden waren, auf niedrigere Pauschalbeträge umgestellt (vgl. Puskeppeleit 1996, S. 108, 116). Eine einschneidende Kürzungsmaßnahme betraf die Sprachförderung. Die Dauer der für Aussiedler eingerichteten Sprachkurse wurde von 12 Monaten (1991) zunächst auf 9 Monate (1992), dann auf 6 Monate (seit dem 1.1. 1994) gekürzt. Seit 1995 wird die Sprachkursteilnahme für ältere Aussiedler (ab dem 45. Lebensjahr) nur noch dann gefördert, wenn eine erfolgreiche Arbeitsplatzvermittlung wahrscheinlich ist (vgl. DRK Jahresbericht 1997, S. 48). Parallel zu den Regul iemngsbemühungen der Aussiedlerzuwanderung und der Kürzung der Eingliederungshilfe fand eine Akzentverlagerung in der Aussiedlerpolitik statt. 4s An die Stelle der Politik, die Ausreisechancen der Deutschstämmigen verbessern sollte und die Aufnahme von Aussiedlem als nationale Aufgabe ansah, trat eine Politik, die darauf zielte, Lebensbedingungen - und damit Bleibevoraussetzungen in den Herkunftsgebieten zu verbessern (vgl. Puskeppeleit 1996, S. 104). Erste Maßnahmen wurden bereits 1989 ergriffen; sie betrafen infrastrukturelle Einrichtungen und Umsiedlungen innerhalb der GUS-Staaten (vgl. ebd., S. 104). Seither erscheint die Aussiedlerpolitik als ein Changieren zwischen dem Bekenntnis zur Aufnahmebereitschaft der Bundesrepublik einerseits und der Schaffung von Bleibevoraussetzungen in den Herkunftsgebieten andererseits. 47 Hier handelt es sich um Beihilfen für die Finanzierung von Ausbildungsgängen für jüngere Aussiedler. Aufgrund von Verwaltungsvorschriften des Bundes „werden Kosten des Lebensunterhalts, der Ausbildung und eines Sonderbedarfs“ gefördert (Juncker 1994, S. 91). Diese Akzentverschiebung wurde nicht allein durch den Zuwandererstrom, sondern auch durch innenpolitische Diskussionen um die Zuwanderung von Fremden überhaupt hervorgemfen. Zum Einfluss, den eine geringer werdende Bereitschaft zur Aufnahme von Aussiedlem in der einheimischen Bevölkerung hatte, sowie zur Rolle parteipolitischer Kontroversen und wahltaktischer Reaktionen auf die Aussiedlerpolitik der Bundesregierung siehe Puskeppeleit (1996, S. 104). <?page no="45"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 45 Spätestens seit der 1996 gestarteten „Sprachoffensive“ (vgl. Info-Dienst 1996, Nr. 83 und 84) ist nicht mehr zu übersehen, dass die Politik der Eindämmung des Zuwandererstroms von der Sorge um zu erwartende Eingliederungsprobleme geleitet ist. Was als Maßnahme zur Förderung der Deutschkenntnisse von Ausreisewilligen deklariert wurde, kommt im Prinzip der Errichtung von Zuwanderungsbarrieren gleich: Mit der Förderung von Deutschkursen im Herkunftsgebiet wurden Sprachtests in das Aufnahmeverfahren eingebaut, d.h., dass Aufnahmebescheide nun an das Bestehen solcher Tests gekoppelt sind. Die Tests sollen so eingesetzt werden, dass „Sprachkenntnisse, die über den (...) Mindeststandard deutlich hinausgehen (...), mit einer Verfahrensbeschleunigung belohnt werden“ (Info-Dienst 1996, Nr. 83, S. 4f). Es sollen also bevorzugt solche Aussiedler aufgenommen werden, die in sprachlicher Hinsicht gute Integrationsvoraussetzungen mitbringen. Das von der Bundesregierung geförderte Sprachkursprogramm wurde allerdings nicht allein zur Verbesserung der Integrationschancen in Deutschland initiiert, es wurde auch verstanden als Maßnahme „für die in den Staaten der GUS lebenden Russlanddeutschen, die ihre Identität erhalten wollen“ 49 , wie in einer Erklärung des Bundesinnenministeriums zur „Sprachoffensive“ hervorgehoben wird (vgl. Info-Dienst 1996, Nr. 83, S. 2). 50 Diese Politik erscheint insofern widersprüchlich, als gleichzeitig das Recht auf Aufnahme in der Bundesrepublik nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Verlautbarungen, auch auf höchster politischer Ebene, die den Deutschstämmigen einen Verbleib in den Herkunftsgebieten nahe legen, sind indes nicht zu überhören. 51 49 Die Schreibung der Belege wurde teilweise an die neue Rechtschreibung angepasst. 50 Mit den Hilfsmaßnahmen für die deutschen Minderheiten verfolgte der Aussiedlerbeauftragte der ehemaligen Bundesregierung folgende Ziele: "a) Sie helfen denen, die in ihren heutigen Siedlungsgebieten bleiben wollen, b) Sie unterstützen die, die noch eine Zeit lang bleiben wollen oder müssen, c) Sie sind bedeutsam auch für die nichtdeutschen Nachbarn, weil sie immer einer ganzen Region zugute kommen sollen.“ (Info-Dienst 1993, Nr. 38, S. 8). 51 Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass diese widersprüchliche Haltung in der Aussiedlerpolitik mit verblüffender Selbstverständlichkeit von der Bundesregierung gegenüber den Betroffenen vertreten wird. So hat der ehemalige Bundeskanzler, Helmut Kohl, anlässlich seines Besuches in Kasachstan die dort lebenden Deutschstämmigen zum Bleiben aufgefordert und bekundet, dass die Bundesregierung kein Interesse daran habe, dass weitere Angehörige der deutschen Minderheit aus Kasachstan auswanderten. Zugleich hat der (damalige) Bundeskanzler bekräftigt, dass die Aufnahmeberechtigung in Deutschland <?page no="46"?> 46 Aussiedler treffen aufEinheimische Nach dieser kurzen Betrachtung der gesellschaftlichen und politischen Aufnahmebedingungen bedarf es einiger vertiefender Ausführungen zu den Rechtsgrundlagen der Aufnahmepolitik. Diese gesetzlichen Regelungen lassen sich nicht losgelöst von den Geschichts- und Sozialprozessen, auf die sie bezogen sind, darstellen. 2.3 Das Konstrukt der Volkszugehörigkeit und die Rechtsposition des Spätaussiedlers Die Aufnahme von Aussiedlern in Deutschland erscheint in zweifacher Hinsicht paradox: Es handelt sich um eine Zuwanderung in eine Aufnahmegesellschaft, die sich bis zum Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Nichteinwanderungsland versteht, jedenfalls der regierungsamtlichen Doktrin nach. Und es handelt sich um einen Migrationsvorgang, bei dem Menschen, die aus fremden Ländern und Kulturen kommen, Aufnahme als Volkszugehörige finden. Damit unterscheidet sich die einbürgerungsrechtliche Behandlung von Aussiedlem von der anderer Zuwanderer in Deutschland. Diese Sonderstellung ist aus den Staatsangehörigkeitsbestimmungen der Bundesrepublik, die das besondere Rechtskonstrukt der Volkszugehörigkeit beinhalten, zu erklären. Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland ist am Abstammungsprinzip (ius sanguinis), nicht am Territorialprinzip (ius soli) orientiert. Es schützt vor Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und billigt Deutschstämmigen Aufnahme- und Einbürgerungsrechte zu. Im Staatsangehörigkeitsrecht hat diese Schutzfunktion ihren Niederschlag im Konstrukt des Statusdeutschen gefunden. Somit trifft das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland nicht nur die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Staatsfremden, 32 es berücksichtigt mit dem Begriff der für alle Deutschstämmigen bestehen bleibe (vgl. FRANKFURTER RUND- SCHAU, Nr. 108, 12. Mai 1997). 52 Hinsichtlich der Staatsangehörigkeitsregelungen unterscheidet sich das Grandgesetz vom Völkerrecht, in dem nur zwischen Staatsangehörigen und Staatsfremden unterschieden wird (vgl. Frankenberg 1993, S. 50). Ausschlaggebend für die Berücksichtigung einer Gruppe „sonstiger Deutscher“ war die unklare Stellung der durch Umsiedlungsmaßnahmen während des Nationalsozialismus ein- und ausgebürgerten Personengrappen. Eine endgültige Klärung der Staatsangehörigkeit dieser Personengruppe sollte in Verhandlungen mit den beteiligten Staaten gefunden werden. Die Väter des Grundgesetzes intendierten „also lediglich <?page no="47"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen Al Volkszugehörigkeit eine dritte Gruppe: Personen, die von Deutschen abstammen, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Das Konstrukt „Volkszugehörigkeit“ ist keine Neuschöpfung aus der Nachkriegszeit; es hat seine Wurzeln in Staatsangehörigkeitsregelungen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen wurden. Bei dem Rechtsbegriff der Volkszugehörigkeit handelt es sich um „eine fast wörtliche Übernahme von Passagen aus dem Erlaß des Reichsinnenministeriums vom April 1939 über die ‘Zugehörigkeit zum deutschen Volk’“ (Otto 1990, S. 47; Hervorhebungen im Original). In der bundesrepublikanischen Gesetzgebung findet der Begriff der Volkszugehörigkeit nicht in einem ethnologischen Begriffsverständnis Verwendung, sondern primär zur Konstruktion einer Rechtsfolge (vgl. Otto 1990, S. 47). Die Zugehörigkeitskonzeptionen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit stehen sozusagen in einem optionalen Verhältnis: Volkszugehörigkeit macht Ansprüche auf Staatsangehörigkeit begründbar und durchsetzbar. Volkszugehörigkeit ist für den Gesetzgeber an Voraussetzungen gebunden, die über bloßes ethnisches Zugehörigkeitsempfmden hinausgehen. Nach der Fassung des BVFG („Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“), das bis 1992 gültig war, wurde als deutscher Volkszugehöriger anerkannt, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“ (BVFG, § 6). In der älteren Fassung des BVFG (kurz auch Bundesvertriebenengesetz genannt) wurde eine „vergangenheitsbezogene“ Verifikation des gelebten Deutschtums verlangt, also der Nachweis eines familiengeschichtlich verwurzelten und im Herkunftsland praktizierten Bekenntnisses zum Deutschtum (vgl. Nienaber 1995, S. 25). Seit Inkrafttreten des KfbG am 1.1.1993 (einer Ergänzung zum BVFG) ist das vom Gesetzgeber verlangte Bekenntnis zum Deutschtum stärker „gegenwartsbezogen“ (ebd.). An den § 6 des BVFG wurde folgender Absatz angefügt: Wer nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist, ist deutscher Volkszugehöriger, wenn grundrechtliche Gleichstellung, bis die Frage der Staatsbürgerschaft geklärt ist“ (Otto 1990, S. 56). <?page no="48"?> 48 Aussiedler treffen aufEinheimische 1. er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt, 2. ihm die Eltern, ein Elternteil oder andere Verwandte bestätigende Merkmale wie Sprache, Erziehung, Kultur vermittelt haben und 3. er sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete zur deutschen Nationalität erklärt, sich bis dahin auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt hat oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehörte (zitiert nach: Info-Dienst 1993, Nr. 38, S. 25). Der Gesetzgeber erachtet neben der objektiven Funktion des Nachweises von Merkmalen der Volkszugehörigkeit auch ein subjektives Moment als wichtig: Den objektiv nachweisbaren Prägungstatsachen muss eine subjektive Bewusstseinslage entsprechen. Nach den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichtes kommt den objektiven Bestätigungsmerkmalen daher eine wichtige Indizwirkung in Bezug auf ein subjektives Bekenntnis [zum Deutschtum, U.R.] zu. (Juncker 1994, S. 42, Hervorhebung im Original). Voraussetzungen für die Anerkennung der deutschen Volkszugehörigkeit sind also neben der (subjektiven) Bekenntnishaltung folgende (objektive) Bestätigungsmerkmale: der Nachweis der Abstammung von mindestens einem Eltemteil mit deutscher Volkszugehörigkeit (Geburtsurkunden usw.) und die Glaubhaftmachung so der Terminus des Gesetzgebers der Pflege deutscher Kultur im Herkunftsland (als sicherster Nachweis gilt hier der Gebrauch der deutschen Sprache, aber auch die Pflege christlich-kulturellen Brauchtums). 5J Für den Nachweis eines „offenen Bekenntnisses“ zum deutschen Volkstum ist bei russlanddeutschen Aussiedlem hauptsächlich der Eintrag deutscher Nationalität im russischen Pass wichtig. 54 53 Für die Verifikation behaupteter Tatsachen ist bei der Glaubhaftmachung „lediglich der Nachweis hochgradiger Wahrscheinlichkeit erforderlich, also nicht der volle Nachweis“ (Juncker 1994, S. 91). 54 Für den Gesetzgeber haben Mitgliedschaften in politischen Parteien und auch exponierte Funktionsrollen innerhalb des Staatsapparates Indikatorfimktion für gelebtes/ nicht-gelebtes Deutschtum. Insofern kommt dem Konstrukt der Volkszugehörigkeit auch die Funktion eines politischen Selektionsinstruments zu. So gilt es als Abwendung vom deutschen Volkstum, wenn politische Ämter bekleidet wurden oder wichtige berufliche Stellungen nur aufgrund enger Bindungen zum ehemaligen sozialistischen System erlangt wurden. Hingegen wird als Ausdruck deutscher Volkszugehörigkeit akzeptiert, wenn eine Mitgliedschaft in Or- <?page no="49"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 49 Der Nachweis von Volkszugehörigkeit anhand dieser Merkmale begründet eine Rechtsposition, für die der Gesetzgeber den Begriff des Statusdeutschen verwendet. Die Anerkennung als Statusdeutscher ist nicht identisch mit der Anerkennung als deutscher Staatsangehöriger; wer als Statusdeutscher anerkannt ist, hat den Anspruch auf Einbürgerung erworben. Das Recht auf Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus dem Artikel 116, Abs. 1 des Grundgesetzes; es ist im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) näher geregelt. Nach dem Grundgesetz (Artikel 116) ist Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat. Der Erwerb des Spätaussiedlerstatus impliziert über die rechtliche Gleichstellung mit einheimischen Bundesbürgern hinaus Ansprüche auf Unterstützungsleistungen, die das Einleben in Deutschland erleichtern sollen. Neben Sprachkursen erhalten Aussiedler Hilfen bei der Wohnungsvermittlung, bei der beruflichen Eingliederung, Lastenausgleichs- und Rentenzahlungen, Eingliederungsgeld, vorläufige Krankenversicherung, Umzugskosten und günstige Darlehen. 55 Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur einbürgerungsrechtlichen Behandlung anderer Gruppen von Zuwanderern. Im Vergleich zur Rechtsstellung ausländischer Mitbürger spricht Frankenberg (1993) daher auch von einer „positiven Diskriminierung“ der Aussiedler (ebd., S. 50). Im Vergleich mit anderen Zuwanderergruppen und unter Anerkennung einer moralischen Verpflichtung zur Hilfegewährung lässt sich mit Otto (1990) davon sprechen, dass für Aussiedler ein „verfahrensrechtlich normiertes Einwanderungsprivileg“ (ebd., S. 54) existiert. Neben der so genannten Anspruchseinbürgerung (und neben dem natürlichen Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt) sieht das Staatsangehörigkeitsrecht auch eine so genannte Ermessenseinbürgerung vor. Sie findet Anwendung auf Ausländer, die die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen. Eine Voraussetzung für ihre Einbürgerung ist die „Hinwendung zum Deutschen“. Bei der Anspruchseinbürgerung, nach der Aussiedler zu deutschen Staatsangehörigen werden. ganisationen des Hitlerregimes vorlag (vgl. Otto 1990, S. 46f.; dort wird auch die Funktion des BVFG in Zeiten des Kalten Krieges diskutiert). 55 Einen umfassenden Überblick über Unterstützungsleistungen und Eingliederungshilfen für Aussiedler geben Malchow/ Tayebi/ Brand (1990, S. 57-62). <?page no="50"?> 50 Aussiedler treffen aufEinheimische ist hingegen ein „gelebtes Bekenntnis zum Deutschtum“ Vorbedingung; siehe auch den schematischen Überblick über das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit in Kap. 2.8. 2.4 „Vertriebene“, „Aussiedler“, „Spätaussiedler“ - Vertreibungsdruck und Kriegsfolgenschicksal als Aufnahmekriterien Von den 3,9 Millionen Aussiedlem, die bis 1998 statistisch erfasst wurden, sind etwa zwei Drittel in der Zeit von 1988-1995 zugewandert. Die Aufnahme von Aussiedlem in der Bundesrepublik ist allerdings bereits seit 1950 dokumentiert. Insofern als nur wenige Jahre zwischen Kriegsende und erster amtlicher Registrierung von Aussiedlern liegen, verweist die Aussiedlerstatistik auch auf den historischen Ereignisrahmen, aus dem diese Migrationsbewegung hervorgegangen ist: sie steht im Zusammenhang mit den Vertreibungs- und Deportationsmaßnahmen, die während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach stattgefunden haben. 56 Als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches sah sich die Bundesrepublik in der Pflicht, einen Ausgleich für den Verlust von Heimat und Besitztum zu schaffen, der durch kriegsbedingte Flucht und Vertreibung entstanden war. Desgleichen galt es, Maßnahmen zu ergreifen, die den Vertriebenen die grundgesetzlichen Rechte sicherten. Bis in die Gegenwart hinein bestimmt der Gedanke der Kompensation kriegsbedingter Schicksalsschläge und Benachteiligung die Aussiedlerpolitik und die Gesetzesinitiativen zur Steuerung des Zuwandererstroms. Mit dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG, Erstfassung 19.5.1953) wurde ein gesetzliches Instrumentarium geschaffen, das die staatsbürgerlichen Rechte der Flüchtlinge und Vertriebenen sichern sollte und Ansprüche auf Entschädigungsleistungen zubilligte. In der novellierten Fassung des BVFG von 1957 wurden erstmals auch Aussiedler als zu berücksichtigende Bevölkerungsgruppe erwähnt. Was aber hat es mit der Unterscheidung zwischen diesen beiden Personenkreisen auf sich? Gesetzestechnisch waren Aussiedler zunächst unter den Begriff „Vertriebene“ subsumiert. 57 Zur Vertriebenenei- 56 In wanderungs- und kollektivgeschichtlicher Hinsicht ist bei den Russlanddeutschen zu beachten, dass bereits eine erste Auswanderungswelle nach der russischen Revolution als Reaktion auf Zwangskollektivierung und Entkulakisierung einsetzte; vgl. Wilkiewicz (1989, S. 82ff.). Im BVFG in der Fassung von 1957 heißt es: „Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger (...) nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung <?page no="51"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 51 genschaft gehört es, Opfer von Vertreibungsmaßnahmen im unmittelbaren Zusammenhang mit Kriegsereignissen und -folgen zu sein. Der Begriff „Aussiedler“ wurde für deutsche Bevölkerungsgruppen eingefiührt, die nach Beendigung der Vertreibungsmaßnahmen (etwa um 1950) aus osteuropäischen Gebieten nach Deutschland kamen. Vielfach taucht auch der Begriff „Spätaussiedler“ auf. Er enthält aber keine andere Bestimmung der Rechtsstellung deutschstämmiger Zuwanderer. Aufgekommen ist er im Zusammenhang mit Aussiedlungen, die durch die Ost-Verträge ermöglicht wurden (zwischen 1967 und 1970). Im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG), das seit dem 1.1.1993 in Kraft ist, wurde der Begriff des Vertriebenen durch den des Spätaussiedlers ersetzt (vgl. Nienaber 1995, S. 16). 58 Seither ist es nur noch den vor dem 1.1.1993 Geborenen möglich, den Spätaussiedlerstatus zu erlangen. Ihrer rechtlichen Stellung nach besteht also kein wesentlicher Unterschied zwischen Vertriebenen und Aussiedlern bzw. Spätaussiedlern. Angehörige beider Personengruppen wurden und werden behandelt als Personen mit schutzwürdigen Rechten und Ansprüchen auf Leistungen, die einen Neuanfang und das Einleben in Deutschland erleichtern sollen. Die Unterschiede, die zwischen Aussiedlem und Vertriebenen bestehen, betreffen vor allem die Herkunftsgebiete und den Zeitpunkt der Zuwanderung. Als Vertriebener gilt nach dem BVFG, § 1, Abs. (1), wer aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, also aus den Gebieten Deutschlands in den Grenzen von 1937 (Ostpreußen, Schlesien, Pommern, östlich der Oder und Neiße liegende Gebiete Brandenburgs und Danzig) stammt. Neben den im heutigen Polen liegenden Gebieten gehören Republiken der ehemaligen Sowjetunion sowie Rumänien zu den wichtigsten Herkunftsgebieten deutschstämmiger Zuwanderer (siehe Kap. 2.1). Vertriebene und Aussiedler lassen sich ferner dadurch unterscheiden, dass die Aufnahme der Vertriebenen historisch vor den Hauptzuwandererströmen der Aussiedler liegt. Schließlich waren und sind Vertriebene und Aussiedler auf unterschiedliche Weise von Staatsangehörigkeitsregelungen stehenden deutschen Ostgebiete Danzig, Estland, Lettland, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verläßt (...) (Aussiedler).“ (zitiert nach Nienaber 1995, S. 15; Hervorhebungen im Original). 58 Das BVFG enthält auch den Begriff „Heimatvertriebene“; nach §2(1) gilt als Heimatvertriebener, wer bereits am 31. Dezember 1937 oder vorher seinen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet hatte. <?page no="52"?> 52 Aussiedler treffen aufEinheimische betroffen. Die Vertriebenen, die aus ehemaligen deutschen Ostgebieten stammen und die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, mussten nicht mehr eingebürgert werden. Aussiedler hingegen erlangen die staatsbürgerrechtliche Gleichstellung mit der bundesdeutschen Bevölkerung erst mit dem Erwerb des Spätaussiedlerstatus. Für die Aufnahme und Einbürgerung von Aussiedlern war lange Zeit neben dem Nachweis der Deutschstämmigkeit die Annahme eines kollektiven Vertreibungsdrucks als Folge des Zweiten Weltkriegs ausschlaggebend. Durch diese vom Bundesverwaltungsgericht bekräftigte Annahme war der einzelne Aussiedler davon entlastet, nachweisen zu müssen, dass er Opfer des allgemeinen Vertreibungsdrucks ist (vgl. Ferstl/ Hetzel 1990, S. 22). Nach den politischen Umwälzungen in den osteuropäischen Staaten wurde es schwieriger, die Annahme eines allgemeinen Vertreibungsbzw. Assimilierungsdrucks aufrechtzuerhalten. Davon betroffen waren vor allem polnische Aussiedler, die ihre Deutschstämmigkeit nur noch anhand der in der Volksliste 3 (siehe hierzu auch das nächste Kapitel) registrierten Großeltern nachweisen konnten. Eine Aufnahme als Statusdeutsche ist bei diesen Aussiedlem nicht mehr möglich, weil für sie die nach dem Grundgesetz (Artikel 116) verlangte deutsche Volkszugehörigkeit sowie die Flüchtlingsbzw. Vertriebeneneigenschaft (Vertreibungsdruck) nicht zutraf (vgl. Ferstl/ Hetzel 1990, S. 22). Mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz ist die Annahme eines allgemeinen Vertreibungsdrucks außer Kraft gesetzt worden. Nur russlanddeutschen Aussiedlem wird das Kriegsfolgenschicksal nach wie vor generell zugestanden; Antragsteller aus anderen Herkunftsgebieten müssen individuell den Nachweis erbringen, durch Kriegsfolgen benachteiligt und geschädigt worden zu sein (vgl. Info-Dienst 1993, Nr. 39, S. 24-38). Bei den Russlanddeutschen ging die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl davon aus, dass sich Kriegsfolgen wie bei keiner anderen deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe noch heute auswirken. Anlässlich einer Gesetzesinitiative des Bundesrates, die darauf zielte, die generelle Annahme eines Kriegsfolgenschicksals aufzuheben und die Kriterien für den Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit zu präzisieren, 59 hat die Bundesregierung Kohl diesen Standpunkt bekräftigt. Sie wies die Gesetzesinitiative zurück und begründete ihre Ablehnung damit, dass ein Verzicht auf das 59 Gesetzesinitiative vom 7.2.1997 auf Antrag des Landes Rheinland-Pfalz (vgl. Info-Dienst 1997, Nr. 87, S. Iff.). <?page no="53"?> Migrationskontext und A ufnahmebedingungen 53 Prinzip der generellen Annahme eines Kriegsfolgenschicksals nicht zu akzeptieren sei. Die Russlanddeutschen seien dadurch schwerwiegend benachteiligt, dass sie ihre Eigenstaatlichkeit an der Wolga aufgeben mußten, während des Krieges und nach Kriegsende ihre Heimat im europäischen Teil der ehemaligen UdSSR nahezu vollständig verloren haben und in die zentralasiatischen und sibirischen Teile der ehemaligen UdSSR verschleppt wurden, zum Teil unter unsäglichen Opfern in der Trudarmee arbeiten mußten, in den Verschleppungsgebieten (soweit sie die Verschleppung überhaupt überlebt haben) bis 1956 weitgehend rechtlos unter Kommandaturaufsicht standen, als Volksgruppe zu Unrecht der Kollaboration mit Hitler bezichtigt und deswegen über Jahrzehnte diskriminiert und gegenüber den anderen Nationalitäten benachteiligt wurden, erst Mitte der 60er Jahre vom Vorwurf der Kollaboration mit Hitler entlastet wurden, wobei ihre materielle Rehabilitierung bis heute weitgehend aussteht, gegenüber anderen Nationalitäten in der ehemaligen UdSSR, z. B. bei der Zulassung zu einem Hochschulstudium, praktisch benachteiligt waren, wie die geringe Zahl von Hochschulabsolventen beweist, Ausreisemöglichkeiten im Grunde erst seit 1989/ 90 haben (Ausreisen in den Jahrzehnten zuvor sind im Verhältnis zur Größe der Volksgruppe quantitativ unbeachtlich) (zitiert nach Info-Dienst 1997, Nr. 87, S. 6). In dieser Stellungnahme wird bekräftigt, dass die (damalige) Bundesregierung am Gedanken der Entschädigung für Kriegsfolgen festhalten will. Dies wird begründet mit länger zurückliegenden Sanktionen gegen die Deutschen in der Sowjetunion (Verlust von Eigenstaatlichkeit, Zwangsarbeit und Zwangsdeportation, weitgehende Rechtlosigkeit während der Kommandantur, Kollaborationsverdacht). Auch werden Benachteiligungen aus jüngerer Zeit angeführt, die sie als Spätfolgen der Kriegsereignisse ansieht (erschwerter Hochschulzugang, Ausreisemöglichkeiten im größeren Umfang erst seit 1989). Diese Position hat sich seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 nicht wesentlich verändert. 60 In Kap. 2.2 habe ich 60 Allerdings machen sich die seit 1998 zu registrierenden Anzeichen der Veränderung des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland in Richtung Einwanderungsgesellschaft inzwischen auch in der Aussiedlerpolitik bemerkbar. Etwa daran, dass die statusrechtlichen Unterscheidungen zwischen Aussiedlern, Ausländern, Flüchtlingen und Asylanten bei der Planung und Förderung von Integrationsshilfen in den Hintergrund treten und von einer Orientierung am <?page no="54"?> 54 Aussiedler treffen aufEinheimische aber bereits darauf hingewiesen, dass der Aussiedlerpolitik, die mit Benachteiligungen deutschstämmiger Minderheiten in den Herkunftsgebieten legitimiert wird, seit einigen Jahren Gesetzesinitiativen und Erlasse gegenüberstehen, die die Aufnahme und Eingliederung von Aussiedlern in Deutschland erschweren. 2.5 Zugehörigkeit zum deutschen Volk in der Minderheitenstellung in Polen und in Russland Ich habe eben erläutert, dass die im Staatsangehörigkeitsrecht getroffene Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Volkszugehörigen Bezug nimmt auf Vertreibungs- und Diskriminierungserfahrungen der Deutschstämmigen in Polen, Russland und anderen Ländern. Bis zum Inkrafttreten des KfbG hat der Gesetzgeber diesen Erfahrungshintergrund als Vertreibungsdruck aufgefasst bzw. bezeichnet (seit 1993 als Kriegsfolgenschicksal) und neben dem Merkmal der Volkszugehörigkeit zum Aufnahmekriterium gemacht. Mit dem Begriff des Vertreibungsdrucks bezieht sich der Gesetzgeber auf Anfeindungen und Benachteiligungsverhältnisse, denen deutsche Minderheiten in Polen, Russland usw. ausgesetzt waren bzw. sind. Zwar soll es in dieser Arbeit nicht darum gehen, die wanderungs- und kulturgeschichtliche Herausbildung der Minderheitenstellung der Deutschen in Osteuropa detailliert nachzuzeichnen; für das hier verfolgte Untersuchungsinteresse ist es aber unverzichtbar, insoweit auf diese Minderheitenlage einzugehen, dass wesentliche kollektivgeschichtliche Voraussetzungen deutlich werden, unter denen Aussiedler sich mit Deutschland und Deutschtum verbunden sehen. Es sei noch einmal klargestellt, dass es dabei nicht um eine Bestimmung von Aussiedlungsmotiven geht, sondern um allgemeine Bedingungen in den Herkunftsländern, unter denen Deutschsein/ Deutschstämmigkeit erfahren wurde und um darin angelegte Orientierungspotenziale auf ein Leben in Deutschland. Ich beschränke mich hier auf die Herkunftsländer, aus denen die im empirischen Material repräsentierten Aussiedler stammen: auf die Situation der Deutschstämmigen in Polen und in der ehemaligen Sowjetunion. 61 „kulturellen Abstand“ von Zuwanderern zur Aufnahmegesellschaft abgelöst werden sollen, wie Verlautbarungen des Aussiedlerbeauftragten, Jochen Welt, zu entnehmen ist. 61 Zur Minderheitensituation der Deutschstämmigen in Rumänien vgl. Gabanyi (1988) und Sundhaussen (1992); zum Zusammenhang zwischen Minderheiten- <?page no="55"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 55 Zunächst zu den Deutschen in Polen. Ihr Leben als Angehörige einer deutschen Minderheit war während des Zweiten Weltkriegs und auch in den Jahren danach entscheidend von dem „kriegsbedingten Feindbild“ (Graudenz/ Römhild 1996b) gegenüber allem Deutschen geprägt. Die Deutschen in Polen waren allein schon dadurch einem enormen Assimilierungsdruck ausgesetzt, dass die Existenz deutscher Minderheiten offiziell geleugnet wurde. Der Gebrauch der deutschen Sprache war nach dem Zweiten Weltkrieg verboten, die Deutschen in Polen konnten keine eigenen Bildungseinrichtungen unterhalten, sie wurden in das sozialistische Bildungssystem eingepasst. Viele Jahre lang riskierte jeder, der sich als Deutscher zu erkennen gab, gravierende Benachteiligungen. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben die in Polen verbliebenen Deutschen die schwerwiegendste Form der nationalen Unterdrückung erlebt. Unmittelbar nach dem Krieg und noch lange Zeit später waren sie massiven Beschimpfungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Viele von ihnen waren auch nach 1945 nicht in den Westen gegangen, weil sie immer noch auf eine Wiedervereinigung mit Deutschland gehofft hatten und ihre Dorfgemeinschaften nicht verlassen wollten (Malchow/ Tayebi/ Brand 1990, S. 45). Die Minderheitenlage der Deutschen in Polen ist wesentlich bestimmt von Siedlungsvorgängen und Grenzveränderungen, durch die Deutsche zu Bewohnern des polnischen Staatsgebietes wurden. Auch spielt hier die Volkstumspolitik der deutschen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs hinein. So ist bei den deutschen Minderheiten in Polen zwischen verschiedenen Gruppierungen zu unterscheiden: Die erste Gruppe sind die Reichsdeutschen, die Angehörige des deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 waren. Sie lebten in Oberschlesien, Ermland-Masuren und anderen Regionen und wurden als Autochthone angesehen. Eine zweite Gruppe sind die Polendeutschen, die durch Abtretung ehemals deutscher Gebiete (Posen und Ostoberschlesien) an die neu gegründete Republik Polen nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen geworden waren. Als weitere Gruppe sind die Volksdeutschen zu nennen, die durch den Hitler-Stalin-Pakt von Estland, Lettland und Litauen in das damalige Westpreußen umgesiedelt wurden. Sie stellen eine Gruppe der so genannten Administrativumsiedler dar. Eine andere Gruppe, deren Umsiedlung durch den Hitler-Stalin-Pakt möglich wurde, waren Deutsche, die von Ostgalizien, Wolhynien, Litauen und erfahrung in Rumänien und biografischer Verarbeitung der Aussiedlung nach Deutschland siehe Gövert-Loos (1994). <?page no="56"?> 56 Aussiedler treffen aufEinheimische Weißrussland kamen und im Warthegau und in der Ukraine angesiedelt wurden (vgl. Nienaber 1995, S. 17, 39f. sowie Dembon/ Hoffmeister/ Ingenhorst 1994, S. 16-21). Die Reichsdeutschen haben die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren; die Polendeutschen erhielten sie während des Zweiten Weltkriegs durch Aufnahme in so genannte Volkslisten. 62 Als Deutsche wurden in den Listen 1 und 2 solche polnischen Staatsbürger anerkannt, die die Volkszugehörigkeit gewahrt hatten (dokumentiert über die Beherrschung der deutschen Sprache). In Liste 3 wurden Bewohner Polens aufgenommen, die teilweise polonisiert waren, aber im Zweiten Weltkrieg nicht gegen Deutschland gekämpft hatten. Die Liste 4 blieb völlig polonisierten Staatsbürgern Vorbehalten, die sich um die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben konnten. Für die Geltendmachung der Volkszugehörigkeit ist für die Polendeutschen die Erfassung in der Liste 3 entscheidend (vgl. Dembon/ Hoffmeister/ Ingenhorst 1994, S. 19). 63 Während der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht wurden auch rechtliche Voraussetzungen zur Eindeutschung von Polen geschaffen. „Eindeutschungsfähigen Polen“ konnte die Staatsangehörigkeit auf Widerruf verliehen werden. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen sind als Vorläufer des Staatsangehörigkeitsrechts der Bundesrepublik anzusehen. 64 62 Die Nationalsozialisten setzten diese Volkslisten als Instrument zur Entpolonisierung und zur Abtrennung „minderwertiger Polen“ von den Volksdeutschen und jenen Polen, die als „eindeutschungsfahig“ galten, ein; vgl. Malchow/ Tayebi/ Brand (1990, S. 32f.). 63 1989 begründeten 80% der Aussiedler aus Polen ihre Volkszugehörigkeit mit der Einstufung ihrer Eltern oder Großeltern in der Liste 3; vgl. Malchow/ Tayebi/ Brand (1990, S. 33). Die Zahl der polnischen Aussiedler schwankte von 1980 bis 1987 zwischen 50.983 (Höchstzahl im Jahre 1981) und 17.455 (niedrigste Zuwanderung im Jahre 1983). Einen enormen Anstieg gab es in den darauf folgenden drei Jahren: 1988 = 14.226; 1989 = 25.340 und 1990= 133.872. Im Jahre 1991 ging die Zahl der Aussiedler aus Polen auf 40.129 zurück, 1993 waren es noch 5.431, 1994 wurden 2.440 und 1995 noch 1.677 polnische Aussiedler registriert; vgl. Info-Dienst (1996), Nr. 82, S. 4. Der Anteil der Aussiedler aus Polen an der Gesamtzahl der aufgenommenen Aussiedler betrug 1988 60%, im Jahre 1995 nur noch knapp 0,8% (eigene Berechnungen). 64 Das Reichsstaatsangehörigkeitsrecht von 1913, das Grundlegungen des heute geltenden Staatsangehörigkeitsrechts enthält, sah eine solche Einbürgerungsmöglichkeit nicht vor. Sie wurde im Dritten Reich durch die „Zwölfte Verordnung <?page no="57"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 57 Nun zur Minderheitenstellung der Russlanddeutschen. 65 In der ehemaligen Sowjetunion wurde die Existenz deutscher Minderheiten weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg geleugnet. Es gab die offizielle Bezeichnung „Sowjetdeutsche“, die auch in der russlanddeutschen Presse verwendet wurde (vgl. Graudenz/ Römhild 1996b, S. 33). Ein nationales Identitätsbekenntnis war den Deutschen schon dadurch möglich, dass in Pässen und Volkszählungslisten neben der Staatszugehörigkeit auch die ethnische Zugehörigkeit angegeben werden konnte. Gleichwohl blieb den Russlanddeutschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit das Schicksal einer angefeindeten und unter Assimilierungsdruck stehenden Minderheit nicht erspart. Die Eigenschaft, Deutscher zu sein, setzte sie während des Zweiten Weltkriegs staatlichen Zwangsmaßnahmen aus, die nicht nur Existenzgrundlagen und Gemeinschaftsformen zerstörten, sondern vielfach auch lebensbedrohend waren (Deportationen, Zwangsarbeit in der Trudarmee). 66 Stalins Verdacht, dass die Deutschstämmigen mit den Faschisten kollaborieren würden, galt dem Gesamtkollektiv. 67 Durch Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs wurden die Deutschen in der Sowjetunion zu Angehörigen einer durch Kriegsschuld und Faschismus belasteten Minderheit. In den Jahren danach wurden sie weiterhin als Verbündete der deutschen Faschisten und als Kriegsschuldige angefeindet. Wo Russlanddeutsche Ausreiseabsichten bei den Behörden bekundeten, stieß dies lange Zeit auf schleppende oder gar ablehnende Bearbeitung. Auch riskierten Ausreisewillige staatsbürokratische zum Reichsbürgergesetz vom 25. April 1943“ geschaffen; vgl. Hansen (1995, S. 27ff). 65 Ich sehe hier davon ab, die Minderheitensituation der Deutschen in Russland seit ihren Anfängen darzustellen. In größerem Ausmaße sind Deutsche im Zuge der zaristischen Besiedlungspolitik im 18. Jahrhundert nach Russland ausgewandert; siehe auch das Manifest von Katharina II. aus dem Jahre 1763 in Meng (2001). 66 Die Leidenserfahrungen während des Stalinismus sind nicht nur in mündlichen Darstellungen zugänglich. Von vielen Betroffenen wurde das Schreiben von Briefen und Gedichten und das Verfassen autobiografischer Aufzeichnungen als Verarbeitungsmöglichkeit leidvoller Erfahrungen genutzt. Das Erlebnisschrifttum der Russlanddeutschen ist entsprechend umfangreich (wenn auch nicht immer leicht zugänglich). Als Beispiele seien hier der von Gisela und Arnold Harfst (1994) zusammengestellte Band sowie der Erlebnisbericht von Katharina Krüger (1993) genannt. Das Medium der Erlebnisliteratur wird auch in der sozialpädagogischen Betreuung von Aussiedlem eingesetzt. 67 Eine umfangreiche Dokumentensammlung über die Deportationspolitik während des Stalinismus wurde von Eisfeld/ Herdt (1996) herausgegeben. <?page no="58"?> 58 Aussiedler treffen aufEinheimische Sanktionen. Hinzu kam, dass das Zusammenleben mit den Russen und mit Angehörigen anderer Ethnien vielfach durch Neid auf materielle Errungenschaften belastet war. Nicht nur in der Erlebnisgeneration, auch in den nachfolgenden Generationen blieben Verfolgungs- und Diskriminierungserfahrungen prägend für das Selbstverständnis und die Lebensperspektiven als ethnische Minderheit: Auch heute noch können die Ausreisemotive weit in der Vergangenheit zurückliegen. Die Deportationen der Deutschen in der Sowjetunion infolge des Zweiten Weltkrieges, die darauffolgenden langjährigen Lageraufenthalte und die anhaltenden Diskriminierungen nur aufgrund der deutschen Nationalitätszugehörigkeit haben bei vielen von ihnen ein Trauma hinterlassen, das nicht selten an Kinder und Enkelkinder weitergegeben wurde. (Dietz 1990, S. 28). In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der von Verfolgung, Zwangsdeportationen und Überlebenskämpfen geprägte kollektivgeschichtliche Erfahrungshintergrund bei den Russlanddeutschen zur Herausbildung einer Selbstsicht als von der Geschichte Benachteiligte geführt hat (vgl. Oxen 1995a; Graudenz/ Römhild 1996b). 2.6 Exkurs: Hoffnungen auf Heimkehr als kollektivgeschichtlich verankerte Thematik unter den Russlanddeutschen Bedingt durch Kriegsereignisse und durch innere Umwälzungsprozesse in der ehemaligen Sowjetunion ist unter den dort lebenden Deutschstämmigen verstärkt eine kulturelle Thematik aufgekommen, die ich als Heimkehrthematik bezeichnen möchte. Da diese kulturelle Thematik auch im Aussiedlungsprozess relevant ist, ist es nicht unwichtig zu sehen, wie sie mit den Erfahrungen der deutschen Minderheiten in Russland verknüpft ist. Ohne hier näher auf die unterschiedlichen Gruppierungen von Russlanddeutschen 68 eingehen zu können, ist zunächst festzuhalten, dass die Deutsch- 68 Je nach Herkunftsgebiet der Vorfahren, je nach Siedlungsgebiet in Russland sowie in Abhängigkeit vom Einreisezeitpunkt und auch in Abhängigkeit vom Religionsbekenntnis lassen sich innerhalb der Gesamtheit der Deutschstämmigen Differenzierungen vornehmen. Die geschichtlichen und kulturellen Besonderheiten der geografisch (Wolhyniendeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Kaukasusdeutsche usw.) und konfessionell (Mennoniten, Baptisten, Katholiken, Protestanten) geprägten Gruppierungen müssen hier unberücksichtigt bleiben. Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass die Kollektivbezeichnung „Russ- <?page no="59"?> Migrationskontext und A ufnahmebedingungen 59 stämmigen in Russland bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts eine relativ akzeptierte und privilegierte Stellung inne hatten. Wenngleich es bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der aufkommenden panslawistischen Bewegung zu Anfeindungen und Schwächungen dieser Position kam, kann generell davon ausgegangen werden, dass „die deutschen Kolonisten eine soziale und wirtschaftlich relativ etablierte und politisch loyale Gruppe im Zarenreich“ bildeten (Dietz 1995, S. 30). Das loyale Grundverhältnis gegenüber dem zaristischen Staatswesen deutet darauf hin, dass bis in die Anfänge dieses Jahrhunderts hinein kein Nährboden für eine kollektiv betriebene und intensivierte Auseinandersetzung mit Fragen der Rück- oder Heimkehr aufgekommen ist. Durch die Zwangsumsiedlungen von Deutschstämmigen, zu denen es nicht erst im Stalinismus kam, sondern bereits während des Ersten Weltkriegs (Umsiedlung der Wolhyniendeutschen in östlicher gelegene Gebiete), ist russlanddeutsches Gemeinschaftsleben zerstört worden, sind die Betroffenen kulturell, materiell und sozial entwurzelt worden. Dadurch ist gewiss eine tiefe Sehnsucht nach dem, was ihnen genommen wurde, aufgekommen. In dieser Situation blieb den Betroffenen aber meist nicht viel mehr als die Solidarität derer, die sich in gleicher Notlage befanden. Zwangsumsiedlungen und Zwangsrekrutierungen in die Trudarmee haben unter den Betroffenen eine ähnliche Stimmungslage aufkommen lassen, wie sie auch unter den Flüchtlingen und Heimatvertriebenen im Deutschland der Nachkriegszeit 69 bestanden hat eine Stimmungslage, auf die mit Herausbildung von Diskurswelten reagiert wurde, in denen Hoffnungen auf Rückkehr in ehemalige Heimatgebiete wach gehalten wurden. Der in Erzählwelten gestützte und transportierte Glaube an Heimkehr kann mit dem Volkskundler Lehmann (1991) als „die quasi-religiöse Überhöhung eines Wunschbildes“ angesehen werden, das „bereits ein Anzeichen für das Bewusstsein eines Verlustes und eines im Stillen vollzogenen Verzichts“ darstellt (ebd., S. 230). Heimkehr als kulturelle Thematik bei den Russlanddeutschen ist somit auch als Reaktion auf Verlust- und Entwurzelungserfahrungen in der ehemaligen Sowjetunion landdeutsche“ die soziokulturelle Uneinheitlichkeit verdeckt (vgl. Dietz 1995, S. 30). Eine systematische, sehr umfangreiche Darstellung der Entwicklung unterschiedlicher Formierungen Deutschstämmiger in Russland findet sich in Stricker (1997). 69 Zur Stimmungslage unter den Flüchtlingen und Vertriebenen vgl. Lehmann (1991) und Müller-Handl (1993). <?page no="60"?> 60 Aussiedler treffen aufEinheimische verstehbar. Lehmann hat gezeigt, dass sich in Wunschgedanken an Rückkehr in eine vertraute Heimat die Suche nach Auswegen aus einer bedrückenden Situation, eine starke Sehnsucht nach vergangenen, besseren Zeiten ausdrückt. Ein solcher Ausweg aus bedrückenden Lebensverhältnissen kann auch im Weiterziehen in noch unbekanntere Welten gesucht werden. 70 Aus mir vorliegenden biografischen Erzählungen von russlanddeutschen Aussiedlem geht hervor, dass das Konstrukt „Heimkehr“ insofern ein variables Konstrukt ist, als es zwei territoriale Bezugspunkte besitzt: die Wolgarepublik 7 ' und das deutsche Staatsgebiet. In Materialien, in denen ältere Aussiedler über die von Stalin betriebenen Zwangsumsiedlungen erzählen, finden sich Hinweise darauf, dass die Wanderungsgeschichte des jüdischen Volkes in dieser Zeit als Vorbild für die Bewältigung des eigenen Kollektivschicksals bedeutsam war. 72 Auch mangelt es nicht an Hinweisen darauf, dass unter den zwangsdeportierten Russlanddeutschen an eine Heimkehr in angestammte 70 Unter den Russlanddeutschen kam es schon in den 1920er-Jahren und noch früher zu Wanderungsbewegungen (Binnenmigration in Russland und Auswanderungen nach Kanada, Paraguay, Amerika; vgl. Stricker 1997). 71 Die Wolgarepublik war von 1924 bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine autonome Republik innerhalb des föderalen Systems der Sowjetunion. Die sowjetische Nationalitätenpolitik, die in der nachrevolutionären Zeit eingeleitet wurde, hat der deutschen Minderheit dieses Gebiet sowie weitgehende Kompetenzen wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art zugestanden. Die Wolgarepublik konnte eigene Vertreter in den Sowjetkongress entsenden; die deutsche Sprache wurde zur offiziellen Sprache in Bildungs-, Verwaltungs- und Regierungseinrichtungen. Die Gründung der Wolgarepublik hat auf Russlanddeutsche, die außerhalb dieses Gebietes lebten, große Anziehungskraft ausgeübt. Der Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung dieser Republik betrug 1938 gut zwei Drittel. Für den Niedergang der Wolgarepublik lassen sich die mangelnde Bereitschaft der Wolgadeutschen zur Zusammenarbeit mit den Machthabern der Sowjetunion sowie die von Stalin in den 30er-Jahren eingeleitete repressive Nationalitätenpolitik verantwortlich machen. 1938/ 39 setzten Deportationen der Deutschen aus dieser Region in Gebiete hinter dem Ural ein; in dieser Zeit wurde auch die deutsche Sprache als Unterrichtssprache wieder abgeschafft (vgl. Pinkus/ Fleischhauer 1987, S. 86-92). In dem Umstand, dass das Recht auf nationale Eigenständigkeit mit einem fest umrissenen Territorium verknüpft war, liegt ein wesentlicher Grund dafür, dass die Wolgarepublik unter den Russlanddeutschen mystifiziert wurde (vgl. Dietz 1995, S. 31). 7 ~ Ich stütze mich hier auf Narrationsmaterial, das im Verlauf meiner eigenen Erhebungen sowie in der von Katharina Meng durchgeführten Materialerhebung entstanden ist, hier aber nicht präsentiert und detailliert ausgewertet wird. <?page no="61"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 61 Gebiete in Russland wie an eine göttliche Verheißung geglaubt wurde. Heimkehrwünsche und Rückkehrvorstellungen resultieren bei ihnen aber viel stärker aus unmittelbar erlittenen Verlust- und Bedrohungserfahrungen; die Rückkehrthematik des jüdischen Volkes hingegen wurzelt stärker in religiösen Glaubensvorstellungen. Der Gedanke der göttlichen Auserwähltheit, der für die jüdische Religion zentral ist, war nicht nur mit einem Volk, sondern auch mit einem Land, in dem dieses Volk lebt, verbunden. Bereits seit der ägyptischen und der babylonischen Gefangenschaft sind im jüdischen Volk Rückkehrbestrebungen in das angestammte Land zu verzeichnen. Diese religiöse Verknüpfung des Volksgedankens mit dem Territorialprinzip ist bei den Juden eine seit vorchristlichen Zeiten bestehende Orientierung, die insbesondere durch rituelle Formeln tradiert worden ist (vgl. Krupp 1983). Sicherlich haben die biblischen Überlieferungen von Befreiung, Errettung und Rückkehr des jüdischen Volkes in das „gelobte Land“ für die entwurzelten Russlanddeutschen als Trost- und Hoffnungsquelle fungiert und so ein Leitbild für den Umgang mit dem eigenen Kollektivschicksal vermittelt. Zu einem Aufleben der kulturellen Thematik „Heimkehr“ haben die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs noch in anderer Weise beigetragen. In historischen Studien über die Russlanddeutschen wird eine generell stärkere Besinnung auf eigene ethnisch-kulturelle Wurzeln und dadurch ausgelöste Hoffnungen auf ein Leben in deutscher Gemeinschaft in Folge der Kriegsereignisse nachgewiesen (vgl. Pinkus/ Fleischhauer 1987; Brandes 1997, S. 208-212). Wie der Einmarsch deutscher Truppen in der Sowjetunion nationales Zugehörigkeitsdenken unter Russlanddeutschen mobilisiert hat, lässt sich exemplarisch dem autobiografischen Bericht von Katharina Krüger entnehmen. Sie beschreibt ihre Gedanken beim Einmarsch deutscher Soldaten in Russland folgendermaßen: Solange ich denken konnte, war ich im Innern immer stolz auf das deutsche Volk, die deutsche Kultur, das Geistesschaffen eines Goethe, Schiller, Lessing, deren Werke in meinem Elternhaus einen Ehrenplatz hatten. Mit denen ich von Kindheit an vertraut war. Es war von jeher mein geheimer Wunsch, dieses Deutschland, das Land unserer Väter, zu sehen, und mein Traum, dort zu wohnen. (Krüger 1993, S. 17f.). Dieses Zitat lässt deutlich werden, wie bei Frau Krüger Empfindungen kultureller und abstammungsmäßiger Verbundenheit mit Deutschland intensiviert wurden, als sie vom Vordringen deutscher Soldaten in Russland erfuhr. In ihren autobiografischen Reflexionen legt sie ein Bewusstsein um <?page no="62"?> 62 Aussiedler treffen aufEinheimische die kollektivgeschichtliche Sonderentwicklung der Deutschen in Russland frei, macht aber auch deutlich, dass daneben starke ethnische Zugehörigkeits- und Verbundenheitsgefühle mit Deutschland erhalten geblieben sind. Wie das vorstehende Zitat zeigt, war Frau Krüger imstande, Verbundenheitsgefühle gegenüber Deutschland durch mystifizierende Herkunftsvorstellungen und Rückkehrgedanken aufrechtzuerhalten. Angesichts des Einmarsches deutscher Truppen konnten daraus offenbar nationale Hochgefühle erwachsen. 73 Festzuhalten ist, dass die Heimkehrthematik bei den Russlanddeutschen im Zusammenhang mit der Erfahrung des Verlustes einer Heimat steht, die sie in Russland gefunden hatten, sowie mit einer durch historisch-politische Umstände erzwungenen stärkeren Zuwendung auf die Deutschstämmigkeit. Das formelhafte und vielfach zur Verständlichmachung der Aussiedlung nach Deutschland genannte Motiv ‘als Deutscher unter Deutschen leben’ hat hier seinen Ursprung. Nach dieser Exkursion in die kollektivgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen Heim- und Rückkehrorientierungen sowie spezifische Orientierungsbezüge auf Deutschtum und auf Deutschland bei den Russlanddeutschen fundiert sind, komme ich nun zu dem für Aussiedler geschaffenen Verfahren der Aufnahme und Einbürgerung in Deutschland. 2.7 Der verfahrensmäßige Übergang vom Herkunftsin das Aufnahmeland Anders als bei den Flüchtlingen und Vertriebenen, die in den Kriegs- und Nachkriegswirren in westliche Gebiete Deutschlands kamen, unterliegt die Zuwanderung der Aussiedler in stärkerem Maße hoheitsstaatlichen Regulierungen (vgl. Nienaber 1995, S. 18). Die dafür geschaffenen Regelungen bestehen zum einen aus Maßnahmen und Entscheidungen staatlicher Verwaltungen, die das Einleben in Deutschland erleichtern sollen (Aufnahmeregelungen). Sie betreffen zum anderen die administrative Seite der Einbürgerung und die in diesem Zusammenhang zu überprüfenden Merkmale, nach 73 Aus zeitgeschichtlichen Studien geht hervor, dass der Einmarsch deutscher Soldaten mancherorts mit großer Begeisterung begrüßt wurde, andernorts aber auch ängstliche Gefühle unter den Sowjetdeutschen so die damals gängige Bezeichnung, die auch von Deutschstämmigen selbst verwendet wurde ausgelöst hat; ausführlicher hierzu Buchsweiler (1984, S. 306ff.). <?page no="63"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 63 denen der Einbürgerungsanspruch zu- oder aberkannt wird (Anerkennungsregelungen). Die folgenden Ausführungen dienen dazu, einen Überblick über die Regularien des Verfahrens zur Aufnahme von Aussiedlem zu geben. Bis 1990 wurde die Aufnahme damals auch Übemahmeverfahren genannt folgendermaßen abgewickelt: Bei der deutschen Botschaft des Aufenthaltslandes wurde ein Ausreiseantrag mit Unterlagen, die die Deutschstämmigkeit dokumentieren, abgegeben („Antrag auf Übernahme in das Bundesgebiet“). Von dort wurde er an das Bundesverwaltungsamt in Köln weitergeleitet, das den Nachweis der Volkszugehörigkeit überprüfte und dann ggf. einen Ausreisebescheid mit Aufenthaltserlaubnis und Reisepapieren zuschickte. Der Besitz eines Reiseausweises implizierte zugleich die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit. Beim Eintreffen in den Sammellagem, in denen Aussiedler vorübergehend untergebracht wurden, erhielten sie einen Registrierschein, der ihnen den Bezug von Eingliederungshilfen sicherte. Bis zur Änderung des Verfahrens wurden 90% der Ausreiseanträge nach diesem Muster (Dl-Verfahren) abgewickelt (vgl. Nienaber 1995, S. 19). Zuwanderer aus Polen, die nach dem Wegfall der Reisebeschränkungen (1970) vielfach als Touristen oder Besucher von Familienangehörigen eingereist waren, mussten das Aufnahmeverfahren nachträglich abwickeln. 74 Sie hatten dabei mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, da sie aus Angst vor Entdeckung ihrer deutschen Identität meist keine Dokumente mitgenommen hatten. Die deutschen Behörden befürchteten oftmals jedoch einen Missbrauch des Staatsbürgerrechts (vgl. Sandfuchs 1992, S. 6). Mit Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes (1.7.1990) wurde das bis dato geltende Übemahmeverfahren dahingehend geändert, dass im Aufenthaltsland Anträge auf Ausreise gestellt werden mussten. Damit war die unter polnischen Aussiedlern verbreitete Praxis, vor Erteilung einer Übemahmegenehmigung einzureisen und die Einbürgerung nachträglich abzuwickeln, verbaut. Seither können Aussiedlungswillige erst nach Erteilung eines Aufnahmebescheids in die Bundesrepublik einreisen. Das Bundesverwaltungsamt in Köln prüft die eingereichten Ausreiseanträge auf Erfüllung der Voraussetzungen zur Anerkennung des Spätaussiedlerstatus und erteilt dann einen Aufnahmebescheid. In dem Aufnahmebescheid, den die Antragsteller 74 Dass Aussiedler aus Polen diesen Weg wählten, lag mit daran, dass Deutsche in Polen offiziell nicht existierten und es daher schwierig war, Dokumente verfügbar zu machen, die Deutschstämmigkeit belegen. <?page no="64"?> 64 Aussiedler treffen aufEinheimische bekommen, wird ihnen eine zentrale Aufnahmeeinrichtung, in der sie in Deutschland in Empfang genommen werden, genannt. In diesen so genannten Erstaufnahmeeinrichtungen des Bundes wird das Registrierverfahren durch das Bundesverwaltungsamt „durchgeführt und aufgrund nochmaliger und aktueller Sachprüfung nach positiver Entscheidung der Registrierschein erteilt“ (Juncker 1994, S. 21). Der Registrierschein stellt aber noch keine rechtswirksame Feststellung des Aussiedlerstatus dar. Der ergangene Aufnahmebescheid kann zurückgenommen werden, wenn sich die ihm zugrunde liegenden Angaben als falsch erweisen, etwa Angaben, die den Kenntnisstand der deutschen Sprache betreffen. 75 Sollte der Aufnahmebescheid zurückgenommen werden, wird der Aufenthalt der Betroffenen nach dem Ausländerrecht geregelt (ebd., S. 22); werden die geforderten Bestätigungsmerkmale erneut festgestellt, wird die „Spätaussiedlerbescheinigung“ 76 erteilt. Feststellende Instanz ist das Bundesverwaltungsamt in Köln. Das Bundesverwaltungsamt ist aber nicht die einzig maßgebliche Instanz für die Zuerkennung des Spätaussiedlerstatus, erforderlich ist auch eine Zustimmung des Bundeslandes, in dem der Antragsteller aufgenommen werden soll. Die Aushändigung der Spätaussiedlerbescheinigung erfolgt bei der für den Aufenthaltsort zuständigen Behörde. Mit dem Besitz dieses Dokuments ist also die eigentliche Einbürgerung noch nicht vollzogen, sie richtet sich nach staatbürgerrechtlichen Regelungen; die Einbürgerung setzt diese Bescheinigung voraus. 77 Wie gesagt, ist diese Bescheinigung (die Statusanerkennung) für die Betroffenen zur Geltendmachung ihrer Ansprüche auf Eingliederungshilfen wichtig. 75 „Hierbei kommt den Angaben im Antragsformular gegenüber nachträglichen Bekundungen besondere Bedeutung zu. Es muß nachvollziehbar erklärt werden, warum die Angaben im Antragsformular unrichtig bzw. mißverständlich sind.“ (Juncker 1994, S. 22). 76 Auch die Bezeichnung „Vertriebenenausweis“ ist noch geläufig. Dabei handelt es sich aber um einen Terminus, der vor Inkrafttreten des KfbG üblich war und oft fälschlicherweise bzw. gewohnheitsmäßig verwendet wird. Einen echten Vertriebenenausweis erhalten mittlerweile nur noch Personen, die unter § 100, Abs. 2 des BVFG fallen (schriftliche Mitteilung des Bundesverwaltungsamtes). 77 Für diesen hoheitsstaatlichen Vorgang, der von der Entgegennahme von Ausreiseanträgen über die Überprüfung von Anerkennungsvoraussetzungen, Aushändigung von Personaldokumenten/ Statusbescheinigungen bis hin zur formalen Einbürgerung reicht, verwende ich auch den Ausdmck „Einbürgerungsprocedere“. Auf die an diesem Vorgang beteiligten behördlichen Instanzen beziehe ich mich mit der Bezeichnung „Einbürgerungsadministration“. <?page no="65"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 65 Bestandteil des Aufnahmeverfahrens von Aussiedlem ist auch die Zuweisung von Wohnraum unmittelbar nach der Einreise. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer zentralen Aufnahmeeinrichtung des Bundes werden Aussiedler an Landesaufnahmestellen einzelner Bundesländer oder direkt an Landkreise und Kommunen weitergeleitet. Die aufnehmenden Städte und Gemeinden sind verpflichtet, Aussiedler mit Wohnraum zu versorgen. Der rapide Anstieg der Zuwandererzahlen Ende der 80er-Jahre brachte es mit sich, dass Neuankömmlinge nicht sofort in eigenen Wohnungen untergebracht werden konnten. Vorübergehend mussten Notunterkünfte, Ausweichquartiere und Übergangswohnheime bezogen werden. Ursprünglich sah der Gesetzgeber diese Form der Wohnraumversorgung als eine Übergangslösung an, die möglichst nicht länger als ein Jahr dauern sollte. Die zunehmende Verknappung von Wohnungen, die für Aussiedlerfamilien noch bezahlbar sind, hat dazu beigetragen, dass die Verweildauer in Übergangswohnheimen bis auf zwei Jahre und länger angestiegen ist. Die wichtigsten Bestimmungen der Anerkennungsregelungen habe ich bereits in Kap. 2.3 und 2.4 erläutert (Abstammung von Eltern deutscher Volkszugehörigkeit; Bekenntnis zur deutschen Kultur; Kriegsfolgenschicksal). Einzugehen ist hier noch auf Regelungen, die Familienangehörige eines Anerkennungsberechtigen betreffen können. Seit Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes wird nur noch als Spätaussiedler anerkannt, wer vor dem 1.1.1993 geboren wurde (§ 4 KfbG). Später geborene Kinder dürfen mit ausreisen, erhalten aber nicht den Status als Spätaussiedler; sie werden als Deutsche eingebürgert. Ähnlich verhält es sich bei den Ehepartnern von Spätaussiedlern, die selbst nicht über Voraussetzungen des Statuserwerbs verfugen oder sie nicht glaubhaft machen können (Anerkennung nach § 7, Abs. 2, KfbG). Vor Erlass des KfbG wurden Ehegatten, die nicht deutsch waren, bei der Einreise als Aussiedler anerkannt. Seither ist dies nur noch möglich, wenn die Ehe nach der Ausreise mindestens noch drei Jahre lang weiter geführt wurde (siehe KfbG, § 4, Abs. 3). Es sei noch einmal hervorgehoben, dass das Anerkennungsverfahren eine Überprüfung der geforderten Statusmerkmale sowie das Vorliegen so genannter Bestätigungsmerkmale zum Gegenstand hat. Nachgewiesen werden muss, dass eine kulturelle Prägung (durch Eltern oder andere Verwandte) stattgefunden hat. Es sind Merkmale gefordert, die eine in Kultur und Tradition des Deutschtums gelebte Biografie bestätigen. Die Sprache ist hier das <?page no="66"?> 66 Aussiedler treffen aufEinheimische wichtigste, aber nicht das einzige Kriterium. 78 Brauchtumspflege und Religionsausübung sind ebenfalls geeignet, ein Leben in deutschen Kulturbezügen zu verifizieren. Desgleichen ist Herkunft aus einem familiären Sozialisationsmilieu verlangt, in dem eine Bekenntnishaltung zum Deutschtum vermittelt worden ist. 79 Auch wird die Einnahme einer fortwährenden Bekenntnishaltung bis zum Zeitpunkt der Ausreise verlangt. Die Kenntnis der deutschen Sprache wird seit der so genannten Sprachoffensive bereits im Herkunftsland geprüft und als Kriterium für die Erteilung des Aufnahmebescheids wirksam. Die in den Siedlungsgebieten durchgeführten Sprachtests sollen dazu dienen, „die bisherige Form der Glaubhaftmachung [der Deutschstämmigkeit, U.R.] durch Antragsangaben und Zeugenerklärungen (zu) ergänzen“ (vgl. Info-Dienst 1996, Nr. 83, S .4). 2.8 Zusammenfassung und Überblicksschema zum Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit Bei der politischen Gestaltung des Zuwanderungsprozesses deutschstämmiger Aussiedler kommen Rechtsgedanken zum Tragen, von denen bereits die Eingliederungspolitik der Vertriebenen geleitet war. Diese Rechtsgedanken sind auf Kompensation von Verlusten und Benachteiligungen in Folge des Zweiten Weltkrieges ausgerichtet. Bestimmend ist auch der Schutzgedanke, der den so genannten Volkszugehörigen gilt. In das Konstrukt der Volkszugehörigkeit gehen Begriffselemente ein, „die dem Fundus faschistischer Eindeutschungspolitik entnommen wurden und von denen man annehmen sollte, daß sie durch die NS-Politik längst unbrauchbar geworden seien“ (Otto 1990, S. 46). Die Aussiedlerpolitik wurde so auf einen Volksbegriff festgelegt, der „nicht republikanisch-staatsbürgerlich (also im Sinne einer Bevölkerung, die in der Bundesrepublik auf Dauer lebt) definiert war, sondern erneut als nationale Bekenntnis- und Abstammungsgemeinschaft ideologisiert wurde“ (ebd., S. 46). Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik und seine besonderen Gesetze (Ausländergesetz, das BVFG bzw. KfbG) regeln Fragen nationaler 78 Die anerkennungsrechtliche Problematik, die bei mangelhaften Deutschkenntnissen besteht, ist zentraler Gegenstand des Beratungsgespräches, das ich in Kap. 5. analysiere. 79 Der Gesetzgeber geht hier durchaus von einem Deutschtum in herkunftsspezifischer, etwa russlanddeutscher Ausprägung aus. <?page no="67"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 67 Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Für die Entscheidung der Zugehörigkeitsfrage sieht die Rechtsordnung der Bundesrepublik ein Verfahren vor, das die Antragsteller auf Erfüllung spezifischer Identitätsanforderungen überprüft. Die Umwandlung der Volkszugehörigkeit in eine Rechtsposition bzw. in Staatsangehörigkeit verlangt den Nachweis einer Biografie, die gesetzlich geforderten Merkmalen entspricht. Die deutschstämmigen Zuwanderer müssen sich somit einem Verfahren unterziehen, das ihre Abstammung von deutschen Vorfahren überprüft und auf Nachweis einer in deutschen Kulturbezügen gestalteten Biografie zielt. Diese im Staatsangehörigkeitsrecht angelegten und im BVFG konkretisierten Anforderungen an die deutschstämmigen Zuwanderer bezeichne ich auch als Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit. Es dient zur Regelung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum Staatsvolk der Deutschen. Das folgende Schema bildet den gesamten gesetzlichen Regelungszusammenhang der Behandlung von Staatsangehörigkeitsfragen in der Bundesrepublik Deutschland ab. Außerdem stellt es die für die Anspruchseinbürgerung geltenden Kriterien überblicksartig dar. Die schematische Darstellung des Rechtskonstrukts nationaler Zugehörigkeit berücksichtigt auch die wichtigsten Zäsuren in der Aussiedlerpolitik, d.h., die durch Gesetzesnovellierungen herbeigeführten Veränderungen von Statusarten sowie die jeweils zugrunde gelegten Statusmerkmale. <?page no="68"?> 68 Aussiedler treffen aufEinheimische Das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit und seine Regelungen für deutschstämmige Zuwanderer GRUNDGESETZ (Artikel 116 GG vom 23.5.1949) (1) STAATSANGEHÖRIGKEITSRECHT (Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von 1913, letzte Änderung 1986) = Festlegung auf Staatsangehörigkeit nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) <?page no="69"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 69 (2) GESETZE, DIE DIE ANSPRUCHSEIN- ANERKENNUNGS- BÜRGERUNG DER STATUSDEUTSCHEN VERFAHREN REGELN BVFG von 1953 (1) Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz, gültig für folgende Personengruppen (Statusarten): Vertriebene Verlust des Wohnsitzes in unmittelbarem Zusammenhang mit Ereignissen des Zweiten Weltkrieges (Wohnsitz am 1.1.1939 in ehemals dt. Ostgebieten! Heimatvertriebene Verlust des Wohnsitzes, der bereits vor 1937 in den Vertreibungsgebieten bestand Aussiedler Vertriebene, die nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen, aber vor dem 1.1.1993 das Aussiedlungsgebiet verlassen haben (2) seit 1.1.1993 KfbG (Novellierung des BVFG; gültig für Personengruppe (Statusart): Spätaussiedler dt. Volkszugehöriger, vor dem 1.1.1993 geb., auf dem Wege des Aufnahmeverf. in die Bundesrepublik gekommen, hat hier innerhalb von 6 Monaten seinen Wohnsitz genommen Nachweis von Statusmerkmalen • Vertreibungsdruck • Volkszugehörigkeit, definiert als - Bekenntnis zum dt. Volkstum im Herkunftsgebiet - Bestätigung dieses Bekenntnisses durch Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur Nachweis von Statusmerkmalen • Kriegsfolgenschicksal/ Benachtei 1 i gung aufgrund dt. Volkszugehörigkeit • Abstammung von dt. Staatsangehörigen oder dt. Volkszugehörigen • Glaubhaftmachung der Pflege dt. Kultur und des Bekenntnisses zum Deutschtum bis zur Ausreise (seit 1997 Sprachtests im Herkunftsland) <?page no="70"?> 70 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Ausführungen in den vorausgegangenen Kapiteln dienten dazu, den historischen, politischen und rechtlichen Prozessrahmen der Aussiedlungsbewegung transparent zu machen. Auch wenn keine tiefergehenden Untersuchungen zur Kultur- und Bewusstseinsgeschichte der Deutschstämmigen in Osteuropa angestellt wurden, dürfte deutlich geworden sein, dass neben dem Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit eine zweite kollektive Sinnwelt diese Migrationsbewegung überformt: das generationenüberdauemde und in der Position der diskriminierten Minderheit aufrechterhaltene kulturelle Identitätsbewusstsein als Deutschstämmige. 80 Das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit sowie ethnische Gemeinschaftsvorstellungen bei den deutschstämmigen Zuwanderem lassen sich mit Dürkheim (1924) als kollektive Sinnwelten, als Ausformungen des Kollektivbewusstseins 81 verstehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen konstruierbar machen. Das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit gewährt Zugehörigkeit zu den Deutschen als restitutiven und solidarischen Akt der Aufnahmegesellschaft. Zugleich eröffnet es Chancen eines optionalen Umgangs mit der Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen. 2.9 Der symbolische Wert des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens für die aufnehmende Gesellschaft Das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit findet verfahrensmäßige Anwendung in der Überprüfung „gelebten Deutschtums“ und in Aus- und Einschlussentscheidungen, die die Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen betreffen. Da das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren als Instrumentarium zur Regulierung nationaler Zugehörigkeit fungiert, ist es auch geeignet, die Bewerber antizipatorisch in Identitätsanforderungen und Loyalitätserwartungen des aufnehmenden Staats einzusozialisieren. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, welchen symbolischen Wert das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren für die nationale Gesellschaft, 80 Ich habe diesen Gedanken mit Bezug auf spezifisch msslanddeutsche Erfahrungshintergründe und Orientierungen entwickelt. In dieser allgemeinen Formulierung gilt dieser Befund sicherlich auch für die aus Polen, Rumänien und anderen östlichen Ländern Zugewanderten. 81 Kollektivbewusstsein ist bei Dürkheim die „geistige Einheit einer Gesellschaft oder eines gesellschaftlichen Subsystems (...), die sich in Sprache und Schrift, Moral und Recht, Brauch und Gewohnheit, Wissensbestand und Gewissen u. ä. ausdrückt“ (Lexikon zur Soziologie 1978). Zum Begriff des Kollektivbewusstseins siehe auch Halbwachs (1971). <?page no="71"?> Migrationskontext und Aufnahmebedingungen 71 die dieses Verfahren geschaffen hat und praktiziert, besitzt. Die folgenden Überlegungen versuchen eine Antwort auf diese Frage zu geben. Mit dem Verfahren zur Aufnahme auf dem Staatsterritorium der Bundesrepublik und zur Anerkennung nationaler Zugehörigkeit verfügt die deutsche Gesellschaft über ein Rechtsverfahren, das wie kein anderes geeignet ist, die Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk als einen Wert an sich, als hoch geschätzte Kollektivzugehörigkeit symbolisch präsent zu halten. In der Funktion, Aus- und Einschlüsse zur nationalen Kollektivität zu regeln, ist es geeignet, der einheimischen Bevölkerung zu zeigen, dass es Menschen gibt, die bereit sind, sehr viel dafür zu geben oder auf sich zu nehmen, um dieser Kollektivität angehören zu können. Insofern trägt dieses Verfahren nach innen zur Bedeutungserhöhung des Deutschseins bei. Da es die Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen als wertvoll und lohnend erscheinen lässt, steckt in diesem Verfahren auch Potenzial zur Verdrängung der Negativsymbolik, mit der die deutsche Kollektivität aufgrund ihrer faschistischen Vergangenheit behaftet ist. Eine weitere symbolische Funktion des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens lässt sich im Verhältnis zu Einreisewilligen insgesamt ausmachen. Die Durchfuhrungspraxis dieses Verfahrens zeigt an, dass der Zugang zur deutschen Gesellschaft schwieriger wird, dass es eine Aufnahmehürde gibt, die nicht leicht zu nehmen ist. Dies hat nicht nur eine Wirkung auf die Deutschstämmigen, die sich noch in Russland befinden, sondern auch auf Einreisewillige aus anderen Ländern. Mit Eiwert lässt sich auch davon sprechen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Aufnahme- und Anerkennungsverfahren für Aussiedler über ein Regulierungsinstrumentarium verfügt, das „die Fiktion einer Gemeinschaft mit Abgrenzungsfähigkeit stärkt“ und damit auch „die Vorstellung, Kontrolle über die ablaufenden Prozesse behalten zu können“ (Eiwert 1998, S. 133). Als Regulierungsinstrumentarium zur Aufnahme von Deutschstämmigen ist das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren also auch geeignet, jene Bestrebungen abzuwehren, die die Bundesrepublik als Einwanderungsland definiert wissen wollen. <?page no="73"?> 3. Theoretisch-methodischer Rahmen der Untersuchung Migration ist folgenreich für die betroffenen Individuen, für betroffene Wir- Gemeinschaften und auch für Formen des kommunikativen Austauschs zwischen Zugewanderten und Ansässigen. Die Untersuchungsperspektive, die ich auf dieses Problemfeld einnehme, wurde im Einleitungskapitel in einigen Grundzügen bereits skizziert. Nachstehend nehme ich vertiefende Erläuterungen zum interessierenden Phänomenbereich und zu erkenntnisleitenden theoretischen Orientierungen vor. Darüber hinaus werden in diesem Kapitel forschungslogische Prinzipien, nach denen die vorliegende Studie erstellt wurde, sowie das analysemethodische Vorgehen bei der Auswertung von Gesprächsdaten dargestellt. 3.1 Identitätsarbeit in der Marginalitätsposition Mit der Aussiedlung nach Deutschland erlangen die deutschstämmigen Zuwanderer gewöhnlich eine Aufnahme in das Staatsvolk der Deutschen. Als Initiative zur Veränderung einer Lebenslage führt Aussiedlung aber auch in eine Situation der Fremdheit und Marginalität, in eine soziale Lage, in der subjektive Wirklichkeiten aufs Äußerste erschüttert werden und Kollektivzugehörigkeiten fragwürdig sind. Bereits die migrationssoziologischen Studien der Chicago-Schule haben sich damit befasst, wie Migranten soziale und innere Destabilisierung erfahren, wie sie von gesellschaftlichkulturellen Orientierungsproblemen erfasst werden und unter Verlusterfahrungen leiden. 82 Die soziale Situation von Migranten ist am nachhaltigsten mit dem Konzept des ‘Marginal Man’ bzw. der Marginalität untersucht worden. 83 Park/ Burgess/ McKenzie (1925) haben sich in stadtsoziologischen Untersuchungen mit den Folgen der Zuwandererströme im rasch wachsenden Chicago befasst (Herausbildung urbaner Zonen, Anstieg der Kriminalitätsrate, familiale Desorganisation). In diesem Zusammenhang wurde es wichtig, Verhaltensweisen und Bewusstseinslagen zugewanderter Minder- 82 Siehe hierzu die Arbeiten in Park (1950a) sowie Stonequist (1937). 83 Vgl. Park/ Burgess/ McKenzie (1925); Park/ Miller (1971); Park (1950a). Die bekannteste, in der Gründungsphase der Chicago-Soziologie entstandene Studie stammt von Thomas/ Znaniecki (1974). Sie befasst sich mit Veränderungen und Belastungen, die der Wechsel vom polnischen Herkunftsland in die Neue Welt für bäuerliche Familien und Gemeinden mit sich brachte. <?page no="74"?> 74 Aussiedler treffen aufEinheimische heilen, ihr Verhältnis zu den ansässigen Bewohnern und auch die Binnenverhältnisse näher zu untersuchen. Mit dem Marginalitätsbegriff wurde die soziale Lage der Zuwanderer als eine gefasst, die durch randständige und ungeklärte Zugehörigkeiten zu verschiedenen soziokulturellen Gruppen geprägt ist. Diese soziale Situation wird vielfach auch mit der Metapher des Zwischen-den-Stühlen-Sitzens umschrieben. Allgemein ist damit eine Situation gemeint, in der jemand eine Gruppe verlassen hat und noch in Verhaltensgewohnheiten und kulturellen Standards der Herkunftsgruppe lebt, aber um Zugehörigkeit zur aufnehmenden Gruppe bemüht ist. In diesem Bestreben, Mitglied einer neuen soziokulturellen Gemeinschaft zu werden, erfahrt der Marginal Man aber keine Bestätigung als vollwertiges Mitglied. Er lebt in kultureller Differenz und kann sich weder der einen noch der anderen Gemeinschaft wirklich zugehörig fühlen; er befindet sich in einem Kulturkonflikt, da die mitgebrachten Kulturmuster nicht problemlos durch neue ersetzt werden können, sondern weiterwirken. Die Identitätsverfassung, in die Kulturwechsel bzw. migrationsbedingte Fremdheit führen, hat Park (1950b) wie folgt charakterisiert: ... sense of moral dichotomy and conflict is probably characteristic of every immigrant during the period of transition, when old habits are discarded and new ones are not formed. It is inevitably a period of inner turmoil and intense self-consciousness (ebd., S. 355). Park sieht den Migranten in einer Lebenssituation, in der Erwartungen und ursprüngliche Vorstellungen von dem Leben in der neuen kulturellen Gemeinschaft nicht mit den Vorgefundenen, den realen Lebensbedingungen in Deckung zu bringen sind. Parks Lagebestimmung des Marginal Man hebt das Auseinanderklaffen von angestrebter und tatsächlich zugeschriebener Identität hervor. Es handelt sich um eine Lebenssituation, die für die Betroffenen extrem erwartungsdiskrepant ist. 84 Die Fremdheits- und Marginalitätssituation, in die der Migrant gerät, verlangt ihm in verstärktem Maße Identitätsarbeit, 85 eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, 84 Aufgrund dieser diskrepanten Existenzbedingungen sieht Park das Denken und Fühlen des Migranten als das beste Studienobjekt an, an dem sich Wandel, Verschmelzung und Weiterentwicklung einer kulturellen Gemeinschaft untersuchen lassen (vgl. Park 1950b, S. 356). 88 Dem Begriff „Identitätsarbeit“ liegt ein Verständnis zugrunde, das über das klassische Industrie- und berufssoziologische Verständnis des Arbeitsbegriffs hinausgeht; es erstreckt sich auf jegliche menschliche Anstrengung zur Bewältigung <?page no="75"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 75 ab. Der Begriff der Marginalität setzt die durch Migration und Kulturwechsel veränderte Lebenslage nicht mit einem Verharren in der randständigen und identitätskritischen Position gleich. Der Fremde kann sich aus der Situation ungeklärter Zugehörigkeit zwar nicht im Alleingang befreien, wohl aber kann er in Auseinandersetzung mit Gruppen- und Sozialprozessen, von denen er betroffen ist, und in Auseinandersetzung mit Vorgefundenen Formen der Vergesellschaftung lernen, sich auf bikulturelle Existenzbedingungen einzustellen. Die theoretische Bedeutung des Marginalitätskonzepts liegt vor allem darin, die gesellschaftlichen Bedingungen der Verfestigung marginaler Lebenslagen sowie die damit einhergehenden Formen produktiver und kontraproduktiver Identitätsgestaltung zu fokussieren. Es betont die Wichtigkeit einer marginalen Identität für die Bewältigung des Kulturkonflikts, in dem der Migrant lebt. Dass sich der Migrant seiner identitätskritischen Lage zuwenden, sie reflektieren und sich mit ihr auseinandersetzen kann, ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine marginale Position produktiv genutzt werden kann. Nur indem er ein Bewusstsein um Marginalisierungsbedingungen seiner Existenz entwickelt, wird es ihm möglich, eine auf veränderte Lebensverhältnisse zugeschnittene Identität auszubilden. Nur so können Handlungspotenziale mobilisiert werden, die die belastende Situation erträglicher und veränderbar machen. Nur so können Neuorientierungen für die Lebensgestaltung gefunden, Fremdheit und Marginalität als Herausforderungen und Lebensaufgaben angegangen werden. existenzieller Probleme. Bei der Verwendung dieses Begriffs lehne ich mich an Begriffsbildungen an, die Strauss und Mitarbeiter bei der Untersuchung (mikro-) sozialer Organisationsweisen medizinischer Arbeitsabläufe entwickelt haben. Mit Begriffen wie Gefuhlsarbeit, biografische Arbeit und auch Identitätsarbeit beziehen sich Strauss und Mitarbeiter auf besondere Anforderungen, denen sich sowohl medizinisches Personal als auch Patienten und ihre Angehörigen im Umgang mit krankheitsbedingten Leidensprozessen stellen müssen. Es handelt sich im Wesentlichen um Anforderungen, durch deren Bearbeitung Demoralisierungsprozesse im Umgang mit Krankheit und Leiden abgemildert werden können (vgl. Strauss/ Fagerhaugh/ Suczek/ Wiener 1980). Demoralisierungsprozesse manifestieren sich im Zusammenbruch gegenseitiger Erwartungen, in der Ausbreitung tiefgreifender Missverständnisse und in Verletzungen der Gefühle anderer (vgl. Shibutani 1986, S. 316ff). Zur Karriere des Arbeitsbegriffs bei Strauss siehe auch Riemann (1997, S. 1 Iff). <?page no="76"?> 76 Aussiedler treffen aufEinheimische Vor dem Hintergrund dieser allgemein-theoretischen Überlegungen nehme ich eine Perspektive auf die Lebenssituation von Aussiedlem ein, die Integration als einen langwierigen Prozess ansieht, der dann am ehesten gelingen kann, wenn Fremdheit (von den Betroffenen selbst) erkannt und (von Alteingesessenen) anerkannt, also sozial gebilligt wird. Somit sind Beziehungen zu und Erfahrungen mit den Alteingesessenen in der Situation der ungeklärten Zugehörigkeit von enormer Bedeutung für die Identitätsentwicklung der N euankömmlinge. In der Begegnung mit den Alteingesessenen nehmen Wirklichkeitsstrukturen der aufnehmenden Gesellschaft für Zuwanderer „umweltlichen Charakter“ (Schütz 1972b) an. Aus den „anonymen Inhalten“ der Kulturmuster des Aufnahmelandes werden für sie „definitive soziale Situationen“ (ebd., S. 60f.). Mit anderen Worten: Die Begegnung mit Alteingesessenen bietet dem Fremden „die Möglichkeit, zu einer komplexeren Identität zu gelangen“ (Ehlich 1992, S. 72). In diesen Situationen erfahren Migranten etwas über veränderte Lebensbedingungen und gelangen zu Deutungen ihrer neuen Lebenssituation. Face-to-Face-Situationen mit Alteingesessenen sind Ereignisrahmen, in denen Zuwanderer erfahren, wie fremd sie für die Ansässigen sind, aber auch wie fraglos und wie akzeptiert ihre Anwesenheit für sie ist. Sie erfahren in diesen Situationen auch, wie ihre bisher gelebten Biografien zu den Identitätsanforderungen im Aufnahmeland passen. Zugleich werden im kommunikativen Austausch mit den Einheimischen Diskrepanzen und Brüche der Lebenssituation, in der sie sich befinden, sichtbar, denn der Veränderungsdruck, unter dem Aussiedler stehen, geht als Voraussetzung in die Kommunikation mit Alteingesessenen ein. Er macht sie zu einem Sozialereignis, das nicht leicht zu meistern ist, sondern mit spezifischen Risiken des Scheitems und mit Risiken für die beteiligten Identitäten behaftet ist. Kommunikationssituationen machen die Lebenswirklichkeit von Aussiedlem somit analysierbar als durch den Clash unterschiedlicher kultureller Ressourcen zur Definition biografischer Situationen und zur Definition von Fremdheit und Zugehörigkeit bestimmte Ereignisse. <?page no="77"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 77 3.2 Fremdheit, kulturelle Differenz und gemeinsames kommunikatives Handeln In dieser Untersuchung dienen Kommunikationssituationen und ihre sozialen Einbettungsverhältnisse als Zugangsmedien zu aussiedlerspezifischen Problemen des Kulturwechsels und zu den aussiedlerspezifischen Schwierigkeiten, eine marginale Identität schaffen und leben zu können. Das Gelingen von Alltagskommunikation setzt, wie jede Kommunikation, ein gemeinsames Symbolsystem, den Gebrauch „sozial gebilligter Symbole“ (Alfred Schütz) voraus. 86 Im Zentrum der Arbeiten von Schütz sowie Berger/ Luckmann steht der Vermittlungszusammenhang zwischen Individuum (subjektivem Bewusstsein), Kommunikation und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dieser Zusammenhang ist von den genannten Autoren als ein symbolisch vermittelter untersucht worden. Im Gebrauch von Symbolen vollzieht sich insofern Wirklichkeitsaneignung, als Vorstellungen, Abstraktionen und Typisierungen übernommen werden, die einer immer schon vorgedeuteten Welt entstammen. Auch konstituiert sich im Gebrauch sozial gebilligter Symbole Teilhabe an intersubjektiven Prozessen und an kommunikativen Umwelten. Im Gebrauch von Gemeinschaftssymbolen erfährt das Individuum, wie es mit anderen verbunden ist bzw. zeigt es an, wie es sich selbst mit Gesellschaft verbunden sieht (vgl. Schütz 1971, S. 344ff; Berger/ Luckmann 1969, S. 98ff). So sind auch Gruppenbildungen und Gruppenzugehörigkeiten symbolisch vermittelte Sachverhalte, auch und gerade nationale Zugehörigkeiten (vgl. Strauss 1974, S. 161-195). Dem Zusammenleben soziokulturell unterschiedlicher und sich immer fremder werdender Gruppen sind prinzipiell desintegrative Tendenzen inhärent, die sich in Abgrenzungsverhalten, in wechselseitigen Ressentiments und in 86 Symbole sind auf in sich geschlossene Sinnwelten bezogen; sie repräsentieren spezifische Wirklichkeitsbereiche und vermitteln zwischen ihnen (vgl. Schütz 1972, S. 360). Indem Symbole „Subuniversa“ (Schütz) repräsentieren und zwischen ihnen vermitteln, erfährt das Individuum die Verwobenheit seiner biografischen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen, aber auch die Spannungen und Unvereinbarkeiten, die zwischen diesen Existenzbedingungen bestehen. Die Aneignung der immer schon vorgedeuteten Welt erfolgt als subjektiv-biografische Erfahrungsaufschichtung. Hierin liegt begründet, dass das Individuum sich nicht stets und durchgängig in identischer Weise erlebt, sondern immer wieder die Erfahrung machen muss, dass seine Identität im Zusammentreffen mit signifikanten Anderen auf dem Spiel steht. <?page no="78"?> 78 Aussiedler treffen aufEinheimische Schwierigkeiten der Reziprozitätskonstitution bemerkbar machen können. Zugleich aber ist mit Strauss (1974) davon auszugehen, dass kooperatives Handeln zwischen Menschen, die unterschiedlichen soziokulturellen Gemeinschaften angehören, sehr wohl möglich ist und natürlich auch stattfmdet. Bei der empirischen Beschäftigung mit Interaktionen zwischen Angehörigen unterschiedlicher kultureller Gemeinschaften ist prinzipiell von kooperativ aufeinander bezogenen Kommunikationsleistungen auszugehen, auch dann, wenn Mechanismen kommunikativer Beschränkung wirksam sind. Gewöhnlich finden die Situationsbeteiligten Formen gemeinsamen Handelns, die den Mangel an Gemeinschaftssymbolen situativ „heilen“, wenn auch nur bruchstückhaft und unter Hervorbringung von Reziprozitätsstörungen. In soziolinguistischen Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation ist diese Tatsache dahingehend fruchtbar gemacht worden, dass nicht das Scheitern oder der Abbruch von Kommunikation als wesentlich angesehen wird, sondern die Verwendung kommunikativer Verfahren, die geeignet sind, auftretende Verständigungsschwierigkeiten zu reparieren. So analysiert Hinnenkamp Gespräche zwischen Deutschen und Türken, die als Gastarbeiter in Deutschland leben, in Anlehnung an Goffmans Hypothese der zweitbesten Möglichkeiten. Damit ist gemeint, dass beim Auftreten kommunikativer Spannungen von den Akteuren Verfahren eingesetzt werden können, die Konfliktäres im Kommunikationsprozess neutralisieren. Es gelangen Mechanismen zur Anwendung, die es den Kommunikationspartnem ermöglichen, über Code-Unterschiede und Wissensdivergenzen hinweg kommunikativen Austausch zu gestalten. Unter „zweitbesten Möglichkeiten“ versteht Hinnenkamp, „daß das wie immer geartete ‘Nicht- Funktionieren’ der Kommunikation immer bis zu einem gewissen Grade vereitelbar bzw. wo nicht, reparierbar und damit ‘neutralisierbar’ ist“ (Hinnenkamp 1989a, S. 58; Hervorhebungen im Original). Ich folge hier der These, wonach das Gelingen von Kommunikation durch Verwendung kontrakonfliktärer kommunikativer Mittel gewährleistet werden kann. Damit nehme ich eine Analyseperspektive auf Kommunikationsprozesse ein, die nicht am bloßen Auftreten sprachcode-bedingter Verständigungsschwierigkeiten interessiert ist, sondern an sprachlich-interaktiven Leistungen der Herstellung und der Aufrechterhaltung sowie der Blockierung, Gefährdung und Zerstörung von Kommunikation. Diese Konzeptualisierung klammert konfliktäre Kommunikationsverläufe nicht aus, sie macht <?page no="79"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 79 den Verzicht auf kontrakonfliktäre Gestaltungsmittel - Situationen, in denen Kommunikation scheitert oder zusammenbricht zu Fällen, an denen spezifische Problematiken gemeinsamen Handelns entdeckt werden können. Und sie berücksichtigt Verständigungsprobleme, die durch unterschiedliche Sprachcodes bedingt sind, als Phänomene, die besondere kooperative Leistungen erforderlich machen. 3.3 Der interaktionsanalytische Zugang zur Identitätsarbeit von Migranten Im kommunikativen Austausch zwischen Aussiedlern und Einheimischen werden nicht nur kulturelle Ressourcen zur Definition der jeweiligen Wir- Gemeinschaften und der sozialen Relationen zwischen ihnen erkennbar. Auch die durch den Aufeinanderprall unterschiedlicher kultureller Orientierungsbestände und Defmitionsressourcen hervorgerufenen Brüche in der Reziprozitätsordnung lassen sich anhand solcher Kommunikationsarrangements untersuchen. Sowohl die in natürlichen Kommunikationssituationen ablaufenden Prozesse der Definition von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Gemeinsamkeiten und Differenzen als auch Brüche in den Interaktionsfundamenten und Unstimmigkeiten bei der Koordination interaktiver Abläufe sind für die beteiligten Aussiedler außerordentlich wichtige Momente der Identitätserfahrung. Die ablaufenden sozialen Definitionsprozesse und die Prozesse des Anzeigens der Interaktionsgrundlagen sind zudem konstitutiv für Gelegenheiten und Formen der Identitätsentfaltung, die Aussiedler nutzen können. Kommunikationsereignisse zwischen Aussiedlern und Einheimischen lassen sich somit auf die darin realisierten von den Zuwanderern wie von ihren einheimischen Interaktionspartnern - Bezüge auf die biografische und kollektive Identität von Aussiedlern untersuchen. Dabei kann es nicht darum gehen, biografische bzw. kollektive Wandlungsprozesse in ihrer Ganzheit oder komplexe lebensgeschichtliche Transformationsprozesse zu rekonstruieren. Ein solches Forschungsinteresse setzt andere Datenmaterialien voraus. Jedoch knüpfe ich an dem für die biografieanalytische Perspektive zentralen Konzept der „Verlaufskurve“, 8 von dem auch wichtige Impulse für die empirisch-analytische Beschäftigung mit Interaktionsprozessen ausgehen, an. 87 Theoretische Ausgangspunkte dieses Konzeptes liegen in Arbeiten der Chicago- Schule, die sich mit abweichenden Karrieren, mit sekundärer Devianz und mit <?page no="80"?> 80 Aussiedler treffen aufEinheimische Wenn biografische Handlungsschemata das intentionale Prinzip des Lebensablaufs repräsentieren und institutioneile Erwartungsmuster (...) das normativ-versachlichte Prinzip des Lebensablaufs repräsentieren, so stehen Verlaufskurven für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalshafte Bedingungen der Existenz. (Schütze 1981, S. 145). Das Konzept der Verlaufskurve (Traject) fokussiert Leidensprozesse 88 und Erscheinungen innerer Destabilisierung. Seine Anwendung zielt auf die Aufdeckung von Prozessmechanismen, durch die Alltagsprobleme für Betroffene immer weniger beherrschbar, Handlungs- und Identitätsorientierungen zunehmend fragiler werden. In biografieanalytischer Perspektive werden solche Veränderungs- und Erleidensprozesse auf zugrunde liegende lebensgeschichtliche Ereignisverkettungen hin untersucht. In interaktionsanalytischer Perspektive lässt sich dieses Konzept fruchtbar machen für die Analyse der Handhabungsweisen und Definitionen der Lebenssituation von Migranten durch die jeweiligen Interaktionsbeteiligten, Erscheinungen sozialer Desorganisation befassen (vgl. Schütze 1995, S. 149). In Forschungsarbeiten von Strauss wurde das Verlaufskurven-Konzept für die Untersuchung von Patientenkarrieren und die Beziehungen zwischen Krankheitsverläufen und der Arbeit des medizinischen Personals angewandt (vgl. Strauss/ Fagerhaugh/ Suczek/ Wiener 1980 und 1985). In Deutschland wurde dieses Konzept vor allem für biografieanalytisch orientierte Untersuchungen fruchtbar gemacht (vgl. Maurenbrechen 1985; Riemann 1987; Schütze 1989). Das Verlaufskurven-Konzept ist aber nicht nur geeignet, biografische Erfahrungen des Erleidens zu untersuchen, es eignet sich auch dazu, die Produktion von Verlaufskurven bzw. den Umgang mit Verlaufskurvenerscheinungen in konkreten Interaktionssituationen zu untersuchen (vgl. Riemann/ Schütze 1991). Eine Anwendung des Verlaufskurven-Konzepts auf den Aussiedlungsprozess der Russlanddeutschen findet sich in Nienaber (1995, S. 143ff); die Autorin bindet dieses Konzept allerdings in einen handlungstheoretisch-rationalistischen Bezugsrahmen ein, der den interpretierten und situativ hergestellten Charakter sozialer Realität unberücksichtigt lässt. Der Begriff des Erleidens zielt auf Lebensereignisse und auf Ereignisabfolgen im Leben von Gesellschaftsmitgliedem, die nicht in handlungstheoretischen Begriffen fassbar sind, d.h., auf Phänomene des subjektiven Erlebens sozialer Wirklichkeit, denen Vorstellungen normativer bzw. rationaler Verhaltenssteuerung nicht gerecht werden können. Die Erfahrungsweise sozialstruktureller Verhältnisse als subjektiv erlittene, als sich „intentionsäußerlich“ durchsetzende Wirklichkeit zu untersuchen, ist der Beitrag, den das Konzept der Verlaufskurve für die Gesellschaftsanalyse leistet (vgl. Schütze 1981 und 1995, S. 125-131). <?page no="81"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 81 die Analyse der interaktiven Wirkungsentfaltung der unter Veränderungsdruck stehenden Identität, grundlegende Probleme des wechselseitigen Verstehens und der wechselseitigen Perspektivenübernahme, die Analyse von Brüchen und Zusammenbrüchen in der Alltagskommunikation sowie für die Analyse spezifischer Strategien der Gestaltung von Interaktionsbeziehungen zwischen Alteingesessenen und Zuwanderem; Strategien etwa, die funktional für die Renormalisierung prekärer Situationen sind, funktional dafür, Unstimmigkeiten in den Situationsdefmitionen, Schwierigkeiten kooperativen Handelns oder auch Leidensmomente zuzudecken (vgl. Riemann/ Schütze 1991; Schütze 1995, S. 124). Der Erkenntnisgewinn, der mit der Analyse solcher Erscheinungen erzielt werden kann, besteht darin, Einsichten in die sozialen Erzeugungsmechanismen und symbolischen Vermittlungszusammenhänge der identitätskritischen Lage, in die Aussiedler geraten, zu erlangen. Analysen solcher Erscheinungen machen sowohl Probleme des Aufbaus von Reziprozitätsstrukturen in Interaktionszusammenhängen sichtbar als auch Probleme, die dem Identitätsentwurf ‘als Deutscher unter Deutschen leben zu wollen’ anhaften. 3.4 Forschungslogik und Untersuchungsmethoden Bei der Untersuchung von Kommunikationssituationen, in denen Aussiedler auf Binnendeutsche treffen, nehme ich eine ethnografische Erkenntnishaltung ein. Forschungsleitend ist somit eine epistemologische Position, die den Prozesscharakter und die Sprachgebundenheit sozialer Wirklichkeitskonstitution betont. Diese erkenntnistheoretische Position sieht die Entfaltung subjektiver Perspektiven und intersubjektive Sinnbildungsprozesse als bedeutsam für die Analyse der gesellschaftlichen und kommunikativen Realität an. 89 In ethnografischer Forschungshaltung wird der interessierende Weltausschnitt daraufhin untersucht, wie er von den Betroffenen gesehen und verstanden wird, wie sie ihn in ihren Handlungs- und Bearbeitungsabläufen berücksichtigen und was ihre Sinnge- 89 Ich folge hier einer von Schütze (1994) herausgearbeiteten ethnografischen Perspektive auf Interaktionsprozesse. <?page no="82"?> 82 Aussiedler treffen aufEinheimische bungsmittel und -verfahren sind. Dies ist aber (...) für Wissenschaftler und Professionelle gleichermaßen nur aufschlußreich mit Bezug auf Prozesse des Handelns und des Erleidens, in welche die Sinngebungsanstrengungen der Problembetroffenen eingebettet sind. Diese soziale Einbettung wird von den Betroffenen selber mit kontextuellem Bezug auf den jeweiligen sozialen Rahmen und in der Aushandlung von Situationsdefinitionen vollzogen. (Schütze 1994, S. 232). In diesem Zitat klingt an, dass die ethnografische Erkenntnishaltung nicht dem wissenschaftlichen Forschen Vorbehalten ist. 90 Die Einnahme dieser Erkenntnishaltung impliziert im wissenschaftlichen Forschungsprozess allerdings eine forschungsstrategische Grundentscheidung: Die Festlegung auf Erhebungsmethoden, die die Kommunikationsmöglichkeiten derer, über die geforscht wird, nicht beschneiden, wie dies bei der Verwendung standardisierter Erhebungsinstrumente der Fall ist. Der Einsatz von Erhebungsstrategien, die geeignet sind, Sinngebungsanstrengungen und kommunikative Kundgaben aus ihren natürlichen Entfaltungsbedingungen heraus zu erfassen, ist untrennbar mit der ethnografischen Methode verbunden. Ziel meiner Feldforschungsaktivitäten war es, auf dem Wege der teilnehmenden Beobachtung und unter Einnahme eines möglichst natürlichen Teilnehmerstatus in spezifischen sozialen Welten Kommunikationssituationen aufzeichnen zu können. Ergänzend und ggf. ersatzweise sollten Gedächtnis- und Beobachtungsprotokolle zu Gesprächen zwischen Aussiedlem und Einheimischen angefertigt sowie ethnografische Interviews geführt werden. Für die Auswertung der dabei entstandenen Materialien sind Analyseverfahren unverzichtbar, die Textstrukturen und ihre Bedeutungsgehalte auf dem Wege methodisch kontrollierten Fremdverstehens entschlüsseln (vgl. Bohnsack 1991, S. 11-33). Dieses methodologische Postulat liegt in der Vagheits- und in der Indexikalitätseigenschaft 91 sprachlicher Äußerungen begründet. 90 Ausführlicher zu Parallelen zwischen dem Forschungshandeln des ethnografischen Feldforschers und den Arbeitsanforderungen der im Sozialwesen tätigen Professionellen siehe Schütze (1994, S. 192-218). 91 Im ethnomethodologischen Verständnis sind sprachliche Äußerungen der Alltagskommunikation indexikal sie können nur adäquat verstanden werden, wenn biografische und sonstige Rahmenbedingungen der Kommunikation berücksichtigt werden. Der Sinn kommunikativer Kundgaben erschließt sich Alltagshandelnden ebenso wie dem analysierenden Forscher stets auf interpretativem Wege und nur unter Berücksichtigung kontextueller Gegebenheiten, unter denen sprachliche Äußerungen realisiert werden (siehe auch Anm. 100). Grundlegend <?page no="83"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 83 Bei der Anwendung ethnografischer Erhebungsstrategien und sinnbzw. textrekonstruktiver Untersuchungsverfahren bin ich einem Forschungsstil gefolgt, der als ‘Grounded Theory’ bekannt ist (vgl. Glaser/ Strauss 1967; Strauss 1991). Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er auf Vorabkategorisierungen verzichtet und Fragestellungen wie auch theoretische Kategorien erst im fortschreitenden Analyseprozess der erhobenen Daten generiert (Prinzip der Offenheit). Zu Beginn der Forschung verfolgte allgemeine Fragestellungen werden in Interaktionen mit dem Untersuchungsfeld und in früh einsetzenden Analysen und Reflexionen gewonnener Daten weiterentwickelt und eingegrenzt. Auch gehört es zu den Prinzipien dieses Forschungsstils, dass der Forscher sich als Lernender im Untersuchungsfeld begreift und seine Interaktionen mit den natürlichen Akteuren in diesem Feld reflektiert (vgl. Schütze 1987d, S. 538). Weitere wichtige Prinzipien, nach denen in dieser Studie Daten erhoben, analysiert und für die Gewinnung theoretischer Aussagen ausgewertet wurden, seien im Folgenden erläutert. 3.4.1 Alltagskommunikation als Forschungsgegenstand und als Forschungsressource Für die ethnografische Erkenntnisposition ist Alltagskommunikation Gegenstand und Ressource des Forschungsprozesses. Kommunikationssituationen sind dabei mehr als eine Gesprächsszene und nicht nur ein Ereignis sequenziell geordneter kommunikativer Aktivitäten. 92 Sie sind immer auch Ereignisse, die in vorgängige soziale Prozesse eingebunden sind, diese sichtbar machen und aktuelles Beteiligungsverhalten der Akteure orientieren. Das sprachlich-interaktive Handeln der Akteure verweist auf lebensweltliche und biografische Kontexte und zeigt deren Relevanz für aktuelle situative Belange an. In diesem Sinne ist auch von der Realitätssensitivität von Interaktionen die Rede (vgl. Kallmeyer 1985). Strukturelle Voraussetzungen und soziale Kontexte, in denen die Akteure Sinnhaftigkeit ihres Tuns erfahren, werden in den Situationsbezügen und dem Darstellungshandeln der Akteure angezeigt, als Interpretationshintergrund gegenwärtig gehalten und zum Gezur Indexikalitätsproblematik sprachlicher Äußerungen siehe Garfmkel (1967; 1973) sowie Cicourel (1975). 92 Zur Anknüpfung der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung an Mechanismen der Alltagskommunikation siehe auch Schütze/ Meinefeld/ Springer/ Weymann (1973). <?page no="84"?> 84 Aussiedler treffen aufEinheimische genstand gemeinsamer interaktiver Bearbeitung gemacht (etwa wenn sich Professionelle mit Angelegenheiten von Problembetroffenen befassen). Diesen Accounting-Process, 93 der in Kommunikationssituationen abläuft, macht sich die ethnografische Interaktionsanalyse zu Nutze. 3.4.2 Methodenvielfalt Interaktionssituationen sind in Kontexte eingebunden, zu deren Erkundung Methodenvielfalt und -kombination betrieben werden muss. Zur Beschreibung typischer Aktorperspektiven und zur Berücksichtigung aller relevanten Perspektiven in einem Interaktionsfeld sucht die ethnografische Interaktionsanalyse unterschiedliche methodische Zugänge auszuschöpfen. 94 Entscheidend ist, dass Datenquellen herangezogen werden, die die textuellen Manifestationen subjektiven Erlebnissinns und intersubjektiver Handlungsvollzüge dokumentieren. So sind in dieser Studie Interaktionsereignisse nicht allein in Transkripten authentischer Gesprächsverläufe dokumentiert, sondern auch in narrativen Formen der Ereigniswiedergabe sowie in Protokollen des Beobachters. Darüber hinaus werden auch Feldnotizen und ethnografische Interviews herangezogen, die Aussagen über Erfahrungs- und Handlungsperspektiven der Akteure sowie über Einbettungsverhältnisse von Interaktionssituationen ermöglichen. 3.4.3 Fallanalytische Perspektivik und Verallgemeinerbarkeit der Beobachtungen Gesamtuntersuchungseinheit dieser Studie sind Aussiedler, die sich noch in einer Lebenssituation befinden, die von inneren Restabilisierungsbemühungen und von existenzsichemden Eingliederungsaufgaben dominiert ist. 9 " Dieser Lebenssituation wende ich mich in fallanalytischer Perspektive zu, indem ich 93 Das aus der Ethnomethodologie hervorgegangene Konzept „Accounts“ fokussiert die Aufzeige- und Sinngebungspraktiken kommunikativ Handelnder; grundlegend hierzu Garfmkel (1967, S. 1-10). 94 Methodenkombination wird in der Methodologie auch als Triangulationsprinzip behandelt. Ein Überblick über Entstehungsgeschichte und methodologischen Stellenwert dieses Konzeptes findet sich in Flick (1991). 95 Die hier zugrunde liegenden Materialien repäsentieren die Lebenssituation von Aussiedlem, die zwischen 1992-1997 nach Deutschland gekommen sind oder kurze Zeit vorher eingereist waren. Zur Lebenssituation und zum Akkulturationsprozess der Aussiedler, die in den 80er-Jahren aufgenommen worden sind, siehe Boll (1993). <?page no="85"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 85 verschiedene Eingliederungskontexte sowie Interaktionsabläufe, an denen Aussiedler und Binnendeutsche beteiligt waren, analysiere. In dieser Untersuchungsperspektive kann es nicht um Repräsentativität im statistisch-verteilungstheoretischem Sinne gehen. Empirisch-analytische Beobachtungen zu singulären Fällen untermauern ihren Anspruch auf wissenschaftliche Geltung, indem sie die Wirksamkeit des gesellschaftlich Allgemeinen im jeweils vorliegenden bzw. ausgewählten Dokument erfassen. Der interpretative Sozialforscher macht es sich zur Aufgabe, die im sprachlich verfassten und symbolisch vorstrukturierten Handeln der Akteure zu Tage tretenden gesellschaftlichen Wirkkräfte zu erfassen. Das gesellschaftlich Allgemeine wird dabei in seiner partikulären Wirkungsentfaltung rekonstruiert; Strukturbedingungen des Handelns und des Erleidens werden am Einzelfall eruiert. 96 Eingeschlossen sind dabei Vergleiche mit anderen Fällen und der Rekurs auf bereits Bekanntes über soziale Prozesse und Strukturen. Die Frage nach dem wissenschaftlichen Geltungs- und Verallgemeinerungsanspruch wird damit aber zu einer Frage der Validität der sinnrekonstruktiven und interpretativen Analysearbeit. Das analysemethodische Vorgehen, dass ich bei der Untersuchung der Gesprächstranskripte angewandt habe, sei im nächsten Abschnitt dargestellt. 3.4.4 Text- und sinnrekonstruktive Analyseverfahren Die ausgewählten Interaktionstranskripte habe ich in aufeinander aufbauenden Untersuchungsschritten „der strukturellen Beschreibung, der Erarbeitung der Gesamtformung von Interaktionsaktivitäten im Gesprächsverlauf und der Abstraktion von fallspezifischen und fallallgemeinen Merkmalen“ (Schütze 1994, S. 205) 97 bearbeitet. Strukturelle Beschreibungen von Interaktionstexten sind an der sprachlich-sequenziellen Äußerungsproduktion, der Zug-um-Zug-Abfolge der Redebeiträge orientiert, gehen aber über die bloße Erfassung von Redezügen, Äußerungsformen und textuellen Phänomenen hinaus. Hauptfunk- % Die im Kommunikationsprozess mit Einheimischen auftretenden Paradoxien und die angezeigten individuellen und kollektiven Identitätsproblematiken lassen sich auch als „unterschiedliche Momente desselben soziohistorischen Gesamtveränderungsprozesses des interessierenden sozialen Zusammenhangs“ begreifen (vgl. Schütze 1987a, S. 36). 97 Es handelt sich hier um Untersuchungsschritte, die auch bei anderen textanalytischen Verfahren, wie beispielsweise bei der Auswertung narrativer Interviews, zur Anwendung kommen. Die Auswertung der übrigen ethnografischen Materialien, die dieser Untersuchung zugrunde liegen (Interviewausschnitte, Gedächtnisprotokolle), ist ebenfalls an diesen Untersuchungsschritten orientiert. <?page no="86"?> 86 Aussiedler treffen aufEinheimische tion der äußerungsstrukturellen Beschreibung ist es, die sequenzielle Hervorbringung des Interaktionsereignisses nachzuzeichnen und die darin eingelagerten Situationsbezüge der Beteiligten aufzudecken. Dies setzt die Erfassung der in sich abgrenzbaren Aktivitätseinheiten, aus denen das Interaktionsereignis aufgebaut ist, voraus. Hier gilt es zum einen Besonderheiten der thematischen Steuerung des Geschehens (Themenetablierung und -beendigung, Themenexpansion und Expansionsverhinderung) sowie Auffälligkeiten bei der Etablierung und Ausgestaltung von Sprecherrollen zu beachten; diese Phänomene enthalten Hinweise auf Beziehungsschemata und auf die Verteilung von Handlungschancen. Zum anderen sind bei diesem Beschreibungsschritt Kommunikationsschemata (Erzählen, Argumentieren, Beschreiben) zu beachten, in denen der Verständigungsprozess organisiert ist. Über die Identifizierung der Interaktionssegmente und über die Beschreibung der sequenziellen Ordnungsstruktur hinaus wird mit strukturellen Beschreibungen eine Aufdeckung textformaler Phänomene geleistet, die hinsichtlich darin entfalteter Sinn- und Wissensstrukturen interpretiert werden. Bei diesem interpretativen Zugriff auf Gesprächsdaten entsteht das methodologische Problem, dass sich die vom Analysierenden erarbeiteten „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz) mit Erfahrungsprozessen und Sinnerleben der Alltagshandelnden verknüpfen lassen müssen. 98 Anhand folgender äußerungsstruktureller Phänomene habe ich mich darum bemüht, meine Rekonstruktionen und Interpretationen an die Erfahrungsperspektiven der Situationsbeteiligten rückzubinden: - Kontextualisierungshinweise," die das aktuelle Geschehen ebenso wie die biografische Situation eines Sprechers in übergeordnete und situationsüberdauemde soziale Rahmen einordnen; hierzu gehören auch Merkmale der Sprechweise sowie der Wechsel zwischen Sprachcodes. 98 Zu diesem Grundproblem interpretativer Sozialforschung siehe auch Bohnsack (1991, S. 22ff.). 99 Zum Konzept der Kontextualisierungsmarker siehe Gumperz (1982), Auer (1986), Kallmeyer/ Keim (1986) sowie Schmitt (1993). ln der ethnomethodologischen Konversationsanalyse wird mit dem Kontextualisierungsbegriff die Reflexivitätseigenschaft sprachlicher Äußerungen für die Analyse fruchtbar gemacht, die Eigenschaft also, dass in kommunikativen Kundgaben sowohl Kontextmerkmale aufgezeigt als auch Interpretationsbedingungen für das situativ angemessene Verständnis einer Äußerung geschaffen werden. Ausgehend von Interpretationen des Kontextes wählen und gestalten Situationsbeteiligte ihre Interaktionsbeiträge so, dass sie für andere Beteiligte verstehbar und als situativ angemessenes Tun interpretierbar sind (Recipient Design). <?page no="87"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 87 - Der Grad der Explizitheit und Vagheit 100 von Äußerungen, Veränderungen in den Detaillierungsniveaus der Sprecheraktivitäten, gemeinsames und unterstützendes Sprechen, Verzögerungsmomente bei der Gestaltung von Redebeiträgen, Formulierungssuche und -brüche, Pausen und sonstige Erscheinungen von Darstellungsunordnung sowie suprasegmentale Phänomene wie Intonationsmarkierer. Solche äußerungsstrukturellen Phänomene geben Hinweise auf biografische und auch auf kollektive Relevanzen des Dargestellten, auf mögliche Brüche in der subjektiven Erfahrungsverarbeitung und auf Identitätsverfassungen von Sprechern. 101 - Formen biografischen Sprechens und ausgebaute Erzählhandlungen mit eigentheoretisch-argumentativen Verarbeitungsschritten sowie an narrative Passagen angeschlossene abstrakt-beschreibende bzw. global-behauptende Äußerungsformate, in denen Erfahrungszusammenhänge und Sichtweisen darauf angezeigt werden. Solche Formen des Sprechens machen Ereignisstrukturen, in die ein Sprecher verwickelt war, transparent und sie geben Hinweise auf aktuelle Identitäts- und Erkenntnishaltungen gegenüber biografisch relevanten Sach verhalten. 1 "' - Wörtliche bzw. imitierende Wiedergabe fremder Rede. Äußerungszitate und wiedergegebene Rede ehemaliger Interaktionspartner sind ebenfalls geeignet, aktuelles Identitätsbefmden und Verarbeitungen zurückliegender Erfahrungen zu erschließen (vgl. Schütze 1987a, S. 130), auch geben 100 Sprachliche Äußerungen enthalten ständige Bezüge auf Kontextbedingungen und Situationsgegebenheiten; realisiert werden sie meist im Gebrauch von Pronomen und Adverbien. Die Verwendung indexikaler Ausdrücke erzeugt Vagheiten und Ungenauigkeiten, die interpretativ gefüllt werden müssen, wenn kooperatives Handeln zwischen den Interaktionspartnem möglich werden soll (vgl. Bergmann 1981, S. 13). 101 Zur Fruchtbarmachung von Darstellungsunordnung für die Erzählforschung siehe Treichel (1996). 102 Formen biografischen Sprechens und ausgebaute Erzählaktivitäten lassen sich im Rahmen des narrativen Interviews systematisch hervorlocken (vgl. Schütze 1987a). Ihre Generierung ist aber nicht von solchen Forschungssettings abhängig. Als alltagsweltliches Verfahren kommunikativer Darstellung von Ereignisstrukturen und Erfahrungssinn sind sie wesentlicher Bestandteil natürlicher Settings. Die in alltäglichen Situationen realisierten Formen biografischen Sprechens weisen zwar eher niedrigere Expansions- und Detaillierungsniveaus auf als die im Rahmen des Interviewsettings erzeugten, gleichwohl aber sind sie als aktuelle Kontextualisierungsleistungen und als Vorgang der Repräsentation von Wissensstrukturen wertvoll für die ethnografische Auswertung. <?page no="88"?> 88 Aussiedler treffen aufEinheimische sie Hinweise auf Deutungssysteme, Definitionsprozesse und fremde Interaktionsstandpunkte, von denen Akteure betroffen waren bzw. sind. - Wichtige textformale Phänomene für die hier verfolgten Untersuchungsinteressen sind nicht zuletzt die von den Interaktionspartnern verwendeten sozialen Kategorisierungsmittel. Der Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel macht beziehungsregulative Vorgänge in der aktuellen Kommunikationssituation analysierbar; darüber hinaus offenbart sich darin Wissen um die eigene und fremde Positionierung sowie Wissen um Zugehörigkeitsrelationen zu relevanten Kollektiven und Gemeinschaften. 103 Im Analysegang, in dem solche äußerungsstrukturellen Merkmale aufgegriffen werden, geht es nicht so sehr um wortwörtlich stimmiges Verstehen von Äußerungen. Es geht vielmehr darum, den Äußerungsvorgang im Zusammenhang mit den Kontextbedingungen zu sehen, unter denen er vollzogen wurde. In anderen Worten: Das Äußerungsverhalten eines Sprechers wird nach dem Prinzip der „pragmatischen Brechung“ analysiert, d.h., dass sprachliche Äußerungen vor allem in ihrer Funktion für die Auseinandersetzung des Sprechers mit seiner eigenen biografischen Situation und mit seiner Rolle im Handlungsfeld analysiert werden. Der Analysierende dringt auf diesem Wege auch zu den sozialen Wissensbeständen der Akteure vor, untersucht „diese aber in den sozialen Zusammenhängen ihrer Produktion und Verwendung“ (Schütze 1994, S. 232). Die wissenssoziologischen Beobachtungen, die sich in der Perspektive der pragmatischen Brechung auf Interaktionsereignisse zwischen Aussiedlem und Einheimischen anstellen lassen, betreffen zum einen den Umgang mit 103 Im Gebrauch sozialer Kategorien bzw. in Mitgliedschaftskategorisierungen (und im Vollzug kategoriengebundener Aktivitäten) werden soziale Identitäten in Interaktionszusammenhängen konstituiert. Wie in den Arbeiten von Gumperz (1975; 1982) sowie bei Sacks (1972; 1979) gezeigt wird, basiert der Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel auf Hintergrundwissen über Sozialzusammenhänge. Für die hier verfolgten Untersuchungsinteressen sind Kategorisierungsvorgänge in zweierlei Hinsicht von Interesse: (a) als beziehungsregulative Definitionsprozesse zwischen Situationsbeteiligten und (b) als Hinweise auf Relevanzsysteme, in denen Akteure in spezifischer Weise perspektiviert werden. Zur Rezeption der Konzepte Membership Categories und Category-Bound Activities in Deutschland siehe Bergmann (1981), Kallmeyer/ Keim (1994b) sowie Czyzewski/ Drescher/ Gühch/ Hausendorf (1995). <?page no="89"?> Theoretisch-methodischer Rahmen 89 kollektiven Wissensbeständen, zum anderen die aus den unmittelbaren Alltagserfahrungen gewonnenen Wissensvorräte und Erkenntnisbildungen der Akteure über ihre eigene Lebenssituation (wie sie beispielsweise im Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel oder in eigentheoretischen Kommentaren zu selbsterlebten Begebenheiten zum Ausdruck kommen). 104 Bei der Charakterisierung dessen, was während des gesamten Ablaufs und in einzelnen Segmenten vor sich geht, bleibt der Analysierende auf sein alltägliches Handlungswissen angewiesen; er macht aber transparent, wie er von diesem Wissen im Analysegang Gebrauch macht. Auch muss das Dilemma, dass der ethnografische Feldforscher Mitproduzent von Daten ist, die zum Gegenstand der Analyse werden, reflektiert werden. Dies muss seinen Niederschlag darin finden, dass der Einfluss der Erhebungssituation auf die Datenkonstitution reflektiert und deutlich gemacht wird. 105 3.4.5 Formulierung theoretischer Befunde auf dem Wege der analytischen Abstraktion Der kleinschrittigen Analysearbeit der äußerungsstrukturellen Beschreibung lasse ich analytische Kommentare und analytische Abstraktionen folgen. Die Kommentare beziehen sich auf einzelne Interaktionsabschnitte, die analytischen Abstraktionen auf das Gesamtdokument. In den analytischen Kommentaren und Abstraktionen wird auf Distanz zum Hervorbringungskontext sprachlich-interaktiver Handlungen gegangen, um die im Trankript repräsentierten Situationsmerkmale, Interaktionsstrategien, Prozessstrukturen und Erfahrungsgehalte je für sich herauszupräparieren und in ihrem Verhältnis zueinander systematischer zu bestimmen (vgl. Schütze 1994, S. 245ff). 104 Zur Unterscheidung von Wissensformen, die bei der Analyse aktorgebundener Perspektivierung aktuellen Interaktionsgeschehens relevant sind vgl. ausführlicher Kjolseth (1972). 105 Gesprächsdaten, die im Zuge ethnografischer Feldforschung entstanden sind, weichen zwangsläufig von dem in der Konversationsanalyse postulierten Natürlichkeitsgebot ab. Czyzewski/ Drescher/ Gülich/ Hausendorf (1995) weisen darauf hin, dass solche Materialien verstärkt in konversationsanalytisch orientierten Arbeiten Beachtung finden (ebd., S. 79f). Gesprächsdaten, die eine Vollzugswirklichkeit repräsentieren, an der auch der Feldforscher teilgenommen hat (in der vorliegenden Arbeit ist dies bei den in Kap. 4. und 6. ausgewerteten Materialien der Fall), dürfen natürlich nicht unter Missachtung dieser Teilnehmerrolle ausgewertet werden. <?page no="90"?> 90 Aussiedler treffen aufEinheimische Die im Analysegang der strukturellen Beschreibung und der analytischen Kommentierung erarbeiteten Befunde werden in noch größerer Distanz zu den jeweiligen empirischen Dokumenten als allgemeine Merkmale in der Lebenssituation von Aussiedlem herausgearbeitet. Die interpretative Auswertung des Datenmaterials erfolgt somit als datenbasierter Theoriebildungsprozess (Glaser/ Strauss 1967), als Theoriebildung, die einer abduktiven Forschungslogik 106 folgend zur Gewinnung theoretischer Aussagen markante Aspekte des Materials aufgreift, um daraus Aussagen über allgemeine Merkmale des Untersuchungsgegenstandes zu entwickeln. Das auf diesem Wege erarbeitete theoretische Modell sucht Identitätsproblematiken von Aussiedlem in ihren Erzeugungszusammenhängen und in ihren paradoxalen Wirkmomenten zu erfassen. Bei diesem Schritt der Theoriebildung werden mittels kontrastiver Betrachtungen und in Rekursen auf bereits Bekanntes (a) über Fremdheitsproblematiken, (b) über migrationsbedingten Identitätswandel und (c) über die Lebenslage von Aussiedlem sowohl Gemeinsamkeiten mit anderen sozialen Erscheinungen als auch Besonderheiten in der Lebenssituation von Aussiedlem aufgezeigt. 106 Ein wesentlicher Aspekt der abduktiven Vorgehensweise im interpretativen Forschungsprozess wurde mit dem oben bereits dargestellten Prinzip der Offenheit erläutert: die theoriegeleitete Herangehensweise an empirisches Material und die Weiterentwicklung der theoretischen Erkenntnisse in fallorientierter Auswertung bzw. in Interaktion mit empirischen Fällen. In methodologischer Hinsicht geht es bei dem Verfahren der Abduktion um das Ineinandergreifen deduktiver und induktiver Schließprozesse. Auf diesem Verfahren baut die Grounded Theory auf. In die Methodologiediskussion eingefuhrt wurde der Begriff der Abduktion von Peirce (1970). Zur Weiterfuhrung der abduktiven Forschungslogik durch Glaser/ Strauss siehe auch Treichel (1996, S. 79-81). <?page no="91"?> 4. Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum und erste Kontakte mit ‘Leuten von hier’ - Identitätsentfaltung und Identitätserfahrungen in Erstbegegnungen mit Einheimischen Nach ihrer Einreise in Deutschland sind Aussiedler zunächst in zentralen Aufnahmelagern, danach meist für längere Zeit in Übergangswohnheimen (ÜWH) untergebracht. Diese Einrichtungen der Erstunterbringung sind Orte, an denen Aussiedler hauptsächlich mit Menschen aus denselben oder aus anderen osteuropäischen Herkunftsländern Zusammenleben. Es sind aber auch Orte, an denen sich Kontakte zu Ansässigen ergeben, die sich in beruflicher Funktion mit der Lebenssituation von Aussiedlem befassen. Darüber hinaus sind diese Übergangswohnheime Ausgangsstationen für erste Begegnungen mit jenen Einheimischen, die nicht als Eingliederungsprozessoren 107 tätig sind, mit Einheimischen also, auf die Aussiedler außerhalb institutioneller Settings und losgelöst von professionellen Begleitarrangements treffen. Solche Alltagsbegegnungen sind für Aussiedler Ereignisse von außerordentlicher Bedeutsamkeit. Es eröffnen sich ihnen in solchen Situationen Gelegenheiten, jenseits des hoheitsstaatlichen Verfahrens zur Überprüfung und Feststellung von Volkszugehörigkeit darzustellen, woher sie kommen, warum sie gekommen sind und was es für ihre Lebenssituation bedeutet, in Deutschland zu sein, kurz: ihr Identitätsbewusstsein und ihr Identitätsbefinden zu entfalten. In Face-to-Face-Situationen mit Hiesigen erfahren sie aber auch, wie ihr Hiersein aufgenommen wird und wie sich ‘Leute von hier’ 108 dazu positionieren. Die in solchen Erstbegegnungen mit Einheimischen stimulierte Erkenntnisbildung über die veränderte Lebenssituation geht in die Identitätsarbeit von Aussiedlem ebenso ein wie die aus solchen Begegnun- 107 Diesen Ausdruck verwende ich sowohl für Behördenmitarbeiter als auch für die Professionellen der Aussiedlerhilfe. 108 Die Bezeichnung ‘Leute von hier’ wähle ich in Anlehnung an Kategorisierungen, die von Aussiedlem für Einheimische benutzt werden. Verschiedentlich bin ich in Gesprächen mit Aussiedlem auch auf Bezeichnungen wie ‘richtige Deutsche’, ‘deutsche Mädchen’ usw. gestoßen. Während die erstgenannte Kategorisierung dazu geeignet ist, sich als Aussiedler unter dem Aspekt der längerwährenden Ansässigkeit in Beziehung zu den Hiesigen zu setzen, drückt sich in Kategorisierungen wie den letztgenannten ein Bewusstsein um Insuffizienz des eigenen Deutschseins aus. Zur Kennzeichnung als alltagsweltliches Inventar sozialer Kategorisierung setze ich diese Bezeichnungen in einfache Anführungszeichen. <?page no="92"?> 92 Aussiedler treffen aufEinheimische gen gewonnenen Abstraktionen über die eigene Soziallage in der Bundesrepublik und über Chancen und Risiken des Zusammenlebens mit Alteingesessenen. In diesem Kapitel werden Gesprächsmaterialien ausgewertet, die den Erfahrungsbereich erster Begegnungen mit ‘Leuten von hier’ in unterschiedlicher Form repräsentieren: Einmal als aktualkommunikatives Geschehen, das sich anlässlich eines regelmäßigen Treffens einer russlanddeutschen Großfamilie ereignet und an dem der Feldforscher mit einer Begleiterin teilgenommen hat. Bei diesem Zusammentreffen, das für einige der Beteiligten den Charakter einer Erstbegegnung hatte, kamen Erlebnisse mit anderen Einheimischen zur Sprache, die einige in der Aussiedlerfamilie gemacht hatten. Auch diese narrativ wiedergegebenen Erfahrungen mit Einheimischen dienen mir hier als Materialgrundlage. 109 Alltags- und Erstbegegnungssituationen zwischen Aussiedlem und Einheimischen haben vielfach für beide Seiten den Charakter des Außergewöhnlichen. Dabei sind die Rahmenbedingungen und sozialen Umstände, unter denen solche Kontakte zustande kommen, von entscheidender Bedeutung für die sich entwickelnde Kommunikationsdynamik, für das Interaktionsformat und die Interaktionsmodalität, in der die Beteiligten signifikante Andere füreinander sind. Bei der Situation, in der die in diesem Kapitel analysierten Materialien entstanden sind, handelt es sich um ein Arrangement, das sich auf forscherseitige Interessen und Initiativen zurückfuhren lässt, das zugleich aber auch in die Lebens- und Kommunikationsgewohnheiten einer 109 Ursprünglich hatte ich geplant, Alltagsbegegnungen durch intensive Teilnahme an Gruppenaktivitäten von Aussiedlerjugendlichen zu dokumentieren. Ich versprach mir davon empirisches Material über Situationen, in denen Aussiedlerjugendliche außerhalb des Home Frame Übergangswohnheim quasi ungeschützt auf Angehörige anderer soziokultureller Gruppen treffen. Die Kontakte, die ich zu Aussiedlerjugendlichen aufbauen konnte, führten mich aber durchweg in Situationen, in denen sie weitgehend unter sich blieben oder aber in Situationen, in denen sie sich mit ihren Betreuern auf Schauplätze begaben, auf denen zwar auch Angehörige anderer soziokultureller Gruppen vertreten waren, aber kein nennenswerter kommunikativer Austausch zwischen diesen Gruppen stattfand. Aufgrund dieser Schwierigkeiten, aktualkommunikatives Geschehen zwischen Aussiedlerjugendlichen und einheimischen Jugendlichen erheben zu können, konzentrierte ich mich stärker auf Situationen zwischen Erwachsenen und bezog Erfahrungsberichte bzw. Erzählungen über Erstbegegnungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen in das Datenmaterial mit ein. <?page no="93"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 93 verstreut wohnenden Aussiedlerfamilie eingepasst war. Das aus forscherseitigen Erwägungen genutzte Besucherarrangement trägt Züge einer Erstbegegnungssituation, die sozusagen in der Gestaltungshoheit der Aussiedlerfamilie liegt. Das einheimische Besucherpaar, das auf dem Familientreffen zu Gast ist, nimmt den Status von Einheimischen ein, die in besonderer Weise an den Erfahrungsbeständen und an der aktuellen Lebenssituation der Aussiedlerfamilie interessiert sind. Da in dieser Kommunikationssituation sowohl Momente eines künstlich besser gesagt: eines forschungsstrategisch geschaffenen als auch eines natürlichen Arrangements zum Tragen kommen, ist es unverzichtbar, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen diese Situation zustande gekommen ist. Das Augenmerk soll dabei auf die Wohn- und Lebenssituation der gastgebenden Aussiedlerfamilie gerichtet sein, um so auch äußere Situationsmerkmale als Rahmungselemente des Zusammentreffens zwischen der Aussiedlerfamilie und dem einheimischen Besucherpaar hervortreten zu lassen. Zunächst sei Auskunft darüber gegeben, wie ich mit der Aussiedlerfamilie bekannt geworden bin (Kap. 4.1); anschließend gehe ich auf das Übergangswohnheim ein, in dem die gastgebende Familie zum Zeitpunkt der Gesprächsaufnahme gelebt hat (Kap. 4.2). Beide Kapitel dienen dazu, die Lebenssituation einer Aussiedlerfamilie im ÜWH exemplarisch zu porträtieren. In den dann folgenden Ausführungen (Kap. 4.3) werden Charakterisierungen der Gesamtsituation (Kap. 4.3.1, 4.3.2 sowie 4.3.4) und Analysen ausgewählter Gesprächsaktivitäten (Kap. 4.3.3) vorgenommen. Aus dem Interaktionstranskript wurden Passagen ausgewählt, in denen sich sowohl Prozesse der Reziprozitätskonstitution als auch Besonderheiten der Präsentationsweise des russlanddeutschen Familienensembles in der aktuellen Besuchssituation beobachten lassen. Ferner wurden Passagen ausgewählt, in denen es zur erfahrungsrekapitulativen Aufbereitung inneren Fremdheitserlebens sowie zurückliegender Begegnungen mit Hiesigen kommt. Die Analysen in den Kapiteln 4.3.3.1 und 4.3.3.3 arbeiten vor allem Prozesse der Identitätsentfaltung in der aktuellen Gesprächssituation heraus. In Kap. 4.3.3.2 stehen (aussiedlerspezifische) Identitätserfahrungen in zurückliegenden Situationen und deren kommunikative Verarbeitung in der aktuellen Gesprächssituation im Mittelpunkt des Interesses. <?page no="94"?> 94 Aussiedler treffen aufEinheimische 4.1 Kontaktaufbau als Feldforscher zu einer Aussiedlerfamilie im Übergangswohnheim Die Familie, der ich den Namen Klein gegeben habe, lernte ich im Sommer 1992 kennen. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt seit knapp einem Jahr in Deutschland. Neben Sonja und Richard Klein, den Eheleuten (beide Anfang 40), gehören zu dieser Familie drei Kinder. Paul, der älteste Sohn, ist 18 Jahre alt, Eberhardt ist 15 und die Tochter Irina 12 Jahre. Vor der Aussiedlung lebten die Kleins in einer größeren Stadt in Sibirien. Richard ist ausgebildeter Schlosser für Landmaschinen; zuletzt hat er in einem Aluminiumwerk gearbeitet. Seine Frau Sonja war als Hebamme tätig. Zum Zeitpunkt meines Bekanntwerdens mit den Kleins war ihre Lebenssituation durch folgende Umstände geprägt: - Beide Eheleute befinden sich noch im Sprachkurs. Für die Zeit danach wurde Richard die Teilnahme an einer Umschulung zum Gabelstaplerfahrer in Aussicht gestellt. Sonja ist daran interessiert, ihren erlernten Beruf weiter auszuüben oder eine Pflegetätigkeit in einem Krankenhaus anzunehmen. Der älteste Sohn musste einen Sprachkurs für besonders begabte Schüler abbrechen. Er möchte unbedingt aus dem Wohnheim ausziehen und versucht über Kontakte zu Sportvereinen (er ist ein talentierter Ringer) eine Arbeitsstelle und eine eigene Wohnung zu finden. Die anderen beiden Kinder gehen zur örtlichen Hauptschule; die Tochter hat dort große Schwierigkeiten mit dem Lernstoff. - Die Kleins haben noch andere Angehörige in Deutschland: Sonjas Eltern leben im ÜWH eines Nachbarortes; in einer benachbarten Großstadt wohnt Sonjas ältere Schwester mit ihrer Familie in einer Mietwohnung. Auch die schon erwachsenen Kinder dieser Schwester wohnen in der näheren Umgebung. Ein Bruder Richards lebt mit seiner Familie in einer ca. 200 km entfernt gelegenen Kleinstadt; der Nachzug eines weiteren Bruders und der Mutter wird erwartet. - Mit ihren drei Kindern bewohnen die Kleins ein etwa 30 qm großes Zimmer im ÜWH; mit zunehmender Wohndauer wird es für sie immer dringlicher, eine eigene und größere Wohnung zu finden; ihre Bemühungen scheitern aber meist an der Höhe des Mietpreises. Das Ehepaar Klein lernte ich anlässlich eines Sommerfestes kennen. Dieses Fest war von den vor Ort tätigen Wohlfahrtsverbänden veranstaltet worden. Neben den Bewohnern des Wohnheims waren auch Mitarbeiter der zustän- <?page no="95"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 95 digen Eingliederungsbehörde sowie Personen und Organisationen geladen, die sich in der Aussiedlerbetreuung engagieren. Richard war mir im Rahmen einer so genannten Teamer-Tätigkeit 110 im ÜWH bereits einige Male begegnet; er machte einen ausgesprochen sympathischen Eindruck auf mich. Näher kennen lernen konnte ich ihn erst auf dem Sommerfest. Richard befand sich in einer kleinen Männergruppe, in der musiziert und Alkohol getrunken wurde. Als ich mich dazugesellte, hatte ich den Eindruck, dass er stärker als die anderen daran interessiert war, mit mir ins Gespräch zu kommen. Später machte er mich mit seiner Frau bekannt. Auch sie wirkte sehr freundlich und aufgeschlossen auf mich, zumal die Verständigung in deutscher Sprache mit ihr um einiges leichter war als mit ihrem Mann. Als ich mich von dem Sommerfest verabschiedete, luden Richard und Sonja mich dazu ein, sie einmal im ÜWH zu besuchen. Dabei hatte ich nicht das Gefühl, dass die Einladung als bloße Verabschiedungsfloskel ausgesprochen wurde, vielmehr hatte ich den Eindruck, dass beiden sehr an einer Vertiefung des Kontaktes gelegen war. Zu dem Zeitpunkt, als das Sommerfest stattfand, war ich daran interessiert, engeren Kontakt zu einer Aussiedlerfamilie aufzubauen. Ich erhoffte mir davon, mehr über die Lebenssituation der verschiedenen Generationen zu erfahren; auch versprach ich mir davon Zugangsmöglichkeiten zu weiteren Schlüsselsituationen im Eingliederungsprozess. Es folgte eine Reihe von Besuchen bei den Kleins, die den Charakter des zufälligen Vorbeischauens hatten (etwa im Rahmen meiner Teamer-Tätigkeit im Jugendclub oder in Verbindung mit Einkaufsfahrten und Schwimmbadbesuchen am Wohnort der Kleins). Bei solchen Stippvisiten sowie bei Gegenbesuchen bei mir zu Hause konnten die Kleins auch meine Kinder und meine Frau kennen lernen. Nachdem die Bekanntschaft gefestigt war, sprach ich mit den Kleins über die forschungsstrategischen Intentionen meiner Teamer-Tätigkeit. Entgegen meinen Befürchtungen zeigten sie sich weder sonderlich irritiert noch verschlossen oder distanziert, nachdem sie von meinen Forscherinteressen erfahren hatten. Hier mag eine Rolle gespielt haben, dass sie mich als Koope- 110 Um mit jugendlichen Aussiedlem in engeren Kontakt kommen zu können, arbeitete ich einige Wochen lang in der Jugendbetreuung eines Wohlfahrtsverbandes mit. Es handelte sich dabei um eine ehrenamtliche Funktion, in der freizeitpädagogische Aktivitäten zu organisieren, anzuleiten und zu beaufsichtigen waren. Gewöhnlich werden solche Aufgaben von Studenten einschlägiger Fachrichtungen und in enger Zusammenarbeit mit den fest angestellten Sozialpädagogen und Sozialarbeitern übernommen. <?page no="96"?> 96 Aussiedler treffen aufEinheimische rationspartner jener professionellen Betreuer wahmehmen konnten, die sie bereits als sympathisierende Einheimische 111 kannten. Möglicherweise war auch einfach die Tatsache, dass sich ‘jemand von hier’ ihnen zuwendet wesentlich bedeutsamer als die Tatsache, dass diese Person auch Forschung betreibt. Dass die Kleins dem Kontakt zu mir und meiner Familie in ihrer damaligen Lebenssituation große Bedeutung beimaßen, konnte ich an stets erfreuten und zuwendungsbereiten Reaktionen bei meinen Besuchen ermessen und auch an den Ermunterungen, häufiger vorbeizukommen und meine Familie mitzubringen. Um den Aufbau von Gegenseitigkeitsstrukturen bemüht, bot ich Familie Klein an, ihr bei Problemen der Alltagsorganisation behilflich zu sein, vor allem bei der Beschaffung von Arbeit und Wohnung." 2 Die konkreten Hilfeleistungen, die die Kleins dann erbeten haben, führten mich zunächst in Situationen stellvertretenden Problemlösungshandelns, nicht in Situationen, in denen ich Prozesse verbaler Interaktion zwischen Aussiedlem und Einheimischen hätte beobachten können. So erstreckte sich die Hilfe bei der Arbeitssuche beispielsweise darauf, dass ich anstelle des ältesten Sohnes Verhandlungen mit Personalsachbearbeitern führte, weil er selbst nicht gut genug Deutsch sprach. 111 Ich wähle hier einen an Goffmans Terminologie angelehnten Begriff. Goffman (1979a) bezeichnet Personen, die sich mit Stigmatisierten solidarisieren als sympathisierende Andere. Diejenigen, die in Institutionen mit Stigmatisierten arbeiten, aber selbst nicht zur Kategorie der Stigmatisierten gehören, bezeichnet er als die Weisen. Damit meint Goffman Folgendes: Ihre Weisheit bzw. Sympathie für die Stigmatisierten kommt daher, dass sie in Einrichtungen arbeiten, „die entweder den Bedürfnissen der Stigmatisierten in einer bestimmten Art dient oder den Aktionen, die die Gesellschaft im Hinblick auf diese Personen unternimmt“ (ebd., S. 30-44). Goffman macht in seinen Ausführungen über die Personen, die mit Stigmatisierten arbeiten und sich um ihre Belange kümmern, darauf aufmerksam, dass diese Personengruppe dem Risiko ausgesetzt ist, in gewisser Hinsicht selbst wie Angehörige der Stigmakategorie angesehen und behandelt zu werden. In meinen Gesprächen und ethnografischen Interviews mit Aussiedlerbetreuern bin ich verschiedentlich auf Hinweise gestoßen, die von derartigen Stigmatisierungsängsten und -erfahrungen zeugen; inwieweit für sympathisierende Einheimische bzw. für die von Goffman so genannten Weisen ein solches Stigmatisierungsrisiko besteht, lässt sich hier aber nicht systematisch klären. 112 Zur Bedeutung kleinerer Hilfsdienste für den Aufbau stabiler Feldkontakte siehe auch Maurenbrecher (1985, S. 25f.) sowie Meng (2001). <?page no="97"?> 97 Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 4.2 Wohn- und Lebensbedingungen im Übergangswohnheim Mit der nachfolgenden Beschreibung des Übergangswohnheims, in dem Familie Klein gelebt hat, soll exemplarisch der Wohn- und Lebensraum dargestellt werden, der für die unmittelbare Nachaussiedlungszeit, für das erste Bekanntwerden mit dem Aufnahmeland und für die Annäherung an ortsgesellschaftliche Verhältnisse prägend ist. 113 Auch dienen diese Ausführungen dazu, in die Szenerie einzuführen, in der das Kommunikationsereignis, auf das ich in Kap. 4.3 ausführlicher eingehe, stattfand. Bei der Beschreibung der Wohnsituation der Kleins stütze ich mich auf Beobachtungen, die ich vor Ort machen konnte, sowie auf Gedächtnisprotokolle, in denen ich Aussagen von Wohnheimbewohnem festgehalten habe. 4.2.1 Das Terrain und die Gebäude Auf das ÜWH, das ich hier näher vorstelle, bin ich von Mitarbeitern der zuständigen Eingliederungsbehörde aufmerksam gemacht worden. Sie empfahlen mir dieses (und noch zwei andere) als ‘gut geführte Häuser’. Damit war gemeint, dass dort relativ wenig Verstöße gegen die Hausordnung registriert werden und umfassende Betreuungsarbeit geleistet wird (Angebote für die Freizeitgestaltung, Hausaufgabenhilfe usw.). Nach einem Vorgespräch in der Eingliederungsbehörde bot sich der zuständige Ressortleiter, Herr M., an, mich über das gesamte Gelände zu führen und mir die Wohnanlagen zu zeigen. Im Rahmen dieser Führung erhielt ich auch allgemeine Informationen über das Wohnheim sowie Einblicke in die behördlichen Relevanzen, die bei Ausübung des Hausrechts eine Rolle spielen. Am Tag vor der anberaumten Führung nahm ich auf eigene Faust eine Besichtigung des Wohnheimgeländes vor. Die nachstehende Feldnotiz gibt Beobachtereindrücke von beiden Besichtigungsterminen sowie Auskünfte, die ich vom Mitarbeiter der Eingliederungsbehörde erhielt, wieder. Feldnotiz: Das ÜWH befindet sich an der Peripherie einer Kleinstadt, die in einem Ballungsgebiet liegt. Es besteht aus mehreren Gebäuden, die auf einem größeren Gelände verteilt sind. Gleich neben diesem Wohnheimgelände liegen Bahngleise; ein langer Drahtzaun trennt die Bahngleise von dem Terrain, auf dem das Wohnheim liegt, ab. Von Herrn M. erfahre ich, dass es sich 113 Eine ausführliche ethnografische Studie über das Leben im Übergangswohnheim liegt meines Wissens nicht vor. Auf die Durchgangsstation ÜWH wird eingegangen in Drexler/ Hoffmann/ Pütz (1992, S. 16-18, 68), Boll (1993, S. 155f.), Ingenhorst (1997, S. 170-172) sowie Dederichs (1997, S. 52-59). <?page no="98"?> 98 Aussiedler treffen aufEinheimische bei dem Gebäudekomplex um ein ehemaliges Ausbesserungswerk der Bundesbahn handelt. Das Werksgelände hat als solches mittlerweile ausgedient, auf den Bahngleisen herrscht allerdings reger Verkehr, insbesondere nachts. Beim Betreten des Werksgeländes habe ich das Gefühl, in exterritoriales Gebiet einzudringen bzw. eine Zone zu betreten, für die eine besondere Zutrittsberechtigung erforderlich ist. Nachdem ich die zum Stadtgebiet gehörenden Wohnhäuser hinter mir gelassen habe, stoße ich auf eine größere Toreinfahrt. Dieses Tor scheint in vergangenen Zeiten durch große Türen oder Gitter verschließbar gewesen zu sein. Beim Anblick der Toreinfahrt muss ich an Einrichtungen denken, in denen Menschen zwangsweise festgehalten werden. 114 Hinter dem Tor geht die Straße weiter, die zum ehemaligen Werksgelände führt; ein Verkehrsschild signalisiert, dass Autofahrer die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 10 km/ h zu beachten haben. Die Fahrt auf das Gelände des ehemaligen Ausbesserungswerks führt an unterschiedlichen Gebäudetypen vorbei. In der Nähe der Toreinfahrt stehen einstöckige Holzhäuser, auf jeder Seite der Zufahrtsstraße etwa fünf bis sechs. Das helle Holz, aus dem sie gefertigt sind, lässt vermuten, dass sie vor nicht allzu langer Zeit errichtet worden sind. Mir kommt in den Sinn, dass Ortsunkundige beim Anblick dieser Holzhäuser und der sie umgebenden hohen Kastanienbäume hier auch eine Ferienhaussiedlung vermuten könnten. Vom Mitarbeiter der Eingliederungsbehörde erfahre ich, dass hier überwiegend kleine Familien untergebracht sind und dass sich diese Häuser großer Beliebtheit unter den Bewohnern erfreuen. Zwar sind diese Häuser nicht sehr geräumig, ihren Bewohnern bieten sie aber besseren Wohnkomfort und auch eher das Gefühl, eine Privatsphäre zu haben, als den Bewohnern des großen Wohnblocks auf dem Gelände. Möglicherweise wecken diese Holzhäuser bei Aussiedlem auch Erinnerungen an Wohnverhältnisse, die ihnen aus ihren Herkunftsgebieten vertraut sind. Bei meiner ersten Erkundungsfahrt fallen mir zwischen diesen Holzhäusern vier ältere Männer auf, die dort Karten spielen. Am nächsten Morgen, als ich zum verabredeten Termin auf das Gelände fahre, sehe ich die Männer wieder dort sitzen und Karten spielen. Der etwa 100 m lange Zufahrtsweg führt zu einem Gebäudekomplex, zu dem flachere, hallenartige Steingebäude und ein langgezogenes, mehrstöckiges Gebäude gehören. Bei letzterem handelt es sich um das ehemalige Verwaltungsgebäude des Ausbesserungswerks. Seine dunkelgraue Außenfassade lässt den Komplex unfreundlich und unbehaglich erscheinen. Die Gebäude- 114 Dass diese Toreinfahrt nicht nur auf mich wie die Grenzmarkierung einer Zwangseinrichtung wirkte, konnte ich in einem Gespräch mit einem Sozialarbeiter erfahren, der als er die Szenerie dieses ÜWH beschrieb meinte, dass über diesem Tor nur noch der Spruch „Arbeit macht frei“ fehle. <?page no="99"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 99 große, lange Fensterreihen und das in der Mitte des Gebäudes gelegene Portal wecken in mir Erinnerungen an ältere Behördenarchitektur und an Kasernen. Bei den flacheren Bauten handelt es sich um ehemalige Werkhallen, in denen einst Reparaturarbeiten an Lokomotiven und Waggons verrichtet wurden. In einer dieser Hallen werden jetzt Einrichtungsgegenstände, Kleidung usw. deponiert, die die Bewohner des ÜWH mit nach Deutschland gebracht haben, für die aber in ihren Notunterkünften kein Platz ist. Einmal monatlich haben die Eigentümer Gelegenheit, Zugriff auf ihre Sachen zu nehmen. Beim Betreten des ehemaligen Verwaltungsgebäudes, dem Zentrum dieser Wohnanlage für Aussiedler, stoße ich auf einen geräumigen Eingangsbereich, von dem Treppenaufgänge abgehen. Auf den langen Fluren, im Erdgeschoss und auf den oberen Etagen, reihen sich durchnummerierte und mit Buchstaben (B 27 usw.) gekennzeichnete Zimmertüren aneinander. Auf den Fluren der unteren Etage sehe ich spielende Kinder, abgestellte Kinderwagen, Wäscheständer sowie Straßenbzw. Hausschuhe, die meist auf Fußabtretern abgestellt sind. Auch wenn man keinen Bewohner zu Gesicht bekommt, wird man nicht zuletzt aufgrund starker Essensgerüche gewahr, dass hier viele Menschen auf sehr beengtem Raum und unter notdürftigen Verhältnissen Zusammenleben. Die Flure in den oberen Geschossen machen einen weniger belebten Eindruck. Auf der unteren Etage fällt mir auf, dass eine Flurwand teilweise einen farbigeren und freundlicher wirkenden Anstrich erhalten hat als andere Flurwände. In diesem Bereich hat die Eingliederungsbehörde Büroräume eingerichtet; dort melden sich neu eintreffende Aussiedler an. Auch die Wohnheimverwaltung hat dort ihren Sitz. Die Eingangshalle im Erdgeschoss hat einen zweiten Zubzw. Ausgang. Man gelangt von dort auf ein großes Hofgelände, das von der Rückseite des Wohnheims und seitlich gelegenen Werkhallen eingefasst ist. Der Hof ist teilweise betoniert. Außer einer größeren Freifläche befinden sich dort ein einfacher Kinderspielplatz sowie Vorrichtungen zum Wäsche trocknen. Auf diesem Hinterhofgelände werden hin und wieder Feste veranstaltet. In den warmen Monaten ist dieser Hof, wie auch das Gelände vor dem Eingangsbereich, sehr belebt. Herr M. erwähnt noch Kelleräume (führt mich aber nicht dorthin), in denen Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände Freizeitaktivitäten mit Kindern und Jugendlichen sowie Sprachkurse und Hausaufgabenbetreuung für schulpflichtige Aussiedlerkinder durchführen. So viel zu ersten Beobachtereindrücken zum Übergangswohnheim, das mir von der zuständigen Eingliederungsbehörde vorgeschlagen worden war und in dem ich Familie Klein kennen lernte. <?page no="100"?> 100 Aussiedler treffen aufEinheimische 4.2.2 Das Übergangswohnheim als Objekt des Verwaltungshandelns der kommunalen Eingliederungsbehörde Nach Auskunft der zuständigen Eingliederungsbehörde sind in dem Hauptgebäude etwa zwischen 400-500 Aussiedler untergebracht; die Belegungszahl der Holzhäuser schwankt zwischen 100 und 150 Bewohnern (Angaben aus dem Jahr 1992). In dem Hauptgebäude sind vorwiegend größere Familien untergebracht; den fünfbis sechsköpfigen Familien steht ein ca. 30 qm großer Raum zur Verfügung; noch größere Familien bekommen zwei nebeneinander liegende Zimmer zugewiesen. Im ÜWH hat die zuständige kommunale Eingliederungsbehörde das Hausrecht inne. Sie erstellt die für die Bewohner geltende Hausordnung und setzt ihre Einhaltung durch. Auf diesem Wege wird versucht, das Zusammenleben der Bewohner an Ordnungs- und Sauberkeitsgeboten und an Erfordernissen wechselseitiger Rücksichtnahme auszurichten. Zu einer brisanten Angelegenheit behördlichen Verwaltungshandelns wird das ÜWH aber hauptsächlich im Zusammenhang mit eingliederungsbzw. wohnungspolitischen Erwägungen, auf die ich hier kurz eingehen möchte: - Ein relevanter Aspekt für die behördliche Wohnungspolitik ist die Verweildauer der Bewohner des ÜWH. Oberste Maxime der Eingliederungsbehörde sei es, so Herr M., die Aussiedlerfamilien so bald wie möglich aus den Wohnheimen wieder ‘rauszukriegen’. Aus diesem Grunde würden auch die Mieten für die Heimunterkünfte sehr hoch angesetzt und jährliche Mieterhöhungen vorgenommen. Dies geschehe in der Absicht, die Verweildauer im ÜWH nicht zu lang werden zu lassen. Solche Staffelmieten seien eine Maßnahme, die integrationsförderlich sei, weil Aussiedler so gezwungen wären, sich selbst Wohnungen zu beschaffen. Wem dies nicht gelinge, müsse mit einem Bußgeld rechnen, es sei denn, er kann nachweisen, sich erfolglos um eine Wohnung bemüht zu haben; geeignete Dokumente sind hier Makleraufträge und Zeitungsannoncen. - Die zweite wohnungspolitische Leitvorstellung der Eingliederungsbehörde ist auf die Vermeidung so genannter Mischbelegungen gerichtet. Eine Mischbelegung liegt vor, wenn Aussiedler aus verschiedenen Herkunftsländern (Rumänien, Polen, ehemalige Sowjetunion) in benachbarten Räumen bzw. auf einem Flur oder einer Etage wohnen. Auch dann, wenn es darum geht, Unterkünfte für Asylbewerber zu finden, muss sich <?page no="101"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 101 die Eingliederungsbehörde mit Fragen der Mischbelegung auseinandersetzen. Mit der Vermeidung von Mischbelegungen soll Konfliktpotenzial, das im Zusammenleben von Migranten aus verschiedenen Herkunftsländern gesehen wird, eingedämmt werden. Die nach Herkunftsländern homogene Unterbringung auf den Etagen und Fluren werde angestrebt, da es hin und wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen sei (so die Erfahrung von Herrn M. und auch von einigen Aussiedlerbetreuem). Ein Blick auf Probleme im Zusammenleben von Aussiedlern aus unterschiedlichen Herkunftsländern Während meiner Beobachtungen in dem ÜWH habe ich von Spannungen und Konflikten zwischen Aussiedlem verschiedener Herkunft nur vom Hörensagen erfahren; Zeuge manifester Formen der Konfliktaustragung bin ich nicht geworden. Dass es durchaus zu Spannungen kommen kann, und diese sich in einer Weise äußern können, die meiner Beobachtungsstrategie verschlossen bleiben mussten, zeigt ein Erfahrungsbericht einer 25jährigen polnischen Aussiedlerin (Frau J.). Sie war einer Wohnsituation ausgesetzt, die der skizzierten Mischbelegung gleich kam. Der folgende Ausschnitt aus dem Gedächtnisprotokoll, das ich nach dem Gespräch mit Frau J. angefertigt habe, vermittelt einen Eindruck davon, wie sich in einer solchen Wohnsituation ethnische Spannungen unter Aussiedlem bemerkbar machen können: Frau J. bewohnt gemeinsam mit einer älteren russlanddeutschen Frau ein Zimmer im ÜWH der Stadt H. Frau J. berichtet, dass sie sich dort nur zum Fernsehen und zum Schlafen aufhält, um ihrer Zimmergenossin aus dem Weg zu gehen. Diese habe einen ausgeprägten Nationalstolz; sie betone ihr gegenüber immer wieder, dass sie eine richtige Deutsche sei, dass sie einen deutschen Nachnamen habe und auch die deutsche Sprache spreche. (Frau J. meint, dass das Deutsch ihrer Zimmergenossin aber ganz anders klinge als das Deutsch, das im Fernsehen gesprochen werde.) Da sie - Frau J. noch nicht so gut deutsch spreche, werde ihr von der Frau auch vorgehalten, keine richtige Deutsche zu sein. Frau J. zitiert diese Frau dann mit den Worten: Jeder, der kein Deutsch kann, ist kein Deutscher. Allein schon die beengten Wohnverhältnisse in Übergangswohnheimen bringen Konflikte im Zusammenleben der Bewohner mit sich. Wie aus diesem Gedächtnisprotokoll hervorgeht, birgt das Zusammenleben von Aussiedlem aus unterschiedlichen Herkunftsländern zusätzliches Konfliktpotenzial in sich, nämlich Auseinandersetzungen um die authentische kulturelle Identität <?page no="102"?> 102 Anssiedler treffen aufEinheimische als Deutsche oder Deutscher. Für die Bewohner ist das ÜWH somit nicht nur ein Ort, an dem sie mit Menschen in gleicher sozialer Lage Zusammenleben, sondern auch ein Ort, an dem sie von Prozessen der Binnenhierarchisierung ihrer Statusgruppe betroffen sein können. 4.2.3 Verbindungen nach draußen und die Außenwelt im ÜWH Das relativ große ÜWH, in dem Familie Klein lebt, bietet Vorteile, die Migranten generell in Wohnghettos finden (vgl. Wirth 1956). Es weist Milieustrukturen auf, die seine Bewohner vor der neuen Umgebungsgesellschaft gleichsam abschirmen und ein Weiterleben in vertrauten kulturellen Mustern begünstigt; dies gilt insbesondere für die Verwendung der Sprachen des Herkunftslandes 115 und für die Aufrechterhaltung der Kontakte zu anderenorts lebenden Verwandten. Das Weiterleben in vertrauten kulturellen Bezügen realisiert sich zu einem großen Teil auch im Aufsuchen anderer Übergangswohnheime (oder Wohnbezirke), in denen Verwandte oder Freunde leben oder in denen Veranstaltungen stattfmden, die speziell für Aussiedler und häufig auch von Aussiedlem angeboten werden (Gottesdienste, Tanzveranstaltungen usw.). Wenn ich hier das ÜWH als ein Ghetto bezeichne, ist damit auch gemeint, dass durchaus Außenweltbeziehungen bestehen, wobei diese aber an spezifische Aktivitätsformen gekoppelt sind. Beziehungen zur Außenwelt erstrecken sich für die Bewohner hauptsächlich auf Behördengänge, auf Fahrten zum Arbeitsplatz und zum Einkäufen, auf die Teilnahme an Sprachkursen und Umschulungsmaßnahmen in entfernter gelegenen Städten, auf den Schulbesuch der Kinder, auf Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte, auf Wohnungsbesichtigungen und dergleichen. Auch ist die Außenwelt in Gestalt von Behördenmitarbeitem, von Beratern sowie Kinder- und Jugendbetreuem der Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt in Gestalt ehrenamtlich agierender Aussiedlerbetreuer im ÜWH präsent. Schließlich dringt die Außenwelt auch in Gestalt von mobilen Obst- und Gemüsehändlern, von Zeitschriftenwerbem, Versicherungsvertretern und anderen „Verkaufstalenten“ ein." 6 Am Beispiel der Familie Klein konnte ich 115 ln Gesprächen, die ich mit Sonja Klein führen konnte, wird aber auch Besorgnis darüber laut, dass im engen Kontakt mit den anderen Aussiedlerfamilien eine Einübung der deutschen Sprache nicht möglich sei. 116 Bei den Verhandlungen, die ich mit der zuständigen Eingliederungsbehörde und mit den professionellen Aussiedlerbetreuem hinsichtlich des Feldzugangs und der Unterstützung meiner Forschungsabsichten geführt habe, bin ich mehrfach <?page no="103"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 103 mitverfolgen, dass auch Trainer bzw. Funktionäre von Sportvereinen sich zuweilen intensiv um begabte Kinder und Jugendliche aus Aussiedlerfamilien bemühen. 4.2.4 Wie sich Familie Klein mit der Wohnsituation im ÜWF1 arrangiert Mit Wohnraum von der Eingliederungsbehörde versorgt zu werden, heißt für die Kleins, in einem etwa 30 qm großen Zimmer mit drei älteren Kindern leben zu müssen. Es bedeutet ferner, in enger Nachbarschaft zu anderen Aussiedlerfamilien zu leben und mit ihnen verschiedene Gemeinschaftseinrichtungen zu nutzen. Die Kleins haben in diesem Zimmer Mobiliar vorgefunden, das sich für die Befriedigung elementarer Wohn- und Lebensbedürfnisse eignet. Die schlichte Grundausstattung konnten sie mit Beständen ihres eigenen Hausrats (Teppiche, Geschirr, Bilder) bereichern, nach und nach auch mit einigen Neuanschaffungen (Fernseher, Stereoanlage, einem Fahrrad, das aus Sicherheitsgründen im Zimmer abgestellt wurde). Während der Feldforschungsphase im ÜWH 117 konnte ich beobachten, dass das Mobiliar häufig umgeräumt wurde. Ich deutete diese Umräumaktionen als Hinweis auf wachsende Unzufriedenheit mit der Wohnsituation. Stets waren im Zimmer drei Zonen erkennbar, die unterschiedlich genutzt wurden: eine Art Küchenbereich, in dem Lebensmittel, Geschirr und anderer Hausrat aufbewahrt wurden (warme Mahlzeiten mussten allerdings in der Gemeinschaftsküche auf dem Flur zubereitet werden); ein aus eisernen Etagenbetten bestehender Schlafbereich (diese Betten und zwei größere Schränke fungierten auch als Raumteiler); darauf aufmerksam gemacht worden, dass es als dringliche Aufgabe angesehen wird, Aussiedler vor dubiosen Verkaufspraktiken und undurchschaubaren Machenschaften zu schützen. Es hätten schon Hausverbote ausgesprochen werden müssen, und die Sozialarbeiter müssten sich verstärkt um die Rückgängigmachung von Haustürgeschäften kümmern. (Mittels solcher Hinweise darauf, dass Aussiedler verstärkt Opfer dubioser Geschäftspraktiken werden, wurden letztlich auch Kontrollansprüche gegenüber meinem Forschungshandeln seitens der Behördenmitarbeiter und auch seitens der Aussiedlerbetreuer angemeldet.) 117 Der Beobachtungszeitraum betrug eineinhalb Jahre; die Kleins wohnten insgesamt etwas länger als zwei Jahre in dem Übergangswohnheim. <?page no="104"?> 104 Aussiedler treffen aufEinheimische schließlich eine Art Wohnstube, eine kleine Zone, bestehend aus einem Tisch, fünf Stühlen und einem Fernseher (später kam noch eine Stereoanlage dazu). Für die Körperpflege und die Wäschereinigung mussten die im Keller gelegenen Gemeinschaftsduschen, -toiletten und die gemeinsame Waschküche aufgesucht werden. Bei meinen Besuchen bei Familie Klein waren allgemeine Probleme der Alltagsbewältigung in der Nachaussiedlungszeit ein zentrales Thema. Über Einblicke in die Alltagssorgen und das aktuelle Problemempfinden hinaus wurden dabei auch die spezifischen Belastungen deutlich, die von der Wohnsituation im ÜWH ausgingen. 118 Das Leben unter diesen Wohnbedingungen impliziert insbesondere Probleme nachbarschaftlichen und innerfamiliären Zusammenlebens. Wo die Bereitschaft zur Erduldung von Lärmbelästigungen und die Fähigkeit zur Rücksichtnahme auf Bedürfnisse anderer sinken oder nicht gegeben sind, sind Spannungen innerhalb der eigenen Familie und im Verhältnis zu anderen Bewohnern unausweichlich. Das folgende Gesprächsprotokoll vermittelt einen Eindruck von den innerfamiliären Belastungen, denen sich die Kleins ausgesetzt sahen; es lässt auch erahnen, dass besondere Selbstdisziplinierungen der Wohnheimbewohner notwendig waren, um sich die belastende Wohnsituation erträglicher machen zu können. Gesprächsprotokoll: Mit einer Mischung aus Bedrückung, Verärgerung und Verzweiflung spricht Sonja davon, dass es große Probleme mit den Kindern gäbe. Richard ergänzt, die Kinder würden aus der Spur laufen (wörtliches Zitat). Sonja meint, sie könne nicht verstehen, was mit ihren Kindern passiere, sie wären hier ganz anders als früher. Das Familienleben in den Zimmern sei für alle problematisch, es gäbe viele Streitigkeiten untereinander, auch bei anderen Familien wäre dies so. Die Kinder seien ständigen Maßregelungen und Verboten ausgesetzt. Wenn der Vater einer Arbeit nachgehe, müsse er früh aufstehen und abends früh zu Bett, auch die Kinder müssten dann früh ins Bett. Vor allem in den Schulferien gäbe es Schwierigkeiten dies durchzusetzen. Wenn sie sich abends länger draußen aufhielten, störten sie den Schlaf des Vaters. Zum Schluss meint Sonja, dass das Familienleben zwar 118 Während ich Richard und Sonja bei kleineren Feiern in der Gemeinschaftsküche oder bei anderen geselligen Anlässen ausgesprochen fröhlich erlebt habe, hatte ich bei meinen Besuchen in ihrem Wohnheimzimmer oft das Gefühl, dass sie sich aus einer bedrückten Stimmung heraus dämm bemühten, freundlich zu mir zu sein. <?page no="105"?> Das Ubergangswohnheim als neuer Lebensraum 105 sehr problematisch geworden sei, die Familien im Wohnheim sich aber Mühe geben würden, das Zusammenleben nicht noch schwieriger werden zu lassen. Alle seien auf Ordnung bedacht, würden Rücksicht aufeinander nehmen. Mit zunehmender Wohndauer wird die Situation im ÜWH für die Kleins immer belastender; der Wunsch nach einer eigenen Wohnung wird so stark, dass sie sich sogar für eine auf dem Wohnungsmarkt angebotene Einzimmerwohnung interessieren. Sie wären bereit, vorübergehend in diese nicht viel größere Wohnung zu ziehen, nur um aus dem Wohnheim herauszukommen. Während der Beobachtungszeit gelange ich allerdings auch zu dem Eindruck, dass sie sich mit einigen Gegebenheiten im ÜWH gut arrangieren können: Die Eltern sehen es gern, dass die Kinder die von den Wohlfahrtsverbänden organisierte Hausaufgabenhilfe, Sprachkurse und Freizeitbetreuung wahmehmen. Auch verstehen sie sich gut mit einer im benachbarten Zimmer lebenden Familie; bei kleineren Autoreparaturen und auch bei Behördenangelegenheiten hilft man sich gegenseitig. Nach der Beschreibung der Wohn- und Lebensverhältnisse der Kleins komme ich nun zur Analyse von Gesprächsmaterial, das in der Einzimmerwohnung entstanden ist und eine Erstbegegnungssituation zwischen weiteren Familienangehörigen der Kleins sowie dem Feldforscher und einer Begleiterin dokumentiert. 4.3 DAS GASTMAHL als Feldforscher zu Gast bei einem Familientreffen 4.3.1 Milieueinbindung des Besucherarrangements und seine Instrumentalisierung für Forschungszwecke Das Kommunikationsereignis, das ich das GASTMAHL" 9 nenne, geht zurück auf eine Einladung der Kleins. Dieser Einladung war ein Besuch von Sonja und Richard mit ihrer Tochter bei mir zu Hause vorausgegangen; bei dieser Gelegenheit hatten sie meine Familie kennen gelernt. Die von ihnen dann ausgesprochene Gegeneinladung war auch dadurch motiviert, dass ich gegenüber Sonja und Richard verschiedentlich Interesse daran bekundet hatte, weitere Verwandte von ihnen kennen zu lernen. Die Gastgeber wussten von 119 Auf die Kommunikationssituationen, die Gegenstand ausführlicher Analysen sind, beziehe ich mich mit dem jeweiligen Transkriptnamen (kursiv und in Versalien geschrieben). <?page no="106"?> 106 Aussiedler treffen aufEinheimische meinen Forschungsinteressen; als sie ihre Einladung aussprachen, bat ich sie, ihre Angehörigen zu fragen, ob sie mit einer Tonbandaufnahme der Gespräche bei Tisch einverstanden seien. Für die Vorklärungen mit den Verwandten erläuterte ich ihnen nochmals mein Interesse an den Erfahrungen, die Aussiedler in Deutschland allgemein und insbesondere mit den hiesigen Deutschen machen. Außer der Ankündigung, ein Tonbandgerät mitzubringen und die sich entwickelnden Erzählungen und Gespräche aufzeichnen zu wollen, machte ich keine weiteren Angaben zur Forscherrolle (etwa: gezielte Befragungen bestimmter Personen vornehmen zu wollen). Darüber, wie Richard und Sonja ihren Verwandten mein Ansinnen erklärt haben, kann ich nur Vermutungen anstellen, jedenfalls stieß es nicht auf Ablehnung. Aufgrund der vorausgegangenen Kontakte zwischen der gastgebenden Familie und meiner Familie sah ich in der Einladung der Kleins eine Gelegenheit, mit dem erweiterten Familienensemble bekannt zu werden und möglicherweise auch zu familieninternen Sinnbildungsprozessen in der Nachaussiedlungssituation vorzudringen. Damit folgte ich Überlegungen, wie sie auch im Umkreis der ‘Objektiven Hermeneutik’ bei der Erforschung von Modernisierungsprozessen in bäuerlichen Familien angestellt worden sind. So haben Hildenbrand und seine Forschergruppe das familiengeschichtliche Erzählen als Zugangsmedium zu Einzelbiografien bzw. Familienbiografien sowie zu aktuellen Sinnbildungsprozessen im Familienkollektiv genutzt (vgl. Hildenbrand/ Jahn 1988; Hildenbrand/ Bohler/ Jahn/ Schmitt 1992). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierungs- und Entfremdungsprozesse wurde in diesen Forschungsbeiträgen der Kommunikation im Familienensemble besondere Bedeutung beigemessen. In Anlehnung an Hildenbrand u.a. lässt sich davon ausgehen, dass auch in der Nachaussiedlungssituation Prozesse der Selbstthematisierung im Familienensemble sowohl für das einzelne Familienmitglied als auch für die gesamte Familie von großer Relevanz sind. Solche kommunikativen Prozesse unterstützen das Individuum in seinem Bemühen um die Entwicklung von Orientierungsmodellen für sich wandelnde Lebenssituationen und auch in seinen Auseinandersetzungen mit Entscheidungen von lebensgeschichtlicher Tragweite. Für die Familie ist Selbstthematisierung ein milieugebundener, d.h. in ihre fraglosen und alltäglichen Sinnzusammenhänge eingebetteter Vorgang, der das Familienmilieu reproduziert und zum Gegenstand reflexiver Thematisierungsweisen macht. Die Themenpotenziale der Kommunikation im Familienmilieu ergeben sich nicht allein <?page no="107"?> Das Ubergangswohnheim als neuer Lebensraum 107 aus den Geschichten, die sich in der Vergangenheit der Familie ereignet haben; sie ergeben sich auch aus den aktuellen Alltagsproblemen und aus den Veränderungstendenzen familialer Lebensformen und individueller Existenzbedingungen. Der Veränderungsdruck, dem sich Familien und einzelne Familienangehörige ausgesetzt sehen, wird verstärkt durch Modernisierungsschübe und eben auch durch Migration. Neben diesen allgemeinen Überlegungen zur Familie als Kommunikationsgemeinschaft erschien es mir aus folgenden Gründen nahe liegend, die Einladung zu dem sonntäglichen Familientreffen für meine Forschungsabsichten zu nutzen: - Mir war bekannt, dass die überwiegend traditionale Lebensweise russlanddeutscher Familien in den Herkunftsgebieten Zusammenhaltsstrukturen hervorgebracht hat, die in regelmäßigen Zusammenkünften der verschiedenen Teilfamilien ausgelebt und gefestigt werden. 120 Das sonntägliche Treffen der Kleins mit weiteren Familienangehörigen sah ich als eine gute Voraussetzung dafür an, dass auf der Grundlage alltagsweltlicher Kommunikationsgewohnheiten Erfahrungsperspektiven verschiedener Familienmitglieder entfaltet werden und selbstreflexive Thematisierungsprozesse, die auf die veränderte Lebenssituation bezogen sind, in Gang kommen. - Bei vorausgegangenen Kontakten zu den Kleins war ich im Wesentlichen nur Angehörigen einer Generation näher gekommen, nämlich Richard und Sonja (eine Verständigung mit den Kindern und der Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu ihnen hat sich als sehr schwierig erwiesen). Von einer Teilnahme an dem sonntäglichen Familientreffen erhoffte ich mir auch Zugang zu Familienmitgliedern in anderer Generationenlage bzw. zu Familienangehörigen mit anderen Aufenthaltszeiten als die, die Sonja und Richard vorzuweisen hatten. 120 Vgl. Boll (1991) und (1993). Dass auch die Kleins und ihre Angehörigen mit solchen Zusammenkünften am Wochenende oder an Feiertagen einen Familienbrauch fortsetzen, den sie schon im Herkunftsland gepflegt haben, macht die Schwester der Gastgeberin während des Gesprächs bei Tisch deutlich; Zitat aus dem Transkript: meistens treffen wir uns immer bei den eitern des is schon seit jahren so bei uns wie ein g/ gesetz das war auch in russland so die ki/ wir haben uns immer bei den den eitern getroffen des: besonders wenn es feiertag war. Ein Verzeichnis der von mir verwendeten Transkriptionszeichen findet sich im Anhang. <?page no="108"?> 108 Aussiedler treffen aufEinheimische - Das Zusammentreffen mit weiteren Angehörigen der Kleins 121 sah ich schließlich auch als eine gute Gelegenheit an, kommunikative Prozesse der Beziehungsherstellung und Beziehungsregulierung zwischen einander noch fremden Aussiedlem und Einheimischen zu dokumentieren, auch wenn ich selbst daran beteiligt sein sollte. - Erwartbar war ein Arrangement, das zwar nicht im angestammten Wohn- und Lebensraum der Familie, aber doch auf familialem Territorium stattfinden sollte. Den ‘Home Frame’ im ÜWH sah ich als eine gute Voraussetzung dafür an, dass detailliertere Formen biografischen Sprechens realisiert werden. 4.3.2 Charakterisierung der Gesamtsituation Außer dem gastgebenden Ehepaar, der 12jährigen Tochter und dem (einheimischen) Besucherpaar nahmen folgende Verwandte an dem sonntäglichen Treffen in der Einzimmerwohnung im ÜWH teil: die Eltern von Sonja Klein (sie sind beide über 70 Jahre alt) sowie ihre ältere Schwester (Anfang 50) mit zwei Söhnen (21 und 25 Jahre alt). Die Schwester ich werde sie im Weiteren Anna nennen lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Sie wohnt mit ihrer Familie in einer Mietwohnung in einer benachbarten Großstadt. Annas Ehemann hat an dem Familientreffen nicht teilgenommen; er musste an diesem Tag arbeiten. Auch ist ihre verheiratete Tochter, entgegen ihrer Ankündigung, nicht gekommen. Desgleichen fehlte der älteste Sohn der gastgebenden Familie. Die Eltern erklärten seine Abwesenheit damit, dass er mit Freunden umherziehe und auch sonst selten zu Haus sei. Der jüngere Sohn ist nach etwa eineinhalb Stunden dazugestoßen. Da sich die angereisten Familienangehörigen und das einheimische Besucherpaar noch nicht kennen, hat das Zusammentreffen für diese Teilnehmer auch den Charakter einer Erstbegegnung. Der Besuch bei Familie Klein dauerte knapp vier Stunden; das dabei entstandene Gesprächsmaterial soll nur aspektuell ausgewertet werden. Ich porträtiere zunächst den Gesamtrahmen dieses Kommunikationsereignisses, um Situationsbedingungen hervortreten zu lassen, unter denen die Gesprächsaktivitäten während des GASTMAHLS zustande gekommen sind. 121 Mit „Familie Klein“ meine ich stets die Kernfamilie von Sonja und Richard. Wenn nicht nur die Kleins, sondern weitere Angehörige gemeint sind, verwende ich die Bezeichnungen „Großfamilie“ oder „Familienensemble“. <?page no="109"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 109 Dabei gehe ich kurz auf szenische und atmosphärische Merkmale der Situation sowie auf Themenverläufe, die hier nicht zum Gegenstand ausführlicher Analysen gemacht werden, ein. 122 Allgemein kann dieser Ereignisrahmen charakterisiert werden als Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Milieus und Familienwelten, als eine Situation, in der sich ein russlanddeutsches Familienensemble einem einheimischen Besucherpaar präsentiert. Zu vergleichbaren Situationen kommt es etwa dann, wenn eine Sozialarbeiterin oder eine ehrenamtliche Betreuerin aus Dankbarkeit für ihre Hilfeleistungen von einer Aussiedlerfamilie eingeladen wird, ln solchen Situationen werden nicht nur biografische und familiengeschichtliche Themen behandelt, es werden auch familienintem verfestigte Kommunikationsroutinen entfaltet und mitgebrachte kulturelle Ressourcen präsentiert. Im Home Frame des ÜWH wird sozusagen russlanddeutsche Familienwelt in Szene gesetzt; dies geschieht während des GAST- MAHLS auf verschiedene Weisen, hauptsächlich durch - Zubereitung und Verzehr eines Mahls, das einen festen Platz in der Essenstradition der Familie inne hat und geeignet ist, mitgebrachte bzw. eigene Essenskultur zu demonstrieren; 123 beim Zeigen von Fotoalben, in denen Soldatenzeiten, Hochzeitsfeiem und andere wichtige Ereignisse im Leben bestimmter Familienmitglieder festgehalten sind; 122 Ich nehme hier Aspekte eines Untersuchungsschrittes vorweg, der bei der Analyse der Kommunikationsereignisse in Kap. 5. und 6. zum Schluss erfolgt. Da ich das GASTMAHL nur ausschnittweise analysiere, erachte ich es als sinnvoll, wesentliche Merkmale der Ereignisgestalt in Form eines Kurzporträts hervorzuheben und den Detailbeobachtungen vorauszuschicken. Weitere Aspektualisierungen zur Gesamtformung dieser Kommunikationssituation enthält das Kap. 4.3.4. 123 Auf Erkundigungen nach der Bezeichnung des für die Besucher unbekannten Gerichts erklärt Anna (also nicht die Gastgeberin und Köchin), dass es gefüllte kartoffein un nudelsupp gibt. Die besondere Bedeutung der Speisen, die einheimischen Gästen serviert werden, für die Symbolisierung russlanddeutscher Identität zeigt Boll (1993) auf. Er kommt aufgrund seiner Interviews in Aussiedlerfamilien (und der bei diesen Gelegenheiten kennen gelernten Speisen) zu der Feststellung: „Wer selbstbewusst von der Existenz einer spezifisch russlanddeutschen Kultur sprach, der präsentierte deren genuine oder von anderen Kulturen übernommene Aspekte auch außerhalb der familialen Privatsphäre“ (ebd„ S. 108). <?page no="110"?> 110 Amsiedler treffen aufEinheimische durch Verhaltensweisen, die ohne größere Abstimmungen vorübergehend Männer- und Frauenwelten etablieren (die Männer verlassen in regelmäßigen Abständen den Raum, um auf dem Flur zu rauchen); 124 durch Sprachenmisch bzw. Sprachwechsel und verschiedentliche Nebenkommunikation, die in russischer Sprache geführt wird. Neben dem szenischen Arrangement und der Demonstration des Eigenkulturellen ist es vor allem das sprachliche Darstellungshandeln der Familienangehörigen, das die einheimischen Gäste an der Milieuhaftigkeit, an den mitgebrachten Erfahrungsbeständen sowie an der aktuellen Erfahrungswirklichkeit des russlanddeutschen Familienensembles teilhaben lässt. Die Erfahrungs- und Orientierungsbestände der russlanddeutschen Aussiedlerfamilie werden vor allem auf folgende Weise präsentiert: - In Erzählungen, die die Pflege deutschen bzw. konfessionellen Brauchtums sowie die ethnische Orientierung als Deutschstämmige dokumentieren (Erzählungen zum Heiratsverhalten, zur geheimen Durchführung von Kindstaufen, zum Zusammenleben mit Russen und Angehörigen anderer Ethnien); in Darstellungen des kollektivgeschichtlichen Hintergrundes und in Erzählungen zu Verlust- und Leidenserfahrungen im Zuge von Zwangsdeportationen; in Darstellungen des sozialen Dramas der Aussiedlung (Erzählungen zur kollektiven Aufbruchstimmung am Wohnort, zu Maßnahmen der Minimierung des Risikos, auf dem Reiseweg Opfer krimineller Machenschaften zu werden, zum Erleben der Ankunft in Deutschland und zu Erlebnissen mit hiesigen Deutschen); in Auskünften zu Wohnorten und Berufstätigkeiten im Herkunftsland; im Sprechen über anwesende und nichtanwesende Familienangehörige (so ist insbesondere die Trennung von Verwandten, die noch nicht aussiedeln konnten, als Sorgenthema präsent, auch wird über individuelle Neigungen und berufliche Ausbildungsstände von Annas und Sonjas Kindern gesprochen); 124 Ich nahm dieses sich wiederholende Hinausgehen als einen im Familienmilieu eingespielten Geschehensablauf wahr. Als typisch für russlanddeutsche Lebensweise sah ich dieses Hinausgehen der Männer auch deshalb an, weil ich bei zahlreichen anderen Aufenthalten im ÜWH oft reine Männerbzw. Frauengruppen antraf. <?page no="111"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 111 im distanziert-ironischen Umgang mit der Identität als Deutschstämmige (etwa wenn situationskommentierend eingeworfen wird, man sei sich nicht im Klaren darüber, ob die aktuell gezeigte Gastfreundschaft typisch für die Deutschen in Russland sei oder ob sie auf Einflüsse anderer Kulturen zurückgehe); schließlich sind die russlanddeutschen Erfahrungs- und Orientierungsbestände auch in selbstironischen Kommentierungen von Verhaltensweisen, die als mitgebrachtes Enkulturationsresultat ausweisbar sind, präsent (etwa, wenn Wodkatrinken als das kulturelle Lernergebnis bezeichnet wird, das man den Russen verdanke). Hervorstechendes Merkmal der Kommunikationsdynamik des GASTMAHLS ist, dass schon gleich nach der Begrüßung expandierte Gesprächsaktivitäten von der Mutter und der Schwester der Gastgeberin entfaltet werden (hierauf gehe ich gleich näher ein, vgl. Kap. 4.3.3.1). Diese beiden Angehörigen aus der Großfamilie etablieren sich gleich zu Beginn als dominante Sprecherinnen, auch die weitere Themengenerierung wird über weite Strecken von diesen beiden Sprecherinnen geleistet. Sie entfalten Erzählaktivitäten, bei denen sie sich mittels Übersetzungs- und Formulierungshilfen sowie in Form von Hintergrunderklärungen 125 und zusätzlichen Verdeutlichungsanstrengungen gegenseitig unterstützen. Die Gesprächsaktivitäten werden des Öfteren unterbrochen durch Aktivitäten, die der Koordination des gemeinsamen Essens dienen. Die Erzählungen der beiden Hauptrednerinnen haben teils solche Ereignisse zum Gegenstand, die in dem Leben vor der Aussiedlung stattgefunden haben, teils aber auch Ereignisse, die das Fremdheitserleben in Deutschland und das Zusammentreffen mit hiesigen Deutschen zum Gegenstand haben. 126 123 Hintergrunderklärungen verhelfen im Erzählvorgang dazu, „die verlorene kognitive und evaluative Welt wiederherzustellen. Dies ist häufig verbunden mit Anstrengungen der moralischen Legitimation, um widerstreitende Bewertungen in Einklang miteinander bringen zu können.“ Zu unterschiedlichen evaluativen und theoretischen Aktivitäten des Erzählens siehe Schütze (1987a, S. 175ff.). 126 Das Erzählen der Begegnungen mit Einheimischen ist vermutlich dadurch angeregt worden, dass ich als Erklärung für die Tonbandaufnahme ein Interesse an eben solchen Erfahrungen mit hiesigen Deutschen genannt hatte (vermutlich hat das gastgebende Ehepaar den anderen Angehörigen die Anwesenheit des Besucherpaars auf ähnliche Weise erklärt). Im Gesprächstranskript finden sich aber auch Hinweise darauf, dass unter den zu Besuch gekommenen Verwandten <?page no="112"?> 112 Aussiedler treffen aufEinheimische Es handelt sich dabei um Erzählungen vom Typ „Wie-wir-Fremden-auf- Alteingesessene-gestoßen-sind“. 127 Die Erfahrungen mit Hiesigen, über die an mehreren Stellen des Tischgesprächs berichtet wird, wirken so mein Eindruck so stark bei den Betroffenen nach, dass sie auch von ihnen selbst als mitteilungsrelevant und thematisierungsbedürftig angesehen werden. Insgesamt lässt sich das GASTMAHL als eine mehrdeutige Situationskonstruktion ansehen: Es trägt Züge eines künstlichen, für forscherseitige Interessen geschaffenen Arrangements, weist zugleich aber auch Gestaltungsmerkmale auf, die Ausdruck alltagsweltlicher Kommunikationsbedürfnisse und -gewohnheiten der Beteiligten sind. Das künstliche Moment findet auf der gesprächsorganisatorischen Ebene seinen Niederschlag u.a. darin, dass Anna, die Schwester der Gastgeberin, und ihre Mutter sich als Hauptinformantinnen und quasi als Familiensprecherinnen betätigen, während die Mitglieder der gastgebenden Familie (Sonja, Richard, ihre Kinder) sich meist nur zu ablauforganisatorischen Angelegenheiten äußern. Mutter und Tochter 128 (Martha und Anna) verstehen sich als diejenigen, die Interessantes, Neues und Wichtiges für die einheimischen Gäste zu bieten haben und dies auch ohne größere Schwierigkeiten auf Deutsch vermitteln können. Annas (und Sonjas) Vater (der Urgroßvater) äußert sich nur ganz selten in kurzen Einwürfen, auch die Redeanteile von Annas Söhnen sind relativ gering. Erst nach gut einer Stunde und nur dadurch, dass die Mutter ihnen Redegelegenheiten schafft, ergreifen sie das Wort. 129 keine einheitliche Auffassung darüber besteht, was sie als das Hörerinteresse des Besucherpaares ansehen. So offenbart Annas jüngster Sohn ein Situationsverständnis, das dem einheimischen Besucherpaar ein vorrangiges Interesse an dem Leben im Herkunftsland unterstellt. Er versucht an einer Stelle einen Themenwechsel herbeizuführen mit der Begründung, dass sie (die Familienangehörigen) von ihrem Leben dort in Russland erzählen müssten. 127 Diesen Typ von Geschichten erzählen auch Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs evakuiert wurden, sowie Flüchtlinge und Vertriebene, die während und nach dem Krieg in westdeutschen Städten und Gemeinden angesiedelt wurden; siehe hierzu Lehmann (1991) sowie Müller-Handl (1993). 1: 8 Ich benenne hier lediglich das Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden dominanten Sprecherinnen. Im Familienensemble nimmt Martha die Position der Groß- und der Urgroßmutter ein, Anna selbst ist auch bereits Großmutter. 129 Von einer Beschreibung der kommunikativen Präsenz der übrigen Familienangehörigen sehe ich hier ab. Aufgrund seiner Teilnehmerzusammensetzung ist das Kommunikationsereignis GASTMAHL auch dazu geeignet, familiendynamische Prozesse freizulegen. Dieser Auswertungsgesichtspunkt wird im Rahmen dieser <?page no="113"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 113 Für die Familienangehörigen findet ein Ereignis statt, das von der Normalität und den Routinen der für Familienzusammenkünfte üblichen Kommunikation abweicht. Gleichwohl agieren die Familienangehörigen nicht einfach nur als Informanten eines Forschungssettings, sondern als Akteure, die das Besucherarrangement in ihrem Relevanzrahmen gestalten und die dieses Arrangement auch mit Blick auf eigene lebenspraktische Belange zu nutzen suchen. 130 4.3.3 Analyse ausgewählter Gesprächsaktivitäten Das kommunikative Geschehen bei dem Essen mit der Großfamilie Klein kann hier nicht erschöpfend, sondern nur aspektuell ausgewertet werden. Zunächst werde ich auf das Geschehen zu Beginn des Zusammentreffens eingehen. Zwar konnten die Aktivitäten der Situationsherstellung (Begrüßung, Aufstellung des Aufnahmegerätes, Etablierung des ersten Themas) nicht von Anfang an aufgezeichnet werden, wohl aber die sich daran unmittelbar anschließenden Aktivitäten. Zu Beginn der Tonbandaufzeichnung sind Gesprächsaktivitäten in Gang, in denen die beiden Hauptsprecherinnen (Anna und Martha; Sprechersigle im Transkript: AN und GM) aufschlussreiche Symbolisierungen ihrer kollektivgeschichtlichen und ihrer biografischen Identität entwickeln. Auf diese Gesprächsaktivitäten gehe ich in Kap. 4.3.3.1 ein. In Kap. 4.3.3.2 befasse ich mich mit besonderen Erzählaktivitäten dieser beiden Sprecherinnen. Sie geben darin Erfahrungen mit Einheimischen wieder. Diese Erzählpassagen dienen mir hier als Dokumente für Erstbegegnungen und für Kommunikationssituationen, in denen Aussiedler auf Einheimische treffen und dabei nicht geschützt sind durch professionelle Begleitarrangements. Interessant an diesen Erzählaktivitäten ist einmal die Wiedergabe der Reziprozitätsverhältnisse, die sich in den Begegnungen der Erzählerinnen mit Einheimischen entwickelt haben. Zum anderen wird an den angeschlossenen eigentheoretischen Verarbeitungen der Erlebnisse deutlich, wie solche Situationen für die Identitätsarbeit der Erzählerinnen relevant werden. Untersuchung aber nicht systematisch verfolgt. Einige Beobachtungen zu familienintemen Prozessen stelle ich in Kap. 4.3.3.3 an. 130 Ihren deutlichsten Ausdruck fand diese Situationsorientierung gegen Ende des Besuchs, als Sonja, die Gastgeberin (wie schon bei dem vorausgegangenen Treffen), sich mit der Frau des Feldforschers (von der sie wusste, dass sie in einer Klinik arbeitet), in ein Gespräch über Arbeitsmöglichkeiten in den Krankenhäusern der Region vertiefte. <?page no="114"?> 114 Aussiedler treffen aufEinheimische Kap. 4.3.3.3 behandelt Gesprächsaktivitäten, in denen der aussiedlungsbedingte Fremdheitsstatus fokussiert ist. Das Analyseinteresse gilt hier (a) dem dargestellten Fremdheitserleben, (b) den aufgezeigten Sinnquellen zur Bearbeitung der marginalen Lebenslage sowie (c) dem im Familienensemble ablaufenden Verständigungsprozess über die Sinnhaftigkeit der Aussiedlung. 131 In diesen beiden Kapiteln geht es also nicht um das kommunikative Management einer Erstbegegnungssituation, sondern um kommunikative Bearbeitungen der Fremdheitsproblematik durch die Betroffenen. Die Besuchssituation ist hier als sozialer Rahmen anzusehen, der solche Bearbeitungsleistungen evoziert. 4.3.3.1 Entfaltung des kulturellen Identitätsbewusstseins als Deutsche aus Russland bei Eintreffen der einheimischen Gäste Die Gesprächsaktivitäten im Rahmen des GASTMAHLS konnten nicht von Anfang an dokumentiert werden. Anna, die Schwester der Gastgeberin, hatte gleich nach Eintreffen des Besucherpaares und nach dem Austausch von Begrüßungsformeln damit begonnen, über den kollektivgeschichtlichen Hintergrund der Russlanddeutschen zu sprechen; auch schienen nochmalige Absprachen zur Tonbandaufzeichnung nicht erforderlich zu sein. Die von ihrer Schwester oder ihrem Schwager erhaltenen Vororientierungen über das Zusammentreffen mit den einheimischen Gästen haben Anna und auch ihre Mutter in die Lage versetzt, spezifische thematische Hörerinteressen der Gäste unterstellen zu können. Der Transkriptionsausschnitt: 1 AN: soviel "jahrdas sin doch * jahrhundertf s=ist nicht 2 AN: "ein jahr un nicht "zehn- #und auch nicht "hunderti # 3 K #BETONT, DEUTLICH # 4 AN: s: =sind äh dreihundert über dreihundert jahre- 5 AN: vielleicht * bei "je|ma|nd is mehrbei 6 BM: |ja| 131 Nach meinen Erfahrungen im Feldforschungsprozess sind solche Themenverläufe in Gegenwart von einheimischen Kommunikationspartnern nicht ungewöhnlich. Das Sprechen über intensive, schmerzhafte und enttäuschende Fremdheitserfahrungen setzt voraus, dass die Betroffenen Vertrauen zu Einheimischen gefasst haben und bei ihnen ein echtes Interesse an ihrer Lebenssituation und ihren Erfahrungen unterstellen können. <?page no="115"?> 7 AN: 8 BM: 9 AN: 10 AN: 11 K& 12 AN: 13 K& 14 AN: 15 BM: 16 K& 17 AN: 18 AN: 19 AN: 20 BM: 21 BW: 22 AN: 23 AN: 24 K& 25 AN: 26 K& 27 AN: 2 8 K& 29 AN: 30 K 31 AN: 32 K 33 AN: 34 K 35 AN: 36 AN: 37 AN: 38 AN: 39 AN: 4 0 GM: Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 115 |je|mand is viel)lei|cht auch weniger gell- I ja| I ja | aber eigentlich des is alles erhalten wordenun #des * muss man sich äh nur in äh * #TÜRENQUIETSCHEN, DANN LEISE UNTERHALTUNG "wundern weil des so geblieben is gellt ** |und ich sag schon-]# unser geg/ =äh Vorgängerdie | allerdings! , ja # kennt schonarg/ jeder kennt schon vielleicht ein * ein: * denkmal (oder wie mer) sagt äh dass er äh es hatwas war gester war * ja *3,5* hmhm *2* nein s: =war freitag morgens- * weil ich hab Spätdienst ghabtun=dann *1,5* äh * # ähm in der #KRACHEN straßebahn un=dann * seh ich ein vater mi=m kind AUF DEM BAND un=no sagt er-# äh macht er mi=m kleine- # SCHLUCKT #des is der "daumeder schüttelt die #IMITIEREND, MELODISCH, WIRD SCHNELLER pflaumeder * lest=se zusammender bringt=se UND LAUTER heim # * denk=ich och gott im himmelt aber "nämlich # sowie die mutter uns es gesagt hatwie wir=s unser kinder erklärt haben un=äh gesagtso is=es aucht jetzt=äh * "vieles vieles aber vieles war glaub=ich habe sie hier nicht erhaltent un=unsere ATMET HÖRBAR EIN wir=d=n russland haben dort mehr * von deutschland <?page no="116"?> 116 Aussiedler treffen aufEinheimische 41 AN: ja I ja I I ja ja | ja|ja| 42 GM: erhaltenwie |die| |deu|tsch|en hieri | 43 BM: | ja | |ja| 44 GM: ich kann nich weniger wie zwanzig lieder nochj, #wo 45 K #ME- 46 GM: von "deutschland sin * nach russland gebracht# 47 K LODISCH # 48 BM: hmhm 4 9 GM: 50 AN: 51 GM: 52 BM: 53 AN: 54 GM: 55 K: 56 BM 5 7 K& 58 GM: 59 BM: 60 AN: 61 BM: 62 AN: 63 BW: ich hab=se wieder zurickgebrachtj, nur nadirlich (er) sindj, |ah ja viele| |(fort|gestiegen) jetzt- |aber "dort-| lieder sin j a |hm | hm vieles #wirklich von deutschland! # |die| "worte #BETONT # I äh | #JEMAND SUMMT EINEN LIEDANFANG # |do drin| erinnernein: dass sie von deutschland sin! |richtig| ja ja viele lieder kann=s auch meine mutter singt * ja viel un=un kann auch viel lieder und viel gedichtehmhm 64 AN: eigentlich=äh von goethe un 65 GM: un=nicht dass mir kein stolz 66 GM: seien- * dass wir das erreicht habe jetzt! * endlich 67 GM: es hat uns geglickt- * vie: le von "unsere * #ot# unser 68 Ü #RU: VON# 69 GM: #byli# stark! #pokolenie- # wie soll ich sagen! *1,5* 7 0 Ü #RU: WAREN# #RU: GENERATION # 71 AN: |#ge|neration# ttgeneration! # 72 K #UNGEDULDIG # #DEUTLICH # 73 GM: | ot | wie! von unser #generation! 74 K& #TÜR WIRD 75 AN: |ja| 76 GM: die ham des nicht erlebt was wir erlebt haben! 77 BM: |ja| ja 78 K& GEÖFFNET, MARKTSCHREIER WIRD LAUTER <?page no="117"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 117 79 GM: 8 0 BM: 81 K& 82 GM: 83 K& 84 GM: 8 5 K& 86 GM: 87 K& 8 8 GM: 8 9 K& 90 AN: 91 GM: 92 NN: 93 K& 94 AN: 95 NN: 96 K& 97 AN: 98 GM: 99 K& 100 AN: 101 GM: 102 K& 103 AN: 104 K& 105 AN: 106 K& 107 AN: 108 K& 109 AN: 110 GM: 111 AN: 112 GM: 113 AN: 114 AN: die liejen verfault auf=de * unter de äsenbahn|linje|# I ja I TÜRE WIRD ZUGEKNALLT # oder wo im wa: ldwo=se *1,5* #wald (fällen? fliehen) #TÜR GEHT WIEDER AUF, mussten=se do * ( ) fliegenj, ES LÄRMT AUF DEM FLUR nichtT dass=se fliegen gfresse han)# * aber wir hatten # einfach glichnicht dass "wir * #a: ch ein heim gfunden #AUF DEM FLUR IST TUMULT nein mamaich will harn- |uns | hat = s (gott gegeben) J, |hallo| des all/ des wir des = äh nicht "wirj. ihrjoi * es gehti un=äh d/ die großeitern- * die haben alles erhalten ja was zum deutschen mensch ge|he|rt gellt nicht (ja=un? I ja I ja jein)wir sind jetzt ha/ äh hierwir sind glicklich- und wir * dass wir das erreicht habenes handelt sich um dasdass dass "alles was * # # einstmol wardes is alles erhalten wo/ |worden| ist ja I jaja | wer die traditionen un=alles die sprachejaja jaja soll=es * "mir fällt des hochdeutsch * zum beispiel äh * schwer gellt zu sprechend aber * <?page no="118"?> 118 Aussiedler treffen aufEinheimische 115 AN: 116 BW: 117 AN: 118 BM: 119 AN: 120 BM: 121 AN: 122 GM: 123 BM: 124 GV: 125 GM: 126 GV: 127 AN: 128 GM: 129 AN: 130 AN: 131 AN: 132 AN: 133 BM: 134 AN: 135 AN: 136 AN: 137 BM: 138 AN: 139 BM: 140 BW: 141 BW: 142 K 143 AN: 144 GM: 145 BW: 146 GM: dialekt sprechen * des=i/ |des=is| wie wie * |achso | hm hmpf=ja: können=sie dialektT mit * welchen dialekt es : sprechen sie dennj, den schwäbischent ** oder mit meistens * |so wie| hieri ja ja I jaja | no | sie sprecht dialekt wie se | |(uns verstehschde ned) ja ★ no |j a: we|i1 * geheiratet hatj, wie=de schwieget * |vater | ich bin jo seit fünfundsechzig äh * äh verheiratet gellun=dann äh ähm: =n die kinder allun=äh des äh * eigentlich ich muss dankbar sein meiner Schwiegermutterdass ich den dialekt * habe jetzt ja weil äh * mir ist tut=s sehr leidweil ich den dialekt von meiner mutter nicht äh kannj, * den dialekt vom vater den "kann ichj, aber von der "mutter nichtj, aha weiß=ich nicht warum es so kommen istj, aha aha was spricht die mutter für=ein dialektwas #auch# #GEWISPERT# |neinl| mir haben sie wir waren ** schwä/ was |(für)| eine auf=m weihnachtsfest genötigt wordenj, * in "diesem <?page no="119"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 119 Das Segment im Überblick: Die Gesprächsaufnahme setzt ein, als Anna dabei ist, über die Auswanderung von Deutschen in das zaristische Russland zu sprechen. Diese Thematik ist nicht auf Anhieb im Transkript erkennbar. Erst nach und nach mit den Hervorhebungen kulturerhaltender Leistungen und der expliziten Kennzeichnung einer Wir-Gemeinschaft in Z. 40 wird deutlich, dass das Kollektivschicksal der Russlanddeutschen thematischer Fokus ist. Zunächst thematisiert Anna in allgemein-beschreibenden Sätzen und evaluativen Äußerungen den kollektivgeschichtlichen Hintergrund der Russlanddeutschen (Z. 1-19). Sie lässt dann eine kurze Erzählung folgen, in der sie ein persönliches Wiederentdeckungserleben deutscher Kultur schildert; in der Erzählkoda zweifelt sie dann prinzipiell den Erhalt überlieferter Kulturgüter in Deutschland an (Z. 19-39). Hieran knüpft Martha (GM, die Urgroßmutter in der Familie) mit einer vergleichenden Aussage über kulturerhaltende Leistungen ihrer Herkunftskollektivität und dem heutigen Deutschland an. Sie präsentiert sich auch als Trägerin deutschen Kulturerbes und wird dabei von ihrer Tochter unterstützt (Z. 40-64). Martha und Anna lassen dann Äußerungen folgen, die die kulturerhaltenden Leistungen ihrer Herkunftsgemeinschaft würdigen und in ihrer Bedeutsamkeit für die eigene Lebenssituation bewerten (Z. 65-116). In diesem Zusammenhang präsentiert sich Anna quasi als in der deutschen Sprache beheimatet. Hieran schließen sich Nachfragen der Gäste zu den Dialektkompetenzen der beiden Hauptsprecherinnen an (Z. 117-145). Strukturelle Beschreibung Z. 1-19: Anna spricht über die Wanderungsgeschichte der Russlanddeutschen, sie stellt eine Zeitspanne von über 300 Jahren heraus [soviel "jahrdas sin doch * jahrhundert s=ist nicht "ein jahr un nicht "zehn und auch nicht "hundert s: =sind äh dreihundert über dreihundert jahre; Z. 1-4], 132 Ihre betonte Sprechweise (Z. 2-3) und die Angabe dieser Zeitspanne in Form einer steigernden Aufzählung (Klimax) präsentieren den Zuhörern diesen Zeitraum als ein imposantes Faktum. Anna zeigt mit ihrer markierten Sprechweise aber auch Respekt gegenüber dem dargestellten Faktum an. Aus dem Gesprächskontext heraus ist klar, dass hier der Zeitpunkt der Auswanderung von Deutschen nach Russland gemeint ist. Anna räumt Abweichungen von der angegebenen Zeitspanne ein und lässt dann eine Äußerung folgen, die Leistungen 132 Für vemachlässigbar halte ich, dass Anna bei der Datierung der Auswanderung von deutschen Vorfahren nach Russland großzügig aufrundet. Wie bereits erwähnt, setzten Wanderungsbewegungen größeren Ausmaßes nach 1763 ein. <?page no="120"?> 120 Anssiedler treffen aufEinheimische des Bewahrens und Erhaltens fokussiert, ohne dabei näher darauf einzugehen, was erhalten wurde [aber eigentlich des is alles erhalten worden; Z. 9-10], Den in Rede stehenden kollektivgeschichtlichen Zusammenhang charakterisiert sie hier als einen, der sich durch den Erhalt von kulturellen Besonderheiten, die einst von Deutschland nach Russland transferiert wurden, auszeichnet. Der Bezug auf die ursprüngliche (deutsche) Kultur, die nach Annas Behauptung erhalten wurde, wird in dem indexikalischen Ausdruck des realisiert. Anna spricht mit Stolz vom Bewahren und Aufrechterhalten kultureller Eigenschaften vom Zeitpunkt der Auswanderungsbewegung von Deutschland nach Russland bis in die Gegenwart. In dann folgenden Äußerungen markiert sie eine würdigende Haltung gegenüber Leistungen der Bewahrung deutscher Kultur: - Anna drückt Erstaunen und Verwunderung darüber aus, dass alles erhalten worden ist; dabei bearbeitet sie mittels eines bestätigungsheischenden dialektalen Partikels auch die Übernahme ihrer Perspektive durch das Besucherpaar [des muss man sich äh nur in äh "wundern weil des so geblieben is gel; Z. 10 u. 12] und evoziert von BM eine Reaktion, die Sinneinverständnis bekundet [allerdings ja; Z. 15], - Anna meint, dass ihre Vorgänger 133 sich in besonderer Weise verdient gemacht hätten; dies macht sie dadurch deutlich, dass sie jedem dieser Vorgänger ein Denkmal zuspricht. Anna drückt damit nicht nur eine allgemeine Wertschätzung gegenüber den Vorfahren aus; die zugedachte Denkmalsetzung sowie die Modalisierung dieser Äußerung als sprecherseitiges Urteilen [und ich sag schon; Z. 14] deuten auch auf eine biografisch verfestigte Haltung gegenüber der Herkunftsgemeinschaft hin, die von tiefergehenden Dankbarkeits- und Ehrerbietungsgefiihlen geprägt ist. Z. 19-39: Nach Rezeptionssignalen des Besucherpaares entsteht eine Pause von gut drei Sekunden. Anna fährt dann fort mit einer Erzählung, die die Wiederentdeckung eines ihr vertrauten Kinderreimes in Deutschland zum Gegenstand hat (Z. 19-37). Der Erzählung ist zu entnehmen, dass sie am Vortag in der Straßenbahn eine Spielkommunikation zwischen einem Vater und seinem Kind verfolgt hat. Anna gibt diese miterlebte Szene wieder, in- 133 Es wird an dieser Stelle (Z. 14-18) nicht klar, ob Anna Vorfahren aus der eigenen Familie oder aus der Gesamtgemeinschaft der Russlanddeutschen im Sinn hat. <?page no="121"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 121 dem sie das Aufsagen des Kinderreimes imitiert; nach der nicht ganz zu Ende geführten Wiedergabe schildert sie ihre Gedanken, die sie bei der Beobachtung dieser Szene hatte. Offenbar hat die Vater-Kind-Kommunikation in der Straßenbahn bei ihr Erinnerungen an die eigene Kindheit bzw. an eigene Mutter-Kind-Spiele wachgerufen. Die expandierte Interjektion ach gott im himmei, mit der sie ihre erste Reaktion auf diese Wiederbegegnung charakterisiert, deutet daraufhin, dass dieses Vater-Kind-Spiel sie emotional sehr bewegt hat. Die nachfolgenden Äußerungen enthalten eine Bedeutungsambivalenz: Die Vergleichssätze in Z. 35-36 deuten daraufhin, dass Anna in der beobachteten Situation Parallelen zu eigenen Aneignungskontexten [wie die mutter uns es gesagt hat-] und zu eigenen Tradierungspraktiken [wie wir=s unser kinder erklärt haben] gesehen hat. Die Wiedergabe ihrer gedanklichen Verarbeitung der Spielsituation lässt die Deutung zu, dass sie diese Situation auch als Erfüllung von Prophezeiungen erlebt hat. Annas Erzählung hat Belegfunktion für die zuvor allgemein behaupteten kulturbewahrenden Leistungen ihrer Vorgänger und dokumentiert, dass sie selbst in dieser Tradition steht. In der anschließenden Erzählkoda (Z. 37-38) drückt Anna die Vermutung aus, dass die hiesige (deutsche) Gesellschaft vom Kulturgut ihrer Vorfahren nicht viel erhalten habe. Im Darstellungsgang leistet dieser Erzählkommentar eine Einstufung der Episode in der Straßenbahn als Ausnahmeerscheinung. 1 ' 4 Z. 40-64: Martha knüpft an Annas globale Behauptung zum Erhalt des kulturell Überlieferten an und spitzt den von ihrer Tochter geäußerten Gedanken auf die Behauptung zu, dass die Wir-Gemeinschaft, der sie in Russland angehörte, dort mehr von deutschland erhalten habe als die deutschen hier. Die Äußerung, in der Martha diese Behauptung aufstellt, überschneidet sich mit mehreren j a-Äußerungen von Anna, auch lässt sie in einer kurzen Redepause ihrer Mutter ein ja sowie im Anschluss an Marthas Rede ein jaja folgen. Auch BM reagiert mit ja-Äußerungen (Z. 43). Während sie bei ihm die Funktion von Rezeptionssignalen haben, bekräftigen Annas ja- Äußerungen vehement die Behauptung ihrer Mutter, die diese bezüglich des Erhalts deutscher Kultur aufgestellt hat. Als Beleg für ihre Behauptung führt Martha dann selbst an, nicht weniger als 20 Lieder zu kennen, die deutschen 134 Durch das aber in Z. 37 [aber vieles war glaub=ich habe sie hier nicht erhalten] definiert Anna retrospektiv das Erlebnis in der Straßenbahn als eine Ausnahmeerscheinung. <?page no="122"?> 122 Aussiedler treffen aufEinheimische Ursprungs seien. Sie gibt die Herkunft dieser Lieder an [von "deutschland sin * nach russland gebracht; Z. 46] und weist sich damit als Trägerin deutschen Kulturerbes aus, das sie Deutschland gleichsam zurückgeben kann (Z. 44-49). Martha fährt mit einer Äußerung fort, die als Einschränkung der zuvor aufgestellten Behauptung verstehbar ist bzw. als Hinweis darauf, dass in der eigenen Herkunftsgemeinschaft durchaus auch Verlust deutschen Kulturerbes stattgetunden hat [nur nadirlich (er) sind (fortgestiegen) jetzt-; Z. 49 u. 51], Anna bestätigt die Äußerungen ihrer Mutter, die dann nochmals den deutschen Ursprung der Lieder, die sie kennt, bekräftigt. Weiter hebt Martha die Relevanz dieser Liedtexte für ihre kollektive Identität hervor, quasi als Beleg für ihre Verwurzelung in deutscher Kultur, und für ihre Deutschstämmigkeit führt die Urgroßmutter hier die Beherrschung von Liedgut an [die "Worte do drin erinnernein: dass sie von deutschland sin; Z. 54 u. 58], Wieder äußert sich Anna unterstützend, sie bekräftigt erneut, dass ihre Mutter viele Lieder (deutschen Ursprungs) kenne, dass sie viel singe und auch viele Gedichte und Goethe kenne. Als ein weiterer Zug, der die Beherrschung deutschen Liedguts bekräftigt, kann angesehen werden, dass in Z. 57 jemand anfängt, eine Melodie zu summen. Z. 65-116: Im Fortgang des Gesprächs formuliert Martha eine prinzipielle Haltung zur jetzigen Situation in Deutschland. Sie verwendet die Wir- Kategorie und betont, dass die in Rede stehende Gemeinschaft voller Stolz auf das Erreichte ist (gemeint ist hier, es geschafft zu haben, nach Deutschland zu kommen und hier jetzt leben zu können). Die nachfolgenden Äußerungen enthalten Begründungen für den Stolz auf das Erreichte. Martha nimmt darin Bezug auf die ältere Generation der Russlanddeutschen (weil sie nicht sofort dass deutsche Wort generation parat hat, leistet Anna ihrer Mutter hier Formulierungshilfe). Weiter macht sie darauf aufmerksam, dass ein großer Teil aus ihrer Generation das Erleben, das sie und ihre Angehörigen jetzt haben, nicht haben können, weil sie auf unwürdige Weise ums Leben gekommen sind. Unter Hinweis auf viele aus ihrer Generation, die nicht überlebt haben, kennzeichnet Martha den kollektivgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang, aus dem heraus sie die Jetzt-Situation in Deutschland erlebt und beurteilt. Deutlich wird hier: Im Vergleich mit anderen aus ihrer Generation, die ein viel schwereres, existenzvernichtendes Schicksal erlitten haben, begreift sie sich als jemand, der das Glück hatte zu überleben. Ihren Äußerungen ist weiter zu entnehmen, dass sie dieses Glück einem praktischen Lebensumstand [ein heim gefunden; Z. 88] und göttli- <?page no="123"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 123 eher Fügung zuschreibt [uns hat=s (gott gegeben) Z. 91], An dieser Stelle meldet die Tochter Widerspruch an [nein mama-; Z. 90]. Gegenüber der Darstellung ihrer Mutter nimmt Anna aber keine faktisch widersprechende Darstellung vor. Ihre Äußerungen zielen vielmehr darauf, das am Anfang entwickelte Bild einer Herkunftsgemeinschaft, die sich um den Erhalt der deutschen Kultur verdient gemacht hat, aufrechtzuerhalten. Zu diesem Schritt der Aufrechterhaltung einer konsistenten Selbstpräsentation sieht Anna sich offenbar veranlasst, da in den Darstellungen ihrer Mutter das Erreichte lediglich als eine glückliche Fügung (vgl. Z. 67 und 88) und als Gottesgabe (Z. 91) ausgewiesen wurde. Für Anna würdigt eine solche Einordnung die Leistungen nicht angemessen, die den Erhalt des deutschen Menschen in Russland sichergestellt haben. Während die Großmutter den Gästen zeigt, wie sie auf ihr Leben in Deutschland blickt, nämlich mit Stolz und in der Haltung der glücklich Davongekommenen bzw. in dem Bewusstsein, etwas zu durchleben, was viele ihrer Kollektivgemeinschaft nicht mehr erleben können, fokussiert Anna den Erhalt des deutschen Menschen als Verdienst der elterlichen und großelterlichen Generation [nicht "wir ihr un=äh d/ die großeitern-* die haben alles erhalten was zum deutschen mensch gehert gell; Z. 94-97], Anna ist offensichtlich bemüht, das Erreichte das jetzige Leben in Deutschland als etwas auszuweisen, das ein generationenübergreifendes Gemeinschaftsleben in deutschen Kulturbezügen zur Voraussetzung hat. Den Aktivitäten zur Akzentuierung der Anstrengungen, die die Großeltern zum Erhalt des deutschen Menschen erbracht haben, lässt Anna Äußerungen folgen, denen Belegfunktion für das vorher Gesagte zukommt. Sie legt ihre Kompetenzen in der deutschen Sprache dar, indem sie zunächst eingesteht, dass ihr der Gebrauch des Hochdeutschen nicht leicht fällt, dann aber mit adversativem Redeanschluss hervorhebt, dass sie im Gebrauch eines deutschen Dialekts versierter ist [aber * diaiekt sprechen * de=i/ des=is * wie wie; Z. 114 u. 115], 135 Zu erkennen ist hier, dass das Dialektsprechen für Anna ein viel authentischeres Zeugnis deutscher Kulturzugehörigkeit darstellt als das Sprechen des Hochdeutschen bzw. 135 Der Urgroßvater (GV) scheint den Dialekt, der in der Familie gesprochen wird, als so different zu dem Deutsch der Gäste anzusehen, dass er ihn für nicht verstehbar für das einheimische Besucherpaar hält; siehe die leise gesprochen Äußerunguns verstehschde ned in Z. 126. <?page no="124"?> 124 Aussiedler treffen aufEinheimische der Standardsprache. Eine Frageinitiative des BM hält Anna möglicherweise davon ab, die Äußerung zu komplettieren, in der sie ansetzt, den subjektiven Wert des Dialektsprechens zu charakterisieren. Auf alle Fälle wird hier offenkundig, dass für Anna die Beherrschung des Dialekts ein wesentliches Moment des Kulturerhalts darstellt. Z. 117-145: Die Frage des BM zielt auf die Art des Dialekts, in dem Anna sich kompetent fühlt. Anna beantwortet diese Frage unter Verweis auf Gemeinsamkeiten mit dem regionalen Dialekt ihres jetzigen Wohnortes. Anschließend setzt ihre Mutter zu einer Hintergrunderklärung bezüglich der Dialektkompetenz ihrer Tochter an, die wiederum Anna dazu veranlasst, die Verantwortlichkeit für diese Erklärungsaktivität zu übernehmen. In dieser Erklärung wird deutlich, dass Anna den Dialekt ihrer Schwiegermutter übernommen hat, der dem ihres Vaters nicht unähnlich zu sein scheint (vgl. Z. 135-136). Auch in diesem Zusammenhang markiert Anna eine Dankbarkeitshaltung, hier explizit gegenüber ihrer Schwiegermutter. Für das sprachbiografische Phänomen, dass sie den Dialekt der Schwiegermutter spricht, aber nicht den ihrer Mutter, fehlt es Anna an Erklärungsmöglichkeiten. Nachdem sie Auskunft über ihre Dialektkompetenz gegeben hat, erkundigt sich BW nach dem Dialekt der Großmutter. Ihre Frageinitiative was spricht die mutter für ein dialektwas auch schwä/ äh was für eine- (Z. 140 u. 141) ist nicht explizit an die Großmutter adressiert. Es entsteht vorübergehend ein Kontext des Sprechens über die Großmutter, da Anna sich veranlasst sieht, auf die Nachfrage zur Dialektkompetenz der Mutter zu reagieren. BW fonnuliert ihre Frage allerdings mit sehr leiser Stimme, so dass sie möglicherweise von der Großmutter auch gar nicht gehört wurde. Jedenfalls reagiert Martha nicht auf die Frage zu ihrem Dialekt, sondern geht zu Erzählaktivitäten mit neuem thematischen Fokus über (vgl. Z. 144ff). Analytischer Kommentar: Die Aktivitäten Annas und Marthas zu Beginn des Zusammentreffens mit den einheimischen Besuchern sind davon bestimmt, die familiale Lebenssituation in Deutschland zu legitimieren 136 und den Besuchern verständlich zu machen. Die beiden Hauptsprecherinnen im Familienensemble sind bemüht, den Gästen kollektivgeschichtliche Hin- „Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind.“ (Berger/ Luckmann 1969, S. 100; Hervorhebungen im Original). 136 <?page no="125"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 125 tergründe aufzuzeigen, aus denen heraus es ihnen möglich ist, sich mit Deutschland verbunden zu fühlen und eine kulturelle Identität als Deutsche vorweisen zu können. Dabei kann der von Anna und Martha zu Beginn des GASTMAHLS in Gang gesetzte Prozess der Selbstthematisierung auf einem Vorwissen über diesbezügliche thematische Interessen der Gäste aufbauen. Martha und Anna nehmen Selbstpräsentationen als Trägerinnen spezifisch deutscher Kulturelemente (Liedgut, Dichter, Sprachbeherrschung) vor. In einer Kennenlernsituation einheimischer Gäste, die im ‘Home Frame’ einer Aussiedlerfamilie stattfmdet, wird also zu Mitteln der Selbstpräsentation gegriffen, die deutliche Parallelen zu den im Aufnahme- und Anerkennungsverfahren geforderten Nachweisen der Deutschstämmigkeit und des gelebten Bekenntnisses zum Deutschtum aufweisen (vgl. Kap. 2.). Die Herausarbeitung des Erhalts deutschen Kulturerbes steht bei Anna im Vordergrund. Indem sie den thematischen Fokus Kulturbewahrung/ kulturerhaltende Leistungen gegenüber den Identitätsbekundungen ihrer Mutter als glücklich Davongekommene durchhält, tritt der Aspekt des Erhalts deutschen Kulturerbes auf russischem bzw. auf feindseligem Territorium (und unter extrem schweren Bedingungen) als Leistung ihrer Wir-Gemeinschaft stärker hervor. Dieser Thematisierungsrahmen eröffnet ihr zugleich Möglichkeiten, ihre eigene Teilhabe an diesem Kulturerbe herauszustellen. Anna präsentiert sich als Deutsche, indem sie die Beherrschung eines deutschen Dialekts betont und indem sie Vertrautheit mit deutscher Kultur anhand eines Wiederentdeckungserlebnisses (Kinderreim) demonstriert. Sie präsentiert sich aber auch als Angehörige einer besonderen Wir- Gemeinschaft, als Angehörige einer Kollektivität, die zwar in Differenz zu den hiesigen Deutschen gelebt hat, die aber unter erschwerten Bedingungen deutsches Kulturgut tradiert und somit auch an einer kulturellen Identität als Deutsche festgehalten hat. Annas Selbstpräsentation lässt erkennen, wie sie den kollektivgeschichtlichen Erfahrungshintergrund für die Ausformung einer Identitäts- und Erlebnishaltung aufbereitet. Gegenüber dem Herkunftskollektiv werden Haltungen der Bewunderung, der Ehrfurcht und tief empfundenen Dankbarkeit eingenommen. Anna Klein versinnbildlicht diese Haltung, indem sie erklärt, ihren Vorfahren am liebsten ein Denkmal setzen zu wollen. Die Bewahrung des deutschen Menschen, die Erhaltung deutscher Sprache und Kultur erfüllen Anna und ihre Mutter ebenso mit Stolz wie das Überleben <?page no="126"?> 126 Aussiedler treffen aufEinheimische der schlimmen Jahre in Russland. Im Hinblick auf die eigene Menschwerdung wird tiefe Dankbarkeit empfunden bzw. gezeigt. In den Gesprächsaktivitäten zu Beginn des GASTMAHLS wird bei Anna ferner eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der Einschätzung kultureller Gemeinsamkeiten mit den Hiesigen erkennbar. Im Erzählen eines Erlebnisses, bei dem sie auf wohlvertrautes Kulturgut (Kinderreim) gestoßen ist, wird der Sprecherin auch eine prinzipielle Differenz zur Aufnahmegesellschaft bewusst. Hier offenbart sich Wissen um eine erwartungsdiskrepante Lebenssituation: Auf der Suche nach (deutschen) Kulturgütern, die es wieder zu entdecken gilt und die Gemeinsamkeiten mit dem mitgebrachten kulturellen Erbe verheißen, kommt es offenbar auch zu Enttäuschungen darüber, dass solche Erlebnisse wie in der Straßenbahn nur selten stattfmden. Anna unternimmt allerdings keine weiteren Anstrengungen, diese Erkenntnis zu vertiefen oder gegenüber dem Besucherehepaar zu problematisieren. Denkbar ist, dass sie Enttäuschungen, die ihr dieser Umstand bereitet, gegenüber den Gästen zurückhält. Martha greift zur Bearbeitung der Differenzen zwischen der Kollektivität der Deutschstämmigen in Russland und der bundesdeutschen Kollektivität auf ein Konzept als Kulturmittlerin und als Trägerin eines verloren gegangenen kulturellen Erbes zurück. 137 Bei beiden Sprecherinnen ist beobachtbar, dass sie deutsches Kulturerbe und deutschstämmige Vorfahren eigeninitiativ als Ressource der Situationsgestaltung einsetzen. Dabei haftet der Verwendung dieser Gestaltungsressource tendenziell ein Überkategorisierungszwang an, d.h., es ist ein ausgeprägtes Bemühen feststellbar, das ablaufende Geschehen einzig und allein in einem Relevanzbereich zu deuten und zu akzentuieren, nämlich im Relevanzbereich der Zugehörigkeit zur deutschen Kultur. Diese Tendenz zur Überkategorisierung taucht auch in Gesprächszusammenhängen, auf die hier nicht näher eingegangen wird, mehrfach auf. 4.3.3.2 Darstellung und Verarbeitung von Erfahrungen mit Einheimischen und Erzählungen zum Fremdheitserleben in der unmittelbaren Nachaussiedlungszeit Zunächst eine methodologische Vorbemerkung: Vor allem zu Beginn des GASTMAHLS dominiert das Kommunikationsschema des Erzählens; haupt- 137 Dass es sich dabei um ein Selbstkonzept handelt, für das es kaum bestätigende Nachfragestrukturen im Aufnahmeland gibt, sei nur am Rande erwähnt. <?page no="127"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 127 sächlich gestalten Anna und Martha mit abwechselnden und einander unterstützenden Erzählaktivitäten die Gesprächssituation bei Tisch. Es handelt sich bei diesen Erzählvorgängen aber nicht um ausgedehnte, biografisch detaillierte Erzählungen, wie sie beispielsweise im Rahmen narrrativer Interviews entwickelt werden. Es sind Erzählaktivitäten, die durch forscherseitige Interessen evoziert wurden, deren Realisierung aber auch stark durch Mitteilungsinteressen und -bedürfnisse der dominanten Sprecherinnen gegenüber einheimischen Gästen sowie durch eingespielte innerfamiliäre Kommunikationsroutinen bestimmt ist. In ihrer Funktion als kommunikative Verfahren der Ereignisrekonstruktion und der retrospektiven Erfahrungsverarbeitung lassen sich die unter solchen Bedingungen entwickelten Erzählformate aber durchaus zur Untersuchung von Identitäts- und Interaktionsproblematiken heranziehen. 138 Eine wichtige Realitätsebene, die sich mittels Erzählanalyse erfassen lässt, ist der Geschehensablauf von Situationen, über die Erzähler berichten bzw. die sie selbst erlebt haben. Für die von mir verfolgten Untersuchungsinteressen ist diese Ebene insofern von Belang, als mit der narrativen Wiedergabe von Begegnungen mit Einheimischen auch soziale Rahmen dieser Situationen, jeweils verwendete soziale Kategorisierungsmittel sowie Bedingungen der Reziprozitätskonstitution aufgezeigt werden. Meine Beobachtungen zu den narrativ wiedergegebenen Erstbegegnungen mit Binnendeutschen sind zunächst einmal auf die Ereignisgestalt gerichtet: rekonstruiert wird, was zwischen Einheimischen und Aussiedlern vor sich gegangen ist. Sodann interessiert die Erlebnisweise der Ereignisträgerinnen (der erzählenden Aussiedlerinnen) in den Situationen, über die sie berichten, also der Erfahrungsmodus des Fremdseins in den zurückliegenden Begegnungen. Eine zweite wichtige Ebene sozialer Wirklichkeit, die mittels der Analyse von Erzählaktivitäten aufgeschlossen werden kann, ist die Identitätsarbeit in der Erzählsituation, insbesondere die zu den dargestellten Ereignissen eingenommene Identitätshaltung. In Anlehnung an theoretisch-methodologische Fundierungen der Erzählforschung (Lehmann 1980; Schütze 1987a) lässt sich davon ausgehen, dass zurückliegenden Ereignissen, die in aktuellen Kommunikationssituationen dargestellt werden, aus gegenwärtigen Bewusst- 138 Ich orientiere mich hier an den kommunikationstheoretischen und methodologischen Überlegungen, die Schütze (1987a) für die Konzipierung des narrativen Interviews als sozialwissenschaftliche Untersuchungsmethode angestellt hat. <?page no="128"?> 128 Aussiedler treffen aufEinheimische seinslagen und unter Bezug auf aktuelle biografische Relevanzen Sinn verliehen wird, ln der narrativen Aufbereitung des Selbsterlebten erfolgt eine nachträgliche Auseinandersetzung des Erzählers mit thematisierten Handlungs- und Erleidensprozessen. Die Erzählsituation wird vom Betroffenen dabei unter Aspekten der Selbstvergewisserung der erfahrenen Identitätsveränderung gestaltet. Charakteristisch hierfür sind evaluative Stellungnahmen und selbsttheoretische Kommentare. Damit sind Äußerungen im Erzählvorgang gemeint, in denen der Erzähler seinen innerweltlichen Verarbeitungsstand und seine eigene Erkenntnishaltung bezüglich der selbst erlebten Ereignisse deutlich macht. Zurück zum Interaktionstranskript GASTMAHL: Im Verlauf des Tischgesprächs folgt im unmittelbaren Anschluss an den vom wiedergegebenen Transkriptionsausschnitt (Z. 1-145) eine Passage, in der Erzählaktivitäten der Großmutter dominant werden. Gegenstand ihrer Erzählungen sind Begegnungen mit Einheimischen. In einer ersten kurzen Erzählung zeigt sie auf, wie im Rahmen einer Weihnachtsfeier das Bekanntwerden ihrer Herkunft aus Russland in einen Annäherungs- und Verständigungsprozess mit Einheimischen einmündet (Erzählung „... ob wir von Polen sind? “). Diese Begebenheit kontrastiert die Erzählerin dann mit einer Begegnung, bei der ebenfalls die Herkunft aus Russland thematisch wurde, aber in einer Weise, die den Versuch der Kommunikationsaufnahme mit einer Einheimischen für die Erzählerin zu einer missglückten Initiative macht (Erzählung ,Jn Russland ist mein Mann geblieben ...“). „ ... ob wir von Polen sind? “' 39 Herkunftskategorisierung und sukzessiver Aufbau von Interaktionsreziprozität 138 AN: weiß=ich nicht warum es so kommen isti 139 BM: aha aha 140 BW: was 139 In Überschriften für Transkriptionssegmente bzw. für Teilkapitel verwende ich Äußerungszitate aus den Gesprächsmaterialien; aus Gründen der besseren Lesbarkeit schreibe ich diese Zitate nach schriftsprachlichen Konventionen. Ich verwende dabei doppelte Anführungszeichen, um anzuzeigen, dass es sich um Formulierungen aus dem Gesprächstranskript handelt und um den Zitatcharakter deutlicher hervor treten zu lassen. <?page no="129"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 129 141 BW: 142 K 143 AN: 144 GM: 145 BW: 146 GM: 147 GM: 148 K 149 BW: 150 GM: 151 BW: 152 GM: 153 K 154 BW: 155 GM: 156 K 157 GM: 158 K 159 GM: 160 AN: 161 GM: 162 GM: 163 K 164 GM: 165 BM: 166 K& 167 GM: 168 K 169 GM: 170 K 171 BM: 172 GM: 173 GM: 174 GM: 175 GM: spricht die mutter für=ein dialektwas #auch# #GEWISPERT# I neinj, I mir haben sie wir waren ** schwä/ was |(für)| eine auf=m weihnachtsfest genötigt worden * in "diesem jahr nicht im #vorigen # jahrj, und da kamen #KLOPFT AUF TISCH# hmhm wir zusammenso mit (d=leut? drei) deutsche alte hmhm ttäjnwohnerj,# nu da war platzs=hab=ich gesagt- #DIALEKTAL: EINWOHNER# ja ob mer sich darf hinsetzedie habe ttjawohl# #REDEWIEDERGABE# sajen sej- #dann ham wir uns hingesetzt-# #VERHEISSUNGSVOLL, LEISER # er kein wort un=ich kein wortdie haben unter sich | haben sich unterhaltengesprochen- I ATMET EIN und wir waren still-| #wir warn doch fremd-# *1,5* dann sagt die frauft ERKLÄREND # #uf ob wir von polen sinich sag neinl# hmhm ftGEFLÜSTER IM HINTERGRUND # ob rumynien- #ne: in-# ich sag wir sind von russlandl ftENERGISCH# #ach so-# un=dann ware die ftlMITIEREND: LEICHTES BEFREMDEN# hmhm hmhm manner gleich * aufgeregtj, ** der eine war de alle drei ware se in krieg gewesein russlandder eine war au=de wolga geweseder ander war am schwarze meer gewese- * do bei Stalingrad- <?page no="130"?> 130 Aussiedler treffen aufEinheimische 176 GM: 177 GM: 178 GM: 179 BW: 180 GM: 181 K 182 GM: 183 BM: 184 GM: 185 K 186 AN: 187 K 188 GM: 189 BM: 190 GM: 191 K 192 BM: 193 GM: 194 BM: 195 NN: un=der dritte war * (no? nur) ich hab=s vergessei aber * alle ware=se un sie sind * am leben zurückgekommj, und=da ware=s: =so froh mit unshm wir habe * #(vielePfrüher) leit# hier in deutschland #BETONT # getroffegleich wie wir kameni wie=se gehert ja habe dass mir #russlanddeutsche sin-# habe=se auf uns: #VERNUSCHELT # |#schie: f geguckti #| |LACHT| #SCHARF, POINTIERT# ** nich gut | geschaut | hmhm |was | was warn alte #äjnwohner-# #EINWOHNER # das denn für leutealso leute f/ ähm wie | (...) | |voni | hier von deutschland hmhm | auch | voni | deutsch (en) 4, | Zum Gesprächskontext: Anna war im vorausgegangenen Segment kurz auf eine Begegnung mit Einheimischen (Vater-Kind-Szene in der Straßenbahn) zu sprechen gekommen. Dass nun ihre Mutter Erfahrungen mit Einheimischen zur Sprache bringt, ist vermutlich dadurch begünstigt worden, dass sie über thematische Interessen der Besucher vororientiert war. Zugleich aber dürfte Marthas Einstieg in das Erzählschema auch Ausdruck eines starken Eigeninteresses sein, über solche Zusammentreffen zu reden. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf den gesprächslokalen Kontext hingewiesen, in dem Martha das Erzählschema enaktiert (Z. 141-146): Das Überhören oder auch Übergehen der Frage nach ihrem Dialekt spricht dafür, dass Martha einer Aktivitätsorientierung folgt, die die Darstellung von Selbsterlebtem und das Reden über die eigene Lebenswirklichkeit als vorrangige kommunikative Aufgabe ansieht. Rekonstruktion des erzählten Ereignisses (Z. 144-179): Martha gibt einen Ereignisablauf wieder, der sie gemeinsam mit ihrem Ehemann zunächst in eine Situation extremen Fremdseins geführt hat. Im weiteren Verlauf ist <?page no="131"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 131 dieses Fremdheitserleben dann dadurch abgemildert worden, dass die mitanwesenden Einheimischen den Fremdheitsstatus thematisiert haben. Martha beginnt ihre Erzählung damit, den Ereignisrahmen zu benennen und zeitlich zu lokalisieren, in dem sie mit einheimischen Deutschen zusammengekommen ist. Die Formulierung wir waren ** auf=m weihnachtsfest genötigt worden (Z. 144 u. 146) enthält mit dem genötigt eine für den hiesigen Sprachgebrauch ungewöhnliche Wortwahl; sie besagt, dass die Ereignisträger zu einer Weihnachtsfeier eingeladen worden sind. Auf der Grundlage meiner Einblicke in die Arbeit der Aussiedlerbetreuer vermute ich, dass es sich um eine Weihnachtsfeier handelte, zu der örtliche Wohlfahrtsverbände oder Kirchengemeinden sowohl einheimische Bürger als auch Aussiedler eingeladen hatten. In knappen Erzählsätzen und mittels direkter Redewiedergabe macht Martha das Bekanntwerden mit den alteingesessenen Einwohnern atmosphärisch präsent. Drei Annäherungs-Stadien werden dabei erkennbar: 1) Starkes Befremden und kommunikative Zurückhaltung nach Platznahme des Aussiedlerehepaares; 2) Herstellung eines Gesprächskontakts durch Fragen nach dem Herkunftsland des fremden Ehepaares; 3) Vertiefung der Kommunikation nach Bekanntwerden der Herkunft aus Russland. Zum ersten Annäherungsstadium: Dem Erzählanfang lässt sich entnehmen, dass die Erzählerin und ihr Mann mit Einheimischen in Kontakt getreten sind, als sie sich unter den schon versammelten Gästen einen Platz suchen mussten. Martha hat dann zu diesen älteren deutschen Einwohnern' 40 Kontakt hergestellt, indem sie sich nach freien Sitzplätzen erkundigte. Da es sich um alteingesessene Deutsche handelte, war diese Erlaubniseinholung für das 140 Die Kategorie alte äjnwohner, die Martha in Zeile 150 u. 152 gebraucht, kann sich sowohl auf das Lebensalter dieser Einwohner als auch auf ihren Status als Alteingesessene beziehen (dass die Erzählerin hier von Einwohnern spricht, die wie sie selbst und ihr Ehemann älteren Jahrgangs sind, geht aus der später erwähnten Kriegsteilnahme der einheimischen Männer hervor). Der Ereignisrahmen, von dem hier die Rede ist - Aussiedler sind zu Gast bei einer Veranstaltung, auf der sie auf Einheimische treffen legt es nahe, dass Martha mit dem Ausdruck alte äjnwohner den Status der Alteingessenen, der ‘richtigen Deutschen’ markiert. <?page no="132"?> 132 Aussiedler treffen aufEinheimische russlanddeutsche Ehepaar wohl in besonderem Maße prekär, hierauf deutet die Wiedergabe eines Frageformats hin, mit dem Martha die Einnahme der Sitzplätze als einen von anderen zu billigenden Vorgang kennzeichnet [ob mer sich darf hinsetze-; Z. 155]. Nachdem sie sich gesetzt hatten, waren Martha und ihr Mann vorübergehend still und passiv, wie der elliptischen Formulierung er kein wort und ich kein wort (Z. 159) zu entnehmen ist. Infolge der Einnahme der Sitzplätze durch das Aussiedlerpaar entstand eine beklemmende Situation, mit der die schon sitzenden Einheimischen zunächst nicht anders umzugehen wussten, als untereinander eine Unterhaltung zu beginnen bzw. fortzusetzen. Die Charakterisierung des Gespräches unter den Einheimischen als die haben unter sich gesprochen- und wir waren still (Z. 159 u. 161) lässt vermuten, dass Martha und ihr Mann die Unterhaltung als Gesprächsreservat (Goffman 1982) der Alteingesessenen wahrgenommen und respektiert haben. Der im Tonfall der Entrüstung eingeschobene Erzählkommentar wir warn doch fremd- (Z. 162) lässt zwei verschiedene Deutungen zum Schweigeverhalten des Aussiedlerpaares zu: Ihre Fremdheitsgefühle waren so mächtig, dass sie nicht anders konnten, als still zu sein. Oder: Weil sie Fremde waren, haben sie es als geboten erachtet, zu schweigen und abzuwarten, dass sie von den Ortsansässigen angesprochen werden. Die Tatsache, dass es sich um Marthas erste Erzählung zu Begegnungen mit Einheimischen handelt, sowie der Erzählaufwand, den sie hier betreibt, um das Eintreten von „Funkstille“ zwischen der Gruppe der älteren Einheimischen und dem russlanddeutschen Ehepaar wiederzugeben, sagen etwas über ihre Erlebnisweise und über die Art ihrer Situationsorientierung in der Begegnung mit Einheimischen aus. Ihre Erzählaktivitäten bereiten das Zusammentreffen mit den älteren Einheimischen als ein zumindest für die Anfangszeit prototypisches Erleben des Zusammentreffens mit Hiesigen auf. Und es werden Vorstellungen hinsichtlich der Verteilung elementarer Aktivitätsrechte und -pflichten in Begegnungen mit Einheimischen sichtbar. Aus Marthas Erzählung geht ja nicht nur hervor, dass mit dem Zusammentreffen der beiden Gruppen eine für alle Beteiligten befremdliche Situation entstanden ist. Die Erzählerin macht auch deutlich, dass sie (und ihr Mann) als russlanddeutsche Aussiedler sich außerstande gesehen haben, den Fremdheitsabbau zu initiieren. Ferner wird deutlich, dass Martha es als Obliegenheit der Einheimischen ansah, den sozialen Annäherungsprozess zu regulieren und mehr aus dem Zusammentreffen zu machen. <?page no="133"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 133 Zum zweiten Annäherungsstadium, Herstellung eines Gesprächskontakts durch Fragen nach dem Herkunftsland des fremden Ehepaares: Der Erzählung lässt sich weiter entnehmen, dass nach einiger Zeit eine einheimische Frau, die mit an diesem Platz gesessen haben muss, das fremde Ehepaar angesprochen hat. Aus der Wiedergabe der Kontaktinitiative geht hervor, dass die Frau die Herkunft aus einem osteuropäischen Land abgefragt hat. Naheliegend ist, dass die Frau mit dieser Form der Kontaktaufnahme eine auch nach ihrem Empfinden steife oder verkrampfte Situation auflösen wollte. Wenn sie nicht schon ein gewisses Vorwissen darüber hatte, dass an der Weihnachtsfeier auch Menschen aus den Hauptherkunftsgebieten der Aussiedler teilnehmen (hierfür spricht, dass sie nach Herkunft aus Polen bzw. aus Rumänien gefragt hat), war es wohl das äußere Erscheinungsbild des russlanddeutschen Ehepaares, das die Frau zu diesen Fragen veranlasst hat. Die Erkundigungen nach dem Herkunftsland sind abgeschlossen worden mit der Nennung Russlands als dem Land, aus dem Martha und ihr Begleiter stammen. Der Erzählabschnitt enthält auch eine Wiedergabe der Reaktion, die seitens der einheimischen Frau auf Nennung dieses Herkunftslandes gezeigt wurde: Das ach soin Z. 169 gibt fremde Rede wieder. In der damaligen Situation scheint dieses Antwortverhalten wie ein Distanzierungs- oder Rückzugssignal auf Martha gewirkt zu haben; diesen Eindruck erweckt jedenfalls die Intonationskontur dieses imitierenden Äußerungsverhaltens. Zum dritten Annäherungsstadium, Vertiefung der Kommunikation nach Bekanntwerden der Herkunft aus Russland: Die Erzählung zum Zusammentreffen mit älteren Einheimischen anlässlich einer Weihnachtsfeier enthält ferner Hinweise auf einen Ausbau der Kommunikationssituation, nachdem die Einheimischen erfahren hatten, dass das fremde Ehepaar aus Russland stammt. Marthas Schilderung lässt erkennen, dass die Selbstidentifizierung als Leute aus Russland als Themenpotenzial fungiert hat, das akzeptiertes und geselliges Beisammensein im Rahmen der Weihnachtsfeier ermöglicht hat. Unter den älteren deutschen Einwohnern wurden nach Bekanntwerden des Herkunftslandes der beiden Fremden biografische Bezüge zu Russland aufgedeckt: Alle drei Männer waren während des Krieges dort im Einsatz. Vorstellbar ist, dass während der Weihnachtsfeier über die Russlanderfahrungen dieser Männer und das Überleben des Zweiten Weltkrieges gesprochen wurde, und die Alteingesessenen und das Aussiedlerehepaar so eine gemeinsame Verständigungsbasis finden konnten. Den weiteren Verlauf dieses Zusammentreffens mit Einheimischen charakterisiert die Erzählerin mit den Worten <?page no="134"?> 134 Aussiedler treffen aufEinheimische un=dann ware=s: so froh mit uns- (Z. 178). Die Herkunft des fremden Ehepaares aus Russland hat so viel lässt diese Äußerung erkennen einen Thematisierungshorizont eröffnet, der in wechselseitiger Akzeptanz und mit gleichsinnigen Themenbezügen ausgefüllt werden konnte. Zum Erzählkommentar Z. 180-195: Nach der Erzählung zum Zusammentreffen mit Einheimischen lässt Martha einen kodaartigen Erzählkommentar folgen [wir habe * (viele? früher) leit hier in deutschland getroffegleich wie wir kamen wie=se gehert habe dass mir russlanddeutsche sinhabe=se auf uns: ** nich gut geschaut; Z. 180-188]. Im Stile einer generellen Erfahrungsauswertung formuliert sie, wie andere Einheimische auf sie - Martha spricht hier in der Wir-Form als Russlanddeutsche reagiert haben. An ihrer generalisierenden Kennzeichnung der Haltung der Einheimischen als uns ** nicht gut geschaut - und auch an der Umformulierung, die Anna an dieser Stelle äußerungsunterstützend bzw. -präzisierend leistet [schie: f geguckt; Z. 186] wird deutlich, dass sie sich in diesen Begegnungen beargwöhnt und diskriminiert gefühlt hat. Diese generelle Charakterisierung der Reaktionsweisen bei vielen anderen Einheimischen steht im Kontrast zu der zuvor geschilderten Erfahrung. Der Status eines überraschenden und erfreulichen Ausnahmeerlebnisses, den die Begebenheit auf der Weihnachtsfeier für das Aussiedlerpaar hatte, wird so unmissverständlich deutlich. BM stellt noch eine Nachfrage zu den Leuten, über die die Erzählerin global gesprochen hat (Z. 189 u. 192); Martha belässt es aber bei einer Antwort, die wieder nur allgemein auf den Status der Alteingesessenen verweist [alte äjnwohner-]. In Belegfunktion für die eben geschilderten Ressentiments unter Einheimischen folgt im weiteren Verlauf des Tischgespräches eine zweite Erzählung Marthas. "/ / i Russland ist mein Mann geblieben Herkunftskategorisierung und Verweigerung von Interaktionsreziprozität 193 GM: 194 BM: | (...) | |vonf | 195 NN: |auch | vonf|deutsch(en)f| hier von deutschland hmhm wie 196 AN: 197 GM: wir im erste lager warein * wonningen jahmhm dann sin <?page no="135"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 135 198 GM: 199 BM: 200 GM: 201 GM: 202 GM: 203 GM: 204 GM: 205 BM: 206 GM: 207 GM: 208 K 209 GM: 210 K 211 GM: 212 K 213 GM: 214 K 215 GM: 216 K 217 Ü 218 GM: 219 K 220 BM: 221 BW: 222 GM: 223 K 224 BM: 225 GM: 226 K 227 GM: 228 K 229 BW: 230 GM: 231 Ü 232 K 233 BM: wir dort nausgerannt von unte | do|rtwir wußten nich wo |hm | wir hin sollten- ** er hat ein s: ind wir zu zweit mi=m mann (gang-) hat eine frau (dort? da im) garte geschafft^ * gearbeiti ** dann sind wir stehengebliebenl * hab=n=se (schaukommts auch nichtj,) *2* nu was für=a mansch ich sei- "einfach mit ihr zu sprechen! , hmhm *2,5* wo von wo wir sin- * na wir sin von russlandi ** un=des * hat=mer gleich gesehnl * #ich kann doch #EIN WENIG AUFjetzt nich sagen ich bin von dortich muss doch GEBRACHT sagejetz=is kaputtj, so is=esi# *2* da # sag=se- #in "russland is mein mann gebliebe-# #REDEWIEDERGABE, BEDÄCHTIG # #er is nich mehr zurickgekomm vom krieg! ,# #wot# so #IMITIERT: SCHNELL, SCHROFF # #SO # | grobj, | #ja wir sind doch nich schuld dass dein #LEISE EMPÖRUNG, HEFTIG ZURÜCKWEISEND hmhm hmhm |hm | mann nich zurickgekommn |isi|# #"wir sin=doch # #STEIGERT SICH |ja | ja nich nach deutschland komme kriegihr seid doch IN EMPÖRUNG nach russland komme krieg anfangel# statt von uns # hm nur äh *1,5* #izvinjatsa kak po russkom ttgovorjat# #SICH ENTSCHULDIGEN WIE MAN AUF RUSSISCH #LACHEND # ja und <?page no="136"?> 136 # SAGT# Aussiedler treffen aufEinheimische 234 GM: 235 Ü 236 BM: un un * s: ie ha/ hat jetzt was sagt(e) die frau dann *2* 237 GM: geheirathat ihr=m mann sein jüngeren Die Erzählaktivitäten im Überblick: In kurzen Erzählsätzen zeigt Martha die Umstände auf, unter denen sie mit einer Frau bei der Gartenarbeit in Kontakt gekommen ist (Z. 193-203). Es folgen Äußerungen direkter Redewiedergabe, in denen die Erzählerin Verlauf und Atmosphäre des Gesprächs mit der Frau darstellt (Z. 203-206). Die Wiedergabe des Gesprächs mit der einheimischen Frau wird von einem kurzen erzähltheoretischen Kommentar unterbrochen (Z. 207-211). An die dann erfolgende Fortsetzung der Gesprächswiedergabe (Z. 211-218) ist eine bewertende Kennzeichnung der Sprechweise der einheimischen Frau angeschlossen (Z. 215 u. 218). Der Wiedergabe des Gesprächs folgen dann argumentative Aktivitäten, die auf die zitierten Äußerungen der Frau im Garten reagieren (Z. 218-232). Eine Nachfrage des BM zur Reaktionsweise der Frau im Garten bleibt unbeantwortet (Z. 233-237). Rekonstruktion des Ereignisrahmens, Teil I (Z. 193-206): Erzähleinleitend kontextualisiert Martha die zu berichtende Begebenheit in zeitlicher, lokaler und personaler Flinsicht: [wie wir im erste lager warein * wonningen jadann sin; Z. 193-198]. Das Zusammentreffen mit einer Einheimischen, das die Erzählerin ebenfalls gemeinsam mit ihrem Mann erlebt hat, fand gleich nach der Einreise in die Bundesrepublik statt. Die Formulierung wir wußten nicht wo wir hin sollten-(Z. 198 U. 200) ist ein Hinweis darauf, dass sie zu dieser Zeit noch sehr unter dem Eindruck von Kulturschockerfahrungen gestanden haben und mit enormen Orientierungsschwierigkeiten zu kämpfen hatten. In dieser Zeit hat Martha mit ihrem Mann einen Spaziergang unternommen. Möglicherweise wollten sie die nähere Umgebung des Wohnheims, das sie vor kurzem bezogen hatten, erkunden; jedenfalls sind sie beim Spaziergang auf eine Frau im Garten gestoßen (aus der Erwähnung der Gartenarbeit der Frau geht hervor, dass es sich um eine ortsansässige bzw. einheimische Person gehandelt haben muss). Vielleicht hat sich das Aussiedlerehepaar beim Anblick der im Garten arbeitenden Frau an heimatliche Lebensverhältnisse erinnert gefühlt und wurde somit angeregt, sozialen Gepflogenheiten im ehemaligen Heimatort folgend, Kontakt aufzunehmen. Auch wenn die Erzählung diesbezüglich nicht sehr <?page no="137"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 137 detailliert ist, lässt die Erwähnung des eigenen Tuns [dann sind wir stehengeblieben; Z. 202] und die Wiedergabe fremder Rede zur Charakterisierung des Antwortverhaltens der Frau im Garten den Schluss zu, dass es die Erzählerin war, die die Frau im Garten angesprochen hat. Der Wiedergabe der Kontaktaufnahme mittels zitierender Redeweise lässt sich entnehmen, dass die Ereignisträgerin von der Frau im Garten gewissermaßen dafür zurechtgewiesen wurde, sie anzusprechen [nu was für=a mensch ich sei- "einfach mit ihr zu sprechen; Z. 203 U. 204]. So wie die Erzählerin den kommunikativen Austausch hier wiedergibt, entsteht der Eindruck, dass die Kontaktinitiative von der Frau im Garten als eine Zumutung bzw. als Übergriff 141 behandelt worden ist. Ihre zurück- und zurechtweisende Reaktion hatte allerdings noch keinen Abbruch des Gesprächs zur Folge, wie aus der weiteren Ereigniswiedergabe hervorgeht. Vielleicht ist die Frau ein wenig neugierig geworden auf die fremden Leute, die sie angesprochen haben. Vielleicht lag ihr auch im Sinn, gleichsam eine Korrekturaktivität zu einer zuvor gezeigten Unfreundlichkeit bzw. einen rituellen Ausgleich 142 für eine von ihr verursachte Kränkung zu vollziehen. Die Frau im Garten hat sich jedenfalls für die fremden Leute so weit interessiert, dass sie sich nach deren Flerkunft erkundigte. Zum erzähltheoretischen Kommentar Z. 207-211: Marthas Wiedergabe der kurzen Äußerungsabfolge, die in eine Selbstkategorisierung als Leute aus Russland einmündet, folgt ein hierauf bezogener erklärungstheoretischer Kommentar. Die Äußerung un=des * hat=mer gleich gesehn (Z. 207) macht deutlich, dass die Herkunft aus Russland der Erzählerin als etwas Augenfälliges, also aufgrund von Äußerlichkeiten auch für Außenstehende Sichtbares, bewusst geworden ist. In dem Äußerungsteil ich kann doch jetzt nich sagen ich bin von dortich muss doch sage- (Z. 207-211) wird 141 Übergriffe im Sinne Goffmans sind Verletzungen der Territorien des Selbst. Goffman unterscheidet zwei Arten von Übergriffen: das Eindringen in Territorien, zu denen keine Zugangsberechtigung besteht, und Aufdringlichkeit, d.h. die Ausweitung territorialer Ansprüche über den von anderen zugestandenen Bereich hinaus (vgl. Goffman 1982, S. 81f.). 142 Rücksichtnahmen auf den sozialen Wert und die Selbstachtungsbedürfnisse des Interaktionsgegenübers im Kommunikationsprozess fasst Goffman als rituelle Nebenerscheinungen auf. Aktivitäten zur Wiederherstellung des rituellen Gleichgewichts nach einer vorausgegangenen Imageverletzung bezeichnet er auch als Ausgleichshandlungen (vgl. Goffman 1975, S. 21-30 sowie 1976). <?page no="138"?> 138 Aussiedler treffen aufEinheimische deutlich, dass Martha sich in der erzählten Situation unter dem Druck gesehen hat, eine interaktionsgefährdende Selbstkategorisierung vorzunehmen. Ob ihr das spezifische Risikopotenzial einer Selbstidentifizierung als jemand aus Russland schon in der damaligen Situation bewusst war, wird nicht richtig deutlich. Ihr Erzählkommentar sowie die Fortsetzung ihrer Erzählung zeigen, dass sie sich auf alle Fälle im Nachhinein dieses imagegefährdenden Potenzials bewusst geworden ist. Ihr weiteres Äußerungsverhalten ist sehr fragmentarisch. Nach dem Hinweis auf Zwänge zur aufrichtigen Identitätsdarstellung folgt eine kurze Charakterisierung der Lebensverhältnisse des Landes, aus dem Martha und ihre Angehörigen gekommen sind. Die Äußerung j et z=is kaputt so is=es lässt Rechtfertigungspotenzial tur den Aufenthalt in Deutschland aufscheinen. Martha verweist hier nur ganz allgemein auf den Zusammenbruch von Verhältnissen, in denen sie einst gelebt hat, und macht so das jetzige Leben in Deutschland aus dem Verlust vertrauter und stabiler Lebensgrundlagen heraus plausibel. Die angefügte Bekräftigung so is=es markiert eine Haltung, die über das berichtete Ereignis hinaus Geltung besitzt sie formuliert den Verlust bisheriger Lebensgrundlagen im Herkunftsland als für die gegenwärtige Situation maßgebliche Orientierung. Rekonstruktion des Ereignisrahmens, Teil II (Z. 211-232): Die Erzählerin nimmt die Wiedergabe des Gesprächs mit der Frau im Garten wieder auf, indem sie deren Reaktion auf die Nennung Russlands als Herkunftsland wiedergibt [da sag=sein "russland is mein mann gebliebeer is nich mehr zurickgekomm vom krieg; Z. 211-215]. Die Frau im Garten hat also auf Nennung des Herkunftslandes mit Aufdeckung eigener biografischer Bezüge zu diesem Land reagiert; auch bei ihr ist es wie bei den Alteingesessenen, mit denen Martha auf der Weihnachtsfeier ins Gespräch kam der Zweite Weltkrieg, der Russland zu einem bedeutsamen Land für ihr Leben gemacht hat: Ihr Mann ist dort gefallen. Aber anders als die Kriegsveteranen, die Martha auf der Weihnachtsfeier getroffen hat, thematisiert sie sogleich ihre persönliche und äußerst tragische Schicksalsbetroffenheit, die sie mit Russland verbindet. Die Sprechweise, in der Martha die Rede der Frau im Garten wiedergibt (zunächst verhalten, dann schroff, sie kennzeichnet auch das Äußerungsverhalten explizit als grob), deutet daraufhin, dass sie die Frau in verbitterter Haltung erlebt, ihre Reaktion als Bekundung von Ressentiments gegenüber Russland und den Menschen von dort verstanden hat. <?page no="139"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 139 In Z. 222-232 folgt eine Gesprächspassage, bei der nicht leicht zu entscheiden ist, ob es sich um die Wiedergabe von Äußerungen handelt, die so oder ähnlich auch in dem zurückliegenden Ereignis realisiert wurden, oder ob die Erzählerin hier Verarbeitungsaktivitäten zu dem Erlebnis mit der Frau im Garten anfugt. Martha gibt keine Hinweise darauf, dass sie diese Rechtfertigungsbzw. Verteidigungsrede in der damaligen Situation entwickelt hat und auch keinen Hinweis darauf, ob und wie diese Argumentation den damaligen Ereignisrahmen verändert hat. Sicher ist, dass Martha nun im Argumentationsschema agiert und sich mit der Bemerkung der einheimischen Frau [in "russland is mein mann gebliebe-; Z. 213] auseinandersetzt. Möglicherweise handelt es sich hier um die Wiedergabe von Gedanken, die der Erzählerin in der damaligen Situation gekommen sind. Ungeachtet dessen, ob Marthas Argumentation nur gedanklich oder auch verbal gegenüber der Frau geführt worden ist, verdient der aktualkommunikativ vollzogene Wechsel in das Argumentationsschema Beachtung. Martha setzt sich darin mit der Erfahrung auseinander, von einer hiesigen Frau als Angehörige der Kollektivität der Russen angesehen zu werden der Kollektivität, die diese Frau für sich wohl nur in Bezügen kriegsbedingter Verlust- und Leidenserfahrungen einordnen kann. Martha reagiert mit Aufwerfen der Kriegsschuldfrage. Sie erinnert daran, dass nicht Russland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, sondern deutsche Soldaten in Russland einmarschiert sind [ja wir sind doch nich schuld dass dein mann nich zurickgekommn isf "wir sin=doch nich nach deutschland komme kriegihr seid doch nach russland komme krieg anfange; Z. 218- 227], Auch wenn nicht sicher ist, ob Martha hier tatsächlich geäußerte oder aber innere Gegenrede wiedergibt, lässt sich diese Äußerung als Verdeutlichung des Interpretationskontextes verstehen, in dem sie die Bemerkung in russland ist mein mann gebliebeverarbeitet hat und auch in der Jetzt- Situation noch verarbeitet: Martha muss das Gefühl bekommen haben, als Angehörige einer kriegsführenden Partei, die für den Tod des Mannes der Frau im Garten verantwortlich ist, angesehen zu werden. Eingedenk der historischen Realitäten des Zweiten Weltkrieges muss es der Erzählerin geradezu widersinnig vorgekommen sein, in einen solchen Anschuldigungskontext 143 versetzt zu werden. Bemerkenswert ist auch, dass Martha in ihrer 143 Dass sich Martha in einen solchen Anschuldigungskontext versetzt gefühlt hat, wird dort erkennbar, wo sie sich mit Wechsel in das Russische über die Zumu- <?page no="140"?> 140 Aussiedler treffen aufEinheimische Argumentation zur Umkehrung des latenten Anschuldigungskontextes eine Wir-Kategorie benutzt, die die Zugehörigkeit zu der Kollektivität symbolisiert, die von den Deutschen überfallen worden ist. Während Martha (wie auch ihre Tochter) an anderen Stellen des GASTMAHLS sehr darum bemüht ist, sich als deutscher Mensch zu präsentieren, lässt ihre Argumentation hier einen Bruch in der Identifizierungsfähigkeit und -bereitschaft mit der Kollektivität der Deutschen erkennen einen Bruch, der aus der Verantwortlichkeit Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg resultiert. Die erzählten Begegnungen im Vergleich Die beiden Interaktionsereignisse, die Martha wiedergibt, waren für sie Lehrstücke über Schwierigkeiten bei der Herstellung von Kooperations- und Verständigungsgrundlagen in Erstkontaktsituationen mit ‘Leuten von hier’. Sie hat in beiden Situationen erfahren müssen, wie ihre auch äußerlich wahrnehmbare - Fremdheit zur Belastung von Kommunikationsarrangements mit Binnendeutschen wird. Die beiden Erzählungen machen deutlich, dass Martha ihre Herkunft aus Russland im kommunikativen Austausch mit Hiesigen als ein ambivalentes Identitätsmerkmal erfahren hat. In beiden Fällen ist sie auf Einheimische gestoßen, für die ihre Herkunft aus Russland thematische Relevanzen impliziert, die mit Ereignissen des Zweiten Weltkrieges im Zusammenhang stehen. Martha hat erfahren, dass es vor allem Kriegserfahrungen sind, über die die alteingesessenen Deutschen 144 Bezüge zu ihrer - Marthas - Herkunftsidentität realisieren können. In der von ihr eher als Ausnahmeerscheinung eingeordneten Episode auf der Weihnachtsfeier scheint die Anknüpfung an Kriegserfahrungen die wechselseitige Anerkennung als Interaktionsgegenüber nicht behindert zu haben. In der Episode, die Gegenstand der zweiten Erzählung ist, bleibt die einheimische Frau nicht nur auf Distanz zu den beiden Fremden, sie macht sie implizit auch zu Angehörigen der Kollektivität, die in ihren Augen - Verantwortung für den Kriegstod ihres Mannes trägt. Die Erkundigung nach dem Herkunftsland der fremden Leute, die die Frau im Garten ansprechen, tung entrüstet, sich für Kriegseintritt und Kriegsfolgen entschuldigen zu müssen; vgl. Z. 222-231. 144 Zu beachten ist hier, dass es sich auch bei den alteingesessenen Deutschen um Personen handelte, die wie Martha der Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkrieges angehören. <?page no="141"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 141 wird nicht in der Weise expandiert, dass es den Fremden möglich wäre, weiter über ihre Herkunft aus Russland oder die Umstände ihres Hierseins zu sprechen. „Hatjeder zu wissen wo die Heimat ist! “ Zerstörung eines nachbarschaftlichen Solidarisierungskontextes und Verweigerung von Interaktionsreziprozität Auch Anna steuert eine Erzählung über Erfahrungen mit Einheimischen bei. Diese schließt sich allerdings nicht unmittelbar an die Erzählungen von Martha an. Es gehen Gesprächsaktivitäten voraus, die das Leben im Herkunftsland und die berufsbiografische Situation einzelner Familienmitglieder thematisieren, ferner Aktivitäten, die das Geschehen bei Tisch koordinieren und kommentieren. Eine danach entstehende längere Gesprächspause beendet Anna damit, dass sie wie nachstehend zu sehen - Rückschau auf ihre bisherige Zeit in Deutschland hält und dabei die Thematik „Erfahrungen mit Einheimischen“ refokussiert: 1738 AN: 1739 BM: 1740 AN: 1741 AN: 1742 AN: 1743 AN: 1744 AN: 1745 AN: 1746 AN: 1747 AN: 1748 AN: 1749 GM: 1750 AN: 1751 GM: 1752 GM: 1753 GM: hmhm * bis "jetzt will ich verstanden,! , >hmhm< *8,5* sagen wir wir sind im es im September ware es zwei jahr dass ich mit meiner familie hier bin ** hat=mer=s noch nie dass mer sagt so sch/ dass (es? mir=s) so "schlimm warf ** die leute warn immer äh lieb und fr/ freundlich mit mir- "einmol war es mol * gleich im erste jahr >hat ein mann auch gsagt ** war ich zur post gangedie eitern warn noch russland damals und dannhab ich ein brief gschrieben un< ** ach selbstver"ständlich der brief war immer voll mit tränef ** es ist auch zu verstehenf ** und |dann bin ich| |und wenn ja: "es auch (jetzt? hier) schon gut istf des unsere heimat dort * wir sind dort geboren wir sind dort großgewachsen * unsere eit/ ur * v: äter und ururväter sie <?page no="142"?> 142 Aussiedler treffen aufEinheimische 1754 GM: 1755 GM: 1756 BW: 1757 GM: 1758 AN: 1759 GM: 1760 AN: 1761 BW: ruhen dortl *2* wir sind zufrieden mit allesj, aber herzeleid hat man doch um * >russland< und wenn ich hmhm das "nicht sagen tat des tat mir doch kein mansch nja * die mansch natur ist so de kann man glaubenj, *2* nicht ändernj, eine jahr und dann äh * auch eine hmhm 1762 AN: frau hab ich ihre ich so * in russland war es eigentlich 1763 AN: 1764 SO: 1765 K 1766 BM: auch so eben die alte >darf ich nocht< |leute die zeit |#jaja essen sie #EIFRIG 176 7 AN: die | bitten und um einen guten tag sagen und 1768 SO: bitte#| ich dachte 1769 K # [AUSLASSUNG: NACHREICHEN VON SPEISEN UND WÜRDIGUNG DES GERICHTES DURCH DIE GÄSTE] 1798 AN 1799 AN 1800 BM * na ja was ich sagen wollte- und dann hab ich auch ist eine ah ältere hm 1801 AN 1802 GM 1803 NN dame u/ oh ne|ben eim haus I( gut)T| |gestanden hab ich I ( 1804 AN: 1805 Kl 1806 NN: gesagt guten tag hat=s gsagt| geht=s ah ja) #guten tag# u: hab ich gsagt #IMITIERT DIE ALTE DAME 1807 AN: #wie geht=s denn ihne-# sie=s auch so traurig gstanden 1808 Kl DURCH ANHEBEN DER TONLAGE# 1809 K2 #TEILNAHMSVOLL # 1810 AN: do un=dann * #so un so- # * und sie * ich glaube sie kommen 1811 K #MELODISCH# 1812 AN: hier vom #seeblick# * eigentlich es kennt mer sowieso 1813 K #BEZEICHNUNG FÜR ÜBERGANGSWOHNHEIM# 1814 AN: noch der spräche dass man nicht hier aus deutschland istj. <?page no="143"?> 1815 AN: 1816 BM: 1817 AN: 1818 AN: 1819 AN: 1820 K 1821 AN: 1822 K 1823 AN: 1824 AN: 1825 AN: 1826 AN: 1827 K 1828 AN: 1829 BM: 1830 AN: 1831 GM: 1832 AN: 1833 AN: 1834 BW: 1835 BM: 1836 AN: 1837 BM: 1838 AN: 1839 AN: 1840 AN: 1841 AN: 1842 AN: 1843 AN: 1844 AN: 1845 AN: 1846 K Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 143 un=dann hab ich gsagt ja- und dann * sofort bei mir is ja immer wenn ich anfang spreche mit jemande und dann * uff da we/ wenn mer=s: dass ich herzeleid hab und dann muss ich=s sofort weinen da hat=s gsagt- * #n=weinen=s doch #TEILNAHMSVOLLER nichtgeht=s ihnen schlecht? # do hab=ch gsagt nein TONFALL # danks=geht mer * ganz gutbin mit "allem zufrieden? * aber ich hab so: heimwehich kann=s ihnen gar nicht sagen wie? * und der nachbarsmann * ist nebedran gstanden? HOLT LUFT #hat jeder zu wisse wo die heimat is? # ** ich #WECHSEL ZU TIEFER, STRENGER SPRECHWEISE# bin so zuerst eigentlich erschrocken- und dann LACHT LEISE >ja< denk ich ah ja: armer mensch? |sei| |jaja j du | verstehst des |nicht? | sei gott sei dank * dass du in "der äh situation nicht warst dass dir so u/ hmhm das war * n=einheimischer? der >jaja |s=war<| und dann hab ich mich so |>hmhm<| hm hm "ja ich bin weggelaufen und dann * ah ja kennen=s sich dann vorstelle w/ äh was ich bis ich n: ach seeblick (könnte? kommte) —»wie ich wie ich<— gweint hab? *2* —» (daran) <— denk ich na "vielmals un "hundertmal un un sag es immer wieder und wieder? * eigentlich des äh unser Schicksal ist so? und <"wie: es nicht * des hat lange jahre gedauert> bis mir: her (konnten? kommten)? aber alles ist * d/ des hat (erst? #elles#) des hat=s gezwungen #MEINT: ALLES# <?page no="144"?> 144 Aussiedler treffen aufEinheimische 1847 AN: so davon gezwungen dass es so eigentlich ** (konnte? 1848 AN: kommtej,) *5* 1849 GM: und anfänglich wie wir da waren ** bin ich Die Erzählaktivitäten im Überblick: Der Gesprächausschnitt beginnt mit Äußerungen von Anna, die Bilanzierungscharakter haben; sie sind auf die Aufenthaltsdauer ihrer Familie in Deutschland bezogen (Z. 1738-1743). Die Nennung der Einheimischen (Anna gebraucht den Ausdruck die leute, vgl. Z. 1743) markiert die besondere Relevanz dieser Bezugsgruppe für die Zeit des Sicheinlebens und Neuorientierens. Anna beginnt dann mit der Erzählung eines Ereignisses, das sie als einmalige Erfahrung deklariert (Z. 1744-1748). Im Erzählgang wird sie von ihrer Mutter unterbrochen, durch Äußerungen, die die Funktion einer Hintergrunderklärung haben (Z. 1749-1759). Nach Wiederaufnahme des Erzählstrangs durch Anna (Z. 1760-1769) kommt es zu einer Unterbrechung durch Aktivitäten, die das gemeinsame Essen koordinieren und seine Zubereitung honorieren (ich lasse diese Passagen aus). Nach erneuter Wiederaufnahme ihrer Erzählaktivitäten gibt Anna ein Gespräch wieder, das sie in trauriger Verfassung mit einer einheimischen Frau geführt hat und in das sich ein dabeistehender Mann eingemischt hat. Weiter enthält dieses Erzählsegment (Z. 1798-1840) Hintergrunderklärungen, die Annas Identifizierbarkeit als Fremde sowie ihre innere Verfassung zum damaligen Zeitpunkt betreffen. Die Erzählerin gibt darin Reaktionen und Gedanken auf eine Bemerkung des einheimischen Mannes wieder; angeschlossen ist eine von BM initiierte Klärungssequenz zum Status dieses Mannes. Es folgen Äußerungen, in denen Anna eigentheoretische Verarbeitungen der erzählten Episode vornimmt (Z. 1841-1848). Rekonstruktion des Ereignisrahmens und -ablaufs: Anna kommt mit dem erzählankündigenden "einmol war es mol (Z. 1744) auf eine Begebenheit zu sprechen, die sie von der zuvor ausgesprochenen positiven Gesamtbewertung (Z. 1738-1743) ihrer Erfahrungen mit Einheimischen ausnimmt. Sie kündigt an, wiederzugeben, was ein mann (Z. 1744) zu ihr gesagt hat, als sie dabei war, einen Brief zur Post zu bringen. Zur Wiedergabe dessen, was der Mann gesagt hat, kommt sie erst später, nachdem sie diese Begegnung umfassender kontextualisiert hat und nachdem sowohl von ihr selbst als auch von ihrer Mutter Hintergrunderklärungen zum Geschehensablauf gegeben worden sind. Bevor sie die Projektion der Redewiedergabe erfüllt, verortet sie das Geschehen in ihrer persönlichen Aussiedlungsgeschichte. Der Hin- <?page no="145"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 145 weis, dass es gleich im erste jahr (Z. 1744) war, sagt dabei auch etwas über ihre Erlebnisweise aus: Das angekündigte Ereignis hat in einer Zeit stattgefunden, in der sie noch sehr unter Fremdheitsgefühlen und Heimweh gelitten hat. Diese Kontextualisierung hebt die Bedeutung hervor, die das zu Erzählende für Anna gerade in dieser Zeit hatte. Die besondere Bedeutsamkeit verdeutlicht sie noch durch eine weitere Charakterisierung ihrer subjektiven Erlebnisweise: Sie hat einen Brief zur Post gebracht, der für ihre Angehörigen in Russland bestimmt war. Anna hat mit dem Schreiben dieses Briefes sicherlich versucht, ihren Trennungsschmerz zu bearbeiten. Dadurch muss sie aber auch in einen Zustand versetzt worden sein, der sie das Getrenntsein von Familienangehörigen auf besonders schmerzhafte Weise hat empfinden lassen. In dem anschließenden Erzählkommentar ach selbstver"ständlich der brief war immer voll mit tränef ** es ist auch zu verstehen (Z. 1747 u. 1748) ordnet Anna ihr Tränenvergießen als in der damaligen Situation nur natürliches und verständliches Verhalten ein. Bevor sie dann die angekündigten Äußerungen des Mannes wiedergeben kann, wird sie von ihrer Mutter unterbrochen. Marthas Redebeitrag (Z. 1749-1759) folgt in unmittelbarem Anschluss an Annas Erzählkommentar, in dem diese das Tränenvergießen als verstehbar deklariert hatte. Es kommt zu einer kurzen Überlappung mit einer Äußerung Annas, in der diese den Haupterzählstrang wieder aufnehmen will (Z. 1748 u. 1749). Sie fährt mit ihren Erzählaktivitäten aber nicht fort, da sich ihre Mutter zu Wort meldet. Martha unterbricht Annas Rede mit einem adversativen Äußerungsformat, das zunächst die Jetzt-Situation in Deutschland positiv bewertet [und wenn "es auch(jetzt? hier) schon gut istf], dieser Situation dann aber familiengeschichtliche Verwurzelung in und heimatliche Bindungen an Russland gegenüberstellt [des unsere heimat dort * wir sind dort geboren wir sind dort großgewachsen unser eit/ ur * vväter und ururväter die ruhen dort; Z. 1749-1754]. Nach einer kurzen Pause bekräftigt Martha nochmals, dass ihre Familie zufrieden mit der jetzigen Lebenssituation in Deutschland sei, ihre Herkunft aus Russland aber unweigerlich auch Trennungsschmerz hervorrufe [ wir sind zufrieden mit allesf aber herzeleid hat man doch um * >russland<; Z. 1754 u. 1755f ]. Marthas Eingriff in den Erzählgang entwickelt eine ausgebautere Verständlichmachung des Tränenvergießens als Anna dies mit der bloßen Einordnung als verstehbares Verhalten leistet. Annas Mutter arbeitet hier möglichen <?page no="146"?> 146 Aussiedler treffen aufEinheimische Missverständnissen oder Fehldeutungen entgegen, indem sie herausstreicht, dass Tränenvergießen bzw. das Eingestehen von Trauer um das Verlassene und von schmerzhaften Verlusterfahrungen nicht als Unzufriedenheitsbekundung mit der Lebenssituation in Deutschland, sondern als nur menschliche Reaktion zu verstehen ist. In der nachfolgenden selbstreflexiven Äußerung stellt Martha klar, dass das eben von ihr Gesagte ein ehrliches und aufrichtiges Äußerungsverhalten ist und dass sie sich in ihrer Lebenssituation auch gar nicht anders äußern kann, da sie sich sonst unglaubwürdig machen würde [und wenn ich das "nicht sagen tat des tat mir doch kein mensch glaubenf; Z. 1755-1759]- Mit dieser selbstreflexiven Bemerkung zeigt die Sprecherin an: Ihr ist bewusst, dass Aussagen über das Befinden nach dem Verlassen der Heimat auf einer Common-Sense-Basis beurteilt werden, die nicht hintergehbar ist. Diese Erklärung zu ihrem Äußerungsverhalten macht deutlich, dass Martha das herzeieid (Z. 1755) erwähnen muss, weil jedermann weiß, wie einem zumute ist, wenn man seine Heimat verloren hat. Sie macht auch klar, dass das Leiden am Heimatverlust genauso zu ihrem Leben gehört, wie die deutschen Vorfahren und das deutsche Kulturgut, über das sie noch verfügt. Unter Bezug auf Jedermannwissen plausibilisiert Martha hier schmerzhafte Identitätsprozesse in der unmittelbaren Nachaussiedlungssituation. Starkes Leiden durch den Verlust vertrauter Menschen und „heimatlicher Dinge“ (Schütz 1972c) wird als natürliche Erfahrungsbedingung, von der auch sie bzw. ihre Tochter betroffen war, vergegenwärtigt. Zurück zur Rekonstruktion des Ereignisrahmens und -ablaufs: Anna kommentiert die Hintergrunderklärungen ihrer Mutter in einer gemeinplatzartigen Bemerkung (Z. 1758-1760) und setzt dann ihre Erzählung fort. In der Wiederaufnahme ihrer Erzählung spricht Anna jetzt von einer dritten Person, einer Frau, und entwickelt einen kurzen erklärungstheoretischen Kommentar, der sich auf Grußbzw. Kommunikationsgepflogenheiten im Herkunftsland bezieht [eine jahr und dann äh * auch eine frau hab ich ihre ich so * in russland war es eigentlich auch so eben die alte leute die zeit die bitten um ein guten tag sagen und/ ; Z. 1760- 1767]. Anna charakterisiert hier die Erfahrungsperspektive, in der sie die erwähnte Frau kennen gelernt hat. Der Aufbau der Kommunikationsbeziehung zu ihr muss für Anna mit einem hohen Erinnerungswert an Höflichkeits- und Vergemeinschaftungsformen verbunden gewesen sein, die ihr aus ihrer Heimat in Russland vertraut waren. Die Erzählerin bricht diese Hinter- <?page no="147"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 147 grundskonstruktion ab, als BM und die Gastgeberin sich dem Nachfassen und Nachreichen der Speisen zuwenden (im Transkript ausgelassen). Bei Wiederaufnahme des Erzählstrangs bezieht sich Anna mit eine ah ältere dame (Z. 1799 u. 1801) auf die zuvor erwähnte Frau. 145 Damit wird klar, dass die Frau in einem Kontext der Ehrerbietung gegenüber Älteren bzw. in einem Kontext der Herstellung und Vergewisserung sozialer Nähe durch Grußverhalten zu einem Interaktionsgegenüber für Anna geworden ist. Anna schildert, wie sie mit der Frau ins Gespräch gekommen ist (Z. 1799ff). Der Gesprächswiedergabe ist zu entnehmen, dass es nach einem Begrüßungs- und Identifizierungsvorgang zu Leidensexpressionen seitens Anna und zu Tröstungsversuchen seitens der Frau gekommen ist. Anna ist von der Frau als Bewohnerin des Übergangswohnheims seeblick und damit als Aussiedlerin erkannt worden (Z. 1810-1812). Anna selbst führt ihr Erkanntwerden als Fremde auf ihre Sprache zurück [eigentlich des kennt mer sowieso noch der spräche dass man nicht hier aus deutschland istf; Z. 1812 u. 1814], 146 Die damals durchlebten Kommunikationsbedingungen gibt die Erzählerin auch mit intonatorischen Mitteln wieder; im Zuge ihrer Redewiedergabe kommt es zu deutlich wahrnehmbaren Veränderungen der Tonlage. Vermutlich hat sich die ältere Dame in einer ähnlichen Gemütsverfassung befunden wie Anna selbst. Die imitierende Sprechweise, in der Anna das kurze Gespräch wiedergibt, bringt zum Ausdruck, dass Menschen aufeinander getroffen sind, die sich beide in einer bedrückten Gemütsverfassung befanden. Aus entsprechenden Situationsdefmitionen und wechselseitigen Wahrnehmungen der beiden Frauen ist bei dieser Begegnung so lässt Annas Schilderung vermuten eine Situation entstanden, die von Annäherungsbemühungen, von zwischenmenschlicher Anteilnahme und Solidarisierungsbereitschaft geprägt war. 145 Anna bezeichnet die ältere Dame nicht explizit als Einheimische; dass es sich bei ihr um eine Ortsansässige gehandelt haben muss, schließe ich aus der allgemeinen Referenz auf Hiesige mit dem Ausdruck leute in der Bilanzierungsäußerung, die der Erzählung der Ausnahmeerfahrung vorausgeht (vgl. Z. 1743). Auch ein noch erfolgender Hinweis auf Annas Identifizierbarkeit als Fremde aufgrund sprachlicher Auffälligkeiten markiert die Einheimische-Fremde-Relation bzw. Wahmehmungsschemata, die den Hiesigen eigen sind. 146 In dieser Hintergrunderklärung offenbart sich Wissen um die sprachliche Differenz zu den Angehörigen der Ortsgesellschaft und um die Rolle sprachlicher Eigenheiten bei der Fremdidentifizierung bzw. der sozialen Kategorisierung durch Hiesige. <?page no="148"?> 148 Aussiedler treffen aufEinheimische Die ältere Dame hat auf die weinerliche Verfassung Annas reagiert und ihr Trost zugesprochen. Zunächst hat sich Anna positiv über ihr Befinden und zufrieden mit ihrer Lebenssituation geäußert [do hab=ch gsagt nein danks=geht mer * ganz gutbin mit "allem zufriedenf; Z. 1821 u. 1823] und dann eingestanden, dass sie unter argem Heimweh leide [aber ich hab so: "heimweh- * ich kann=s ihnen gar nicht sagen wief; Z. 1824 u. 1825]- Das Zusammentreffen mit der älteren Frau macht Anna auch unter dem Gesichtspunkt ihres eigenen Situationserlebens präsent: In einer Situation, in der sie Zuwendung erfährt und sich eine Gelegenheit eröffnet, ihren Leidenszustand kommunikativ zu bearbeiten, wird sie so stark von Emotionen ergriffen, dass sie weinen muss und nicht reden kann. Anna stellt diese Verhaltensdisposition (anzufangen zu weinen, wenn mit anderen über aktuelles Leid gesprochen wird) als etwas unweigerlich über sie Kommendes dar [immer wenn ich anfang spreche mit jemande und dann * uff da we/ wenn mer=s dass ich herzeleid hab und dann muss ich=s sofort weinen; Z. 1817-1819], Der Hinweis auf ihre Anfälligkeit für solche Leidensexpressionen macht die besondere Erlebnisintensität deutlich, die der Austausch mit der älteren Dame für Anna hatte. Es folgt ab Zeile 1825 eine kurze Erzählsequenz, die Anna mit Hinweis auf einen nachbarsmann einleitet; es muss sich dabei um den Mann handeln, den sie schon in der Ankündigung ihrer Erzählung erwähnt hat (vgl. Z. 1744- 1745). Die Ereigniswiedergabe hat eine Reaktion dieses Mannes auf das zwischen Anna und der älteren Dame laufende Gespräch zum Gegenstand (Z. 1825-1827). Das von der Erzählerin verwendete Darstellungsmittel der zitierenden Wiedergabe fremder Rede mit veränderter, tieferer Tonlage sagt sie: hat jeder zu wisse wo die heimat isf (Z. 1826) — zeigt an, dass es sich um einen reaktiven Zug auf vorausgegangene Äußerungen in der damaligen Gesprächssituation gehandelt hat. Die von Anna wiedergegebene Äußerung des Nachbarn hat den Charakter einer mit vorwurfsvollem Unterton gesprochenen Belehrung. Der Belehrungsgehalt dieses Einwurfs könnte so umschrieben werden: ‘Wer vergisst, wo die Heimat ist, ist selbst schuld, wenn er unter Heimweh leidet und verdient kein Mitleid.’ 147 Eine Äußerung, 147 Mit solchen Paraphrasen versuche ich hier und an anderen Stellen semantische Implikationen bestimmter Äußerungen zu fassen. Ich setze diese Paraphrasen in einfache Anführungszeichen, um zu kennzeichnen, dass Sicht- und Argumentationsweisen natürlich Handelnder gemeint sind (siehe auch Anm. 4). <?page no="149"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 149 in der das Gegenüber für seine persönliche Misere verantwortlich gemacht wird, impliziert konventionellerweise die Verweigerung von Anteilnahme, von Verständnis für die Lebenssituation und von Unterstützungsbereitschaft. Dieser Mitteilungsgehalt ist wohl auch durch den Tonfall, in dem der Nachbar sich geäußert hat, verstärkt worden. Der Mann, von dem in der berichteten Situation die Rede ist, muss erkannt haben, dass es sich bei Anna um eine Aussiedlerin, zumindest aber um eine fremde Person handelt. Aus seinem schroffen Einwurf hat jeder zu wisse wo die heimat isf, geht hervor, dass er die Identitätsverfassung, in der Anna sich befindet, nicht verstehen kann und auch nicht zu verstehen sucht. Wie im Fortgang der Erzählung deutlich wird, verhindert seine Äußerung, dass Anna ihre Fremdheitsgefühle, ihr Leiden am Getrenntsein von Verwandten und von der Fleimat gegenüber der älteren Dame weiter thematisieren kann. Für den Erzählabschnitt Z. 1801-1826 ist festzuhalten, dass es Anna nicht nur wichtig ist, den Wortlaut des Dialogs wiederzugeben, sondern auch die von ihr wahrgenommene Gemütsverfassung der älteren Frau. So markiert sie bei der Wiedergabe ihrer Frage, mit der sie die Frau angesprochen hat, einen teilnahmsvollen Tonfall (Z. 1807-1809). Gleichsam als Begründung ihrer damaligen Anteilnahme führt sie an, dass die Frau auch so traurig dagestanden habe. Die Erzählerin macht damit nachvollziehbar, wie es dazu kommen konnte, dass sie einer fremden deutschen Frau gegenüber in Tränen ausbricht und in ihrer Gegenwart über ihr starkes ffeimweh und ihr herzeleid sprechen konnte (eine Offenbarung, die der zu Erzählbeginn eingeführte Mann wohl gehört hat und die ihn vermutlich zu der Bemerkung veranlasst hat, dass jeder zu wissen habe, wo die Heimat sei). Die schroffe Einmischung ist sozusagen das Höhepunktereignis in Annas Erzählung. Vor dem Hintergrund der Solidarisierungsszene mit der älteren Frau und der unglücklichen Verfassung, in der sich Anna befunden hat, wird eine besondere Intensität dieses Schockerlebnisses anschaulich. Im Erzählgang folgt eine kurze Pause. Dann stellt Anna dar, wie sie auf die Bemerkung des Nachbarn reagiert hat (Z. 1826-1840). Neben dem situationsunmittelbaren Schockerleben, das die Bemerkung des Mannes ausgelöst hat, sind in diesem Erzählabschnitt auch Sinnbildungsprozesse erkennbar, über die Anna ihr inneres Gleichgewicht wieder herstellen konnte. Ihren Ausführungen lässt sich entnehmen, dass die Bemerkung des Mannes sie <?page no="150"?> 150 Aussiedler treffen aufEinheimische förmlich mundtot gemacht haben muss. Anna war so erschrocken, dass sie nur noch weglaufen konnte. Weiter gibt die Erzählerin Gedanken wieder, die ihr in der damaligen Situation gekommen sind: Sie hat sich vergegenwärtigt, dass der Mann nicht willens oder gar nicht in der Lage ist, ihre Situation zu verstehen. In diesem Sinne ist er für sie auch ein armer mansch (Z. 1830), ein bedauernswertes Interaktionsgegenüber gewesen. Mit der (gedanklichen) Einordnung als armer mensch hat Anna sich nicht nur klar gemacht, dass der Mann ihre aktuelle biografische Situation nicht verstehen kann (weil er in einer ganz anderen Welt gelebt hat bzw. weil er ihren kollektivgeschichtlichen Erfahrungshintergrund nicht kennt oder anzuerkennen vermag). Die Einordnung als ‘armer Mensch’ spricht ihm wohl auch die moralische Qualifikation ab, mit ihrer Leidenssituation angemessen umgehen zu können. Auch Annas Mutter schaltet sich an dieser Stelle wieder in die Erzählaktivitäten ein und formuliert ihrerseits Annas damalige Gedanken [du verstehst des nichtf; Z. 1831], Anna bestätigt auch, dass sich diese Formulierung mit ihren damaligen Gedanken deckt (Z. 1830). Nach einer Vergewisserungsfrage des BM, die klärt, dass es sich bei dem Nachbarn um einen Einheimischen gehandelt hat, fahrt Anna fort, ihre Reaktionen auf die Bemerkung des Nachbarn (Z. 1838) zu schildern. Sie ist weggelaufen und hat gweint (Z. 1840), hat sich also wohl voller Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle abgewandt, wobei dies eine fluchtartige Reaktion gewesen sein muss, wie an dem dann kurz und bündig formulierten Eingeständnis "ja ich bin weggelaufen (Z. 1838) erkennbar ist. Ihre tiefe Betroffenheit macht Anna dann unter Appell an die Fähigkeit zur Perspektiveneinnahme der Gäste deutlich [ah ja kennen=s sich dann vorstelle . . . wie ich gweint habi; Z. 1838-1840]- 148 Zu Annas Erzählkommentar: In Z. 1841-1848 folgt eine Kommentierungsaktivität zu der Begegnung mit dem verständnislosen Mann. Es ist interessant zu sehen, wie Anna die damals erlebte Situation nun in der Erzählsituation verarbeitet. Auffällig an dem Erzählkommentar ist, dass er durchgängig Formulierungsbrüche und fragmentarische Äußerungsteile enthält. Der Erzählkommentar lässt sich als Verständlichmachung der Leidenssituai4>< Verschiedentlich verwende ich bei Zitaten aus Transkripten drei Punkte als Auslassungszeichen; unverständliche Gesprächsstellen sind in Transkripten ebenfalls mit drei Punkten, die aber in Klammern gesetzt sind, gekennzeichnet; siehe auch die Trankriptionszeichen im Anhang. <?page no="151"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 151 tion, in der Anna sich in der unmittelbaren Nachaussiedlungszeit befunden hat, ansehen. Zu Beginn nimmt Anna eine Positionsmarkierung vor, die sie als eine vielfach schon geäußerte und als eine, die der ständigen Vergegenwärtigung bedarf, kennzeichnet [(daran) denk ich na "vielmals un "hundertmal un un sag es immer wieder und wieder * eigentlich des äh unser Schicksal ist so; Z. 1841-1843], In diesem Formulierungsprozess sind selbsttheoretische Verarbeitungsaktivitäten enthalten, die auf die kollektivgeschichtliche Identität der Deutschstämmigen aus Russland und auf eine schicksalhafte Bestimmung dieser Kollektivgemeinschaft Bezug nehmen. Andeutungshaft ist auch von Zwangsmechanismen die Rede, denen Annas Schicksalsgemeinschaft ausgesetzt war. In der Formulierung <... des hat lange jahre gedauert> bis mir: her (konnten? kommten) (Z. 1843 u. 1844) verweist Anna auf Verhinderungs- und Verzögerungsumstände einer Ausreise nach Deutschland. Der dann folgende fragmentarische bzw. von Formulierungsbrüchen durchsetzte Äußerungsteil [aber alles ist * d/ des hat (erst? elles) des hat = s gezwungen so davon gezwungen dass es so eigentlich ** (konnte? kommte); Z. 1844-1848] kann als Ansatz zur Erklärung und Rechtfertigung der Aussiedlung bzw. als Hinweis auf eine Identitätsverfassung, in der starke äußere oder innere Kräfte dazu antreiben, einer bestimmten Lebenssituation zu entkommen und ein anderes Leben zu leben, angesehen werden. Die Vergegenwärtigung der langen Zeitspanne, in der für Russlanddeutsche eine Ausreise nicht möglich war, und auch die Charakterisierung des Aussiedlungsprozesses als von höheren Kräften oder inneren Zwängen getrieben, haben Selbstvergewisserungsfunktionen. Durch die Wiedergabe der schroffen Reaktion des Mannes werden für Anna offenbar Zugzwänge nachträglichen Argumentierens, des Sichrechtfertigens und Verständlichmachens wirksam. An den damit in Gang kommenden selbsttheoretisch-argumentativen Aktivitäten sticht hervor, dass kollektivgeschichtliche Erfahrungsbestände als Sinngebungsressourcen herangezogen werden. Eine kollektive Selbstsicht als schicksalhaft bestimmte Gemeinschaft wird eingenommen, wobei es auch als unverzichtbar für diese Kollektivgemeinschaft angesehen wird, sich diese Erfahrungsbestände und kollektive Selbstsicht immer wieder bewusst zu machen [ (daran) denk ich na "vielmals un "hundertmal un un sag es immer wieder und wieder * eigentlich des äh unser Schicksal ist so; Vgl. Z. 1841- 1843]; auf Schicksalsglauben als Sinnquelle im Aussiedlungsprozess komme <?page no="152"?> 152 Amsiedler treffen aufEinheimische ich in Kap. 4.3.3.3 noch einmal zu sprechen. An Annas Erzählaktivität wird somit auch deutlich, dass die selbstvergewissernde Identitätsarbeit um so dringlicher ist, je weniger verstehbar das Leben als Aussiedler in Deutschland für Hiesige ist. „ Wir sind hier undfertig! “ Schock des Heimatverlustes und innerer Zwang zur Annahme der neuen Lebenssituation Im Anschluss an die Verarbeitungsaktivitäten der Erzählung über den unfreundlichen Nachbarn entsteht eine längere Pause. Dann beginnt Martha, Annas Mutter, eine neue Erzählung. Sie hat die Bewusstwerdung ihrer Fremdheitssituation unmittelbar nach der Einreise in Deutschland zum Gegenstand. Es geht in dieser Erzählung also nicht mehr um Fremdheitserleben in Begegnungen mit Einheimischen, sondern um subjektives Fremdheitserleben und um innerweltliche Bearbeitungsversuche des Gewahrwerdens von Fremdheit. Auch das Erzählen solcher inneren Erlebnisse interessiert hier mit Blick auf die dabei geleistete Identitätsarbeit: 1848 AN: 1849 GM: 1850 GM: 1851 GM: 1852 GM: 1853 K 1854 BW: kommte)f *5* und anfänglich wie wir da warenf ** bin ich abend rausgangen * im lager do waren alle fremde leit ** und ATMET AUS hab ich immer das * zu haus is e lied gewordef HOLT LUFT is gesunge wordef #aus der heimat #REZITIERT hm 1855 GM: wir vertriebenweit entfernt vom heimatlandwo noch 1856 K 1857 GM: ähnlich mond und Sternealles andre unbekanntf# 1858 K # 1859 GM: #<ich sag hier sind auch kein mond und keine Sterne 1860 K #HEFTIG, ERREGT 1861 GM: nichtf># es war immer #trieb# es war * "herbst es (nom) 1862 K # #MEINT: TRÜB# <?page no="153"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 153 1863 AN: 1864 GM: 1865 BW: 1866 AN: 1867 GM: 1868 GM: 1869 K 1870 GM: 1871 K 1872 GM: 1873 BW: 1874 BM: 1875 GM: 1876 AN: 1877 GM: 1878 K 1879 GM: 1880 K 1881 GM: 1882 GM: 1883 GM: |ja (selbst de Sterne dann der nebel und äh wol|kensind da sind doch keine hm fehlt)| Sterne] ** hab ich gesagt hier sind auch keine ** st/ mond und #sterne hab ich# gesagt #(... für) mich selber #LACHEND? BEWEGT# #BESTECKKLAPPERN ha=ich des gesagt-i# * natürlich is hier mond und Sterne # aber es war doch "triebj, hm ** nicht zum anschaun neT ja * und dann hab ich mich selber getröstetl * nicht so #nein wann fahren wir hoarnj, * mansch (denk dir) wo willst #HEFTIGE REDEWEISE du hinj, * du hast doch gar kein hoam nichtJ,# ** mir * mir # haben nix dort! mir sind * wir sin hier und fertichl *1,5* und ich will auch nicht hoam aber des hab ich (so in sinn is mir gfallej,) *3* Interessant an dieser Erzählaktivität ist einmal die Beschreibung des Fremdheitsschocks, den die Erzählerin nach Eintreffen in der Bundesrepublik erlebt hat (Z. 1849-1876), Aufmerksamkeit verdient aber auch ihre Auseinandersetzung mit der Bewusstwerdung von Heimatverlust und extremen Fremdheitsgefühlen, zumal diese einen Gegenwartsbezug enthält (Z. 1875-1883). Zur Erzählpassage der Bewusstwerdung von Heimatverlust und extremer Fremdheit: Nach ihrer Ankunft im Aufnahmelager hat sich Martha den Sternenhimmel angesehen. Die Situationsbeschreibung im lager do waren alle fremde leit (Z. 1850) deutet darauf hin, dass sie unter den vielen fremden Menschen die aber auch Angehörige ihrer Schicksalsgemeinschaft gewesen sein müssen nach etwas Vertrautem und nach Trost gesucht hat und deshalb am Abend hinausgegangen ist. Dieses Hinausgehen macht die Erzählerin dann anhand eines ihr vertrauten Liedverses verständlich. Es handelt sich um einen Liedvers, der bereits in anderen kollektivge- <?page no="154"?> 154 Aussiedler treffen aufEinheimische schichtlichen Zusammenhängen zur Bearbeitung von Erfahrungen des Heimatverlustes gedient hat [zu haus is e lied gewordej, HOLT LUFT is gesunge wordei; Z. 1851-1852]. Dieser Liedtext beschreibt extremes Fremdsein (als Folge von Vertreibung! ) als eine Situation, in der außer dem Mond und den Sternen nichts Vertrautes mehr existiert [weit entfernt vom heimatlandwo noch ähnlich mond und Sternealles andre unbekannti; Z. 1855 u. 1857]. Zur Wiedergabe der Gewahrwerdung ihrer Fremdheit nach der Ankunft in Deutschland nimmt Martha auf diese rudimentären Vertrautheitselemente, die das nächtliche Firmament den Zwangsdeportierten noch dargeboten hat, Bezug. Noch nicht einmal so elementare Vertrautheiten wie Mond und Sterne, die wie in dem Liedtext versprochen im Falle des Heimatverlustes bleiben, hat sie in dem für sie noch fremden Land angetroffen. Erklärend fügt Martha hinzu, dass sie Mond und Sterne wegen der herbstlichen Witterung nicht sehen konnte. Zur Schilderung der Fremdheitsbearbeitung: Mit der Darstellung ihres Fremdheitserlebens fortfahrend, führt Martha aus, wie sie gegen das extreme Fremdheitsgefühl angegangen ist. Nachdem sie erkannt hatte, dass sich die Verheißungen des Liedtextes nicht erfüllen, ist sie in einen inneren Dialog eingetreten, um sich selbst zu trösten [und dann hab ich mich selber getröstet). * nein wann fahren wir hoam); Z. 1875 U. 1877], Ihrer im Tonfall bitterer Ironie entwickelten Erzählung ist weiter zu entnehmen, dass dieser Tröstungsversuch eine Bewusstwerdung der realen Situation, der Situation des endgültigen Heimatverlusts ausgelöst hat [mensch (denk dir) wo willst du hin) * du hast doch gar kein hoam nicht) ** mir * mir haben nix dort); Z. 1877-1881]. Indem sie sich vergegenwärtigt hat, ohne Alternative zu sein, und indem sie sich gesagt hat, wir "sin hier und fertich) (Z. 1881), hat sie nicht bloß Gedanken an ihre Heimat verdrängt, sondern auch einen Schritt des entschlossenen Akzeptierens der neuen Lebenssituation vollzogen. Bei der Wiedergabe ihrer inneren Rede wechselt Martha von der ersten Person Singular in die erste Person Plural, 149 wodurch auch eine (familien-)kollektive Betroffenheitsweise angezeigt wird. Nach kurzer Pause beteuert Martha, dass sich auch inzwischen nichts an dieser Haltung geändert hat. Die Rückkehrgedanken ausschließende Willensbekundung und ich will auch 149 Den Wechsel in die Wir-Form realisiert Martha bereits dort, wo sie mir als dialektale Wir-Form verwendet; vgl. Z. 1879 u. 1881. <?page no="155"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 1 55 nicht hoam; (Z. 1882) ist als von aktueller Gültigkeit markiert. Martha nimmt hier eine Haltung zu der durch Aussiedlung entstandenen biografischen Situation ein, die weiteres Problematisieren der Verlust- und Fremdheitserfahrungen nicht zulässt, eine Haltung, die die Annahme der jetzigen Lebenssituation als alternativlos und als vordringliche Lebensaufgabe ansieht. 4.3.3.3 Thematisierung der Aussiedlung als sich selbst und Familienangehörigen verständlich zu machendes Ereignis Wie gesehen, entfalten die beiden Hauptsprecherinnen der Aussiedlerfamilie zu Beginn des GASTMAHLS Gesprächsaktivitäten, mit denen russlanddeutsche Erfahrungswirklichkeit aufgezeigt und deutsche Kulturzugehörigkeit demonstriert wird. Die Aussiedlung nach Deutschland erscheint dabei als ein Ereignis, auf das das vormalige Familienleben in Russland ausgerichtet war, dessen Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit außer Frage standen. Dem einheimischen Besucherpaar wird eine Erfahrungswirklichkeit präsentiert, die vor allem durch kollektiv-historische Ereigniszusammenhänge in Russland bestimmt ist. Dabei scheint das Erleben der Aussiedlung und der Jetzt-und-hier-Situation in Deutschland allein von Haltungen der Dankbarkeit, der Erleichterung und des Stolzes, es geschafft zu haben, geprägt zu sein. Die kommunikative Herausarbeitung solcher allgemeinen Erlebnishaltungen ist geeignet, andere, tiefergehende und stark belastende Erlebnisweisen der Aussiedlung zuzudecken, die Aussiedlung als ein Ereignis darzustellen, für das kein weiterer Bedarf der Selbstreflexion besteht, und als Ereignis, das keine sonderlichen Belastungen für die Familie in sich birgt, ln späteren Phasen des Tischgespräches sind aber sehr wohl Gespräch saktivitäten zu beobachten, die die Aussiedlung nach Deutschland deutlicher als lebens- und familiengeschichtlichen Einschnitt thematisieren, als lebensveränderndes Ereignis, das von den Betroffenen selbst noch nicht hinreichend durchschaut und verarbeitet ist. Ich möchte im Folgenden auf zwei Gesprächsausschnitte eingehen, an denen sich beobachten lässt, wie mit dem Problem der Verständlichmac hung und der familieninternen Legitimierung der Aussiedlung umgegangen wird. <?page no="156"?> 156 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Aussiedlung als nicht richtig verstehbares Ereignis und ihre Verständlichmachung mittels kollektivgeschichtlich verankerter Sinnressourcen In dem nachfolgenden Transkriptionsausschnitt äußert Anna sich über die Haltung, die sie zur Aussiedlung nach Deutschland eingenommen hat, als sie noch im Herkunftsland lebte. Auch charakterisiert sie den Grad an Intentionalität und Bewusstheit, mit dem sie die Aussiedlung erlebt hat. Das einschneidende Ereignis der Aussiedlung wird darin als nicht richtig erklärbar, als von anonymen Kräften bewirkt dargestellt. Auf diese Einordnung der Aussiedlung als einem scheinbar übermächtigen, von außen das eigene Selbst steuernde und daher nicht richtig erklärbaren Geschehen reagiert dann Martha mit Erzählaktivitäten, die eine von Heimkehrprophezeiungen bestimmte familiale Diskurswelt zum Gegenstand haben. Inwiefern damit das für Anna nicht richtig Fassbare verständlicher gemacht wird, soll die dem Trankriptionsausschnitt folgende Analyse zeigen: 1236 AN: 1237 BM: 1238 BW: 1239 AN: 1240 AN: 1241 AN: 1242 K& 1243 AN: 1244 K& 1245 AN: 1246 AN: 1247 K 1248 AN: 1249 K 1250 GM: 1251 BM: 1252 XW: 1253 GM: 1254 BM: 1255 XW: auch die |toch|ter weil ich so sagt |j a? [ hm|hm| I hm I hm un=ich hab eigentlich n: ie gedacht dass mol >hm< * dass mir mol nach deutschland kommen oder was * weildes war immer so schwierigäh #s=ware "schwierigkeite die leut was vorher #UNTERHALTUNG IM HINTERGRUND, kommen sindvor zwanzig# jahren zurick oder zehn jahre RUSSISCH # s=gibt probleme *1,5* un=dann hat es mich jetzt so immer wirklich ich wollt #des hab ich nicht mit absicht so wie #SICH RECHTFERTIGEND, BETEUERND irgendwie gesagt des: * von allein is=des kommenf# *7,5* # |aber unsere | "eitere >ihre mutter die hat | ( ) | ( Ja |(horchen)| horchet sie mal unsere eit|ere| I ja: I esse de scho |a: gfangef| <?page no="157"?> 1256 GM: 1257 BM: 1258 GM: 1259 GM: 1260 BM: 1261 GM: 1262 K 1263 GM: 1264 K 1265 BW: 1266 GM: 1267 GM: 1268 GM: 1269 K 1270 BM: 1271 GM: 1272 GM: 1273 BM: 1274 GM: 1275 GM: 1276 BM: 1277 K& 1278 GM: 1279 K& 1280 GM: 1281 GM: 1282 AN: 1283 GM: 1284 BM: 1285 BW: 1286 AN: 1287 GM: 1288 GM: 1289 BM: 1290 GM: Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 157 die haben * gesagt * wor ich noch so groß un=dann hmhm sind bei uns bei meine eitere auch gast zu gast gekommen! , un=dann is immer davon gesprochen worden ja #es wird ne zeit kommendass die deutschen werden #MILDE - VERKLÄRT zurickfahrn in ihre heimatj. nach deutschlandj,# * # hmhm un=dann hat mein vater gesagt- (ha kann ich so=n dummrohi) no des=s "dumm rohi * #dumm gespräch# |in|=d russland soviel deitsche #ERLÄUTERND # ahj a hm|hm| dass * russland hat garnich so viel transportdass die zurick kenne fahren! , erst wie der große krieg LACHT LEISE warun=die deutsche ha: =se alle nach Kasachstan abtransportiert #ha=ich gedachtach vater vater hmhm #GEMURMEL IM HINTERGRUND war# doch so dumm! , * hast gemeint * die habe russland hat # nich soviel "transportum die deutschen nach deutschland fahre! , die haben ja soviel transport uns nach LACHT (in) Kasachstan zu fahren! , im krieg und war der LACHT LACHT |habe=se (dort eim auch) vorgemacht |große krieg un=uns habe=se im krieg nochj (dort) fortgeschleifti aber * die haben immer gehofft ja ** es wird ne zeit kommenwo die deutschen werden <?page no="158"?> 158 Aussiedler treffen aufEinheimische 1291 GM: 1292 GM: 1293 GM: 1294 GM: 1295 GM: 1296 BM: 1297 GM: 1298 GM: 1299 BM: 1300 GM: 1301 BM: 1302 GM: 1303 BM: zurickfahrn nach deutschlandi es "muss die zeit kommen ham=se gesagtj, *3* wie wir fort * auf de weg warndann * wollt ich hingehn bei meinem grab un=die mutter sage * mutter eure ** Worte sin: =erfüllung gang: wir fahm wir fahrn |nach| deutschlandi aber es war gar |j a | hmhm * hm nich meglich dass ich nach mein mutter ihrem grab könnt kommend * s=war s/ SCHNIEFT s/ ich s=war nich möglich ich hatt nich die meglichkeit die mutter ihre grab zu hm |zu | besuchen un ihr zu sagen |>hm<| hm Strukturelle Beschreibung Z. 1236-1303: Annas Erzählsätze enthalten nur allgemeine Erklärungen dazu, wie es zur Ausreise gekommen ist. Unter Hinweis auf leut, die von Problemen berichtet haben, gibt Anna zu erkennen, dass sie von der Möglichkeit einer Aussiedlung nach Deutschland selbst nicht mehr überzeugt war. Da die Ausreise aus der ehemaligen Sowjetunion lange Zeit schwierig war und andere Russlanddeutsche von Problemen in Deutschland berichteten, hat Anna die Aussiedlung lange nicht als eigenes biografisches Projekt bzw. als gemeinsames Vorhaben der Familie verfolgt (Z. 1236-1245). Es schließen sich weitere fragmentarische Äußerungen an, in denen es Anna darum geht, zu erklären, wie es dennoch zur Aussiedlung gekommen ist. Ihre Erklärung ist nicht sehr erschöpfend; vermuten lässt sich, dass sie die Aussiedlungsentscheidung nicht als intentional oder planmäßig herbeigeführt erlebt hat. Aus der Äußerung des hab ich nicht mit absicht (Z. 1246) sowie aus der Einordnung der Aussiedlung als etwas, das von allein (Z. 1248) gekommen ist, geht hervor, dass hier etwas für sie selbst Rätselhaftes geschehen ist und dass sie dieses Geschehen nicht als Resultat willentlichen und eigeninitiativen Handelns, sondern als Geschehen, das gleichsam über sie gekommen ist, betrachtet. Die in Z. 1245-1248 beobachtbaren Formulierungsbrüche deuten darauf hin, dass Anna auch aktuell noch Schwierigkeiten damit hat, die Aussiedlungsentscheidung richtig zu verstehen. <?page no="159"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 159 Auf die so charakterisierte Erlebnisweise zur Aussiedlung reagiert Annas Mutter nach einer Pause von gut sieben Sekunden. Dass es sich bei ihrer nachfolgenden Aktivität um eine Reaktion auf Annas Vorgängeräußerung handelt, zeigt sich an dem adversativen Redeanschluss, mit dem sie die Sprecherrolle übernimmt (und damit auch eine Frageinitiative von BM übergeht, vgl. Z. 1250-1251). Ihr Redeanschluss leitet Äußerungen ein, mit denen nicht bloß eine andere, eine kontrastierende Erlebnisperspektive auf den Prozess der Aussiedlung aufgezeigt, sondern auch ein Erklärungszusammenhang hergestellt wird. Es handelt sich um einen Vorgang gemeinsamer Verständlichmachung des Ereignisrahmens „Aussiedlung nach Deutschland“. Die von Martha angeschlossene Erzählaktivität hat unterstützende Verdeutlichungsfunktion für das von Anna Dargestellte; sie knüpft an das zuvor Gesagte an und liefert Erklärungspotenzial nach. Marthas Erzählung enthält die Wiedergabe einer Diskurswelt unter Angehörigen der Eltemgeneration. Darin ist eine Eleimkehr nach Deutschland in Prophezeiungen bzw. als kollektive Zukunftsbestimmung wachgehalten worden (Z. 1253-1263). Weiter enthält die Erzählung die Wiedergabe einer Argumentation, mit der der Vater der Erzählerin diese Vorstellung unter Hinweis auf fehlende Verkehrsmittel der Russen ins Lächerliche gezogen hat (Z. 1266- 1272). An diese spöttischen Äußerungen des Vaters musste Martha wieder denken, als sie sich der Zwangsdeportation ausgesetzt sah. Mit der Deportation nach Kasachstan hat sie eine bittere Widerlegung der väterlichen Zweifel am russischen Transportwesen erfahren müssen (Z. 1272-1288). Es folgt eine Äußerung, die den Glauben an und das Hoffen auf eine Zeit, in der die in Russland lebenden Deutschen wieder zurickfahrn, als Thematik von kollektiver Relevanz kennzeichnet (Z. 1288-1292). Ob die in Zeile 1288 verwendete Personenreferenz die lediglich auf Marthas Herkunftsfamilie bezogen ist oder auf die elterliche Generation insgesamt, ist nicht eindeutig entscheidbar. Deutlich aber wird kollektivgeschichtlich verankerte Relevanz von Heimkehrvorstellungen unter den Deutschstämmigen in Russland. In Z. 1292-1298 folgt eine kurze Erzählpassage, die verdeutlicht, wie diese Thematik das Aussiedlungserleben bei Martha geprägt hat: Sie hat bei der bevorstehenden Ausreise den Wunsch verspürt, zum Grab ihrer Mutter zu gehen und ihr in einem inneren Dialog zu sagen, dass sich ihre Heimkehrprophezeiungen im Leben ihrer Tochter jetzt erfüllen werden. Mit der Wiedergabe dieses imaginierten Verabschiedungsdialogs wird deutlich, dass Martha wie sonst niemand im Familienensemble mit der Erzählwelt ver- <?page no="160"?> 160 Aussiedler treffen aufEinheimische bunden ist, für die die Heimkehrthematik bestimmend war. Sie hatte Anteil an den in dieser Erzählwelt verbreiteten Hoffnungen und Zukunftsorientierungen, daher verarbeitet sie die jetzige Lebenssituation auch in Sinnbezügen der Erfüllung von Weissagungen und Prophezeiungen ihrer Vorfahren. Martha macht mit der Vergegenwärtigung der Heimkehrvorstellungen den Wunsch nach Deutschland zu gehen, der von Anna zuvor nur unklar dargestellt werden konnte, verständlicher. Die Verständlichmachung besteht darin, eine intergenerative Verbindung zu ziehen zwischen den starken Heimkehrvorstellungen der Älteren und dem eigenen Hiersein. Die eigene biografische Situation und auch die von Familienmitgliedern wird dabei eingebunden in die kollektivgeschichtlichen Abläufe, von denen Vorfahren betroffen waren. Martha versieht die Nachaussiedlungssituation mit einer Sinngebung, die besagt: ‘Wir sind die, an denen sich das erfüllt, woraus unsere Vorfahren Hoffnungen bezogen haben und was ihnen verwehrt geblieben ist.’ Kommunikative Bearbeitung des Problems der erzwungenen Aussiedlung Es sollte in den vorausgegangenen Kapiteln deutlich geworden sein, dass Anna und Martha die Aussiedlung sehr stark in Bezügen von Heimkehrvorstellungen und Schicksalsbestimmung erleben. In Marthas Erzählaktivitäten, in denen sie das imaginierte Verabschiedungsgespräch am Grabe ihrer Mutter erwähnt, zeigt sich, wie stark sie die Aussiedlung in Sinnzusammenhängen der Prophezeiung einer besseren Zukunft erlebt. An den verschiedenen Passagen, in denen Anna und Martha ihre deutsche Kulturzugehörigkeit sowie ihre jetzige aktuelle biografische Situation darstellen, ist auch zu erkennen, dass beide auf der Grundlage eines Verständnisses von Aussiedlung als schicksalhafte Bestimmung eine strikte Akzeptanzhaltung gegenüber der neuen Lebenssituation einnehmen. Wie sich im weiteren Verlauf des Tischgespräches zeigt, ist dies bei Annas ältestem Sohn nicht der Fall. Es ist interessant zu sehen, wie seine Mutter auf die Sinnquelle der Schicksalsbestimmung zurückgreift, um seine Schwierigkeiten mit der Aussiedlung zu bearbeiten. Ich gebe zunächst das Gesprächsgeschehen, das sich unmittelbar davor ereignet hat, in geraffter Form wieder (unter Verzicht auf den vollständigen Transkriptionsausschnitt und die entsprechenden Zeilenangaben). Anschließend zeige ich anhand des betreffenden Ausschnitts aus dem Transkript, wie Anna die Unzufriedenheitsbekundung ihres ältesten Sohnes verarbeitet. <?page no="161"?> Das Ubergangswohnheim als neuer Lebensraum 161 Zur Generierung des Themas „Zufriedenheit mit der Aussiedlung“: Der Beobachter versucht zu erkunden, ob Annas Söhne gern nach Deutschland gegangen sind. Darauf antwortet als Erste Anna; sie gibt stellvertretend für ihre Söhne die Antwort nein s=kann man nich sagen dass sie traurig waren und räumt dabei ein, dass ihr jüngster Sohn anfangs nicht gehen wollte. Dieser Sohn ergreift wenig später selbst das Wort und macht in einem stereotyp anmutenden Antwortformat deutlich, dass er inzwischen die Ausreise nach Deutschland akzeptiert habe [am alle anfang wollt ich nicht aber dann * bin ich irgendwo so auf *1,5* einen gedanken gekommen dass ich (musste heimfahren? muss da hinfahren) >(der gedanke) ist so < *3* ah ich hab gedacht * ich habebessere zukunft hier]. Auf Nachfrage des Beobachters, ob er, der jüngere Sohn, inzwischen immer noch glaube, hier eine bessere Zukunft zu haben, antwortet er mit zum teil; seine Mutter wiederholt diese Antwort. Dann äußert sich Annas ältester Sohn (im nachstehenden Transkript mit S1 gekennzeichnet) dezidierter und bekennt, dass er nicht daran glaube, hier eine bessere Zukunft zu haben [<ich nicht>]. In der anschließenden Begründung dieser Zukunftseinschätzung erklärt er dann, dass es im Herkunftsland besser gewesen sei und dass er gegen seinen Willen hierher gekommen sei [dort war es besser von anfang wollt ich * überhaupt nich * hierher fahren], Wie aus dem nun folgenden Transkriptionsausschnitt weiter hervorgeht, hat Annas ältester Sohn sich durch die Ausreise der letzten nahen Verwandten, die noch geblieben waren, gezwungen gesehen, auch nach Deutschland zu gehen. Daraufhin schaltet sich Anna wieder ein und vollzieht Aktivitäten, die geeignet sind, den von ihrem ältesten Sohn bekundeten Mangel an Einverständnis mit der Aussiedlung zu entschärfen: 3200 S1 3201 S1 3202 S1 3203 BM 3204 S1 3205 S1 3206 K un=dann als schon großvater und großmutter weggegangen sind ** nach deutschland * hab ich=s mir noch einmal überlegt ** <—> ich war schon gezwungen * hierher zu weil die familie schon hier warf fahrenf<—> ** #na ja i: ch bin dort allein gebliebenf * ganz alleinf# #BEWEGT # 3207 AN: 3208 S1: musste ich schon ** >fahren< un meistens denk ich hast=e <?page no="162"?> 162 Aussiedler treffen aufEinheimische 3209 AN: auch verstanden dass des: Schicksal so isti es geht nicht 3210 AN: 3211 Sl: 3212 K 3213 AN 3214 BM 3215 AN 3216 BM 3217 Sl 3218 AN 3219 SO 3220 BM 3221 Sl anders gell aber soweit ich weiß: ** viele #>no ja<# *3* #KEHLIG # —>m=f=t<—die * —>ich mein von der jugendschaft <—J, die hm fahre sehr gernej- ** |aber bei ih: / | äh bei | bei ihm is |(au: ja)i| |no ja ich | ich bin | ich bin als LACHT ob I wie ein ** ausnahmej, * I jaT| 3 a 3 a 3 a das Deutlich wird hier: Die von ihrem ältesten Sohn geschilderten Zwangsumstände, unter denen er ausgesiedelt ist, bzw. den von ihm ausgedrückten Erlebnismodus der Ausreise kann Anna so nicht stehen lassen. Sie ist bemüht, die von ihrem Sohn angezeigte Haltung zur Aussiedlung nach Deutschland zu korrigieren. Für Anna desavouiert die Erlebnisversion ihres Sohnes (wonach die Aussiedlung nicht aus eigenem Willen, sondern aus familiären Zwangsverhältnissen erfolgt ist) die zuvor von ihr entwickelte Erlebnisversion der Aussiedlung, für die Vorstellungen von Heimkehr nach Deutschland, Gefühle des Getriebenseins und der Erleichterung darüber, es endlich geschafft zu haben, bestimmend waren. Auf den hier aufbrechenden Dissens hinsichtlich der Bereitschaft, nach Deutschland zu gehen, reagiert Anna. Sie führt eine prinzipielle Einsichtsfähigkeit ihres Sohnes an, die Einsichtsfähigkeit, sich der Schicksalsbestimmung des Familienverbandes fügen ZU müssen [un meistens denk ich hast=e auch verstanden dass des: Schicksal so istf es geht nicht anders gell; Z. 3207- 3210], Die von ihrem Sohn (aktuell) ausgedrückte Haltung gegenüber der Aussiedlung wird so als eine temporär auftretende eingeordnet. Annas Äußerung behandelt die Erlebnisversion ihres Sohnes als Ausdruck einer Stimmungslage, die an der festen Grundeinsicht in die Aussiedlungsnotwendigkeit nichts ändert. Sie schreibt ihm diese Grundeinsicht als ein gleichsam persönlichkeitskonstantes Merkmal zu. Mit dem angehängten es geht nicht anders gell (Z. 3209 u. 3210) wirkt Anna einer Expansion dieser brisanten Thematik entgegen. Eine eindeutige Ratifizierung der von <?page no="163"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 163 seiner Mutter unterstellten Einsichtsfahigkeit in das Schicksal „Aussiedlung nach Deutschland“ durch S1 bleibt aus. Das >no ja< in Z. 3211 drückt keine wirkliche Zustimmung zu der Behauptung seiner Mutter aus. Anna hat innerhalb des Familienensembles eine gewisse Deutungshoheit zum Aussiedlungsprozess inne; sie macht davon in Gegenwart einheimischer Gäste Gebrauch. Dass Anna sehr um Korrektur der Erlebnisversion, die ihr Ältester zur Sprache gebracht hat, bemüht ist, wird auch daran deutlich, dass sie in Z. 3210 u. 3213 generalisierend die jüngere Generation russlanddeutscher Aussiedler, die jugendschaft, wie sie sagt, ins Spiel bringt. Von den jüngeren und jugendlichen Aussiedlem behauptet sie, dass diese eine andere Haltung zur Aussiedlung einnehmen als ihr ältester Sohn: sie würden sehr gern nach Deutschland fahre (Z. 3215). Den Hinweis auf die große Mehrheit der jüngeren Aussiedler will Anna mit einer auf ihren Sohn bezogenen Vergleichskonstruktion weiter führen. Die angefangene Äußerungskonstruktion führt aber ihr Sohn selbst zu Ende, indem er von seiner Mutter sozusagen in den Mund gelegt sich als eine Ausnahmeerscheinung einordnet. Indem er für sich eine Sonderstellung innerhalb der jüngeren Generation reklamiert und für sich die Ausnahmeposition akzeptiert (Z. 3217 u. 3221), bleibt Annas ältester Sohn zwar bei seiner Haltung, nur widerstrebend und gezwungenermaßen nach Deutschland gekommen zu sein. Aber auch das allgemeine Bild der Familie, die die Aussiedlung nach Deutschland in Sinnbezügen der Schicksalserfüllung 150 erlebt, und das Bild von der jüngeren Generation, die gern nach Deutschland geht, wird dadurch nicht beschädigt. Im weiteren Gesprächsverlauf kommt es nicht zu einem Versuch, die Frage zu klären, warum S1 nicht gern nach Deutschland gekommen ist, auch unterbleiben weitere Versuche, ihn von der Sinnhaftigkeit der Aussiedlung zu überzeugen. Denkbar ist, dass Anna - und vielleicht auch andere Familienangehörige einen solchen Diskurs in Anwesenheit der einheimischen Gäste nicht führen möchten. Möglicherweise ist hier auch ein Thema aufgekommen, das in der Aussiedlerfamilie generell sehr heikel ist und daher lieber gemieden wird. Festzuhalten ist somit zweierlei: Es manifestiert sich hier 150 Was Anna genau mit der Deutungskategorie ‘Schicksal’ verbindet, ist schwer entscheidbar. So wie Anna hier mit dieser Kategorie operiert, entsteht der Eindruck, dass ‘Schicksal’ als Sinnressource zur Durchsetzung und zur Verschleierung von Entscheidungen, die innerhalb des Familienverbandes nicht vollständig geklärt sind, Verwendung findet. <?page no="164"?> 164 Aussiedler treffen aufEinheimische zum einen ein familienintemer bzw. ein intergenerativer Dissens hinsichtlich der Bewertung der Aussiedlung nach Deutschland. Zum anderen wird mit dem Argument der Schicksalshaftigkeit latentes Konfliktpotenzial still gelegt (denkbar ist, dass der innerfamiliäre Umgang mit diesem Dissens anders verläuft, wenn die Betroffenen ausschließlich unter sich sind). 4.3.4 Zusammenfassende Charakterisierung der Interaktionsgrundlagen und der kommunikativen Prozesse Die Einladung zum sonntäglichen Familientreffen - und ihre Instrumentalisierung fiir Forschungsinteressen lässt eine Situation entstehen, in der ‘Leute von hier’ auf ein russlanddeutsches Familienensemble in beengten Wohnverhältnissen im Wohnheim treffen. Die einheimischen Besucher sind schon länger mit der Gastgeberfamilie bekannt; die Angehörigen, die erstmals auf die Gäste treffen, wissen um diese Bekanntschaft, so dass auch sie von einer Vertrauensbeziehung zwischen dem gastgebenden Ehepaar und dem Besucherpaar als gemeinsamer Interaktionsgrundlage ausgehen und bereitwillig über ihre Herkunft, über ihr bisheriges Leben und über die Verarbeitung des Kulturwechsel sprechen können. Das Besucherpaar ist ernsthaft interessiert an der Lebenssituation russlanddeutscher Aussiedler, es ist aufnahmebereit für die Lebensgeschichten und Alltagsprobleme der ebenfalls zu Besuch gekommenen Angehörigen der Kleins. Von solchen Annahmen können die Mitglieder der russlanddeutschen Großfamilie auch deshalb ausgehen, weil sie wissen, dass zwischen dem gastgebenden Ehepaar (Sonja und Richard) und dem einheimischen Besucherpaar eine Vertrauensbeziehung besteht. Den Kleins und ihren Angehörigen ist bekannt, dass mit dem Besuch des einheimischen Paares Forschungsinteressen verknüpft sind. Dieses Wissen ermöglicht es ihnen, das Besucherpaar als ‘interessierte Einheimische’ anzusehen, als Einheimische, denen mitgebrachte Erfahrungsbestände und aussiedlungsbedingte Probleme offenbart werden können. Der Besuch des einheimischen Ehepaares ist insbesondere für die ebenfalls zu Besuch gekommenen Angehörigen der Kleins eine Gelegenheit, hiesige Deutsche an ihrer familialen Lebenswelt und ihren kollektivgeschichtlichen Erfahrungsbeständen teilhaben zu lassen, ihnen zu zeigen, auf welche Weise sie sich mit Deutschland, aber auch mit dem Land, aus dem sie gekommen sind, verbunden fühlen. <?page no="165"?> Das Ubergangswohnheim als neuer Lebensraum 165 Sich-nicht-verstanden-Fühlen von den hiesigen Deutschen geht als wichtiger Kommunikationsimpuls in das Tischgespräch ein. Die Erfahrung, dass die Hintergründe ihrer Aussiedlung und ihres Hierseins Einheimische nicht interessieren oder nicht richtig von ihnen gewürdigt werden, spielt für die von Anna und Martha entfalteten kommunikativen Aktivitäten eine wichtige Rolle. Der Eifer, mit dem die beiden Frauen über ihre Herkunft und ihr Deutschsein sprechen, hat etwas damit zu tun, dass ihrer Lebenssituation in anderen Begegnungen mit alteingesessenen Deutschen wenig Interesse geschenkt wurde, womöglich auch damit, dass anderenorts Erfahrungen des Anzweifelns und Absprechens einer Identität als Deutsche oder Deutschstämmige gemacht werden mussten. Mit Teilnahme der einheimischen Gäste an dem sonntäglichen Familientreffen eröffnet sich eine Gelegenheit zur Verarbeitung dieser enttäuschenden Erfahrungen. Situative Erfordernisse der Beziehungskonstitution und der Herstellung von Interaktionsgrundlagen werden vor allem in Gesprächsaktivitäten der beiden Hauptsprecherinnen bearbeitet. 151 Die schon zu Gesprächsbeginn beobachtbaren Äußerungsformate biografischen Sprechens stellen gemeinsame Sinn- und Weltbezüge und eine Teilhabe der Gäste an den Erfahrungsbeständen des Familienkollektivs her. Die Intaktheit der dazu erforderlichen Vertrauensgrundlagen wird von den Gästen durch Signalisierung von Zuhörbereitschaft und durch thematisches Interesse bekundende Frageinitiativen symbolisiert. Die gemeinsamen Wissens- und Vertrauensgrundlagen sind jedoch nicht so gefestigt wie in Alltagssituationen, in denen Prozesse wechselseitiger Perspektiveneinnahme routinisiert ablaufen und in denen fraglos von Beständen gemeinsamen Wissens Gebrauch gemacht werden kann. Hauptsächlich die Großmutter vollzieht immer wieder Aktivitäten, mittels derer sie prüft, ob die Gäste sie verstehen und wirklich an dem interessiert sind, was sie erzählt. 152 Sie vollzieht ferner Aktivitäten, mittels 151 Bei den nachfolgenden Ausführungen beziehe ich mich auch auf Gesprächsphänomene, die bei der Analyse ausgewählter Passagen nicht berücksichtigt werden konnten. 152 Am deutlichsten treten ihre Zweifel an der Reziprozitätsordnung zu Tage in einem Äußerungsformat, das die Zuhörerperspektive hypothetisch kennzeichnet als eine, die darauf hofft, dass die Erzählerin bald schweigt, darauf, von der Erzählerin, ihrem Erzähleifer und ihren schrecklichen Erlebnissen nicht länger geplagt zu werden. Diese Unterstellung, dass die Gäste von ihren Erzählungen strapaziert seien, erfolgt im Anschluss an Darstellungen kriegsbedingter Lei- <?page no="166"?> 166 Aussiedler treffen aufEinheimische derer sie zu klären versucht, ob die Gäste über ausreichende historische Kenntnisse verfugen [Beisp.: hat er schon was gehetrt von de * trudarmee]. Auch den Gästen unterstellte Zweifel an dem von ihr Dargestellten werden mit entsprechenden Glaubwürdigkeitsbeteuerungen bearbeitet [ich erzähl wie mir gelebt ham], Zweifel an der Reziprozitätsordnung werden ferner an solchen Gesprächsstellen deutlich, an denen Martha, die älteste Sprecherin im Familienensemble, extreme Leidenserfahrungen als etwas Unsagbares, nicht Vermittelbares deklariert [schrecklicher hunger * des ka=mer gar nicht erzähle]. Die russlanddeutsche Familienwelt den einheimischen Gästen nahe zu bringen ist das Kommunikationsbedürfnis, das bei Martha, der Urgroßmutter, besonders stark ausgeprägt ist. Es äußert sich hauptsächlich darin, dass sie Rederecht beansprucht, um die Rolle als Geschichtenerzählerin zu besetzen und zu expandieren. Symptomatisch hierfür ist u.a., dass sie auf Nachfragen und auf konkurrierende Thematisierungsinitiativen nicht eingeht. Die bei Martha mehrfach beobachtbaren Verletzungen konditioneller Relevanzen sind Ausdruck eines starken Darstellungsbedürfnisses und Ausdruck einer Situationsorientierung, die sie eigeninitiativ immer wieder aufnimmt. Sie treibt das Handlungsschema der Präsentation russlanddeutscher Erfahrungsbestände und russlanddeutscher Identität in Gegenwart aufnahmebereiter Repräsentanten der einheimischen Bevölkerung voran. Martha gestaltet ihre kommunikative Beteiligung an dem Gespräch in starker Fixierung auf ihre Rolle als das Familienmitglied, das über den größten Erinnerungsschatz hinsichtlich der Kollektiv- und Familiengeschichte und über die stärkste Evidenz eines Lebens in deutschen Kulturbezügen verfügt. Sie arbeitet sozusagen dem wissenschaftlich motivierten Interesse der Besucher am engagiertesten 15 ’ zu und zeigt dabei nahezu kunstvolle Erzählfertigkeiten. Bemerkenswert ist allerdings auch, das sie an Stellen, an denen ihre Erzählungen besonders dicht werden, ins Russische verfällt. denserfahmngen ["elend und "elend=n=nochmal elend gehabt ihr wird sag die alte (fragt? plagt) mich so mied und sagt schweig LACHT]. 153 Erzählkommentare wie beispielsweise des is kein ein wort unnedich * ich erzähl wie mir gelebt hamsowie das Rederecht sichernde Fragen an das Besucherehepaar, z.B. wollt ihr noch was wissen, zeigen nicht nur, dass die Urgroßmutter Gefallen an der Rolle als Erzählerin hat, sondern auch, dass sie sich als diejenige in der Familie versteht, die kollektiv- und familiengeschichtlich außerordentlich bedeutsame Erfahrungsbestände kompetent vermitteln kann. <?page no="167"?> Das Übergangswohnheim als neuer Lebensraum 167 Von mehreren Angehörigen werden Problematiken offen angesprochen, die aus Verlusterfahrungen und Trennungsschmerz resultieren. Über biografische Situationen von Familienangehörigen wird allerdings nur in allgemeinen Kennzeichnungen gesprochen. Auf das offene Ansprechen von Problemen mit der Aussiedlungsentscheidung bei dem 25jährigen Sohn Annas kommen beschwichtigende und „zudeckende“ Verarbeitungsaktivitäten in Gang. Während die Großmutter die deutsche Erfahrungswelt hauptsächlich in Vergangenheitsbezügen präsent macht, ist bei ihrer Tochter Anna ein deutliches Bemühen um Selbstdarstellung als Aussiedlerin, die mit ihrer neuen Lebenssituation gut zurechtkommt, zu registrieren. Auffällig an Annas Beteiligungsweise an dem Tischgespräch ist, dass sie das Situationsgeschehen maßgeblich steuert, also thematische Initiierungs- und Kontrollaktivitäten vollzieht. Sie wacht über das Gesamtgeschehen, kommentiert und validiert Gesprächsbeiträge ihrer Angehörigen (insbesondere ihrer Mutter). Anna ist diejenige, die andere Familienmitglieder als Sprecher und Sprecherinnen etabliert. Dass sie sozusagen auf die Außenwirksamkeit der Darstellungen anderer Familienangehöriger bedacht ist, hat womöglich etwas mit ihrer Vorrangstellung in der Geschwisterfolge zu tun, möglicherweise aber auch damit, dass sie und ihr Mann als Erste aus dem Verwandtschaftskollektiv nach Deutschland ausgesiedelt sind. Hinzu kommt, dass Anna im Gebrauch der deutschen Sprache versierter ist als die anderen Familienangehörigen und ihr Deutsch weniger dialektal gefärbt ist als das ihrer Mutter und ihres Vaters. Im Gesprächsverhalten von Martha und Anna kommt aber auch eine kommunikative Arbeitsteilung zum Tragen. Bei der Präsentation der kollektivgeschichtlich geprägten Erfahrungswirklichkeit und beim Sprechen über leidvolle Erfahrungen bei der Aussiedlung und Eingliederung sind gemeinsam entwickelte Erzählpassagen und sich wechselseitig unterstützende Gesprächsaktivitäten beobachtbar. Dadurch, dass mit Martha und Anna Vertreterinnen zweier Generationen zu Wort kommen, wird das Sprechen über Leidensmomente und Irritationen der Fremdheits- und Marginalitätssituation erleichtert. So können Mutter und Tochter leidvolle Erfahrungen für einheimische Besucher darstellen und sich dabei von der Angst frei machen, als undankbar gegenüber Deutschland missverstanden zu werden (da sie ja über enttäuschende und belastende Erfahrungen in Deutschland sprechen). Die kommunikative Arbeitsteilung zwischen den Generationen ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass das von der Marginalitätssituati- <?page no="168"?> 168 Aussiedler treffen aufEinheimische on ausgehende Leid offen zum Ausdruck kommen kann. Und im arbeitsteiligen Gesprächsverhalten der beiden Frauen entsteht ein Kommunikationsarrangement, das von den Angehörigen der Aussiedlerfamilie selbst als akzeptable und legitime Gelegenheit zum Aussprechen von Marginalisierungserfahrungen angesehen wird. Die dabei beobachtbaren Formulierungsanstrengungen und Formulierungshilfen, die fragmentarischen Äußerungskonstruktionen und die Erscheinungen von Darstellungsunordnung sind nur zum Teil dem Gebrauch einer Sprache geschuldet, in der die Sprecherinnen nicht mehr oder noch nicht richtig „zu Flause“ sind sie weisen auch auf noch nicht abgeschlossene Verarbeitungen der erfahrenen Identitätserschütterungen und Identitätsveränderungen hin. <?page no="169"?> 5. Inanspruchnahme des Hilfesystems und Umgang mit anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten - Interaktionsprozesse in der Aussiedlerberatung Bei der Aufnahme und Eingliederung von Aussiedlem in Deutschland spielen Einheimische, die in professioneller Funktion in diesen Prozess involviert sind, eine herausragende Rolle. Gemeint sind hier neben den Lehrern für Deutschkurse und denen der Bildungsinstitutionen vor allem die für die Wohlfahrtsverbände tätigen Aussiedlerbetreuer. Überwiegend handelt es sich dabei um ausgebildete Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. 1 " 4 Dieses relativ junge Arbeitsfeld der Sozialwesen-Professionellen erstreckt sich auf 154 Im Verlaufe meiner Feldforschungsaktivitäten bin ich auch auf Absolventen sozialwissenschaftlicher und theologischer Studiengänge sowie auf Selbstbetroffene gestoßen. Bei den Letztgenannten handelt es sich gewöhnlich um Aussiedler, die schon länger in Deutschland leben, in ihrem relativ hoch qualifizierten Ausbildungsberuf aber keine vergleichbare Beschäftigung wie im Herkunftsland finden (z.B. ehemalige Lehrer). Aufgrund dieses relativ hohen beruflichen Qualifikationsniveaus werden sie vom Personal der Arbeitsverwaltung, von den Wohlfahrtsverbänden, von den Trägereinrichtungen der Sprachschulen usw. als geeignet für die Unterstützung, Betreuung, Unterrichtung und Beratung neu ankommender Aussiedler angesehen bzw. angeworben. Auf die besondere Problematik, die aufkommen kann, wenn etwa ein russlanddeutscher Aussiedler auf eine Beraterin trifft, die aus Polen ausgesiedelt ist, kann ich mangels authentischer Belegmaterialien nicht eingehen. In Gesprächen, die ich mit Mitarbeitern der Wohlfahrtsverbände führen konnte, wurde ich verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich dabei oft um spannungsgeladene Konstellationen der Betreuungs- und Beratungsarbeit handelt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die so genannten Ehrenamtlichen, die in der Aussiedlerhilfe tätig sind. Auch sie agieren oftmals als Betreuer und Berater. Insbesondere in Kirchengemeinden, im Umfeld karitativer Verbände und auch im Umfeld politischer Parteien sind Bemühungen zu verzeichnen, die Integration von Aussiedlern durch Mobilisierung ehrenamtlich tätiger Einheimischer zu unterstützen (zur Arbeit der Ehrenamtlichen siehe auch Kap. 6.6.5 und die Anm. 247). Ferner sind hier auch die Beratungsdienste zu erwähnen, die von landsmannschaftlichen Organisationen für Aussiedler erbracht werden (zur Arbeit der Landsmannschaften bzw. der Dachorganisation „Bund der Vertriebenen“ siehe auch Anm. 282 in Kap. 7.3.2.2). Wenn ich hier und im Folgenden die Bezeichnungen Aussiedlerbetreuer bzw. -berater verwende, sind stets die in professioneller Funktion Tätigen gemeint. <?page no="170"?> 170 Aussiedler treffen aufEinheimische vielfältige Formen des Unterstützens, Begleitens, Anleitens, Beratens, Einsozialisierens und auch des Unterrichtens der Migranten aus Osteuropa. Vor allem in den ersten Monaten nach der Einreise sind die Interaktionen mit professionellen Helfern wichtig für das Sichzurechtfinden der Aussiedler in der neuen Lebenswirklichkeit. Es geht in diesen Interaktionszusammenhängen allgemein gesagt darum, auf Wandlungsprozesse der Aussiedleridentität helfend einzuwirken. Eine zentrale Rolle spielen hier die Beratungsdienste der Wohlfahrtsverbände. Sie sind mit Problemen der institutionellen und administrativen Eingliederung ebenso befasst wie mit psychosozialen Schwierigkeiten der Zuwanderer. Die dort stattfindenden Beratungsgespräche sind sozial verdichtete Abläufe, in denen Aussiedler an die Lebensbedingungen in Deutschland angekoppelt werden. Für die ratsuchenden Aussiedler sind sie ein wichtiger sozialer Ort, an dem sie gleichsam prototypisch die Solidarisierungsfähigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft mit ihrer neuen Lebenslage erfahren. Insofern, als in diesen Beratungsgesprächen professionelle Akteure die Nachaussiedlungssituation mitgestalten, und zwar in Orientierung an hoheitsstaatlichen und institutionellen Relevanzen, lassen sie sich auch als Schlüsselsituationen im Prozess des Übergangs und der Identitätsänderung ansehen. Die eingehende Analyse eines Gespräches aus der Aussiedlerberatung ist geeignet, Ausformungen dieser allgemeinen Zusammenhänge auf der Ebene des Interaktionsvollzuges nachzuzeichnen. 155 Ziel der nachfolgenden Analyse eines Beratungsgespräches ist es a) an einem konkreten Fall zu zeigen, wie im Medium der Beratungsarbeit hoheitsstaatlich-administrative Relevanzen der Aussiedlerintegration auf die individuelle Problem- und Interessenslage angewandt werden und b) herauszuarbeiten, wie professionelles Routinehandeln und hoheitsstaatliche Vorgaben der Beratungsarbeit auf die Handlungschancen russlanddeutscher Klienten durchschlagen, und wie die Klienten mit den beraterischen Strategien der Situationssteuerung umgehen. Bevor ich zur exemplarischen Analyse eines Beratungsgesprächs komme, seien zunächst das System der Aussiedlerhilfe und die darin eingebundenen Beratungsdienste skizziert. 155 Eine kürzere Fassung dieses Kapitels findet sich in Reitemeier (2000). <?page no="171"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 171 5.1 Die Stellung der Beratungsdienste im Aufnahme- und Eingliederungsprozess Die Beratungsstellen für Aussiedler sind zentraler Bestandteil des komplexen Betreuungs- und Hilfesystems, das speziell für diese Gruppe von Zuwanderem errichtet wurde. Dieses Hilfesystem schließt Maßnahmen zur Förderung des kulturellen Lernens und der sozialpädagogischen Begleitung für verschiedene Alters- und Geschlechtsgruppen ein; zudem fungiert es als intermediäre Instanz zu staatlichen Institutionen, zur Arbeitswelt, zum Bildungs-, Rechts- und auch zum Gesundheitssystem. Der Aufbau dieses Hilfesystems geht zurück auf Regierungsbeschlüsse; seine organisatorische, personelle und programmatische Ausgestaltung haben die Wohlfahrtsverbände übernommen. Ein „Programm der Bundesregierung zur Eingliederung von Aussiedlem in der Bundesrepublik“ gibt es seit 1976 (Neuauflage 1988). Mit diesem Programm erging an die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege der Auftrag, den Prozess der Aussiedlerintegration unterstützend zu begleiten. Verschiedene Wohlfahrtsverbände haben daraufhin Einrichtungen zur Betreuung und Beratung von Aussiedlem aufgebaut. 156 Ein Blick auf Zieldefinitionen, die in den Wohlfahrtsverbänden formuliert wurden, lässt erkennen, wie sich das Hilfesystem, das Beratungsstellen für Aussiedler eingerichtet hat, auf seine Klientel bezieht und sich ihr gegenüber positioniert. Bei der Durchsicht von Dokumentationen und Jahresberichten der Wohlfahrtsverbände stößt man auf Zielformulierungen, an denen deutlich wird, dass zwischen Beratungs- und Betreuungsarbeit nicht strikt unterschieden wird. Eine „schrittweise Verselbständigung“ und „Förderang von Eigeninitiative“ wird ebenso angestrebt wie das „Einüben neuer Verhaltensweisen“. Dabei sollen Aussiedler die neuen soziokulturellen Strukturen verstehen lernen. Auch sollen sie über das Werte- und Normensystem der hiesigen Gesellschaft aufgeklärt werden. Des Weiteren soll die Betreuungsarbeit zur Förderung der Verständigung zwischen Aussiedlem und einheimischer Bevölkerung beitragen. Als dringlich wird auch die „Hilfegewährang bei persönlichen 156 Nach der Wiedervereinigung wurde das bundesweite Betreuungsnetz auch auf die neuen Bundesländer ausgeweitet. Die Aussiedlerbetreuer, mit denen ich im Verlaufe meiner Feldforschungsaktivitäten in Kontakt stand, waren bei folgenden Wohlfahrtsverbänden beschäftigt: Arbeiterwohlfahrt, Caritasverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Internationaler Bund für Sozialarbeit/ J ugendsozialwerk. <?page no="172"?> 172 Aussiedler treffen aufEinheimische Schwierigkeiten“ sowie bei Problemen mit administrativen Abläufen und in „anerkennungs- und leistungsrechtlichen Angelegenheiten“ angesehen. Über die rein informationsvermittelnden und orientierenden Funktionen von Beratung hinaus ist diese Flilfeeinrichtung auch als „Übungsfeld für schwierige Anforderungen im Umgang mit Behörden“ gedacht. Und auch eine „Kompensation sprachlicher Schwierigkeiten durch Einräumung von mehr Beratungszeit“, als sie in den Behörden gewährt wird, wird mit den Beratungsdiensten angestrebt. Natürlich dürfen die hier genannten Zieldefinitionen 157 der Betreuungs- und Beratungsarbeit mit Aussiedlem, die ja vor allem der Außendarstellung der Trägereinrichtungen dienen, nicht mit den real ablaufenden Prozessen gleichgesetzt werden. Die Auflistung der Zielsetzungen macht aber deutlich, von welchem Bedarf an Hilfe ausgegangen wird und wie sich die Trägereinrichtungen auf Aussiedler beziehen. Auch machen diese Zieldefinitionen deutlich, wie die Beratungsdienste für den Erfahrungsprozess des Ankommens und des Sich-Einlebens in Deutschland relevant werden: Sie fungieren als Instanz der Hilfegewährung im Umgang mit rechtlichen, lebenspraktischen und psychosozialen Schwierigkeiten (vgl. hierzu auch die nachstehende Arbeitsstatistik der Aussiedlersozialdienste, die eine Häufigkeitsverteilung der Beratungsthemen wiedergibt). Sie fungieren aber auch als Instanz, die Anforderungen an Aussiedler stellt, die an Lern- und Veränderungsprozesse heranführt, diese unterstützt und begleitet. Solche Zieldefinitionen wie „Einüben neuer Verhaltensweisen“, „Verstehen der Werte und Normen der hiesigen Gesellschaft“ usw. stellen von den Trägem der Betreuungseinrichtungen (den Wohlfahrtsverbänden) geleistete Übersetzungen und Konkretisierungen hoheitsstaatlicher Anforderungen an Identitätsverfassungen der ‘neuen Deutschen’ dar. 157 Die oben wiedergegebenen Zielformulierungen sind einer Broschüre aus dem Jahr 1992 entnommen, in der ein Kreisdekanat des Caritasverbandes seine Beratungsdienste für Aussiedler darstellt. Ähnlich lautende Zielformulierungen finden sich im Jahresbericht des DRK (1997). Auch in den Interviews, die ich mit den professionellen Betreuern und Beratern führen konnte, tauchen solche Funktionsbestimmungen der Beratungsarbeit auf. <?page no="173"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 173 5.1.1 Inhalte der Aussiedlerberatung und ihre Vorkommenshäufigkeiten Ein Großteil der Beratungsdienste, die die Wohlfahrtsverbände erbringen, erstreckt sich auf Fragen der Einbürgerung bzw. der Statusanerkennung. 158 Statusrechtliche Angelegenheiten waren 1995 der häufigste Gegenstand in der Aussiedlerberatung, wie aus einer statistischen Erhebung des Aussiedlersozialdienstes der Caritas hervorgeht (vgl. Caritas 1996). Diese Arbeitsstatistik der Aussiedlersozialdienste erfasst insgesamt 27 verschiedene Beratungsinhalte. Mit 36,9% stehen statusrechtliche Fragen dabei an erster Stelle der Nennungen, gefolgt von Problemen der Existenzbzw. Einkommenssicherung. Nur sehr wenige Klienten suchten die Beratungsstellen in strafrechtlichen Angelegenheiten, wegen Schwangerschafts- oder Suchtproblemen auf. Die Beratungsinhalte und ihre Häufigkeitsverteilung im Einzelnen: Statusrechtliche Fragen 36,9 % Wohnung/ Unterbringung 36,7 % Sozialhilfebezug 29,2 % Einkommen (Lohn/ Gehalt/ Rente) 23,8 % ArbeitsplatzZ-losigkeit 23,8 % Familiennachzug 23,8 % Weiterbildung/ Sprachkurs 21,4 % wirtschaftliche Fragen/ Verschuldung 21,0 % Fragen bezüglich Leistungen des AFG 20,8 % Urkunden/ Zeugnisse 20,1 % Kinder/ Erziehungsgeld 19,5% Versicherungsfragen 19,0% Ausbildung/ Beruf 17,8% sonstige Eingliederungsleistungen 16,3 % Kindergarten/ Schule 16,0% 158 Siehe auch die Ausführungen zur statusrechtlichen Behandlung von Aussiedlem in Kap. 2.4 und zum Aufnahme- und Anerkennungsverfahren in Kap. 2.7. <?page no="174"?> 174 Aussiedler treffen aufEinheimische Erkrankungen/ Folgeerscheinungen Wohngeld Erziehungs- und Generationsfragen Ehepartnerschaftsfragen Kontaktschwierigkeiten/ Isolation Behinderung religiöse Fragen Garantiefonds/ BAföG strafrechtliche Fragen Schwangerschaft Sucht 15,3 % 10,7% 10,5 % 9,4 % 5.1 % 4.0 % 3.2 % 2.0 % 8,0 % 5,6 % 5,2 % Die Statistik, der ich diese Daten entnehme (vgl. Caritas 1996, S. 65), basiert auf Angaben aus den alten und neuen Bundesländern. Da 27 Diözesen im Bundesgebiet daran teilgenommen haben, gehen die Bearbeiter dieser erstmals durchgeführten Erhebung von einer hohen Repräsentativität ihrer Stichprobe aus. Das gesamte Fallaufkommen dieser Stichprobe die Gesamtzahl der Aussiedler, die vom Aussiedlerdienst der Caritas erfasst wurden lag bei 35.186 Personen (zu beachten ist, dass oft mehrere Problematiken Gegenstand eines Beratungsgespräches sein können). Auch in den mir vorliegenden Tonbandaufnahmen von Beratungsgesprächen sind statusrechtliche Fragen der häufigste Beratungsgegenstand. In 7 von insgesamt 17 Fällen wurden solche Fragen behandelt, gefolgt von Problemen, die die Einkommenssituation (Lohn/ Gehalt/ Rente) betreffen. Ähnlich wie in der vorgenannten repräsentativen Erhebung werden auch Fragen des Sozialhilfebezugs sowie des Nachzugs von Familienangehörigen relativ häufig behandelt. 5.1.2 Wie Aussiedler mit den Professionellen des Hilfesystems Auf der Grundlage meiner Feldbeobachtungen und der Interviews mit Aussiedlerbetreuem und -beratem lässt sich das Bekanntwerden von Aussiedlem mit diesen Professionellen und mit ihren Beratungsdiensten folgendermaßen in Kontakt kommen <?page no="175"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 175 darstellen: Nach der Einreise in Deutschland und der Unterbringung im Übergangswohnheim (ÜWH) kann eine erste Kontaktaufnahme zu den Betreuern im Rahmen eines Besuchs in dem Wohnraum der Aussiedlerfamilie erfolgen; der Erstkontakt kann auch im Rahmen organisierter Freizeitaktivitäten, regelmäßiger Gesprächskreise (etwa für Frauen) und festlicher Veranstaltungen des jeweiligen Wohlfahrtsverbandes hergestellt werden. Entweder bei solchen Gelegenheiten oder auch durch Aushänge im ÜWH sowie durch Mitbewohner werden die Neuankömmlinge auf die Beratungsstellen aufmerksam. Die Beratungsdienste werden in der Regel nur zu den bekannt gemachten Zeiten und an den angegebenen Orten erbracht. Flausbesuche einer Sozialarbeiterin bei einer Aussiedlerfamilie lassen sich natürlich auch dazu nutzen, Beratungsprobleme anzusprechen. Im Rahmen der Betreuungs- und Beratungsarbeit für Aussiedler bilden sich im Allgemeinen folgende Kontaktformen heraus: der Kontakt beschränkt sich auf ein Beratungsgespräch oder eine Serie von Gesprächen zu fest umrissenen Problematiken (z.B. bei der Einleitung einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme); der im Beratungssetting eingegangene Kontakt wird ausgeweitet zu einem umfassenderen Betreuungs- und Fürsorgeverhältnis (etwa bei besonderem Leidensdruck älterer oder vereinsamter Aussiedler oder bei Verhaltensauffälligkeiten von Familienangehörigen); über die Inanspruchnahme der Beratungsdienste hinaus bestehen andere Kontaktbeziehungen (etwa im Rahmen freizeitpädagogischer Aktivitäten). 5.2 Überlegungen zur Auswahl eines Fallbeispiels Die Ausführungen zur Rolle der Aussiedlerberatung im Einbürgerungsprozess dürften deutlich gemacht haben, dass Aussiedler nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik in außerordentlich starkem Maße auf Dienste der professionellen Aussiedlerberater angewiesen sind. Mein Interesse an Gesprächen aus der Aussiedlerberatung gilt vor allem dem kommunikationspraktischen Umgang mit Identitätsanforderungen, die im Aufnahme- und Anerkennungsverfahren an Aussiedler gestellt werden. Möglicherweise verfugen Aussiedlerberater nicht in dem Maße über juristische Kompetenzen wie Rechtsanwälte, die in anerkennungsrechtlichen Streitfällen ebenfalls als Professionelle eingeschaltet werden können. Dafür aber verfügen sie aufgrund ihrer Stel- <?page no="176"?> 176 Aussiedler treffen aufEinheimische lung im System der Aussiedlerhilfe über andere Möglichkeiten zum Aufbau von Vertrauensgrundlagen und Solidaritätsstrukturen, so dass ihre Hilfe für die Klienten in Interaktionsformen mit größeren Spielräumen bei der Aushandlung 1 ' und Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses erbracht werden kann. Das Handlungsschema „beraten“ ist stärker auf Problemsondierung, auf Wissenstransfer und Ausleuchtung von Problemlösungsaltemativen angelegt als etwa Handlungsschemata, die im Kontakt mit Behörden der Einbürgerungsadministration oder in Gerichtsverfahren relevant sind, und in denen autoritative Entscheidungsfindung und -durchsetzung betrieben wird. Für die Bewältigung der existenziellen Schwierigkeiten, von denen Aussiedler in der neuen Umgebungsgesellschaft betroffen sind, kommt der Beratungsarbeit eine Schlüsselstellung zu. Die Beratung wird dabei zu einem Ereignisrahmen, in dem existenzieller und auch psychischer Problemdruck, unter dem Aussiedler stehen, ausagiert 160 werden kann. Mit der Analyse eines Beratungsgesprächs eröffnen sich somit nicht nur Zugänge zu den migrationsbedingten Identitätsverfassungen und Problematiken, sondern auch zu grundlegenden Schwierigkeiten bei der Bearbeitung dieser Problematiken im Kontakt mit professionellen Helfern. Ein vordringliches Problem, das sich Aussiedlem nach der Einreise in Deutschland stellt, betrifft ihre Einbürgerung bzw. ihren Anerkennungssta- Die wissenschaftlichen Gebrauchsweisen dieses Begriffs sind uneinheitlich; ich folge dem von Dieckmann/ Paul (1983) präzisierten Verständnis des Aushandlungskonzepts. Danach setzen Verhandlungsbzw. Aushandlungsprozesse einen Verständigungs- und Interpretationsprozess voraus, den die Interaktionsparteien tür ihre jeweiligen Interessen ausnutzen können, „indem sie auf einer bestimmten Bedeutung eines Ausdrucks beharren bzw. sie bestreiten, indem sie das Handlungsschema [des Verhandelns; U.R.] temporär absichtlich in der Schwebe halten, indem sie im eigenen Interesse dem Partner die Möglichkeit geben, das Gesicht zu wahren etc.“ (ebd., S. 193). Allgemein zum Konzept der Aushandlung siehe Strauss (1978a); der dort verwendete Aushandlungsbegriff (Negotiation) betont das gemeinsame Herstellen von Handlungsergebnissen bei tendenziell gegensätzlichen Interaktionsstandpunkten. In diesem Verständnis ist Aushandlung zu unterscheiden von Prozessen der einseitigen Interessendurchsetzung, die auf Anwendung von Macht- und Sanktionsmitteln basiert. It, ° Ich vermeide hier bewusst die Formulierung „thematisch werden kann“, weil der Problemdruck, unter dem Aussiedler stehen, sich eben nicht bloß im Ansprechen bestimmter Probleme, Enttäuschungen, Leidensmomente usw. manifestiert, sondern auch in expressiven Verhaltensbekundungen wie Weinen und Verstummen. <?page no="177"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 177 tus. Wie eben gesehen, sind Probleme statusrechtlicher Art das häufigste Beratungsthema; daher kann die Untersuchung eines Gesprächs aus der Aussiedlerberatung auch zur Beantwortung der Frage herangezogen werden, wie Identitätsanforderungen, die durch das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren gesetzt sind, im kommunikativen Austausch mit einem professionellen Helfer interaktionsrelevant werden. Ein Beratungsgespräch, in dem es um Probleme der Glaubhaftmachung von Bestätigungsmerkmalen der Volkszugehörigkeit geht, dürfte dafür besonders geeignet sein, da es ja zu expliziten Bearbeitungen dieser Frage kommt. Zur Untersuchung von Beratungsgesprächen liegen bereits etliche Forschungsarbeiten vor. Orientiert am phänomenologisch-interaktionistischen Ansatz befasst sich Bohnsack (1983) mit Kommunikationsformen in Beratungseinrichtungen, die die Berücksichtigung der Klientenperspektive bei der Problembewältigung ermöglichen bzw. behindern. Beratungsarbeit mit Migranten ist Gegenstand der Studie von Maurenbrecher (1985, S. 401- 523). Er beschreibt die professionelle Beratung türkischer Migranten als Herausbildung einer neuen Sozialwelt. Ferner entwickelt der Autor anhand von Gesprächstranskripten eine Kliententypologie und erarbeitet nach konversationsanalytischen Gesichtspunkten eine Typologie von Beratungsstilen. Gesprächsanalytisch ausgerichtete Arbeiten haben sich vor allem mit der handlungsschematischen Struktur von Beratung befasst (Kallmeyer 1985; Nothdurft 1984). In diesem Forschungskontext wurden auch konstitutive Bedingungen von Beratung (Perspektivendivergenz; Kompetenz und Vertrauen; institutioneller Kontext) hinsichtlich ihrer produktiven und kontraproduktiven Auswirkungen auf den Beratungsprozess untersucht (Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder 1994). Aus professionssoziologischer Sicht und unter Einnahme einer biografie- und interaktionsanalytischen Perspektive untersucht Riemann (1997) die systematischen Problemstellen professionellen Handelns in einer Familienberatungsstelle. Der Analysefokus ist dabei auf Verflechtungen zwischen der Biografie einer Klientin und einer Professionellen im Verlaufe einer langwierigen Beratungsbeziehung gerichtet. Darüber hinaus werden in Riemanns Studie Kommunikationsprozesse untersucht, in denen innerhalb des Teams der Beratungsstelle reflexive Auseinandersetzungen mit konkreter Fallarbeit stattfmden. Auf Konzepte und analytische Perspektivierungen der vorgenannten Arbeiten stütze ich mich bei der Analyse des ausgewählten Fallbeispiels. Der Erkenntnisgewinn, der mit der Untersuchung eines Gesprächs aus der Aussiedlerbera- <?page no="178"?> 178 Aussiedler treffen aufEinheimische tung den bereits vorliegenden Studien zur Beratungskommunikation hinzugefügt werden kann, liegt u.a. darin, Besonderheiten der Entfaltung einer spezifischen Klientenidentität (russlanddeutsche Aussiedler) im Beratungsprozess erfassen zu können, und die kommunikativen Verzerrungen zu verstehen, die dadurch entstehen, dass in der Beratungsarbeit mit dem Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit umgegangen wird. 5.3 Das Fallbeispiel KEINE WUNDERREPUBLIK 5.3.1 Aufnahmebedingungen und sozialer Rahmen des Gesprächs Das für die exemplarische Analyse ausgewählte Beratungsgespräch habe ich nicht selbst aufzeichnen können; es steht mir als Fremdaufnahme zur Verfügung. 161 Die Aufzeichnung stammt aus dem Jahre 1995; der Transkripttitel wurde in Anlehnung an eine Äußerung des Beraters gewählt. Das Gespräch wurde vom Berater selbst und mit Wissen und Einverständnis der Klienten aufgenommen. Anlass für diese Aufnahme war eine geplante Fortbildungsveranstaltung für Aussiedlerbetreuer und -berater des Wohlfahrtsverbandes, bei dem der Berater beschäftigt ist. Über das ausgewählte Beratungsgespräch hinaus stehen mir keine aus Situationsbeobachtungen gewonnenen Daten zur Verfügung. Bei der Skizzierung der Rahmenbedingungen stütze ich mich daher auf die Kontextualisierungen, die die Gesprächsbeteiligten selbst vorgenommen haben. An dem Gespräch KEINE WUNDERREPUBLIK hat als Berater Herr Stierle teilgenommen sowie als Klienten Herr und Frau Wagner (Namen geändert). Da die Eheleute Wagner die Beratungsstelle als Paar aufsuchen, werde ich auch von Klientenpartei sprechen. 161 Meine Bemühungen, in Kooperation mit den interviewten Sozialpädagogen und Sozialarbeitern eines Landkreises selbst Beratungsgespräche aufzuzeichnen, scheiterten nicht allein am Datenschutzargument. Verschiedentlich wurde mein Ansinnen auch mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Arbeit mit Aussiedlem ohnehin schon sehr schwierig sei; durch Dritte, die zu Forschungszwecken an der Situation teilnehmen, oder durch ein sichtbares Aufnahmegerät wäre es noch schwieriger, die Situation zu entkrampfen und eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre aufzubauen. Im Interesse der Klienten müsse aber darauf geachtet werden, dass die Beratungssituation nicht unnötig verkompliziert werde. Diese Argumentation zur Abwehr von Forschungsabsichten zeugt von Besorgnis um Vertrauensbeziehungen zu den Klienten und von Besorgnis um eine gute Gesprächsatmosphäre. Ich sah darin aber auch eine Argumentation, die das eigene Agieren als Professioneller vor verunsichernden Momenten und vor den nicht kalkulierbaren Risiken einer externen Perspektive zu schützen sucht. <?page no="179"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 179 Herr Stierle bietet regelmäßig Sprechstunden für Aussiedler an. In seiner Funktion als Sozialarbeiter in der Aussiedlerhilfe erteilt er auch Sprachunterricht. Ich konnte ihn anlässlich der erwähnten Fortbildungsveranstaltung flüchtig kennen lernen; ich schätze, dass er zum Zeitpunkt der Gesprächsaufnahme zwischen 35 und 40 Jahren alt war. Die Wagners sind zum Zeitpunkt der Gesprächsaufnahme noch nicht sehr lange in Deutschland. Sie haben den Sprachkurs für Aussiedler absolviert und wenige Tage vor dem Beratungsgespräch ihren Spätaussiedlerausweis erhalten. Deshalb vermute ich, dass sie seit etwa einem dreiviertel Jahr, vielleicht auch ein wenig länger, in Deutschland leben. Nach den im Gesprächsverlauf auftauchenden biografischen Angaben dürften die Wagners etwa so alt sein wie der Berater; auf alle Fälle sind sie der mittleren Aussiedlergeneration zuzurechnen, jener Generation also, die den Zweiten Weltkrieg selbst nicht mehr erlebt hat und in den 50er- und 60er-Jahren aufgewachsen ist. Im Gespräch erwähnt Frau Wagner, dass sie vier Jahre älter ist als ihr Mann. Der aufgezeichneten Situation sind bereits Kontakte vorausgegangen; zwischen Berater und Klientenpartei besteht also eine gemeinsame Interaktionsgeschichte. In diese gemeinsame Vorgeschichte ist auch ein Bruder von Frau Wagner involviert, der sich schon länger in Deutschland befindet. 5.3.2 Das ausgewählte Beratungsgespräch im Überblick / Anlage der Analyse Die Wagners und Herr Stierle sind bereits über bestimmte Problematiken miteinander verbunden. So hatte der Berater mit der Einleitung einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme 162 für Frau Wagner zu tun; um die finanztechnischen Realisierungsschwierigkeiten dieser Maßnahme geht es bei dem ersten Beratungsthema, das zur Sprache kommt. Bei dem zweiten Anliegen geht es um den Spätaussiedlerausweis, den Herr Wagner bekommen hat. 163 Auch mit 162 Aufgrund meiner Gespräche mit Aussiedlerinnen sowie mit ihren professionellen Betreuern bin ich zu dem Eindmck gelangt, dass Aussiedlerinnen von der Arbeitsverwaltung bevorzugt zur Kompensation des Arbeitskräftemangels auf dem Altenpflegesektor und in anderen niedrig bezahlten Gesundheitsbemfen herangezogen werden. Andere Tätigkeitsfelder, für die Aussiedlerinnen umgeschult werden, sind einfache Büroberufe. Hier sind vergleichbare Tätigkeiten im Herkunftsland Voraussetzung für die Teilnahme an entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen. 163 Aus dem Spätaussiedlerausweis geht hervor, nach welchen statusrechtlichen Merkmalen die Volkszugehörigkeit zuerkannt wurde. Das einschlägige Gesetz, <?page no="180"?> 180 Aussiedler treffen aufEinheimische Fragen der statusrechtlichen Behandlung der Wagners war der Berater bereits befasst; er war im Vorfeld der Ausreise als die Wagners noch in Russland bzw. der GUS lebten vom Bruder der Klientin zu Rate gezogen worden. Schließlich zeigt sich auch bei dem dritten Anliegen, das die Klientenpartei vorbringt, dass schon länger ein Arbeitsbündnis mit dem Berater besteht. Herr Wagner erkundigt sich nach einem Arbeitsplatz, der ihm von Herrn Stierle in Aussicht gestellt worden war. Bei der nun folgenden strukturellen Beschreibung des Beratungsgespräches stehen die Interaktionsabschnitte, in denen das erst- und das zweitgenannte Beratungsthema bearbeitet werden, im Mittelpunkt. Die Präsentation des ersten Anliegens zeichnet sich dadurch aus, dass die Bearbeitungswürdigkeit des Klientenproblems nicht mehr eigens ausgehandelt werden muss; es wird an ein bereits etabliertes Arbeitsbündnis angeknüpft; die Fallbearbeitung ist beschränkt auf die Klärung einer noch offenen Frage. Hingegen dominieren bei der Behandlung des zweiten Anliegens Aushandlungsaktivitäten, bei denen es darum geht, das Anliegen der Klientenpartei als für den Berater bearbeitungsfähiges und unterstützungswürdiges Problem zu etablieren. Auf die Behandlung des dritten Anliegens gehe ich in der Analyse nur kurz ein. Zum analysemethodischen Vorgehen: In Orientierung an der Komponentenstruktur des Handlungsschemas „beraten“ (vgl. Kallmeyer 1983; Nothdurft 1984; Nothdurft et al. 1994) bestimme ich Auffälligkeiten der Ablauforganisation und Besonderheiten der handlungsschematischen Realisierung des Falles aus der Aussiedlerberatung. Im Zuge der äußerungsstrukturellen Beschreibung des ausgewählten Gespräches zeichne ich den Aufbau von Kooperationsgrundlagen und Reziprozitätsstrukturen nach und untersuche besonders prekäre oder spannungsreiche Momente auf darin ablaufende sozialsymbolische Prozesse (siehe auch die Ausführungen zur Analysemethode in Kap. 3.). Der Detailliertheitsgrad der strukturellen Beschreibung variiert dabei je nach Dichte der kommunikativen Prozesse bzw. der Aushandlungsaktivitäten. Das Gesprächstranskript gebe ich nicht in voller Länge wieder, die Behandlung des dritten Anliegens werde ich nur grob skizzieren. In die strukturelle Beschreibung sind analytische Kommentare eingearbeitet, die dazu dienen, das Bundesvertriebenen und -flüchtlingsgesetz (BVFG), kennt zwei Statusgruppen (siehe auch Kap. 2.7). Mit dem Erhalt dieses Ausweises ist nocht nicht die Einbürgerung in das deutsche Volk vollzogen; hierfür gelten staatsangehörigkeitsrechtliche Regelungen. <?page no="181"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 181 Typik und Fallbesonderheiten der ablaufenden kommunikativen Prozesse herauszuarbeiten sowie die Verflechtungen zwischen aktuell ablaufenden kommunikativen Prozessen und den für die Akteure relevanten sozialen Rahmen transparent zu machen. Den Segmenten des Transkripts sind Überschriften vorangestellt, die neben einer Benennung der jeweils realisierten Aktivität ein Zitat aus dem Transkript enthalten. 164 Damit werden in verkürzter Form die jeweils dominanten Aktivitätsorientierungen der Interaktionsbeteiligten gekennzeichnet. Auch soll damit die handlungsschematische Progression anschaulich gemacht werden. Die im Anschluss an die strukturelle Beschreibung vorgenommene analytische Abstraktion (siehe Kap. 5.3.4) blickt aus größerer Distanz auf das Gesamtereignis und arbeitet interaktionsstrukturelle Problematiken der Beratungsarbeit mit Aussiedlem heraus. 5.3.3 Strukturelle Beschreibung 5.3.3.1 „Wer bezahlt mir meinen Lehrgang? “ - Situationseröffnung und erste Problempräsentation 166 1 SM: sof <nehmen sie platz> |bitte| und dann * 2 FW: |danke| 3 HW: (BRUMMT) 164 Diese Zitate gebe ich aus Gründen besserer Lesbarkeit nach schriftsprachlichen Konventionen wieder; für die Transkriptionsausschnitte behalte ich die literarische an der Qualität des Hörbaren orientierte - Umschrift bei. 165 Ich fasse hier zwei Aktivitätskomplexe zusammen, die im Handlungsschema „beraten“ als prinzipiell voneinander zu unterscheidende Komponenten anzusehen sind. Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994) sehen die „Problempräsentation“ als den Handlungskomplex an, „in dessen Verlauf der Ratsuchende dem Ratgeber ‘sein’ Problem darstellt. Aufgabe des Ratsuchenden ist es, den problematischen Charakter des Sachverhalts, den er vor dem Ratgebenden ausbreitet, zu verdeutlichen und zu plausibilisieren. Dabei bedient sich der Ratsuchende nicht nur sprachlicher Mittel, also etwa bestimmter Erzähl- und Beschreibungstechniken, sondern oft spielt auch ein gewisses Maß an ‘szenischer Präsentation’ eine Rolle, also das verhaltenshafte ‘Zeigen’ von Rat- oder Orientierungslosigkeit, von Hilfsbedürftigkeit oder Leidensdrack. Der Ratgebende wird sich in dieser Phase auf Aktivitäten beschränken, die eine solche Darstellung des Problems ermutigen, vorantreiben, oder er wird die Aufmerksamkeit auf noch nicht oder bisher unzureichend berücksichtigte Aspekte lenken“ (ebd. S. 11; Hervorhebungen im Original; zum Handlungsschema „beraten“ siehe auch Kallmeyer 1985). <?page no="182"?> 182 Aussiedler treffen aufEinheimische 4 SM: schauen wir was wir ** arbeiten * #robotaet # können 5 Ü 6 FW: 7 SM: 8 FW: 9 FW: 10 SM: 11 FW: 12 SM: 13 FW: 14 SM: 15 FW: 16 SM: 17 FW: 18 SM: 19 K 2 0 FW: 21 SM: 22 K 2 3 FW: 24 FW: 25 SM: 26 K 27 FW: 2 8 FW: 2 9 FW: 3 0 FW: 31 K 32 FW: 33 FW: 34 SM: 35 K 3 6 FW: #ER ARBEITET# GLUCKST LACHT | und was istj, | wo gab=s | denn sch/ | (ja: ) | |ich war | ich war beim dortmund äh und hab gesproch personeni und ähm herr herr kopke beim alten | pflegeseminarj, | kopken ja |er hat ja er | hat jja | mir äh viele fragen gestellt |ich| habe für alles äh ja antwortet und er hat gesagt (äh) fahren sie nach jai hause und wir schi/ schicken ihnen bescheidj, und ja # ** # soi #PAPIERRASCHELN# jetzt am sonntag kommt mir so briefJ, #*11,5* # #NIMMT BRIEF AN SICH, LIEST# das geht um das wer bezahlt mir mein(en) lehrgangi >ich< ich verstehe das soj, *15* jai #undt# #AUFFORDERND# und? * ja ich war bei arbeitsamt schon ATMET und hatte äh herr leng gefragti er hat gesagt (dass? das) ist mit arbeitsamt nichts zu tun ** #und jetztT wie weiter * >geht * mit mir<# *3* ich habe #VERZAGT # nie ein tage in deutschland gearbeiteti et er hat so mir gesagti *3* ich bekomme jetzt sozialhilfei (SEUFZT) #*10,5*# ich rufe herrn kopke an und frage welche ttGREIFT ZUM TELEFON, WÄHLT# *3 * 37 SM: möglichkeiten jes gibt der| finanzierung 3 8 FW: | hmhm: | >—> f ragen <?page no="183"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 183 39 FW: 40 FW: 41 SM: 42 K 43 FW: 44 SM: 45 FW: 4 6 SM: 4 7 FW: 48 K 49 SM: 50 K sie bitte<—< * er schreibt äh äh zuerst arbeitsamt und (nur? nord) * äh land nordrheinwestfalenj, zwei möglichkeit schreibt arbeitsamt <und> #ja# * aber heißt #ÜBERLEGEND# jaT <und> das und entweder- |oder| * oder |beide| zusammen |hmhm| | hmhm | [das weiß| ich nichtj, | hmhm | hmhm #ich weiß auch nicht# *4* #MURMELT # ttstierle soziale dienste hermsheim], guten morgen #AM TELEFON Strukturelle Beschreibung Z. 1-48: Die Tonbandaufnahme beginnt mit dem Anbieten von Sitzplätzen durch den beratenden Sozialarbeiter (Sprechersigle SM). Sie enthält keinen Austausch von Begrüßungsformeln (auch die Verabschiedung und die Auflösung der Situation wurden nicht aufgezeichnet). Auf anderen Gesprächsmitschnitten aus der betreffenden Beratungsstelle war zu hören, dass Klienten bereits auf dem Flur oder einem vorgelagerten Zimmer in Empfang genommen und begrüßt werden. Nachdem der Berater den Klienten, Herrn und Frau Wagner (Sprechersigle HW und FW), Plätze angeboten hat, folgt eine Äußerung, in der Herr Stierle gemeinsam in Angriff zu nehmende Aktivitäten ankündigt [und dann * schauen wir was wir ** arbeiten * robotaet können LACHT und was was isti; Z. 1 u. 4], Der Gebrauch der Wir-Form ist in professionellen Dienst- und Hilfeleistungskontexten ein gängiges Mittel, Kooperationsbereitschaft und Engagement für die Belange der Klienten zu demonstrieren. Ferner verwendet Herr Stierle in der Ankündigung des ersten Beratungsthemas einen fremdsprachlichen Ausdruck [robotaet]. Die Formulierung schauen was wir ** arbeiten robotaet * können (Z. 4) bezieht sich ganz allgemein auf das Bestreben der Wagners, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen; das ist Herrn Stierle ja aus vorausgegangenen Kontakten bereits bekannt. Die grammatikalische Inkongruenz 166 zu dem deutschen Wort, das er hier übersetzt, lässt vermuten, dass Herr Stierle einige Vokabeln aus dem Russischen kennt, diese Sprache aber nicht so beherrscht, dass er sich durchgängig in ihr ver- 166 Bei wörtlicher Übersetzung bedeutet robotaet „er/ sie/ es arbeitet“; der analoge deutschsprachige Ausdruck ist in der ersten Person Plural gehalten. <?page no="184"?> 184 Aussiedler treffen aufEinheimische ständlich machen könnte. Die Verwendung eines bedeutungsgleichen Ausdrucks aus dem Russischen [robotaet] offenbart Bemühungen des Beraters um einen rezipientenspezifischen Zuschnitt 167 seiner Äußerung. Sein anschließendes Lachen (Z. 7) deutet darauf hin, dass ihm die Verwendung des russischen Ausdrucks eher zur Demonstration von Perspektiveneinnahme und zur Schaffung einer Atmosphäre des Vertrauens als zur Bearbeitung von Verstehensschwierigkeiten des Klientenehepaars dient. Zu Beginn der Beratungssituation kommt der Berater also zügig zur Sache, zeigt sich ausgesprochen kooperativ und um die Belange der Klientenpartei bemüht. Der Einstieg in das Gespräch enthält mit dem fremdsprachlichen Ausdruck ein besonderes Empathiesignal. Elerr Stierle zeigt dabei ein Äußerungsverhalten, das auch als Ansatz zum Foreigner-Talk 168 gedeutet werden kann: Er verwendet aus der Sprache, die für das Aussiedlerehepaar leichter zu beherrschen ist, ein verkürztes, gleichwohl aber prägnantes Ausdrucksmittel. Der Gebrauch eines fast bedeutungsgleichen russischen Wortes für den Ausdruck arbeiten (Z. 4) in der Situationseröffnung dient dem Aufweis intakter Reziprozitätsgrundlagen. Die Formulierung und dann schauen wir was wir ** arbeiten * robotaet können (Z. 1-4) könnte auch in dem Sinne verstanden werden, dass die Beratungssituation als etabliert erklärt und quasi der Einstieg in das Be- 167 Dieser konversationsanalytische Begriff (Recipient Design) geht zurück auf Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974). Mit diesem Konzept wird die bei Sprechern feststellbare Präferenz, ihre Äußerungen auf Wissens-, Verstehens- und Interpretationsvoraussetzungen des Interaktionspartners zuzuschneiden, gefasst. Dies kann in der Gestaltung von Anfangs- und Beendigungsteilen von Äußerungen geleistet werden oder auch über die Wahl von Themen und bestimmten Wörtern. Die Produktion von Äußerungen mit einem spezifischen Recipient Design geht einher mit sozialen Kategorisierungen von Interaktionspartnern. 168 Als Foreigner-Talk wird in der Soziolinguistik der Gebrauch vereinfachter Sprachformen des Muttersprachlers und die Verwendung anderer kommunikationserleichtemder Mittel im Kontakt mit Nicht-Muttersprachlem bezeichnet; als Pidgin werden hingegen Sprachformen bezeichnet, die das Ergebnis sprachlicher Anpassungsleistungen des Nicht-Muttersprachlers in Kontaktsituationen mit Muttersprachlern sind. In der soziolinguistischen Diskussion um die Beziehung zwischen diesen beiden sprachlichen Repertoires herrscht die Auffassung vor, dass der Foreigner-Talk Ausgangsmaterial für die Herausbildung pidginisierter Sprachformen darstellt (Foreigner-Talk als Input für Pidgin; vgl. Jakovidou 1993). Zur Sprachvariabilität bei deutschen Muttersprachlern im Kontakt mit Fremden vgl. Hinnenkamp (1989a). <?page no="185"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 185 ratungsgespräch organisiert wird, obwohl das genaue Klientenanliegen selbst noch nicht präsentiert ist. Zum einen wäre dies aber eine sehr ungewöhnliche und deplatzierte Form der Eröffnung eines Beratungsgesprächs (erwartbar sind in solchen Situationen eher Formulierungen wie „Was kann ich für Sie tun? “ „Was führt Sie zu mir? “ usw.). Zum anderen spricht die Tatsache, dass die Akteure an eine schon länger bestehende Beratungsbeziehung anknüpfen können, gegen dieses Verständnis. In vorausgegangenen Kontakten ist es bereits um Arbeitsplatzangelegenheiten der Wagners gegangen (ich fasse darunter auch die Maßnahme zur beruflichen Qualifizierung, die für Frau Wagner vorgesehen ist). Die Äußerung von Herrn Stierle verstehe ich daher auch als ersten Schritt zur Etablierung eines Beratungsgegenstandes: Der Berater nimmt das typisierte Klientenanliegen (Arbeit finden), das in vorherigen Gesprächen thematisch war, wieder auf. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass Herr Stierle bei der Etablierung des Klientenpaares als Situationsbeteiligte Fragesätze verwendet, die auf bereits behandelte Beratungsthemen Bezug nehmen. Frageformate wie und was istf wo gab=s denn sch/ (Z. 7) sind in solchen Kontexten adäquate Mittel zur Organisation von Redegelegenheiten für andere, in denen bereits gemeinsames Vorwissen besteht und in denen der Nachfragende auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht werden will, um weitere Bearbeitungsschritte daran ausrichten zu können. In kurzen Erzählsätzen berichtet Frau Wagner darüber, dass sie zu einem Vorgespräch bei Herrn Kopke war (Z. 8-20). Es handelt sich hier um den Leiter des Altenpflegeseminars, das auch den Lehrgang durchführt, an dem Frau Wagner teilnehmen soll. Frau Wagner gibt das Gespräch mit Herrn Kopke als Situation wieder, in der sie viele Fragen beantworten musste und von Herrn Kopke mit der Ankündigung eines schriftlichen Bescheids wieder nach Hause geschickt wurde. Sie berichtet weiter, dass nun ein Brief eingetroffen sei und händigt diesen Brief dem Berater aus. Es entsteht eine längere Gesprächspause, da Herr Stierle sich dem Schreiben zuwendet. Nach gut 11 Sekunden formuliert Frau Wagner kurz und knapp, worum es ihrem Verständnis nach in diesem Brief geht, nämlich darum, welche Behörde ihre Ausbildung zur Altenpflegerin finanziert (vgl. Z. 23-24). Nach einer weiteren längeren Gesprächspause (15 Sekunden, vgl. Z. 24, vermutlich liest der Berater noch den Brief, den Frau Wagner bekommen hat) reagiert dieser mit einer Äußerung, die die Klientin zu weitergehenden Ausführungen auffordert [jaf undt; z. 25], Das undT ist mit Frageintonation gesprochen. Herr <?page no="186"?> 186 Aussiedler treffen aufEinheimische Stierle hält so Rede- und Darstellungsverpflichtungen der Klientin aufrecht. Frau Wagner wiederholt das brüsk und appellativ klingende undT des Beraters (Z. 25); vielleicht hat er hier schroff und unkooperativ auf die Klienten gewirkt, vielleicht war Frau Wagner durch das jaf undT auch etwas irritiert, denn zu diesem Zeitpunkt - Herr Stierle hat ja inzwischen das Schreiben gelesen konnte sie davon ausgehen, ihr Problem in hinreichender Form präsentiert zu haben. Auch konnte sie erwarten, dass nun aufklärende bzw. problemlösende Aktivitäten des Beraters einsetzen. Stattdessen wird sie mit dem j af undT unter Aktivitätszwang gehalten, ln Bezug auf das konkrete Anliegen der Klientin verhält sich Herr Stierle hier aber durchaus kooperativ. Während das jai, mit dem er nach dem Durchlesen des Briefes und nach der Benennung eines darin enthaltenen klärungsbedürftigen Punktes durch Frau Wagner (Z. 23-24) reagiert, als Rezeptionssignal geäußert wird, zeigt Herr Stierle mit dem dann folgenden und? auch an, dass er in dem Brief nichts Außergewöhnliches oder Fragliches entdecken kann. Solche Reaktionsformen zeigen Professionelle gewöhnlich, um ihre Kompetenz zur raschen Einschätzung von Problemkonstellationen zu demonstrieren oder um auf besonders verunsicherte und besorgte Klienten beruhigend und entdramatisierend einzuwirken. Frau Wagner reagiert auf das redeauffordemde und? mit einer narrativen Rekapitulation ihrer Bemühungen, eine definitive Auskunft bezüglich Finanzierung der Lehrgangsteilnahme zu bekommen. Im Arbeitsamt wurde ihr gesagt, dass die Behörde nicht als Kostenträger in Frage komme, weil sie nicht die entsprechenden Förderungsvoraussetzungen erfüllt. Diese Mitteilung hat bei Frau Wagner offenbar Verunsicherung bezüglich der Finanzierung ihrer Lehrgangsteilnahme ausgelöst und daher Anlass gegeben, sich bei Herrn Stierle zu vergewissern, dass einer Teilnahme an dem Lehrgang zur Altenpflegerin nichts im Wege steht. In diesen Äußerungsteil eingelagert ist eine Bemerkung, die nochmals das aktuelle Anliegen gegenüber dem Berater deutlich macht [wie weiter * >geht mit mir<; Z. 30], wobei wegen der förderungsrechtlichen Umstände (keine Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung, Bezug von Sozialhilfe, vgl. Z. 30 u. 33) Besorgnis über das Zustandekommen der Lehrgangsteilnahme mitschwingt [ich habe nie ein tag gearbeitet ... ich bekomme Sozialhilfe; Vgl. Z. 30 U. 32], 169 169 Verschiedentlich verwende ich bei Zitaten aus Transkripten drei Punkte als Auslassungszeichen; unverständliche Gesprächsstellen sind in Transkripten eben- <?page no="187"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 187 Nachdem der Informationsbedarf der Klientin aufgeklärt ist, zeigt sich, dass Herr Stierle in Fragen der Lehrgangsfmanzierung selbst Aufklärungsbedarf hat. Wegen einer Formulierungsungenauigkeit [... heißt das und entweder- oder * oder beide zusammen Vgl. Z. 41-46] ist ihm nicht klar, ob nur eine Finanzierungsquelle oder beide der im Brief genannten staatlichen Stellen in Anspruch genommen werden können. Er greift nach einer Pause von drei Sekunden zum Hörer und kündigt an, dass er Herrn Kopke, den Absender des Briefes, den ihm die Klientin ausgehändigt hat, und Leiter des Altenpflegeseminars, fragen wird. 5.3.3.2 „Meinerseits ist Aufklärung gewünscht und seitens der Frau Wagner auch.“ - Telefonische Nachfrage zur Feststellung des Problemsachverhalts 71 Der Gesprächspartner, den Herr Stierle am Telefon erreicht, ist nicht Herr Kopke, sondern Herr Schleißiger, ein Mitarbeiter der Ausbildungsstätte. 171 49 SM: #stierle soziale dienste hermsheimf guten morgen 50 K #AM TELEFON 51 SM: herr schleißinger ** es geht mir um folgendes * falls mit drei Punkten, die aber in Klammem gesetzt sind, gekennzeichnet; siehe auch die Trankriptionszeichen im Anhang. 170 Bei dieser Komponente des Handlungsschemas „beraten“ stehen allgemein zwei Aufgaben im Mittelpunkt: die Feststellung des Problemsachverhalts und daraus resultierend die Problemdefinition. Letzte besteht oftmals aus einer „Redefinition einer implizit oder explizit vom Ratsuchenden selbst gelieferten Definition des Problems“ (Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder 1994, S. 12). Bei der Feststellung des Problemsachverhalts sind die Beratungsakteure damit befasst, „alle relevanten Informationen zusammenzutragen und zu ordnen. Da sind einmal die im Rahmen der Problempräsentation durch den Ratsuchenden vermittelten Informationen; hinzu kommen Informationen, die durch zusätzliche Exploration zum Fall, zur Fallgeschichte, zur Geschichte der bisherigen Lösungsanstrengungen oder zu besonderen Lösungsvoraussetzungen gewonnen wurden“ (ebd., S. 12). 171 Den nachfolgenden Gesprächsausschnitt gebe ich ohne die Kommentarzeilen wieder, die eingerichtet wurden, um sichtbar zu machen, dass es sich hier um Gesprächspassagen am Telefon handelt. Im Ausgangstranskript sind diese Zeilen nummeriert, daher die Auslassungen bei der Zeilenzählung des Transkriptionsausschnittes. <?page no="188"?> 188 Aussiedler treffen aufEinheimische 53 SM: 55 SM: 57 SM: 5 9 SM: 61 SM: 63 SM: 65 SM: 67 SM: 6 9 SM: 71 SM: 73 SM: 75 SM: 77 SM: 78 K 80 SM: 81 K 82 SM 84 SM: 86 SM: 8 8 SM: 9 0 SM: 92 SM: 93 K 95 SM: 97 SM: 99 SM: 100 K 102 SM: 103 K 105 SM: 106 K finanzierung * der ausbildung zur staatlich anerkannten altenpflegerini ** herr kopke hat hier eine frau bettina wagner ** eingeladen ** zur Unterzeichnung des ausbildungsvertrages sie könnte also die ausbildung im frühjahr beginnend *1,5* ATMET jetzt schreibt er da * bei: diese Zusage zur lehrgangsteilnahme ging <gilt> allerdings unter dem Vorbehalt dass die kostenträger ** arbeitsamt und land nordrheinwestfalen die kosten für die ausbildung übernehmend *4,5* die frage ist sollen die person vorstellig beim arbeitsamt werden weil in dem fall frau <wagner> ** ist eine finanzierung seitens des arbeitsamtes "nicht möglichi #*23,5* # #HÖRT DEN AUSFÜHRUNGEN ach so *4,5* #ja# *4* DES GESPRÄCHSPARTNERS ZU# #GEZOGEN# ja weil äh meinerseits ist aufklärung * gewünschtl und seitens der frau wagner auchi deswegen ist sie hier vorstellig gewordenj, ich hab nur nich verstanden ATMET also früher war=s ja so wenn das arbeitsamt nicht gefördert hat hat das land gefördert die maßnahme #das ist auch weiterhin so # weil hier #SICH RÜCKVERSICHERND # steht arbeitsamt <und> land nordrheinwestfalend ich hatt dies <und> ** jetzt dahin gedeutet dass vielleicht irgendwie eine neuregelung eingetreten ist #und dass #LEICHT beide zusammenhängend jetzt# *4* ach sod *8* ach so * LACHEND, JOVIAL # ach so *3* gutd *2* ja #null null null zwo drei vier »SCHREIBT ETWAS AUF, LEGT <?page no="189"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 189 108 SM: fünf beziehungsweise die null am endei *4*# guti ich 109 K STIFT WEG # 111 SM: bedanke mich herzlich! wünsch eine schöne adventszeit 113 SM: noch und ein frohes fest! *2* auf wiederhören! LEGT AUF 115 SM: ich denk mir die ausbildung ist gesichert! also vorher Strukturelle Beschreibung Z. 49-114: Zu Beginn des Telefonats erfolgt eine Selbstidentifizierung unter Hinweis auf die Institution, für die Herr Stierle tätig ist (im Transkript maskiert als soziale dienste hermsheim). Dann orientiert der Berater den Angerufenen über den aufklärungsbedürftigen Sachverhalt (vgl. Z. 53-77). Hier lassen sich auffällige Veränderungen seines Redestils beobachten, deutliche Veränderungen gegenüber der Sprechweise, die er im Gespräch mit der Klientenpartei gezeigt hat und zu der er auch nach dem Anruf wieder übergeht. Der Berater stützt sich teilweise auf Formulierungen des ihm vorliegenden Briefes, auch schlagen bei ihm sprachliche Routinen der Falldarstellung in administrativen und formalrechtlichen Kategorien durch. Die auffälligsten Merkmale dieses Redestils sind: fachterminologisches Sprechen über den Problemsachverhalt, beispielsweise: diese Zusage zur lehrgangsteilnahme ging <gilt> allerdings unter dem Vorbehalt dass der kostenträger (vgl. Z. 63ff.); - Redewendungen und Äußerungskonstruktionen, die Züge einer Bürokraten- und Kanzleisprache tragen, beispielsweise: sollen die person vorstellig beim arbeitsamt werden (Z. 71 U.73); meinerseits ist aufklärung * gewünscht! und seitens der frau wagner auch! deswegen ist sie hier vorstellig geworden! (Z. 82 U. 84); - Distanz ausdrückende Personenreferenzen, siehe eine frau bettina wagner (Z. 57); die frage ist sollen die person vorstellig beim arbeitsamt werden weil in dem fall frau <wagner> (Z. 71- 75). Die grammatikalische Unstimmigkeit in der Frageformulierung (siehe sollen die person vorstellig werden; Pluralform des finiten Verbs und Singularfonn des Subjekts) ist möglicherweise Ausdruck eines für professionelles Handeln typischen Changierens zwischen fallallgemeiner und fallspezifischer Perspektivierung. Bemerkenswert ist auch, dass Herr Stierle am Telefon einen anderen Punkt als klärungsbedürftig benennt, als er es zuvor gegenüber Frau Wagner getan hat. Im Telefonat mit Herrn Schleißiger wirft <?page no="190"?> 190 Aussiedler treffen aufEinheimische er die Frage auf, ob ein Vorstelligwerden im Arbeitsamt erforderlich ist, wenn eine Lehrgangsteilnahme vorgesehen ist, und bezugnehmend auf früher geltende bzw. ihm bekannte Regelungen zwischen Arbeitsverwaltung und Bundesland hinsichtlich der Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen macht er sein Verstehensproblem kenntlich. Weitere im Transkript erkennbare Gesprächsaktivitäten des Beraters sind: eine Erklärung für die telefonische Nachfrage (unter Hinweis auf ungenaue Kenntnisse aktueller Regelungen der Arbeitsförderung, Z. 82-102); Rezeptionssignale, die auf Äußerungen des Angerufenen reagieren und das Notieren einer mehrstelligen Zahl (Z. 105-109), gesprächsbeendende Danksagungs- und Verabschiedungsformeln mit guten Wünschen zur Adventszeit und zum bevorstehenden Weihnachtsfest (Z. 108-114). Analytischer Kommentar Z. 49-114: In Anwesenheit der betroffenen Klienten macht Herr Stierle sich per Telefon sachkundig bei einem wissenskompetenten Ansprechpartner, um eine Frage der Klientin verlässlich beantworten zu können. Mit dem Griff zum Telefonhörer verändert sich der situative Rahmen. Der Berater holt nicht einfach nur Informationen bei einer kompetenten Stelle ein, er tritt mit einem anderen beruflichen Funktionsträger in einen Diskurs über ein Problem ein, von dem die anwesende Klientin betroffen ist. Der Verständigung mit der Klientin folgt ein Gespräch mit einem Dritten über Belange der Klientin. Der Berater nimmt dabei die behördliche — durch Richtlinien für Eingliederungsmaßnahmen geprägte Perspektive auf die Fallproblematik ein und wechselt für die Kommunikation mit dem Angerufenen in eine effizient-routinehafte Behördensprache. Mit einem linguistischen Terminus lässt sich dieser Vorgang auch als situatives Code- Switching 172 bezeichnen. Die Verständigung über die Klientenproblematik 17 ~ Als Situational Code-Switching wird bei Blom/ Gumperz (1972) der Wechsel im Sprachregister bezeichnet, wenn damit auch ein Wechsel in der sozialen Aktivitätsform einhergeht. Ein Wechsel im Sprachregister unter Beibehaltung der sozialen Aktivitätsform wird dort auch als Metaphorical Code-Switching bezeichnet (als Beispiele hierfür können die vom Berater verschiedentlich nicht nur bei der Etablierung des Beratungsgegenstandes eingestreuten fremdsprachlichen Ausdrucksmittel angesehen werden). Beim situativen Code-Switching sind Veränderungen sprachstilistischer Art an Veränderungen des sozialen Rahmens gekoppelt. Beim metaphorischen Code-Switching hingegen werden Veränderungen der Interpretationsbedingungen von Äußerungen angezeigt. Zur Rezeption und Anwendung des Code-Switching-Konzepts in der linguistischen <?page no="191"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 191 wird mit solchen sprachlichen Mitteln geführt, die gesetzestechnischen und administrativen Relevanzen Rechnung tragen. Die Veränderungen im Äußerungsverhalten des Beraters wirken möglicherweise fremdheitsverstärkend, da sie das zwischen Berater und Klientenpartei bestehende Sprach-, Wissens- und Machtgefälle besonders deutlich zu Tage treten lassen. Im Gebrauch terminologisierter und formelhafter Ausdrucksmittel aus der Behördenwelt wird die Verflochtenheit des professionellen Beraters mit externen Instanzen deutlich; außerdem wird Abhängigkeit von anderen, mit Spezialwissen ausgestatteten InstitutionenVertretern erkennbar. Auch wird mit dem Wechsel des Aktivitätsrahmens der Klientenpartei vor Augen geführt, dass das fallspezifische professionelle Engagement an übergeordnete Steuerungs- und Verwaltungsabläufe gebunden ist. 5.3.3.3 113 SM: 114 K „Die Ausbildung ist gesichert! “ - Ergebnismitteilung und Absprachen zum weiteren Vorgehen noch und ein frohes fest! *2* auf wiederhörenj, # LEGT AUF # 115 SM: ich denk mir die ausbildung ist gesichert^ also vorher 116 SM: war=s immer so dass entweder |das arbeitsamt 117 FW: hmhm ent|weder arbeitsamt 118 SM: | oder dasi |weil | es sind bisher die *2* 119 FW: (...)| oder |muss das| 120 SM: neuen deutschen #spätaus|sied|lerinnen# * |und| 121 K #LACHT LEICHT # 122 FW: >ja< |ja | |ja | 123 SM: aussiedler die die ausbildung gemacht haben |auch 124 FW: |hmhm 125 SM: nicht) durch=s arbeite|amt ge|fördert [worden j in 126 FW: | [hmhm | | ( ) | 127 SM: der der altenpflegehilfeausbildung ATMET also fahren 128 SM: sie am donners|tag hin | |nein ha|ben 129 FW: |ich (brau|che? habe) termin hm |und ich) Forschung vgl. Hinnenkamp (1989a, S. 11 Iff.); Kall meyer/ Keim (1994a) sowie Schmitt (1993). <?page no="192"?> 192 Aussiedler treffen aufEinheimische 130 SM: 131 FW: 132 SM: 133 FW: 134 SM: 135 FW: 136 SM: 137 FW: 138 K 139 SM: 140 FW: 141 K 142 HW: 143 SM: 144 FW: 145 K sie ja |um fünfzehn uhr und dann haben sie einen |jaja ich (habe) am donnerstag arbeitsvertrag | ja um fünf | zehn uhr ich habe terminj, und * das haben sie bereits die klappt alles jat *2,5* spätaussiedlerbescheinigung <sie> #ja| wir haben in #BLÄTTERT IN <dann> ähm am freitag unsere vertriebene ]genorrrtien PAPIEREN lia I l a I bei frau# stern |#(noch)| wasT# # #ZU HW # Strukturelle Beschreibung Z. 115-139: Ohne weitere Umschweife nimmt Herr Stierte nach dem Auflegen des Telefonhörers eine Ergebnismitteilung vor. Er fasst die erhaltenen Auskünfte in einer Weise zusammen, die Gewissheit hinsichtlich Finanzierung bzw. Teilnahme an der Ausbildung zur Altenpflegerin schafft [ich denk mir die ausbildung ist gesichert^; Z. 115], In weiteren Erklärungen weist er daraufhin, dass sich an der ihm bekannten Förderungspraxis (Kostenübemahme durch das Bundesland) nichts geändert hat. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, wie der Berater mit Statuskategorien für Aussiedler umgeht: Er spricht zunächst von den neuen deutschen, fügt dann aber die in behördlichen und gesetzlichen Texten geläufige Bezeichnungen spätaussiedierinnen und aussiedler an (Z. 120 u. 123). Nicht neue deutsche ist die Statuskategorie, die leistungsrechtliche Ansprüche begründet, sondern spätaussiedierinnen und aussiedler. Die Verwendung der offiziellen Statuskategorie kontextualisiert die für Aussiedler geltenden Rechtsbestimmungen. Herr Stierte leistet hier Formulierungsarbeit, die höherstufige Geltung einer nachträglichen sozialen Kategorisierung gegenüber der vorausgegangenen Kategorisierung markiert. Mit der im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes korrekten Statuskategorie kann sich Herr Stierte unverfänglicher auf die Identität der Klientin beziehen, also Auslegungsrisiken und Diskriminierungspotenziale, die der Rede von den neuen deutschen anhaften könnten. <?page no="193"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 193 reduzieren. Durch das Lachen, mit dem er diese Selbstkorrektur vollzieht, drückt er allerdings auch eine distanzierte Haltung gegenüber der offiziellen Statuskategorie aus. Die am Telefon erhaltenen Auskünfte gibt Herr Stierle mit Bezug auf noch bestehende Zweifel der Klientin am Zustandekommen der Lehrgangsteilnahme wieder. Die Ergebnismitteilung geht so vor sich, dass sich daraus für die Klientenpartei die Gelegenheit zur Präsentation eines neuen Anliegens entwickelt. Der Reihe nach: Es bleibe dabei, dass sie, Frau Wagner, am Donnerstag in das Altenpflegeseminar fahre. Der Berater bekräftigt so die Gültigkeit von Absprachen, die in vorausgegangenen Kontakten getroffen worden sein müssen. Frau Wagner scheint sich der Sache noch nicht ganz sicher zu sein; sie will wissen, ob für den Antrittstag noch eine Terminabsprache nötig ist. Herr Stierle antwortet unter Angabe der Uhrzeit, die er so lässt sich vermuten dem vorgelegten Brief entnommen hat, und unter Hinweis darauf, dass Frau Wagner dann einen Arbeitsvertrag 173 habe (vgl. Z. 130 u. 132). Frau Wagner wiederholt die in dem Brief angegebene Uhrzeit und ratifiziert damit die aktualisierte Absprache der Lehrgangsteilnahme; offenbar hat sie aber noch immer Zweifel am Zustandekommen ihrer Lehrgangsteilnahme, wie ihre erneute Vergewisserungsinitiative und * das klappt alles jaT (Z. 133 u. 135) zeigt. Nach einer Pause von gut zwei Sekunden reagiert Herr Stierle mit einer Frage, die Gewissheit hinsichtlich der formalen Grundvoraussetzungen einer Lehrgangsteilnahme zu schaffen sucht [haben sie bereits die Spätaussiedlerbescheinigung <sie>; Z. 134 u. 136], Er wählt hier ein Frageformat, bei dem durch ein angehängtes und lauter gesprochenes Personalpronomen mögliche Adressierungsunklarheiten ausgeräumt werden. Die Frage zielt darauf, Informationen über den Stand ihres Anerkennungsverfahrens einzuholen, denn erst mit dem Besitz des Spätaussiedlerausweises ist es möglich, dass Frau Wagner besondere Leistungen beruflicher Förderung in Anspruch nehmen kann; sofern sie den Spätaussiedlerausweis schon bekommen hat, kann Herr Stierle letzte bestehende Zweifel am Zustandekommen der Lehrgangsteilnahme ausräumen. In Z. 139 findet sich ein Sprecheransatz des Beraters [<dann>], vermutlich reicht ihm schon das antworteinleitende ja von Frau Wagner (Z. 137), um ihr Zusicherungen hinsichtlich der Lehrgangsteilnahme machen zu können. 173 Die Teilnahme an dem Lehrgang zur Ausbildung als Altenpflegerin erfolgt im Rahmen arbeitsvertraglicher Regelungen. <?page no="194"?> 194 Aussiedler treffen aufEinheimische Mit der Frage nach dem Erhalt der Spätaussiedlerbescheinigung wird eine Rechtsangelegenheit thematisiert, die über das Problem der Ausbildungsfinanzierung hinausgeht; sie ist ihr formalrechtlich vorgeschaltet. Diese Frage wird von der Klientenpartei als Gelegenheit zur Darstellung eines weiteren problematischen Sachverhalts und eines neuen Anliegens an den Berater genutzt. 5.3.3.4 „Wir sind nicht einverstanden mit diese Paragraph! “ - Aufdeckung eines weiteren Problems und Zurückweisung der klientenseitig angestrebten Lösungsstrategie durch den Berater 136 SM: spätaussiedlerbescheinigung <sie> 137 FW: ttjaf wir haben in 138 K #BLÄTTERT IN 139 SM: <dann> |ja 140 FW: äbm am freitag unsere vertriebene |genommen 141 K PAPIEREN 142 HW: 143 SM: 144 FW: I l a bei frau# stern |#(noch)| wasT# # #ZU HW # (ich sagen? er sagten) muss: 145 K 146 HW: 147 SM 14 8 HW ja |das | ist |klar| ich habe ich nicht (zufrieden) |frau| |frau| 149 FW: 150 HW: frau stern sagt * äh schreiben äh wider](spruch)| wider|Spruch 152 FW 153 HW 151 SM ja gegen paragraph sieben |zwei| I ja | |wir sind | nicht | (ja? nein) | 154 SM 155 FW | ich seh keine 156 SM einverstanden * |mit| diese para]graph] chancef * sag ich ihnen (ehrlich 157 FW 158 HW I sagt| |frau stern] |sagt| schreiben Strukturelle Beschreibung Z. 137-156: Mit der Antwort auf die Frage nach dem Erhalt des Vertriebenenausweises [jaf wir haben in ähm am freitag unsere vertriebene genommen bei frau stern; Z. 137 U. 140] <?page no="195"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 195 reagiert Frau Wagner zunächst auf speziell für sie gesetzte konditionelle Relevanzen. Nach einer unverständlichen Äußerung, mit der Herr Wagner sich in das Gespräch einzuschalten versucht (Z. 142), und nach Abschluss der Äußerung, mit der Frau Wagner die Frage nach dem Vertriebenenausweis beantwortet, lässt Herr Stierle ein kurzes Rezeptionssignal folgen, das sich mit einer Äußerung von Frau Wagner (Z. 144) überschneidet [ja; Z. 143], Diese Äußerung der Klientin ist allerdings an ihren Mann gerichtet. Beim Abhören der Tonbandaufnahme ist das (noch) wast in Zeile 144 unmissverständlich als Redeaufforderung an ihren Mann zu identifizieren; es ist sehr hastig gesprochen und nicht so laut wie ihre vorausgegangenen und wie später folgende Äußerungen; es mutet an wie ein Zuflüstem an einen in Bedrängnis geratenen Gefährten. Herr Wagner wird von seiner Frau gedrängt, noch etwas zu sagen bzw. das nur leise und unverständlich Gesagte (vgl. Z. 142) noch einmal zu wiederholen. Unmittelbar auf dieses leise gesprochene (noch) wast von Frau Wagner folgt eine besser verstehbare Äußerung ihres Mannes [(ich sagen? er sagten) muss: ich habe ich nicht (zufrieden) frau frau frau stern sagt * äh schreiben äh widerspruch; Z. 146-150]. Herr Wagner spricht mit sehr leiser Stimme und hat offenbar noch größere Formulierungsschwierigkeiten im Deutschen als seine Frau. Dass Herr Wagner sich an dieser Stelle äußert, deutet daraufhin, dass die zuvor vom Berater aufgeworfene Frage nach dem Erhalt der Spätaussiedlerbescheinigung auch für ihn von Relevanz ist. Er spricht davon, nicht (zufrieden) zu sein gemeint ist hier zweifelsohne die Spätaussiedlerbescheinigung - und bringt zum Ausdruck, dass eine Frau Stern gesagt hat, dass ein Widerspruch gegen diesen Bescheid geschrieben werden soll. Durch dieses Antwortverhalten der Wagners verschiebt sich der bisherige thematische Fokus: es geht nun nicht mehr um Klärung förderungsrechtlicher Voraussetzungen der Teilnahme von Frau Wagner an dem Lehrgang im Altenpflegeheim, es geht jetzt um die Vertriebenenausweise bzw. Spätaussiedlerbescheinigungen und die damit vorgenommenen Statuszuweisungen. Für die Klientenpartei ist der anerkennungsrechtliche Status, der Herrn Wagner mit der Spätaussiedlerbescheinigung zugewiesen wurde, nicht akzeptabel. Dies wird bei Kenntnis der Rechtsmaterie, in der der Begriff „Vetriebenenausweis“ relevant ist, verständlicher (der Berater macht diese Rechtsmaterie mit Nennung einer Paragraphenziffer als relevanten Kontext kenntlich, vgl. Z. 151). <?page no="196"?> 196 Aussiedler treffen aufEinheimische Der § 7, Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes findet Anwendung auf Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern, die selbst nicht die Volkszugehörigkeitsvoraussetzungen erfüllen. Während mit der Einbürgerung nach § 4 aussiedlerspezifische Eingliederungshilfen in Anspruch genommen werden können, ist dies bei der Anerkennung nach § 7, 2 nur begrenzt möglich. Hier dürfte am schwersten wiegen, dass bei Einbürgerung nach § 7, 2 keine Ansprüche auf Leistungen aus der Rentenversicherung bestehen. Eine Einbürgerung nach § 7, 2 kann für Betroffene auch insofern unbefriedigend sein, als ihnen damit der Status eines nicht vollwertigen Deutschen zugewiesen wird. Zurück zum Äußerungsverhalten der Klientenpartei: Wie unschwer zu erkennen ist, kann Herr Wagner nicht so gut deutsch wie seine Frau. Merkmale eines Sprachlemers treten in seinem Äußerungsverhalten sehr krass zutage. Er formuliert schleppend und sehr leise, er sucht nach der richtigen Satzkonstruktion und spricht syntaktisch verkürzt (vgl. Z. 146 u. 150); seine Frau muss ihm das passende Wort vorsagen, als es darum geht, den spezifischen Problembearbeitungsschritt zu benennen, bei dem der Berater helfen soll [wi derspruch; vgl. Z. 149 u. 150; wie noch zu zeigen ist, unterstützt Frau Wagner kurz darauf noch mal das Äußerungsverhalten ihres Mannes durch Vorsagen dieses Wortes). Nachdem der Berater zur Verständigungssicherung den Paragraphen genannt hat, der bei Herrn Wagners Einbürgerung angewandt wurde [widerspruch ja gegen paragraph sieben zwei], schaltet sich Frau Wagner wieder ein (Z. 152). Sie bekräftigt im Gebrauch der Wir-Form die bei den Wagners bestehende Unzufriedenheit mit dem Einbürgerungsbescheid. Daraufhin gibt Herr Stierle eine Stellungnahme zu den Erfolgsaussichten eines solchen Schrittes ab: Für einen Widerspruch sehe er keine Erfolgschance. Diese für die Wagners wenig erfreuliche Chancenbeurteilung wird abgeschlossen mittels einer Formel, die Aufrichtigkeit des Sprechers markiert und eine wohlmeinende Grundhaltung des Beraters gegenüber der Klientenpartei bekundet. Er stuft das Vorhaben als aussichtslos ein [nur ich seh keine chancei], dabei ist diese negative Chancenbeurteilung durch eine angehängte Floskel [sag ich ihnen ehrlich] als Äußerung eines vertrauenswürdigen und freundschaftlich gesonnenen Interaktionspartners markiert (vgl. Z. 154 u. 156). Der mitfühlend-bedauemde Tonfall, in dem Herr Stierle diese Prognose zum Verfahrensausgang äußert, unterstützt Mitteilungsfünktionen, die sich <?page no="197"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 197 folgendermaßen paraphrasieren lassen: ‘Es tut mit leid, dass ich Ihnen das sagen muss, aber es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich mit den unerfreulichen Tatsachen abzufmden.’ Analytischer Kommentar zu den Gesprächsaktivitäten des Aussiedlerehepaares (Z. 137-156): Zu Beginn des Beratungsgespräches (Z. 1-144) redeten Herr Stierle und Frau Wagner miteinander; ausschlaggebend dafür war sicherlich, dass es dabei um eine Angelegenheit ging, die die Klientin selbst betraf. Angesichts der unterschiedlichen Sprachkompetenzen bei den Wagners und angesichts der nicht zu übersehenden und zu überhörenden Schwierigkeiten, die Herr Wagner mit dem Gebrauch des Deutschen hat, scheint es verwunderlich zu sein, dass plötzlich Herr Wagner die Sprecherrolle übernimmt. Dass der Berater beim Abfassen eines Widerspruchs gegen den Einbürgerungsbescheid von Herrn Wagner behilflich sein soll, hätte ihm auch Frau Wagner sagen können, zumal sie ohnehin bereits als Wortführerin etabliert ist. Stattdessen ist Frau Wagner darauf bedacht, dass ihr Mann zu Wort kommt (siehe die Redeaufforderung (noch) wasT in Z. 144, siehe auch die Formulierungshilfe in Z. 149). Herr Wagner nimmt die Sprecherrolle ein, seine Frau konkurriert dabei nicht mit ihm um das Rederecht, vielmehr bereitet sie seine Redegelegenheit vor und unterstützt ihn bei der Ausgestaltung dieses Floors. Ein solcher Vorgang, bei dem der kompetentere Sprecher dem weniger kompetenten Sprecher das Wort überlässt, um in die Kommunikation mit einem Institutionenvertreter bzw. einem Professionellen einzutreten, ist hochsignifikant. Die Beteiligungskonstellation zwischen dem Klientenehepaar ist zwar prinzipiell so angelegt, dass Frau Wagner sozusagen Sprachrohr des Ehemannes ist und falls erforderlich für ihn einspringt oder Formulierungshilfe leistet. Für die Beteiligungsrolle des primär betroffenen Ehemannes 174 wird hier offenbar ein besonderer Zwang, selbst reden zu müssen, ein Zwang zur kommunikativen Selbstvertretung, 175 wirksam. Dies wird daran deutlich, dass die Einnahme seiner Rolle als Sprecher von seiner Frau mitbetrieben wird. Dieser Vorgang charakterisiert (a) sowohl die Situationsorientierung der Klientenpartei als auch (b) die Beratungssituation in ihren sozialen Funktionszusammenhängen. 174 Es geht ja um den Anerkennungsbescheid und um Bestätigungsmerkmale von Herrn Wagner; seine Frau agiert als mitbetroffenes Familienmitglied. 175 Ich lehne mich hier an das Konzept „Präferenz der interaktiven Selbstvertretung“ an, vgl. Schmitt (1997). <?page no="198"?> 198 Aussiedler treffen aufEinheimische Zu (a), der Situationsorientierung der Klientenpartei: Der Aufdeckung des neuen Problems durch die Klientenpartei liegen Kompetenzzuschreibungen gegenüber dem Professionellen zugrunde, dabei aber erfolgt kein regelrechter Hilfeappell, auf den der Berater dann auch reagieren müsste. Das Ausbleiben eines solchen Hilfeappells zeugt davon, dass die Klientenpartei in der Gewissheit agiert, dass Herr Stierte der richtige Bündnispartner die bearbeitungskompetente und bearbeitungswillige Hilfeinstanz ist. Seine Zuständigkeit und seine Hilfsbereitschaft stehen für die Klientenpartei außer Frage. Unter Bezug auf die Komponentenstruktur des Handlungsschemas „beraten“ lässt sich von einer situationsflexiblen Präsentation eines neuen Problems sprechen, wobei die Problempräsentation bereits Angaben zur Lösungsentwicklung enthält, nämlich: mit Hilfe des Beraters ein Schreiben abzufassen, in dem von Rechtsmitteln gegen den vorläufigen Bescheid der statusrechtlichen Anerkennung nach § 7, 2 Gebrauch gemacht wird. Dies geht aus der Verwendung des Ausdrucks Widerspruch hervor, wie auch an den nachfolgenden Reaktionen des Beraters ablesbar ist. Zu (b), dem sozialen Funktionszusammenhang der Beratungssituation: Herr Stierte soll beim Abfassen eines Widerspruchs, der die vollwertige Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger sichert, behilflich sein. Dass dieser Status bisher nicht zugebilligt wurde, lag mit daran, dass Herr Wagner das wichtige Bestätigungsmerkmal „Beherrschung der deutschen Sprache“ nicht vorweisen konnte. Um den Berater für die Mitwirkung an dem Widerspruch gewinnen zu können, muss gerade auch für diesen quasi als Grundvoraussetzung evident sein, dass Herr Wagner das Bestätigungsmerkmal durchaus für sich reklamieren kann. Die von der Klientin praktizierte kommunikative Beteiligungsform „Sprechen-für-Andere“ ist offenbar für den Ehemann in besonderer Weise risikobehaftet. 176 Weiteres Sprechen von Frau Wagner würde eine Statusgefährdung für den Ehemann produzieren. Würde Herr Wagner hier nicht selbst reden, bestünde die Gefahr, erneut Evidenzen für mangelnde Beherrschung des Deutschen zu produzieren. Analytischer Kommentar zu den Gesprächsaktivitäten des Beraters (Z. 147-156): Der Berater ist von Herrn Wagners Unzufriedenheitsbekundung wenig überrascht. Offenbar hat er mit einem solchen Anerkennungsbe- 176 Die prinzipielle Risikobehaftung für das Image eines Situationsbeteiligten, für die ein anderer oder eine andere Beteiligte spricht, wird aufgezeigt in Kallmeyer et al. (1994, S. 64f.). <?page no="199"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 199 scheid, mit dem die Wagners nicht zufrieden sein können, gerechnet. Während die unmittelbar davon Betroffenen an rechtliche Schritte zur Korrektur des Einbürgerungsstatus denken, scheint in der Reaktion des Beraters [ja das ist klar; Z. 147] die Perspektive des Professionellen durch, für den die weniger günstige statusrechtliche Anerkennung nach § 7, 2 absehbar war. Da eingetreten ist, was aufgrund seiner Kenntnisse der gängigen Anerkennungspraxis prognostizierbar war, ist Herr Stierle auch geneigt, den an Herrn Wagner ergangenen Einbürgerungsbescheid als unumstößliche Faktizität zu behandeln. Wenn der Berater hier dem Widerspruchsvorhaben keine Erfolgschancen einräumt, bedeutet dies auch, dass er das diesbezügliche Hilfeansinnen (beim Abfassen des Widerspruchs behilflich zu sein) zurückweist. Betrachtet man die negative Chancenbeurteilung als Reaktion auf den Versuch der Klientenpartei, ein neues Handlungsschema des Hilfeersuchens in Gang zu setzen, ist zu konstatieren, dass dieser handlungsschematischen Initiative somit auch die Ratifizierung verweigert wird. Der von den Wagners beabsichtigte Widerspruch gegen § 7, 2 ist somit als nicht hilfefähiges, als nicht unterstützungswürdiges Anliegen eingeordnet. Das neue Anliegen, das die Wagners vorgebracht haben, wird vom Berater mit einer Prognose über die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens zurückgewiesen [ich sehe keine chance; Z. 154 u. 156], Ich bezeichne diesen Vorgang auch als eine Aktivität der präjudiziellen Fallbehandlung der Professionelle macht seine bis zu diesem Zeitpunkt erlangten Kenntnisse über den Fall sowie seine Kenntnisse über die in vergleichbaren Fällen gängige Entscheidungspraxis behördlicher Instanzen zur Beurteilungsgrundlage der weiteren Fallentwicklung (hier: der Erfolgsaussichten des beabsichtigten Widerspruchs). Mit der präjudiziellen Fallbehandlung, die Herr Stierle an der diskutierten Stelle praktiziert, behindert er nicht bloß die Problempräsentation der Klientenpartei und die Entwicklung einer Problemsicht, er verbaut damit auch den Einstieg in die Lösungsentwicklung (dies wird sich im weiteren Verlauf des Beratungsgespräches noch deutlicher zeigen). Versteht man Beratung als einen kommunikativen Prozess, der hinsichtlich der Bearbeitungsmöglichkeiten eines Problems der Erkenntnisgenerierung dienlich sein soll, ist festzuhalten, dass Herr Stierle hier kontraproduktiv ist er verhindert Aktivitäten, durch die erkenntnisgenerierende Potenziale der Gesprächssituation ausgeschöpft werden könnten. <?page no="200"?> 200 Aussiedler treffen aufEinheimische Präjudizielle Fallbehandlung ist für Professionelle generell eine Strategie, die der effizienten und abkürzenden Gestaltung des Klientenkontaktes dient. Wenn ein Berater eine institutionell vorgegebene Falldefinition als gültige anerkennt, ist damit auch der Komponente Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung, die im Handlungsschema „beraten“ der Entwicklung einer Problemsicht folgt, vorgegriffen: So lange wie sich der professionelle Berater an der von anderen Instanzen gelieferten Falldefinition orientiert, sind auch die Bearbeitungsmöglichkeiten des Klientenproblems vorentschieden. Indem Herr Stierle in seiner Chancenbeurteilung Bedauern und Mitgefühl bekundet, symbolisiert er auch seine Position als Professioneller im Prozessrahmen der Einbürgerung. Er ist der Helfer, der in administrativen Einbürgerungsangelegenheiten den Aussiedlem zur Seite steht und Anteil an ihren Erfahrungsprozessen hat. Er kann in seiner Helferrolle aber nicht an den Bedingungen, die von der Einbürgerungsadministration gesetzt werden, vorbei agieren. Vielmehr fällt ihm in seiner Helferfunktion auch die Aufgabe zu, die „harten Tatsachen“, die im Einbürgerungsverfahren teils gegeben sind (durch einschlägige Gesetzesvorschriften), teils geschaffen werden (durch Ermessensentscheidungen der Einbürgerungsadministration), an den Mann oder die Frau zu bringen. Er kann im Prozessrahmen staatlich gelenkter Einbürgerung eben nicht durchgängig als Ratgeber und Helfer tätig sein; er muss auch an Realitäten ankoppeln, die für Klienten bitter und enttäuschend sind. In dieses Dilemma, einerseits einer institutionellen Entscheidung Geltung zu verschaffen, die für die Klientenseite enttäuschend ist, und andererseits auch die Rolle des Bündnispartners zu wahren, gerät Herr Stierle an der Stelle, an der Herr Wagner seine Unzufriedenheit mit dem § 7, 2 bekundet. Mit diesem Dilemma geht Herr Stierle hier so um, dass er im Gestus eines Freundes und Verbündeten zu den Wagners spricht und ihnen offen, ehrlich und anteilnehmend die unangenehme Wahrheit aufzeigt, der sie sich so seine Sichtweise stellen sollen [nur ich seh keine chancef * sag ich ihnen ehrlich; Z. 154 U. 156]. Die Bekundung von persönlicher Anteilnahme und Authentizität zeigt, dass hier widersprüchliche soziale Rahmungen aufeinandertreffen. Es wird Intaktheit der Reziprozitäts- und Kooperationsverhältnisse angezeigt, indem Bedauern darüber, nicht helfen zu können, bekundet wird. Gleichzeitig wird im Zuge der Mitteilung unerfreulicher Sachverhalte gleichsam das Arbeitsbündnis in dieser Angelegenheit aufgekündigt. Mit dem Ausdruck von Be- <?page no="201"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 201 dauern greift an dieser Stelle eine sehr mächtige Strategie der Interaktionssteuerung; Herr Stierle symbolisiert: ‘Ich spreche als wohlmeinender Freund und Helfer zu Ihnen.' Damit ist aber auch gesagt: ‘Wenn Sie das, was ich Ihnen aus meiner Erfahrung heraus sagen muss, zurückweisen, dann weisen sie auch diese Beziehungsdefinition zurück.’ Diese Strategie macht es der Klientenpartei sehr schwer, ihr Anliegen weiter zu verfolgen. Sie muss sich jetzt um Unterstützungsbereitschaft des Beraters bemühen, und zwar unter der Bedingung, dass dieser (a) das Widerspruchsvorhaben für aussichtslos hält und (b) ein Weiterverfolgen dieses Vorhabens vom Berater als Verstoß gegen die prinzipiell auf Kooperation angelegte Beziehungsdefmition gedeutet werden könnte. 5.3.3.5 Fakten sind auch in Deutschland schwer umzuwerfenD - Behauptung des Anliegens der Klientenpartei gegenüber der beraterischen Problemsicht Wie eben gezeigt, stellt sich den Wagners das Problem, doch noch zu einer Bearbeitungszusage des Beraters zu kommen, obwohl dieser ihren Lösungsvorstellungen keine Erfolgsaussichten einräumt. Die Klientenpartei ist gezwungen will sie das Arbeitsbündnis nicht aufkündigen und die Widerspruchsabsicht aufgeben - Aktivitäten argumentativer Stützung ihres Ansinnens zu starten. Solche gegen die beraterische Chancenbeurteilung gerichteten Opponentenaktivitäten 1 7 realisieren die Wagners unter Rückgriff auf eine Erfolgsprognose, die sie bei einer anderen beurteilungskom- 177 Mit der vorausgegangenen präjudiziellen Fallbehandlung des Beraters ist das Kommunikationsschema des Argumentierens enaktiert worden: Die beraterische Fallbeurteilung enthält eine Behauptung über die Erfolgsaussichten des Klientenanliegens, sie stellt argumentationstheoretisch formuliert eine Proponentenaktivität dar, der die Klientenpartei nun in Opponentenaktivitäten widerspricht. Generell wird das Kommunikationsschema der Argumentation „immer dann von Interaktionspartnem eingesetzt, wenn Feststellungen in ihrer Geltung zweifelhaft, und das bedeutet: ihre Begründungspotentiale nicht ausgelotet sind“ (Schütze 1978, S. 66). ln Gesprächssituationen, in denen die geläufigen Kurzrepräsentationen kognitiver Strukturen zur Sicherung wechselseitigen Verstehens nicht mehr genügen, werden Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung enaktiert. Hierzu gehören neben dem Argumentationsschema noch das Erzähl- und das Beschreibungsschema; vgl. Kallmeyer/ Schütze (1977); ausführlicher zu den kommunikativen Mechanismen und den Kernaktivitäten des Argumentationsschemas vgl. Schütze (1978, S. 68-79). <?page no="202"?> 202 Aussiedler treffen aufEinheimische petenten Instanz bekommen haben. In ihren Reaktionen auf die Frage nach dem Erhalt der Spätaussiedlerbescheinigung haben die Wagners diese Instanz bereits erwähnt [Frau Wagner in Z. 144, Herr Wagner in Z. 150: frau stern sagt * äh schreiben äh Widerspruch], Unter Berufung auf die anders lautende Erfolgsprognose der Frau Stern gelingt es der Klientenpartei zwar erstaunlich rasch, den Berater umzustimmen; das Aushandlungsgeschehen bis hin zur Besiegelung des Arbeitsbündnisses in der Widerspruchsangelegenheit ist aber doch relativ langwierig. Folgende Aktivitätskomplexe lassen sich bei der Behauptung des Klientenanliegens gegenüber der beraterischen Chancenbeurteilung unterscheiden: (a) Berufung der Klientenpartei auf eine externe Problemsicht und Einräumung prinzipieller Erfolgschancen bei einem Widerspruch durch den Berater (Z. 157-180), (b) Kritik der Klientenpartei an der Einbürgerungsadministration, Zurückweisung dieser Kritik und Richtigstellungen zum Problemsachverhalt durch den Berater (Z. 176-326), (c) Einbringung von Lösungswissen durch die Klientenpartei und Bearbeitungszusage durch den Berater (Z. 326-378). Analog zu dieser Segmentierung nehme ich die strukturelle Beschreibung der gesamten Interaktionsstrecke (Z. 157-378) vor: Segment (a): Berufung der Klientenpartei auf eine externe Problemsicht und Einräumung prinzipieller Erfolgschancen bei einem Widerspruch durch den Berater (Z. 157-180) 156 SM 157 FW 158 HW chancef * sag ich ihnen |ehrlich |frau stern) |sagt| |sagt| schreiben 159 FW 160 HW widerspruch und ähm äh *2,5* widerspruch äh äh bei ihnen 161 SM 162 FW 163 HW I ja) | sie | sie schickt nach daß wir oder bei stadtj. 164 SM: | ja) richtig 165 FW: (haben |so)| aber ich habe bei ihr ge/ äh 166 FW gefragt das es gibt (nurPnoch) chance sie sagt <?page no="203"?> Inanspruchnahme des Hüfesystems 203 167 SM 168 FW 169 HW 170 FW 171 HW 172 SM: 173 SM: 174 SM: 175 HW: 176 FW: 177 HW: 178 K 179 FW: 180 HW: s=gibt chance]. (gibt| (... |...)| ja |sie sagen nicht jat sie sagen * |weil (alles? alle) probieren], | ATMET also: * wissen sie * ich bin auch nur ein mansch], wat <es ist> ** chance sag ich mal ** da], immer], wenn sie widersprach schreiben und probieren], ja ja (hm) probieren SEUFZT aber ich #>wie sie sagen das< # * #VORSICHTIG ZUSTIMMEND# denk so |dass w/ w/ wei/ |was ist geschrieben I (will wissen welche chance],) I 181 FW: in deutschland * das ist verwechselt ist so schlimm Strukturelle Beschreibung Z. 157-180: Die Entfaltung des neuen Klientenanliegens - Widerspruch gegen Statuszuerkennung nach § 7, 2 unterliegt Bedingungen des Kommunikationsschemas der Argumentation. Herr Wagner folgt der Fallbeurteilung des Beraters nicht, er macht geltend, von Frau Stern einen anders lautenden Rat bekommen zu haben [frau stern sagt schreiben und ähm äh *2,5* widerspruch ... bei ihnen oder bei stadt],; Z. 158-163], Vermutlich hat Frau Stern die Wagners auch an Herrn Stierle als den Aussiedlerberater, der ihnen beim Abfassen des Widerspruchs helfen soll, verwiesen. 178 Herr Wagner führt nicht aus, wie und womit er seinen Widerspruch begründen will, er gibt lediglich die gegenteilig lautende 178 Frau Stem ist Mitarbeiterin der örtlichen Einbürgerungsbehörde. Dies geht nicht allein daraus hervor, dass die Wagners sie als Person erwähnen, die ihnen die Spätaussiedlerbescheinigungen ausgehändigt hat. An anderer Stelle erwähnt der Berater sie auch als Instanz, auf deren Sprachstandsbeurteilung es im Anerkennungsverfahren ankommt (die Behördenmitarbeiter müssen bei Beantragung der Spätaussiedlerbescheinigung vorhandene Sprachkenntnisse schriftlich bestätigen; für die Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit, insbesondere bei gerichtlicher Einzelfallüberprüfung, können solche Niederschriften von großer Wichtigkeit sein). Die im Beratungsgespräch erwähnte Frau Stern war offensichtlich mit dem Anerkennungsverfahren der Wagners befasst und ist von daher ebenfalls beurteilungskompetent bezüglich der Chancen eines Widerspruchsverfahrens. <?page no="204"?> 204 Aussiedler treffen aufEinheimische Empfehlung von Frau Stem wieder. Seine Opponentenaktivität besteht aus einer fragmentarischen Wiedergabe fremder Rede [frau stern sagt schreiben und ahm äh *2,5* Widerspruch]; dabei erhält Herr Wagner wieder Formulierungshilfe von seiner Frau; Sie unterstützt seine Äußerung mit Nennung des Rechtsterminus [widerspruch; vgl. Z. 159u. 160], Frau Stem, auf deren Aussagen sich Herr Wagner beruft, hatte offenbar über zuständige Stellen orientiert, bei denen der Widerspruch abgefasst werden könnte, nämlich Herrn Stierle, den Aussiedlerberater, sowie die städtische Behörde, die für die Aussiedlereinbürgerung zuständig ist [äh äh bei ihnen oder bei Stadt; Z. 160 U. 163]. Frau Wagner unterstützt das insistierende Vorgehen ihres Mannes und baut die eingeleitete Opponentenaktivität weiter aus (Z. 162-168). Auch sie nimmt Bezug auf das Gespräch bei Frau Stern. In diesem Gespräch ist es um konkrete Schritte der Durchführung des Widerspruchsverfahrens und um ihre eigene Mitwirkung gegangen, wie sich der Äußerung sie schickt nach das wir (haben so) (Z. 162 u. 165) 179 entnehmen lässt. Nicht auszuschließen ist, dass Frau Wagner Auskünfte der Behördenmitarbeiterin in ihrem Sinne und zu ihren Gunsten wiedergibt (also als Ermutigung, einen Widerspruch einzulegen), die Behördenmitarbeiterin in der zurückliegenden Gesprächssituation aber lediglich in einem rein verfahrenstechnischen Sinne auf die Möglichkeit eines Widerspruchs hingewiesen hat. Vermutlich setzt Frau Wagner in dem nicht genau verständlichen Äußerungsteil haben so dazu an, sich auf Absprachen, die es zwischen den Wagners und Frau Stern gegeben hat, zu bemfen, um so ihrem Hilfeersuchen Nachdruck zu verleihen. Die Erwähnung der Absprachen mit Frau Stern macht noch einmal deutlich, dass es sich bei der Widerspruchssache, bei der Herr Stierle behilflich sein soll, um ein Vorgehen handelt, das von dieser Behördenmitarbeiterin mitgetragen wird. 79 Mit daß ist hier eine Instanz maskiert, die mit der weiteren Bearbeitung der Widerspruchsangelegenheiten befasst ist. Denkbar ist, dass dies ein Rechtsanwalt ist, für wahrscheinlicher halte ich, dass es sich um eine Nebenstelle oder einen Mitarbeiter der für Anerkennungsbescheide zuständigen Behörde (Bundesverwaltungsamt) handelt. Ein Widerspruch gegen den Anerkennungsbescheid ist bei der zuständigen Behörde einzureichen, bevor eine gerichtliche Anfechtungsklage stattfmden kann; vgl. Juncker (1994). Der zunächst einzureichende behördliche Widerspruch ist ein so genanntes Vorverfahren. <?page no="205"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 205 Die Klientin geht dann noch weiter auf das Gespräch mit Frau Stern ein (Z. 165-168). Sie weist daraufhin, dass sie sich bei ihr ausdrücklich nach den Erfolgschancen eines Widerspruchs erkundigt hat. Die narrative Teilwiedergabe des Gespräches mit Frau Stem hat eine Doppelfunktion: Sie ist gegen die negative Einschätzungshaltung des Beraters gerichtet, bestreitet also dessen Fallbeurteilung; zugleich wird damit auch der Beweis für eine empirische Fundierung des Bestreitens der beraterischen Einschätzung geliefert. Die Erwähnung der expliziten Befragung der Behördenmitarbeiterin hat gewissermaßen Belegcharakter, d.h., die günstigere Chancenbeurteilung wird validiert, indem sie als Ergebnis einer eigens zur Chancenauslotung vorgenommenen Expertenbefragung ausgewiesen wird. Mit dem Verweis auf die Chancenbeurteilung einer anderen, mit statusrechtlichen Angelegenheiten befassten Person wird Flerm Stierles Behauptung über die Erfolgschancen des Widerspmchsvorhabens bestritten. Damit sind konditionelle Relevanzen für eine strittige Auseinandersetzung um den Geltungsanspruch der Chancenbeurteilung des Beraters in Kraft. Die Wagners haben seine Proponentenaktivität (die Behauptung, dass der Widerspmch ohne Aussicht auf Erfolg sei) mit einer Opponentenaktivität erwidert, die diese Behauptung bestreitet und zugleich eine gegenteilige Behauptung ins Feld führt. Zur Reaktion des Beraters auf das Bestreiten seiner Erfolgsprognose: Herr Stierle nimmt diese externe Chancenbeurteilung, die sich konträr zu seiner eigenen verhält, zur Kenntnis, indem er den Anfangsteil der Äußerung, die als Chancenbeurteilung von Frau Stem wiedergegeben wird, wiederholt: Das gibt (Z. 167) ist eine Formulierungsaufnahme aus der Vorgängeräußerung von Frau Wagner; Herr Stierle zieht die externe Urteilsperspektive damit nicht in Zweifel oder weist sie gar zurück, er nimmt sie zur Kenntnis, als sei ein völlig neuer Sachverhalt aufgetaucht, ein Sachverhalt, der zu einer anderen Lagebeurteilung, zu einer Revision seiner bisherigen Problemsicht Anlass gibt. Frau Wagner lässt eine Äußerang folgen, die den Berater zur Erläuterung seiner ungünstigen Erfolgsprognose auffordert; es handelt sich hier um eine an ihn gerichtete Detaillierungsbzw. Begründungsaufforderung, wie an der Frageintonation hinter dem redeauffordemden sie sagen nicht jat erkennbar ist (Z. 170). Ihre kurze Äußerung überschneidet sich mit der Äußerung ihres Mannes. Bei seiner fragmentarischen und akustisch nicht eindeutig verstehbaren Bemerkung könnte es sich um einen nochmaligen Verweis auf Frau Stern handeln [sie sagen * weil (alles? alle) probieren; <?page no="206"?> 206 Aussiedler treffen aufEinheimische Z. 171], Möglicherweise hat sie, Frau Stem, den Wagners Mut gemacht und ihnen geraten, nichts unversucht [alles probieren] zu lassen, einen anderen Anerkennungsstatus zu bekommen. 180 Dem Wortlaut nach es ist nicht eindeutig entscheidbar, ob Herr Wagner alles oder alle probieren sagt könnte es auch sein, dass er hier an den Berater appelliert, sich der Widerspruchssache anzunehmen, weil viele andere Aussiedler bzw. alle es so machen. Dem Höreindruck nach halte ich die erstgenannte Interpretation nichts unversucht lassen, um die Anerkennung nach § 4 zu bekommen für die zutreffendere. Dadurch, dass die Wagners sich auf die Chancenbeurteilung von Frau Stem bemfen, gerät Herr Stierle in eine verzwickte Lage: Er ist unter Imagegesichtspunkten in der Gefahr, als jemand angesehen zu werden, dem es an Voraussetzungen für eine kompetente Fallbeurteilung mangelt, und er ist in der Gefahr, als professioneller Helfer wahrgenommen zu werden, der nicht wirklich hilfsbereit und kooperativ ist. Möglicherweise sieht er sich auch der Gefahr ausgesetzt, gegenüber der Eingliederungsbehörde als jemand dazustehen, der die Rolle des Klientenbeistandes nicht umsichtig und engagiert wahmimmt. Zudem ist es für den Berater hier schwierig, zu erklären, dass von Behördenmitarbeitem Hinweise auf die Möglichkeit eines Widerspruchs vielfach aus Gründen verfahrensrechtlich einwandfreien Vorgehens gegeben werden; ein solcher Hinweis könnte von der Klientenpartei als ein Verdecken mangelnder Kooperationsbereitschaft ausgelegt werden. In dieser prekären Lage macht er mit einer gemeinplatzartigen Bemerkung ein Zugeständnis an die Klientenpartei [also: * wissen sie * ich bin auch nur ein mensch wa <es ist> ** chance sag ich mal ** daf immerj, wenn sie Widerspruch schreiben und probieren^; Z. 172-174], Das Festhalten der Wagners an der Fallbeurteilung von Frau Stem zeigt Wirkung beim Berater. Herr Stierle revidiert seine zuvor gegebene Erfolgsprognose, er räumt persönliche Fehlbarkeit ein, die wie der von ihm verwendete Ge- 180 In den Interviews, die ich mit Professionellen der Aussiedlerbetreuung geführt habe, wurden Behördenmitarbeiter überwiegend als unfreundlich und unkooperativ im Umgang mit Aussiedlem geschildert. Allerdings fehlte es in den Interviews nicht an Hervorhebungen bestimmter Behörden oder auch einzelner Amtspersonen, die von dem Pauschalurteil ausgenommen wurden. So wie sich die Wagners auf Frau Stern berufen, entsteht der Eindruck, dass sie auskunftsfreudig und kooperativ mit den Wagners umgegangen ist und als Vertreterin eines klientenorientierten Kommunikations- und Arbeitsstils angesehen werden kann. <?page no="207"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 207 meinplatz besagt in der menschlichen Natur angelegt ist, und er gesteht jetzt zu, dass bei einem Widerspruch immer Erfolgschancen bestehen. Herr Stierle räumt hier im Sinne prinzipieller bzw. verfahrenslogisch eingebauter Ergebnisformen Chancen ein. Herr Wagner sieht in der Einräumung prinzipieller Chancen durch Herrn Stierle [<es is> ** chance sag ich mal daf immer! wenn sie Widerspruch schreiben und probieren! ; Z. 173 U. 174] wohl schon ein Umschwenken im Bearbeitungsgang zu seinen Gunsten, wie seine zustimmende Reaktion in Zeile 175 u. 177 vermuten lässt [ja ja >wie sie sagen das<]. In Überschneidung mit Äußerungen seiner Frau folgt noch eine Äußerung, in der er sein Hilfeansinnen mit will wissen welche chance (Z. 180) plausibilisiert. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die noch bestehende Chancen auf eine günstigere anerkennungsrechtliche Behandlung unbedingt nutzen will. Hingegen äußert Frau Wagner sich auf dieses prinzipielle und noch sehr vage Zugeständnis des Beraters in einer Weise, die das strittige Themenpotenzial ausweitet und eine Fortsetzung der Kommunikation im Schema strittigen Argumentierens bewirkt (siehe hierzu das Gesprächssegment Z. 176-326). Analytischer Kommentar Z. 157-180: Dass Herr Stierle dem Widerspruchsbegehren jetzt prinzipielle Erfolgsaussichten einräumt, ist um so erstaunlicher, als er zuvor im Gestus des Professionellen, der sich seiner Sache ganz sicher ist, jede Aussicht auf Erfolg abgesprochen hatte. Dieser Positionswandel verwundert auch deshalb, weil von den Wagners noch nichts ins Feld geführt worden ist, womit sich ein Widerspruch gegen die ungünstige statusrechtliche Behandlung begründen ließe. Die Wagners untermauern ihr Hilfeansinnen allein anhand der Empfehlungen und Ermutigungen, die Frau Stern ausgesprochen hat. Der Aufweis einer anderen professionellen Fallprognose reicht offenbar aus, Herrn Stierles Beurteilung zu erschüttern. Durch die Anführung einer anders lautenden professionellen Chancenbeurteilung ist der Berater in Begründungszwänge geraten. Die weitere Verständigung über das Widerspruchsvorhaben erfolgt auf der Ebene von Prognosen zum Verfahrensausgang, wobei für beide Seiten ein Diskurs über Beurteilungsgrundlagen der jeweiligen Prognosen von zweitrangiger Bedeutung oder gar unwichtig zu sein scheint. Es handelt sich um ein argumentatives Ringen, bei dem beide Seiten mit Behauptungen über Erfolgschancen eines <?page no="208"?> 208 Aussiedler treffen aufEinheimische Vorhabens operieren, ohne die jeweiligen Beurteilungsgrandlagen selbst in Augenschein zu nehmen. Dieser Vorgang erinnert an Akte der Demonstration von Stärke, wie sie unter streitenden Rechtsparteien üblich sind: Es wird an der Überzeugung, in der besseren Rechtsposition zu sein, festgehalten, und es wird Siegesgewissheit als Drohmittel eingesetzt. Charakteristisch für solche Positionskämpfe ist, dass dabei beurteilungsrelevante Fakten und Details nicht fokussiert werden, sei es, weil eine Klärung der Faktenlage den Kontrahenten unnötig erscheint, oder sei es, weil sie einer Kommunikationsdynamik unterworfen sind, die sie daran hindert, die dazu erforderliche Gesprächsdisziplin walten zu lassen. 181 Das Problem, in das der Berater gerät, ist auch aus anderen Professionen bekannt. Das Aufeinandertreffen abweichender professioneller Fallbeurteilungen birgt prinzipiell Veransicherangspotenzial für die jeweiligen Standpunkte in sich. Die anders lautende Diagnose eines Fachkollegen stellt nicht einfach nur das eigene Urteil in Frage, sondern generell die Kompetenzgrandlagen als Professioneller. Ferner kann sie als Warnung vor möglichen professionellen Kunstfehlem verstanden werden. Auch wenn in solchen Situationen eher selten ein Fehler- oder Irrtumseingeständnis erfolgt, das öffentlich gemacht wird, können bei dem Professionellen, um dessen Urteil es geht, zumindest Unsicherheiten oder ein stillschweigendes Eingeständnis der Möglichkeit, sich zu irren oder etwas falsch zu machen, aufkommen. Dass die eigene Erfolgsprognose durch bloßen Verweis auf eine gegenteilig lautende Prognose erschütterbar ist, gründet in dem vorliegenden Beratungsgespräch wohl darin, dass der Berater bei der Mitarbeiterin der kommunalen Eingliederangsbehörde (Frau Stern) gründlichere Überprüfungen individueller Fallmerkmale und vor allem bessere Einblicke in die Bearbeitungsroutinen und das Entscheidungshandeln der mit Widersprachsverfahren befassten Instanzen vermutet. Dass er Frau Stern als beurteilungskompetenter ansieht, muss nicht im Widerspruch zu seiner raschen präjudiziellen Fallbeurteilung stehen, bei der er ja den Eindruck erweckt, selbst auf der Grundlage einschlägiger Kenntnisse der Rechtslage zu urteilen. Seine im Gestus sicherer Beurteilungskompetenz vorgenommene präjudizielle Fallbeurteilung kann ISI Derartige Positionskämpfe finden sich vor allem auf dem Feld der außer- und vorgerichtlichen Streitbeilegung; siehe hierzu auch die Analysen von Vergleichsverhandlungen aus unterschiedlichen institutionellen Kontexten in Nothdurft (1995). <?page no="209"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 209 zeit- und arbeitsökonomisch motiviert sein (im Gestus sicherer Beurteilungskompetenz zu agieren, lässt sich als eine Gelingensvoraussetzung für professionelle Abkürzungsstrategien ansehen). Außerdem können seine allgemeinen Kenntnisse ähnlicher Fälle und üblicher Ergebnisse von Widerspruchsverfahren seine Erfahrungswerte ihn in die Lage versetzt haben, als selbstsicherer und beurteilungskompetenter Berater zu agieren. Jedenfalls wird Herrn Stierle klar, dass er in der Angelegenheit Wagner doch aktiv werden muss und sein zurückweisender Bearbeitungsversuch, den er zuerst unternommen hat, nicht funktioniert. Segment (b): Kritik der Klientenpartei an der Einbürgerungsadministration, Zurückweisung dieser Kritik und Richtigstellungen zum Problemsachverhalt durch den Berater (Z. 176-326) 176 FW: 177 HW: 178 K 179 FW: 180 HW: 181 FW: 182 SM: 183 SM: 184 SM: 185 SM: 186 SM: 187 FW: 188 K 189 SM: 190 K 191 HW: 192 SM: 193 K 194 FW: 195 SM: 196 K (hm) probieren SEUFZT aber ich #>wie sie sagen das<# * #VORSICHTIG ZUSTIMMEND# denk so | dass w/ w/ wei/ | was ist geschrieben |(will wissen welche chancef)| in deutschland * das ist verwechselt ist so schlimm <nein> also die situation ist folgende frau wagner ATMET die situation ist so * sie haben den Sprachkurs besucht * und im Sprachkurs sind sie in der gruppe wo die leute <schlecht> sprechen eingestuft worden | ver|stehen sie also und sie wissen auch wie |#ja#| ja #BEDRÄNGT# die sprachkenntnisse anfangs waren #hm # #SEHR hm das wissen sie auch und <fakten> EMPHATISCH# äh sind auch in deutschland schwer #umzuwerfen# #BETONT # <?page no="210"?> 210 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 SM: K FW: K SM: K SM: SM: K K SM: K SM: SM: FW: SM: FW: HW: SM: FW: K FW: K SM: K FW: HW: SM: K FW: FW: FW: FW: SM: K FW: K Aussiedler treffen aufEinheimische #hm# das ist die situation man kann jetzt #SEHR EMPHATISCH# #j a ja# #KLEINLAUT, WEINERLICH# plötzlich wenn #"nichts# war * kann man * sag #KLOPFT AUF TISCH# ich mal * plötzlich daraus hundert kilo machen verstehen sie #da ist# nicht #no# *1,5* »NACHDRÜCKLICH# #KLOPFT AUF TISCH# #ich# kann sagen versuchen sie *2,5* machen sie ein #FAUST AUF TISCH# Widerspruch wa * nur ich sag ich weiß auch nicht wie der gehen soll |ver |stehen sie das und sie | sagt j sie sag/ |ist das pro|blem |ich weißwir [haben nicht | verstanden I > ( ) < I frau stern äh sagt #soo * fest dass äh helft * #KLOPFT EINIGE MALE stierle helfen * uns# warum helfen "er uns nichts UNTERSTÜTZEND AUF DEN TISCH# I#wer#| #frau [stern »SCHARF# #LEICHT EMPÖRT sie |sagt | |frau |stern |ich (... |... ) | sagt dass | ich ihnen nicht |helfe#] # verstehe nicht] [ja | >ich verstehe das nicht< "ich sage frau stern muss uns helfen HOLT LUFT und sie sagt an(d)ere * >ich versteh das nicht< * und jetzt äh neun mon/ wir haben gewartet ja [also | #neini# es ging um folgendes »ENTSCHIEDEN# |#neun| monate# * »GEZOGEN, HOHE STIMMLAGE# <?page no="211"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 211 234 SM: 235 SM: 236 K 237 FW: 238 SM: 239 SM: 240 FW: 241 SM: 242 FW: 243 FW: 244 SM: 245 FW: 246 HW: 247 SM: 248 K 249 FW: 250 SM: 251 SM: 252 FW: 253 SM: 254 SM: 255 SM: 256 FW: 257 SM: 258 SM: 259 K 260 SM: 261 K 262 SM: 263 K 264 SM: 265 SM: 266 SM: 267 FW: 268 K bei ihnen auch bei ihnen war von vorneherein ein #wider|spruch#| wa nur bei "ihnen war auch die #SCHWER # |hmhm | situation * dass sie die unterlagen von köln nicht bekommen hatl klar und |die braucht sie auch) jaj, |nein ich habe soi schon gesagt mein bruder s/ sie haben in ähm äh vierundneunzig äh mit meinem bruder widerge/ gesprucht |ich weiß| schrei/ | geschrie|ben jat | und von |>(schreiben)<| nach köln |#<nein>#| die Sache ist #BESTIMMT# köln ist kein anwor/ antwort |(net) folgendei * das hat ihr bruder auch ganz genau gewusstl der andrej und zwar dem bruder hab ich zu dem > j a< Zeitpunkt gesagt ATMET ich mach einen widerspruch * nur sie haben * die möglichkeit zu kommenj, soj, und |wenn | |wenn ihr mann | der alexander |zu ein|reise | (in deutschland) | ja deutsch spricht * dann kriegt er auch paragraph vier und er soll lernen #<das wissen sie auch sehr #NACHDRÜCKLICH genau frau wagnerj, das hat der andrej ihnen auch gesagtj,># * soj, nur: * ob sie=s getan haben oder nicht # getan haben und können oder nicht das wird letztlich "hier ** >bei frau stern entschieden^ <ich schreib ihnen auch gern den widerspruch * verstehen sie nu: r das problem (LACHT LEISE? ) #hmhm#) #GEPRESST# <?page no="212"?> 212 Aussiedler treffen aufEinheimische 269 SM: 270 SM: 271 SM: 272 SM: 273 HW: 274 SM: 275 SM: 276 SM: 277 SM: 278 FW: 279 SM: 280 FW: 281 HW: 282 SM: 283 SM: 284 SM: 285 K 286 SM: 287 SM: 288 SM: 289 SM: 290 SM: 291 SM: 292 SM: 293 SM: 294 Ü 295 FW: 296 K 297 SM: 298 K 299 FW: 300 SM: 301 K 302 FW: ist ** ich weiß nicht genau wie ich den begründen solli *2* wa weil "sie sprechen fließend ** hm und ihr mann * als der zum ersten mal hier war er hat gar nicht gesproche|nj, so der andrej wußte die situation |den hab K >1 ich auch aufgeklärt und ich hab ihm auch gesagt wir schreiben * bezüglich der spräche ein Widerspruch weil im antrag * haben sie auch geschrieben dass er nicht deutsch spricht und Umgangssprache |russisch| istj, |das war | |soi| |das war a|ber das war im antrag so geschrie|ben| |>( )<| richtig das entsprach den tatsachenj, nur <sie> hatten auch das hab ich dem andrej auch gesagt * sie hatten auch * #ein halbes jahr die chance# zu lernen- #EINDRINGLICH # das hat andrej ihnen auch nach russland telefoniert! , ** ATMET verstehen sie ich weiß im moment nicht was ich da noch tun <kann! ,> ich kann den Widerspruch <schreiben> ** ATMET und ich hab den auch damals geschrieben *2* nur die situation ist sie haben=s damals vielleicht nicht geglaubt ** oder sie: konnten es nicht <tun> ** oder ich muss entsprechend eine begründung haben ** #potschemu# waT |warum] es nicht |gingl| nur ich #WARUM # |#ja# | |ja | #ZITTRIG# weiß keine! , #<verstehen sie |ich| bin auch hilflos #AUFGEBRACHT |ja | wenn sie |hilflos] sind! ,># ich kann was tun wenn bei # I ja ja | <?page no="213"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 213 303 SM: ihnen entsprechend die situation danach ist ** so ist 304 SM: esj, *2,5* 305 FW: jfrauj wagner I ich I lundl so ist der ich ich habe äh I äh 306 SM: verlauf so wie ich=s geschildert habi #und so hab 307 K #DEUTLICH, 308 FW: hmhm 309 SM: ich das dem andrej auch erzählti# ** 310 K ETWAS ABGEHACKT # 311 HW: 312 K #hmt# #ABSCHLIESSEND# #>(... #SEHR 313 SM: |so und der andrej| hoffe ich <der> 314 FW: |ich ich (hab) | 315 HW: )<# 316 K LEISE # 317 SM: hat das auch entsprechend so ihnen gesagtj, * am telephonj, 318 SM: ** >sat< genau soj, ** weil de: m hab ich zweimal gefragt ob 319 SM: er=s verstanden hatj, ATMET ob sie das verstanden haben das 320 SM: kann ich nicht <sagen> #weil ich sie in russland nie 321 K #LEICHT SCHERZHAFTER TON 322 SM: angerufen hab verstehen 323 K 324 FW: 325 HW: | sie#| # | j aj, | SEUFZT ich habe ( ) 326 SM: | soj, | 327 FW: |(mir? nur)| * äh vergessen äh * eine zeitung mit/ mitge/ Bevor ich zur strukturellen Beschreibung dieses relativ langen Gesprächsausschnittes komme, sei noch einmal kurz das Vorgeschehen rekapituliert. Durch das vorausgegangene Aufeinanderprallen unterschiedlicher Erfolgsprognosen (vgl. Z. 154-168) ist strittiges Themenpotenzial etabliert. Mit Zubilligung prinzipieller Erfolgschancen durch den Berater und durch Einräumung eigener Fehlbarkeit (Z. 172-174) erscheint seine Chancenbeurteilung weniger dezidiert und unumstößlich als bei der ersten Erfolgsprognose. Auf diese Aussage reagiert nun die Klientenpartei. Strukturelle Beschreibung Z. 176-326: Frau Wagner fokussiert im Gestus einer Unmutsäußerung das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren ihres <?page no="214"?> 214 Aussiedler treffen aufEinheimische Mannes als einen fehlerbehafteten Vorgang. Das Turn übernehmende und den Berater zitierende (hm) probieren (Z. 176) ist mit Frageintonation gesprochen, es folgt ein Seufzen. Hier drückt sich eine Haltung der Skepsis und des Zweifels aus. Es folgt eine Äußerung, die Unmut über die Abwicklung des anerkennungsrechtlichen Verfahrens ausdrückt. Die Sprecherin führt Klage darüber, dass in deutschiand (womit hier die deutsche Einbürgerungsadministration gemeint ist) etwas nicht richtig gemacht worden ist. Frau Wagner spricht davon, dass etwas verwechselt worden sei. Um eine Verwechslung im engeren Sinne dürfte es dabei aber nicht gehen. Zwar beherrscht Frau Wagner die deutsche Sprache besser als ihr Mann, aber nicht auf einem Niveau, auf dem es ihr möglich wäre, treffend zu benennen, was ihrer Auffassung nach im Anerkennungsverfahren schief gelaufen ist. Wie der weitere Gesprächsverlauf zeigt, kann eine bloße Verwechslung, etwa von Personaldaten, auch nicht gemeint sein. In nachfolgenden Ausführungen des Beraters wird deutlich, dass die Wagners einer Beurteilung ihrer Deutschkenntnisse ausgesetzt waren, die auch für die statusrechtlich ungünstige Behandlung von Herrn Wagner relevant war. Diese Sprachstandsbeurteilung hat zu einem Ergebnis geführt, das ihrem Verständnis nach nicht in Ordnung ist. Die Wagners fühlen sich nicht korrekt behandelt, wobei sie aber nicht exakt angeben können, was nicht stimmig ist bzw. wo etwas nicht richtig gemacht wurde. Dass es dazu gekommen ist, kann sich Frau Wagner nicht anders erklären, als dass es zu einer Verwechslung, einem Übergehen oder einer nicht richtigen Beachtung evidenter Volkszugehörigkeitsmerkmale gekommen ist. Der Eindruck, dass Frau Wagners Anschuldigungen verdachtsgeleitet sind bzw. dass sie nicht wirklich und bis ins Detail durchschaut hat, was in der anerkennungsrechtlichen Behandlung ihres Mannes nicht in Ordnung ist, wird dadurch gestützt, dass Frau Wagner wenig später explizit markiert, die Abwicklungsmodalitäten des Anerkennungsverfahrens nicht richtig zu verstehen. Bemerkenswert an diesem Äußerungsverhalten der Klientin [aber ich denke so ... was ist geschrieben in deutschiand * das ist verwechselt ist so schlimm; Z. 176-181] ist, dass sie unbeeindruckt von der institutionellen Rolle des Herrn Stierle Kritik an der Einbürgerungsadministration übt und dazu übergeht, ihre subjektive Problemsicht einzubringen und so eine problemerweitemde Thematisierungsintiative vollzieht, obwohl der Berater gerade prinzipielle Erfolgschancen eines Widerspruchs einge- <?page no="215"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 215 räumt hat. Fragt man danach, wodurch dieses Äußerungsverhalten motiviert sein könnte, kommen folgende Erklärungsmöglichkeiten in Betracht: - Frau Wagner ist mit den handlungsschematischen Abwicklungsprinzipien professioneller Beratung wenig vertraut und kann ihr Beteiligungsverhalten nicht stringent am Aufgabenkatalog solcher Dienst- und Hilfeleistungssituationen orientieren; die Klientin versucht auszutesten, ob der Berater die kritische Sicht auf die behördliche Bearbeitung des Anerkennungsverfahren ihres Mannes teilt; - Frau Wagner spürt, dass der Berater von den Erfolgsaussichten eines Widerspruchs nicht wirklich überzeugt ist; sie wird darüber ungehalten und versucht, mit dem gravierenden Vorwurf eines Verfahrensfehlers in der Einbürgerungsadministration auf diese Haltung einzuwirken. In der Gesamtschau auf den Gesprächskontext, in dem Frau Wagner die Verwechselungsbehauptung aufstellt (Z. 172-181) also unter Beachtung der vorausgegangenen Aktivitäten des Beraters lässt sich eine Sequenzierungsunordnung diagnostizieren. Darin manifestieren sich Störungen der Interaktionsreziprozität. Die Unordnung im sequenziellen Geschehen ist von der Klientin bewusst herbeigeführt. Frau Wagner unterläuft die Abschlussankündiger des Beraters; sie reagiert auf die unkooperativen Gesprächsstrategien des Beraters mit einem Gesprächsverhalten, das ebenfalls wenig kooperativ ist und gegen sequenzielle Ordnungsprinzipien verstößt. In Bezug auf die Komponentenstruktur des Handlungsschemas „beraten“ geschieht Folgendes: die Klientenpartei weitet die Problemdefmition aus (um den Aspekt „Verwechselung“ bzw. „Fehler“ bei der administrativen Fallbearbeitung); gravierende Divergenzen hinsichtlich des Problems der statusrechtlichen Anerkennung treten zu Tage, das Entwickeln einer gemeinsamen Problemsicht wird so zur vordringlichen interaktiven Aufgabe. Wie diese Aufgabe von Herrn Stierle bearbeitet wird, sei im Folgenden erläutert: Der Berater versteht Frau Wagners Äußerungen als Kritik an der Einbürgerungsadministration, denn im weiteren Verlauf setzt er sich nachhaltig mit der Klientensicht auf die Durchführung des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens von Herrn Wagner auseinander. Herr Stierle sieht Frau Wagners Behauptung, dass in Deutschland etwas verwechselt worden sei (Z. 176-181), in Verstehensschwierigkeiten und im Vorliegen von Wissensdefiziten be- <?page no="216"?> 216 Aussiedler treffen aufEinheimische gründet. Er vollzieht fallrekonstruktive und problemdefinierende Aktivitäten; sie sind im Stile einer elementaren Belehrung über eine schwierige Rechtsmaterie bzw. über die Genese einer Fallproblematik gehalten [<nein> also die situation ist folgende frau wagner; Z. 182]. Die Gesprächsaktivitäten des Beraters enthalten auch Bezüge auf Bestände gemeinsamen Wissens. FÜnzu kommt, dass seine Verarbeitung der Verwechslungsbehauptung sowohl korrektive als auch belehrende, ja vorwurfsvolle Züge annimmt. Es geht hier um die Festlegung eines Problemsachverhalts, wobei die Problemdefinition maßgeblich dafür ist, ob weitergehende professionelle Dienste des Beraters zu erbringen sind. Im Folgenden sei näher auf die interaktiven Verfahren 182 eingegangen, die der Berater einsetzt, um seine professionelle Problemsicht gegenüber der Problemsicht der Klientenpartei abzusichem und durchzusetzen (vgl. Z. 182-212). 1) Fokussierung verfahrensmäßig ermittelter Sachverhalte als konstitutiv für das Klientenproblem Insgesamt ist die Verarbeitungsaktivität des Beraters so aufgebaut, dass er zunächst eine Korrektur an der Verwechslungsbehauptung vomimmt und die Klientenpartei darüber belehrt, wie es in deutschen Behörden zugeht. Er versucht nicht näher zu klären, was es mit dieser Behauptung auf sich hat, stattdessen bezieht er sich auf Kenntnisse, die er über die Einbürgerungsangelegenheiten der Wagners hat. Frau Wagners Behauptung, dass in Deutschland etwas verwechselt worden sei, bestreitet er mit einem energischen <nein> und setzt ihr eine Problemdefinition entgegen, die er im Gestus des maßgeblichen und beurteilungskompetenten Situationsbeteiligten ankündigt [also die situation ist folgende frau wagner AT- MET die Situation ist so; Z. 182 u. 183], Der Sachverhalt, um den es dem Berater hier geht, betrifft die Sprachkursteilnahme der Wagners, wie aus der dann folgenden Situationsbeschreibung hervorgeht [sie haben den Sprachkurs besucht * und im Sprachkurs sind sie in der gruppe wo die leute <schlecht> sprechen eingestuft worden; Z. 183-185], Herr und Frau Wagner sind sicherlich nach einem Test 182 Genauer gesagt gelten die hierzu angestellten Beobachtungen dem gesprächsrhetorischen Funktionieren der Widerlegungs- und Verarbeitungsschritte des Beraters, die der Klientenbehauptung, dass in Deutschland etwas verwechselt wurde, folgen. Zum gesprächsrhetorischen Untersuchungsansatz siehe auch den von Kallmeyer (1996) herausgegebenen Sammelband. <?page no="217"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 217 ihrer Deutschkenntnisse einem Sprachkurs zugewiesen worden, der für Aussiedler mit schlechteren Vorkenntnissen abgehalten wurde. Die Entscheidung bzw. Sprachstandsbeurteilung, die für beide Wagners gegolten hat, wird mit dieser Äußerung vergegenwärtigt. Dem Verwechslungstatbestand, den Frau Wagner pauschal in den Raum gestellt hat, begegnet der Berater also, indem er auf die Einstufung ihres Sprachstandes Bezug nimmt, die im Zuge der Aufnahme in Deutschland vorgenommen wurde. Sprachkursteilnahme und Zuordnung zur Gruppe der schlecht Sprechenden sind nicht näher kenntlich gemacht; die bloße Erwähnung der Sprachkursteilnahme und der Einstufung in die Gruppe derer, die <schiecht> sprechen, rekurriert auf die Rolle der Sprachkenntnisse im Feststellungsverfahren der deutschen Volkszugehörigkeit. Herr Stierle zieht hier Fallkenntnisse über die Klientenpartei heran und bearbeitet das außer Acht lassen bzw. die nicht adäquate Berücksichtigung dieser Falldaten seitens der Klienten. Die durch das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren gesetzten Anforderungen werden dabei als Relevanzrahmen enaktiert, an dem auch der aktuelle Verständigungsprozess orientiert ist. Die Logik des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens wird vom Professionellen als gut bekannt und auch anerkannt unterstellt. Die argumentative Funktion des Hinweises auf die Sprachkenntnisse bei der Einreise in Deutschland besteht darin, eine zentrale Prämisse der statusrechtlichen Anerkennung klar zu machen und die Legitimitätsgeltung dieser Prämisse auch für das aktuelle Aushandlungsgeschehen abzusichern. Indem er den Sprachstand der Klientenpartei als ausschlaggebendes Kriterium einführt (realisiert durch Bezug auf gemeinsames Wissen um die Deutschkenntnisse), wird auch die administrative Behandlung des Anerkennungsantrags der Wagners als korrekter und unangreifbarer Vorgang ausgewiesen. Und indem er anschließend daran erinnert, wie die sprachkenntnisse anfangs waren (Z. 186-189), zeigt er das Kriterium auf, das bei der statusrechtlichen Behandlung von Aussiedlem von großer Bedeutung ist. Die Eingruppierung in den Kurs für Aussiedler mit schlechten Deutschkenntnissen ist Beleg dafür so die Argumentationslogik von Herrn Stierle dass eine Einbürgerung nach § 4 problematisch ist. <?page no="218"?> 218 Aussiedler treffen aufEinheimische 2) Appellhafte Verstehensanweisungen Das Argumentationsverhalten des Beraters weist Verfahren zur Absicherung von Verstehensleistungen 183 der Adressaten aus. Frau Wagners Behauptung, dass in Deutschland etwas verwechselt worden sei, offenbart das Fehlen einer gemeinsamen Wissensbasis hinsichtlich der Durchfiihrungsbedingungen des einbürgerungsrechtlichen Anerkennungsverfahrens. Herr Stierle sieht sich daher vor die Aufgabe gestellt, sowohl die administrativ ‘richtige’ und ‘maßgebliche’ Situationsdefinition zum Einbürgerungsablauf zu entwickeln als auch diesen Sachverhalt als gemeinsame Wissensbasis zu festigen. Die situationsdefinierenden Aktivitäten des Beraters enthalten Ausdrucksmittel, die konventionellerweise für die Signalisierung von Zuhörbereitschaft und den Vollzug von Verstehensleistungen verwendet werden, ln solchen Verwendungszusammenhängen haben Äußerungsformen wie hm meist die Funktion, die Intaktheit der Kooperationsgrundlagen sowie Empathie usw. zu bekunden. Herr Stierle setzt dieses sprachliche Mittel hier in anderer Funktion ein. Bei dem hm in Z. 189 [und sie wissen auch wie die sprachkenntnisse anfangs waren hm] und auch bei dem in Z. 197 [<fakten> sind auch in deutschland schwer umzuwerfen hm] handelt CS sich um ratifizierungsheischende und zu Verstehensleistungen auffordemde Interjektionen. Diese Interjektionen sind mit starker Emphase gesprochen und fordern dazu auf, das gerade vom Sprecher Gesagte als bereits Gewusstes bzw. als Einsichtiges und Nachvollziehbares zu bestätigen. Mit gleicher Emphase ist auch das no in Z. 204 gesprochen. Der Berater bezieht sich auf die Klientenpartei als Interaktionsgegenüber, das über gleiche Wissensbestände verfügt. Zum einen macht der Bezug auf gemeinsames Wissen Aktivitäten des Belegens eigener Behauptungen entbehrlich, zumindest wird der Belegaufwand verringert. Zum anderen wird in den Personenbezügen 184 und sie wissen auch (Z. 186) und das 183 Vgl. Wenzel (1984, S. 74ff.); dort wird auch die Unterscheidung zwischen Einverständnisabsicherung (Auffordemng des Sprechers an den Hörer zu bestätigen, dass er das Gesagte akzeptiert), Verstehensabsicherung (Aufforderung an den Hörer zu bestätigen, dass er die Äußerungen des Sprechers verstanden hat) und Verständnisabsicherung (Aufforderung zur Bestätigung, dass Äußerungen des Gegenübers richtig verstanden wurden) entwickelt. 184 Im Prinzip handelt es sich hier um sprachlich explizitere Ausführungen der gleichen Handlungen, die der Berater mit den Interjektionen vollzieht. <?page no="219"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 219 wissen sie auch (Z. 192) die Klientenpartei gar als Interaktionsgegenüber adressiert, das wider besseren Wissens handelt. Redezüge, in denen von der anderen Interaktionspartei behauptet wird, relevantes Wissen zu unterschlagen, qualifizieren dieses Gegenüber als unseriös, unmoralisch, als irrational oder auch als taktierend. Insofern erschweren diese Personenbezüge die Widerspruchsmöglichkeiten der Klientenpartei und beschneiden ihre Chancen auf Entfaltung der Betroffenenperspektive. 3) Erschwerung des Aushandlungsprozesses durch Bearbeitungszusage in ambivalenter Modalität Nach der richtig stellenden und belehrenden Definition des Problemsachverhalts (Z. 182-204) fokussiert der Berater wieder die Absicht der Klienten, Widerspruch gegen § 7, 2 einlegen zu wollen [ich kann sagen versuchen sie *2,5* machen sie ein Widerspruch wa * nur ich weiß auch nicht wie der gehen soll verstehen sie das ist das problem; Z. 207-212], Zwar hatte er in einem ersten Verarbeitungsschritt (Z. 154 u. 156) dieses Vorhaben als aussichtslos eingestuft und nach dem Aufweis einer optimistischen Beurteilung durch eine andere Instanz eingeräumt, dass er mit seiner Beurteilung auch falsch liegen könnte; eine vollständige Klärung seiner professionellen Mitwirkung an diesem Widerspruch hat aber noch nicht stattgefunden. Die Klage der Frau Wagner über die vermeintliche Verwechslung in der Einbürgerungsadministration hatte Bearbeitungsvorrang. Auf dieses Klärungserfordemis kommt der Berater in Z. 207-212 zurück. Die Refokussierung des Klientenanliegens ist so gestaltet, dass weder der Klärungsvorgang noch die Kooperation mit den Wagners erleichtert wird. Das liegt daran, dass Herr Stierle nur halbherzig eine Befürwortung des Widerspruchs vomimmt [ich kann sagen versuchen sie *2,5* machen sie ein widerspruch wa; Z. 207-209] und dann eine Äußerung folgen lässt, die die Undurchführbarkeit dieses Vorhabens konstatiert [nur ich sag ich weiß auch nicht wie der gehen soll verstehen sie das ist das problem; Z. 209-212], Herr Stierle stimmt dem Vorhaben der Wagners zu, aber in einer Modalität, die die eigenen Zweifel am Gelingen dessen, was er befürwortet, ausdrücken. In dieser Äußerungsabfolge von Befürwortung und Aufweis von Durchführungsschwierigkeiten ist ein ambivalenter Mitteilungsgehalt enthalten, der sich folgendermaßen paraphrasieren lässt: ‘Ich kann nicht dagegen sein, dass Sie versuchen, Widerspruch ge- <?page no="220"?> 220 Aussiedler treffen aufEinheimische gen § 7, 2 einzulegen. Dies ist nun mal der einzige Weg, der ihnen offen steht, um den Spätaussiedlerstatus nach § 4 zu erlangen. So weit wie ich Ihren Fall kenne, glaube ich aber nicht an einen Erfolg.’ Es ist nicht allein die Markierung einer ambivalenten Haltung als professioneller Helfer, die den Berater hier unkooperativ erscheinen lässt. In seiner Verarbeitungsaktivität kommt auch ein Sequenzierungsmechanismus zum Tragen, durch den eine zügige Klärung der Mitwirkung des Beraters an der Lösung des statusrechtlichen Problems der Wagners erschwert wird. Die Befürwortung ich kann sagen versuchen sie *2,5* machen sie ein Widerspruch (Z. 207 u. 209) ist erster Bestandteil einer Äußerung im ,ja-aber“-Format. 185 Im zweiten Teil dieser Äußerung zeigt der Berater dann Argumentationspotenzial gegen das befürwortete Vorgehen auf, ohne allerdings ins Detail zu gehen. Das Argumentationspotenzial, das gegen die Durchführung eines Widerspruchs gerichtet ist, wird in seiner Relevanz für die Bearbeitung des Klienten-Anliegens hochgestuft und macht Reaktionen auf die behauptete Zwecklosigkeit des Widerspruchs zu konditionell relevanten Reaktionen. 4) Vergegenwärtigung des Geltungsanspruchs anerkennungsrechtlicher Sachverhaltskonstruktionen und Markierung von Rationalitäts-Defiziten Die Entwicklung der beraterischen Problemdefinition ist in einem Belehrungsgestus gehalten, der dort noch strengere Züge annimmt, wo Herr Stierle den Wagners verdeutlicht, dass Fakten auch in deutschland schwer umzuwerfen sind (Z. 192ff). Dieser Äußerungsteil hat zurechtweisendes und die Klientenpartei warnendes Symbolisierungspotenzial, wie auch an der lauter und energischer werdenden Sprechweise des Beraters erkennbar ist. Bildlich gesprochen kämpft Herr Stierle jetzt mit härteren Bandagen, nachdem die Klientenpartei Kritik an der Einbürgerungsadministration geübt hat. Auch reagiert er hier so, als würde die Klientenpartei Handlungsorientierungen verfolgen, die darauf zielen, gegen Sachverhaltsermittlungen und Entscheidungshandeln der Einbürgerungsadministration Vorgehen zu wollen. Die Wagners haben ein solches Ansinnen aber bisher nicht formuliert. Herr Stierle reagiert verdachtsgeleitet, nämlich so, als ob die Wagners mani- 185 In „ja-aber“-Formaten werden gegensätzliche thematische Foki etabliert (Fokusopposition), wobei der nachgeordnete „aber“-Teil die Aussagen höherstufiger Relevanz enthält; vgl. Kallmeyer/ Schmitt (1991). <?page no="221"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 221 pulative Absichten gegenüber der Einbürgerungsadministration verfolgen würden. Hält man sich an den Wortlaut dieser Belehrung, ist festzuhalten, dass Deutschland darin als relevanter Kontext markiert ist, und zwar unter Voranstellung des Partikels auch. Dem Wortlaut nach macht der Berater hier deutlich, dass in diesem Land <fakten> etwas Unumstößliches sind. Insofern als mit deutschiand hier auch deutsche Einbürgerungsbehörden gemeint sind, reagiert dieser Äußerungsteil auf die Klientenbehauptung, dass im Anerkennungsverfahren von Herrn Wagner etwas verwechselt worden sei. Mit seiner Belehrungsaktivität reagiert der Berater aber nicht bloß darauf, dass die Klientenpartei nicht richtig zu verstehen scheint, wie das Anerkennungsverfahren abläuft und worauf es darin ankommt. Seine Belehrungsaktivität hat auch Zurechtweisungscharakter, der sich in spezifischen semantischen Implikationen seiner Äußerungen realisiert. Es handelt sich um semantische Implikationen, die die Wagners davor warnen, eine anvisierte Problemlösungsstrategie weiter zu verfolgen. Nachstehend seien diese Implikationen herausgearbeitet, indem Lesarten dessen, was der Berater der Klientenpartei zu verstehen gibt, entwickelt und sie in ihrer Funktion für den ablaufenden Verständigungsprozess charakterisiert werden: - Zurückweisung der Kritik an der anerkennungsrechtlichen Behandlung: Der Sprachstand der Wagners wird (a) als Sachverhalt ausgewiesen, der unumstößliche Realitätsgeltung besitzt, und (b) als Resultat eines Verfahrens, das sich jeglicher Manipulierbarkeit entzieht. Diese Argumentation wird durch Verwendung hyperbolischer Verdeutlichungsmittel in Z. 197-203 untermauert [man kann jetzt plötzlich wenn "nichts war * kann man * sag ich mal * plötzlich daraus hundert kilo machen]. Verdeutlicht wird so, dass die Arbeitsweise deutscher Behörden an Prinzipien orientiert ist, die verhindern, dass es zu Verwechslungspannen oder anderen Unkorrektheiten kommen kann. Dieser Mitteilungsgehalt lässt sich so umschreiben: ‘In Deutschland werden Fakten als Fakten behandelt und deutsche Behörden arbeiten nach universell geltenden Legalitätsprinzipien’. - Markierung eines Rationalitätsdefizits: Die Formulierung <fakten> sind auch in deutschiand schwer umzuwerfen besagt, dass im Aufnahmeland die gleichen Prinzipien und Verhältnisse herrschen, wie im Herkunftsland der Wagners. Mit Rekurs auf diese Gemeinsamkeit gibt Herr Stierle der Klientenpartei zu verstehen, dass sie auf- <?page no="222"?> 222 Aussiedler treffen aufEinheimische grund ihrer Vorerfahrungen im Herkunftsland hätte wissen müssen, was sie in Deutschland und im Kontakt mit hiesigen Behörden erwartet. Den Wagners wird vor Augen geführt, dass ihr Verhalten nicht im Einklang ist mit allgemein gültigen Prinzipien des Umgehens mit evidenten Tatsachen. Die Art und Weise, wie hier mangelnde Rationalität markiert wird, entspricht einer Formulierung wie der folgenden: ‘Wenn Sie, Herr und Frau Wagner, Ihre Erfahrungen, die Sie aus Russland mitbringen, einfach nur übertragen hätten auf die Verhältnisse in Deutschland, hätte ihnen klar sein müssen, dass man Tatsachen nicht verdrehen kann.’ - Zurechtweisung für deplatziertes kulturelles Orientierungsverhalten: Die Bemerkung und <fakten> sind auch in deutschland schwer umzuwerfen (Z. 192 u. 195) bezieht sich auf die Sprachkompetenzeinstufung von Herrn Wagner. Dass Herr Stierle hier über die Nichthintergehbarkeit des Faktums schlechte Deutschkenntnisse belehrt, zeugt davon, dass er der Klientenpartei Absichten unterstellt, gegen die vorgenommene Sprachstandsbewertung bzw. gegen den auf dieser Grundlage ergangenen Anerkennungsbescheid manipulativ Vorgehen zu wollen. Das Anliegen der Wagners, mit seiner Hilfe Widerspruch gegen den ungünstigen Einbürgerungsbescheid einlegen zu wollen, wird von Herrn Stierle nicht bloß als Versuch, Rechtsmittel auszuschöpfen, behandelt, sondern auch als symptomatisch für Handlungsorientierungen, die rechtsstaatliche Fegalitätsprinzipien zu umgehen oder auszuhöhlen versuchen. Was der Berater den Wagners hier zu verstehen gibt, könnte auch so formuliert werden: ‘Sie verfolgen Absichten, die sich nicht auf korrekte Weise realisieren lassen. Vielleicht war so etwas dort, wo sie herkommen, möglich, aber hier in Deutschland funktioniert so etwas nicht.’ - Korrektur am Deutschlandbild der Klientenpartei und Definition von Problemverantwortlichkeit: Die Äußerung und und <fakten> sind auch in deutschland schwer umzuwerfen behandelt das Bestreben der Klientenpartei als von Manipulationsabsichten geleitet. Der Berater reagiert damit auch auf ein idealisiertes Bild von Deutschland, das er bei den Wagners vermutet. Er gibt ihnen zu verstehen, dass ihre anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten etwas mit ihren Vorstellungen zu tun haben, die sie von den Verhältnissen in Deutschland hatten und <?page no="223"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 223 vielleicht noch haben. Was Herr Stierle seinen Klienten hier verdeutlicht, lässt sich auch so wiedergeben: ‘Bevor Sie hierher gekommen sind, hatten sie ein idealisiertes Bild von Deutschland. Nun haben Sie im Zuge des Anerkennungsverfahrens ein Stück Realität der Bundesrepublik kennen gelernt und mit dieser Realität sind sie nicht einverstanden, sondern beschweren sich darüber. Wenn es aber etwas zu beanstanden gibt, dann ist das nicht die administrative Durchführung des Anerkennungsverfahrens, denn deutsche Behörden arbeiten korrekt. Wenn etwas im Argen liegt, dann sind es die Vorstellungen, die Sie, Herr und Frau Wagner, sich von Deutschland gemacht haben, und auch die Art und Weise, wie Sie sich auf Deutschland vorbereitet haben.’ Indem Herr Stierle den Wagners deutlich macht, dass sie sich nicht adäquat auf die Anforderungen, die mit der anerkennungsrechtlichen Behandlung in Deutschland verbunden sind, eingestellt haben, schreibt er ihnen auch Verantwortlichkeit für die Probleme, die sie mit der Anerkennung als Spätaussiedler haben, zu (ich komme auf diesen Aspekt noch ausführlicher zu sprechen). Zum weiteren Verlauf des Beratungsgespräches: Nach der hyperbolischen Verdeutlichungsaktivität, wonach es sich verbietet, dann wenn nichts war daraus plötzlich hundert kilo zu machen (vgl. Z. 197-206), folgt eine Äußerung, mit der Herr Stierle das Widerspruchsvorhaben zwar unterstützt, aber zugleich darauf beharrt, dass es sich um ein aussichtsloses Unterfangen handelt (Z. 207-212). Wie oben bereits gezeigt, erschwert die ambivalente Modalität, in der hier die Bearbeitungszusage erfolgt, die Entfaltungsmöglichkeiten der Klientenperspektive. In der Gesprächspassage Z. 213-229 nimmt Frau Wagner eine Rechtfertigung ihrer Position vor; sie gibt dazu Äußerungen von Frau Stern wieder, in denen auf Herrn Stierle als zuständige Hilfeinstanz verwiesen wurde. Diese Äußerungswiedergabe ruft einen Klärungsversuch des Beraters zur Urheberschaft und zum genauen Aussagegehalt hervor (Z. 230-241). Hier geraten dann die Aktivitätsorientierungen der Situationsbeteiligten etwas durcheinander. Zur Klärung dieser Frage trägt die Klientin nur mit einem minimalen Antwortformat bei; sie ist bereits zu Aktivitäten übergegangen, mit denen Unmut über Zuständigkeitswirrwarr und über die Länge des Anerkennungsverfahrens bekundet wird. Zu dieser Aktivitätsfolge im Einzelnen: <?page no="224"?> 224 Aussiedler treffen aufEinheimische Z. 213-233: Frau Wagners Reaktion auf die ambivalente Befürwortung des Widerspruchs wird damit eingeleitet, dass sie ein Verstehensproblem aufdeckt [wir haben nicht verstanden frau stern äh sagt soo * fest dass äh helft * stierle helfen * uns; Z. 213-219]. Sie spricht in der Wir-Form und agiert als Sprecherin in familiären Einbürgerungsangelegenheiten, aber auch Flerr Wagner versucht hier zu Wort zu kommen (vgl. Z. 214). Was der Klientenpartei Verstehens- und Akzeptanzprobleme bereitet, ist Folgendes: Frau Stern, die Mitarbeiterin der örtlichen Eingliederungsbehörde, hatte Herrn Stierle als den zuständigen Aussiedlerbetreuer benannt, der beim Abfassen eines Widerspruchs behilflich sein könnte oder müsste. Jetzt erleben die Wagners bei diesem aber Hilfeverweigerung, zunächst in Form einer Zurückweisung ihres Anliegens, dann auch in Form einer ambivalenten Bearbeitungszusage. Darauf reagiert Frau Wagner in dem Äußerungsteil warum helfen "er uns nichts sie sagt (Z. 218u. 222); sie gibt darin fremde Rede wieder, nämlich Äußerungen von Frau Stern. Der Duktus, in dem diese Redewiedergabe vorgenommen wird (Ansatz zur imitierenden Sprechweise; auf den Tisch klopfen) deutet daraufhin, dass sich Frau Stern mit Bezug auf seine Zuständigkeit als professioneller Berater sehr verwundert über Herrn Stierle geäußert hat. Der Vorwurf, dass er seinen Aufgaben als professioneller Helfer nicht nachkommt, steht im Raum, auch wenn er hier nicht explizit geäußert wird. In diesem Sinne versteht jedenfalls Herr Stierle Frau Wagners Wiedergabe dessen, was Frau Stern ihr gesagt hat. Er reagiert mit einer Äußerung, in der nicht allein die Autorenschaft dieses Vorwurfes als klärungsbedürftig markiert ist, es kündigt sich darin auch Empörung und Widerspruchsbereitschaft an. Seine Vergewisserungsfrage wer frau stern sagt dass ich ihnen nicht helfe (Z. 220-224) ist in scharfem Tonfall gesprochen. Zur Klärung dieser Frage trägt die Klientin nur mit einem minimalen Antwortformat bei [ja; Z. 226], ihre primäre Aktivitätsorientierung ist darauf gerichtet, Unmut über den Zuständigkeitswirrwarr und über die Länge des Anerkennungsverfahrens zu bekunden. Äußerungsfortführend spricht Frau Wagner Verstehensprobleme, die sie hat, an. Der im Raume stehende Vorwurf der Arbeits- und Hilfeverweigerung gerät so in den Hintergrund. Frau Wagner macht jetzt deutlich, dass sie selbst Frau Stern als die richtige Adresse für das Widerspruchsvorhaben angesehen hat [>ich verstehe das nicht< "ich sage frau stern muss uns helfen HOLT LUFT und sie sagt an(d)ere >ich versteh das nicht<; Z. 226-228]. Eine Klärung <?page no="225"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 225 dessen, was die Behördenmitarbeiterin über Herrn Stierle gesagt hat, bleibt aus; stattdessen konfrontiert die Klientin Herrn Stierle mit einer Unmutshaltung, die auf Auskünfte von Frau Stern zurückgeht. Die Klientin benennt nicht einfach nur Verstehensprobleme, sie äußert Verärgerung über Erwartungsenttäuschungen. Der Erlebniszusammenhang, der hier entfaltet wird, ist folgender: Von Frau Stern wurden die Wagners an den Berater verwiesen. Herr Stierle wiederum so die Situationseinschätzung der Klientin erweist sich ebenfalls nicht als der richtige Ansprechpartner. Die Wagners können nicht verstehen und auch nicht akzeptieren, dass sie von Institution zu Institution geschickt werden, ohne dass ihnen wirklich jemand hilft. Frau Wagner weiß sich jetzt offenbar nicht mehr anders zu helfen, als ihre Irritation und Verärgerung vorzubringen, die das Einbürgerungsprocedere bei ihr und ihrem Mann ausgelöst hat. Sie äußert Unverständnis und Kritik gegenüber der langen Wartezeit, der sie und ihr Mann sich hilflos ausgesetzt sehen [und jetzt äh neun mon/ wir haben gewartet ja neun monate; Z. 229 U. 232], Nicht näher bezeichnet ist, worauf die Wagners so lange warten mussten; vermutlich ist die Gesamtdauer des Anerkennungsverfahrens gemeint. Durch die Unmutsbekundungen der Klientenpartei über die schleppende Arbeitsweise der Einbürgerungsadministration und durch das Aufdecken ihrer Verstehensschwierigkeiten und Orientierungsunsicherheiten werden für den Berater interaktive wie auch kognitive Ordnungsaufgaben akut. Er sieht sich erneut zu richtig stellenden bzw. problemdefinierenden Aktivitäten veranlasst (Z. 230-265), denen sich dann auch wieder eine Refokussierung des noch strittigen Klientenanliegens anschließt (vgl. Z. 265-326). Zu Z. 230-326: In dem richtig stellenden und situationsdefmierenden Gesprächsabschnitt werden konkrete Durchführungsbedingungen des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens der Wagners rekapituliert [neini es ging um folgendes bei ihnen auch bei ihnen war von vorneherein ein Widerspruch wa nur bei "ihnen war auch die situation dass sie die unterlagen von köln nicht bekommen hatf klar und die braucht sie auch], Herr Stierle stellt hier klar, wie es bei Frau Stern zu Verzögerungen in der Bearbeitung des Anerkennungsverfahrens (gemeint ist hier vermutlich das Verfahren von Frau Wagner) gekommen ist: eine übergeordnete Behörde, das Bundesverwaltungsamt in Köln, hat Unterlagen zurückgehalten. In diesem Zusammenhang kommt dann der Bruder der Klientin zur Sprache. Frau Wagner erwähnt ihn in einem Äußerungsformat, das als Widerspruch oder Korrektur zur Darstellung des Beraters markiert ist <?page no="226"?> 226 Aussiedler treffen aufEinheimische (Z. 240-249). Eine Kooperation zwischen dem Berater und dem Bruder beim Schreiben eines Widerspruchs wird darin als Ereignis erwähnt, das dem Ausbleiben einer Antwort aus Köln vorausging [nein ich habe schon gesagt mein bruder s/ sie haben in ähm äh vierundneunzig äh mit meinem bruder widerge/ gesprucht schrei/ geschrieben jaT und von köln ist kein anwor/ antwort (net)]. Mit dem Hinweis auf Kontakte zwischen ihrem Bruder und dem Berater hält Frau Wagner den Erklärungsdruck für Herrn Stierle aufrecht. Herr Stierte ergreift daraufhin erneut Aktivitäten zur Definition des ‘richtigen’ bzw. ‘maßgeblichen’ Problemsachverhalts. Er stellt klar: die Absprachen mit dem Bruder betrafen Ausreise-Modalitäten der Wagners. In Vorgesprächen mit dem Bruder hat Herr Stierle eine Einbürgerung nach § 4 für Herrn Wagner für möglich gehalten; offenbar ging es in diesen Vorgesprächen auch darum, Herrn Wagner zu instruieren, dass er deutsch lernt, damit es mit der Anerkennung klappt. Herr Stierle gibt seine damaligen Auskünfte wieder, die die Wagners darüber orientieren sollten, wie sie sich auf das Anerkennungsverfahren vorbereiten müssen (speziell Herr Wagner), um nach § 4 anerkannt zu werden. Sein eigenes zurückliegendes Befasstsein mit dem Aufnahme- und Anerkennungsverfahren der Wagners wird so als korrekt und um die Interessen der Klientenpartei bemüht ausgewiesen. Auch diese Absprachen mit dem Bruder werden vom Berater als Bestände des mit den Klienten geteilten Wissens markiert [die Sache ist folgende! * das hat ihr bruder auch ganz genau gewusst! * der andrej und zwar dem bruder hab ich zu dem Zeitpunkt gesagt ATMET ich mach einen Widerspruch * nur sie haben * die möglichkeit zu kommen! so! und wenn ihr mann der alexander deutsch spricht * dann kriegt er auch paragraph vier und er soll lernen <das wissen sie auch sehr genau frau wagner das hat der andrej ihnen auch gesagt>; (Z. 247-262)]. Die Rückschau auf die Absprachen zu den Einreisemodalitäten schließt Herr Stierle mit einem Hinweis darauf ab, dass Frau Stern die Instanz ist, die den Sprachlemerfolg von Herrn Wagner maßgeblich zu beurteilen hat. Damit wird seine eigene Stellung im Institutionengeflecht, seine Möglichkeiten, etwas für die Wagners tun zu können, als von administrativen Abläufen abhängig ausgewiesen [ob sie=s getan haben oder nicht getan haben und können oder nicht das wird letztlich "hier** >bei frau stern entschieden! <; Z. 262-265]. <?page no="227"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 227 Zu der oben erwähnten Refokussierungskomponente und der sich daran anschließenden erneuten Stellungnahme zum Widerspruchsvorhaben der Klientenpartei (Z. 265-326): Herr Stierle wendet sich wieder dem Klientenanliegen ZU [ich schreib ihnen auch gern den Widerspruch * verstehen sie nu: r das problem ist ** ich weiß nicht genau, wie ich den begründen sollf; Z. 265-269], Erneut macht der Berater eine Bearbeitungszusage in einer Modalität, die besagt, dass der Widerspruch nicht erfolgreich durchführbar ist. Im Anschluss an diese ambivalente Bearbeitungszusage geht er jetzt näher auf die Begründungsproblematik des Widerspruchsverfahrens ein [wa weil "sie sprechend fließend ** hm und ihr mann * als der zum ersten mal hier war er hat gar nicht gesprochenf; Z. 270-272], ln diesem Zusammenhang führt er nochmals andrej, den Bruder von Frau Wagner, als jemanden an, den er über die Sachlage, das Antragsprocedere und die Widerspruchsmöglichkeiten aufgeklärt hat (Z. 272-277). Herr Stierle zeigt sich zunächst wieder kooperativ, fokussiert dann aber, wie schon zuvor, Begründungsbzw. Durchführungsprobleme des Widerspruchs; dabei kommt der gleiche Sequenzierungsmechanismus wie schon bei der ersten halbherzigen Befürwortung des Widerspruchsvorhabens zum Tragen (vgl. Z. 207-212: ich kann sagen versuchen sie *2,5*machen sie ein Widerspruch wa * nur ich sag ich weiß auch nicht wie der gehen soll verstehen sie das ist das problem). Wie gesagt, es handelt sich um eine unkooperative Form der Bearbeitungszusage, und zwar insofern, als ihre sequenzielle Positionierung klientenseitige Anschlüsse an den Äußerungsteil, der die Bearbeitungszusage enthält, erschwert. Der Aufweis von Durchführungsproblemen ist hier expandierter als in Z. 207-212. Zum einen erstreckt er sich jetzt auch auf Ereignisse, die im Vorfeld der Aussiedlung der Wagners anzusiedeln sind und in die Herr Stierle bereits involviert war [der andre) wusste die situation den hab ich auch aufgeklärt und ich hab ihm auch gesagt wir schreiben* bezüglich der spräche einen Widerspruch; Z. 272-275]. Zum anderen wird jetzt deutlicher betont, dass Herr Wagner selbst dafür verantwortlich ist, dass keine erfolgversprechende Handhabe für einen Widerspruch gegeben ist [<sie> hatten auch das hab ich dem andre) auch gesagt sie hatten auch * ein halbes jahr die chance zu lernendas hat andre) ihnen auch nach russland telefoniertf; Z. 282-287]. Anschließend lässt sich erneut beobachten, dass der Berater <?page no="228"?> 228 Aussiedler treffen aufEinheimische zwar eine Bearbeitungszusage macht, aber in einer Modalität, die anzeigt, dass er dabei nicht an einen Erfolg glaubt. Auch diese Zusage ist sequenziell so positioniert, dass der Aufweis grundlegender Durchfährungshindemisse im Fokus bleibt [verstehen sie . . . ich kann den Widerspruch <schreiben> . . . nur die situation ist . . . ich muss entsprechend eine begründung haben . . . ; Vgl. Z. 287-297], Zur Plausibilisierung der Durchführungsprobleme, die der Berater im Fall der Wagners sieht, kommt dieser auf die Aktorrolle der Klientenpartei zu sprechen. Dass Herr Wagner noch nicht gut genug Deutsch kann, um den Status nach § 4 erlangen zu können, führt Herr Stierle darauf zurück, dass seine orientierenden Absprachen nicht mit gebotenem Realitätssinn aufgenommen wurden [sie habens damals vielleicht nicht geglaubt; Z. 290 u. 291], Er stellt aber auch Umstände in Rechnung, die eine Befolgung seiner Anweisungen nicht zugelassen haben könnten [oder sie: konnten es nicht <tun>; Z. 291 u. 292]. Im Abschlussteil der Äußerungen, in denen er insistierend auf fehlende Begründungsmöglichkeiten bzw. mangelnde Erfolgschancen eines Widerspruchs hinweist, hebt der Berater hervor, dass seine Möglichkeiten, den Wagners helfen zu können, von Gegebenheiten abhängig sind, die der Verantwortlichkeit der Klientenpartei unterliegen [cverstehen sie ich bin auch hilflos wenn sie hilflos sindf >ich kann was tun wenn bei ihnen entsprechend die situation danach ist; Z. 297-303], Für Herrn Stierle scheint noch immer festzustehen, dass die Situation der Wagners nicht für eine erfolgversprechende Begründung des Widerspruchs geeignet ist. Er setzt sich hier mit spezifischen Identitätsanforderungen und mit Bewusstseinsprozessen der Klientenpartei auseinander. Herr Wagner wird als jemand fokussiert, der um den Emst der Lage um die Dringlichkeit des Deutscherwerbs wusste, sich aber wider besseren Wissens verhalten hat. Herr Stierle macht daraus keinen richtigen Vorwurf, wohl aber stellt er die Verantwortlichkeit für das Problem, mit dem Herr Wagner jetzt zu kämpfen hat, klar. Herr Stierle hat sich so das Selbstverständnis des Professionellen, das hier zum Ausdruck kommt insofern verantwortungsbewusst verhalten, als er rechtzeitig und nachdrücklich über die Anforderangen, die das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren stellt, aufgeklärt hat. Die Klarstellung der Verantwortungsfrage hat aber noch eine zweite Seite: Es wird auch deutlich gemacht, wer außer dem professionellen Helfer noch <?page no="229"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 229 Verantwortung, sozusagen die Hauptverantwortung, für die anerkennungsrechtlichen Probleme trägt. Indem der Berater daran erinnert, dass Herr Wagner ein halbes Jahr lang Zeit hatte, an der Verbesserung seiner Deutschkenntnisse zu arbeiten, konfrontiert er die Klientenpartei damit, dass es auf Herrn Wagner und auf seine Lemanstrengungen ankam, er sich aber nicht adäquat verhalten hat. Die Situationsdefmition, die in diesem Vorgang der Verantwortlichmachung gegeben wird, lässt sich so umschreiben: ‘Herr und Frau Wagner, Sie haben wider besseren Wissens gehandelt! Sie brauchen sich jetzt auch nicht zu wundem und nicht zu beschweren, dass die Dinge so ungünstig stehen.’ Vergleicht man die richtig stellenden bzw. problemdefinierenden Aktivitäten, die der Berater in Z. 230-326 vollzieht, mit jenen Richtigstellungen, die durch die Verwechslungsbehauptung der Klientin ausgelöst wurden, ist festzuhalten, dass die situationsdefmierenden Verarbeitungsaktivitäten nun expandierter ausfallen als in Z. 182-212. Allerdings tauchen keine wesentlich neuen argumentativen Ressourcen darin auf. Die Expansion geht darauf zurück, dass gründlichere fallrekonstruktive Aktivitäten vollzogen werden, die den Durchführungsmodalitäten des Anerkennungsverfahrens gelten. In problemdefmierenden Aktivitäten realisiert der Berater im Kern eine Argumentation der Klarstellung von Verantwortlichkeit für das Problem, für dessen Bewältigung die Klientenpartei Hilfe von ihm erwartet. Der Berater treibt die Bearbeitung des neuen Anliegens damit aber nicht voran. Seine Ohnmachtsbekundungen und seine Klarstellungen zur Problemverantwortlichkeit erhöhen jedoch den Druck für die Klientenpartei, weiteres Material einzubringen, mit dem sich das WiderspmchsVorhaben begründen lässt. Im weiteren Verlauf des Beratungsgespräches behauptet sich die Klientenpartei gegenüber dem wenig produktiven Bearbeitungsstil des Beraters, indem sie solche Begründungsmöglichkeiten aufzeigt. Segment (c): Einbringung von Lösungswissen durch die Klientenpartei und definitive Bearbeitungszusage durch den Berater (Z. 324-378) Die von Herrn Stierle bislang vorgenommenen Bearbeitungszusagen zeigen, dass er dem Widerspruchsvorhaben der Wagners keine großen Erfolgsaussichten einräumt. Aus seiner Fallkenntnis heraus sieht er keine Möglichkeiten für erfolgversprechende Begründungen des Widerspruchs gegen die Statuszuweisung nach § 7, 2. Gegen diese Problemsicht geht Frau Wagner <?page no="230"?> 230 Aussiedler treffen aufEinheimische nun so vor, dass sie eigenes Lösungswissen einbringt. Sie initiiert damit ein Aushandlungsgeschehen, in dessen Verlauf der Berater seine Mitwirkung beim Abfassen des Widerspruchs auf der Grundlage einer optimistischeren Fallbeurteilung zusichert. 322 SM: 323 K 324 FW: 325 HW: 326 SM: 327 FW: 328 FW: 329 SM: 330 FW: 331 FW: 332 FW: 333 FW: 334 SM: 335 FW: 336 HW: 337 SM: 338 K 339 FW: 340 HW: 341 FW: 342 FW: 343 HW 344 SM: 345 K 346 FW: 347 K 348 HW: 349 SM: 350 FW: 351 K 352 HW: angerufen hab verstehen |sie#| # |jaf |SEUFZT ich habe ( ) | soi | |(mir? nur)| * äh vergessen äh * eine zeitung mit/ mitge/ ähm mitnehmenf äh sie und das äh sie äh heißt äh deutsch deutsche umschau ja um/ ** umschau vielleicht so ja und dort gibt erklärung ** warum * viele * ist möglichkeit * viele menschen kommen in sieben paragraph^ * deutsch äh war verboten^ ** jat er wir konnten nicht in deutsche ja schule gehenf * er hat |früh| seine mutter (hat die|ses)| i#ja| und vater# #INTERESSIERT # verlo|ren| sie ist gestorbeni +vater I ja | |i/ | ich (z)=hat dreimol auf russisch ** geheiratet! | hat frau [ russisch! si waren ei/ au/ alle russ! ** l>( )<l |#gut#| |also | #AUFGEMUNTERT# |au/ | ja #und |wie ist| die möglichkeit #AUFGEBRACHT hm |wann wann die möglichkeit war für# * |ich war m: it meine # hm <?page no="231"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 231 353 SM: haben | sie den ausweis ** erhalten^ * wanni 354 FW: eltern| 355 SM: 356 K 357 FW: 358 HW: #nein# * den * «UNGEDULDIG# äh russischT >ausweis< | die | wir 359 SM: spätaus|Siedlerbescheinigung 360 FW: 361 HW: haben j |ham sie] |wir am| nein wir haben 362 FW: bekommen am f: reitag ATMET und e/ e/ heute ist äh 363 HW: freitag ja 364 FW: montag * wir haben kein zeit ich muss mein mit meine brief 365 FW: gehen und unsere * auto is kaputt wir waren schon * in 366 SM: |ja| 3 67 FW: autohausj, |mo/ | | äh | | äh | <morgen> 368 HW: |ge/ | |ges|tern gestern ah morgen 369 SM: |SO ] 370 FW: |wir wir möchten gehen au/ | |aus|weis nehmen ATMET äh 371 HW: |ah morgen ja 372 SM: folgendes frau wag|ner| so wie sie=s mir erzählen schreib 373 FW: |jai| 374 SM: ich einen Widerspruch ** weil da kann ich auch die 375 SM: begründung schreiben! , gutt und wir #lu: ren# dann und 376 Ü #WARTEN; SCHAUEN# 377 SM: schauen was daraus wird okayT so die andere 378 FW: ja ATMET gut Strukturelle Beschreibung Z. 324-378: Auf die Abwehrhaltung, die Herr Stierle mit den Verweisen auf mangelnde argumentative Abstützung des Widerspruchs einnimmt, reagiert Frau Wagner indem sie solche Begründungspotenziale aufzeigt. Das Lösungswissen, das Frau Wagner heranzieht, hat sie einer Zeitung 186 entnommen. Sie kann diese Informationsquelle zwar nicht vorlegen, da sie sie vergessen hat; deutlich wird aber, dass sie in dieser Zeitung etwas über die Problematik des § 7, 2 gelesen hat und somit Kennt- 186 Bei der Zeitschrift DEUTSCHE UMSCHAU handelt es sich um ein Publikationsorgan des Bundes der Vertriebenen. <?page no="232"?> 232 Aussiedler treffen aufEinheimische nis darüber erlangt hat, auf welche Lebensumstände sich ein Widerspruch gegen diesen Paragraphen gründen müsste. Ihre Initiative zur nachträglichen Thematisierung von Begründungsmöglichkeiten wird eingeleitet mit einem Hinweis auf die externe Wissensquelle und ihrer Relevanz für den § 7, 2 (Z. 324-330); es folgt eine Auflistung kollektivgeschichtlicher und biografischer Daten (vgl. Z. 330-354). Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Lebensumstände, die ausschlaggebend dafür waren, dass Herr Wagner die deutsche Sprache in Russland nicht lernen konnte. Die Begründungsressourcen, die die Klientenpartei nachliefert, besagen im Kern: dass die deutsche Sprache verboten war (Z. 330 u. 333), dass der Besuch einer deutschen Schule nicht möglich war (Frau Wagner macht diese Beeinträchtigung auch für sich selbst geltend, wie sich am Gebrauch der Wir-Form zeigt; Z. 333 u. 335), dass die leibliche (deutsche) Mutter ihres Mannes früh verstarb und aufgrund dreimaliger Wiederverheiratung des Vaters mit russischen Frauen schlechte Voraussetzungen gegeben waren, Deutsch als Familiensprache zu pflegen (Z. 335-343). Hauptsächlich zeigt Frau Wagner die Begründungsmöglichkeiten auf, aber auch ihr Mann äußert sich mehrmals. Sie überzeugen den Berater davon, dass für die schlechten Deutschkenntnisse des Klienten Umstände geltend gemacht werden können, die es erlauben, Herrn Wagner die deutsche Volkszugehörigkeit zuzuerkennen, obwohl er das Bestätigungsmerkmal „Beherrschung der deutschen Sprache“ nicht vorweisen kann. Frau Wagner gelingt es also, Argumentationspotenziale aufzuzeigen, die den Widerspruch als erfolgversprechend erscheinen lassen. Möglicherweise hat die Nennung einer einschlägigen Informationsquelle [deutsch um/ ** umschau] Heini Stierle Gewissheit gegeben, dass die Klientenpartei sich auf widerspruchstaugliche Argumente stützen kann. Er ratifiziert das Widerspruchsvorhaben und erklärt sich bereit, beim Abfassen des Widerspruchstextes behilflich zu sein. Sein Umschwenken in der bisher verhandelten Angelegenheit erklärt er damit, nun auch die Begründung schreiben zu können (Z. 372-375). Er zeigt jetzt eine entschiedenere Unterstützungs- und Bearbeitungsbereitschaft, allerdings nimmt Herr Stierle seine Bearbeitungszusage in einer Weise vor, bei der der Klientenpartei nicht auf Anhieb klar ist, worum es ihm geht. Zu diesem Vorgang im Einzelnen: <?page no="233"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 233 Nach Anführung der Lebensumstände, auf die sich Herr Wagner zur Begründung des Widerspruchs stützen kann, folgt ein deutliches gut des Beraters (Z. 344). So wie das gut platziert und intoniert ist, hat es nicht bloß die Funktion, eigenen Verstehens- und Lernvollzug zu signalisieren, sondern auch die der Ankündigung einer handlungsschematisch neu fokussierten Gesprächsaktivität. Es kündigt sich hier eine Umorientierung in der Problemsicht und im Bearbeitungsstil des Beraters an, wie auch das anschließende also erkennen lässt. Dass Frau Wagner diese Umorientierung aber noch nicht mitvollzieht, sondern erregt damit fortfährt, Begründungspotenzial für einen Widerspruch aufzuzeigen, ist ein Indiz dafür, dass die handlungsschematische Orientierung des Beraters hier gewissermaßen vorauseilt (so dass seine jetzt vorgenommene Bearbeitungszusage für die Klientenpartei nicht gleich erkennbar ist). Im Zuge des Vorbringens möglicher Argumente für einen Widerspruch ist Frau Wagner so stark in diesem Aktivitätsfokus verhaftet, dass sie die knappen Signale, mit denen Herr Stierle die handlungsschematische Umorientierung markiert, nicht als solche realisieren kann. Gleich darauf (Z. 346ff.) folgt ein Austausch zwischen den Beteiligten, an dem noch deutlicher ins Auge fällt, dass Herr Stierle überraschend schnell umgeschaltet hat, so schnell, dass die Klientenpartei diese Wende im Bearbeitungsgang nicht sofort mitvollziehen kann. Frau Wagner fährt damit fort, die familiären Sprachlernbedingungen ihres Mannes mit ihren eigenen zu kontrastieren [ich war m: it meine eitern; Z. 350 u. 354], Sie wird dann durch eine Frageintervention des Beraters am weiteren Ausbau dieses Vergleichs gehindert [wann wann haben sie den ausweis ** erhalten). * wannf; Z. 349 U. 353]. Herr Stierle fällt Frau Wagner ins Wort. Zunächst fragt er, ob sie den ausweis erhalten habe, dann fragt er, da Frau Wagner ihn nicht richtig versteht, nach dem Erhalt der Spätaussiedlerbescheinigung (Z. 355-359). Diese Frage hatte er auch gestellt, als Frau Wagner wissen wollte, ob mit der Lehrgangsteilnahme alles in Ordnung gehe (vgl. Kap. 5.3.3.3). Die Klientenpartei wirkt an dieser Stelle irritiert; dies lässt jedenfalls die Fragewiederholung von Herrn Wagner [>ausweis<; Z. 358] und die Vergewisserungsfrage von Frau Wagner [äh russischT; Z. 357] vermuten. Frau Wagner missversteht den Berater und bezieht die Frage nach dem Erhalt des Ausweises auf russische Identitätspapiere; Herr Stierle dagegen meint die Spätaussiedlerbescheini- <?page no="234"?> 234 Aussiedler treffen aufEinheimische gung, wie aus seiner präzisierenden Fragewiederholung hervorgeht [nein * den die spätaussiedlerbescheinigung ham sie; Z.355 U.359], Frau Wagner beantwortet die Frage nach dem Erhalt der Spätaussiedlerbescheinigung mit der Nennung des Werktages, den auch Herr Wagner bestätigt. Sie vergegenwärtigt sich dann, dass heute Montag ist, spricht von Zeitproblemen, von Problemen mit dem Auto und der Absicht, dass sie den Ausweis morgen abholen wollen (Z. 360-371). - Nachdem geklärt ist, dass die Wagners im Besitz ihrer Spätaussiedlerausweise sind, sagt Herr Stierle ihnen definitiv zu, dass er den Widerspruch schreiben wird. In seiner Erklärung für den vollzogenen „Gesinnungswandel“ klingt allerdings an, dass er von einem Erfolg des Widerspruchs noch immer nicht hundertprozentig überzeugt ist [gutT und wir lu: ren dann und schauen was daraus wird okayT,' Z. 375-377]. Auf das Widerspruchsvorhaben scheint er sich in der Haltung des Probierenwollens einzulassen. Mit der eben zitierten Äußerung verwendet er eine Ergebnissicherungsformel, die den offenen Ausgang des Widerspruchsverfahren markiert. Analytischer Kommentar Z. 324-378: Nur dadurch, dass die Wagners Aktivitäten ergreifen, die die bisher unvollständig bearbeitete handlungsschematische Komponente „Feststellung des Problemsachverhalts“ gleichsam nachholen, können sie auf die wenig kooperative Arbeitshaltung des Beraters einwirken. Bemerkenswert an diesem Aktivitätsverlauf ist also, dass die Klientenpartei initiativ werden muss, damit ein erfolgversprechendes Vorgehen beim Einlegen des Widerspruchs ins Auge gefasst werden kann. Entscheidend ist hier, dass die Klientenpartei über adäquates Lösungswissen verfugt, also selbst Argumente für die Begründung eines Widerspruchs aufzeigen kann. Die Einbringung von Begründungsmöglichkeiten für den angestrebten Widerspruch durch die Klientenpartei holt handlungsschematisch nach, was bei einer sorgfältigen Rekonstruktion des Problemsachverhalts und der Lösungsbedingungen durch den Berater schon früher und ohne Belastungen der Gesprächsatmosphäre hätte geschehen können. Zweifelsohne wird der Beratungsprozess durch diese klientenseitige Initiative produktiv. Es bedeutet aber eine Aushöhlung der Dienst- und Hilfeleistungsfunktion institutioneller Beratung, dass auf Klientenseite sowohl Wissensressourcen als auch Selbstbehauptungsvermögen mobilisiert werden müssen, damit das Beratungsgespräch nicht an den wenig kooperativen Bearbeitungsstrategien des Beraters scheitert. <?page no="235"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 235 5.3.3.6 377 SM: 378 FW: 379 SM: 380 HW: 381 SM: 382 SM: 383 FW: 3 84 K& 385 SM: 386 K 387 K& 388 SF: 389 SM: 390 K 391 K& 392 SM: 393 K 394 FW: 395 HW: 396 K& 397 SM: 398 K 399 SM: 400 K 401 FW: 402 K 403 SM: 404 K 405 FW: 406 K& 407 FW: 408 K und dann glauben sie, hier wäre Wunderrepublik! “ - Erneute Problematisierung anerkennungsrechtlicher Schwierigkeiten schauen was daraus wird okayT so die andere j a ATMET gut andere Sache *2,5* neinj, * andere andere Sachen ( ) Sache komponente^ ** <sie> *1,5* seit wann sind sie verheiratet soj. also #die die andere situation neun j ahre #ES KLOPFT AN DER TÜR, TÜR ist# ttdankej,# #dass #ZU SF # #ETWAS GEHT AUF# ich bring nur den karton sie# * nachdem neun jahre verheiratet #*3,5*# sie sind RUMPELT# #TÜR GEHT AUF UND neun jahr verheiratet dass sie hätten in der | hmhm I jajaja | FÄLLT WIEDER ZU# familie ** # (deutsch)# —> verstehen sie <— #ich weiß dat nich #STOCKEND, SEHR LEISE# #LEBHAFT wie ich=s biegen soll# dat #ja frau wagner # #AUFGEBRACHT #LACHT# wenn #AUFGEREGT# |das ist auch# # |#(...)# weißt| * zum beispiel zwei oder drei #RUMPELN# Wörter das "geht weiterj, <jetzt> ich * äh * #ähm# #BEDAUERND# <?page no="236"?> 236 409 SM: 410 K 411 FW: 412 HW: 413 SM: 414 FW: 415 SM: 416 FW: 417 SM: 418 FW: 419 FW: 420 SM: 421 K 422 FW: 423 FW: 424 SM: 425 FW: 426 SM: 427 FW: 428 SM: 429 SM: 430 FW: 431 SM: 432 FW: 433 SM: 434 FW: 435 SM: 436 K 437 SM: 438 FW: 439 SM: 440 FW: 441 FW: 442 FW: 443 HW: 444 K Aussiedler treffen aufEinheimische #|jetzt| sind sie prima# #LOBEND, EMPHATISCH # ATMET | j a | >hm bißchen sprechend ich weiß noch die erste zeit wie sie hier > (ja: ) < saßen herr wagner |waT| nervo|sität |a/ | aber ich |bei mir| bei |und | LACHT jetzt |>ich weiße| [mir war| andere ich habe |mit meijne eitern bis dreiunddreißig jahre gewohntl jaT also |#leute# | #KLOPFT AUF DEN TISCH# |sie haben| mit mir gesprochen^ a/ russi/ russisch (vorher ...) *1,5* (kann mit mein) mann * gutj, also * wir schauen * wenn sie (ge) sprochenj, den ausweis holen holen sie den ausweis ja *1,5* ab * und dann können wir versuchen ** das ganze <in einem monat> * dagegen Widerspruch zu erheben |mit der | ja |(nur so)| begründung die sie: mir angege|ben| habenj, ich kann dazu | ja | nix sagen |frau| wagner |wie=s wird| wird gut * oder |ja | |bei uns | ja #wird schlecht# nur schlechter wird nicht vielleicht #KLOPFT AUF DEN TISCH# |wird| besser | verjsuch ich gutT | ja | |(herr)| äh herr stierle und ZÜNDET SICH ZIGARETTE AN noch eine fragel wenn ich muss * deutsche spräche * oder inglisch spräche in die schule nehmen jaT alle deutsche müssen in inglisch schule gehenj, |das war mit mein) mann |#( )# | #GEMURMEL # <?page no="237"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 237 445 FW: 446 SM: 447 FW: 448 Ü 449 SM: 450 FW: 451 FW: 452 SM: 453 K 454 FW: 455 SM: 456 FW: 457 K 458 HW: 459 FW: 460 SM: 461 FW: 462 SM: 463 FW: 464 K 465 SM: 466 FW: 467 SM: 468 FW: 469 SM: 470 FW: 471 SM: 472 SM: 473 K 474 SM: 475 K 476 FW: 477 K 478 SM: 479 K ** er hat in "inglisch ** klasse gelernt^ und ich auch ja wo ich habe nicht deutsch gelernt #a# alle russen ** #ABER# wo war das waren in * deutsche (schul)klasseni in russland in unsere stadti #ja: wie wie |hieß | die# *1,5* |omsk| #ETWAS GENERVT # |(wie)| | mit[telschule kiselovsk ja kiselovskj, ja #und äh# sie haben #GEPRESST# ja so gemacht- ** alle deutsche müssen inglisch lernenj, ** ja ei ich bedanke meine eitern sie haben ja: ach #mit mir zuhause bißche sprech/ gesprochen# #HASTIG,ERREGT # ja I j a | jaT aber was mei/ |muss| er sagenj, SEUFZT wir schauen waT ich |mach das mit der |>(...) und< bei begründung herr| wagner |aber ich kann| nix bei uns war | keine J Sprachschule | garantieren waT * sie verstehen das=s der ablauf den ich geschildert hab ttverstehen sie wenn sie das halbe jahr #EINDRINGLICH-BEDAUERND genutzt hätten# zuhaus so zu sprechen wie jetzt # # j a# #SEUFZT# mit der frau #>dann war alles prima gewesen leute<# #TRAURIG, ENTTÄUSCHT # <?page no="238"?> 238 Aussiedler treffen aufEinheimische 480 SM: 481 FW: #das geht über das ** zwölf jahre kohlgmbe# 4 82 K #ERGRIFFEN (DEN TRÄNEN NAHE? ) # |nein das |wenn er hat j 483 SM: 484 K 485 FW: in büro gesessen mit kugelschreiber ich habe * |#frau #BREM- | nie 486 SM: wagner <nein># | * jetzt hören sie doch einmal zu es 487 K SEND # 488 FW: was ge/ gemacht| 489 SM: es geht auch um das ** dass oftmals ** die leute ** nicht 490 SM: * glauben ** dass * es hier |so ist wie | die leute 491 FW: |so schwer ja | 492 SM: erzählen^ |und| dass es so schwer ist |die glauben oftmals 493 FW: |j a I (das ist andere sie 494 SM: die kommen nach| |nach j deutschland 495 FW: glauben das ist| nicht so |schlimm| 4 96 SM: soj, und 497 FW: ich komme nach deutschland und das is allesi 498 SM: dann glauben sie hier wäre #wunderrepublik# 499 K #PRONONCIERT # 500 FW: hmhm 501 SM: verstehen sie aber keinej, * is nich wa 502 FW: # j a# 503 K #KLÄGLICH# 504 SM: ##nie ma# bundesrepublik waT# soi und <einfach> 505 Ü #POLNISCH: GIBT ES NICHT# 506 K #RICHTIGSTELLEND # 507 SM: is es hier nichtj, und viele machen drüben schon 508 SM: etwas kaputt was dann schwierig ist hier ** 509 SM: ordentlich wieder zurechtzumachenl ** hm ATMET also sie Strukturelle Beschreibung Z. 377-509: Das Aushandlungsgeschehen um die Mitwirkung des Beraters bei der Abfassung des Widerspruchs ist an einem Punkt angelangt, an dem dieser Prozess eigentlich abgeschlossen werden könnte. Herr Stierle problematisiert aber noch die andere sache (Z. 377 u. 379). In dieser Fokussierungsformel deutet sich an, dass Herr <?page no="239"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 239 Stierle in dem bisher behandelten thematischen Zusammenhang noch einen weiteren Aspekt für klärungsrelevant hält. In Anlehnung an die Komponentenstruktur des Handlungsschemas „beraten“ lässt sich davon sprechen, dass der Berater hier zur Lösungsverarbeitung 15 ' ’ übergeht. In die sich entwickelnden Gesprächssequenzen fließen allerdings auch noch Aktivitäten ein, bei denen es dem Berater darum zu gehen scheint, den Problemsachverhalt umfassender zu definieren. Herr Stierle erkundigt sich danach, wie lange die Wagners verheiratet sind; die andere sache, um die es Herrn Stierle noch geht, hat offenbar etwas mit dem Ehestand und den Ehejahren der Wagners zu tun. Worauf er mit dieser Frage hinaus will, wird erst ab Zeile 392ff. deutlich, nachdem er Frau Wagners Antwort reformuliert hat und als Konklusion eine Anforderung an den innerfamiliären Sprachgebrauch definiert hat [ sie sind neun jahr verheiratet dass sie hätten in der familie * * (deutsch) —»verstehen sie ; Z. 392 u. 397]. Herr Stierle spricht zu Beginn seines Fokussierungszugs sehr zögerlich und formulierungsunsicher. Hier deutet sich an, dass er einen heiklen Punkt anzusprechen versucht; dass er mit einem Thematisierungsproblem ringt, macht Herr Stierle dann auch explizit durch Bekundung von Formulierungsschwierigkeiten — kenntlich [ich weiß dat nich wie ich=s biegen soll; Z. 397 U. 399]. An dieser Stelle reagiert Frau Wagner mit einem kurzen Lachen (Z. 401). Daraufhin zeigt der Berater sich ungehalten darüber, dass er dieses Thema („deutsch sprechen in der Familie“) überhaupt ansprechen muss [ja frau wagner das ist auch; Z. 399 U. 403], Der Berater ist hier bemüht, die anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten des Herrn Wagner noch aus einem anderen Blickwinkel zu problematisieren: Selbst dann, wenn Herr Wagner sich inzwischen die deutsche Sprache ange- 187 Nach dem Entwickeln einer gemeinsamen Problemsicht folgt in der Komponentenstruktur des Handlungsschemas „beraten“ die Lösungsentwicklung und Lösungsverarbeitung. Wie in vielen anderen Beratungssituationen auch, kommt es im vorliegenden Fall zu einem Ineinandergreifen beider Aktivitätskomplexe, der Lösungsentwicklung und -Verarbeitung. Zu den typischen Aktivitätsformen dieser Schemakomponente gehört, dass der Berater „seine Erfahrungs- und Kompetenzbasis aufdecken (muß), wenn er dem Ratsuchenden plausibel machen will oder muß, welchen Stellenwert die von ihm ins Gespräch gebrachten Lösungskonzepte haben“ (Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder 1994, S. 13). Sofern es bereits bei der Entwicklung einer gemeinsamen Problemdefmition Komplikationen gegeben hat, wirkt sich dies auch auf die nachfolgende Lösungsentwicklung und -Verarbeitung aus. <?page no="240"?> 240 Aussiedler treffen aufEinheimische eignet haben sollte, kann er ein anderes wichtiges Bestätigungsmerkmal die Pflege der deutschen Sprache im Familienverband nicht glaubhaft machen. Dieser Umstand schmälert die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens (darin würde es ja zu einer erneuten Überprüfung der Volkszugehörigkeitsmerkmale kommen) zusätzlich. In dem Redeverhalten des Beraters fehlt es nicht an Hinweisen, aus denen hervorgeht, dass es nicht seine persönliche Perspektive ist, die er auf den Zeitraum der Verheiratung der Wagners einnimmt; es fehlt aber auch nicht an Hinweisen darauf, dass er unter Umgehung oder Ausblendung dieser Perspektive nicht agieren kann. Mit der Frage nach der Dauer der Verheiratung in der Familie (und der damit verbundenen Frage nach dem Gebrauch des Deutschen in der Familie) greift der Berater wieder dem Überprüfungs- und Entscheidungshandeln der Einbürgerungsadministration vor. Er leistet Formulierungsarbeit, an der erkennbar ist, dass unterschiedliche soziale Rahmen enaktiert werden: In der Funktion des professionellen Helfers, der sich mit der Klientenpartei solidarisch verbunden fühlt, wendet er Rechtsstandpunkte und Entscheidungslogik der Einbürgerungsadministration fallbezogen an. Symptomatisch für das Aufeinanderprallen dieser unterschiedlichen sozialen Rahmen sind folgende äußerungsstrukturellen Phänomene: - Verzögerungen im Sprechen, Konstruktionswechsel und Neuansatz in der Formulierung 188 in Z. 385-398; eine sehr deutliche Änderung der Sprechweise bei der Formulierung des Wortes (deutsch) (Z. 397), es ist kaum hörbar und stockend gesprochen; schließlich eine explizite Kenntlichmachung von Formulierungsschwierigkeiten [ich weiß dat nich wie ich=s biegen soll; Z. 397 U. 399], Die Markierung des diskrepanten Verhältnisses zwischen Ehejahren und Gebrauch der deutschen Sprache bringt die Wagners erneut in Rechtfertigungsnöte. Da sie „Pflege des Deutschen als Familiensprache“ für sich nicht reklamieren können, haben sie das Problem, das anerkennungsrechtlich geforderte gelebte Bekenntnis zum Deutschtum nicht glaubhaft machen zu können. Auf den Vorhalt, sich nicht richtig um das Deutsche als Familiensprache bemüht zu haben, reagieren die Wagners mit Äußerungen, die demonstrieren, 188 Nicht auszuschließen ist, dass diese Auffälligkeiten im Formulierungsprozess durch den kurzen Auftritt eines Boten hervorgerufen wurden (vgl. Z. 386-398). <?page no="241"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 241 dass sie sich den Erfordernissen des Deutscherwerbs nicht verschließen, sondern ihnen künftig durchaus nachkommen wollen. Frau Wagner verspricht weitere Sprachfortschritte [zum beispiel zwei oder drei Wörter das "geht weiteri; Z. 405 u. 407]; nicht ganz klar wird hier, ob Frau Wagner den Deutscherwerb ihres Mannes meint oder das gemeinsame Bemühen um den Gebrauch des Deutschen als Familiensprache. Auch Herr Wagner äußert sich in diesem Zusammenhang; seine Bemerkung >hm bißchen sprechen (Z. 412) verstehe ich so, dass er hier gleichsam die Grundvoraussetzung für Fortschritte beim Erlernen des Deutschen benennt, nämlich Sprechgelegenheiten häufiger zu nutzen. Herr Stierle nimmt dann eine Bewertung des aktuellen Sprachverhaltens des Klienten vor. Er lobt Herrn Wagner, sein aktuelles Sprachverhalten sei prima. Diese Bewertungsaktivität ist noch weiter ausgebaut; der Berater nimmt darin auch einen Vergleich mit dem Sprachverhalten vor, das Herr Wagner bei ersten Kontakten gezeigt hat, und klassifiziert es als von Nervosität geprägt (vgl. Z. 409-417). Das Lob für das Sprachverhalten von Herrn Wagner ist hier nicht einfach nur eine ermunternde Nettigkeit gegenüber einem Fremden, der sich um die deutsche Sprache bemüht. Der Berater nimmt hier auch die sprachevaluierende Perspektive ein, die im Anerkennungsverfahren zur Geltung kommt. Frau Wagner fährt mit ihren Rechtfertigungsaktivitäten fort, indem sie unterschiedliche Spracherwerbsbedingungen in ihrer Herkunftsfamilie und der ihres Mannes anführt (Z. 416-425). Herr Stierle geht darauf nicht ein; stattdessen formuliert er im Stile einer Ergebnissicherung, dass ein weiteres Gespräch über diese Sache geführt werden soll, wenn die Ausweise da sind; ferner formuliert er nochmals den Bearbeitungsschritt, der dann gemeinsam in Angriff genommen werden soll (den Widerspruchstext abzufassen; vgl. Z. 424-431). Mit einem Hinweis auf Unsicherheiten bezüglich des Ausgangs des Widerspruchsverfahrens [ich kann dazu nix sagen frau wagner wie=s wird ...; vgl. Z. 431-437] markiert er seine Absicht, diesen Aktivitätsstrang abzuschließen. In diese handlungsschematischen Beendigungsaktivitäten hinein meldet sich Frau Wagner noch einmal zu Wort. Sie nimmt zwar die Sprecherrolle unter Ankündigung einer Frage an den Berater ein [herr stierle und noch eine fragef wenn ich muss * deutsche spräche * oder inglisch spräche in die schule nehmen jat; Z. 438 u. 441]; im nachfolgenden Äußerungsteil aber zeigt sich, dass es <?page no="242"?> 242 Aussiedler treffen aufEinheimische ihr darum geht, noch weiteres Begründungspotenzial für einen Widerspruch aufzuzeigen. Sie führt an, dass sowohl ihr Mann als auch sie selbst in der Schule gezwungen waren, Englisch als Unterrichtsfach zu nehmen, und versucht so geltend zu machen, dass das Erlernen der deutschen Sprache auch durch das sowjetische Bildungssystem verhindert wurde. Nach einer kurzen Klärungssequenz zum Herkunftsbzw. Schulort der Wagners in Russland und nach dem Hinweis, dass sie zwangsweise Englisch als Fremdsprache lernen mussten (Z. 449-460), bekundet Frau Wagner eine Dankbarkeitshaltung gegenüber ihren Eltern, da diese mit ihr deutsch gesprochen haben [ei ich bedanke meine eitern sie haben mit mir zuhause bißche sprech/ gesprochen; Z. 461 u. 463]. Ein erneuter Versuch des Beraters, die Thematisierung möglicher Widerspruchsgründe zu beenden, überschneidet sich mit einer Äußerung von Frau Wagner, in der sie in einer Vergleichskonstruktion auf mangelnde Sprachförderung im Herkunftsland hinweist [bei uns war keine Sprachschule; Z. 470]. Herr Stierle geht auf diese Argumentation nicht näher ein, sondern unternimmt dann einen zweiten Anlauf, zum Abschluss zu kommen: Indem er seine Mitwirkungsbereitschaft bekräftigt, signalisiert er auch Beendigungsabsichten der laufenden handlungsschematischen Aktivitäten. Erneut versucht er dabei Erfolgserwartungen auf Seiten der Klientenpartei zu dämpfen (Z. 467-472). Herr Stierle betreibt die Gesprächsbeendigung dann aber nicht weiter, sondern versucht zu erklären, warum er keine Erfolgsgarantie für das Widerspruchsverfahren geben kann (Z. 472-479). Was der Berater als Erklärung für die Ungewissheit hinsichtlich des Ausgangs des Verfahrens anfligt, impliziert wieder eine an das Klientenehepaar gerichtete Vorhaltung bzw. Verantwortlichmachung [verstehen sie wenn sie das halbe jahr genutzt hätten; Z. 472ff.]. Der Klientenpartei wird hier vergegenwärtigt, dass sie selbst nichts zur Verbesserung ihrer Chancen im Anerkennungsverfahren getan hat. Herr Stierle setzt in seiner Äußerung besondere intonatorische Mittel ein; seine Sprechweise mutet an wie eine in väterlich-freundschaftlicher Manier vorgenommene Ermahnung, so, als wolle er den zu Ermahnenden zugleich seine Solidarität und sein Mitgefühl versichern. Diese Verantwortungszuschreibung erweist sich als kontraproduktiv für die zuvor angekündigten handlungsschematischen Beendigungsaktivitäten. Frau Wagner sieht sich veranlasst, auf diese Vorhaltung zu reagieren. Wegen der syntaktischen Brüche in ihrer Äußerung kann nur vermutet werden, dass sie mit dem Hinweis auf Arbeitsbedingungen, denen ihr Mann aus- <?page no="243"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 243 gesetzt war [zwölf jahre kohigrube usw., vgl. Z. 48Iff.], Hinderungsgründe für das Erlernen der deutschen Sprache anführen und so die schlechten Deutschkenntnisse ihres Mannes erklären will. Wie schon vorher wird Herr Stierle über diese Reaktion sehr ungehalten [frau wagner <nein> * jetzt hören sie doch einmal zu es geht auch um das ...; Z. 483ff.]. Er blockt Frau Wagner ab, mahnt sie zur Gesprächsdisziplin und verlangt von ihr Zuhörbereitschaft. Dass der Berater hier sehr ungehalten reagiert, liegt wohl daran, dass die Klientin mit ihren Bemühungen, Gründe für mangelnde Deutschkenntnisse ihres Mannes aufzuzeigen, dreierlei unterläuft: den Versuch, mögliche Ablehnungsgründe des Widerspruchs, die von der Einbürgerungsadministration noch angeführt werden können, zusammenzustellen; die Zuschreibung von Verantwortlichkeit an die Klientenpartei für die anerkennungsrechtlichen Schwierigkeiten, von denen Herr Wagner betroffen ist; schließlich auch die thematischen Beendigungsabsichten, die Herr Stierle in dem „wenn-dann“-Format in Z. 472-478 angezeigt hat. In einer weiter ausholenden, auf Aussiedler generell bezogenen Argumentation entwickelt Herr Stierle dann Erklämngen dafür, warum Aussiedler in Deutschland Schwierigkeiten haben (Z. 486-509). Es ist eine globale erklärungstheoretische Aussage, die nicht allein auf die Wagners, sondern auf Aussiedler generell bezogen ist. Die Erklärungstheorie des Beraters bezieht sich auf Vorstellungen, die sich Aussiedler von Deutschland machen. Welcher Art die Vorstellungen sind, die er Aussiedlern unterstellt, wird in dem Wortspiel wunderrepublik bzw. in der Behauptung, Aussiedler glaubten, Deutschland sei eine wunderrepublik, verdeutlicht (Z. 496-504). In sprachlich verdichteter Form charakterisiert der Berater hier einen Vorstellungs- und Erwartungshorizont von Aussiedlem gegenüber Deutschland. Dies geschieht wie schon gesagt in einem Redezusammenhang, in dem er der Klientenpartei klarzumachen versucht, dass ihre Aussiedlung nach Deutschland nicht stringent und nicht realistisch an den dabei geltenden Anforderungen orientiert ist. <?page no="244"?> 244 Aussiedler treffen aufEinheimische Das Wortspiel wird in der Redefigur der Litotes 189 entwickelt; so wird die gegenteilige Bedeutungsimplikation dessen, was eine wunderrepublik ist, hervorgehoben (die Negation dessen, was hier mit wunderrepublik gemeint ist, wird in deutscher Sprache vorgenommen, aber auch noch mittels eines fremdsprachlichen Ausdrucks bekräftigt; vgl. Z. 501 u. 504). Was aber lässt sich über die Bedeutungsimplikationen des Ausdrucks wunderrepublik sagen? Orientiert man sich an der Wortkonstruktion, hat man es mit einem Kompositum zu tun, das womöglich der Bezeichnung „Wunderland“ nachgebildet ist, die in der Märchenliteratur einen festen Platz hat. Charakterisiert werden damit Erwartungshaltungen und Vorstellungswelten, die auf restriktionsfreie und alle Wünsche erfüllende Verhältnisse gerichtet sind. Die Ersetzung des Wortbestandteils „Land“ durch „Republik“ lässt die nationalstaatliche Verfassung des Landes, in dem Aussiedler aufgenommen werden, stärker hervortreten als der Ausdruck „Wunderland“. Das Wortspiel wunderrepublik charakterisiert Vorstellungswelten gegenüber dem Aufnahmeland Bundesrepublik; es richtet sich gegen die Erwartung eines unkomplizierten Ablaufs der Einbürgerung in Deutschland. Die dann folgenden argumentativen Verdeutlichungsanstrengungen des Beraters [und <einfach> ist es hier nichtf und viele machen drüben schon etwas kaputt was dann schwierig ist hier ** ordentlich wieder zurechtzumachenf; Z. 504-509] machen klar: Es sind trügerische Vorstellungen: Wer sie verfolgt, ist unrealistisch, wer daran festhält, ist unvernünftig und manövriert sich selbst in eine Lage, die von irreparablen Schwierigkeiten gekennzeichnet ist. Analytischer Kommentar Z. 377-509: Während der Berater bemüht ist, letzte Absprachen zum weiteren Vorgehen zu treffen und so das laufende Handlungsschema abzuschließen, nimmt Frau Wagner mehrfach wieder Aktivitätsorientierungen auf, die auf Erklärung der schlechten Deutschkenntnisse ihres Mannes abzielen; sie arbeitet weitere widerspruchstaugliche Lebensumstände heraus. Darauf will Herr Stierle aber nicht eingehen, weil er dafür einen gesonderten Termin anberaumt hat. Ihn beschäftigt noch die Frage, weshalb die Wagners in ihrer neunjährigen Ehe die deutsche Sprache nicht als Familiensprache verwendet haben. Wäre dies geschehen, wäre es für Herrn lsy Die Litotes ist eine rhetorische Figur, bei der durch Negation des Gegenteils eine besondere Hervorhebung erfolgt; Bußmann (1983) bezeichnet die Litotes als eine Form des "‘uneigentlichen Sprechens’, bei der eine superlativische Eigenschaft durch die Negation des Gegenteils umschrieben wird“, (ebd., S. 306; Hervorhebungenen im Original). <?page no="245"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 245 Wagner auch weniger problematisch, den Spätaussiedlerstatus nach § 4 zuerkannt zu bekommen, wäre es weniger problematisch, nachzuweisen, dass ihm durch Familienangehörige jene Merkmale vermittelt wurden, die im statusrechtlichen Anerkennungsverfahren als Bestätigungsmerkmale deutscher Volkszugehörigkeit gelten (Sprache, Erziehung, Kultur). Auf diese Problematik aufmerksam gemacht, reagiert die Klientenpartei mit kommunikativen Aktivitäten, die das Fehlen dieser Bestätigungsmerkmale erklären sollen. Die nochmaligen und weiter ausholenden Bemühungen von Frau Wagner, zu den schlechten Deutschkenntnissen ihres Mannes Stellung zu nehmen, gehen dem Berater an der Sache vorbei. Sie lassen ihn ungehalten werden, weil sie aus seiner Sicht keine plausiblen und akzeptablen Gründe dafür sind, dass Deutsch nicht als Familiensprache gepflegt wurde. Solche Erklärungen sind vielleicht brauchbar, wenn der Widerspruchstext verfasst wird; dies soll aber ja zu einem anderen Zeitpunkt geschehen. Bei der Thematisierung der Ehejahre der Wagners und der damit verbundenen Frage nach der Familiensprache kündigt sich der Versuch des Beraters an, die statusrechtliche Beurteilungsperspektive vervollständigen zu wollen. Ein Gesamtbild von der anerkennungsrechtlichen Argumentationslage zu gewinnen und die rechtlichen Beurteilungskriterien durchzuspielen, könnte dazu dienen, sich schon bei der Begründung des Widerspruchs auf Gesichtspunkte einzustellen, die die Einbürgerungsbehörde bei der Ablehnung des Widerspruchs anführen wird. Der Versuch, das Beratungsgespräch in diesem Sinne zu führen, scheitert aber, weil die Klientenpartei in einer Beteiligungsweise verharrt, der es darum geht, den Berater davon zu überzeugen, dass hinreichendes Begründungspotenzial für einen Widerspruch gegeben ist, und auch darum, die Verantwortlichmachung für das anerkennungsrechtliche Problem des Herrn Wagner abzuwehren. Dass das Durchspielen der Argumentationslage im anerkennungsrechtlichen Streitfall „daneben geht“, könnte mit daran liegen, dass der Berater keine entsprechend eindeutigen Rahmungsaktivitäten vollzieht. Ein solcher Aktivitätsstrang, der darauf zielt, sich gegenüber der Argumentationsweise der Eingliederungsbehörde zu wappnen, hätte behutsamer etabliert werden müssen. Da dies nicht geschieht, reagieren die Wagners auf Herrn Stierle als jemand, der Standpunkte der Einbürgerungsbehörde vertritt und der auch jetzt derjenige ist, der von der Berechtigung und den Chancen des Widerspruchs überzeugt werden muss. <?page no="246"?> 246 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Erklärungsbemühungen der Klientenpartei machen Herrn Stierle aber auch deshalb ungehalten, weil er darin den Versuch sieht, die ‘eigentlichen Gründe’ für die Misere, in der die Wagners stecken, zu übergehen. Um hier gegenzusteuem, spricht er den Realitätssinn von Aussiedlem an, der generell kennzeichnend für ihre Vorstellungen von und für ihre Erwartungen an Deutschland ist und charakterisiert ihn als trügerisch bezüglich dessen, was in Deutschland auf sie zukommt. Wie schon an anderer Stelle operiert der Berater hier mit der Zuschreibung kulturell deplatzierten Orientierungsverhaltens und Rationalitätsdefiziten. Wenn auch diese Zuschreibung hier generalisiert erfolgt, kann Herr Stierle den Wagners doch deutlich machen, wo er den ‘eigentlichen Grund’ für die anerkennungsrechtlichen Probleme, die Herr Wagner hat, sieht nämlich in dem Nichternstnehmen der im Anerkennungsverfahren geforderten Statusmerkmale und in dem fehlgehenden Deutschlandbild. Es kommt im Weiteren zu einem Gesprächsverlauf, in dem der Berater versucht, die Bearbeitung des Problems Widerspruch gegen § 7, 2 zum Abschluss zu bringen; dabei ergeben sich aber erneut Abstimmungsprobleme mit der handlungsschematischen Orientierung der Klientenpartei. 5.3.3.7 „Schauen wir, was wir zusammen machen können.“ - Verabredung der nächsten Problembearbeitungsschritte und weitere Versuche der Klientin, Begründungspotenzial für einen Widerspruch einzubringen 509 SM: ordentlich wieder zurechtzumachenf ** hm ATMET also sie 510 SM: holen das ab und ich schreib 511 FW: ja wi/ wir geben uns 512 SM: |die begründung | |ich| bin * ich bin |aber | 513 FW: |termin(e ich ich)| ich frage |so | |ah in| 514 SM: passen |sie | auf sie ham einen monat zeitf 515 FW: Urlaub ** | (nichtf) | 516 SM: kucken schauen wann das datum ist * #ab achten januar# 517 K #DEUTLICH # 518 FW: ja 519 SM: bin |ich wieder | hierf das ist zeit |weil jetzt| ham 520 FW: |hmhm 521 HW: |(achten...)| <?page no="247"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 247 522 SM: 523 HW: 524 SM: 525 FW: 526 SM: 527 FW: 528 SM: 529 FW: 530 FW: 531 FW: 532 FW: 533 K 534 SM: 535 FW: 536 SM: 537 FW: 538 SM: 539 FW: 540 SM: 541 FW: 542 SM: 543 FW: 544 SM: 545 FW: 546 SM: 547 SM: 548 SM: 549 FW: 550 SM: 551 FW: 552 SM: 553 FW: 554 FW: 555 HW: wir dezember |achten) dezember haben sie ein zwei wochen | hmhm zeitj, |dann| machen wir * einen Widerspruch hm|hm | >hmhm< schreib ich gernbemühe mich auch- |schau hmhm |und welche auch ob=s: möglich | unterlagen muss man) mitbringenT wir haben * archiv ähm äh ähm von archiv dass äh hm seine eitern waren in trudarmeei * sie sie sind o/ beide übersetzen * un=sie waren beide in trudarmee #das hilft vielleicht was# * #HOFFNUNGSVOLL # das kann ich nicht sagen weil ich oder neini jaf entscheide nicht frau wagnerj, bringen sie >hmhm< alle unterlagen und * wir besprechen das > j a< zusammen (ich schau) inwieweit es geht und was wir j hmhm brauchen je mehr unterlagen sie bringen hmhm hmhm desto mehr * kann ich arbeiten (und schau|en | hmhm was wichtig ist was vielleicht nicht so wichtig nicht so wichtig ATMET und sie erzählen mir alles noch v/ von der begründung so wie=s jetzt der |fall wird) hmhm |hm: und dann schauen wir was wir zusammen machen können ja nur |erst|mal (gut | und das ist ohne be/ ach am achte januar ohne termine SPRECHANSATZ jat wir [können |(... hm)| (jeder)zeit <?page no="248"?> 248 Aussiedler treffen aufEinheimische 556 SM: 557 FW: 558 SM: 559 FW: 560 SM: 561 FW: 562 HW: 563 SM: 564 FW: 565 SM: 566 FW: 567 SM: 568 FW: 569 SM: 570 FW: 571 SM: 572 FW: 573 SM: 574 FW: 575 SM: 576 FW: 577 FW: 578 SM: 579 FW: 580 SM: 581 FW: 582 FW: 583 K 584 FW: 585 K 586 HW: 587 SM: 588 FW: 589 SM: 590 FW: |äh | ich bin den ganzen tag da von frühmorgens bis jeder)zeit | drei uhrj, bin ich erreichbar ab drei uhr nicht dann > j a< sitz ich im Sprachkurs * mit den |leuten | ATMET so ja |hm | und da können sie einfach kommen |ich schau| mir das an- | hmhm und dann ** nachdem ich mir alles angeschaut hab die hmhm geschichte so etwa |notiert hab| schreiben wir erstmal | hmhm ganz einfach=n |Widerspruch| und später eine |hmhm | hmhm begründung formulieren wir=n ganzen brief warum ** hmhm ihr mann nicht deutsch spricht nicht sprechen konnte hmhm dass es nicht |so wich|tig war ja | war bei uns war so Sprachschule wie * wie hier bei * zum beispiel ATMET äh I ja I ähm s: / sechs monate das |(habe)| gut * aber bei uns war gut kein möglichkeitj, äh und ich äh ich bedanke ich sage nochmal (meinem) * für meine eitern #sie haben mit mir ttABGEHACKT, HOLPRIG zuhause äh und ich bin ** vier jahre älterj,# ** # >hm< ja ja ATMET also versuchen wirj, | ich | kann wie mein mann | wenn | ihnen |nur das angebot machen weil wenn sie seine mutter| war äh bis jetzt äh <?page no="249"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 249 591 FW: ** am lebendas war äh war alles anderel 592 HW: 593 SM: schauen wir gutT 594 FW: ja ja SEUFZT (ach ja) also * zu dem Zeitpunkt 595 SM 596 FW 597 HW 598 K 599 SM 600 FW 601 HW 602 K |dann| bringen sie | aus|weis nehmen ja T |hmhm | #(ja [wie war| #WILL NOCH |die papiere al|le mit |herr| wagner I ja I |da keine...) #| ich war ** ETWAS FRAGEN # Strukturelle Beschreibung Z. 509-600: Nachdem Herr Stierle deutlich gemacht hat, woran es liegt, dass Aussiedler nach der Einreise mit Enttäuschungen und Problemen zu kämpfen haben, kommt er wieder auf das aktuelle Anliegen der Kdientenpartei zurück und formuliert ergebnissichemd den Stand der Verabredungen [also sie holen das ab und ich schreib die begründung; Z. 509-512], Frau Wagner ist an genauen Terminabsprachen interessiert, und Herr Stierle kommt diesem Ansinnen nach, indem er über seine urlaubsbedingte Abwesenheit, über den zeitlich abgesteckten Rahmen des Widerspruchsverfahrens und über klientenseitig zu beachtende Termine informiert (vgl. Z. 512-524). Er bedient sich hier einer verkürzten Ausdrucksweise, in der sich wieder Merkmale eines Foreigner-Talk ausmachen lassen (Verzicht auf Anredepronomina; Reihung von Verben mit ähnlicher Semantik, vgl. Z. 516). Herr Stierle schließt seine Instruktionen über den zeitlichen Ablauf ab, indem er erneut Bereitwilligkeit und ernsthaftes Bemühen beim Abfassen des Widerspruchs beteuert (Z. 524-528). Aber auch nach dieser Zusicherung geht die Klientenpartei noch nicht dazu über, die endgültige Auflösung dieses Aktivitätskomplexes mitzuvollziehen. Frau Wagner will noch genauer abklären, welche Unterlagen sie mitbringen soll und weist bei dieser Gelegenheit auf den Besitz von Dokumenten hin, die Ansprüche auf eine Einbürgerung nach § 4 untermauern könnten [seine eitern waren in trudarmeej,; Z. 530-535]. 190 Die äußerungsabschließende Frage von Frau Wagner das hilft vielleicht was * oder nein], 190 Aus der Zwangsmitgliedschaft von Angehörigen in der Trudarmee kann das so genannte Kriegsfolgenschicksal, das für die Anerkennung des Spätaussiedlerstatus wichtig ist, hergeleitet werden; siehe auch Kap. 2.4. <?page no="250"?> 250 Aussiedler treffen aufEinheimische setzt konditionelle Relevanzen für eine evaluierende Stellungnahme des Beraters. Herr Stierle wehrt den Versuch ab, die Erfolgswahrscheinlichkeiten dieses neu ins Spiel gekommenen Begründungspotenzials auszuloten, indem er zunächst daran erinnert, dass er nicht die entscheidende Instanz ist (vgl. Z. 534 u. 536), dann die Klientenpartei auffordert, alle Unterlagen mitzubringen, und deutlich macht, dass alle weiteren Bearbeitungsschritte vertagt sind (Z. 536-550). Eine neuerliche Initiative von Frau Wagner, zu klaren Terminabsprachen bezüglich der Fortsetzung des Arbeitsbündnisses mit dem Berater zu kommen (vgl. Z. 553-554), beantwortet dieser mit Auskünften zu seinen Anwesenheitsbzw. Sprechzeiten (vgl. Z. 556-563). Anschließend orientiert er über konkrete gemeinsame Bearbeitungsschritte beim Abfassen des Widerspruchs. In diesem Zusammenhang zeigt Herr Stierle die Argumentationsstruktur auf, die der Widerspruch aufweisen soll [warum ** ihr mann nicht deutsch spricht nicht sprechen konnte dass es nicht so wichtig war; Z. 571 u. 575]. Das angedeutete Argumentationsgerüst greift Frau Wagner auf und führt erneut aus, warum ihr Mann nicht so gut deutsch kann: In einer Kontrastanordnung, die auf die Sprachforderung im Herkunftsland und die Sprachkurse für Aussiedler in Deutschland bezogen ist, macht sie den Mangel an schulischer bzw. staatlicher Förderung des Deutscherwerbs verantwortlich für die schlechten Sprachkenntnisse ihres Mannes. Ferner bekundet sie nochmals Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern, die ihr die deutsche Sprache beigebracht haben (vgl. Z. 576-584). Ein anschließender Hinweis auf den Altersunterschied von vier Jahren zwischen ihr und ihrem Mann (Z. 584 u. 588) unterstreicht, dass sie auch altersbedingt einen Lemvorsprung hat. Es schließt sich ein weiterer Versuch des Beraters an, die Auflösung der Situation zu betreiben (vgl. Z. 587-589). Frau Wagner aber agiert noch immer im Kommunikationsschema der Argumentation und zeigt weiteres Begründungspotenzial für den Widerspruch gegen § 7, 2 auf (Z. 590 u. 591). Der letzte Punkt, den Frau Wagner für die statusrechtliche Anerkennung ihres Mannes ins Feld führt, betrifft dessen leibliche Mutter (wäre sie nicht vorzeitig gestorben so das Argument würde ihr Mann bezüglich der Deutschkenntnisse besser dastehen). Herr Wagner vollzieht diese Argumentation seiner Frau mit, scheint sie gewissermaßen bekräftigen zu wollen, wie das seufzend gesprochene (ach ja) in Z. 592 vermuten lässt. Der Berater setzt unter Hinweis auf den zugesagten Termin zur Sichtung aller Unterlagen <?page no="251"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 251 erneut ein Abschlusssignal (vgl. Z. 593-599). ln Äußerungen seiner Frau hinein, die diese Beendigungsabsichten ratifizieren, ergreift Herr Wagner wieder das Wort. Seine fragmentarische Äußerung überlappt sich mit einem hmhm seiner Frau und ist nicht ganz verständlich (Z. 597-602). Beim Hören dieser Stelle entsteht der Eindruck, dass Herr Wagner dazu ansetzt eine Frage an den Berater zu richten. Die in Z. 599 folgende Anrede herr wagner durch Herrn Stierle gibt Herrn Wagner dann explizit Gelegenheit sich zu äußern. Ab hier beginnt dann die Bearbeitung des dritten Anliegens der Klientenpartei. 5.3.3.8 „Wenn er bekommt Arbeit, das geht mit Sprache noch besser! “ - Nachfrage nach dem Stand der Bemühungen um einen Arbeitsplatz für den Klienten Von einer Wiedergabe und detaillierten strukturellen Beschreibung des dann folgenden Gesprächssegments sehe ich hier ab; seine Verlaufsstruktur ähnelt der Bearbeitung des ersten Anliegens. Um das Gesamtbild der Beratungssituation abzurunden, sei kurz die darin beobachtbare Aktivitätsfolge skizziert. Es geht im letzten Abschnitt dieses Beratungsgesprächs um einen Arbeitsplatz, den der Berater Herrn Wagner in vorausgegangenen Kontakten in Aussicht gestellt hatte. Es ist nun Herr Wagner selbst, der sein Anliegen entwickelt. Er legt dar, dass er verabredungsgemäß bei einem zuständigen Sachbearbeiter war, dass dieser sich seine Geburtsdaten und seinen Beruf notiert habe und versprochen habe, nach zwei Wochen von sich hören zu lassen. Dies sei aber nicht geschehen. Herr Wagner spricht zwar selbst, aber auch hier wieder sehr fragmentarisch; seine Frau unterstützt erneut sein Äußerungsverhalten. Ohne dass Herr Wagner darum bitten muss, geht der Berater dazu über, bei dem Sachbearbeiter anzurufen, um den Stand der Dinge zu klären. Der Sachbearbeiter ist nicht zu sprechen; von einer anderen Person erfährt Herr Stierle, dass wegen der Besetzung des Arbeitsplatzes noch keine Entscheidung gefallen ist. Verabredet wird, dass der Sachbearbeiter am Nachmittag zurückruft. Nach dem Telefonat gibt Herr Stierle Herrn Wagner diese Auskünfte weiter. Frau Wagner bittet den Berater daraufhin, sich weiter um einen Arbeitsplatz für ihren Mann zu bemühen. Ferner erwähnt sie, dass sie beide auch selbst bei verschiedenen Stellen nachgefragt haben. Sie zeigt sich besorgt wegen der Arbeitsplatzsuche. In diesem Zusammenhang hebt Frau Wagner hervor, dass ein Arbeitsplatz auch für die Verbesserung der Sprachkenntnisse ihres Mannes wichtig sei [wenn er bekommt noch <?page no="252"?> 252 Aussiedler treffen aufEinheimische arbeit das geht mit spräche noch besser]. Zum Ende der Bandaufnahme folgt eine Sequenz, in der der Berater seinerseits die Wichtigkeit eines Arbeitsplatzes bzw. die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Kollegen für das Erlernen der deutschen Sprache betont. Herr Wagner demonstriert daraufhin Sinneinverständnis mit dem Berater und bekundet Entschlossenheit zur Wahrnehmung von Redegelegenheiten bzw. zur Einübung des Deutschen [ich muss (üben) ( ) ich muss üben ich muss viel sprechen viele praktische ende der Aufnahme]. Möglicherweise versucht Herr Wagner hier auch seinem Interesse an einem Arbeitsplatz Nachdruck zu verleihen, indem er darauf anspielt, dass mit dem Innehaben eines Arbeitsplatzes auch Kommunikationsgelegenheiten und -notwendigkeiten bestehen, die die Aneignung der deutschen Sprache erleichtern. 5.3.4 Aspekte der analytischen Abstraktion ln größerer Distanz zu dem kleinschrittigen, sequenziell organisierten Geschehen sollen im Folgenden die markanten und für die Ablauforganisation bestimmenden Gestaltungsleistungen des Beratungsgespräches KEINE WUN- DERREPUBLIK ins Auge gefasst werden. Dabei gilt es auch die sich in dem Fallbeispiel manifestierenden interaktionsstrukturellen Problematiken der Beratungsarbeit mit Aussiedlem herauszuarbeiten. 5.3.4.1 Grundlegende Asymmetrien des Interaktionsarrangements Die Interaktionsanordnung des analysierten Beratungsgesprächs ist durch grundlegende Asymmetrien zwischen den Beteiligten geprägt. Wie in anderen Beratungssettings auch bestehen Divergenzen in den Wissensbeständen der beteiligten Akteure. 191 So hat der Berater bei der Frage, welche Behörde für die Lehrgangsfmanzierung zuständig ist (erstes Anliegen), ebenso Informationsbedarf wie die Klientin. Beim zweiten Anliegen (Widerspruch gegen § 7, 2) ist den Wagners allerdings bekannt, wie gegen den statusrechtlichen Bescheid vorzugehen ist und sie haben auch Kenntnisse darüber, wie eine Widerspruchsargumentation angelegt sein muss; insofern konvergieren in diesem Punkt die Wissensbestände des Beraters und der Klientenpartei; hinsichtlich der Begründungsmöglichkeiten ihres Widerspruchs verfügen sie sogar über umfassendere Kenntnisse als der Berater. Jedoch sind die Wag- 191 Ausführlicher zum interaktiven Umgang mit Wissens- und Perspektivendivergenzen in Beratungsgesprächen vgl. Schröder (1994). <?page no="253"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 253 ners auf Herrn Stierles Kooperationsbereitschaft und insbesondere auf seine Mitwirkung beim schriftlichen Verfassen des Widerspruchs angewiesen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen den Beratungsakteuren gründet also vor allem in unterschiedlichen Betroffenheitsweisen bzw. in unterschiedlichen Bedingungen des Befasstseins mit den Problemen, die hier zur Sprache gebracht werden. Der existenziellen Betroffenheitsweise der Klientenpartei, die mit Verunsicherungen, Handlungshemmungen oder Handlungsohnmacht, mit Gefühlen des Enttäuschtseins, der Verärgerung, der Besorgnis und Angst einhergehen kann, steht die Betroffenheitsweise eines helfenden Dritten gegenüber, der sich der Klientenprobleme im Rahmen einer Mitgliedschaftsrolle in einem Wohlfahrtsverband und in Orientierung an rechtlichen und anderen vorgegebenen Bearbeitungsbedingungen widmet. In dem vorliegenden Fall hat das asymmetrische Verhältnis eine Vorgeschichte. Das bedeutet, dass es bestimmte Problematiken gibt, über die die Klientenpartei und der Professionelle bereits miteinander verbunden sind. Diese Problematiken betreffen Lebens- und Interessensbereiche, die nach der Einreise in Deutschland von hoher Dringlichkeit für die Betroffenen sind. In der gemeinsamen Interaktionsgeschichte hat der Professionelle sich bereits als „Türöffner“ zum Arbeitsmarkt und zum beruflichen Ausbildungssystem betätigt. Auch hat er schon wichtige Dienste bei der Durchführung von Einbürgerungsangelegenheiten übernommen und sich dabei als Bündnispartner des Klientenpaares erwiesen. Zur Bewältigung der Problematiken, die in dem Beratungsgespräch thematisiert werden (berufliche Qualifizierung, statusrechtliche Anerkennung, Arbeitsplatzbeschaffung), ist die Klientenpartei zwar selbst auch aktiv gewesen, zur Realisierung aktuell verfolgter Pläne (Lehrgangsteilnahme, Widerspruch gegen Anerkennungsbescheid, Vermittlung einer Arbeitsstelle) ist sie aber auf die Mitwirkung des Beraters angewiesen. Im Interaktionsvollzug realisiert sich die zwischen den Beratungsakteuren bestehende Asymmetrie vor allem darin, dass der Berater Steuerungs- und Kontrollkompetenzen über das Situationsgeschehen und Kompetenzen zur Definition von Bearbeitungsfähigkeit bzw. Bearbeitungswürdigkeit von Anliegen der Klientenpartei inne hat und diese situationsstrukturierend einsetzt. Die Art und Weise, in der er von dieser Kompetenz anfangs Gebrauch macht (siehe die präjudizielle Fallbeurteilung in Kap. 5.3.3.4) verhindert, dass das Lösungswissen, das die Klientenpartei dem Berater voraus hat (Kenntnisse, die sie aus einem Publikationsorgan der Landsmannschaft bezogen hat), <?page no="254"?> 254 Aussiedler treffen aufEinheimische zügig in die Problembearbeitung einfließen kann. Auch greift der Berater zu Gesprächsstrategien, die die Entfaltung der Klientenperspektive erschweren. Die Asymmetrie der Beratungssituation wird dadurch verschärft, dass dem Aussiedlerehepaar die deutsche Sprache als Verständigungsgrundlage auferlegt ist. Die Klientenpartei steht unter dem Zwang, sich in einer Sprache verständlich machen zu müssen, die sie auf relativ niedrigem Lernemiveau beherrscht. Dies trifft besonders krass auf den vom anerkennungsrechtlichen Problem betroffenen Ehemann zu. Ob und in welchem Ausmaß die Verwendung der Sprache, in der sich die Klientenpartei nicht routiniert und nicht sicher ausdrücken kann, zur Belastung für das Kooperationsverhältnis wird, hängt unter solchen Bedingungen entscheidend vom Professionellen ab. Er wird unter diesen Bedingungen zu einem Interaktionsgegenüber, das den gemeinten Sinn bzw. die Handlungsintentionen der Klientenpartei aus fragmentarischen Äußerungsteilen und Behelfsausdrücken erschließen muss. Für die Klientenpartei ergibt sich daraus eine Abhängigkeit von der Bereitschaft und Fähigkeit des Beraters, interpretative Leistungen zu erbringen, die die sprachlichen Äußerungen der Klienten in ihrem Sinne zu verstehen suchen. Nur so können Verständigungsbarrieren überwunden werden und nur wenn der Berater willens ist, solche interpretativen Leistungen zu erbringen, hat die Klientenpartei Chancen, die professionellen Problembearbeitungskompetenzen für sich ausschöpfen zu können. 5.3.4.2 Kommunikative Gesamtformung Der Umstand, dass die aktuelle Gesprächssituation an bereits etablierte Kooperationsstrukturen anknüpfen kann, ist prägend für die Gesamtformung des Beratungsgesprächs KEINE WUNDERREPUBLIK. Das Vorwissen des Beraters über die Angelegenheiten der Wagners versetzt ihn in die Lage, mit dem ersten und dritten Anliegen (Kostenträger der Lehrgangsteilnahme, Nachfrage nach dem in Aussicht gestellten Arbeitsplatz) im Stile eines zügigen Zur- Sache-Kommens umzugehen. Hier lassen sich Aktivitätsfolgen beobachten, die nach Prinzipien konditional programmierten Handelns (Luhmann 1964) aufeinander bezogen sind. Auch der Einstieg in die Bearbeitung des zweiten Problems (Widerspruch gegen § 7, 2) folgt zunächst dieser Handlungslogik, jedoch erweist sich hier das beraterische Vorinformiertsein als kontraproduktiv für die Problembearbeitung. Die Verlaufsgestalt des längeren Gesprächsabschnitts, in dem es um den Widerspruch gegen den ungünstigen Einbürge- <?page no="255"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 255 rungsbescheid geht, ist geprägt von Aushandlungsaktivitäten, bei denen es um die Einbeziehung dieses Problems in das bestehende Arbeitsbündnis geht. Entscheidende interaktionsstrukturelle Bedingungen für das Aushandlungsgeschehen um das zweite Anliegen der Wagners werden mit dem präjudiziellen Verarbeitungsschritt des Beraters gesetzt. Seine vorschnelle Chancenbeurteilung der klientenseitig angestrebten Problemlösungsstrategie verhindert eine umsichtige und systematische Rekonstruktion des Problems, desgleichen verhindert sie einen geordneten Einstieg in Absprachen über mögliche Beteiligungen des Beraters an der Lösungsstrategie. Die Chancenbeurteilung stützt sich auf bereits vorhandene Fallkenntnisse; aufgrund dieses Vorwissens hält es der Professionelle für unnötig, eine systematische, auf vollständige Rekonstruktion des Problemsachverhalts und seiner Lösungsbedingungen bzw. eine auf Chancenauslotung bedachte Aufnahme von Falldaten vorzunehmen. Dieser präjudizielle Verarbeitungsschritt ist prägend für das weitere kommunikative Geschehen; der Berater engt damit Aushandlungsspielräume ein, und er führt das Gespräch stellenweise so, als wäre die Durchsetzung seines Präjudizes vorrangiges handlungsschematisches Erfordernis. Für die weitere Charakterisierung der kommunikativen Gesamtformung stelle ich das in diesem Aushandlungsgeschehen beobachtbare Argumentationsverhalten der Interaktionsparteien in den Vordergrund. Zum Argumentationsverhalten des Beraters Bis zu jenem Punkt, an dem der Berater echte Unterstützungsbereitschaft für das neue Anliegen zeigt (wie gesehen wird dieser Aushandlungsstand erreicht, nachdem die Wagners von sich aus Begründungsmöglichkeiten für den abzufassenden Widerspruch aufgezeigt haben), lassen sich zwei Strategien unterscheiden: eine Argumentation (a) der Pro-forma-Annäherung sowie (b) die Fokussierung des Problemkems und der Problemverantwortlichkeit. Zu (a): Eine Pro-forma-Annäherung vollzieht der Berater in Äußerungsformaten, die in das Klientenanliegen einwilligen und zugleich Argumentationspotenzial aufscheinen lassen, das gegen eine weitere Verfolgung dieses Anliegens spricht. Diese Argumentationsweise praktiziert der Berater an jenen Stellen, an denen er den Wagners ambivalente Bearbeitungszusagen macht [siehe beispielsweise ich kann sagen versuchen sie *2,5* machen sie ein Widerspruch wa * nur ich sag ich weiß auch nicht <?page no="256"?> 256 Aussiedler treffen aufEinheimische wie der gehen soll; Z. 207-210; siehe auch die prinzipielle Chanceneinräumung und die halbherzige Befürwortung des Widerspruchsvorhabens, nachdem Herr Stierle von der Existenz einer positiven Chancenbeurteilung erfahren hat]. Nach dem Aufweis der externen Chancenbeurteilung revidiert der Berater seine ursprüngliche Problemdefmition. Er räumt der Erfolgsprognose einer externen Instanz der Prognose, die für die Klientenpartei orientierungsleitend ist prinzipielle Berechtigung ein. So nähert er sich zwar dem Standpunkt der Klientenpartei an, jedoch in einer Form, bei der Geltungsansprüche seiner ursprünglichen Problemsicht gewahrt bleiben. Es findet Einwilligung in Absichten der Klientenpartei statt, ohne dass es zu einer tatsächlichen Umorientierung in der beraterischen Problemsicht kommt. Bei der Pro-forma-Annäherung macht der Berater Bearbeitungszusagen nach dem Muster ‘Ich mache das für sie, glaube aber nicht, dass es ihnen helfen wird’. Er vollzieht eine Annäherung an den Interaktionsstandpunkt der Klientenpartei, ohne damit wirklich einen neuen Arbeitskonsens herzustellen. Auf dem Wege der Pro-forma-Annäherung gelingt es ihm, Imagerisiken seiner Rolle als professioneller Helfer zu reduzieren und Kooperativität zu demonstrieren, obwohl er selbst noch Bedenken gegenüber dem Widerspruchsvorhaben der Wagners hat. Er macht sich den Präsentationsstil des kooperativen Helfers zu eigen, ohne wirklich bearbeitungsbereit bzw. vom Erfolg der anvisierten Lösungsstrategie überzeugt zu sein. Der Berater ist bezogen auf das Anliegen der Klientenpartei unkooperativ, er agiert aber im Gewände des um Kooperation und Hilfeleistung Bemühten. Zu (b), Fokussierung des Problemkems und der Problemverantwortlichkeit: Dieses Argumentationsverhalten zeigt der Berater in Reaktion auf problemerweitemde und themenexpandierende Züge der Klientenpartei. Herr Stierle wendet es in jenen Interaktionszusammenhängen an, in denen Frau Wagner bildlich gesprochen schweres Geschütz auffährt (siehe Kap. 5.3.3.5). Er reagiert damit aufjene Klientenäußerungen, durch die seine Hilfsbereitschaft als Professioneller in Frage gestellt wird, sowie auf jene Äußerungen, in denen Frau Wagner Enttäuschungen und Unmut über das Einbürgerungsprocedere bekundet und zeigt es auch dort, wo die Klientenpartei bemüht ist, Begründungspotenziale für einen Widerspruch aufzuzeigen. Die Fokussierungsaktivitäten des Beraters dienen dazu, über Unbekanntes aufzuklären, falsch Verstandenes zu berichtigen und in Vergessenheit Geratenes als Elemente gemeinsamen Wissens zu festigen. Der Berater argumentiert dabei im <?page no="257"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 257 Stile des Aufzeigens ‘richtiger’ und ‘maßgeblicher’ Situationsdefinitionen. Auf diesem Wege vergegenwärtigt Herr Stierle nicht nur Bearbeitungsbedingungen des Klientenproblems und definiert nicht nur den relevanten Problemkern. Herr Stierle präsentiert sich so auch als Helfer, der in verantwortungsbewusster und professionell stimmiger Weise mit den Einbürgerungsangelegenheiten der Wagners umgeht. Die Gesprächsaktivitäten, in denen Herr Stierle Fokussierungen des Problemkerns vomimmt, baut er zu Aktivitäten aus, in denen es um Aspekte der Problemgenese geht. Bei diesen fokuserweitemden Thematisierungen steht die Verantwortlichkeit der Klientenpartei für das Problem, mit dem sie es aktuell zu tun hat (keine Anerkennung nach § 4), im Vordergrund. Der Berater nimmt dabei Handlungsweisen bzw. Unterlassungen ins Visier, durch die das Problem, das die Wagners mit seiner Hilfe angehen wollen, aufgekommen ist. Verantwortlichmachung wird in solchen Interaktionszusammenhängen als Ressource der Aussiedlerberatung verwendet, in denen Schwierigkeiten im Anerkennungsverfahren - und allgemein auch im Eingliederungsprozess thematisch werden. Im Beratungskontext leisten solche Strategien der Verantwortlichmachung zweierlei: - Sie weisen Grenzen und Erfolgsunsicherheiten des professionellen Engagements als naturwüchsigen (nicht-abweisbaren) Bestandteil des Arbeitsbündnisses aus. - Sie konfrontieren den Problembetroffenen mit einer nonnativ-moralischen Perspektive, in der Bestandteile seiner Biografie als inakzeptable und problematische Sachverhalte erscheinen.“ Zu den hier unterschiedenen Argumentationsweisen des Beraters ist zusammenfassend anzumerken, dass sie charakteristisch für ein Argumentieren sind, bei dem auf Ausgangspositionen beharrt und der Kontrahent hingehalten wird. Generell ist dieses Argumentationsverhalten in der Kommunikation zwischen Professionellen und Klienten funktional für die Abwehr von Hilfeerwartungen und von klientenseitigen Bearbeitungszumutungen. Im untersuchten Fallbeispiel verhindern bzw. erschweren sie thematische Neufokussierungen des Klientenproblems. Allerdings bleibt Herr Stierle durchaus offen für die klientenseitige Einbringung neuer Gesichtspunkte. 192 Siehe auch die Ausführungen zur absoluten Aussiedlungsmoral in Kap. 5.3.4.4. <?page no="258"?> 258 Aussiedler treffen aufEinheimische Zum Argumentationsverhalten der Klientenpartei Bei der Behandlung des zweiten Anliegens wird das Beratungsgespräch für die Wagners zu einer harten Auseinandersetzung mit dem professionellen Helfer. Nur durch besondere kommunikative Anstrengungen ist es ihnen möglich, ihre Interessen gegenüber Herrn Stierle zu behaupten. Schon bei Einnahme der präjudiziellen Bearbeitungsperspektive durch den Berater besteht für die Wagners das Risiko, mit ihrem Anliegen, Widerspruch gegen den anerkennungsrechtlichen Bescheid einzulegen, zu scheitern, wenn sie seiner Fallbeurteilung nichts entgegensetzen können. Dies gelingt ihnen erfolgreich unter Bezugnahme auf eine Instanz (die Mitarbeiterin der Einbürgerungsbehörde), die auch für den Berater Maßgeblichkeit besitzt. Der Hinweis auf die alternative Chancenbeurteilung veranlasst den Berater verblüffend rasch dazu, seine gerade vorgenommene Fallbeurteilung zu revidieren. Im weiteren Verlauf des Gespräches greift der Berater verschiedentlich zu Strategien der Beendigung des Handlungsschemas (Verwendung von Floskeln, die Aktivitätsabschlüsse ankündigen). 193 Auch an diesen Stellen greift die Klientenpartei zu Aktivitätsformen, mit denen der handlungsschematische Aktivitätsstrang in Gang gehalten werden kann. An dem von der Klientenpartei initiierten Eintritt in eine neue Materialerzeugungsphase 194 manifestiert sich, dass die handlungsschematischen Komponenten „Problempräsentation“ und „Entwickeln einer Problemsicht“ noch nicht so bearbeitet werden konnten, dass ein tragfähiger Arbeitskonsens gegeben wäre. Während der Berater auf rasche Beendigung dieser Schemakomponenten hinarbeitet, versucht sich die Klientenpartei gegen die damit anvisierte Abwehr ihres Anliegens zu behaupten, indem sie neue Aspektuali- 193 Zur Organisation von Abschlüssen des Sachverhaltsschemas der Argumentation siehe Schütze (1978, S. 71); dort wird gezeigt, dass zum Abschluss des Argumentationsschemas in Verhandlungen zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (KDV-Verfahren vor dem Verwaltungsgericht) Floskeln eingesetzt werden, die gewöhnlich als Floor Offering Devices (Schegloff/ Sacks 1973) fungieren. 194 Diesen Begriff verwendet Schütze (1978) für die Einbringung biografisch relevanter Gesichtspunkte von Verfahrensbetroffenen (die Darstellung der eigenen Biografie und innerer Vorgänge wird in der Materialverarbeitungsphase des KDV-Verfahrens dann zur Grundlage der Gewissensprüfung). Auch Frau Wagner setzt eine neue Materialerzeugungsphase in Gang, indem sie die Behauptung aufstellt, dass in der Einbürgerungsadministration etwas verwechselt wurde (vgl. Kap. 5.3.3.5). <?page no="259"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 259 sierungen ihrer Problembetroffenheit vornimmt: Sie erweitert die Problempräsentation, indem sie Orientierungsprobleme gegenüber institutionellen Abläufen aufdeckt, indem sie Unmutsbekundungen und subjektive Deutungen zu Tatbeständen, die im Einbürgerungsprocedere geschaffen wurden, vomimmt. Frau Wagner setzt sich gegen die abkürzende und präjudizielle Bearbeitungsstrategie mit Mitteln szenischer Problempräsentation zur Wehr. Womöglich sieht sich die Klientin dazu veranlasst, zu solchen Mitteln der Interaktionssteuerung zu greifen, weil der präjudizielle Bearbeitungsstil des Beraters bei ihr den Eindruck erweckt hat, dass dieser sich rigider verhält als die Mitarbeiterin der Eingliederungsbehörde. Auch gegen die Versuche des Beraters, die Verantwortlichkeit für das anerkennungsrechtliche Problem dem Ehemann von Frau Wagner zuzuschreiben, setzt sich die Klientin zur Wehr, indem sie Sozialisations- und Arbeitsbedingungen ihres Mannes ins Feld führt. Die neuen Gesichtspunkte, die Frau Wagner einbringt, machen den Berater zunehmend ungehaltener, zumal er sich aufgrund der gesetzten Abschlusssignale an einer anderen handlungsschematischen Entwicklung zu orientieren scheint. Die Beobachtungen zu diesem Beratungsgespräch lassen die Vermutung aufkommen, dass ohne das hartnäckige und geschickte Agieren der Klientin und ohne Mobilisierung eigener Wissenskompetenzen ein anderer Ausgang, nämlich die Zurückweisung des Klientenanliegens, wahrscheinlich gewesen wäre. Die Gesprächsstrategien, mit denen die Klientenpartei sich gegen den präjudiziellen Verarbeitungsstil zur Wehr setzt, sind auf Expertentum und Flelferethos des Beraters gerichtet und bedienen sich insofern argumentativer Ressourcen, die sehr stark auf die Beteiligungsrolle des Professionellen einwirken. Es kommt ein Argumentieren in Gang, bei dem die Klientenpartei die präjudizielle Fallaufnahme unterläuft, und zwar mittels Gegenbehauptungen, die sich aus anderen professionellen Wissensquellen speisen (dass das Präjudiz des Beraters nicht haltbar ist, wird durch Aufweis einer Fallbeurteilung einer anderen Professionellen demonstriert); mit Äußerungen, die die Solidarisierungsbereitschaft und Dienstbarkeit des Professionellen in Zweifel ziehen (die Klientenpartei greift Expertenstatus und Helferethos des Professionellen in Äußerungsformen verrin- <?page no="260"?> 260 Aussiedler treffen aufEinheimische gerter Verantwortung 195 an, ferner markiert sie Verstöße gegen Gleichbehandlungsgrundsätze); mit Äußerungen, die die Belastungen, Orientierungsunsicherheiten, Enttäuschungen und Verstehensschwierigkeiten thematisieren, die das Einbürgerungsprocedere bei den Betroffenen hervorruft (dieses Äußerungsverhalten hält Plausibilisierungs- und Erklärungszwänge für den Berater aufrecht und es appelliert an elementare Verpflichtungen des Eieiferarrangements). 196 Das Beratungsgespräch KEINE WUNDERREPUBLIK dokumentiert zwar wie sich insbesondere Frau Wagner gegen den präjudiziellen Bearbeitungsgang und auch gegen die Verantwortlichmachung für das anerkennungsrechtliche Problem behauptet, es enthält aber keine Elinweise darauf, in welchen Lernprozessen und biografischen Erfahrungszusammenhängen sie sich dieses Durchsetzungsvermögen gegenüber der professionellen Abwehr- und Vorwurfshaltung aneignen konnte. Denkbar ist, dass hier Handlungskompetenzen durchschlagen, die in Auseinandersetzungen mit der Bürokratie im Herkunftsland entwickelt wurden; denkbar ist aber ebenso gut, dass diese Kompetenzen mit der Absolvierung des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens und mit Erfahrungen in den bundesdeutschen Behörden erworben wurden (für eine Klärung der Frage nach den biografischen Erwerbsbedingungen solcher Kompetenzen wären andere als die von mir verwendeten Datenmaterialien erforderlich, etwa solche, die mit narrativ-biografischen Interviews gewonnen werden können). 195 Gemeint ist hier jene Passage, in der Frau Wagner unter Berufung auf Frau Stem, die Behördenmitarbeiterin, Empörung über mangelnde Hilfebereitschaft des Beraters bekundet, siehe Z. 216-219 im Transkript (Kap. 5.3.3.5). Setzt sich ein Sprecher „vom Inhalt seiner Worte ab, indem er ausdrückt, daß sie nicht von ihm, oder von ihm in irgendeinem ernsthaften Sinne, gesprochen worden seien“, handelt es sich um ein Sprechen verringerter Verantwortung für das Gesagte (vgl. Goffman 1980, S. 549). 196 Von der Klientenpartei wird die Schemakomponente „Problempräsentation“ mit elementaren und daher effektiven Strategien in Gang gehalten, indem sie beratungskonstitutive Asymmetrien in den Wissensbeständen und in der Betroffenheitsweise anführt (zum interaktiven Umgang mit beratungskonstitutiven Asymmetrien bei der Aushandlung des Problems vgl. Nothdurft 1984). <?page no="261"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 261 5.3.4.3 Beeinträchtigung von Kooperativität und Störungen der Reziprozitätsordnung im Helferarrangement Das Beratungsgespräch KEINE WUNDERREPUBLIK ist ein Interaktionsereignis, in dem es durch strukturelle Bedingungen, die der Berater für die Beteiligungsmöglichkeiten der Klientenpartei setzt, zu Störungen der Reziprozitätsgrundlagen im Helferarrangement kommt. Symptomatisch hierfür sind Unordnungserscheinungen auf der Ebene der Gesprächsorganisation. Herr Stierle zeigt Argumentationspotenziale gegen das Widerspruchsvorhaben an Stellen auf, an denen es seinen eigentlichen Aufgaben als professioneller Helfer zuwiderläuft. Und er platziert Bearbeitungszusagen so, dass die Klientenpartei hierauf schlecht reagieren kann. Normalformvorstellungen 197 von Kommunikation zwischen Professionellen und Klienten folgend müsste dies in Form von Adjacency Pairs geschehen, in der Form also, dass ein Äußerungsteil des Professionellen Klientenäußerungen evoziert, die der Progression der Problembearbeitung förderlich sind (wie etwa Frage- Antwort-Sequenzen, in denen Klientenanliegen und Vorstellungen von der Lösung des Problems vollständig entwickelt werden). Genau dies - Interaktionsgestaltung mittels angrenzender Paarteile wird durch Bearbeitungszusagen, denen die Bekundung eigener professioneller Zweifel am Bearbeitungserfolg angehängt wird, erschwert. Den Formaten ambivalenter Bearbeitungszusagen haften insofern Momente des Unkooperativen an, als sie die Entfaltung der Klientenperspektive erschweren. Denn mit diesen Äußerungsformaten kommt ein Sequenzierungsmechanismus zum Tragen, der es der Klientenpartei schwer macht, auf den Äußerungsteil zu reagieren, der die Bearbeitungszusage enthält; stattdessen gerät sie unter den Druck, auf pauschale Behauptungen über die Chan- 197 Das Konzept der Normalformen geht zurück auf Cicourel, der davon ausgeht, dass der Aufbau von Reziprozitätsstrukturen in Interaktionssituationen „die Existenz bestimmter Normalformen akzeptabler Rede und Erscheinungen [voraussetzt, U.R.], auf die sich Mitglieder einer Gesellschaft stützen, um ihrer Umwelt einen Sinn zuzuordnen“ (1975, S. 33). Auf Normalformvorstellungen bzw. auf das, was als jedermann bekannt vorausgesetzt werden kann, nehmen Interaktionsbeteiligte Bezug, um aufgetretene Reziprozitätsstörungen zu normalisieren. Mittlerweile findet das Konzept der Normalformen nicht nur Anwendung auf alltagsweltliches Jedermann-Wissen, sondern auch auf institutionell bzw. Professionell gebundenes Sonderwissen (ausführlicher hierzu Kallmeyer/ Schmitt 1996, S. 32). <?page no="262"?> 262 Aussiedler treffen aufEinheimische cenlosigkeit ihres Vorhabens reagieren zu müssen. Die sich dadurch einstellenden Brüche in der konversationellen Synchronisation 198 lassen sich als Indizien für beeinträchtigte Kooperationsverhältnisse ansehen. Zu Störungen der Reziprozitätsordnung kommt es insbesondere in den Gesprächszusammenhängen, in denen Frau Wagner zu den schlechten Deutschkenntnissen ihres Mannes Stellung nimmt (siehe Kap. 5.3.3.6 und 5.3.3.7). Ihre Bemühungen, persönliche Defizite und familiengeschichtlich bedingte Schwierigkeiten des Deutscherwerbs zu erklären, werden vom Berater nicht bloß als Klientenverhalten behandelt, das wenig sachdienlich ist, sie werden auch als Ausdruck einer kulturell defizitären Identität gewertet. Die nachträglichen Erklärungsbemühungen von Frau Wagner sind für Herrn Stierle deshalb inadäquates Teilnehmerverhalten, weil er die systematische und vollständige Zusammenstellung von Begründungen für den Widerspruch zu einem gesondert anzuberaumenden Termin vornehmen will. In den nachträglichen Erklärungsbemühungen sieht der Berater aber auch ein Verkennen der eigenen Verantwortlichkeit für die Misere, in der sich die Wagners befinden. Und die prinzipiellen Bestrebungen der Wagners, gegen die Statusanerkennung nach § 7, 2 Vorgehen zu wollen, sind für ihn Reparaturversuche, die nachbessern sollen, was durch Fehleinschätzungen und Fehlverhalten der Betroffenen erst problematisch geworden ist. Daher die Belehrung, dass Deutschland keine Wunderrepublik ist. Die im Fallbeispiel KEINE WUNDERREPUBLIK beobachtbaren Verletzungen der Interaktionsreziprozität sind hauptsächlich Resultat von Steuerungsbemühungen des aktuellen Geschehens, die in Zwängen und Routinen professioneller Effektivitätsorientierung gründen. Die unkooperativen Momente im Bearbeitungsstil des Beraters müssen von der Klientenpartei mittels eigener 198 Synchronisation von Interaktionsbeiträgen ist konstitutives Erfordernis kooperativer Kommunikation. Der Begriff „konversationeile Synchronisation“ bezieht sich auf das Verhältnis der interaktiven Kontextualisierungsleistungen, die Interaktionsbeteiligte vollziehen. „Konversationelle Synchronisation kann als Ergebnis übereinstimmender Kontextualisierungskonventionen beschrieben werden.“ (Keim/ Schmitt 1993, S. 148). Solche Synchronisationsvorgänge können im sprachlichen Ausdrucksverhalten und in thematischen Steuerungsinitiativen ebenso beobachtet werden wie im gestisch-mimischen Ausdrucksverhalten oder an der Körperhaltung. Mängel in der konversationeilen Synchronisation indizieren stets Störungen im Kooperationsgefüge der Kommunikationsbeteiligten (vgl. Keim/ Schmitt 1993). <?page no="263"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 263 Thematisierangsinitiativen, mittels szenischer Problempräsentationen, in denen Frau Wagner teils insistierende, teils emotionale Widerstandshaltungen gegen die präjudizielle Bearbeitungsperspektive des Beraters einnimmt, aufgebrochen werden. Gelegenheit zur Einbringung von Wissensbeständen, die den Berater zu einer revidierten Problemsicht und damit zur weiteren Kooperation mit der Klientenpartei befähigen, muss sich Frau Wagner gegen die verfestigte Problemsicht von Herrn Stierle erarbeiten. 5.3.4.4 Das Durchschlagen hoheitsstaatlicher Aufgabenwahmehmung auf die Interaktionsmodalität der Aussiedlerberatung Alle drei Anliegen, die im ausgewählten Fallbeispiel behandelt werden, tangieren Belange hoheitsstaatlicher Aufgabenwahmehmung. Bei dem ersten Anliegen (Regelung der Ausbildungsfmanziemng) und auch bei dem zuletzt behandelten (Nachfrage nach einem Arbeitsplatz) geht es um Zugänge zum Arbeitsmarkt. Die Beratungsprozesse sind hier bezogen auf Problematiken der strukturellen Integration, auf jene Sphäre gesellschaftlicher Integration also, die durch Partizipation an sozialen Gütern wie Arbeit, Bildung, Wohnen usw. bestimmt ist. Das Institut der Aussiedlerberatung hat ein Mandat 199 zur Unterstützung der in dieser Sphäre ablaufenden Integrationsprozesse inne. In der Wahrnehmung dieses Mandats realisieren sich immer auch hoheitsstaatliche Interessen an Steuerung und Förderung der Integration von Aussiedlern. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Verkoppelung von Beratungsdiensten mit Belangen hoheitsstaatlicher Aufgabenwahmehmung nicht sonderlich von der Beratungsarbeit anderer Sozialdienste. 200 In Belan- 199 „Eine Profession sieht sich im Besitz eines gesellschaftlichen Mandats zur Verrichtung besonderer Leistungen der Problembewältigung und zur Verwaltung ihr übertragener besonderer gesellschaftlicher Werte wie Gesundheit, Mehrung des gesellschaftlichen und privaten Reichtums, sozialer Wohlfahrt, technischer Problemlösung und Beherrschbarkeit usw. (...). Sie erhält von der Gesellschaft die Lizenz, dem betroffenen Klienten, Patienten, Schüler, Kunden, Abnehmer im Interesse der von ihm gesuchten und geschätzten Dienstleistung Unannehmlichkeiten, Schmerz und/ oder begrenzten Schaden zuzufügen, deren Abwägung mit Vorteilen der Dienstleistung oftmals problematisch ist.“ (Schütze 1996, S. 191). Zu den Begriffen „Mandat“ und „Lizenz“ siehe auch Hughes (1984, S. 287-292). 200 Zur Einbeziehung der Sozialwesen-Professionellen in hoheitsstaatliches Verwaltungshandeln generell sowie zur Wirksamkeit hoheitsstaatlicher Herrschaftsfunktionen im professionellen Handeln vgl. Schütze (1996). <?page no="264"?> 264 Aussiedler treffen aufEinheimische gen hoheitsstaatlicher Aufgabenwahrnehmung ist die Aussiedlerberatung aber noch enger eingebunden, nämlich dadurch, dass eine spezifisch hoheitsstaatliche Steuerungsmaßnahme (das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren für Aussiedler) selbst zum Beratungsgegenstand wird. In nicht unerheblichem Maße ist das Institut der Aussiedlerberatung ein Vermittlungs- und Anwendungskontext einbürgerungsrechtlicher Regularien. Diese Verknüpfungen mit Entscheidungsprozessen über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen sind folgenreich für die Interaktionsmodalität der Aussiedlerberatung. Wie sich der enge Bezug der Beratungsarbeit auf das hoheitsstaatlich initiierte und kontrollierte Verfahren der statusrechtlichen Anerkennung von Volkszugehörigkeit auf kommunikative Präsenz, interaktive Strategien und Handlungsmethodik der Beratungsakteure niederschlägt, sei im Folgenden herausgearbeitet. Klientenhandeln in der Logik des Anerkennungsverfahrens: das Wirksamwerden zwangskommunikativer Momente Wie der Orientierungsbezug auf das Anerkennungsverfahren bei den Betroffenen selbst interaktionsrelevant wird, wie die Klientenpartei insbesondere im Bewusstsein um die dokumentarische Bedeutsamkeit ihrer kommunikativen Präsenz dem Berater gegenübertritt, lässt sich im vorliegenden Fallbeispiel an den Aktivitäten des Klientenpaares verfolgen, die Herrn Wagner als Sprecher in eigener Sache etablieren. Die Klientenpartei agiert unter dem Druck, dem Berater unmittelbar zu demonstrieren, dass das so wichtige Bestätigungsmerkmal „Beherrschung der deutschen Sprache“ von Herrn Wagner erfüllt wird. Die Bemühungen der Klientenpartei, in der Face-to-Face-Kommunikation die Beherrschung bzw. Aneignungsbereitschaft der deutschen Sprache als ein evidentes Identitätsmerkmal zu entfalten, machen deutlich, dass der Beratungsprozess von Momenten des Überprüftwerdens überlagert ist. Die Wagners stehen unter dem Druck, dem Berater gewissermaßen Gebrauchsfertigkeiten der deutschen Sprache zu demonstrieren; diese Überzeugungsarbeit muss im Kontext der Aushandlung von Hilfebereitschaft und advokatorischem Engagement des Professionellen geleistet werden. Der Überprüfungskontext des statusrechtlichen Anerkennungsverfahrens strahlt auf die professionelle Beratung aus, obgleich der Berater nicht mit hoheitsstaatlichen Befugnissen ausgestattet ist, und er auch nicht die Instanz ist, die die so genannten Bestätigungsmerkmale rechtswirksam fest- <?page no="265"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 265 stellt. Indem der Berater von der Verfügbarkeit des Bestätigungsmerkmals Sprachbeherrschung überzeugt wird, wachsen die Chancen auf eine Bearbeitungszusage und womöglich auf ein intensiveres Kümmern um die Klientenbelange (so das Kalkül der Klientenpartei). Unterließe es Herr Wagner, selbst zu reden, würde dies mangelnde Beherrschung des Deutschen indizieren. Der Berater würde dadurch in seiner Neigung, das Widerspruchsbegehren als aussichtsloses Unterfangen anzusehen, bestärkt werden. Unter dem Druck, zunächst einmal den Berater vom Vorliegen des geforderten Bestätigungsmerkmals überzeugen zu müssen, bevor dieser einem weitergehenden Arbeitsbündnis zustimmt, werden im Kontext des Beratens somit zwangskommunikative Momente wirksam. 201 Beraterhandeln in der Logik des Anerkennungsverfahrens: (a) der Berater als Quasi-Anwender des Rechtskonstrukts nationaler Zugehörigkeit Wie eng das Beraterhandeln mit der Logik des Anerkennungsverfahrens und den Sinngebungsprämissen der Einbürgerungsbehörden verknüpft ist, lässt sich im Fallbeispiel vor allem an der präjudiziellen Beurteilung des neuen Problems (dem Widerspruchsvorhaben) ablesen. Herrn Stierle fehlt zwar die hoheitsstaatliche Entscheidungsbefugnis, aber er gibt als professioneller Helfer eine Prognose über den Ausgang des Widerspruchsverfahrens. Das höhersymbolische Sinnsystem, 202 an dem die Einbürgerungsadministration 2ui Für Situationen, die unter zwangskommunikativen Bedingungen gestaltet werden, ist u.a. konstitutiv, dass „dem Verfahrensbetroffenen alle Fluchtwege aus den Zugzwängen des Verfahrens und seiner irritierenden Interaktionsstrategien verbaut“ sind. „Weder hat dann der Verfahrensbetroffene die Möglichkeit, sich von den konditioneilen Relevanzen und Zugzwängen des Verfahrens zu distanzieren, noch kann er ohne große Einbußen wichtiger persönlicher Werte sich aus der Interaktion als solcher zurückziehen.“ (Schütze 1978, S. 44). 202 Als höhersymbolische Sinnsysteme gelten Denkgebilde und Wissensbestände aus Sinnwelten, die alltagsweltliche Orientiemngsbezüge überschreiten. Höhersymbolische Sinnsetzungsakte lenken „die Aufmerksamkeit [der Interaktionsbeteiligten, U.R.] von der Sphäre der Sinnzusammenhänge alltagsweltlichen Erlebens, Erleidens und Handelns ... auf einen systematisierten außeralltäglichen Denkzusammenhang“ (Schütze 1987a, S. 1811). Der Begriff geht zurück auf Alfred Schütz, der von „geschlossenen Sinnbezirken“ spricht und darunter Wissenssysteme und Vorstellungsräume fasst, in denen Ereignisse auf andere Weise verstanden werden als in der alltäglichen Existenzwelt (vgl. Schütz 1971, S. 263ff; 343ff). <?page no="266"?> 266 Aussiedler treffen aufEinheimische orientiert ist (das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit), schlägt auf die Interaktionsmodalität der Aussiedlerberatung insofern durch, als der Berater als Quasi-Anwender dieses Sinnsystems agiert (und von den Klienten auch als solcher wahrgenommen wird). Dabei dient der durch das Anerkennungsverfahren vorgegebene Interpretationskontext dazu, Beratungsgegenstände bzw. die Bearbeitungsfähigkeit der Probleme, mit denen Klienten in die Beratungsstellen kommen, zu definieren. Unabhängig von möglicherweise bestehenden Wissensdivergenzen haben Berater und Aussiedler einen gemeinsamen Orientierungsbezug auf das höhersymbolische Sinnsystem, das für die Überprüfung und Feststellung von Volkszugehörigkeit in der Einbürgerungsadministration relevant ist. Dieser gemeinsame Orientierungsbezug auf das Anerkennungsverfahren spannt einen Interpretationskontext auf, in dem Verhaltensbekundungen und Identitätsdokumente von Aussiedlern als relevant für noch bevorstehende Überprüfungs- und Entscheidungssituationen angesehen werden. Der Interpretationskontext nationaler Zugehörigkeit schlägt sich in der Einnahme einer Validierungsperspektive durch den Berater nieder. Dadurch erlangen Verhaltensäußerungen von Aussiedlern mit Blick auf das Anerkennungsverfahren eine dokumentarische Bedeutsamkeit. Eine solche Validierungshaltung wird sprachlich-interaktiv beispielsweise manifest an jener Stelle, an der sich der Berater lobend über das Kommunikationsverhalten von Herrn Wagner, über seine Bemühungen, Fortschritte im Deutschen zu demonstrieren, äußert (siehe Kap. 5.3.3.6). In der Beratungsarbeit macht sich der enge Bezug auf Angelegenheiten des Anerkennungsverfahrens in spezifischen Anforderungen an das professionelle Handeln des Beraters bemerkbar. Es besteht eine pragmatische Notwendigkeit für den Aussiedlerberater, sich an den im Anerkennungsverfahren geltenden Rechtsbestimmungen zu orientieren. Das Rechtskonstrukt nationaler Zugehörigkeit fungiert für ihn als Betriebswissen, 203 auch wenn er selbst keine rechtswirksamen Entscheidungsbefugnisse inne hat. Das höhersymbolische Sinnsystem, um das es in der Einbürgerungsadministration geht, sucht nationale Zugehörigkeit formal zu definieren. Mit diesem Sinnsystem ist der Aussiedlerberater als jemand verbunden, der im vorgeblichen Interesse der 203 Diesen Ausdmck übernehme ich aus Schütze/ Bräu et al. (1996), er wird dort verwendet für die Gebrauchsweise der aus der Wissenschaft entlehnten Bestände höhersymbolischen Wissens im Lehrerhandeln. <?page no="267"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 267 Klienten eine Auseinandersetzung mit diesem Sinnsystem führt, nicht als jemand mit rechtswirksamer Entscheidungsbefugnis. Im Einbürgerungsprocedere ist er positioniert als jemand, der denen, deren Volkszugehörigkeit auf dem Antragswege und im Rahmen eines Feststellungsverfahrens glaubhaft zu machen ist, mit Rat und Tat zur Seite stehen soll. Während die Betroffenen gefordert sind, ihre Biografie auf die Identitätsanforderungen des Anerkennungsverfahrens zu beziehen (etwa bei der Ausfüllung von Anträgen), soll der professionelle Berater dabei mit seinem Betriebswissen behilflich sein. Die Hilfe besteht im Wesentlichen darin, das Wissen verfügbar zu machen, das die Betroffenen benötigen, um dem Ablauf und den formalen Anforderungen des Anerkennungsverfahrens gerecht werden zu können. Mit anderen Worten: Arbeitsrelevanzen und Entscheidungskriterien jener Instanzen, die das Anerkennungsverfahren betreiben, fungieren als Interpretationsfolie für den Umgang mit einschlägigen Problematiken der Klienten. Das Überprüfungs- und Entscheidungshandeln hoheitsstaatlicher Organe wird in chancenabwägenden Beurteilungen des Beraters vorweggenommen; dies begünstigt die Einnnahme der präjudiziellen Arbeitshaltung. Wie das Fallbeispiel schränkt dieser Bearbeitungsstil erkenntnisgenerierende Potenziale von Beratung ein. Zu Beschränkungen der möglichen Erkenntnisfunktion von Beratung kommt es, wenn das Präjudiz dazu eingesetzt wird, die Entfaltung der Klientenperspektive abzublocken und eine detaillierte und erschöpfende Rekonstruktion der besonderen Fallproblematik zu umgehen. Statt individuellem Fallverstehen findet Subsumption unter allgemeine und feststehende Bearbeitungsgesichtspunkte statt. Desgleichen unterbleibt das Nachdenken über Fallentwicklungen, die sich alternativ zum Präjudiz verhalten. Die Hartnäckigkeit, mit der die Wagners sich gegen die präjudizielle Bearbeitungshaltung zu behaupten versuchen, gründet sicherlich auch darin, dass sie von der Validität ihres eigenen Lösungswissens überzeugt sind. Wo den Klienten die Voraussetzungen dafür fehlen, ganz entschieden eigene Lösungsvorstellungen zu verfolgen, könnten entsprechende Gestaltungsinitiativen gänzlich ausbleiben oder könnten erkenntnisproduktive Prozesse gar nicht erst in Gang kommen. Andererseits kann präjudizielle Fallbehandlung die Klärungseffizienz von Beratung steigern, wenn sie dazu eingesetzt wird, zügig - und ohne Einschätzungsfehler zur Sache zu kommen. Oder auch <?page no="268"?> 268 Aussiedler treffen aufEinheimische dann, wenn die Klientenpartei ihrerseits von Fehleinschätzungen hinsichtlich der Bearbeitbarkeit ihrer Probleme geleitet ist. Beraterhandeln in der Logik des Anerkennungsverfahrens: (b) Verarbeitung klientenseitiger Enttäuschungen und Beschwerden in Bezügen der absoluten Aussiedlungsmoral 204 Ein weitere interaktive Notwendigkeit, mit anerkennungsrechtlichen Problemen von Aussiedlem umzugehen, ergibt sich für die Professionellen des Hilfesystems daraus, dass im Zuge des Anerkennungsverfahrens Entscheidungen getroffen und Fakten geschaffen werden, die für die Betroffenen nur schwer zu akzeptieren sind. Hier ist nicht nur an solche Anerkennungsbescheide zu denken, wie Herr Wagner einen bekommen hat, sondern auch an die sozial diskriminierende Behandlungsweise in Behörden sowie an Verfahrensstockungen und an langwierige und für die Klientenpartei undurchsichtige Bearbeitungsgänge. 205 Berater müssen sich dann nicht nur mit weiteren Antragsinitiativen oder rechtsförmigen Gegenmaßnahmen befassen, es resultieren für sie daraus auch besondere interaktive Anforderungen: Bei Durchführung des Handlungsschemas „beraten“ müssen sie oftmals auch J! J Mit dem Begriff der absoluten Moral beziehen sich ethnomethodologisch orientierte Autoren auf Orientierungsbestände von Gesellschaftsmitgliedem, die als kulturelle Maßstäbe für legitimes, erwünschtes, nützliches usw. Verhalten in einer Gesellschaft existent sind. Charakteristisch für Interaktionskontexte, in denen individuell zurechenbare Handlungsweisen unter Legitimierungs- und Bewertungsaspekten auf dem Spiel stehen, ist, dass hochabstrakte Normalformtypisierungen herangezogen werden. Den Betroffenen wird dabei eine Identität unterstellt, die Kontinuität über alle Situationen hinweg wahrt; Identitätszustände und Handlungsweisen werden so losgelöst von lebensweltlichen und situationskonkreten Umständen erfasst. Anstelle eines situativen Selbst wird ein „substanzielles Selbst“ unterstellt. Vor allem gesellschaftliche Kontrollinstanzen unterstellen Betroffenen ein substanzielles Selbst, eine feste Identität, die sie bereits besitzen oder aber erwerben können. Auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen dieses substanziellen Selbst reagieren sie in moralischen Urteilen, wobei diese Urteile Aus- und Einschlussentscheidungen beinhalten. Das Konzept der absoluten Moral geht zurück auf Douglas (1970; 1971), der damit das Phänomen kollektiv geteilter Wertvorstellungen in die ethnomethodologische Untersuchungsperspektive einbezogen hat. Zur Anwendung des Konzepts der absoluten Moral in Gerichtsverfahren vgl. Bohnsack (1973, S. 59ff). 203 Siehe die Klage von Frau Wagner über die lange Wartezeit auf ihren Anerkennungsbescheid. <?page no="269"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 269 mangelnde Einsichtsfähigkeit der Klientenpartei in hoheitsstaatlich gesetzte Bedingungen, - Proteste gegen administrative Zumutungen sowie - Klagen gegen die als ungerecht, fehlerbehaftet usw. empfundenen Entscheidungen bearbeiten. Sofern ein Berater eine administrative Entscheidung oder geltende Rechtsbestimmung selbst bedauert und authentisch das Enttäuschungserleben der Betroffenen teilt, kann dies in entsprechend modalisierten Kommentierungen zum Geltungsanspruch der Sinnwelt des Anerkennungsverfahrens ausgedrückt werden. Denkbar ist auch, dass ein Berater sich solcher Probleme mit einem kommentarlosen Achselzucken oder wortabschneidenden Markierungen von Nichtzuständigkeit und Handlungsohnmacht entledigt. In dem analysierten Fallbeispiel werden diese Verarbeitungsmethoden streckenweise auch vom Berater eingesetzt. Darüber hinaus dokumentiert das Fallbeispiel eine weitere Methode der Verarbeitung von Enttäuschungen, die vom Anerkennungsverfahren ausgehen können: In dem Interaktionskontext, in dem Herr Stierle die Wagners darüber belehrt, dass Fakten in Deutschland schwer umzuwerfen sind, wird auch eine Negativbewertung von Handlungsabsichten der Klientenpartei zum Ausdruck gebracht. Das Problem der Abnahme eines enttäuschenden Anerkennungsbescheides wird im Fallbeispiel bearbeitet, indem der Plan, dagegen Vorgehen zu wollen, als symptomatisch für mitgebrachte defizitäre kulturelle Orientierungen interpretiert und als deplatziertes und inakzeptables Verhalten eingeordnet wird. Dort, wo Herr Stierle darüber aufklärt, dass Deutschland keine Wunderrepublik ist, geht es um die Handlungsrationalität der Betroffenen im Gesamtprozess der Aussiedlung. Der Berater konfrontiert die Klientenpartei mit Normalformvorstellungen, die unterstellen, dass schon vor der Ausreise stringent und rational an der Realisierung der Aussiedlung und an der Schaffung von Voraussetzungen für einen reibungslosen Erwerb des Spätaussiedlerstatus gearbeitet werden kann und muss. Ein Aussiedlungsverhalten mit irrationalen, ideologischen und zwanghaften Momenten wird dabei nicht zugebilligt. Insofern als Herrn Wagner ein substanzielles Selbst unterstellt wird, lässt sich in Anlehnung an Douglas (1970) auch davon sprechen, dass im Kontext der professionellen Aussiedlerberatung eine absolute Aussiedlungsmoral entfaltet wird. <?page no="270"?> 270 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Anwendung abstrakter Normalformtypisierungen auf Verhaltensweisen bzw. Unterlassungen von Aussiedlem zielt auf Klarstellung von Problemverantwortlichkeit und auf Entlastung von professionellen Handlungsverpflichtungen; sie impliziert aber auch moralische Bewertungen des betreffenden Verhaltens. Die auf die Klientenpartei bezogenen Verhaltensbewertungen des Beraters übergehen die biografischen Erfahrungshintergründe und die identitätsformende Lebenswelt der Betroffenen ebenso wie die Schwierigkeiten, die es bereitet, mit diesen Erfahrungsbeständen in einer Übergangssituation weiterzuleben. Das Widerspruchsbegehren wird als Indiz für deplatziertes bzw. dem Realitätsprinzip zuwiderlaufendes Orientierungsverhalten in den Blick genommen, als korrekturbedürftige Verhaltenssymptomatik. Insofern, als dabei Regelbestände aufgezeigt werden, die für die Bewerber um die deutsche Staatsangehörigkeit gelten, kommen der Verarbeitung von Klientenenttäuschungen im Beratungskontext auch Funktionen des Einsozialisierens in die durch das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren gesetzten normativen Anforderungen zu. 5.3.4.5 Fehlerhafter Umgang mit Beratungsantinomien Dadurch, dass Beratungsdienste für Aussiedler mit statusrechtlichen Angelegenheiten befasst sind, kommt folgende grundlegende Antinomie 206 zum Tragen: Vom professionellen Berater wird verlangt, dass er bei der Durchführung des Aufnahme- und Anerkennungsverfahrens aufklärend, unterstützend und im Interesse der Betroffenen tätig ist. Er ist dabei auf Einhaltung und Durchsetzung einbürgerungsrechtlicher Vorschriften verpflichtet. So müssen die Dienst- und Hilfeleistungen des Aussiedlerberaters auch geltenden Rechtbestimmungen und hoheitsstaatlichen Interessen gegenüber den ‘neuen Deutschen’ Rechnung tragen. Der Helferorientierung, zum Wohle und im Interesse der Klienten zu handeln, kann nur unter Beachtung institutioneller Auflagen und Erwartungen nachgegangen werden. Durch beraterische Bearbeitung der Probleme, die Aussiedler in die Beratungsstelle führt, muss auch sichergestellt werden, dass der Einbürgerungsadministration kei- 2(16 Zu Antinomien bzw. Paradoxien in den Sozial- und Lehrerberufen siehe Schütze (1992; 1996) und Schütze/ Bräu et al. (1996) sowie Riemann (1997). Zur Untersuchungsperspektive, die professionelles Handeln hinsichtlich des fehlerhaften Umgangs mit antinomischen Anforderungen problematisiert, siehe auch die professionssoziologischen Arbeiten von Hughes (1984, S. 283-427) sowie Strauss/ Fagerhaugh/ Suczek/ Wiener (1985). <?page no="271"?> Inanspruchnahme des Hilfesystems 271 ne unnötigen Arbeitsbelastungen entstehen und sie nicht mit überflüssigen, weil chancenlosen Anträgen und Verfahren überzogen wird. In der konkreten Gestaltung der Beratungsarbeit sind fehlerhafte Bearbeitungen dieser Antinomie gleichsam vorprogrammiert. Im Fallbeispiel KEINE WUNDER- REPUBLIK lassen sich auf der Ebene der Interaktionsgestaltung folgende fehlerhafte Bearbeitungen dieser Antinomien ausmachen: a) der Verzicht auf kommunikative Aktivitäten geordneter Anliegensrekonstruktion und vervollständigender Falldatenaufnahme sowie b) die Verarbeitung von Willensbekundungen der Klientenpartei als Ausdruck inferiorer und korrekturbedürftiger kultureller Orientierungen. Die Auftretenswahrscheinlichkeit solcher fehlerhaften Bearbeitungen wächst dort, wo Berater sich fraglos mit der absolut-moralischen Sicht auf Aussiedlerbiografien identifizieren. Desgleichen wächst sie dort, wo Aussiedlerberater die Antinomien ihrer Handlungsorientierungen das Hin-und-hergerissen-Sein zwischen advokatorischer Hilfeleistung und hoheitsstaatlicher Aufgabenwahmehmung nicht erkennen und reflektieren. <?page no="273"?> 6. Im Marienhaus - Aussiedler im Schonraum-Milieu und als Adressaten des veranstalteten Eingliederungsdiskurses Bei der Darstellung der Aufnahmebedingungen von Aussiedlem (Kap. 2.) habe ich verschiedene Eingliederungshilfen erwähnt, die der Gesetzgeber vorsieht. In diesem Kapitel befasse ich mich mit einer besonderen Form von Eingliederungshilfe, mit so genannten Aussiedlerseminaren. Es handelt sich dabei um eine Eingliederungsmaßnahme, die kulturelles Lernen und Bildungsarbeit mit Erholungs- und Selbstbesinnungsmöglichkeiten verbindet. Sie soll hier als Veranstaltungsrahmen 20 ' beschrieben werden, in dem Aussiedler auf Einheimische treffen, die ein spezifisches Mandat zur Bearbeitung der Nachaussiedlungssituation innehaben. Am Beispiel des Marienhauses 208 untersuche ich zunächst den institutionell-organisatorischen Rahmen, in dem solche Eingliederungsmaßnahmen durchgeführt werden. Über die Sinnquellen und die Gestaltungsleistungen der Mitarbeiter des Marienhauses hinaus interessieren in diesem Zusammenhang die Beziehungen zu anderen Eingliederungsinstanzen. Ferner soll gezeigt werden, wie die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung mit der Lebenssituation, in der sich die teilnehmenden Aussiedler befinden, verbunden ist (Kap. 6.2-6.6). Im Anschluss daran befasse ich mich mit einer Seminareinheit, in der die Nachaussiedlungssituation zum Thema gemacht wird. Hier zielt die Analyse darauf, herauszuarbeiten, wie diese Lebenslage von den Betroffenen selbst wie 207 Charakteristisch für soziale Veranstaltungen sind weitgehend strakturierte, zeitlich und räumlich festgelegte Handlungsabläufe. „Soziale Veranstaltungen werden von einem typischen Personal betrieben, das nicht nur eine typische Beteiligungsstruktur produziert, sondern ein räumlich, zeitlich und sozial typisches Beziehungsgeflecht ausbilden kann.“ Veranstaltungen zeichnen sich durch besondere szenische Merkmale ein Setting aus; sie bilden „kulturelle Kontexte, sofern sie die Beteiligten durch ihr wechselseitiges kommunikatives Handeln aufeinander beziehen, die für die Zeit dieser Handlungen einen gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit teilen“ (Knoblauch 1995, S. 177f.). 208 Ich wähle zu Anonymisierungszwecken einen Namen für diese Bildungsstätte, der geeignet ist, die konfessionelle Bindung dieses Hauses anzuzeigen. Eine ethnografische Studie über einen Tendenzbetrieb kommt nicht umhin, dessen weltanschauliche Positionierung darzustellen. Gleichwohl habe ich mich um eine Darstellungsform bemüht, die den Anonymisierungsinteressen der Mitarbeiter dieser Einrichtung sowie der Gäste, die ich dort kennen lernen konnte, gerecht wird. <?page no="274"?> 274 Aussiedler treffen aufEinheimische auch vom Eingliederungsprozessor thematisiert und problematisiert wird (Kap. 6.7). Zunächst aber sei in dem nun folgenden Kapitel dargelegt, von welchen Überlegungen ich mich bei der Wahl des Marienhauses als gesellschaftlichem Ort, an dem Aussiedler auf Einheimische treffen, habe leiten lassen. 6.1 Ausgangsorientierungen Aus der langjährigen Bekanntschaft mit dem pädagogischen Leiter der Bildungsstätte wusste ich, dass im Marienhaus Seminare für Aussiedler veranstaltet werden und dass die dort durchgefuhrten Bildungsveranstaltungen im staatlich gelenkten Eingliederungsprozess anzusiedeln sind. Auch wusste ich vom Leiter der Bildungsstätte, dass hier Deutschstämmige aus Polen und aus Russland Zusammenkommen. Aber ich hatte keine genauen Kenntnisse über die Bildungsinhalte, die den Teilnehmern von Aussiedlerseminaren vermittelt werden. Desgleichen hatte ich keine Vorstellung davon, wie diese Inhalte „an den Mann“ bzw. „an die Frau gebracht werden“, davon also, wie die Seminar-Kommunikation mit den ‘Menschen aus der Geschichte’ und ‘aus fremden Welten’" 09 vonstatten geht. Zudem interessierte mich, was außerhalb der Seminarsituationen geschieht und wie die Seminarteilnehmer damit umgehen, dass sie vorübergehend einer Gruppe angehören, in der unterschiedliche Herkunftsländer von Aussiedlem repräsentiert sind. Diese Vorinformationen und offenen Fragen ließen mich das Marienhaus als einen Ort ansehen, der forschungsstrategische Zugänge eröffnet zu Kommunikationsprozessen zwischen Aussiedlem und Einheimischen, die in professioneller Funktion mit den Migranten Zusammentreffen; zur Wirksamkeit der Leitideen und Rationalitätsstrukturen des staatlich gelenkten Eingliederungsprozesses auf der Ebene institutionell-organisatorischen Handelns; zu Wahmehmungs- und Annäherungsprozessen zwischen Aussiedlem aus Polen und aus Russland (ich ging davon aus, dass je nach Herkunftsland unterschiedliche kollektive Identitätskonzeptionen existieren, die Solidarisierungsprozesse zwischen polendeutschen und russlanddeut- "° 9 Ich lehne mich hier an Typisierungen an, die das pädagogische Personal in Gesprächen mit mir verwendete. <?page no="275"?> Im Schonraum-Milieu 275 sehen Aussiedlern erschweren und die die Herausbildung einer verbindenden, auf Gemeinsamkeiten der Lebenslage bezogenen Wir-Konzeption deutschstämmiger Zuwanderer verhindern). Auf der Grundlage eines allgemeinen Vorwissens über die Bildungsarbeit im Marienhaus interessierte ich mich auch dafür, wie das biografische Erleben der Aussiedlung und die Bewältigung des Kulturwechsels in den Seminaraktivitäten präsent sind und thematisch bearbeitet werden, wie also die Bildungsveranstaltung mit der biografischen Situation der Seminarteilnehmer verknüpft wird. Mein besonderes Augenmerk galt solchen Situationen, in denen es zu Selbstthematisierungen und zu selbstreflexiven Auseinandersetzungen mit der Lebenslage nach der Aussiedlung kommt. Von den in solchen Situationen ablaufenden kommunikativen Prozessen erhoffte ich mir Aufschlüsse darüber, wie die biografische Situation nach der Aussiedlung in den Blick genommen wird, und zwar von den Betroffenen selbst wie von denen, die sie in professioneller Funktion in die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik einsozialisieren wollen. 6.2 Der Veranstaltungsrahmen Das Marienhaus ist eine Einrichtung der Erwachsenenbildung, die als Heimvolkshochschule betrieben wird, d.h., dass Seminarteilnehmer für die Dauer der Bildungsveranstaltungen dort untergebracht sind und von einer hauseigenen Küche verpflegt werden. 210 Seinen Sitz hat das Marienhaus in einer Kleinstadt. Es handelt sich bei dieser Bildungsstätte um eine Einrichtung, die sich in Trägerschaft der katholischen Kirche befindet. Bereits seit den 50er- Jahren führt das Marienhaus Seminare und andere Veranstaltungen für Vertriebene und Aussiedler durch. Bis in die 80er-Jahre hinein stellten Aussiedler aus Polen das Hauptkontingent in diesen Seminaren. Seit dem Anstieg der Zuwandererzahlen russlanddeutscher Aussiedler (siehe auch die statistischen Angaben in Kap. 2.1) rekrutieren sich die Teilnehmer vermehrt aus dieser Gruppe von Zuwanderem. Das Bildungsangebot dieser Einrichtung ist allerdings nicht auf Aussiedler beschränkt, so dass sich während eines Aussiedlerseminars dort meist auch Teilnehmer anderer Veranstaltungen aufhal- 210 Bei der Beschreibung des Veranstaltungsrahmens stütze ich mich auf Informationen, die ich in Gesprächen und in ethnografischen Interviews mit Mitarbeitern des Marienhauses gewonnen habe. Ferner stütze ich mich auf schriftliche Dokumente der Einrichtung und auf eigene Beobachtungsprotokolle, die ich während des Aufenthaltes in diesem Untersuchungsfeld anfertigen konnte. <?page no="276"?> 276 Aussiedler treffen aufEinheimische ten. Sie nehmen etwa an Kursen zur beruflichen, politischen und religiösen Bildung, an Seminaren mit Selbsterfahrungs- und Selbstbesinnungscharakter oder an Tagungen zu volkskundlichen und gesellschaftspolitischen Themen teil. Auch ist das Marienhaus ein Ort, an dem regelmäßig Ost-West-Begegnungen sowie Treffen von Kirchenvertretem, Verbandsfunktionären, Politikern und Wissenschaftlern stattfinden. 6.2.1 Aussiedlerseminare im programmatischen Entwurf An den Aussiedlerseminaren im Marienhaus können Aussiedler teilnehmen, die noch nicht länger als drei Jahre in Deutschland leben. Auch von anderen kirchennahen Bildungsstätten sowie von Bildungshäusern in Trägerschaft von Parteien und Verbänden werden solche Seminare durchgeftihrt. Die Seminare, die das Marienhaus für Aussiedler anbietet, werden zum allergrößten Teil aus Mitteln des Bundeslandes, in dem die Bildungsstätte ihren Sitz hat, sowie aus Mitteln des Bundesinnenministeriums bzw. der Bundeszentrale für politische Bildung, die diesem Ministerium untersteht, finanziert. Mit einem geringen Beitrag (2,50 Euro pro Tag) sind die Teilnehmer an der Finanzierung eines solches Seminars beteiligt. Um diese staatlichen Finanzmittel in Anspruch nehmen zu können, müssen sich Bildungsstätten wie das Marienhaus an Richtlinien der staatlichen Geldgeber orientieren. Über die Zielsetzung eines Aussiedlerseminars erfährt man in einer Informationsbroschüre des Marienhauses Folgendes: Wir wollen die Vielfalt des Lebens in Deutschland für Sie verständlich machen; Ihnen praktische Hilfe geben, Ihren Lebensalltag in einer neuen Umwelt zu bewältigen; Ihnen dabei helfen, durch Informationen und gemeinsames Aufarbeiten Ihrer Erfahrungen, Perspektiven für Ihre Zukunft zu entwickeln. Neben den Arbeitseinheiten bleibt freie Zeit für Erholung und Entspannung, gemeinsame Ausflüge und Spaziergänge, Feiern, Erfahrungsaustausch und religiöse Besinnung. Dieser Text aus einem Hausprospekt gibt einen ersten Hinweis auf den Charakter der Eingliederungshilfe, die mit einem Aussiedlerseminar im Marienhaus intendiert ist: Es geht um die Vermittlung von Wissensbeständen, die von den geldgebenden Instanzen und von den Verantwortlichen des Marienhauses als erforderlich für die Neuorientierung und für die Alltagsbewältigung in Deutschland angesehen werden. Diese Form der Eingliederungshilfe sieht vor, die Auseinandersetzung von Aussiedlem mit ihrer neuen Lebenslage anzuleiten und zu unterstützen. Die Eingliederungshilfe <?page no="277"?> Im Schonraum-Milieu 277 besteht aber auch darin, den Zuwanderem Gelegenheit zur Regeneration, zur Selbstbesinnung und zum Gemeinschaftserleben zu eröffnen. Die Themen, die regelmäßig in den unterrichtsähnlichen Veranstaltungen ich werde sie im Weiteren auch Seminarveranstaltungen nennen behandelt werden, sind nicht in einem starren Lehrplan festgelegt. Sie variieren je nach Geschlechter- und Alterszusammensetzung der Teilnehmer, nach jeweils verfügbaren Referenten und auch nach tages- und gesellschaftspolitischer Aktualität. Zum Zeitpunkt meiner Erhebung (1992) wurden für Seminare mit erwachsenen und älteren Aussiedlem vorzugsweise Themen wie die folgenden behandelt: „Verträge und Versicherungen“ „Arbeitsmarkt in Deutschland / Arbeitsamt / Arbeitsförderungsgesetz“ „Arbeitsplatzsuche und Bewerbung“ „Verführung durch Werbung? “ „Ausländer, Aussiedler und Asylanten“ „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ „Deutschland nach der Einigung“ „Was bedeutet Heimat für mich? “ Solche Themen sind Gegenstand vor- und nachmittäglicher Seminarveranstaltungen. Des Weiteren können im Rahmen der Aussiedlerseminare auch Exkursionen zu Sehenswürdigkeiten und kulturellen Einrichtungen in der näheren Umgebung stattfmden. So viel in gebotener Kürze zum Bildungsprogramm von Aussiedlerseminaren. In einem weiteren Annäherungsschritt an den Veranstaltungsrahmen dieser Eingliederungsmaßnahme nehme ich eine Schauplatzbeschreibung der Bildungsstätte, zu der ich Zugang hatte, vor. Ich stelle das Marienhaus so dar, wie ich es in meiner Beobachterperspektive kennen gelernt habe, so, wie sich mir Areal, Architektur und Ausstattungselemente der Einrichtung bzw. das für mich daran Unbekannte und Rätselhafte erschlossen haben. Es wird also ein Annäherungsprozess an das Marienhaus wiedergegeben, wie er sich auf der Basis meines kulturellen Orientierungsvermögens abgespielt hat. <?page no="278"?> 278 Aussiedler treffen aufEinheimische nicht so, wie er von Aussiedlem aus Polen oder aus Russland erlebt wird. In der hier eingenommenen Beschreibungsperspektive lassen sich aber sehr wohl wesentliche Ausstattungselemente der Einrichtung aufzeigen, auf die auch Seminarteilnehmer, die in das Marienhaus kommen, stoßen. Dabei sollten zumindest in groben Zügen die Sinngebungen und Erfahrungsmodi erkennbar werden, die sich Menschen mit entsprechendem konfessionellen Hintergrund in diesem Haus eröffnen. 6.2.2 Das Haus - Ortsrandlage, konfessionelle Bekenntnissymbolik und heimatliche Erinnerungssymbolik Die wichtigsten Merkmale, die das Marienhaus zu einem besonderen Erfahrungsraum machen, sind neben der Ortsrandlage die gleichzeitige Auffmdbarkeit religiöser Bekenntnis- und heimatlicher Erinnerungssymbolik. Ich rekapituliere im Folgenden, wie sich mir Architektur, Räumlichkeiten und Ausstattungselemente des Marienhauses bei meinem Erstbesuch erschlossen haben, und wie ich die dort Vorgefundenen Schauplatzmerkmale für mich zu deuten vermochte. Beobachtungsprotokoll: Als ich das am Stadtrand gelegene Areal erreicht hatte, sah ich einen Gebäudekomplex, der sich in Größe und Bauweise deutlich von den Ein- und Mehrfamilienhäusern in der Nachbarschaft abhob. Schon beim Näherkommen, ließ sich eine Milieuhaftigkeit erahnen, zu der nicht jedermann Zutritt hat. Dieser Eindruck wird hervorgerufen durch die Ortsrandlage des Gebäudes (es befindet sich am Ende einer Straße, die an ein größeres Waldgebiet grenzt), durch parkähnliches eingezäuntes Gelände vor und hinter dem Hauptgebäude, einen dem Hauptgebäude gegenüberliegenden größeren PKW-Stellplatz und durch einen dreigeschossigen Gebäudekomplex mit langen Fensterreihen und einem moderner wirkenden Anbau. Mir fiel auf, dass das Marienhaus älter, aber auch größer ist als die soliden, teils villenartigen Wohnhäuser, an denen man auf dem Weg dorthin vorbeikommt. Hätte ich nicht bereits gewusst, dass es sich um eine Einrichtung der Erwachsenenbildung handelt, hätte ich beim Anblick des Hauses vielleicht an eine Jugendherberge älteren Baustils, die durch Renovierungsmaßnahmen „in Schuss“ gehalten worden ist, gedacht. Über dem Hauseingang wurde ich dann eines Emblems gewahr, das geeignet ist, Gedanken an eine Jugendherberge zu zerstreuen: Was ich für eine Art Hauswappen hielt, waren wie ich mir später erklären ließ ineinandergefiigte Buchstaben, nämlich die Initialen des Namens, den sich der Trägerverband des Marienhauses gegeben hat. Ich wusste mit der Buchstabenverknüpfung nichts anzufangen, ich sah noch nicht einmal Buchstaben darin, wohl aber wusste ich das darauf gesetzte Kreuz das Christussymbol zu deuten. Das Kreuz über dem Hauseingang <?page no="279"?> Im Schonraum-Milieu 279 registrierte ich als ersten, auch für andere Ortsunkundige orientierenden Hinweis darauf, dass man es mit einem Haus zu tun hat, das irgendwie der Institution Kirche nahe steht. Beim Anblick der Kapelle hinter dem Hauptgebäude ging mir durch den Kopf, dass zufällig vorbeikommende Spaziergänger diesen Gebäudekomplex auch für ein Kloster halten könnten. Ein Rundgang durch das Haus konfrontierte mich mit Ausstattungselementen, die das Gefühl, in einem Kloster zu sein, verstärkten. Ein Weihwasserbecken im Hausflur, ein Aushang mit Gottesdienstzeiten und eine Tafel, auf der mit Kreide eine Tageslosung notiert war, sagten mir, dass ich an einem Ort tiefer Frömmigkeit war, in einem Haus, in dem mir wenig vertraute Formen der Bekenntnisausübung praktiziert werden. Beim Rundgang durch das Haus war die sakrale Aura auch im Speisesaal, in den Gemeinschaftsräumen und sogar in die Schlafräumen wahrnehmbar. Erinnerungen an ein katholisches Krankenhaus, in dem ich vor einiger Zeit Besuche gemacht hatte, kamen auf. Allein im Kellergeschoss, in dem sich Werkräume, Spielgeräte, eine kleine Bar und mehrere Toiletten befinden, fehlten solche religiösen Insignien. Hier schien der Vergleich mit einer Jugendherberge wieder zu passen. Ferner stieß ich in Seminar- und Aufenthaltsräumen auf religiöses Schrifttum, das neben weltlicher Literatur und einigen unabhängigen Zeitungen jedem Interessenten zur Verfügung stand. Der Titel einer Zeitung 211 bestärkte meine Annahme, dass sich hier gern Menschen mit religiös-konservativer Weltanschauung treffen. Der Anblick der langen Flure, an denen Schlafräume sowie Duschen und Toiletten liegen, hatte für mich wieder etwas von der Atmosphäre einer düsteren Jugendherberge. Dazu schienen auch die Wappen und Namensschilder, die ich auf den Zimmertüren entdeckte, zu passen. Als ich mich reihum diesen Türen zuwandte, las ich Städtenamen wie Danzig, Stettin, Breslau, Oppeln, Ratibor, Beuthen, Brieg. Die Namen der größeren Städte waren mir aus dem Geschichts- und Geografieunterricht geläufig, auch kannte ich sie von Straßenbeschilderungen in Wohnvierteln, in denen Städte ehemals deutscher Ostgebiete als Namensgeber fungieren. Als Städte, zu denen Angehörige aus meiner Familie einen Heimatbezug gehabt hätten, waren mir diese Ortsbezeichnungen nicht geläufig. Die Namen und Wappen auf den Türen wirkten auf mich wie Relikte aus der Zeit, in der es noch ein Vertriebenenministerium 212 und eine Vertriebenenpartei gab. Ich war geneigt, sie als Ausstattungselemente anzusehen, für deren Erneuerung es bislang an Etatmitteln gefehlt hat." 12 211 Aus Gründen der Anonymisierung halte ich es für geboten, diese Zeitung hier nicht mit einer Titelangabe zu erwähnen. 212 Das „Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte“ wurde 1969 aufgelöst. 212 Dass diese Städtewappen und -namen auf den Zimmertüren etwas mit dem aktuell geltenden Selbstverständnis des Hauses zu tun haben (und nicht etwa <?page no="280"?> 280 Aussiedler treffen aufEinheimische Eine Verbindung zwischen den mir wenig vertrauten Symbolen, die ich beim Rundgang durch das Marienhaus kennen lernte - Symbole der katholischen Glaubenswelt und Symbole, die Erinnerungen an deutsche Ostgebiete wach halten konnte ich für mich nur so weit hersteilen, dass ich mir das heutige katholische Polen vergegenwärtigte. Bei der Begrüßung der Aussiedlergruppe, mit der ich mich im Folgenden näher befassen werde, konnte ich dann mitverfolgen, wie vom pädagogischen Personal solche Verbindungen zwischen den beiden Symbolsphären hergestellt werden: Kurze Erläuterungen zur Gründungsgeschichte des ffauses nehmen einen festen Platz in den Begrüßungsansprachen ein; dabei fehlt es nicht an Hinweisen auf den Zweiten Weltkrieg. Kriegsbedingte materielle und soziale Verluste, die Flüchtlinge und Vertriebene zu erleiden hatten, finden dann ebenso Erwähnung wie die in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückreichenden Bestrebungen von Kirchenoberen, entwurzelten Menschen inneren Halt durch christlichen Glauben und Schaffung einer neuen Heimstätte geben zu wollen. Authentischer und mit mehr Dramatisierungsvermögen als bei den relativ jungen pädagogischen Mitarbeitern beobachtbar, werden vom Geistlichen des Hauses Bezüge zwischen Konfessionszugehörigkeit und heimatlicher Erinnerungssymbolik aufgezeigt, wenn er die Teilnehmer eines Aussiedlerseminars begrüßt und einen Sing- und Gesprächskreis mit ihnen abhält (siehe hierzu auch Kap. 6.6.3). 6.3 Der Seminarbetrieb 6.3.1 Rekrutierung von Seminarteilnehmern Die Rekrutierung von Seminarteilnehmern erfolgt größtenteils über Betreuungskontexte der Aussiedlerhilfe und des kirchlichen Gemeindelebens; nur selten melden sich einzelne Aussiedler oder Ehepaare direkt im Marienhaus an. Über die Zugehörigkeit zu kirchlichen Gemeinschaften kommen meist solche Aussiedler in das Seminar, die schon in eigenen Wohnungen leben. Hier sind es ehrenamtlich tätige Mitglieder in Kirchengemeinden oder auch Gemeindepfarrer, die Seminartermine publik machen, Interessentenlisten zusammenstellen und die Anmeldung im Marienhaus vornehmen. Aussiedler, die noch in Übergangswohnheimen leben, erfahren von den Veranstaltungen im Marienhaus über Aushänge am schwarzen Brett oder - und das ist der wegen fehlender Haushaltsmittel für Renovierungsmaßnahmen noch vorhanden waren), erschloss sich mir erst im Verlauf des Feldaufenthaltes. <?page no="281"?> Im Schonraum-Milieu 281 üblichere Weg im persönlichen Kontakt zu einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter eines Wohlfahrtsverbandes. Die „Schleusenwärter-Funktion“, die die professionellen Betreuer dabei wahrnehmen, sind nach Aussagen von Mitarbeitern des Marienhauses orientiert an spezifischen Problemlagen der Betroffenen. So werde die Seminarteilnahme etwa dann angeregt, wenn bei einer alleinstehenden Wohnheimbewohnerin eine schwermütige Gemütsverfassung festgestellt werde und absehbar sei, dass eine wesentliche Veränderung ihrer Wohn- und Lebenssituation nicht eintreten werde. Ein dritter Betreuungskontext, der Zugang zum Aussiedlerseminar eröffnet, sind Sprachschulen, die Deutschkurse für Aussiedler durchfuhren. Die dort tätigen Sprachlehrer haben die Möglichkeit, eine Seminarwoche in den mehrere Monate dauernden Sprachkurs zu integrieren. Wie dieser Blick auf die Rekrutierungswege von Seminarteilnehmern zeigt, ist das Marienhaus auf Kooperation mit anderen in der Aussiedlerhilfe tätigen Organisationen angewiesen. Diese Zuführungseinrichtungen - Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbände und Sprachschulen organisieren gewöhnlich auch die An- und Abreise der Seminarteilnehmer in Bussen oder Zügen; verschiedentlich erfolgt die Anreisen auch im Privat-PKW. 6.3.2 Ablaufstruktur und Zeitrhythmik Der Aufenthalt einer Seminargruppe im Marienhaus vollzieht sich in vorgegebenen Zeitrhythmen. Mit der Dauer des Seminars von sieben Tagen (An- und Abreisetage eingerechnet) ist der zeitliche Gesamtrahmen abgesteckt. Eine Seminarwoche beginnt am Samstagnachmittag. Nach der Ankunft der Teilnehmer werden Anmeldeformalitäten erledigt, dann erfolgt die Verteilung auf Ein- und Zweibettzimmer. Am Abend findet eine BegrüßungsVeranstaltung unter Leitung des für die eingetroffene Gruppe zuständigen pädagogischen Mitarbeiters (oder einer Kollegin) statt. Am Begrüßungsabend werden die Teilnehmer über das geplante Programm informiert, auch werden vom Seminarleiter 214 Programmwünsche erfragt und entgegengenommen. Desgleichen werden die Neuangekommenen in die Elausordnung eingewiesen und auf die Gelegenheit zum Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes im Ort aufmerksam gemacht. Auch werden sie darüber informiert, dass der bevorstehende Sonntag von den festen Essenszeiten abgesehen zur freien 214 Dies ist die hausinterne Bezeichnung für pädagogische Mitarbeiter, die für eine bestimmte Seminargruppe verantwortlich sind. <?page no="282"?> 282 Aussiedler treffen aufEinheimische Verfügung steht. In diesem Zusammenhang wird auch auf Möglichkeiten der Freizeitgestaltung im Haus (Gesellschaftsspiele, Zeitschriften, Bücher, Fernseher; Räume, die für geselliges Beisammensein vorgesehen sind) und in unmittelbarer Umgebung (Waldspaziergänge, Stadtbesichtigungen) hingewiesen. Weitere wichtige Zeitmarkierungen betreffen den Tagesablauf. Durch den Rhythmus der Essenszeiten sind die Zeithaushalte für Bildungsarbeit und die Zeiten, die zur freien Verfügung bleiben, abgesteckt. Dem Frühstück (um 8.30 Uhr) geht eine Morgenandacht voraus. Sie findet in der zum Haus gehörenden Kapelle statt (wer um 7.00 Uhr noch nicht aufgestanden ist, wird von dem Glockengeläut dieser Kapelle an die Andacht erinnert). Bis zum Beginn der Seminarstunden (gewöhnlich um 9.30 Uhr) sind die Teilnehmer sich selbst überlassen. Sie halten sich dann in ihren Zimmern oder in Gemeinschaftsräumen auf, sehen fern, lesen Zeitungen, beschäftigen sich mit Gesellschaftsspielen, unterhalten sich in kleineren Gruppen oder machen kurze Spaziergänge in der Nähe des Hauses. Die vormittägliche Seminarveranstaltung dauert, mit einer kleinen Pause, bis zur Mittagszeit. Um 12.00 Uhr wieder läuten die Glocken ist Essenszeit. Sofern noch andere Gruppen im Haus sind, trifft man jetzt im Speisesaal auf sie. Die nachmittägliche Veranstaltung dauert gewöhnlich von 13.30 Uhr bis 17.00 Uhr, unterbrochen von einer Pause bei Kaffee und Kuchen. Nach dem Abendessen um 18.00 Uhr bleibt den Seminarteilnehmern noch etwas Zeit zur freien Verfügung, bevor dann ein geselliges Abendprogramm, eine Diavorführung oder ein Sing- und Gesprächskreis mit dem Geistlichen des Hauses stattfindet. Zuvor wird um 19.00 per Glockengeläut zu einem Abendgebet („Engel des Herrn“) aufgerufen. Etwa ab 21.30 Uhr ziehen sich die ersten Teilnehmer zur Bettruhe zurück, andere gewöhnlich die jüngeren ziehen es vor, noch in kleineren Gruppen zusammen zu sitzen (in der Kellerbar, im Kaminzimmer) oder eine Fernsehsendung zu sehen. Zum Abschluss einer Seminarwoche findet gewöhnlich am Abend vor der Abreise eine Feier statt, an der der verantwortliche Betreuer der Gruppe und verschiedentlich auch andere Mitarbeiter des Hauses teilnehmen. Eine solche Abschlussfeier hebt sich atmosphärisch deutlich von der sonst üblichen gemeinsamen Einnahme der Mahlzeiten im Speisesaal ab. Die Abschlussfeier, die im Rahmen der von mir beobachteten Seminarwoche stattfand, wurde zu einem Ereignis mit eindeutigem Höhepunktcharakter. Symptomatisch hierfür waren insbesondere folgende szenischen Merkmale: <?page no="283"?> Im Schonraum-Milieu 283 ein besonders üppiges, von Teilnehmern (nicht vom Küchenpersonal) zubereitetes Essen; aufgelockerte Sitzordnung, lebhafte Gespräche, von Scherzkommunikation dominierte Stimmung; - Verzehr auch stärkerer alkoholischer Getränke (neben Bier und Wein), die die Teilnehmer eigens für diese Feier besorgt hatten; - Abspielen von Tonbandmusik (Schlager, volkstümliche Musik, Heimatlieder); ausgelassenes, bis zu später Stunde dauerndes Tanzen. 6.3.3 Zusammensetzung der Teilnehmer des beobachteten Seminars Das Aussiedlerseminar, auf das ich mich hier beziehe, hat im Frühjahr 1992 stattgefunden. An diesem Seminar haben (außer dem Seminarleiter und dem Beobachter) insgesamt 21 Personen teilgenommen; der Anteil der Frauen (vierzehn) war doppelt so hoch, wie der der Männer (sieben). Elf der Teilnehmer waren Aussiedler aus Polen, zwei Männer und neun Frauen. Diese Teilnehmer waren alle im Rentenalter. Bis auf zwei Teilnehmer wohnten alle in einer kleineren Stadt im Ruhrgebiet. Aufgrund regelmäßiger Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen (Gottesdienste, Altennachmittage usw.) kannten sie sich bereits untereinander. In der Gruppe der Aussiedler aus Polen befanden sich zwei Ehepaare. Zwei Teilnehmerinnen waren miteinander verschwistert; eine Teilnehmerin war mit ihrer vierjährigen Enkeltochter da, um die sie sich wegen der Berufstätigkeit der Eltern auch sonst kümmert. Die Mitglieder aus der Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler hielten sich seit gut einem halben Jahr in Deutschland auf. Sie waren aus einer norddeutschen Kleinstadt angereist; dort wohnten sie noch im Übergangswohnheim. Alle aus dieser Gruppe waren zugleich Teilnehmer eines Deutschkurses, der an ihrem Wohnort stattfand. Dieser Sprachkurs wurde zwecks Teilnahme am Aussiedlerseminar für eine Woche unterbrochen. Es war geplant, dass diese Gruppe gemeinsam mit ihrem Sprachlehrer ins Marienhaus fahren sollte; wegen Krankheit musste er aber kurzfristig absagen. Die Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler bestand aus fünf Männern und fünf Frauen; drei von ihnen waren dem Rentenalter sehr nahe, die übrigen waren zwischen 28 und 50 Jahre alt. Auch hier bestanden zwischen den Gruppenmitgliedem enge familiäre Bindungen: Es befanden sich darunter zwei Brüder mit ihren Ehefrauen sowie die Tochter eines dieser Ehepaare; außerdem ein Vater mit <?page no="284"?> 284 Aussiedler treffen aufEinheimische seiner 36jährigen Tochter sowie ein Paar, das schon in Kasachstan in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt hatte. Nur ein vierzig Jahre alter Mann hatte keine Angehörigen in dieser Gruppe. 6.3.4 Das Personal / Typische Interaktionsanordnungen zwischen Personal und Seminarteilnehmern Ich habe bereits verschiedentlich das Personal des Marienhauses erwähnt, dabei aber den Umstand vernachlässigt, dass es spezifische Funktionsrollen und Arbeitsvollzüge sind, in denen das Personal zu Interaktionspartnem und zu signifikanten Einheimischen für Aussiedler wird. Dies soll nun nachgeholt werden. Folgende Personalgruppen werden im Marienhaus unterschieden (die Gesamtzahl der Mitarbeiter belief sich im Beobachtungszeitraum auf 21): hauswirtschaftliches (Küchen- und Reinigungspersonal) und technisches Personal (hierzu gehören drei Zivildienstleistende und ein Hausmeister); - Bürokräfte (eine Ganztags- und eine Halbtagsangestellte); fünf pädagogische Mitarbeiter (die in pädagogischer Funktion Tätigen sind ausgebildete Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Sozialwissenschaftler); ein pädagogischer Leiter bzw. Direktor; ein für das Marienhaus zuständiger Prälat bzw. geistlicher Rektor. 215 Die Seminarteilnehmer begegnen dem hauswirtschaftlich-technischem Personal primär im Zusammenhang mit Versorgungsleistungen: Beim Getränkeverkauf, bei den Mahlzeiten und beim anschließenden (freiwilligen) Küchendienst. Während meines Aufenthaltes im Marienhaus war zu beobachten, dass insbesondere Seminarteilnehmerinnen dem Küchenpersonal beim Abwaschen des Geschirrs halfen. Nach meinem Eindruck wurde diese freiwillige Mitarbeit gern wahrgenommen, weil sie ein Agieren in habitualisierten Verhaltensmustern sowie Kontaktaufnahme und -pflege zu an- 215 Bezeichnungen wie Personal oder Mitarbeiter verweisen auf eine arbeitsvertraglich geregelte Mitgliedschaftsrolle im Marienhaus. Der im Hause tätige Geistliche würde seine Zugehörigkeit zum Marienhaus selbst wohl nicht in solche Begrifflich keilen fassen. „Prälat“ ist ein in der katholischen Kirche geläufiger Ehrentitel, „geistlicher Rektor“ ist eine kircheninteme Funktionsbezeichnung. <?page no="285"?> Im Schonraum-Milieu 285 deren Teilnehmerinnen und zu dem überwiegend weiblichen Küchenpersonal ermöglichte. Verschiedentlich begegnen die Seminarteilnehmer diesem Personal auch bei Reinigungs- und Aufräumarbeiten auf Fluren, in Gemeinschafts- und Seminarräumen usw. Der seelsorgerische Begleiter einer Seminarwoche, der Prälat, tritt einer Seminargruppe bei den Frühmessen als kirchlicher Würdenträger, als Inszenierer von Bekenntnisritualen und als Sinnstifter in Bezügen des konfessionellen Glaubenssystems gegenüber. Bei den abendlichen Gesprächskreisen herrschen aufgrund des Wissens um die Stellung des Geistlichen, aufgrund seiner Kleidung (schwarzer Anzug, weiße Kragenleiste) und vermittelt durch das Singen von Kirchenliedern ähnliche Sinngebungsbedingungen. Jedoch kommt es hier auch zu ausgesprochen jovialen und belustigenden Formen der Situationsgestaltung. Mehr Zeit als der Geistliche verbringt der Seminarleiter mit der Gruppe. Die Aufgaben des pädagogischen Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin, der/ die für eine Seminarwoche verantwortlich ist, habe ich schon gestreift. Für den Seminarleiter bedeutet die Zuständigkeit für eine Seminargruppe Arbeit im Rahmen seines Anstellungsverhältnisses. Er ist nicht rund um die Uhr bei seiner Gruppe, sondern hat zusätzliche Aufgaben für das Marienhaus zu erledigen. Meist nach Beendigung der nachmittäglichen Veranstaltung kehrt er in seine Privatsphäre zurück; am nächsten Morgen nimmt er sich seiner Gruppe nach dem Frühstück an. Er ist zuständiger, nicht aber ständiger Begleiter der Gruppe. Diese Zuständigkeit erfordert von ihm mehrerlei: Er muss für einen regulären Ablauf des Seminarbetriebs sorgen. Dazu gehört einmal die Einhaltung der festen Zeiten (Mahlzeiten, Seminarstunden), dann das Vorstellen der Referenten und das Anmoderieren der festgesetzten Thematik, die sie behandeln, sowie das Finden von Alternativen, wenn ein Programmpunkt nicht in der vorgesehenen Weise realisierbar ist (z. B. bei Ausfall eines Referenten). Er ist auch federführend in die Vorbereitung und Durchführung von Ausflügen und geselligen Aktivitäten involviert. Schließlich muss er die inhaltliche Gestaltung bestimmter Seminarthemen übernehmen (welcher Art die Arbeit ist, die er in solchen Situationen leistet, behandle ich in der exemplarischen Analyse einer Seminardiskussion; siehe Kap. 6.8). <?page no="286"?> 286 Aussiedler treffen aufEinheimische 6.4 Zur Rolle des Feldforschers im untersuchten Aussiedlerseminar Der Feldforschungsaufenthalt im Marienhaus wurde mir durch die Bekanntschaft mit dem Leiter der Bildungsstätte ermöglicht. Die Unterstützung meiner Forschungsabsichten war für ihn selbstverständlich; ich erfuhr eine Unterstützungsbereitschaft, die sich bei späteren Verhandlungen mit Schlüsselpersonen im Untersuchungsfeld nicht immer wiederholen sollte. Die Aufgeschlossenheit des Leiters der Bildungsstätte gegenüber meinen ethnografisch-interaktionistischen Untersuchungsinteressen gründet in seiner eigenen sozialwissenschaftlichen Ausbildung, in eigenen Erfahrungen mit Methoden qualitativer Sozialforschung und in langjähriger Kooperation mit Sozialwissenschaftlern. Für die Einnahme einer Rolle als teilnehmender Beobachter und für das Arbeiten mit Tonbandaufnahmen war es allerdings wichtig, auch das Einverständnis des pädagogischen Personals, das die Seminargruppen betreute, zu gewinnen. In persönlichen Gesprächen mit den Mitarbeitern, in denen ich meine Forschungsinteressen und Untersuchungsmethoden erläuterte (und anonymisierte Datenauswertung zusicherte), gelang es, eine Vertrauens- und Kooperationsbeziehung aufzubauen. Nicht auszuschließen ist, dass mir dabei die Bekanntschaft mit dem Direktor einen gewissen Akzeptanzbonus verschafft hat. Meine angedeutete Bereitschaft, auch Betreuerfunktionen zu übernehmen, falls sich personelle Engpässe ergeben würden, hat sicherlich ebenfalls zur Akzeptanz meiner Rolle als teilnehmender Beobachter beigetragen. 216 216 Spätere Versuche an einem Seminar für jugendliche Aussiedlerinnen teilzunehmen scheiterten daran, dass in der Anwesenheit eines männlichen Feldforschers eine zu große Belastung für die Diskussions- und Arbeitsatmosphäre gesehen wurde. Auf ähnliche Argumentationen zur Abwehr der von mir angestrebten Beobachterrolle stieß ich später auch in anderen Betreuungskontexten. Solche Bedenken kamen mir in den Situationen, in denen über Feldeinstiegsbedingungen verhandelt wurde, als vorgeschobene vor vorgeschoben, um einen Eindringling, von dem man nicht genau weiß, welche Risiken und Belastungen für das eigene professionelle Handeln von ihm ausgehen können, abzuwehren. Durch Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Feldforschungsaktivitäten selbst mit jüngeren Aussiedlern machen konnte, lernte ich solche Abwehrargumentationen als Hinweise auf professionellerseits noch nicht bewältigte Schwierigkeiten in der Arbeit mit Aussiedlerjugendlichen zu verstehen. Schließlich waren auch meine eigenen Bemühungen, intensivere Kontaktbeziehungen zu Aussiedlerjugendlichen herzustellen, nicht von dem Erfolg gekrönt, den ich mir gewünscht hätte. <?page no="287"?> Im Schonmum-Milieu 287 Den Aussiedlem, mit denen ich in der Seminarwoche nähere Bekanntschaft machen sollte, stellte ich mich im Rahmen der Begrüßungsveranstaltung vor als jemand, der wissenschaftliches Interesse an der Aussiedlerarbeit hat und deshalb mit dem Marienhaus kooperiert. Ich vermute, dass meine Teilnahme als Zuhörer, Beobachter, Begleiter und auch als Gesprächspartner so erklärte ich den Seminarteilnehmern mein Forschungshandeln für sie vor allem dadurch akzeptabel war, dass ich mich auf das Marienhaus als Einrichtung, die meine Interessen unterstützt, beziehen konnte. Im weiteren Verlauf des Seminars war ich darauf bedacht, alles zu unterlassen, was meine Zugehörigkeit zum Wissenschaftssystem betont hätte, wie etwa systematische Befragungen oder ständig präsente Aufnahmegeräte. Zwei Überlegungen spielten hier eine Rolle: Erstens befürchtete ich, dass Tonbandaufnahmen bei Aussiedlern Erinnerungen an staatliche Überwachungspraktiken wecken könnten. Ich glaubte, dass es dadurch zu Verunsicherungen und Verängstigungen kommen könnte, die zu Lasten von Vertrauensbeziehungen gehen, und zwar nicht allein im Verhältnis zu mir, sondern auch im Verhältnis zu der Einrichtung, die das Seminar veranstaltet. Diese Bedenken teilte auch der Leiter der Bildungsstätte. Zweitens war mir daran gelegen, die Distanz zwischen den Seminarteilnehmern und mir durch Betonung der Forscherrolle nicht zu vergrößern. Sie sollten sich nicht einer Situation des „Beforscht-Werdens“ ausgeliefert sehen und dadurch womöglich um ein natürliches Seminarerlebnis gebracht werden. Auch wollte ich im Verlauf der Seminarwoche so zu ihnen gehören, wie dies im Rahmen der alltäglichen Kenneniem- und Vertrauensbildungsprozesse im Marienhaus möglich ist. 217 Ich wollte nicht qua einseitig durchgesetztem Forscherinteresse unter ihnen sein. 217 Von ähnlichen Überlegungen ließ sich Maurenbrecher (1985) bei der Erschließung eines Wohngebietes türkischer Migranten leiten. Er sah sich vor das Problem gestellt, eine Solidaritätsbasis zu Türken mit agrarisch-vorindustrieller Weitsicht aufzubauen und ging davon aus, dass dies weniger über die üblichen Begründungen für Forschungsaktivitäten (wie etwa, dass die Forschung den Landsleuten nützlich sei) gelingt, sondern dadurch, dass er „als Mensch in seiner Existenz jenseits aller spezialisierter Rollen wahrnehmbar“ ist, sowie durch Aufbau von Gegenseitigkeitsstrukturen über praktische Hilfeleistungen und auch durch das Zeigen der eigenen „Unsicherheit als Neuling in der [betreffenden, U.R.] sozialen Welt“ (ebd., S. 26). <?page no="288"?> 288 Aussiedler treffen aufEinheimische Der Leiter des Hauses war davon überzeugt, dass die Teilnehmer sich durchaus mit Tonbandaufnahmen einverstanden erklären würden, wenn ein Angehöriger des Marienhauses oder ein ihm Nahestehender ein solches Ansinnen Vorbringen würde. Diese Einwilligung müsste aber, so der Direktor, als Ausdruck einer Gehorsamshaltung gegenüber der Bildungsstätte verstanden werden, als Zustimmung, die man gibt, weil man gegenüber der Einrichtung, die einem Gutes tut, nicht unkooperativ sein kann oder mag. Eine so erlangte Zustimmung zur Forschungstechnik der Tonbandaufnahme könnte zur Folge haben, so unsere gemeinsame Einschätzung, dass sich Seminarteilnehmer verunsichert, vielleicht sogar kontrolliert oder überwacht fühlen könnten. 218 Ich verständigte mich mit den pädagogisch Verantwortlichen darauf, bestimmte Veranstaltungen, die unter ihrer Leitung stattfanden, aufzuzeichnen, und zwar verdeckt für die Seminarteilnehmer. 219 Im Verlauf der Seminarwoche war ich bemüht, alles mitzumachen, was auch die Seminarteilnehmer unternahmen, wenn auch nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit. Ich versuchte, mich im Marienhaus so zu bewegen, dass ich mich als Gesprächspartner, der mit zur Seminarveranstaltung gehört, einmischen und für die Teilnehmer ansprechbar sein konnte. Auch habe ich versucht, alle typischen geselligen Aktivitäten, zu denen es während einer Seminarwoche kommen kann, zu beobachten und zu dokumentieren. Ich suchte regelmäßig die Gemeinschaftsräume auf, in denen Teilnehmer lesen, spielen, sich unterhalten oder femsehen konnten. Eine gute Gelegenheit, Vertrauensbeziehungen zu Teilnehmern aufzubauen, waren die Tischgespräche sowie das lockere Geplänkel vor und nach den Seminarstunden bzw. in den Pausen. Das Kennenlemen bei Tisch und in geselligen Situationen er- 218 Inwiefern es sich hier um eine berechtigte Annahme über Situationswahrnehmungen und Handlungskalküle bei Migranten aus ehemals sozialistischen Ländern handelt, vermag ich nicht mit Sicherheit zu beurteilen. Ich möchte mit dem Hinweis auf möglicherweise aufkommende Verunsicherungen und Überwachungsängste in erster Linie auch nur die Orientierungen offenlegen, die mein eigenes Forschungshandeln bestimmt haben. In diesem Zusammenhang sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass ich auf ähnliche Mutmaßungen über Aussiedler gestoßen bin, wenn anderenorts tätige Professionelle begründeten, wamm sie Gespräche mit Aussiedlem nicht mit einem Tonbandgerät aufnehmen lassen wollten. 219 Das dadurch entstandene forschungsethische Problem sehe ich als eines an, dem in verantwortungsbewusstem Umgang mit den erhobenen Daten Rechnung zu tragen ist. <?page no="289"?> Im Schonraum-Milieu 289 folgte nach Gepflogenheiten, nach denen auch in Alltagssituationen Kontakt zwischen Fremden hergestellt und vertieft wird (sich wechselseitig über Herkunft und biografische Situation orientieren, sich über die Gegebenheiten und Abläufe vor Ort verständigen usw.). In die Seminarveranstaltungen war ich zumeist als Teilnehmer einbezogen, der dabei ist zu lernen, ‘wie hier gearbeitet wird’ und wie man so etwas wie Aussiedlerseminare gestaltet. Diesen Teilnehmerstatus nutzte ich verschiedentlich dahingehend, selbst Fragen an die Teilnehmer zu richten oder eigene Meinungen zu Diskussionspunkten zu äußern. Vor dem Eintreffen der Seminarteilnehmer ich hatte mich für dieses Seminar entschieden, weil ich wusste, dass Aussiedler aus verschiedenen Herkunftsländern daran teilnehmen würden war ich besonders gespannt auf die Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler. Es handelte sich um die ersten Aussiedler aus Russland, mit denen ich näher in Kontakt kommen sollte. In Vorgesprächen waren mir die Russlanddeutschen als Menschen geschildert worden, die aufgrund ihres Äußeren (Gesichter, Körperstatur, Kleidung) sehr fremd auf Einheimische wirken würden. Auch wurden sie mir geschildert als sehr zurückhaltende Menschen, an die jemand, der nicht regelmäßig mit ihnen arbeitet, nur schwer herankommt. Im Verlauf der Seminarwoche gelang es mir zwar, mit den meisten russlanddeutschen Teilnehmern aus dieser Gruppe nähere Bekanntschaft zu machen; alles in allem verbrachte ich aber mehr Zeit mit den Teilnehmern aus Polen. Dies hatte mehrere Gründe: Einige aus dieser Gruppe sprachen mich gleich nach ihrem Eintreffen an (vermutlich hielten sie mich für einen Mitarbeiter des Hauses). Eine Verständigung in deutscher Sprache war mir mit ihnen problemlos möglich. Ich empfand es als große Erleichterung, dass sie unumwunden Kontakt zu mir aufnahmen, dass sie gern plauderten und scherzten, dass ihre Neigung, Situationsgeschehen zu kommentieren und ihre Bereitschaft, aus ihrem Leben zu berichten, sehr ausgeprägt war. Sehr rasch war eine gemeinsame Verständigungsbasis gefunden. Die Aussiedlergruppe der Russlanddeutschen nahm ich als wesentlich stiller und verschlossener wahr. Auch zeigte sich, dass die Verständigung mit ihnen nicht ganz so einfach ist, da einige einen für mich schwer verständlichen russlanddeutschen Dialekt sprachen, andere wiederum deutsch auf einer noch nicht weit fortgeschrittenen Lernerstufe. Da unter den Teilnehmern vom ersten Tag an eine feste Sitzordnung bei den Mahlzeiten eingehalten wurde, habe ich davon abgesehen, mich während des Essens auch zu den Russlanddeutschen zu <?page no="290"?> 290 Aussiedler treffen aufEinheimische setzen. Ich befürchtete, dass die Gruppe der Aussiedler aus Polen es als Affront auffassen könnte, wenn ich mich plötzlich zur anderen Gruppe setzen würde, nachdem sie mich gewissermaßen für sich gewonnen hatten. Hinzu kam, dass die Gruppe der russlanddeutschen Seminarteilnehmer anfangs sehr geschlossen auftrat. Dadurch entstand bei mir der Eindruck, dass es dieser Gruppe wichtig ist, unter sich zu sein, und dass es nicht leicht sein wird, als Fremder an ihren Gruppenprozessen teilzuhaben. An ihrem Tisch ging es weniger lebhaft zu; vor allem an den ersten Tagen wunderte ich mich über das Schweigen, das oft an ihrem Tisch herrschte. Ich sah dieses Verhalten als Ausdruck eines Fremdheitserlebens, das wie ich mir sagte für sie viel stärker sein musste als für die aus Oberschlesien stammenden Aussiedler. Auch weil ihre Orientierungsbemühungen vor Ort im Kollektiv erfolgten, empfand ich es anfangs als nicht ganz einfach, mich auf sie einzustellen. Nachdem wir uns bei den Mahlzeiten, den Seminarveranstaltungen und bei verschiedenen Freizeitaktivitäten regelmäßig gesehen hatten, war es aber auch bei ihnen nicht weiter schwierig, Anknüpfungspunkte für einen kurzen Small Talk oder auch für längere Gespräche zu finden. Da mir selbst das Marienhaus wenig vertraut war, und mir auch die Seminarteilnehmer fremd waren, erlebte ich den Beginn der Seminarwoche in nahezu natürlicher Einstellung eines Fremden. Sowohl das Haus als auch die eingetroffenen Gäste und auch die Betreuerarrangements musste ich mir erst noch erschließen. Gegen Ende der Seminarwoche hatte ich mich allerdings selbst im Verdacht, vom Habitus und von der Sichtweise eines Mitarbeiters des Hauses auf die Teilnehmergruppen nicht mehr weit entfernt zu sein. Zum Abbau der rigorosen Außen- und Fremdheitsperspektive haben sicherlich die Gespräche, die ich mit dem Leiter und den pädagogischen Mitarbeitern geführt habe, beigetragen. Auch Betätigungen in Stellvertreterfunktion für den Seminarleiter haben mich der Perspektive der Mitarbeiter des Hauses näher gebracht. So hatte ich mehrmals Gelegenheit, Kurzausflüge in die nahegelegene Kleinstadt sowie einen Tagesausflug in die nähere Umgebung anstelle des Seminarleiters zu begleiten. Auch konnte ich einmal für einen Referenten einspringen, der den Themenkomplex „Arbeitsmarkt/ Arbeitssuche/ Bewerbung“ abdecken sollte, aber verhindert war. Solche Aktivitäten haben nicht nur meine Sichtweise auf die Abläufe einer Seminarwoche beeinflusst, sie haben wohl auch dazu beigetragen, dass mich die Seminarteilnehmer eher als jemand angesehen haben, der mit dem Haus oder mit anderen Institutionen der Aussiedlerbetreuung in Verbindung steht, als jemand, der sie wissenschaftlich „durchleuchten“ will. <?page no="291"?> Im Schonraum-Milieu 291 6.5 Merkmale des Erlebnisstils eines Aussiedlerseminars Die bisherigen Beschreibungen des Veranstaltungsrahmens von Aussiedlerseminaren kommen einem Untersuchungsschritt gleich, der in ethnografischen Studien auch als etische Analyse 220 bezeichnet wird. Die nun folgenden Ausführungen charakterisieren den Veranstaltungsrahmen mit Bezug auf den Erfahrungssinn der Seminarteilnehmer, mit Bezug auf Wissensbestände und Sinnkonzepte der verantwortlichen Gestalter dieser Eingliederungsmaßnahme und unter Einbeziehung kommunikativer Handlungen der Akteure. 6.5.1 Zum Status der Beobachtungen und Beschreibungen Schon in Vorgesprächen mit dem Leiter des Marienhauses wurde ich darauf aufmerksam, dass er den Aussiedlerseminaren im Marienhaus eine Erlebnisqualität beimisst, die Aussiedler seiner Meinung nach anderenorts nicht finden. Er gebrauchte Ausdrücke wie Schonraum, Nische oder Zwischenstation im Eingliederungsprozess. Mit diesen Metaphern kennzeichnete er Erfahrungsprozesse und Erlebnisqualitäten, die im Kontrast stehen zu den harten Lebensbedingungen, denen Aussiedler vor und nach einer Seminarwoche ausgesetzt sind. Diese Metaphern, die eine vorübergehende Entrücktheit aus schwierigen Lebensumständen anzeigen, regten mich dazu an, genauer zu erkunden, wodurch sich der Erlebnisstil 221 einer Seminarwoche auszeichnet, wie die teilnehmenden Aussiedler als temporäre Gemeinschaft Zusammenleben und wie sie die Zeit im Marienhaus auf ihre neue Lebenssituation beziehen. 220 Dieser Begriff bzw. das Begriffspaar „etisch : emisch“ geht zurück auf den Linguisten Pike (1964). In der interpretativen und ethnografischen Erforschung kultureller Kontexte findet dieses Begriffspaar zur Unterscheidung zwischen den äußerlich-physikalischen (phoneri.se/ ie«) Gegebenheiten und den symbolischwissensmäßigen (phonem/ sc/ ie«) Stmkturen Verwendung. 221 Der Begriff des Erlebnisstils ist den Arbeiten von Schütz (1971) und Schütz/ Luckmann (1975) entnommen. Ein Erlebnisbzw. Erkenntnisstil zeichnet sich aus durch eine „spezifische Spannung des Bewußtseins“, durch eine „vorherrschende Form der Spontaneität“ sowie der „Sozialität“ und der „Selbsterfahrung“ sowie durch eine „besondere Zeitperspektive“ (vgl. Schütz/ Luckmann 1975, S. 41-53). <?page no="292"?> 292 Aussiedler treffen aufEinheimische Ich wollte zu diesen Aspekten allerdings keine spezielle Erhebungsaktion, etwa in Form von Teilnehmerbefragungen, durchfuhren. Mir war, wie gesagt, daran gelegen, keine Atmosphäre des „Beforscht-Werdens“ aufkommen zu lassen. Außerdem vertraute ich darauf, dass sich im Verlaufe einer Seminarwoche Ereignisse und Symbolisierungen finden lassen, die auf natürliche Weise in dem Setting zustande kommen und möglicherweise den Erlebnisstil der Teilnehmer unmittelbarer dokumentieren können. Die eben aufgeworfenen Fragen können mit den nachfolgenden Ausführungen nicht erschöpfend beantwortet werden. Es kann im Folgenden nur darum gehen, anhand einiger Beobachtungen und Gesprächsprotokolle Schlaglichter auf den Erlebnisstil der Seminarteilnehmer zu werfen. Dabei sollen auch die kommunikativen Prozesse beleuchtet werden, die außerhalb der offiziellen Seminarveranstaltungen ablaufen. Die Materialien, auf die ich mich hier stütze, sind aus einer Seminarwoche mit älteren Aussiedlem hervorgegangen. Die im Folgenden herausgearbeiteten Merkmale des Erlebnisstils eines Aussiedlerseminars sind daher nur bedingt auf andere Teilnehmerzusammensetzungen übertragbar und auch nur bedingt auf andere Bildungsstätten, die Aussiedlerseminare durchfuhren. Die nachfolgenden Kapitelüberschriften benennen Merkmale des Erlebnisstils, für die sich m.E. aber durchaus Parallelen in Gruppen finden lassen, die aus jüngeren Aussiedlem bzw. nach Geschlecht oder Herkunftsland homogen zusammengesetzt sind. 6.5.2 Zwischen Urlaubsatmosphäre und Lembemühungen - Erwartungsformulierungen und darin ausgedrückte Erlebnishaltungen Als Material, das Zugang zur Erlebnisperspektive der Seminarteilnehmer eröffnet und im Setting des Aussiedlerseminars ohne Forscherimpuls zustande gekommen ist, eignen sich die „Erwartungen“, die die Teilnehmer an die Seminarwoche stellten. Ich verwende hier Anführungszeichen, um auf besondere Produktionsbedingungen diesbezüglicher Äußerungen hinzuweisen: Bei den Erwartungsformulierungen, auf die ich mich stütze, handelt es sich um Äußerungen innerhalb eines Arrangements, das unter Federführung des Seminarleiters stattfand, nicht um Äußerungen, die die Teilnehmer von sich aus und frei vom Druck der Gruppenöffentlichkeit vorgenommen haben. Am Begrüßungsabend mussten sich die Teilnehmer wie bei solchen Veranstaltungen üblich in eine Situation begeben, in der ihnen abverlangt wurde, <?page no="293"?> Im Schonraum-Milieu 293 eigene Wünsche und Erwartungen an die Seminarwoche auszusprechen. Dies geschah im Rahmen eines Arrangements, das zugleich dem Kennenlemen der Teilnehmer untereinander dienen sollte. Der Seminarleiter ließ Zweiergruppen bilden, die aus je einer/ einem polendeutschen und einer/ einem russlanddeutschen Teilnehmerin/ Teilnehmer bestanden. Die Akteure hatten sich in dieser Zweierkonstellation zunächst miteinander bekannt zu machen, indem sie sich nach Instruktionen des Seminarleiters gegenseitig ihre Namen, Berufe, Wohnorte, Hobbys, Lieblingsspeisen sowie ihre jeweiligen Erwartungen an die Seminarwoche nennen sollten. Anschließend hatte jeder die Aufgabe, seinen Partner der gesamten Gruppe vorzustellen, und zwar anhand der Informationen, die er im Zweiergespräch über ihn gewonnen hatte. Das Vorstellen des Partners ging meist im Stil einer steckbriefartigen Aufzählung von Persönlichkeitseigenschaften vonstatten. So wurden auch die als fremde Rede wiedergegebenen Erwartungsformulierungen in stichwortartigen Kurzangaben mit angeführt. 222 Einige Teilnehmer haben zwei oder gar drei Erwartungen genannt; auch kam es zu Wiederholungen bestimmter Erwartungsformulierungen. Eine Orientierung an Vorgängeräußerungen bzw. ein Effekt der Übernahme von Vorgängerformulierungen ist daher nicht auszuschließen. Nachstehend liste ich die vom jeweiligen Partner wiedergegebenen Erwartungen auf. Auch wenn es sich nicht um die ursprünglichen Versionen von Erwartungsformulierungen handelt, sondern um Wiedergaben durch Partner des Kennenlemspiels, eröffnen sie doch Zugang zur Typik der Sinn- und Erlebniskonzepte, mit denen die Teilnehmer in das Seminar gegangen sind. Ich entnehme sie einem Situationsprotokoll, in dem ich die Kemaussagen wortgetreu festgehalten habe. Die Erwartungsformulierungen sind nach Herkunftsländern geordnet. Aus welchem Land der jeweilige Erwartungsträger stammt, wurde in der Vorstellungsrunde meist auch erwähnt (das Herkunftsland derjenigen Person, die ursprünglich die Erwartung an das Seminar formuliert hatte, war allerdings auch aus der jeweiligen Paarkonstellation heraus hör- und sichtbar). Soweit es zwischen den jeweiligen Herkunftsländern zu inhaltlichen Entsprechungen bzw. identischen Erwartungsformulierungen kam, bilde ich diese auf einer Zeile ab. Leerstellen in diesem Schema besagen also, dass hier das Pendant zur Erwartungsformulierung in der anderen Herkunftsgruppe ausgeblieben ist. Auf die im Schema aufgeführten Erwar- 222 Bei zwei Sprecherinnen blieb die Wiedergabe der Erwartungen des Partners, den sie vorstellen sollten, aus. <?page no="294"?> 294 Aussiedler treffen aufEinheimische tungsformulierungen und auf ihr Vorkommen in den jeweiligen Herkunftsgruppen gehe ich im anschließenden analytischen Kommentar näher ein. Erwartungsformulierungen in der Gruppe der Aussiedler aus Polen in der Gruppe der Aussiedler aus Russland - Leute kennen lernen (2x) neue Leute kennen lernen (2x) neue Erfahrungen machen sprechen lernen, die deutsche Sprache verbessern (2x) Umgebung kennen lernen (2x) die Stadt besichtigen (2x) Gesundheit alles mitmachen mit allem zufrieden Würfelspiele schönen Sonntag haben; bissei was trinken schönes Wetter schönen Ausflug - Gegend kennen lernen - Stadt angucken, ins Museum, in den Park gehen (3x) — Gesundheit - Informationen über die Arbeit; wie man Arbeitfindet ■ Informationen über die Rente Kapelle besichtigen, in die Kirche gehen (2x) Analytischer Kommentar: Diese Erwartungsformulierungen sind unter Bedingungen eines sozialpädagogischen Arrangements evoziert worden. Es sind Bearbeitungen kommunikativer Aufgaben, die im Ablauf eines Aussiedlerseminars einen festen Platz einnehmen. Sie sind geeignet, den Erleb- <?page no="295"?> Im Schonraum-Milieu 295 nisstil der Seminarteilnehmer insoweit zu charakterisieren, als sie die „Bewusstseinsspannungen“ (Schütz/ Luckmann 1975) zu Beginn der Seminarwoche widerspiegeln. Denkbar ist, dass einige der Erwartungsformulierungen auf bereits vorhandenen Kenntnissen über die Gegebenheiten und Abläufe im Marienhaus beruhten [z.B.: Kapelle besichtigen, Informationen über die Arbeitswelt, schönen Ausflug], denn zum Zeitpunkt dieses Kenneniemspiels sind die Teilnehmer erst wenige Stunden im Haus. Ein solches Vorwissen kann von den koordinierenden Betreuern in den Kirchengemeinden, in den Wohlfahrtsverbänden und den Sprachschulen, aus dem Hausprospekt oder von Bekannten, die schon einmal im Marienhaus waren, stammen. Im Vergleich der beiden Herkunftsgrappen lassen sich folgende Aussagen treffen: - In beiden Gruppen finden sich Erwartungsformulierungen, die auch in Erwartung eines Kurzurlaubes, einer Reise oder eines vergnüglichen Wochenendes geäußert werden könnten [Ausflug, Stadt besichtigen, Gegend kennen lernen; Leute kennen lernen, neue Erfahrungen machen; schönes Wetter haben, bissei was trinken]. Dieser Typ von Erwartungen dominiert in beiden Teilnehmergruppen. - Es werden Erwartungen formuliert, die darauf abzielen, etwas lernen zu wollen, was für die aktuelle biografische Situation unmittelbar relevant ist (Verbessemng der Deutschkenntnisse; Chancen auf dem Arbeitsmarkt; Existenzsicherung durch Rentenbezug). Diese Erwartungsformulierungen finden sich lediglich bei den msslanddeutschen Teilnehmern. Dies hat zum einen damit zu tun, dass sie sich gegenüber der deutschen Umgangssprache viel stärker in einer Sprachlernsituation sehen als die polendeutschen Teilnehmer. Zum anderen sind die Aussiedler aus Polen bereits im Rentenalter, die Frage nach dem Erhalt und der Höhe der Rente stellt sich für sie nicht mehr. Dass nur in der Gruppe der russlanddeutschen Teilnehmer Erwartungen geäußert werden, die auf spezifischen Lernstoff gerichtet sind [Sprache, Arbeit, Rente], deutet darauf hin, dass entsprechende Vororientierungen im Sprachkurs bzw. durch den Sprachlehrer stattgefunden haben. - Nur bei den Russlanddeutschen tauchen Erwartungsformulierungen auf, die das religiöse Rahmenprogramm aufgreifen [Kapelle besichtigen, in die Kirche gehen]. Dies erschien mir auf den ersten Blick sehr erstaunlich, da ich solche Erwartungsformulierungen von Seiten der Polendeut- <?page no="296"?> 296 Aussiedler treffen aufEinheimische sehen erwartet hatte bei ihnen ging ich davon aus, dass sie sehr gläubig und auf den kirchlichen Ritus eingestellt sind. Dass in dieser Gruppe solche Erwartungen nicht formuliert wurden, zeugt möglicherweise davon, dass Kirchgang und tägliche Bekenntnisausübung für sie so selbstverständlich sind, dass sie sie im Rahmen des Kennenlemspiels als nicht eigens erwähnungsbedürftig angesehen haben. - Zwei polendeutsche Teilnehmer nennen keine konkreten Erwartungen, sie wählen Äußerungsformate, die eine globale Erlebnishaltung gegenüber der Seminarwoche markieren. Mit der ersten Äußerung [alles mitmachen} wird von vornherein Bereitschaft bekundet, alles zu akzeptieren, was auf dem Programm steht. Allerdings deutet sich hier auch eine Erlebnishaltung an, in der die Vorgabe eines Ablaufprogramms erwartet wird. Mit der zweiten Äußerung [mit allem zufrieden} wird globale Zufriedenheit bekundet. Unklar ist, ob die betreffende Sprecherin sich auf erste Eindrücke vom Marienhaus bezieht (der Begrüßungsrunde gingen das Beziehen der Zimmer, kleine Rundgänge durch und Aufenthalte vor dem Haus sowie das erste Abendessen voraus) oder ob sie eine prinzipielle Akzeptanzhaltung gegenüber dem, was noch kommen wird, markiert. Möglicherweise sind solche Äußerungsformen als (ausweichender) Reflex auf die unerwartete und ungewohnte Aufgabe, eigene Wünsche und Erwartungen Vorbringen zu können, zu verstehen. Ungeachtet dessen drückt sich darin ein Vertrauen darauf aus, dass alles zur Zufriedenheit sein wird, auch wenn im Einzelnen noch gar nicht bekannt ist, was passieren wird. Ferner indizieren diese Äußerungen eine Erlebnishaltung, bei der allein schon die Tatsache, dass man dabei ist, so überwältigend oder befriedigend ist, dass die Nennung von Wünschen an das Marienhaus bzw. das Seminar überflüssig erscheint. - Im Überblicksschema taucht zweimal die Erwartungsformulierung Gesundheit auf. Als ich diese Äußerungen damals hörte, war ich geneigt, sie als deplatzierte Formulierungen bzw. als Ausdruck von Schwierigkeiten, die im Kennenlernspiel gestellten Aufgaben richtig zu verstehen, einzuordnen." 1 Dass die Erwartung Gesundheit mehrfach genannt wird, erscheint weniger deplatziert, wenn man bedenkt, dass etliche der Teilnehmer schon im Rentenalter waren. Dass dem Aufenthalt im Marienhaus 221 Ich vermutete, dass die betreffenden Teilnehmer die Aufgabe, Erwartungen und Wünsche zu formulieren, auf ihre gesamte Lebenssituation bezogen, nicht auf die Seminarwoche. <?page no="297"?> Im Schonraum-Milieu 297 etwas für die Gesundheit Wohltuendes abgewonnen werden soll, vergleichbar etwa einem Kuraufenthalt, ist vielleicht auch nur für jemanden verblüffend, der sich unter Aussiedlerseminaren reine Bildungsveranstaltungen vorstellt (und selbst noch nicht im Rentenalter ist). Insgesamt ergibt sich aus den am Begrüßungsabend geäußerten Teilnehmererwartungen eine Bandbreite, die von der Erlebnisqualität eines Urlaubserlebnisses oder eines Sanatoriumsaufenthaltes bis hin zu Wünschen nach kulturellen Lemerfahrungen und Aneignungen von Gebrauchswissen reicht. Die in den Erwartungsformulierungen angesprochenen Erlebnisformen weichen von dem Erwartungshorizont, der durch die Informationsbroschüre geweckt wird (vgl. Kap. 6.2.1), nicht wesentlich ab. Die Typik der Erwartungen, die im Rahmen der Begrüßungsveranstaltung eingeholt wurden, sind auf der einen Seite geeignet, das Rahmenprogramm der Seminarwoche vorab zu ratifizieren (die Teilnehmer äußern keine Erwartungen, die den üblichen Seminarablauf sprengen würden). Auf der anderen Seite steckt in einigen Erwartungsformulierungen auch die Bekräftigung eines Anspruchs auf in Aussicht gestellte Erlebnisformen [siehe schönen Ausflug und Stadt besichtigen]. 6.5.3 Abstand zu den Problemen des Sicheinlebens und zur Eintönigkeit des Alltagslebens lebensweltliche Hintergründe, die die Seminarwoche zu einem wertvollen Erlebnis machen In Kap. 6.3.1 habe ich kurz erläutert, wie Aussiedler Zugang zum Marienhaus finden und unter welchen Bedingungen sie zu Teilnehmern eines Aussiedlerseminars werden. Die in diesem Zusammenhang erwähnten Wohn- und Lebenssituationen machen leicht vorstellbar, dass die Zeit im Marienhaus als vorübergehender Ausbruch aus bedrückenden und womöglich sinnentleerten Lebensverhältnissen (Wohnheimsituation, Isoliertheit am Wohnort usw.) oder auch als willkommenes Kontrastprogramm zum tagtäglichen Sprachdrill 224 und als Erfahrungsbereicherung in der neuen Umgebung erlebt wird. Dass die Seminarwoche vor dem Hintergrund der Strapazen und Identitätserschütterungen in einer Übergangssituation zu einem besonders geschätzten Erlebnis wird, wird auch in spezifischen Äußerungen der Teilnehmer erkennbar. Wie sie eine Seminarwoche erleben und auf ihre biografische Situation beziehen, wird vor allem deutlich, 224 Ich übernehme diesen Ausdruck aus Berend (1993). <?page no="298"?> 298 Aussiedler treffen aufEinheimische wenn sie Rückschau auf das bisher im Marienhaus Erlebte halten und sich aus ihrer Erlebnisperspektive bilanzierend bzw. evaluativ dazu äußern. Anlässlich eines zufälligen Zusammentreffens mit drei Frauen aus der Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler konnte ich einen solchen Gesprächsverlauf protokollieren. 225 Dieses Zusammentreffen fand am fünften Tag des Aufenthalts im Marienhaus statt. Ich gebe seinen Ablauf verkürzt wieder und beschränke mich auf die für die Evaluation des Aufenthaltes wesentlichen Aussagen der Frauen: Gesprächsprotokoll: In einem der Aufenthaltsräume treffe ich auf eine kleine Gruppe russlanddeutscher Frauen. Ich werde in das laufende Gespräch mit einbezogen, indem eine von ihnen die Frage aufwirft, wann sie die anwesenden Teilnehmerinnen noch einmal ins Marienhaus kommen [ja wann kommen wir noch mal her]. Ich habe den Eindruck, dass sie von mir erfahren wollen, was sie unternehmen müssen, um den Aufenthalt im Marienhaus wiederholen zu können. 226 Darauf antwortet eine andere Frau prompt: s=nächste Jahr. Ich mische mich ein mit der Frage, ob es ihnen hier gut gefalle; darauf wird folgendermaßen geantwortet: Zuerst bekundet eine Sprecherin ganz allgemein, dass sie es hier schön findet; eine andere antwortet etwas ausführlicher und erklärt, dass sie von der Ausreise nach Deutschland alle n=bisschen so uffgezogen seien. Man könne hier gut ausspannen und ein wenig ausruhen. Eine andere Frau schätzt am Marienhaus, dass sie hier ihrer Sorgen ledig sei: keine sorge von morgen ja von morg gibt=s bloß sorgen. Wenig später, beim Auseinandergehen der Gruppe, kommt es unter den Frauen zu einem kurzen Austausch über die Dauer der Seminarwoche: Eine Teilnehmerin vergegenwärtigt sich mit Wehmut, dass heute schon der fünfte Tag vorbei sei (das bedeutet, dass sie noch einen kompletten Tag im Marienhaus vor sich haben, dann folgt der Abreisetag). Eine andere Teilnehmerin erwidert geht schnell und stimmt so in das Bedauern über das baldige Ende der Seminarwoche ein. 225 Zwar konnte ich dieses Gespräch mit einem Tonbandgerät aufzeichnen, die Tonqualität dieser Aufzeichnung war aber sehr schlecht. Daher fertigte ich von diesem Gespräch ein Verlaufsprotokoll an, in das ich die auf dem Band eindeutig verständlichen Äußerungen eingearbeitet habe. Einige dieser Äußerungen gebe ich im nachstehenden Gesprächsprotokoll in kursiver Schrift wieder. 226 Dass diese Frage zur Einbeziehung des Beobachters in die Gesprächsrunde gestellt wurde, deutet drauf hin, dass sie auch schon vor meinem Dazustoßen thematisch war. <?page no="299"?> Im Schonraum-Milieu 299 Ich betrachte die Art und Weise, wie sich die drei russlanddeutschen Frauen über den Aufenthalt im Marienhaus äußern, als symptomatisch für den Erlebniswert, den die Seminarwoche für sie besitzt. Einen besonderen Realitätsakzent erhält der Aufenthalt im Marienhaus für die russlanddeutschen Aussiedlerinnen (die sich ja erst seit einem halben Jahr in Deutschland befinden) dadurch, dass sie Distanz zu den Belastungen gewinnen, denen sie im Zuge der Ausreise und der Umstellung auf neue Lebensverhältnisse ausgesetzt waren. An den zitierten Äußerungen lässt sich erkennen, dass es als persönlicher Erfahrungsgewinn erlebt wird, Abstand zu den Alltagsproblemen und Zukunftssorgen zu bekommen und sich innerlich restabilisieren zu können. Der Aufenthalt im Marienhaus wird dadurch zu einem Erlebnis, das Wehmut über sein bevorstehendes Ende und den Wunsch nach Wiederholung aufkommen lässt. Das herausgehobene, von den Teilnehmerinnen so geschätzte Seminarerlebnis gründet vor allem in der Schaffung von Distanz zu den Belastungen der Nachaussiedlungszeit und in der Befreiung von Problemen der Alltagsorganisation. Hierzu trägt der Umstand des Versorgt-Werdens maßgeblich bei. Nicht unwichtig ist, dass diese Entrücktheit von der Alltagswirklichkeit mit Menschen aus dem familiären oder ortsgesellschaftlichen Nahbereich erlebt wird. Im nun folgenden Kapitel gehe ich auf die sich daraus entwickelnden Sozialitäts- und Kommunikationsformen ein. 6.5.4 Unter-sich-Sein und mit anderen in gleicher Lebenslage bekannt werden - Beobachtungen zu Gruppenprozessen Neben den belastenden Lebensumständen nach der Aussiedlung ist der Erlebnisstil eines Aussiedlerseminars vor allem dadurch geprägt, dass diese Zeit mit Menschen verbracht wird, mit denen die Teilnehmer auch in anderen, dauerhaften Gemeinschaften Zusammenleben 227 bzw. mit Menschen, 227 Unter-sich-Sein kann als eine Sozialform definiert werden, die sich durch einen hohen Bekanntheits- und Vertrautheitsgrad der Situationsbeteiligten auszeichnet, als Sozialform, in der die Akteure durch gemeinsame Interaktionsgeschichten eng miteinander verbunden sind. Unter-sich-Sein kann aber auch als Sozialform angesehen werden, in der Menschen gleicher Sozial läge miteinander verkehren. Beide Merkmale gemeinsame Interaktionsgeschichte und gleiche soziale Lage treffen auf die untersuchte Seminargruppe zu. <?page no="300"?> 300 Aussiedler treffen aufEinheimische die sich in einer vergleichbaren Lebenslage befinden und teils auch über gemeinsame Erfahrungsbestände 228 verfügen. In dem beobachteten Seminar war die interessante Teilnehmer-Zusammensetzung gegeben, dass Aussiedler aus Polen und aus der ehemaligen Sowjetunion aufeinander trafen. Somit war anfangs eine Gruppenkonstellation gegeben, bei der in den jeweiligen Herkunftsgruppen ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl, zwischen den beiden Gruppen aber eine auffällige Fremdheitsrelation bestand. Für eine Charakterisierung der Sozial- und Kommunikationsformen in der Gesamtgruppe des beobachteten Aussiedlerseminars sind somit nicht allein jene Prozesse zu beachten, die in dem hohen Kohärenzgrad der jeweiligen Teilgruppen gründen, sondern auch jene Prozesse, die dadurch ausgelöst wurden, dass zwei unterschiedliche Herkunftsgruppen von Aussiedlem zusammengeführt wurden. Grenzziehungs- und Annäherungsprozesse zwischen den beiden Herkunftsgruppen Selbstverständlich bleiben Bindungskräfte und Stützmechanismen der schon vorher existierenden Gemeinschaften im Verlauf der Seminarwoche erhalten, aber es kommt auch zur Herausbildung neuartiger Austauschprozesse und Beziehungskonstellationen. In der Seminarwoche waren durchgängig Arrangements zu beobachten, bei denen das Zusammensein in der Herkunftsgruppe (definierbar nach Herkunftsland und Herkunftsort in Deutschland) als präferierte Sozialform praktiziert wurde. Mit anderen Worten: Es wurden Arrangements durchgehalten, die die Existenz von Gruppengrenzen symbolisierten. Im Verlauf der Seminarwoche waren aber auch Tendenzen zur Herausbildung eines temporären Wir-Gefühls sowie Formen des sozialen Austausches zu beobachten, bei denen es zu Annäherungen zwischen Mitgliedern der jeweiligen Herkunftsgruppen kam. 224 In der folgenden Feldnotiz habe ich festgehalten, welche Rolle die eigene Herkunftsgruppe für den Aufenthalt im Marienhaus und für das Annäherungsverhalten an die jeweils andere Gruppe spielt. “ 2f< Ich denke hier hauptsächlich daran, dass ältere Aussiedler aus Polen und aus der ehemaligen Sowjetunion viele Jahre lang in der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gelebt haben. 229 Der Seminarleiter stufte das Verhältnis zwischen den beiden Herkunftsgruppen als außergewöhnlich gut ein. Seine bisherige Erfahrung war die, dass in den gemischten Gruppen Kontakte zu den jeweils anderen Teilnehmern nicht gesucht werden und es nur wenig Austausch untereinander gibt. <?page no="301"?> Im Schonraum-Milieu 301 Feldnotiz: Am Ankunftstag und am darauf folgenden freien Sonntag erkunden die Teilnehmer das Haus und die örtliche Umgebung. Sie formieren sich dabei in Kleingruppen, die homogen zusammengesetzt sind, d.h., Aussiedler aus Polen und aus Russland bleiben unter sich. Diese Gruppentrennung wird auch im Speisesaal aufrechterhalten. Während der Mahlzeiten sitzen die Polendeutschen und die Russlanddeutschen stets an den Tischen, die sie vom ersten Tag an in Beschlag genommen haben. Das Unter-sich-Bleiben findet in den Zweitbettzimmem eine Fortsetzung; man ist dort mit jemandem untergebracht, den man bereits vorher kannte oder der zumindest aus dem selben Land ausgesiedelt ist. Eine getrennte Sitzordnung herrscht anfangs auch in den Seminarstunden. Nach wenigen Tagen lassen sich hier jedoch Auflockerungen beobachten. Es scheint nun nicht mehr so wichtig zu sein, neben einem oder einer aus der Herkunftsgruppe zu sitzen. Auch Gesellschaftsspiele oder Unterhaltungen finden im Kreise derer statt, mit denen man Übung darin hat. Bei bestimmten Anlässen sind feste Kleingruppenformationen mit eigenen Gewohnheitsmustem zu beobachten: In kleineren wie auch größeren Gruppen werden Spaziergänge in den nahe gelegenen Wald sowie Besichtigungs- und Einkaufsausflüge in die Stadt unternommen. Einige wenige die, die sich mit dem Laufen schwer tun ziehen es vor, sich währenddessen im Hause aufzuhalten oder die Grünanlagen aufzusuchen. Unter den Frauen bilden sich des öfteren kleine Erzählgemeinschaften; nach ein paar Tagen lässt sich beobachten, dass auch Frauen aus der jeweils anderen Gruppe darunter sind. Geredet wird hauptsächlich über Herkunftsgebiete, über Wohn- und Lebenssituationen in Deutschland und über die Erlebnisse im Marienhaus. Die russlanddeutschen Männer ziehen sich in der freien Zeit meist zum Kartenspielen („Durak“) zurück. Vor dem Fernseher treffe ich zumeist Teilnehmer aus der polendeutschen Gruppe; nach und nach finden sich dort aber auch Männer aus der anderen Gruppe ein. Aus dieser Feldnotiz geht hervor, wie Formationen, in denen die Teilnehmer in das Marienhaus gelangt sind, Fortbestehen. Sie zeigt aber auch, dass sich Konstellationen herausbilden, in denen Gruppengrenzen überschritten werden. Versteht man „Herkunftsgruppe“ sowohl im Sinne der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Herkunftsland als auch im Sinne der Zugehörigkeit zu einem sozialen Verband, in dem Eingliederung in das Aufnahmeland organisiert wird (Ortsgesellschaft, Kirchengemeinde, Sprachkurs, Übergangswohnheim, Familie), lässt sich verallgemeinernd Festhalten, dass die Herkunftsgruppe für den einzelnen Teilnehmer quasi als Korsett fungiert, das sein Orientierungsverhalten in der Einrichtung stützt und das auch das Annäherungsverhalten an Mitglieder anderer Gmppen im Haus erleichtert. Auch die nach Herkunftsländern gemischte Besetzung von Arbeitsgruppen, auf die der Seminarleiter bei bestimmten Programmpunkten bedacht ist, trägt zur Lockerung der Gruppengrenzen bei. <?page no="302"?> 302 Aussiedler treffen aufEinheimische Die folgende Feldnotiz gibt Beobachtungen vom letzten Abend der Seminarwoche wieder: Feldnotiz: Auf der gemeinsamen Abschlussfeier, zu der jede Gruppe ein Nationalgericht beigesteuert hat (einige der Frauen aus Polen hatten Borschtsch, die russlanddeutschen Frauen Pelmeni zubereitet), sitzt man nicht mehr strikt nach Herkunftsland getrennt. Alle in der Gruppe haben große Freude daran, sich abwechselnd Lieder vorzusingen oder auch ein Lied zu probieren, das alle kennen. Später ertönt Musik vom Tonband. Ein Großteil der Anwesenden tanzt zu dieser Musik mit einer Ausgelassenheit, wie ich sie bei vergleichbaren Feiern unter Hiesigen - und bei Menschen dieses Alters noch nicht erlebt habe. Ein besonderer Reiz scheint darin zu bestehen, mit einem oder einer aus der anderen Gruppe zu tanzen. Nach der Abschlussbesprechung am nächsten Tag werde ich Zeuge einer Situation, in der dieser gesellige Abend nachwirkt: Der Mann, der auf der gestrigen Feier ein besonders eifriger Tänzer war (er kommt aus Polen), stürmt auf die russlanddeutsche Frau zu, mit der er schon am Abend vorher mehrmals getanzt hat (beide sind mit ihren Ehepartnern im Marienhaus). Obwohl keine Musik zu hören ist, formieren sich die beiden als Tanzpaar und nehmen die ausgelassenen Tanzbewegungen vom gestrigen Abend wieder auf. Dieser Abschiedstanz wirkt auf mich erheiternd und anrührend zugleich. Dass nicht nur diese begeisterten Tanzpartner sich näher gekommen sind, sondern auch viele andere aus den beiden Gruppen, zeigen die ausgesprochen herzlichen Verabschiedungen bei Vorfahrt der Busse. Die in dieser Feldnotiz festgehaltenen Aktivitäten erinnern an Formen sozialer Annäherung und des sozialen Austausches, wie sie auch bei Vereins- und Stadtteilfesten 230 anzutreffen sind. Fragt man nach den Bedingungen, die den Annäherungsprozess begünstigen, so ist auf den Gesamtrahmen einer Seminarwoche hinzuweisen: Ein Prozess des Sich-aneinander-Gewöhnens kommt durch gemeinsame Tischzeiten, durch regelmäßige Teilnahme an den Seminarveranstaltungen und an den morgendlichen Messen in Gang. Diese vorgegebenen sozialen Rahmen tragen zur Herausbildung einer Vertrautheitsatmosphäre und zum Aufbau von Wechselseitigkeitsstrukturen bei. Unter diesen Voraussetzungen entsteht Neugier auf Biografien und auf die biografische Situation der Leute aus der jeweils anderen Gruppe. Auch weil die Begegnung mit den anderen unausweichlich ist, entsteht Bereitschaft, auf sie zuzugehen und nach Gemeinsamkeiten mit ihnen zu suchen. 230 Ausführlicher hierzu die Ethnografien Mannheimer Stadtteile in Kallmeyer (1995). <?page no="303"?> Im Schonraum-Milieu 303 Kommunikationsprozesse zwischen den russlanddeutschen Seminarteilnehmern und dem Beobachter in einer Situation des Dazustoßens Ich wähle den vielleicht etwas behelfsmäßig anmutenden Ausdruck des ‘Dazustoßens ’ aus gutem Grunde: Er ist geeignet anzuzeigen, dass es um eine Situation geht, in der eine Gruppe unter sich ist und dieses Arrangement durch einen Dazukommenden verändert wird. 231 Bei der Beschreibung der Zeitrhythmik eines Aussiedlerseminars habe ich auf die sich wiederholenden Ereigniskonstellationen mit je besonderen Sinngebungsbedingungen hingewiesen: die morgendlichen Messen, die gemeinsamen Mahlzeiten im Speisesaal, die inhaltlich festgelegten und unter Anleitung eines Referenten oder des Seminarleiters gestalteten Seminarstunden. Dies sind Situationen, die vom Personal den Geistlichen schließe ich hier ein organisiert, initiiert und gestaltet werden. Darüber hinaus bleibt im Ablauf einer Seminarwoche aber auch Zeit, in der sich die Teilnehmer selbst überlassen sind und die sie nach eigenen Bedürfnissen und Interessen gestalten können. Auf eine derartige Situation und die darin beobachtbaren Kommunikationsweisen möchte ich näher eingehen. Das Ereignis, auf das ich mich im Folgenden beziehe, repräsentiert eine Situation, in der die Gruppe der russlanddeutschen Seminarteilnehmer ohne Anleitung durch einen Betreuer Räumlichkeiten und freie Zeit im Marienhaus für sich nutzt. Da ich selbst daran beteiligt war, kann sie nicht für Situationen stehen, in denen diese Teilgruppe vollkommen unter sich ist. Es handelt sich um eine Situation, in der ein Einheimischer (hier in Gestalt des Beobachters, der von den Teilnehmern vermutlich als ‘irgendwie zum Hause gehörig’ angesehen wurde) in das gesellige Beisammensein einer Aussiedlergruppe einbezogen wird. Zu einem ähnlichen Situationsgeschehen kann es kommen, wenn der Seminarleiter oder ein anderer Mitarbeiter des Hauses auf eine Gruppe in einem Gemeinschaftsraum stößt. Die zu dieser Kommunikationssituation angestellten Beobachtungen dienen dazu, exemplarisch zu zeigen, wie die Betroffenen ihre biografische Situation außer- 231 Diese Situationscharakterisierung soll auch daraufhinweisen, dass dem Zustandekommen der Situation letztlich forschungsstrategische Intentionen zugrunde lagen. Insofern handelt es sich bei dem Arrangement, um das es im Folgenden geht, auch um mehr als um ein zufälliges Zusammentreffen oder eine lockere Gesprächsrunde. <?page no="304"?> 304 Aussiedler treffen aufEinheimische halb des veranstalteten Seminarbetriebs thematisieren. Die Charakterisierung der ablaufenden Kommunikationsprozesse dient auch als Kontrastfolie für die Auseinandersetzungsweise mit der Nachaussiedlungssituation, die in einer eigens dazu veranstalteten und unter professioneller Anleitung ablaufenden Seminardiskussion zu beobachten ist (siehe Kap. 6.8). Ich habe diese Situation zwar mit dem Tonband aufnehmen können, eine vollständige und wortgetreue Transkription lässt sich wegen der teilweise schlechten Tonqualität und auch wegen häufiger Simultanpassagen und störender Hintergrundgeräusche nicht erstellen. Ich wähle daher eine Präsentationsform, bei der die Merkmale dieses Kommunikationsereignisses in abstrahierender Beschreibungssprache aufgezeigt und charakteristische Gesprächsaktivitäten ausschnitthaft bzw. paraphrasierend oder in Kurzzitaten wiedergegeben werden. Zunächst aber sei die Situation des Dazustoßens dargestellt: - Eine Situation des Unter-sich-Seins wird durch einen Eindringling verändert. In einer Feldnotiz habe ich das Arrangement festgehalten, das ich im Kaminzimmer vorfand und durch meinen Auftritt verändert habe: Feldnotiz: Heute ist der vierte Tag des Seminars, etwa 22.00 Uhr. Ich will mir ein Bild davon verschaffen, in welcher Form die Teilnehmer die freie Zeit, die sie an diesem Abend noch haben, verbringen. Ich treffe aber nur in einem Gemeinschaftsraum, im Kaminzimmer, noch Leute an. Zu meinem Erstaunen handelt es sich um die russlanddeutschen Teilnehmer. Diese Gruppe hat sich vollzählig dort versammelt (fünf Männer und fünf Frauen). An den Abenden vorher traf ich Mitglieder dieser Gruppe vereinzelt in Gemeinschaftsräumen an, in denen der Fernseher lief. Einige der jetzt im Kaminzimmer Versammelten haben Getränke vor sich stehen (Limonade, Bier); es gibt auch Salzgebäck und Süßigkeiten. Im Kamin brennt Feuer, die Gruppe sitzt im Halbkreis davor; rege Unterhaltungen, wie ich sie sonst noch nicht in dieser Gruppe erlebt habe, sind im Gange. Bei meinem Eintritt in das Kaminzimmer habe ich das Gefühl, ein Störenfried zu sein; die in russischer Sprache geführten Gespräche werden unterbrochen. Ich frage, ob ich mich dazusetzen kann; die mir näher Zugewandten schaffen eine Sitzgelegenheit und ermuntern mich, Platz zu nehmen. Ich habe jetzt den Eindruck, dass die hier versammelte Gruppe es gerne sieht, dass ich mich dazugeselle. Weiter entfernt Sitzende führen eigene Unterhaltungen, meist in russischer Sprache, verschiedentlich aber auch in einem dialektalen Deutsch. Es formieren sich mehrere Gesprächsgruppen, auch kommt es zu unterschiedlichen Sprecherkonstellationen. <?page no="305"?> Im Schonraum-Milieu 305 Was der Beobachter vorfindet, ist eine Situation, die die russlanddeutschen Seminarteilnehmer für sich als Wir-Gemeinschaft im Marienhaus geschaffen haben. Der übliche Tagesablauf verlangt ihnen über viele Stunden hinweg ab, sich in Arrangements zu begeben, die durch das Seminarprogramm vorgegeben sind. Sie nutzen einen besonders gemütlichen und beliebten Gemeinschaftsraum und sitzen in gelockerter Atmosphäre beisammen. Das Kaminzimmer haben sie jetzt für sich; Mitglieder aus der anderen Teilnehmergruppe oder Mitarbeiter des Hauses sind nicht anwesend. Dass sie sich als komplette Teilgruppe in diesen Raum zurückgezogen haben, deutet auf ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl hin. Im Marienhaus wird dieses Zusammengehörigkeitsgefühl situationsangepasst ausgelebt, möglicherweise auch kontextspezifisch verstärkt durch das Zusammentreffen mit den Aussiedlem aus Polen. Da sie unter sich sind und nicht auf Seminarteilnehmer aus Polen oder auf Personal des Hauses achten müssen, ist es für sie selbstverständlich und unverfänglich, sich in russischer Sprache zu unterhalten. Erst das Dazustoßen des Beobachters macht es erforderlich, deutsch zu sprechen. Nun zur Typik der ablaufenden kommunikativen Prozesse in der Kaminzimmer-Situation. - Kommunikationseinstieg durch Frageschemata und Kommunikationsrahmen der Scherzmodalität: Anfangs wird das Gespräch zwischen dem Beobachter und seinen Sitznachbam durch Frageinitiativen gesteuert. Der Beobachter erkundigt sich nach dem Verbleib der anderen Seminarteilnehmer (der Gruppe der Polendeutschen), nach dem Ort, in dem die Anwesenden in Deutschland leben und stellt Fragen zur Familiensituation und zu den Verhältnissen am neuen Wohnort. Die Antworten der Befragten fallen teils sehr expandiert aus, es kommt zu Äußerungsüberschneidungen und häufig werden Vorgängeräußerungen von anderen ergänzt oder in Scherzmodalität kommentiert. So wird die Frage zu den nicht anwesenden Seminarteilnehmern aus Polen zunächst von einer Sprecherin dahingehend beantwortet, dass diese schon zu Bett gegangen seien; eine andere Sprecherin fügt wie zur Erklärung hinzu, dass sie (die Leute aus der anderen Gruppe) auch schon drei Jahre in Deutschland seien, woraufhin allgemeines Gelächter einsetzt. 2 ,2 232 Diese Bemerkung offenbart nicht nur ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den im Durchschnitt älteren Teilnehmern der anderen Gruppe, sie enthält auch einen <?page no="306"?> 306 Aussiedler treffen aufEinheimische - Sich wechselseitig anregende Erzählaktivitäten, ausgebaute Formen biografischen Sprechens und symbolisch verdichtete Erzählpassagen: Mit zunehmender Dauer wird die Gesprächsrunde durch selbstinitiierte, sich gegenseitig stimulierende Erzählaktivitäten einiger dominanter Sprecherinnen aufrechterhalten. Es kommt zu ausgebauten Formen biografischen Sprechens, in die mehrfach gemeinplatzartige Wendungen eingebaut sind (Beispiel: arbeitest du dann hast du geld hast du geld dann lebst du auch). In den biografischen Kurzerzählungen wird die Erfahrungswelt im Herkunftsland (Steppenlandschaft, wilde Tiere, Winter mit extremer Kälte) dargestellt als eine, die so ganz anders ist als die Welt, in der man sich jetzt befindet. Auch wird sie als Erfahrungshintergrund präsent, der bei den Erzählerinnen noch nachwirkt. Das Herkunftsgebiet wird als eine Welt mit harten Anforderungen an das Alltagsleben geschildert, aber auch als eine Welt, mit der man sich noch zutiefst verbunden fühlt. Etwa wenn von Anstrengungen berichtet wird, die mit bäuerlichen Existenzbedingungen einhergehen, oder wenn in der Erzählkoda der Verlust dieser Lebensweise beklagt wird. 233 Breiten Raum nehmen in den Erzählungen auch Erfahrungen mit der Staatsmacht und dem Wirtschaftssystem ein. Es werden darin eigene finanzielle Erfolge aufgezeigt, die durch dirigistische Eingriffe von Staatsorganen wieder zunichte gemacht wurden usw. Besonders dicht wird das biografische Sprechen an Stellen, an denen es um zurückgelassene Verwandte geht. In diesen Erzählzusammenhängen werden sehr starke Verbundenheitsgefiihle gegenüber Angehörigen, die in Russland geblieben sind, ausgedrückt (etwa wenn vom russischen Schwiegersohn berichtet wird, der ein guter selbstironisierenden Bezug auf den Fremdheitsstatus von Ansiedlern in Deutschland. Die Selbstironisierung besteht darin, sich auf die Aufenthaltsdauer in Deutschland als einem Umstand zu beziehen, der Erschöpfungszustände und Regenerationsbedürftigkeit produziert. 233 In der Erzählpassage, auf die ich mich hier beziehe, schildert eine russlanddeutsche Frau Strapazen, die sie auf sich genommen hat, um sicherzustellen, dass junge Ferkel nicht zu Tode kommen. Bei großer Kälte hat sie sich um den Schlaf gebracht, um dafür zu sorgen, dass alle Ferkel am Leben bleiben. Sie schließt diese Erzählung mit der Bemerkung ab dann alles für eine lederjacke. Mit dieser kodaartigen Äußerung bezieht sie sich auf eine andere Erzählung, in der sie dargestellt hatte, dass ihr Ehemann sich in Deutschland eine Lederjacke gekauft hat, deren Wert etwa dem entsprach, was sie bei Vorbereitung der Ausreise für den Verkauf ihres bäuerlichen Anwesens bekommen haben. <?page no="307"?> Im Schonraum-Milieu 307 mensch sei, deutsche Bücher lesen könne, der sich innerhalb weniger Monate gut mit dem in der Familie gesprochenen Deutsch vertraut gemacht hat und von seinen Schwiegerleuten auf deutsch angesprochen werden wollte). Wie stark die Verbundenheit mit den Zurückgelassenen noch nachwirkt, wird auch deutlich, wenn von geplanten Besuchsreisen zum Herkunftsort die Rede ist. Baldige Besuche im Heimatort müssen unbedingt sein, da man sich um die zurückgelassene Mutter, die nicht nach Deutschland kommen wird, kümmern will. Gegenstand dieser Erzählaktivitäten sind auch Verlust- und Schockerfahrungen, die im Zuge der Aussiedlung erlitten wurden und noch immer nachwirken. So schildert die Familie, die Haus und Hof für eine lederjacke verkauft hat, die Verabschiedung von den zurückgelassenen Angehörigen als eine hochdramatische Szene (der Ausdruck hysterie wird benutzt). Dabei scheint ihnen noch zuzusetzen, dass der kleine Neffe beim Hinaustragen der Möbel nicht mehr zu beruhigen war und ihnen die sonst in solchen Situationen üblichen Verabschiedungsgesten verweigert hat. Vor allem in den Erzählpassagen, in denen es um die Trennung von Verwandten geht, ist spürbar, dass die Sprecher von Trauer und Verlustgefühlen erfasst sind. Das Geschehen im Kaminzimmer ist zwar nur in Streiflichtern erhellt worden; zentrale Merkmale des Kommunikationsprozesses dürften aber deutlich geworden sein. Das Leiden unter Heimatverlust und Fremdheit wird narrativ aufbereitet und im gemeinsamen ‘Darüber-Sprechen’ bearbeitet. Es laufen kommunikative Prozesse ab, in denen Aussiedler einem Hiesigen die Lebenssituation präsent machen, die sie aufgegeben haben und dabei Einblick in damit verbundene schmerzhafte Verlust- und Trennungserfahrungen gewähren. 234 6.6 Die organisierte Perspektive auf Aussiedler 6.6.1 Zur Entdeckung der organisierten Perspektive im Lernprozess des Feldforschers Während meines Aufenthaltes im Marienhaus war ich darauf bedacht, zu verstehen, wie sich die Mitarbeiter des Marienhauses auf Aussiedler bezie- 234 Der Thematisierungsprozess, der den Beobachter in russlanddeutsche Erfahmngswirklichkeit einbezieht, weist deutliche Parallelen zu dem Tischgespräch bei Familie Klein auf (vgl. Kap. 4.3). <?page no="308"?> 308 Aussiedler treffen aufEinheimische hen, wenn sie sie als ihre Klientel darstellen. Ich wollte die Begründungshaushalte und Sinnkonzepte erfassen, die für die Rekrutierung und für die Arbeit mit Aussiedlern als Zielgruppe einer Einrichtung, die sich auch als Bildungsstätte für Erwachsene versteht, relevant sind. Die Sinnkonzepte und Orientierungsbezüge der Verantwortungsträger im Marienhauses sah ich als Schlüssel zum Verständnis der Positionierung des Personals gegenüber Aussiedlem sowie der Mechanismen, nach denen vor Ort Eingliederungshilfe als institutionell-organisatorische Leistung erbracht wird, an. Wie im Marienhaus Aussiedler als relevante Klientel definiert werden, erschloss sich mir hauptsächlich in Gesprächen und ethnografischen Interviews, die ich mit dem Leiter und mit pädagogischen Mitarbeitern führen konnte, ferner in Beobachtungen von Kommunikationssituationen zwischen Personal und Seminarteilnehmern. Auf diesem Wege - und auch in Gesprächen mit den Gästen des Marienhauses lernte ich zu verstehen, wie diese Einrichtung in das institutionalisierte System der Aussiedlerhilfe eingebunden ist. Diese Gespräche und Interviews hatten den Charakter von Verständlichmachungen der Abläufe eines Aussiedlerseminars und der komplexen sozialen Prozesse, mit denen diese Abläufe in Verbindung stehen. Vor allem in den Gesprächen mit dem Direktor des Marienhauses tauchten immer wieder Äußerungen auf, die mal explizit, mal eher implizit den Charakter von Instruktionen hinsichtlich eines adäquaten Vorverständnisses oder der richtigen Sichtweise auf Aussiedler hatten. Diese instruierenden Äußerungen sollten mir auch sagen, wie man sich als Feldforscher am geschicktesten auf Aussiedler einstellt (ich werde in Kap. 6.6.2 auf eine solche Passage näher eingehen). Aufgrund der langjährigen Erfahrung, die mir der Direktor im konkreten Umgang mit Aussiedlern voraus hatte (und auch aufgrund seiner eigenen empirischen Forschungserfahrungen), fasste ich solche Instruktionen als kompetente und wohlmeinende Einmischungen in meine Forschungsabsichten auf. Als besonders anregend empfand ich Offenlegungen eigener professioneller Relevanzen sowie den unverblümten Gebrauch sozialer Kategorisierungsmittel, die den Fremdheitsstatus von Aussiedlem sowie spezifische Schwierigkeiten und Defizite dieser Fremden betonten. So sprach er beispielsweise von Leuten aus einer anderen Welt, für die der Staat bisher immer alles organisiert habe und die es nicht gewohnt seien, Dinge selbst in die Fland zu nehmen. Oder er stellte Vergleiche mit dem Orientierungsvermögen kleiner Kinder an, um eine Kulturschocksymptomatik deutlich zu machen, die er bei Aussiedlern wahrgenommen hatte. In den Gesprächszu- <?page no="309"?> Im Schonraum-Milieu 309 sammenhängen, in denen solche Fremdheits- und Defizittypisierungen auftauchten, hatte ich aber nicht den Eindruck, dass es ihm um soziale Abwertung oder um Diskreditierung von Aussiedlern geht, sondern darum, ihre Lebensschwierigkeiten realistisch zu sehen, Verständnis für ihre Problemlage zu entwickeln, gewissermaßen Partei zu ergreifen und Verantwortungsgefühl für die Menschen, die aus Polen, Russland usw. nach Deutschland kommen, zu demonstrieren. Es war offensichtlich, dass die Leitung des Marienhauses sich mittels solcher Ausdrücke wie ‘Leute aus einer anderen Welt’ eine Klientel definiert, für die diese Einrichtung eine besondere Zuständigkeit beansprucht und auf die sie durch spezifische Gestaltungsleistungen einzuwirken bestrebt ist. So lernte ich die Fremdheits- und Defizitzuschreibungen als Bestandteil einer Perspektive auf Aussiedler kennen, in der sich spezifische Organisationsprämissen der Einrichtung niederschlagen. Und ich lernte zu verstehen, wie in Einnahme dieser Perspektive Fremdheit von Aussiedlem gleichsam pragmatisch gewendet wird, also zu den Organisationszwängen des Hauses und zu seinen institutionell verfestigten Sinnquellen in Beziehung gesetzt wird. In diesem Sinne verwende ich den Ausdruck „organisierte Perspektive“. 235 Unter Einnahme einer spezifischen Perspektive - oder wie ich für institutionelle Handlungskontexte sagen möchte: unter Einnahme einer organisierten Perspektive auf soziale Erscheinungen und auf soziale Prozesse führen Mitglieder einer sozialen Welt Auseinandersetzungen um die Bedingungen ihrer eigenen Zugehörigkeit zu dieser Welt und um deren Gestaltung. Über Sinn- und Auseinandersetzungskonzepte werden Zugehörigkeiten zu sozialen Welten und deren Subwelten bestimmt (vgl. Strauss 1978b). Sinn- und Auseinandersetzungskonzepte sind Bestände des Orientierungswissens, mittels derer Menschen Bezüge zu den Objekten der sozialen Wirklichkeit her- 235 Dieser Begriff findet sich in einer Veröffentlichung von Shibutani, die Strauss in „Spiegel und Masken“ zitiert, um das Konzept der Sozialen Welt vorzustellen (Strauss 1974, S. 176). Mit „organisierter Perspektive“ als einem wichtigen Merkmal sozialer Welten ist bei Shibutani die gemeinsame Perspektive gemeint, die durch Teilhabe an gemeinsamen Kommunikationskanälen entsteht. Ich verwende diesen Ausdruck, um über den Aspekt der Gemeinsamkeit hinaus zu betonen, dass Perspektiven, die Angehörige bestimmter sozialer Welten einnehmen, organisatorische Interessen und Bestandserfordernisse zugrunde liegen, ferner um zu betonen, dass der Geltungsanspruch dieser Perspektive an spezifische organisatorische Praktiken gekoppelt ist. <?page no="310"?> 310 Aussiedler treffen aufEinheimische stellen und ihr eigenes Tun legitimieren. Ihre wissenschaftliche Rekonstruktion ermöglicht Aussagen darüber, wie Akteure an der Hervorbringung, Gestaltung und Veränderung sozialer Welten und an Auseinandersetzungen um deren Beschaffenheit beteiligt sind. Analog zu ethnografischen Forschungsarbeiten lässt sich die Erfassung von Sinn- und Auseinandersetzungskonzepten auch ansehen als Aufdeckung der kulturellen Bedeutungen, die Menschen verwenden, um ihre sozialen Angelegenheiten zu organisieren und ihre Erfahrungen zu interpretieren. 236 Im Bezugsrahmen des Soziale-Welt-Verständnisses (Strauss 1978b) erachtete ich eine Rekonstruktion der im Marienhaus organisierten Perspektive als wichtig für das Verständnis der dort realisierten Arbeit mit und für Aussiedler und für das Verständnis der dort beobachtbaren kommunikativen Arrangements. Daher interessierte ich mich für die Sinnkonzepte, die im Marienhaus gegenüber Aussiedlem orientierungswirksam sind, sowie für die Kemaktivitäten, in denen diese Einrichtung sich der ‘Leute aus einer anderen Welf annimmt und ihre Fremdheit bearbeitet. Bei den nachstehend diskutierten Komponenten der organisierten Perspektive auf Aussiedler handelt es sich um Sinnkonzepte, von denen die organisatorischen Anstrengungen des Personals geleitet sind, wenn sie Aussiedlerseminare veranstalten und sich auf die ‘Leute aus einer anderen Welf einstellen. Indem das Personal in seinen praktischen Handlungen an diesen Konzepten orientiert ist, werden im Marienhaus die lür Aussiedlerseminare charakteristischen Erfahrungsbedingungen hervorgebracht. Die oben beschriebenen Merkmale des Erlebnisstils der Seminarteilnehmer haben diese organisierte Perspektive zur Voraussetzung. Zum analysemethodischen Vorgehen bei der Rekonstruktion der organisierten Perspektive: Die Beschreibung der im Marienhaus auf Aussiedler eingenommenen organisierten Perspektive nehme ich auf der Grundlage unterschiedlicher Datenquellen vor. Da der geschäftsführende Direktor in besonderem Maße Verantwortung für das Bildungsangebot und die wirtschaftliche Existenz der Einrichtung trägt, sehe ich ihn als die wichtigste Quelle zur Erschließung des Veranstaltungsrahmens „Aussiedlerseminar im Marien- 236 Solche Bedeutungsstrukturen werden in der Ethnografie als Cultural Themes bezeichnet, d.h., als „cognitive principle, tacit or explicit, recurrent in a number of domains and serving as a relationship among subsystems of cultural meaning“ (Spradley 1979, S. 186). <?page no="311"?> Im Schonraum-Milieu 311 haus“ an. Ich stütze mich im Folgenden auf Interviewpassagen, die erklärungstheoretische Aussagen bezüglich der Arbeit mit Aussiedlem enthalten. Auch greife ich auf kurze, verdichtete Formulierungen des Direktors zurück. Des Weiteren beziehe ich mich auf Äußerungen des Geistlichen sowie auf eigene Beobachtungen und Feldnotizen, ferner auf die eingangs vorgenommenen Beschreibungen des institutioneilen Standortes und des Seminarbetriebs. Die herangezogenen Textpassagen untersuche ich in äußerungsstruktureller Beschreibungshaltung und unter Einnahme der Analyseperspektive der pragmatischen Brechung (vgl. Kap. 3.). Die organisierte Perspektive auf Aussiedler lässt sich als ein Set verschiedenartiger, gleichwohl aufeinander bezogener Sinnkonzepte fassen. Zur Charakterisierung der Eigenlogik der jeweiligen Komponenten zeige ich auf: die kognitive Struktur des jeweils identifizierten Sinnkonzeptes, seinen Bezug zu den Kemaktivitäten im Marienhaus und seine Handlungsfunktion in praktischen Anwendungszusammenhängen sowie - Mechanismen der Stützung seiner institutionenspezifischen Geltung. 6.6.2 „Wir mögen Aussiedler! “ - Strikte Akzeptanzhaltung als Mitgliedschaftsbedingung Im Rahmen eines längeren ethnografischen Interviews frage ich den Leiter des Marienhauses, was Aussiedler, die in das Marienhaus kommen, seiner Meinung nach an dieser Einrichtung besonders schätzen. Er führt zunächst einige äußere Gegebenheiten an (Lage und Ausstattung des Hauses) und kommt dann auf das Personal zu sprechen: 237 102 DIR: 103 DIR: 104 DIR: 105 K So. Und dann das Personal, wir ham ja das durchsetzt sozusagen von Aussiedlern und ** Hiesigen. Wir #mögen# die Aussiedler. W/ wir #LAUTER# 237 Für den Interviewpartner habe ich eine Sprechersigle gewählt, das seine Funktionsrolle als Direktor (= DIR) kennzeichnen soll. Da ich Formulierungsprozesse in Interviews nicht mit der gleichen Detailliertheit untersuche wie das Äußerungsverhalten in natürlichen Gesprächssituationen, habe ich sie um leichtere Lesbarkeit zu ermöglichen abweichend von den sonst geltenden Konventionen transkribiert. Zur Kenntlichmachung von Äußerungen aus Interviewsituationen verwende ich im nachfolgenden Analysetext (S. 311-318) die kursive Schreibweise. <?page no="312"?> 312 Aussiedler treffen aufEinheimische 106 DIR: 107 BM: 108 DIR: 109 BM: 110 DIR: 111 DIR: 112 K 113 DIR: 114 K 115 DIR: 116 DIR: 117 DIR: 118 DIR: 119 DIR: 120 DIR: 121 DIR: 122 DIR: 123 DIR: 124 DIR: 125 DIR: 126 DIR: 127 BM: mögen sie. Wir reden Wie wird das vermittelt? mit ihnen, das heißt eben wir sind äh wenn Was würdest du sagen? ich eben, wenn ich merke, dass Mitarbeiter die Aussiedler nicht #mögen,# dann müssen wir uns #SPITZ # #trennen#. *3,5* Ich stell hier so Leute ein, #SPITZ # die da was mit anfangen können, ne. Ich würde würde auch generell fast mal bei den Aussiedlern, das ist eins ei/ ei eine mei/ meiner Aufgaben auch, die äh da auf diesem Hintergrund einzustellen und wenn nicht, dann auch sie in dieser Hin/ Hintergrund zu motivieren. Es sind nicht, also ( ) nicht nur auf diesem Hintergrund, es sind, der Kunde ist König. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber wenn de di/ wenn de dich mit dieser Aussiedlergruppe zum Beispiel nicht identifizieren kannst, wenn du ihnen * nicht was Gutes tun willst, dann hat das keinen Sinn diese Arbeit. Und das schlägt zurück, das merken die. Ja. Ja, ja. Strukturelle Beschreibung Z. 102-127: Der Direktor ist dabei, Umstände anzuführen, die seiner Auffassung nach ausschlaggebend dafür sind, dass Aussiedler besonderen Gefallen an einer Seminarwoche im Marienhaus finden. Zuvor hatte er bereits daraufhingewiesen, dass die Teilnehmer im Marienhaus auch Personal antreffen, mit dem sie russisch oder polnisch sprechen können. Er kommt nun auf die Gesamtheit des Personals zu sprechen und weist noch einmal auf die schon erwähnte Personalzusammensetzung aus Hiesigen und Aussiedlern hin (Z. 103-104). Es folgt eine Äußerung, die das Verhältnis zwischen Personal und Aussiedlern kurz und bündig charakterisiert [Wir mögen Aussiedler, Z. 104-106], Als gemeinsame Eigenschaft der im Marienhaus Tätigen wird darin eine Grundhaltung <?page no="313"?> Im Schonraum-Milieu 313 gegenüber Aussiedlem genannt, die auch mit Begriffen wie Sympathie, Wohlwollen und Wertschätzung umschrieben werden könnte. In dieser Erklärungsaktivität wird nicht nur eine prinzipielle Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlern zum Ausdruck gebracht, sondern auch, dass Aussiedler, die in das Marienhaus kommen, darin etwas vorfmden, was sie anderenorts nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit erfahren können. Seine Äußerung weist eine deutlich markierte Betonung (Z. 105) auf und wird zusätzlich durch umgehende Rephrasierung markiert [Wir mögen die Aussiedler. W/ wir mögen sie. Z. 104-106]. Dadurch wird diese Äußerung verstehbar als fraglos geteilte Sympathie- und Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlern. Auch klingt darin ein Wissen um gesellschaftliche Kontexte an, in denen andere Haltungen gegenüber Aussiedlem bestehen als in der Wir-Gemeinschaft, für die der Direktor hier spricht. Der Erklärungsgehalt, der in der eben zitierten Formulierung des Direktors steckt, lässt sich auch so umschreiben: Aussiedler schätzen das Marienhaus, weil sie sich dort als ‘Leute aus einer anderen Welt’ akzeptiert fühlen können, während sie in anderer Umgebung eher Gefahr laufen, gegenteilige Erfahrungen zu machen. Es folgt eine Frage des Feldforschers; er will wissen, wie diese Sympathie- und Akzeptanzhaltung vermittelt wird (Z. 107 u. 109). Der Direktor beantwortet diese Frage unter Hinweis auf kommunikative Offenheit und interessiertes Zuwendungsverhalten in seinem Mitarbeiterteam [Wir reden mit ihnen]. Er führt dann aus, wie er als verantwortlicher Leiter des Hauses dafür sorgt, dass diese Akzeptanzhaltung auch institutionell garantiert ist, sie also zu einem erwartungssicheren Merkmal dieser Einrichtung wird. In seinen Ausführungen (Z. 108-120) wird deutlich, dass die Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlern eine zentrale Komponente im sozialen Anforderungsprofil für das Personal ist. Für ihn ist das Fehlen dieser positiven Einstellung gegenüber den Aussiedlern sogar ein Kündigungsgrund [Wenn ich merke, dass Mitarbeiter die Aussiedler nicht mögen, dann müssen wir uns trennen.]. 2 '* Seine anschließende Erläuterung der Einstellungspolitik (Z. 113-115) lässt vermuten, dass bei Vorstellungsgesprächen mit Bewerbern um einen Arbeitsplatz diese Komponente des sozialen bzw. persönlichen Anforderungsprofils Gegenstand einer gezielten Überprüfung ist. Als 238 Wie ich bei anderen Gelegenheiten erfahren habe, sah sich der Direktor durchaus einige Male gezwungen, solche Maßnahmen zu ergreifen. <?page no="314"?> 314 Aussiedler treffen aufEinheimische weitere Maßnahme zur Sicherstellung der prinzipiellen Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlern ist offenbar auch eine besondere Motivierungsarbeit unter den Mitarbeitern erforderlich (siehe Z. 115-121). Es folgt eine Äußerung, in der der Informant eine aus der Geschäftswelt entlehnte Formel verwendet [der Kunde ist König}. Am Gebrauch dieser Formel und der angeschlossenen Relevanzmarkierung [Das ist ein wichtiger Punkt] wird deutlich, dass im Marienhaus so etwas wie strikte Kunden- oder Klientenorientierung als zentrale Leitvorstellung verankert ist. Weiter erklärt der Direktor, dass die Arbeit mit Aussiedlern sinnlos sei, wenn man nicht ein Stück weit auf sie zugehen und sich mit ihnen identifizieren könne (Z. 122- 126). Er spricht hier ein Problem an, vor das er jeden gestellt sieht, der mit Aussiedlern zu tun hat: Aussiedler würden sehr genau spüren, mit welchen Einstellungen und Gefühlen ihnen Hiesige gegenübertreten, und sie würden ihr eigenes Verhalten gegenüber Einheimischen an den bei ihnen erfahrenen Haltungen ausrichten. Während der Informant zuvor in der Wir- oder in der Ich-Form die Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlem sowie Praktiken ihrer Sicherstellung erläutert hat, wechselt er ab Z. 122 die Anredeform. Die Äußerungskonstruktion Aber wenn de di/ wenn de dich mit dieser Aussiedlergruppe zum Beispiel nicht identifizieren kannst, wenn du ihnen * nicht was Gutes tun willst ... enthält die 2. Person Singular. Auch spricht der Direktor von einer bestimmten Gruppe von Aussiedlem er bezieht sich hier auf die gerade im Hause weilende Gruppe, mit der der Feldforscher näher in Kontakt kommen will. Deutlich wird in Z. 122-126, dass die Akzeptanzhaltung hier zum Ausdruck gebracht als identifizieren mit einer bestimmten Aussiedlergruppe vom Interviewpartner als unverzichtbares Erfordernis des zwischenmenschlichen Zugangs, des Aufbaus einer Vertrauens- und Solidaritätsbeziehung, angesehen wird. Auf den ersten Blick scheint der Adressatenbezug dieser Äußerung ambivalent zu sein; der Bezug auf die Gruppe, mit der der Feldforscher sich befassen will, macht diese Äußerung allerdings als eine an ihn adressierte erkennbar. Es kommt hier zu einer interessanten Rahmenveränderung der Interviewsituation: Der Direktor erklärt nicht mehr die Wichtigkeit der Akzeptanzhaltung für die Arbeit im Marienhaus, er vollzieht jetzt Aktivitäten, die darauf zielen, auch dem Feldforscher die Wichtigkeit dieser Haltung für seine Forschungsabsichten klar zu machen. Gewissermaßen instruiert der Direktor den Feldforscher, sich an einem für alle Mitarbeiter des Hauses geltenden Prinzip zu orientieren. Mit dem Hinweis auf Identifi- <?page no="315"?> Im Schonraum-Milieu 315 kationsbereitschaft und auf die Bereitschaft, ihnen Gutes tun zu wollen, markiert er auch die besondere Aufgabe, vor die er den Feldforscher ebenso gestellt sieht wie die professionellen Aussiedlerbetreuer: Es kommt so der Mitteilungsgehalt in der Betreuungsarbeit wie im Feldforschungsprozess darauf an, durch Einnahme einer Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlem einen wichtigen Schritt zum Aufbau einer Vertrauensbasis zu schaffen. Interesse an den Belangen von Aussiedlem und wirkliche Solidarisierungsbereitschaft mit ihnen wird als ein generell für die Arbeit mit Aussiedlem geltendes Erfordernis nicht allein für die im Marienhaus Tätigen verdeutlicht. Analytischer Kommentar Z. 102-127: Die Interviewpassage zeigt, dass ‘Aussiedler mögen’ zum Anforderungsprofil für die Mitarbeiter im Team gehört, und sie zeigt auch, wie die Einrichtungsleitung diese Zugehörigkeitsbedingung als solche durchsetzt: Fehlt diese positive Haltung oder bestehen entsprechende Zweifel, kommt es zur Entlassung bzw. gar nicht erst zur Einstellung. ‘Aussiedler mögen’ ist ein in dieser Einrichtung fest verwurzeltes Konzept, das sich in Face-to-Face-Situationen zwischen Aussiedlem und dem Personal bewähren muss. Auch muss seine Geltung auf Personalseite durch Einnahme entsprechender Arbeitshaltungen verifiziert werden. Es handelt sich um eine unverzichtbare Mitgliedschaftsbedingung, die für die unteren Personalgmppen (Zivildienstleistende, Hausmeister, Hauswirtschaftspersonal) genauso gilt wie für das pädagogische und geistliche Personal. Die Interviewpassage lässt erkennen, dass es vor allem der Direktor ist, der darüber befindet, ob ‘Aussiedler mögen’ in hinreichender Weise als Arbeitshaltung mitgebracht bzw. unter Beweis gestellt wird. Indem eine Akzeptanzhaltung und ein ausgeprägtes Interesse gegenüber Aussiedlem quasi zum Programm erhoben werden, versucht das Marienhaus dafür zu sorgen, dass der kulturelle Hintergrand der ‘Leute aus der anderen Welf im konkreten Umgang miteinander nicht zu etwas Trennendem, sondern zu etwas Anerkanntem und Geschätztem wird. Seine Wurzeln hat dieses Konzept in der Gründungsgeschichte der Einrichtung, dem Bestreben, ein Ort der Neuorientierung und Restabilisierung für Menschen zu sein, die in den frühen 50er-Jahren als Vertriebene nach Westdeutschland gekommen sind. Aus dieser Zeit stammt der Anspruch auf das Mandat für das Klientel Vertriebene bzw. Aussiedler. ‘Aussiedler mögen’ ist aber sicherlich auch in der konfessionellen Bindung des Hauses fundiert und lässt sich quasi als ein aus dem religiösen Sinnsystem abgeleitetes einrichtungsspezifisches Gebot ansehen. Als wichtiger Stützmechanismus des Gel- <?page no="316"?> 316 Aussiedler treffen aufEinheimische tungsanspruchs dieses Konzeptes erweist sich ferner die Personalpolitik. Indem Menschen beschäftigt werden, die selbst Aussiedler sind oder aus Aussiedlerfamilien stammen, kann die Akzeptanzhaltung gegenüber Teilnehmern von Aussiedlerseminaren als fraglos gegeben vorausgesetzt werden. Die Solidarisierungsbereitschaft von Mitarbeitern gegenüber Aussiedlem kann bei Zugehörigkeit zur Schicksalsgemeinschaft sicherer vorausgesetzt werden als bei Personal mit ganz anderen Biografien. Ein weiterer Stützmechanismus ist m.E. in den realen Umsetzungen der Akzeptanzhaltung in Arbeitssituationen mit Aussiedlem zu sehen. Dadurch, dass in Faceto-Face-Situationen eine Sympathie- und Akzeptanzhaltung vermittelt wird, ist die Herstellung von Vertrauens- und Kooperationsgrundlagen erleichtert. Und dadurch, dass ‘Aussiedler mögen’ Mitgliedschaftsbedingung für das Personal ist und für dieses quasi zum Arbeitsinstrumentarium wird, erfolgt auch eine Habitualisierung dieser Haltung. 6.6.3 „Dav ist euer Haus! “ - Fremdheitsbearbeitung durch Milieudinge In den ethnografischen Interviews äußerte sich der Direktor noch in anderer Hinsicht dazu, welchen Erlebniswert das Marienhaus für Aussiedler besitzt. Seinem Verständnis nach kommen dem Marienhaus Funktionen zu, die über bloße Unterbringungs-, Versorgungs- und Bildungsfunktionen hinausgehen. So wurde im Verlauf dieses Interviews auch deutlich, dass er das Haus mit seiner personellen Besetzung, seiner gegenständlichen Ausstattung und seinen Inszenierungsmitteln die im Marienhaus vorfindliche Milieuhaftigkeit als wichtige symbolische Ressourcen für den Umgang mit der Fremdheit und der marginalen Befindlichkeit von Aussiedlem versteht. Auf eine ausführliche Wiedergabe entsprechender Interviewpassagen möchte ich hier verzichten; ich gebe die entsprechenden Passagen paraphrasiert sowie in kurzen Zitaten wieder. Der Direktor spricht in dem Interview davon, dass die Gäste das Gefühl haben sollen, dass das Marienhaus ihr Haus sei. Er weist daraufhin, dass er manchmal zu Aussiedlem auch ausdrücklich sage, das ist euer Haus! . Weiter meint er, dass allein schon das Gebäude und seine Innenausstattung geeignet seien, Schwellenangst abzubauen. Das Gefühl, an einem falschen Ort zu sein, könne hier nicht so leicht aufkommen. Aussiedlem komme der bescheidene Standard des Hauses entgegen. Das Marienhaus sei keine Luxusbude und nich so modernistisch wie andere Einrichtungen, es sei gemütlich <?page no="317"?> Im Schonraum-Milieu 317 und einfach. Hier müssten Aussiedler keine Angst haben, die Tür aufzumachen und von kostspieligen Ausstattungselementen eingeschüchtert zu werden. Außerdem würden sie unter dem Personal Leute mit ähnlichen Biografien und mit Polnisch- oder Russischkenntnissen antreffen. Auch die Mahlzeiten, die für sie zubereitet würden, trügen ihren Vorlieben Rechnung. 239 Hier würde sich die über 35jährige Erfahrung mit Aussiedlern bewähren. Die konfessionellen Symbole und die Ortsnamen auf den Türen würden es insbesondere den katholischen Aussiedlem aus Polen leicht machen, das Marienhaus als ihr Haus wahrzunehmen. Die Ausstattung des Marienhauses insgesamt komme aber auch den russlanddeutschen Aussiedlern sehr entgegen und mache es ihnen ebenfalls leicht, sich dort wohl zu fühlen. Wenn der Direktor davon spricht, dass Aussiedler das Marienhaus als ihr Haus ansehen können, als ein Haus, das für sie bestimmt ist, und das sie als ihres bzw. als etwas für sie Geschaffenes ansehen sollen, bezieht er sich auf Milieudinge, 240 die ihm tauglich erscheinen, Fremdheit abzubauen, an Vertrautes anzuknüpfen und Heimaterinnerungen wach zu halten. Aussiedlern ein Haus zu bieten, das sie als das ihre ansehen sollen, gründet in Annahmen über deren Fremdheitsgefühle und setzt konkrete Milieugegenstände in eine Beziehung zu den inneren Zuständen derer, die in das Haus kommen. In der Interviewpassage, in der sich der Direktor darüber äußert, wie Seminarteilnehmer sich zum Haus und seinen Ausstattungselementen in Beziehung setzen (sollen), werden zwei Symbolisierungsebenen genannt, die wichtig für die Entwicklung der Sichtweise bzw. für das Aufkommen des Gefühls, im eigenen Haus zu sein, sind. Zum einen die Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung von Dingen, deren symbolische Aufla- 239 Bei der Zusammenstellung von Wochenspeiseplänen orientiert sich das Küchenpersonal generell am sozialen Zuschnitt von Seminargruppen, also am jeweils repräsentierten Sozialmilieu. So sah der Speiseplan für Teilnehmer eines Regenerationsseminars, das parallel zu dem Aussiedlerseminar stattfand, durchgängig Vollwertkost vor, während für die Teilnehmer des Aussiedlerseminars Gerichte vorgesehen waren, die man als gute deutsche Hausmannskost bezeichnen kann. 240 Ich verwende hier einen Begriff aus der Milieutheorie. Der Begriff „Milieudinge“ bezieht sich auf die Vorgegebenheiten in der Lebenswelt; darunter werden Dinge verstanden, mit denen Menschen Wertvorstellungen und Sinnhaftigkeit verbinden. In der Wahrnehmung und im Umgang mit Milieudingen stellt das Individuum Weltbezüge her (vgl. Grathoff 1989). Mit der Milieutheorie hat die vorliegende Untersuchung das Interesse am Zustandekommen von Intersubjektivität auf der Grundlage lebensweltlicher Kommunikationsprozesse gemeinsam. <?page no="318"?> 318 Aussiedler treffen aufEinheimische dung der Inszenierung eines auf Aussiedler eingestellten Milieus förderlich ist. Zum anderen die Ebene sprachlichen Handelns bzw. expliziter Verdeutlichungsleistungen: Wie gesehen, bearbeitet der Direktor das Verhältnis zwischen den sich fremd fühlenden Seminarteilnehmern aus osteuropäischen Ländern und der Einrichtung, in der sie sich befinden, durch sprachlichsymbolisches Übereignen (siehe die Formulierung das ist euer Haus! ). Ähnliche Verdeutlichungsleistungen erbringt der Geistliche, wenn er den Seminarteilnehmern die Gründungsumstände des Marienhauses darlegt und in kontinuitätsstiftender Weise soziale Funktionen des Hauses aufzeigt, die es für die nach Kriegsende zugewanderten Vertriebenen hatte. So äußert sich der Prälat in einer Gesprächsrunde über die Gründungsumstände des Marienhauses wie folgt (voraus ging eine längere, dramatisierende Darstellung zu Kriegswirren beim Einmarsch der Sowjetarmee in ehemals deutsche Gebiete sowie eine Erzählung zu einer lebensbedrohlichen Begegnung mit der Sowjetarmee, die er als junger Priester hatte): 95 PS: so war das damalsf 96 PS: *1,5* es war so eine ganz entsetzliche notf *1,5* 97 PS: un=da hat mein Vorgängerder prälat schönlein *3* 98 PS: #ein altes verfallenes# haus hier *3* erwerben können- 99 K #ÜBERBETONT # 100 PS: ** un=das is umgestaltet worden zu einem haus der 101 PS: begegnungj, *2,5* dass die leute nich verzweifeln 102 PS: solltenj, *1,5* dass sie also hier sich * immer wieder ** 103 PS: orientieren könnten *1,5* das gemeinsame * Schicksal * 104 PS: hat * viele (nun) dann doch gestärktdass sie wussten- 105 PS: wir sind nicht all"eine *3*# *13* #wir durften nich mehr 106 K& #TASCHE RASCHELT, PASSAGE In struktureller Beschreibungsperspektive ist auf folgende Gestaltungsmerkmale der hier entwickelten Kurzversion der Gründungsgeschichte des Marienhauses hinzuweisen: In einer kodaartigen Formulierung, die auf eine vorausgegangene Darstellung eigener Erlebnisse bei Ende des Krieges bezogen ist, folgt eine globale Charakterisierung der Lebensverhältnisse in dieser Zeit. Der historische Kontext „Zweiter Weltkrieg und seine Folgen“ wird <?page no="319"?> Im Schonraum-Milieu 319 dabei als eine Erfahrungswirklichkeit, in der entsetzliche not herrschte, vergegenwärtigt. Es folgt ein Äußerungsteil (Z. 97-98), in dem die Initiative zur Gründung des Marienhauses als eine Reaktion auf die damalige große Not kontextualisiert ist (durch das äußerungsverknüpfende un=da in Z. 97). Das Marienhaus findet in diesen Passagen keine ausdrückliche Erwähnung. Die Hinweise auf den Amtsvorgänger prälat schönlein und auf den renovierungsbedürftigen Zustand des damals erworbenen Hauses kontextualisieren Gründungsumstände des Marienhauses. In der dann angeschlossenen Äußerung (Z. 98-100) erwähnt der Prälat, dass das Haus umgestaltet worden sei und weist auf spezifische Zweckbindungen des Hauserwerbs und seiner Umgestaltung hin: Es war als haus der begegnung gedacht, als Haus für Menschen in einer Lebenslage, die zum Verzweifeln war (Z. 100-103). Als Leitvorstellung, die mit der Gründung des Marienhauses verbunden war, wird hier genannt, den Menschen, die sich nach den Kriegswirren in einer Situation großen Leidensdrucks befanden, Orientierung und innere Stärkung geben zu können. In dieser Äußerung und auch in der Fortsetzung seiner Rede (Z. 102-105) lässt der Prälat anklingen, auf welche Weise das Marienhaus zur Wiedergewinnung von Orientierungssicherheit und Lebensmut beitragen will: Dadurch, dass ein Bewusstsein um Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen in gleicher Lebenslage vermittelt wird. 241 Der Geistliche bereitet hier die Gründungsideen des Hauses für eine aktuelle Zuhörerschaft auf, für Menschen mit einem ähnlich gelagerten Erfahrungshintergrund und ähnlichen Orientierungsproblemen wie bei den Vertriebenen. Insofern lässt sich der Ausschnitt aus der Ansprache des Geistlichen auch als Hinweis darauf verstehen, wie mit dem Gründungskontext des Marienhauses in der aktuellen Arbeit mit Aussiedlem umgegangen wird: Die aktuelle Zuhörerschaft wird an die sinnstiftenden Funktionen angekoppelt, die das Haus für jene Menschen hatte, die durch Flucht und Vertreibung in eine verzweifelte Lebenslage geraten waren. Die Restabilisierungsfunktionen, die das Marienhaus in seinen Anfängen für Vertriebene hatte (oder ha- 241 Dass hier eine Kollektivität in Rede steht, die nicht allein durch das Flüchtlings- und Vertriebenenschicksal verbunden ist, sondern auch durch das christliche Glaubensbekenntnis, könnten weitere Kontextualisierungshinweise in der Ansprache des Geistlichen belegen. Ich spreche hier bewusst nicht nur von der katholischen Glaubensgemeinschaft, weil der Geistliche in der Gesprächsrunde zu Recht vermutete, dass in der Gruppe auch Baptisten und Evangelische seien, die aber wie er sinngemäß sagte wie alle Christen an den einen Gott glauben. <?page no="320"?> 320 Aussiedler treffen aufEinheimische ben sollte), wird als Sinngebungsmuster für die aktuelle Zuhörerschaft enaktiert. Solche gründungsgeschichtlichen Kontextualisierungen des Marienhauses stellen Anschlüsse sowohl an christliche Glaubensgemeinschaften als auch an Gemeinschaften her, die durch kriegsbedingte Zwangsmigration 242 entstanden sind. Noch einmal zurück zu den Erklärungen des Direktors, aus denen hervorgeht, dass das Marienhaus sich ganz bewusst anhand konkreter Milieudinge in eine Beziehung zu Aussiedlem setzt. Der Direktor ist überzeugt davon, dass das Eintauchen in diese Milieuhaftigkeit adäquat und hilfreich für die Lebenssituation der Betroffenen ist. Abbau von Fremdheitsgefühlen, Verfügbarmachung einer Schonraumatmosphäre, Schaffung von Anschlussmöglichkeiten für mitgebrachte kulturelle Orientierungen und die Ermöglichung stiller Erinnerungsarbeit 243 werden von ihm als Betreuungsaufgaben angesehen, die sich durch spezifische Milieudinge und Inszenierungsmittel bearbeiten lassen. Diese Selbstgewissheit, mit der besonderen Milieuhaftigkeit des Hauses bei Aussiedlem „richtig zu liegen“, bei ihnen gut anzukommen, speist sich vor allem aus der relativ langen Tradition als Heimstätte für deutschstämmige Migranten aus osteuropäischen Gebieten. In persönlichen Danksagungen von Aussiedlem an das Mitarbeiterteam, in positiven Bewertungen der Seminarwoche anlässlich der Abschlussbesprechungen und auch in mehrfach wiederkehrenden Seminarteilnehmern finden Verantwortliche und Mitarbeiter des Marienhauses das Konzept der Fremdheitsbearbeitung durch Milieuhaftigkeit bestätigt. Hieraus bezieht 242 Wie solche Anschlüsse an die Gemeinschaften, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Ostgebiete verlassen mussten, sprachlich-explizit vorgenommen werden, zeigt eine weitere Passage aus der vom Geistlichen veranstalteten Gesprächsrunde: Nachdem er ausführlich russische und polnische Vertreibungsmaßnahmen dargestellt hatte (er präsentierte sich selbst als Opfer der Vertreibungspolitik und konnte mit dramatisierenden Erzählungen über Begegnungen mit der Sowjetarmee aufwarten), wandte er sich wieder seiner Zuhörerschaft mit folgenden Worten zu: ihr seid also nicht vertrieben worden sondern so hergekommen. Zwar wird in dieser Äußerung eine Unterscheidung zwischen denen, die vertrieben wurden und der Gruppe, mit der der Geistliche es aktuell zu tun hat, getroffen; es wird aber auch ein Anschluss an die Kollektivität der Vertriebenen realisiert. Das so hergekommen drückt Kontinuität eines Zuwanderungsprozesses aus, der mit den Vertriebenen begonnen hat. 243 Zitat aus dem Interview mit dem Direktor: man kann auch sehr schnell in die Vergangenheit kommen, wenn man das will. <?page no="321"?> Im Schonraum-Milieu 321 der Direktor auch die Gewissheit, erfolgreicher als andere Bildungsstätten mit Aussiedlern arbeiten zu können. 244 6.6.4 „Wir spielen Gemeinde aufZeit! “ - Religiöse Vergemeinschaftung als Integrationskonzept Das Marienhaus ist eine konfessionell gebundene Bildungsstätte; dies wird in zahlreichen Milieugegenständen mit religiöser Symbolhaftigkeit angezeigt. Von besonderer Bedeutung ist hier die zum Marienhaus gehörende Kapelle, nicht nur weil sie zur durchgängigen Präsenz des religiösen Sinnsystems beiträgt, sondern auch, weil damit ein sakraler Ort gegeben ist, der ohne großen Zeitaufwand aufgesucht werden kann und regelmäßige Bekenntnisausübung im Kollektiv der Seminargruppe ermöglicht. Über die Symbolhaftigkeit der religiösen Milieudinge hinaus ist der Seminarbetrieb eingebunden in ritualisierte Formen der Bekenntnisausübung (Tischgebete, morgendliche Messen) und in Begleitarrangements des Geistlichen. Die Bedeutung der konfessionellen Ausrichtung der Bildungsstätte erklärte mir der Direktor einmal mit den Worten wir spielen Wirklichkeit durch, wir erleben punktuell Gemeinde, wir spielen sozusagen Gemeinde auf Zeit in diesem Haus. 245 Unter Verweis auf das längerfristig für Aussiedler bestehende Problem der Eingliederung in die neue Gesellschaftsordnung betonte er an anderer Stelle, dass es ganz wichtig sei, an die Gemeinde heranzuführen und den Glauben zu stärken. Damit legte er gleichsam das programmatische Grundkonzept dar, nach dem das Marienhaus zur Bewältigung von Integrationsanforderungen beitragen will. Das Sinnkonzept ‘Gemeinde erleben’ ist im konfessionellen Standort der Bildungsstätte fest verankert. Es zielt darauf ab, die Zuwanderer an religiöse Sinnquellen und Vergemeinschaftungsformen heranzuführen. Diese Sinnquellen und Gemeinschaftsformen gelten dabei als ganz wesentliche Ressourcen im Umgang mit inneren Zerrüttungen, Orientierungskrisen und Marginalisierungserfahrungen. Der konfessionelle Standort der Einrichtung schlägt sich also in einer Aus- 244 Ich stütze mich hier auf eine Interviewpassage, in der der Direktor davon spricht, dass andere Häuser - Bildungsstätten in Trägerschaft von Verbänden und parteinahen Stiftungen sich aus dem Feld der Aussiedlerhilfe zurückgezogen haben, da sie es nicht geschafft hätten, Aussiedler da abzuholen, wo sie sind. 245 Evident dürfte sein, dass hier nicht von Gemeinde im kommunalpolitischen sondern im religiösen Sinne die Rede ist; zum Begriff der Gemeindereligiosität vgl. Weber (1972, S. 275). <?page no="322"?> 322 Aussiedler treffen aufEinheimische formung des vom Gesetzgeber vage definierten Auftrags der Eingliederungshilfe nieder, die an Daseinskonzepten eines religiösen Sinnsystems ausgerichtet ist. Für Anschlüsse der Seminarteilnehmer an das Sinnkonzept ‘Gemeinde erleben’ wird im Marienhaus gesorgt durch vielfach präsente religiöse Symbolik, durch Ermöglichung regelmäßiger Bekenntnisausübung und durch das seelsorgerische Begleitarrangement. Dabei stößt das Konzept ‘Gemeinde erleben’ gewöhnlich auf Menschen, die ohnehin ein starkes Bedürfnis nach gemeinsamer Bekenntnisausübung mitbringen, auf Menschen, bei denen die Pflege des christlichen Gemeinschaftslebens eine feste Tradition hat. 6.6.5 „Wir machen Bildungsarbeit! “ - Beanspruchung partieller und professioneller Zuständigkeit im System der Aussiedlerhilfe Die Organisation und Ausgestaltung von Aussiedlerseminaren erfolgt im Marienhaus in Unterrichts- und Lernformen der Erwachsenenbildung. In diesem Sinne spricht das pädagogische Personal des Marienhauses auch von Bildungsarbeit. Über die Orientierung an diesem Sinnkonzept hält im Marienhaus Professionalisierungsdenken Einzug. Ausgehend von den oben bereits genannten Seminarthemen (vgl. Kap. 6.2.1) lassen sich die Intentionen der Bildungsarbeit folgendermaßen einordnen: - Aussiedler sollen lernen, sich auf Mechanismen der Marktwirtschaft einzustellen (der Themenplan sieht u.a. vor: „Verträge und Versicherungen“; „Arbeitsmarkt“ usw.; „Verführung durch Werbung? “); sie sollen mit den besonderen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen im Aufnahmeland vertraut gemacht werden (siehe Thema „Deutschland nach der Einigung“ und Thema „Ausländer, Aussiedler und Asylanten“); sie sollen sich mit ihrer Lebenssituation nach der Aussiedlung auseinandersetzen und dazu befähigt werden, sich auf Identitätsanforderungen im Aufnahmeland einzustellen (siehe: „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ und „Was bedeutet Heimat für mich? “). Wie ‘Bildungsarbeit’ als kommunikativer Prozess zwischen pädagogischem Personal und Seminarteilnehmern organisiert und gestaltet wird, untersuche ich exemplarisch in Kap. 6.8). An dieser Stelle möchte ich zeigen, dass ‘Bil- <?page no="323"?> Im Schonraum-Milieu 323 dungsarbeit’ auch als Sinnkonzept für die institutioneile Positionierung im Gesamtsystem der Aussiedlerhilfe und für die Auseinandersetzung mit anderen Einrichtungen und Instanzen fungiert. In dem Interviewmaterial tauchen drei Abgrenzungskontexte auf, die für die Positionierungsbemühungen und für das Selbstverständnis des Marienhauses als professionell arbeitende Eingliederungseinrichtung relevant sind: Sozialarbeiterische Formen der Aussiedlerbetreuung, andere Bildungshäuser sowie ehrenamtliche Formen der Aussiedlerhilfe. Zu diesen Kontexten im Einzelnen: - Abgrenzungskontext „Sozialarbeit und sozialtherapeutische Intervention“: Als ich den Direktor einmal auf Ordnungs- und Disziplinprobleme im Marienhaus ansprach, meinte er, dass es solche Probleme im Marienhaus nicht gebe. Erklärend fügte er hinzu, dass das Marienhaus keine Sozialarbeit, sondern Bildungsarbeit leiste. In diesem Zusammenhang gebrauchte er die Formulierung Wir machen Bildungsarbeit! . Weiter führte er aus, dass ihm Betreuungseinrichtungen bekannt seien, in denen mit jugendlichen Aussiedlem gearbeitet werde und in denen es zu massiven Problemen mit der Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin komme. 246 In seinen weitergehenden Erläuterungen ordnete der Direktor solche Ordnungs- und Disziplinprobleme dem weiten Feld der sozialen Arbeit zu und machte deutlich, dass solche Probleme mit der Bildungsarbeit des Hauses unvereinbar seien. Die mit dem Konzept ‘Bildungsarbeif beanspruchte partielle Zuständigkeit für Aussiedlerbelange sucht Gruppen- und Ereigniskonstellationen auszuschließen, von denen Ordnungsgefährdungen der Abläufe im Marienhaus ausgehen könnten. ‘Bildungsarbeit machen’ bedeutet daher auch ein Publikum zu rekrutieren, das für diese Form der Eingliederungshilfe geeignet ist. Konstitutiv für die Bildungsarbeit mit Aussiedlem ist es allerdings auch, einen Veranstaltungsrahmen vorzugeben, der krisenhafte Identitätsentfaltungen und tendenziell deviante Verhaltensweisen blockiert. 246 Er sprach von Vandalismus und von Ordnungs- und Disziplinproblemen, die das Personal in Atem halten würden. <?page no="324"?> 324 Aussiedler treffen aufEinheimische - Abgrenzungskontext „andere Bildungshäuser“: Im Verhältnis zu Mitkonkurrenten um staatliche Finanzmittel ist es wichtig, anerkannte Arbeit mit Aussiedlem zu leisten. Aufgrund langjähriger Erfahrung mit Bildungsveranstaltungen für Aussiedler und auch aufgrund der geschichtlichen und konfessionellen Wurzeln des Hauses besteht in dieser Hinsicht die Selbstgewissheit, anderen Häusern etwas voraus zu haben, ja, ihnen überlegen zu sein. Diese Überlegenheitshaltung erfährt im Rückzug anderer Bildungshäuser aus der Aussiedlerarbeit eine Bestätigung. Auch Auszeichnungen für besondere Verdienste auf dem Gebiet der Aussiedlerintegration durch den Aussiedlerbeauftragten des Bundesinnenministeriums sind hier bedeutsam. - Abgrenzungskontext „Ehrenamtliche“: Ein dritter Abgrenzungskontext sind die aus Mildtätigkeitsbedürfnissen einzelner Personen oder aus Interessenslagen gesellschaftlicher Organisationen (Parteien, Kirchengemeinden, Verbände) hervorgegangenen Formen der Aussiedlerhilfe. Auch im Verhältnis zu diesen Eingliederungskontexten sieht sich das Marienhaus als Einrichtung, die im Stande ist, Eingliederungsprozesse von Aussiedlem adäquater und effektiver zu unterstützen. Die langjährige Erfahrung in der Bildungsarbeit mit Vertriebenen und Aussiedlem sowie die Ausstattung mit sozialpädagogisch und sozialwissenschaftlich geschultem Personal fundamentiert hier eine Mandatshaltung das Mandat auf adäquate Unterstützung der Eingewöhnungs- und Eingliederungsprozesse bei Aussiedlem. Dass die Auseinandersetzung mit ehrenamtlicher oder laienhafter Aussiedlerhilfe von der Geltendmachung eines professionellen Mandats bestimmt ist, kommt in dem folgenden Gedächtnisprotokoll deutlich zum Ausdruck: Gesprächsprotokoll: Der Direktor stellt Vergleiche mit der ehrenamtlichen Aussiedlerhilfe an. Im Unterschied zum Marienhaus seien ehrenamtliche Betreuer nicht in der Lage, Aussiedlem adäquat zu helfen. Es handle sich bei ihnen meist um Leute, die sich einmal selbst in einer solchen Lage wie jetzt die Aussiedler befunden haben (um ehemalige Vertriebene und Flüchtlinge). Ihre Hilfeleistungen seien an Bedürftigkeitsannahmen orientiert, die aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg stammten. Damals seien sie angemessen gewesen, heutzutage aber gingen solche Bedürftigkeitsannahmen an der wirklichen Bedarfslage vorbei. Aussiedler wollten keine abgelegten Kleidungsstücke oder ausrangierten Möbel geschenkt bekommen. Für sie sei wichtig, sich das selbst kaufen zu können, was sie als lebensnotwendig erachteten. Ebenso sei ihnen wichtig, sich das, was sie als zum Lebensstandard <?page no="325"?> Im Schonraum-Milieu 325 der Hiesigen gehörig ansähen, selbst kaufen zu können. Die ehrenamtliche Aussiedlerhilfe sei problematisch, weil ihre Form der Hilfeleistung (Schenkungen, Verteilung von Spenden) zur Verbreitung negativer Urteile über Aussiedler beitragen würde. So käme es vor, dass Sachgeschenke nicht immer mit dem Dankbarkeitsgestus, den ehrenamtliche Helfer erwarteten, angenommen würden. Bei den Ehrenamtlichen würde dies dann als ein viel zu hohes Anspruchsdenken ausgelegt werden. Letztlich würden solche Hilfeleistungen Aussiedlern nur schaden, weil sie negative Urteilsbildungen unter den Einheimischen hervorrufen und verstärken würden. Es soll hier nicht darum gehen, zu diskutieren, wie berechtigt die im Protokoll festgehaltene Kritik an ehrenamtlichen Formen der Aussiedlerhilfe ist. 247 Im Kern führt der Direktor hier eine Auseinandersetzung um das Mandat der Aussiedlerhilfe; es geht um Unterschiede zwischen professioneller und laienhafter Eingliederungshilfe. ‘Bildungsarbeit’ ist dabei die Sinnquelle, auf der sich das Mandat zur Eingliederung von Aussiedlem festigen lässt. Die vom Direktor geäußerte Kritik macht erkennbar, dass er die Auseinandersetzung mit den Ehrenamtlichen im Habitus des Professionellen führt, der fest von der Überlegenheit seiner Kompetenzen zur Problemdiagnose und 247 Aufgrund der Gespräche und ethnografischen Interviews, die ich mit Aussiedlerbetreuern der Wohlfahrtsverbände fuhren konnte, bin ich zu dem Eindruck gelangt, dass unter den Professionellen der Aussiedlerhilfe generell ein kritisch-distanziertes Verhältnis gegenüber ehrenamtlichen Formen der Aussiedlerbetreuung vorherrscht. Insbesondere aus folgenden Gründen stehen die Professionellen dem Engagement und der Integrationsarbeit der Ehrenamtlichen kritisch gegenüber: (l)Die Einmischungen der Ehrenamtlichen werden oft als Behinderung professionell initiierter Handlungsschemata der Unterstützung des Integrationsprozesses wahrgenommen. (2) Hinter den gestarteten Betreuungs- und Hilfeaktionen werden Verbunds- und parteipolitische Egoismen vermutet; daher wird angezweifelt, dass Aussiedler die wirklichen Nutznießer solcher Aktionen sind. (3) Einmalige Großzügigkeitsgesten (etwa das Verteilen von Weihnachtsgeschenken oder das Verschenken von Mobiliar) werden als Alibiaktionen angesehen, die wegen ihrer Einmaligkeit die Beschenkten irritiert zurücklassen. (4) Ehrenamtliche Helferorganisationen werden als zu sehr mit internen Zwistigkeiten belastet angesehen; die eigentlichen Helferanliegen und Betreuungsabsichten würden dabei auf der Strecke bleiben. Ich erwähne diese Kritiken der Professionellen nicht, um damit die Arbeit ehrenamtlich engagierter Gruppen zu charakterisieren; dies könnte nur in einer gesonderten ethnografischen Darstellung erschöpfend geleistet werden. Es geht mir hier darum, Relevanzgesichtspunkte aufzuzeigen, unter denen die Professionellen das Engagement von Ehrenamtlichen und ihrer Organisationen auf ihr eigenes berufliches Befasstsein mit Aussiedlem beziehen. <?page no="326"?> 326 Aussiedler treffen aufEinheimische von der Tauglichkeit seiner Problembearbeitungsinstrumentarien überzeugt ist. In dem protokollierten Gespräch bezieht er sich auf Bedürftigkeitsannahmen und alltagsweltliche Vorstellungen, von denen Ehrenamtliche geleitet sind, wenn sie Aussiedlem Gutes tun wollen. Er stuft diese Annahmen als nicht mehr zeitgemäß und als von Fehldeutungen geleitet ein. Außerdem weist er auf negative Folgewirkungen der mildtätigen Helferattitüde hin. Die pauschale Kritik, die der Direktor hier an den Ehrenamtlichen übt, ist geleitet von dem Anspruch, kompetenter beurteilen zu können, wodurch und womit den Betroffenen bei der Bewältigung von Integrationsanforderungen wirklich geholfen werden kann. 6.6.6 „Teilnehmertage! “ - Aussiedler als Wirtschaftsfaktor Ein relevantes Dauerthema, das mehrfach vom verantwortlichen Leiter des Marienhauses angesprochen wurde, ohne dass ich gezielt danach gefragt hätte, waren Managementleistungen, derer es bedarf, um den wirtschaftlichen Fortbestand der Bildungsstätte zu sichern. In diesem Zusammenhang tauchte meist auch der Ausdruck Teilnehmertage auf, der sich auf die Belegquote der Heimvolkshochschule bezieht. Die Anzahl der Teilnehmer an Bildungsveranstaltungen des Marienhauses ergibt multipliziert mit Tagessätzen, die pro Teilnehmer berechnet werden können ein bestimmtes Einnahmevolumen. Bei einem ganzjährig ausgebuchten Haus gibt es keine schwerwiegenden Probleme des wirtschaftlichen Selbsterhaltes, wohl aber, wenn es häufiger leer steht oder nur zum Teil belegt ist. Eine hohe Zahl von Teilnehmertagen steht für gute Auslastung der Kapazitäten. Unter diesen Gegebenheiten kann der Personalbestand gehalten oder womöglich sogar aufgestockt werden; desgleichen lassen sich Renovierungs- und Ausbauinvestitionen planen. Das Marienhaus ganzjährig mit Teilnehmern auszulasten, die die Kosten dafür in vollem Umfang selbst tragen können, ist im Marienhaus schwer möglich. Eine gute Auslastung ist aber dadurch gewährleistet, dass Bildungsveranstaltungen angeboten werden, die für die Teilnehmer selbst nicht viel kosten. Die aus Mitteln der öffentlichen Hand finanzierten Aussiedlerseminare sind für das Marienhaus insofern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und somit eine Bestandsbedingung. <?page no="327"?> Im Schonraum-Milieu 327 6.7 Zusammenfassende Charakterisierung: Das Aussiedlerseminar als Erfahrungsraum in der Übergangssituation Im Veranstaltungsrahmen einer Seminarwoche kommen Aussiedler als Fremde in das Marienhaus; während ihres Aufenthaltes wird sehr viel dafür getan, dass sie sich nicht allzu fremd und in ihrer Fremdheit nicht allein gelassen fühlen. Dafür sorgen zum einen die vielen Milieudinge des Hauses. Diese haben die paradoxe Eigenschaft, symbolisch zur Fremdheitsreduzierung beizutragen, aber auch Heimaterinnerungen, Verlust- und Trennungserfahrungen wach zu halten. Neben den Abläufen, in denen die Enaktierung vertrauter Sinnquellen und Symbolwelten von Aussiedlem unterstützt wird (durch symbolische Fremdheitsbearbeitung, durch rituelle Bekenntnisausübung, durch Kommunikation in Herkunftsgemeinschaften usw.), gibt es solche, in denen kulturelles Lernen und die Vermittlung von Gebrauchswissen im Vordergrund stehen (etwa wenn ein Ausflug zu einer Sehenswürdigkeit gemacht wird oder wenn Seminarthemen behandelt werden). Versorgungsarrangements unterstützen Prozesse temporärer Vergemeinschaftung. Neben dem Komfort des Versorgtwerdens mit Mahlzeiten, Wohnraum, Bildung, Kultur und Unterhaltung konstituiert sich durch die Gegenwart sympathisierender Anderer eine Wohlfühlatmosphäre, die Distanz zur Erfahrungswirklichkeit des Alltagslebens schafft. Des Weiteren realisieren die Eingliederungsprozessoren kollektive Identitätsbezüge auf Aussiedler, die die Orientierung auf ein Selbstverständnis als Deutsche unterstützen. 24s Das Bewusstsein um Zugehörigkeit zu einer aus den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges hervorgegangenen nationalen Schicksalsgemeinschaft wird gestärkt. Die Hinführung auf das deutsche Identitätsbewusstsein sowie die Bestätigung nationaler Zugehörigkeit unterstellen eine problemlose Verknüpfbarkeit der bisher gelebten Identität mit einer abstrakten Identität als Deutscher bzw. Deutsche. Schließlich sind vor allem solche Identitätsbezüge relevant, die eine Stärkung des Zugehörigkeitsbewusstseins zur Glaubensgemeinschaft leisten. Hier unterscheidet sich das Marienhaus wohl am deutlichsten von nicht-konfessionellen Einrichtungen, die Aussiedlerseminare durchführen. 248 Die noch folgende Analyse eines Ausschnitts aus der Seminararbeit wird exemplarisch zeigen, wie die Orientierung an der Kollektividentität als Deutsche kommunikativ realisiert wird. <?page no="328"?> 328 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Eingliederungsarbeit im Marienhaus ist orientiert an einem Integrationskonzept, das grundlegend durch das konfessionelle Sinnsystem geprägt ist. Leitvorstellung ist hier, dass religiöse Sinnquellen und die Einbindung in konfessionelle Gemeinschaftsformen die Annäherung an die harte Wirklichkeit im Aufnahmeland, das Sicheinstellen auf extrem veränderte Lebensbedingungen anleiten und unterstützten. Darin aber liegt die Gefahr der Überfokussierung religiöser Sinngebungen und der tendenziellen Vernachlässigung anderer Zuwendungsmodi auf existenzielle Probleme. Die Teilhabe an der religiösen Bekenntnisausübung ist zweifelsohne ein Weg, Verbindungen herzustellen zwischen der im Herkunftsland gelebten Religiosität und den konfessionellen Vergemeinschaftungsformen im Aufnahmeland. Eine Seminarwoche im Marienhaus und die dabei praktizierte Bekenntnisausübung geht mit Kontinuität verheißenden Sinngebungen einher; es finden Symbolisierungen statt, die eine bruchlose Anschließbarkeit an die im Aufnahmeland vorfmdlichen Identitätsmuster suggerieren. Sie lassen den Umstand, dass Aussiedlung nach Deutschland mit Enttäuschungs- und Leidenserfahrungen verbunden ist, die biografisch zu bewältigen sind, in den Hintergrund treten. Dies erschwert die Ausbildung einer Selbstsicht, die an gesellschaftlichen Marginalisierungszwängen orientiert ist. Insgesamt lässt sich die Eingliederungshilfe Aussiedlerseminar im Marienhaus als ein kurzer Aufenthalt in einer gesellschaftlichen Nischensituation 249 charakterisieren. Deutschstämmigen Zuwanderem ist darin innere Restabilisierung unter Ausblendung des alltagspraktischen Problem- und Anpassungsdrucks der Nachaussiedlungszeit möglich. Diesen rasch vorübergehenden Aufenthalt in einer gesellschaftlichen Nischensituation haben die im Marienhaus tätigen Eingliederungs-Prozessoren im Sinn, wenn sie das Aussiedlerseminar auch als Zwischenstation oder Schonraum bezeichnen. Die sozialen Funktionen, die dem kurzfristigen Aufenthalt in diesem Schonraum zukommen, ähneln stark den von Wirth (1956) aufgezeichneten positiven Funktionen des Ghettolebens. Es wird Distanz zu anderen Erfahrungsräumen der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit geschaffen, so dass Konflikte mit anderen gesellschaftlichen Gruppen nicht aufkommen können; der Druck zur Veränderung der mitgebrachten Identität wird abgemildert. 249 Zur Rolle sozialer Nischen im Restabilisierungsprozess von Migranten siehe auch Maurenbrecher (1985, S. 388). <?page no="329"?> Im Schonraum-Milieu 329 6.8 VORSTELLUNGEN UND WIRKLICHKEIT- Analyse einer thematisch fokussierten Seminarveranstaltung 6.8.1 Theoretische Überlegungen zur Auswahl einer Kommunikationssituation aus dem Seminarprogramm Wie aus der ethnografischen Skizze des Marienhauses hervorgeht, besteht eine Seminarwoche aus verschiedenen Veranstaltungsformen und Ereignisrahmen. Dabei kommt es zu einem regelmäßigen Wechsel zwischen den vom Personal veranstalteten Ereignissen und Situationen, in denen die Teilnehmer unter sich sind und in denen sie eigeninitiativ Rückzugs- und Geselligkeitsräume sowie Gesprächsgelegenheiten nutzen. Die Beschreibung der Situation des Unter-sich-Seins im Kaminzimmer (siehe Kap. 6.5.4) hat einen Eindruck davon vermitteln können, wie bei solchen Gelegenheiten Prozesse der Selbstthematisierung - und tendenziell auch Prozesse der Erkenntnisbildung über die neue Lebenssituation verlaufen. Prinzipiell ist auch die Seminararbeit, die von den pädagogischen Mitarbeitern geleistet wird, auf solche Prozesse der Selbstthematisierung und der biografischen Erkenntnisbildung angelegt. Bei solchen Seminarthemen wie „Was bedeutet Heimat für mich? “ oder „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ steht zumindest eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit der Lebenssituation nach der Aussiedlung auf der Tagesordnung. Allerdings wird diese Auseinandersetzung hier unter Anleitung eines pädagogischen Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin geführt. Es liegt auf der Hand, dass in solchen Veranstaltungen, die auf Vergegenwärtigung und Reflexion der biografischen Situation nach der Aussiedlung zielen, der Bezug zur Identitätsarbeit von Aussiedlem unmittelbarer gegeben ist, als in den auf Vermittlung von Gebrauchswissen (siehe beispielsweise „Versicherungen und Verträge“) zielenden. Hinzu kommt, dass solche veranstalteten Selbstthematisierungen mit den Selbstthematisierungsprozessen in reinen Wir-Gemeinschaften bzw. im Home Frame (siehe Kap. 4.) kontrastieren. Selbstthematisierung und Erkenntnisbildung über die biografische Situation nach der Aussiedlung verlaufen im Rahmen einer Seminarveranstaltung unter anderen Sinngebungsbedingungen und Interaktionsregeln als in informellen Situationen. Ein einheimischer Professioneller fungiert dabei als Veranstalter dieser Situation. Er befindet sich selbst in einer prinzipiell anderen Lebenslage als die Seminarteilnehmer, noch wichtiger aber ist, dass er als Angehöriger einer Eingliederungsinstitution an diesem Arrangement <?page no="330"?> 330 Aussiedler treffen aufEinheimische beteiligt ist. In dieser Eigenschaft initiiert und kontrolliert er die Veranstaltung, legt Thematisierungsbedingungen und Kommunikationsregeln fest, nach denen das Reden über die Nachaussiedlungssituation erfolgen soll. Mit anderen Worten: Im Seminarkontext erfolgt die Thematisierung der neuen Lebenssituation unter Bedingungen auferlegter thematischer Relevanz. Mit „thematischer Relevanz“ sind bei Schütz/ Luckmann (1975) Zuwendungsarten auf Umweltobjekte gemeint: Thematische Relevanz hat das, wodurch Dinge und Ereignisse in der Lebenswelt der Gesellschaftsmitglieder überhaupt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ein Aussiedlerseminar lässt sich als ein Ereignisrahmen ansehen, in dem thematisch auferlegte Relevanz in zweierlei Hinsicht wirksam wird: Da durch die Aussiedlung nach Deutschland ohnehin eine Situation entstanden ist, in der „Unvertrautes im Rahmen des Vertrauten Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (Schütz/ Luckmann), ist die Grundform thematischer Relevanz von vornherein wirksam. Die Teilnahme am Aussiedlerseminar geht mit einer weiteren Form thematischer Relevanz einher, nämlich der sozial auferlegten, also durch Handeln und durch Handlungsergebnisse anderer erzwungenen thematischen Relevanz (vgl. ebd., S. 190ff.). In Situationen, in denen Selbstthematisierung unter Bedingungen thematisch auferlegter Relevanz bzw. unter Beteiligung eines Eingliederungsprozessors stattfmdet, geben Aussiedler nicht nur Auskunft über ihr Identitätsbefinden, sie erfahren darin auch, welche Sichtweisen die Aufnahmegesellschaft und ihre aktuellen Repräsentanten auf ihre Lebenssituation als Aussiedler einnehmen. Ferner lernen sie darin etwas über Bedingungen der Thematisierbarkeit ihrer Lebenslage im Austausch mit den sympathisierenden Anderen, die offiziell als Eingliederungsprozessoren agieren. Damit sind wesentliche Konstituenten angesprochen, durch die die Seminarveranstaltungen erhöhte biografische und kulturelle Bedeutsamkeit für die Teilnehmer erlangen. Die Seminarsituationen, die unter Anleitung der pädagogischen Mitarbeiter ablaufen, weisen Merkmale einer „Performance“ (Goffman 1983) bzw. einer Vorführung auf. 250 In Anlehnung an Knoblauch (1995) lassen sich Vorführungen ansehen, als „formalisierte soziale Veranstaltungen, die einen fahrplanmäßigen, im voraus erstellten Verlauf mit eindeutigem Anfang und Ende aufweisen; die bewußt vorbereiteten (gelernten, geplanten oder vorstruktu- 2,0 Dies gilt natürlich auch und vor allem für die Veranstaltungen, die der Geistliche ausrichtet. <?page no="331"?> Im Schonraum-Milieu 331 rierten) kommunikativen Muster können so einem festen Plan folgen (ebd., S. 180). Als Sonderklasse von Veranstaltungen sind Vorführungen zeitlich und räumlich begrenzt, und ihr Ablauf folgt einem festen Schema. Wenngleich Vorführungen „Bühnenformat“ besitzen, bedarf es zu ihrer Realisierung „keineswegs einer wirklichen Bühne. Es genügt, daß anwesende Akteure für eine gewisse Zeit in den interaktiven Mittelpunkt gestellt werden, in der von ihnen bestimmte kommunikative Handlungen erwartet werden“ (ebd.). Als weitere Besonderheit von Vorführungen gilt die zumindest vorübergehende Aufspaltung in Vorführer und Publikum. Aus anthropologischer Sicht (Turner 1987; 1989) wird vor allem die besondere Rolle von Vorführungen für die symbolische Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeitsstrukturen hervorgehoben. Eine Seminarveranstaltung, die die biografische Situation nach der Aussiedlung und Erfahrungen in der gesellschaftlichen Realität des Aufnahmelandes explizit zum Thema macht, eignet sich in besonderer Weise dafür zu untersuchen, welche Wirklichkeitsstrukturen in diesem Rahmen repräsentiert werden und welche Sinnbildungsprozesse dabei ablaufen. Im Rahmen einer Seminarveranstaltung die biografische Situation nach der Aussiedlung zu thematisieren, heißt für die Betroffenen, sich mit ihrer veränderten Lebenssituation in einem öffentlichen Raum auseinander zu setzen. Ihre Identität steht darin unter den Auspizien einer Eingliederungsinstitution der Aufnahmegesellschaft auf dem Spiel. Wie aber so die Ausgangsfrage, von der ich mich bei der Untersuchung der Seminarveranstaltung zum Thema „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ leiten lasse wird unter solchen Bedingungen die Auseinandersetzung mit der Nachaussiedlungssituation geführt; von den Betroffenen selbst wie auch vom Seminarleiter? 251 251 Bei dem Versuch, Antworten auf diese Frage im Rahmen einer Fallanalyse zu entwickeln, enthalte ich mich weitgehend einer evaluativen bzw. praxiskritischen Analyseperspektive. Der Verzicht auf Beobachtungen dazu, wie gut oder wie schlecht, wie gekonnt oder wie dilettantisch der Professionelle in dem ausgewählten Fall arbeitet, ist dadurch begründet, dass ich es als vordringliche Analyseaufgabe ethnografisch orientierter Interaktionsanalyse ansehe, zu rekonstruieren und verstehbar zu machen, was in dem dokumentierten Fall vor sich geht. Auf dieser Basis lässt sich sodann pädagogische bzw. professionelle Praxis sehr wohl kritisch reflektieren. Zur prinzipiellen Bedeutsamkeit einer ethnografischen Haltung in der Arbeit der Sozialwesenprofessionellen vgl. Schütze (1994). <?page no="332"?> 332 Aussiedler treffen aufEinheimische 6.8.2 Zum Gesamtarrangement der ausgewählten Seminarveranstaltung / Vorgehensweise bei der Analyse Die Seminarveranstaltung zu dem Thema „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ fand am dritten Tag des beobachteten Aussiedlerseminars statt, d.h. an dem Tag, der dem Anreisetag und dem freien Sonntag folgte. Nach dem Begrüßungsabend war es die zweite thematische Veranstaltung, die unter der Regie des Seminarleiters stattfand. Zu Beginn dieser Vormittagsveranstaltung wurde den Teilnehmern die Aufgabe gestellt, das Verhältnis von erwartetem und tatsächlichem Leben in der Bundesrepublik in Collagen darzustellen. Es standen ihnen Zeitschriften und Kataloge zur Verfügung, aus denen sie Bilder ausschneiden konnten. Die Gestaltung der Collagen erfolgte in Gruppen von fünf bis sechs Personen. Der Seminarleiter hatte dafür gesorgt, dass die Gruppen gemischt, also aus Aussiedlern aus Polen und aus der ehemaligen Sowjetunion bestehend, zusammengesetzt waren. Die Arbeitsgruppen erhielten die Anweisung, ihre Ergebnisse von zwei Gruppensprechem dem Plenum vorzustellen; dabei sollten beide Herkunftsländer repräsentiert sein. Wie bei anderen Vonnittagsveranstaltungen auch, ist die Behandlung dieser Thematik insgesamt so verlaufen, dass nach gut eineinhalb Stunden eine Pause stattfand. Bis zu diesem Zeitpunkt waren folgende Aktivitätskomplexe vorausgegangen: die Themen- und Aufgabenstellung wurde erläutert, die Gruppeneinteilung vorgenommen, die Collagen erstellt und kurz das Arbeitsergebnis einer ersten Gruppe präsentiert. Nach einer Pause von etwa 20 Minuten wurde die Vormittagsveranstaltung fortgesetzt. Im Zuge der Collagenpräsentation einer zweiten Gruppe entwickelte sich eine längere Diskussion, die bis zur Mittagspause dauerte. Zwei andere Gruppen, die ebenfalls Collagen erarbeitet hatten, kamen nicht mehr dazu, ihre Vorstellungen von bzw. Wirklichkeitserfahrungen in Deutschland dem Plenum aufzuzeigen. Die Situationsbeteiligten waren bei der Collagenpräsentation und der anschließenden Diskussion räumlich wie folgt positioniert: Bis auf die zwei Gruppensprecherinnen waren alle Seminarteilnehmer und auch der Beobachter in einer U-förmigen Sitzbzw. Tischanordnung platziert. An der offenen Seite dieser Sitzanordnung standen die beiden Gruppensprecherinnen, und zwar links und rechts neben der auf einer Tafel angebrachten Collage; der Seminarleiter befand sich in Schrägposition zwischen den Gruppensprecherinnen und dem Kopfende einer Sitzreihe. <?page no="333"?> Im Schonraum-Milieu 333 Der für die Analyse ausgewählte Transkriptionsausschnitt gibt etwa das erste Drittel (gut 15 Minuten) der Diskussion nach der Pause wieder. Er enthält auch Aktivitäten der Situationsherstellung, die nach der Pause vollzogen wurden; diese Passagen sind geeignet, wichtige Aspekte des Sozialverhältnisses zwischen dem Professionellen und den Seminarteilnehmern transparent zu machen. Im Verlauf der dann in Gang kommenden Collagen- Präsentation schälen sich nacheinander drei thematische Schwerpunkte heraus (Stellungnahmen zur Lebenssituation nach der Aussiedlung; Enttäuschungserfahrungen in Deutschland; Probleme des Sprachgebrauchs). Wiedergabe und Analyse des Gesprächstranskripts sind an dieser Themenprogression orientiert. Die thematisch eingrenzbaren Grobsegmente werden je für sich behandelt, die Sequenzialität der gesamten Themenentfaltung wird dabei im Blick behalten. In dem anschließenden, hier nicht behandelten Diskussionsabschnitt geht es zunächst um Auskünfte zum Thema Sterbegeld und Darlehen für Aussiedler (solche Fragen zu finanziellen Unterstützungsleistungen kommen bereits bei der Diskussion über Enttäuschungserfahrungen auf, können dort aber nicht definitiv geklärt werden). Dann entwickelt sich eine relativ lange Debatte, in der es um den Wandel familialer Lebensformen in Deutschland geht. Sie wurde ausgelöst dadurch, dass eine ältere Teilnehmerin ihr Missfallen darüber äußert, dass sich in Deutschland jüngere Familienangehörige nicht mehr um die Alten kümmern würden. Zweifelsohne steckt in dieser Klage Potenzial zur Thematisierung der Lebenssituation der Nachaussiedlungszeit. Die Diskussion entwickelt sich aber hin zu einer Debatte über den Wandel von Familien- und Lebensformen allgemein und geht noch stärker auf Distanz zu individuellen Erfahrungsbeständen der Teilnehmer als die diskursive Behandlung der bereits genannten Vorgängerthemen. In die nun folgenden strukturellen Beschreibungen des Interaktionstranskripts fließt Beobachtungswissen ein, das auf meine Teilnahme an dieser Veranstaltung zurückgeht. Wie gesagt, nehme ich hier nicht gezielt eine Evaluationsperspektive ein, indes ist die Analyse des Interaktionsdokuments nicht frei von Normalformvorstellungen professionellen Handelns. Den Beschreibungen der jeweiligen Grobsegmente ist ein kurzer Überblick über den Aktivitätsverlauf vorangestellt. Analytische Kommentare im Anschluss an die strukturellen Beschreibungen charakterisieren in der Gesamtschau auf das jeweilige Segment Verlaufsdynamik und Art der realisierten <?page no="334"?> 334 Aussiedler treffen aufEinheimische Themenbezüge. Eine auf das Gesamtgeschehen bezogene analytische Abstraktion erfolgt im Anschluss an die Transkriptanalysen (Kap. 6.8.4). Abweichend von den Analysen in Kap. 4.3 und 5.3 verwende ich im Beschreibungsgang Sprecherkennzeichnungen, die identisch sind mit Sprecherkürzeln im Transkript. Seinen Grund hat die Verwendung solcher Sprecherbezeichnungen wie PW4, RW12 oder PM2 usw. darin, dass Herkunftskontexte der Sprecher auf möglichst einfache Weise bei der Materialpräsentation und auch im Analysegang präsent gehalten werden sollen. So steht das P für die Herkunft aus Polen, das R für die Herkunft aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, W und M stehen für die Geschlechtszugehörigkeit. Entsprechend der Sitzordnung, die die Teilnehmer am Begrüßungsabend eingenommen haben, habe ich eine Durchnummerierung vorgenommen und den Herkunftsbzw. Geschlechtermarkierungen angefugt. Der Seminarleiter ist im Transkript als SL markiert, ich nenne ihn auch Diskussionsleiter; der Beobachter hat die Sprechersigle BM. Bei den mit X gekennzeichneten Sprecherzeilen ist eine eindeutige Zuordnung zu einem Sprecher oder einer Sprecherin nicht möglich. 6.8.3 Strukturelle Beschreibung eines Ausschnittes der Seminarveranstaltung 6.8.3.1 Situationsherstellung und Etablierung von Gruppensprecherinnen a) Auftritt des Seminarleiters und Vollzähligkeitsprüfung der Seminargruppe (Z. 1-27) 1 SL: 2 XX 3 K& 4 SL: 5 XX: 6 XW: 7 SL: 8 SL: 9 K 10 PW6 11 PW8 12 PW 9 (...) ich bin hier etwas zu spät aber STÜHLERÜCKEN, STIMMENGEWIRR —>no=nicht<— ganz zu noch gar nichtT *2* spätf jaf * ja es fehlen noch viele ich war grad auch noch mal bei=ner kollegin (...4 SEKUNDEN .. .) aber * ich meine # ( . . .2 SEKUNDEN. ..)# #SCHLÜSSELBUND FÄLLT ZU BODEN# <die andrea> die ist >ist doch nich wichtig zu wissenf< <?page no="335"?> Im Schonraum-Milieu 335 13 SL: sonst sind alle daT 14 PW8: bestimmt um das kind gegangenj, 15 XW: >ne< 16 SL: |#>drei<#| 17 K # ZÄHLT# 18 PW4 : nein * au=noch die äh * die eine dame fehlt noch | (...) | 19 XW1 2 0 XW2 21 XW3 ( ) nu: *3,5* >andrea och nicht< *1,5* >un=dann noch< 22 SL: #>acht/ achtzehn zähl ich grad<# *3* jaj, ** fangen 23 XW3 : * (...) *3* 24 K& #STÖRGERÄUSCHE # 25 SL: 26 XM: 2 7 K& wir anj, die werden ja kommenj, ne *3* #>ja genau<# #ZUSTIMMENDES GEMURMEL# Der Seminarleiter (SL) trifft im Seminarraum ein; er deklariert sein Erscheinen als verspätet und setzt dazu an, weiterzureden, wird aber von XX unterbrochen. XW (eine nicht eindeutig identifizierbare Sprecherin) macht darauf aufmerksam, dass noch Teilnehmer fehlen. SL fährt fort, sein zu spät Kommen quasi zu entschuldigen, indem er erklärt, noch bei einer Kollegin gewesen zu sein. Auf die teilweise unverständliche Fortführung seiner Äußerung (Z. 7 u. 8) nennt PW6 einen Namen, der sich vermutlich auf eine noch fehlende Person bezieht. Auf die Namensnennung die andrea reagiert PW9 mit der Bemerkung, dass es nicht wichtig sei, dies zu wissen (Z. 12). PW8 vermutet, dass Andrea um das kind gegangen ist (Andrea ist die Teilnehmerin, die ihre Enkeltochter mit ins Marienhaus gebracht hat). Die daraufhin von SL gestellte Frage sonst sind alle da (Z. 13) zeigt, dass ihm die Erklärung der PW8 ausreicht und er die Abwesenheit von Andrea akzeptiert. Auf seine Frage, ob sonst alle da sind, bekommt SL eine ihn nicht ganz befriedigende Antwort, so dass er dazu übergeht, die Beteiligten durchzuzählen (Z. 16 u. 22). Obwohl noch Teilnehmer fehlen, kündigt er dann den Beginn eines gemeinsam zu gestaltenden Handlungsschemas an, wobei er mit fangen wir an eine Ankündigungsformel verwendet, die in Kontexten geläufig ist, in denen eine von allen Beteiligten geteilte Situationsdefmition unterstellt werden kann. SL vertraut offenbar darauf, dass die anderen noch kommen werden; ein Teilnehmer bestätigt SL in dieser Auffassung; Reaktionen anderer Seminarteilnehmer sind nur als allgemeines Gemurmel wahrnehmbar; es wird von SL als Einwilligung in die Fortsetzung der Seminararbeit behandelt (vgl. Z. 25-27). <?page no="336"?> 336 Aussiedler treffen aufEinheimische Einordnung des Geschehens: Der Transkriptionsausschnitt enthält Aktivitäten der Situationsherstellung und -eröffnung, die charakteristisch für Situationen der Wiederaufnahme bereits etablierter Aktivitätszusammenhänge und Kooperationsstrukturen sind. Die Initiierung eines nicht näher gekennzeichneten Handlungsschemas zeigt, dass bereits Festlegungen der gemeinsam durchzuführenden Aktivitäten vorausgegangen sind. Erkennbar ist eine Interaktionsanordnung, die Verpflichtungscharakter für alle Beteiligten hat. Dies wird daran deutlich, dass der SL sein eigenes Zuspätkommen entschuldigend kommentiert und daran, dass er eine Vollzähligkeitsprüfung vornimmt. Mit den Teilnahmeverpflichtungen wird allerdings moderat umgegangen: Das zu späte Erscheinen des Seminarleiters ist ein unspektakulärer Vorgang; für die Abwesenheit von Andrea besteht Verständnis; verspätetes Dazustoßen anderer wird billigend in Kauf genommen. b) Etablierung zweier Sprecherinnen, die das Ergebnis ihrer Gruppenarbeit kommentieren sollen (Z. 28-84) 28 SL: 29 PM2: 30 SL: 31 PW4: 32 K 33 PW7: 34 XX: 35 PW7: 3 6 K& ich hab schon das neue >welche gruppe ist das jetztT< aufgehangen * äh welche gruppe das ist das müssten "sie ja sehenf <ja ich weiß nicht wer (da |vielleicht)>| PW4 STEHT AUF I die | ( . . . 2 SEKUNDEN. . .) |j a: | ja: #<die ist noch jung und hat sie viel #STIMMENGEWIRR, GELÄCHTER 37 RW12 : ( ) 38 K RW12 STEHT AUF 39 PW7: erlebt ja und die auch möchten wir auch was wollen hören 4 0 K& 41 SL: 42 PW7: 43 K 44 XX: 4 5 K& wer wer hat=n nicht> #|hier| die beiden# gejt man ja: ttLIEBEVOLL AUFFORDERND# |j a: | no: 46 SL: 47 PW7: 48 K& |alles |gehen sie#j # wer gehört denn alles zu der gruppe dazul + ja <?page no="337"?> Im Schonraum-Milieu 337 49 SL: also alle ja nicht nur zweidas müssen 50 PW7: no * die beiden * ja * 51 SL: ja mehr [gewesen seinj, 52 PW5: |<ne: in> (das) hi: er| 53 PW7 : |ja das sind | wir auch * nich und die andrea 54 PW6: #die andrea ist bei uns# 55 PW7: und die eine die fehlt 56 K& #3 SEKUNDEN STIMMENGEWIRR UND 57 SL: 58 PW4: 59 PW7: 60 KSt also * also sie beide und >nö aber (...)< ach ja nicht da dann GELÄCHTER# 61 SL: ja ich wills nur mö/ ich ich möchts nur wissen also 62 SL: +sechs ** |hmhm 63 RW12 : >jaja sechs< 64 PW5: 65 XX: 66 PW7: 67 PW5: 68 SL: 6 9 PW7 : uns #nichtT# 70 K& lund nochl eine fehlt >von hinten +ia | aha und noch] die: * die die ist auch noch bei |(da drüben)< nicht | ja da könn: =se sich ja auch gegenseitig unterstützen^ 71 SL: 72 PW7: ja: 73 XX: #ALLGEMEINE ZUSTIMMUNG# das war schon bestimmt ganz gut und KURZES LACHEN (hmhm) 74 SL: dann 75 PW7 : #>"gehen sie nach vome<# 76 K #BITTEND # 77 K& * #"gehen sie nach "vorne# #AUFFORDERND # #GELÄCHTER 78 PW4 : #ich kann nicht so wie die dame (sowas)# 79 PW7 : "ge: hat nach vorne 80 K #LACHEND # 81 K& PW4 UND RW12 STELLEN SICH NEBEN DIE COLLAGE # 82 SL: gott * warum], das ist ja sie "helfen sich 83 PW4 #(.. .2 SEKUNDEN. . .)# 84 K& ttSTIMMENGEWIRR # <?page no="338"?> 338 Aussiedler treffen aufEinheimische Strukturelle Beschreibung Z. 28-84: In diesem Interaktionsabschnitt wird der Wiedereinstieg in die Präsentation und Kommentierung der in Kleingruppen erarbeiteten Collagen organisiert. Der Wechsel in der Aktivitätsorientierung wird eingeleitet mit der Frage des PM2 >weiche gruppe ist das jetztT< (Z. 29). Durch die Frage nach den Urhebern der Collage und auch durch den Hinweis des SL auf die bereits sichtbare neue Collage (Z. 28 u. 30) wird klärungsbedürftig, welche Gruppe jetzt Sprecher aus ihren Reihen zu stellen hat. SL versucht diesen Klärungsvorgang voranzutreiben; er bringt zum Ausdruck, dass mit dem Aufhängen der Collage jetzt auch die Arbeitsgruppe gefordert ist [das müssten "sie ja sehenf]. Dieser Hinweis stellt eine implizite Aufforderung an die Mitglieder der betreffenden Gruppe dar, sich zu erkennen zu geben und nach dem Vorbild der vorausgegangenen Collagenbehandlung zwei Sprecher oder Sprecherinnen zu delegieren. PW4 kommt nach kurzer Pause diesem Ansinnen als erste nach. Sie erhebt sich von ihrem Platz und lässt eine fragmentarische Äußerung folgen (Z. 31); möglicherweise will sie hier noch jemanden aus der Arbeitsgruppe als Mitstreiter(in) gewinnen; vielleicht will sie sich auch nur vergewissern, dass die anderen aus ihrer Arbeitsgruppe ihrer Selbstwahl zustimmen. Noch im Äußerungsvollzug wird die von PW4 signalisierte Bereitschaft, als Gruppensprecherin zu agieren von PW7, die Mitglied ihrer Gruppe ist, vehement befürwortet. Auch bei dem ja in Zeile 34 (es lässt sich nicht eindeutig einem Sprecher oder einer Sprecherin zuordnen), das in die Äußerung der PW4 hineingesagt wird, könnte es sich um eine Ratifizierung der von PW4 vorgenommenen Selbstwahl zur Gruppensprecherin handeln. PW7 jedenfalls bestätigt PW4 als Gruppensprecherin und begründet ihre Zustimmung unter Hinweis auf einen Altersunterschied [die ja: die is noch jung ...]. Tatsächlich ist PW4 etwa 60 Jahre alt und etwa 10 Jahre jünger als PW7. Weiter führt PW7 an, dass PW4 viel erlebt habe, was hier wohl heißen soll, dass sie über die Lebenserfahrung verfugt, die sie zu einer geeigneten Gruppensprecherin macht. Andere im Raum können sich über diese Ermunterung amüsieren (vgl. Z. 35-39). Inzwischen ist auch RW12 aufgestanden (Z. 38) und hat dadurch zu erkennen gegeben, dass sie bereit ist, als Vertreterin der Russlanddeutschen in der jetzt geforderten Gruppe etwas zur Collage zu sagen. Auch sie wird sofort von PW7 als Gruppensprecherin bestätigt [ja und die auch möchten wir auch was wollen hören nicht; Z. 39 u. 42], Dieser Zuruf treibt die Einnahme der Rollen als Gruppensprecherinnen voran; er ermutigt die beiden, die aufgestanden <?page no="339"?> Im Schonraum-Milieu 339 sind, zugleich unterbindet er eine weitere Diskussion um die Kandidatensuche. Die Verwendung der Wir-Kategorie ist hier geeignet, die Anbahnung eines Kommunikationsarrangements anzuzeigen, das aus zwei Vortragenden und einem Auditorium bestehen soll. Bedenkt man, dass die Wir-Kategorie von einer Teilnehmerin verwendet wird, die der Gruppe der Aussiedler aus Polen angehört und beachtet man, dass ihre Ratifizierung der Gruppensprecherinnen explizit auf RW12 reagiert, als diese aufsteht und so Bereitschaft anzeigt, die Collage mit zu kommentieren (Z. 37-40), wird einsichtig, dass der Gebrauch der Wir-Kategorie auch als Markierung einer Gruppenrelation verstanden werden kann, die etwas mit den Herkunftsländern der beiden Teilnehmergruppen zu tun hat. In anderen Worten: PW7 äußert sich in dem Zuruf ja und die auch möchten wir auch was wollen hören nicht gewissermaßen auch als Aussiedlerin aus Oberschlesien. Dieser Zuruf bekundet eine interessierte Haltung gegenüber einer Teilnehmerin aus der Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler. PW7 markiert eine Erwartungshaltung, die darauf zielt, mehr über die Person RW12 und damit auch über die Erfahrungswirklichkeit der Gemeinschaft, die sie repräsentiert, zu erfahren. PW7 fordert dann zweimal die stehenden Mitglieder ihrer Gruppe auf, nach vom zu gehen (Z. 42 u. 47). Diesem Drängen wird aber noch nicht Folge geleistet. Dadurch tritt eine Situation ein, die SL veranlasst, sich nach der Zusammensetzung dieser Gruppe zu erkundigen (Z. 46); PW7 bestätigt, dass die beiden Stehenden dazugehören. Diese Auskunft stellt den SL aber noch nicht zufrieden, er erkundigt sich, wer noch dazu gehört (Z. 49 u. 51). Nun wird die Zusammensetzung der Gruppe geklärt: PW7 ordnet sich und weitere Teilnehmer, die bei ihr sitzen, der Gruppe zu und weist auf zwei nicht anwesende Teilnehmerinnen hin (Z. 50-55). Eine andere Teilnehmerin, PW6, rechnet eine der Abwesenden ihrer Gruppe zu (Z. 54); es kommt darüber zu Gemurmel und Erheiterung. In Zeile 57 setzt SL dazu an, zu rekapitulieren, wer alles zu dieser Gruppe gehört und sagt, dass er dies genau wissen möchte, ohne dafür eine besondere Begründung zu liefern. Die schon stehende RW12 nennt die Gesamtzahl der Gruppenmitglieder [>jaja sechs<; Z. 63], PW5 und PW7 weisen daraufhin, dass noch jemand aus ihrer Arbeitsgruppe fehlt (Z. 64, 66 u. 69). Die dann folgende Äußemng des SL [da könn: =se sich ja auch gegenseitig unterstützen^; Z. 68] ist an alle Mitglieder der jetzt geforderten Gruppe adressiert. SL gibt den noch Sitzenden der Gruppe zu verstehen, dass sie nicht vollkommen aus Kommunikationsverpflichtungen entlassen sind, <?page no="340"?> 340 Aussiedler treffen aufEinheimische sondern während des Kommentierens der Collage unterstützend eingreifen sollen. Er verleiht seiner Aufforderung Nachdruck [das war schon bestimmt gut und dann], redet aber nicht weiter, als PW7 die beiden Stehenden nochmals ermuntert nach vom zu gehen (Z. 75 u. 79). Die mit Wiederholung (und mit Wechsel im Anredepronomen) gesprochene Aufforderung an RW12 und PW4 (Z. 75 u. 79) hat auch etwas Drängendes. Ermunterung und Drängen der PW7 sind dadurch motiviert, dass die vorgesehenen Gruppensprecherinnen nur zögerlich vor das Auditorium gehen. Zumindest bei PW4 scheint die ihr zugedachte Rolle als Sprecherin starke Verunsichemngen hervorzumfen: Sie vergleicht sich mit einer Vorrednerin und stuft sich als nicht so geschickte Sprecherin ein [ich kann nicht so wie die dame (sowas); Z. 78], SL versucht diese Unsicherheiten auszuräumen, indem er darauf hinweist, dass sie auf Hilfe von anderen rechnen kann [gott * warum], das ist ja sie "helfen sich; Z. 82]. Als Helfer kommt hier nicht nur die zweite Gruppensprecherin in Frage, sondern auch jedes andere Mitglied der Arbeitsgruppe. Analytischer Kommentar Z. 28-84: Das Geschehen in dieser Phase der Seminarveranstaltung ist geprägt von Aktivitäten der Situationsherstellung und der Etablierung zweier Gruppensprecherinnen. Nicht nur der SL, auch Seminarteilnehmer (vor allem PW7) unternehmen Anstrengungen, durch Etablierung exponierter Sprecherinnen den Fortgang der Seminararbeit mitzutragen. PW4 und RW12 sind daran beteiligt, indem sie sich als Gruppensprecherinnen zur Verfügung stellen. Der Verpflichtungscharakter des Kommunikationsereignisses, der schon im ersten Segment deutlich geworden ist, manifestiert sich nun darin, dass zwei Beteiligte für spezifische Kommunikationsaufgaben rekrutiert werden. Für diese Kommunikationsaufgaben sind sie aber nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen Gruppenmitgliedem verantwortlich. PW4 und RW12 stellen sich zwar eigeninitiativ als Sprecherinnen zur Verfügung, bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass diese Selbstwahl nicht in vollkommener Autonomie erfolgt. Die vorausgegangene Arbeit in Gruppen von fünf bis sechs Personen hat jedes Mitglied zu einem potenziellen Kandidaten für den Gruppensprecher oder die Gruppensprecherin gemacht. Möglicherweise wurden in den Gruppen auch bereits Vorabsprachen darüber getroffen, wer diese Aufgabe übernehmen soll. Auch erfolgt die Etablierung der Sprecherinnen auf heftiges und mehrfaches Drängen anderer Teilnehmer und muss durch Hinweise des Diskussionsleiters auf wechselseitige Unterstützung bzw. auf Unterstützung durch andere <?page no="341"?> Im Schonraum-Milieu 341 aus der Arbeitsgruppe akzeptabel gemacht werden. Die auf diese Weise vorangetriebene Etablierung der Gruppensprecherinnen entlastet die übrigen Gruppenmitglieder davon, diese Aufgabe übernehmen zu müssen. Der insgesamt relativ aufwändige Vorgang der Etablierung von Gruppensprecherinnen ist Indiz dafür, dass es um die Einnahme von Sprecherrollen geht, von denen die Akteure wissen, dass außergewöhnliche, für sie nicht leicht zu meisternde kommunikative Anforderungen damit verbunden sind. 6.8.3.2 Stellungnahmen zur Lebenssituation nach der Aussiedlung In dem nun folgenden Gesprächsabschnitt (Z. 83-229) wird der Aktivitätsstrang der Collagenkommentierung wieder aufgenommen. Vor der Pause hatten bereits zwei andere Sprecherinnen einer Kleingruppe ihre Collage vorgestellt. Die Äußerungen der jetzt aktiven Gruppensprecherinnen sind teils eng bezogen auf Abbildungen der erarbeiteten Collage, teils enthalten sie allgemein-bilanzierende Stellungnahmen zur Nachaussiedlungssituation. Mehrmals unternimmt PW4 Versuche, aus der Sprecherrolle auszusteigen; Rückfragen und Fokussierungsaktivitäten des Seminarleiters hindern sie daran. Die russlanddeutsche Gruppensprecherin, die sich als Zweite äußert, entwickelt eine in sich geschlossene Kommentierungsaktivität. Danach sieht sich PW4 veranlasst, wieder das Wort zu ergreifen und thematisiert Vorstellungen von einem zufrieden stellenden Leben. Der Diskussionsleiter versucht, auch andere Teilnehmer zu Stellungnahmen zu bewegen. Durch Fragen aus dem Auditorium wird die erste Gruppensprecherin dann zu etwas längeren Passagen biografischen Sprechens veranlasst. a) Collagenkommentierung der aus Polen ausgesiedelten Gruppensprecherin (Z. 83-131) 82 SL: gott * wanmf das ist ja sie "helfen sich 83 PW4: #(.. .2 SEKUNDEN. . .)# 84 K& ttSTIMMENGEWIRR # 85 PW4 : was wir da alles so erlebt haben ja —>wir haben<— ( 86 PW4: schönes) zuhause ja und * und hier ist so schöne 87 PW4 : (gejgend ...) | ( 3 SEKUNDEN ) | und äh 88 PW14: |etwas lauter wir hören sie nicht | 8 9 PW4 : ja (schöne) kleidung und äh ** ”>ja aber so«— * enttäuscht bin <?page no="342"?> 342 Aussiedler treffen aufEinheimische 90 PW4: 91 PM2: 92 K 93 SL: 94 PW4: 95 SL: 96 PW4 : 97 K& 98 SL: 99 PW4: 100 K& 101 PW4: 102 PW4: 103 PW4: 104 PW4: 105 PW4: 106 PW4: 107 SL: 108 PW4: 109 SL: 110 PW4: 111 PM2: 112 SL: 113 PW4: 114 PW4: 115 K 116 PW4: 117 PW4: 118 K 119 PW4: 120 SL: 121 PW4: ich nicht ne ich mache so (wie) (...1,5 SEKUNDEN...) #>hmhm<# #LACHEND# wie lange sind sie hier? +und äh zwei jahre aber meine familie >hm< ist >schon lange und< äh meine mamenka #(...2 SEKUNDEN)# #STÖRGERÄUSCH # hmhm kann sie sehr gut deutsch und >äh #(im wohnheim )# #STÖRGERÄUSCH # LACHT (im erdgeschoß) wollte keine arbeit (... ja und äh tja: ) >(geht=s ging mer? mehr schlecht)< * ich ich denke so: gesundheit ist das wichtigste! ja ** also ** hm * im großen und ganzen gefällt mir auch! bin zu"frieden dass ich hier bin >(es war schöne zeit)< es war schon sehr (viel freier) ** "wenn man * nur zu besuch kommt (...) >—>is=nicht so gut! <—< >hm: ja< *1,5* >(also) schmutzig so ja da könn=wir gleich noch drüber * in (ober)schlesien! < ah |auch| sprech/ sprechen! * ähm |ja | +aber ** sonst bin ich zufrieden ja! * (bisher...) ja * #rosa hab ich nicht# #LEBHAFT # jedenfalls als ich hier(her) kam hab ich nicht<— durch die #rosa brille geguckt# LACHT ja ich hab gewusst überall is äh #LACHEND # da muss man arbeiten und <ver"dient das ja> ** bißchen! un und der anfang ist schwer *1,5* >so< ** >—>geht=s gut<—< ** 122 SL: sie hatten die information über * über ihre familie die <?page no="343"?> Im Schonraum-Milieu 343 123 SL: schon hier wari o/ oder- 124 PW4: ja und mein mann war (da) 125 SL: |hmhm| hmhm 126 PW4: schon in rente zum (achtzig) |un: | äh * tja und dann 127 SL: hmhm j hmhm 128 PW4: kam ich am neunzig ** (für=s woch|ende) | >(und schon... 129 PW4: )< <war auch schwer nicht> * der anfang war 130 PW4: schwer *1,5* sonst—> gefällt mir * ja LACHT *3* Strukturelle Beschreibung Z. 83-92: Die Aufnahmequalität lässt eine genaue und vollständige Transkription, insbesondere der Äußerungen der dominanten Sprecherin (PW4) nicht zu. Verstehbar ist, dass PW4 zunächst einen kollektiven Erfahrungszusammenhang kennzeichnet [was wir da alles so erlebt haben ja —>wir haben<— ( ); Z. 85]. Mit solchen Äußerungsformen werden üblicherweise Erfahrungen von herausragender Bedeutung global gekennzeichnet. Auf diese Weise kann sowohl auf sehr einschneidende und besonders bedrückende Erlebnisse als auch auf außergewöhnlich aufregende und kostbare Erfahrungen verwiesen werden. Da ihre weitere Rede nicht eindeutig verstehbar ist, kann nur vermutet werden, dass PW4 sich hier auf einen kollektiven Erlebniszusammenhang bezieht, der im Herkunftsland anzusiedeln ist. In kurzen Beschreibungssätzen führt sie unter Bezug auf die Collage dann positiv bewertete Lebensumstände in Deutschland an [und hier ist so schöne (gejgend . . .) ... äh ja (schöne) kleidung; Z. 86-89]. Ob der Äußerungsteil (schönes) zuhause in Z. 86 sich ebenfalls auf die Situation in Deutschland oder auf die Lebensbedingungen im Herkunftsland bezieht, ist nicht eindeutig entscheidbar. Ein Zwischenruf der PW 14 fordert PW4 auf, lauter zu sprechen. Nach Nennung von Lebensbedingungen, die im Vergleich zum Herkunftsland positiv bewertet werden, erfolgt ein Wechsel in der Darstellungsperspektive. PW4 spricht plötzlich in der Art des Bilanzierens 252 über ihr subjektives Befinden. Dabei ist auffällig, dass sie in einer adversativen Äußerungskonstruktion zum Ausdruck bringt, nicht enttäuscht zu sein. Für den weiteren Verlauf kann nur vermutet werden, dass die Sprecherin eine Begründung dafür entwickelt, warum sie nicht enttäuscht ist, 252 Zu Aktivitäten des Bilanzierens in Erzählzusammenhängen siehe Schütze (1987a, S. 183). <?page no="344"?> 344 Aussiedler treffen aufEinheimische denn von diesem Äußerungsteil ist nur der Anfang verständlich (Z. 90). Die Aufgabe, die zum Seminarthema erarbeitete Collage vorzustellen, versteht die Sprecherin offensichtlich auch als Aufforderung, ihre eigene Aussiedlungsentscheidung zu reflektieren und in ihrer Bedeutung für ihre biografische Situation zu bewerten. Z. 93-102: Nach der globalen Zufriedenheitsbekundung von PW4 richtet SL an sie die Frage, wie lange sie schon hier, also in der Bundesrepublik, sei. Sie antwortet mit Nennung ihrer Aufenthaltszeit [zwei jahre] und fügt wieder mit adversativem Redeanschluss hinzu, dass ihre Familie schon länger als sie in Deutschland lebe und dass ihre Mutter sehr gut Deutsch spreche. Den knappen Auskünften über ihre biografischen und familiären Flintergründe folgt eine weitere Äußerung, die nur bruchstückhaft verständlich ist [(im Wohnheim ...) LACHT (im erdgeschoss) wollte keine arbeit (... ja und äh tja: ) >(geht=s ging mer? mehr schlecht)<; Z. 99-102], Die Äußerungsfragmente lassen zwei Deutungen zu: Möglicherweise thematisiert PW4 hier Erfahrungen, die sie in ihrer Wohnumgebung gemacht hat und spricht über eine Person, die sie in diesem Umfeld kennen gelernt hat; denkbar ist, dass sie sich auf diese Person als negativen Kontrastfall zur eigenen Lebenssituation bezieht. Diese Deutungsperspektive lässt sich einnehmen, wenn man ging mehr? mer schlecht als ungrammatischen Komparativ versteht (mehr schlecht im Sinne von schlechter als mir). Vielleicht aber spricht PW4 hier auch über eine Zeit nach der Ausreise, die sie als weniger positiv in Erinnerung hat; mehr? mer könnte auch in der Funktion eines Reflexivpronomens (mir) geäußert sein. Dies würde für eine Äußerungskonstraktion sprechen, in der PW4 auf Lebensumstände hinweist, unter denen es ihr im Unterschied zur Jetztzeit schlecht ging. Z. 102-121: Die dann folgende Äußerung ist eindeutig zu verstehen, PW4 formuliert hier eine universelle Bedingung für Lebenszufriedenheit [ich ich denke so: gesundheit ist das wichtigste^ ja; Z. 102 u. 103] und stoppt damit die vorausgegangene kurze Aktivität biografischen Sprechens. Mit diesem Gemeinplatz benennt sie einen Relevanzgesichtspunkt für biografische Bilanzierungen, den sie auch auf ihre Situation als Aussiedlerin in Deutschland angewandt wissen will. Es folgt eine Selbstbeschreibung, die auf die jetzige Lebenssituation bezogen ist; sie enthält eine Globalevaluation ihrer Erfahrungen in Deutschland [also ** hm * im großen und ganzen gefällt mir auch bin zu"frieden dass ich hier bin; Z. 104ff.]. Eine weitere Äußerung folgt, die als positive, wenn auch sehr allgemeine Bilan- <?page no="345"?> Im Schonraum-Milieu 345 zierung des bisherigen Lebens in Deutschland verstehbar ist [(es war eine schöne zeit) ]. Der nach kurzer Pause gegebene Hinweis auf Aufenthalte in der Bundesrepublik, die ihrer Aussiedlung wohl vorausgegangen waren [(viel freier) ** wenn man nur zu besuch kommt (...); Z. 106], lässt den Eindruck entstehen, dass Erfahrungen in Deutschland, die sie vermutlich im Rahmen von Verwandtenbesuchen schon machen konnte, mit den Erfahrungsbedingungen der Nachaussiedlungszeit kontrastieren. Tn der Äußerung es war schon sehr (viel freier) (Z. 105-106) könnten auch unterschiedliche Lebensbedingungen im Herkunfts- und im Aufnahmeland allgemein charakterisiert werden. Der Äußerungsteil, in dem PW4 ihre Zufriedenheit mit ihrem Leben in Deutschland verständlich zu machen bemüht ist, wird von SL insofern mitgestaltet, als er in der äußerungskomplettierenden Bemerkung >->is=nicht so guti<-< (Z. 107) zum Ausdruck bringt, ihre Erlebnis- und Bewertungsperspektive nachvollziehen zu können. PW4 fuhrt einen weiteren Umstand an, der ihr in Polen nicht behagt hat [(also) schmutzig so in (ober)Schlesien; Z. 108 u. 110]; der Diskussionsleiter reagiert darauf mit einer thematischen Steuerungsaktivität. Möglicherweise fürchtet er, dass PW4 von dem eingeschlagenen Darstellungsfokus abkommt, vielleicht schwebt ihm aber auch eine personelle oder thematisch grundlegende Umgestaltung des Berichts aus dieser Gruppe vor. Dass er eine Umfokussierung im Sinn hat, lässt die Markierung einer noch bestehenden Redeabsicht mit ähm in Z. 112 vermuten; jedenfalls beugt er an dieser Stelle einer Expandierung des Themas „Verhältnisse in Oberschlesien“ vor. Seinen thematischen Steuerungsversuch kann er nicht ausbauen, weil PW4 mit einer Beschreibung ihrer jetzigen Lebenssituation fortfährt. Diese Selbstbeschreibung enthält eine pauschale Zufriedenheitsbekundung [+aber ** sonst bin ich zufrieden ja; Z. 113-114], Auffällig ist, dass die Sprecherin hier noch ein ja anfügt. Es klingt wie die Bejahung einer von anderen gestellten Frage; explizit ist eine solche Frage aber von niemandem gestellt worden. Dieser bejahende Äußerungsteil, der an eine pauschale Zufriedenheitsbekundung angehängt ist, lässt Rückschlüsse auf die Situationsdefmition der PW4 zu: Was vom didaktischen Arrangement her als Impuls zur Reflexion der veränderten Lebenssituation und zur Bewusstmachung von Diskrepanzen zwischen Erwartungen und Wirklichkeit angelegt war, wird von PW4 als Gesprächsrahmen wahrgenommen, in dem sie evaluativ zu ihrer neuen Lebenssituation bzw. zu dem vollzogenen Schritt der Aussiedlung Stellung beziehen soll. <?page no="346"?> 346 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Zufriedenheitsbekundung in Z. 113 u. 114 wird wie schon in Z. 89 u. 90 in einem adversativen Äußerungsformat entwickelt. So wird bedingte Zufriedenheit geäußert; auch sind solche Floskeln geeignet, Beendigungsabsichten von Gesprächsaktivitäten anzuzeigen. Bereits der erneute adversative Redeanschluss, mit dem diese Zufriedenheitsbekundung eingeleitet wird, markiert eine Geltungseinschränkung. Auch mit dem anschließenden Temporaladverb (bisher) 253 in Z. 114 nimmt die Sprecherin eine Geltungseinschränkung ihrer Zufriedenheitsbekundung vor. Markiert werden hier Erwartungsunsicherheiten hinsichtlich der weiteren Zukunft. Die Zufriedenheitsbekundung ist sehr allgemeiner Art, es schließen sich aber kurze Erklärungsaktivitäten der PW4 an. 254 Die Erklärungsaktivitäten haben Erwartungshaltungen an das Leben in Deutschland zum Gegenstand, und zwar Haltungen, die schon vor der Ausreise aus Polen eingenommen wurden. PW4 macht deutlich, dass ihre Zufriedenheit in einer illusionslosen Erwartungshaltung gründet, mit der sie dem Leben in Deutschland entgegengesehen hat. Mit der Metapher des durch die rosa Brille Schauens (Z. 114-118) bringt sie zum Ausdruck, dass sie eine realistische Vorstellung davon hatte, was sie in der Bundesrepublik erwartet. Die Negation dieser Metapher charakterisiert gewöhnlich eine Erwartungshaltung, die frei ist von Schönfärberei und der ein realistischer Blick auf die Wirklichkeit eigen ist. PW4 bekundet im Anschluss daran eine Lebenseinstellung, die sich an universalen Prinzipien der Daseinssicherung orientiert [ja ich hab gewusst überall is äh da muss man arbeiten und <ver"dient das>; Z. 117-119], Diese gemeinplatzartige Formulierung drückt aus, dass sie nicht von der Vorstellung geleitet war, etwas geschenkt zu bekommen oder ein bequemes Leben führen zu können, sondern davon ausgegangen ist, für die eigene Existenzsicherung arbeiten zu müssen. Dieser Äußerungsteil hat Erklärungsfunktion für die zuvor von der Sprecherin ganz allgemein bekundete Zufriedenheit. Die Äußerung ist allerdings auch geeignet, sich ge- 253 An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass im Transkript Äußerungen in Klammem gesetzt werden, bei denen es sich um vermuteten Wortlaut handelt; siehe auch die Transkriptionskonventionen im Anhang. 34 Hier greift ein Sequenzierungsmechanismus, der in Erzählungen immer dann zum Tragen kommt, wenn abstrakte Aussagen über Zustände, Ereignisse usw. getroffen werden. Abstrakte Beschreibungsaktivitäten rufen Deutungs- und Erklärungsaktivitäten hervor, umgekehrt fußen allgemeine Beschreibungsaktivitäten aber auch in vorgängigen Deutungs- und Erklärungsaktivitäten; vgl. Schütze (1987a, S. 142). <?page no="347"?> Im Schonraum-Milieu 347 gen Unterstellungen oder Zuschreibungen zu wehren, die das Gegenteil behaupten (z.B. als Aussiedlungsmotiv die Erlangung einer bequemeren und staatsfinanzierten Lebenssituation unterstellen). Diese Erklärungsaktivitäten nimmt PW4 lachend vor (vgl. Z. 117 u. 118); dieses Lachen könnte durch den Gebrauch der formelhaften Wendung hervorgerufen sein, vielleicht ist es aber auch ein Reflex auf die ungewohnte und verunsichernde Redesituation. Im Anschluss an die gemeinplatzartigen Begründungen ihrer Zufriedenheit charakterisiert PW4 die Anfangszeit in Deutschland als schwer. Damit nimmt sie die Zeit nach der Einreise von der globalen Zufriedenheitsbekundung, die sie zuvor vorgenommen hatte, aus. Was genau in dieser Anfangszeit schwer war, wird nicht gesagt, PW4 nimmt eine generelle, formelhafte Problemtypisierung der Übergangssituation vor [un der anfang ist schwer; Z. 119 u. 121], Nach kurzer Pause fügt sie zögerlich und resümierend nochmals eine globale Befmdensaussage an [*i,5* >so< ** > geht=s gut <**; Z. 121], Diese drückt eine im Prinzip positive Evaluation der eigenen Lebenssituation aus; der hohe Allgemeinheitsgrad dieser Befindensaussage erweckt den Eindruck, dass die Sprecherin hier eine Globalevaluation vomimmt, um Themenbeendigungsabsichten zu markieren und den Ausstieg aus der Sprecherrolle zu betreiben. Z. 120-130: Der SL reagiert darauf mit einer Frage zu ihren Wissensquellen über Deutschland. Er erkundigt sich nach den Vorinformationen der PW4 über Deutschland und stellt die Vermutung an, dass sie sich im Rahmen von Familienbesuchen ein Bild von den Lebensbedingungen in Deutschland verschaffen konnte. Er geht weder dem Allgemeinheitsgrad der Befindensaussage noch der ambivalenten Aussagestruktur der Zufriedenheitsbekundungen nach, auch greift SL die typisierende Einordnung der schwierigen Anfangszeit nicht als detaillierungsbedürftig auf. Auf die Frage nach Kontakten zu Verwandten in Deutschland antwortet PW4 in kurzen narrativen Sätzen, die ihre Aussiedlung familiengeschichtlich kontextualisieren: Ihr Ehemann war bereits vor ihr und als Rentner so lässt ihre Äußerung in Z. 124 u. 126 vermuten nach Deutschland gegangen. Die bruchstückhafte Zahlenangabe, die sie zu ihrem Ehemann macht [in rente zum (achtzig) um] bezieht sich nicht etwa auf dessen Lebensalter, sondern auf den Zeitpunkt seiner Ausreise. Hierfür spricht jedenfalls die anschließend vorgenommene Datierung ihrer eigenen Aussiedlung [und dann kam ich am neunzig; Z. 126 u. 128], Der Fortgang ihrer Rede ist nicht ganz verständ- <?page no="348"?> 348 Aussiedler treffen aufEinheimische lieh; deutlich wird, dass sie, wie schon kurz zuvor, eine Einordnung der Anfangszeit als belastende Zeitspanne vomimmt [<war auch schwer nich> * der anfang war schwer] und dann erneut eine gegenwartsbezogene Zufriedenheitsbekundung folgen lässt [sonst gefällt mir * ja LACHT]; sie ist ähnlich floskelhaft und allgemein gehalten, wie schon die in Z. 121. Die damit markierte Themenbeendigungsabsicht wird mit einem rückversichernden ja und mit Lachen bekräftigt (Z. 130). b) Collagenkommentierung durch die aus Russland ausgesiedelte Gruppensprecherin und Wiederaufnahme der Kommentierungsaktivitäten durch die aus Polen ausgesiedelte Sprecherin (Z. 131-163) 130 PW4 : 131 RW12: 132 RW12: 133 RW12: 134 RW12: 135 RW12: 136 RW12: 137 RW12: 138 K 139 RW12: 140 K 141 RW12: 142 RW12: 143 K& 144 SL: 145 RW12: 146 SL: 147 RW12: 148 RW12: 149 PW4: 150 RW12: 151 K schwer *1,5* <—sonst—> gefällt mir * ja LACHT *3* > (und zum: anfang kann ich auch noch sagen)dass ich wenn i=nach deutschland gekommen bin (bei mir war nix neues)ich bin aber niemals noch hiergewesen (...10 SEKUNDEN...) (... sie haben=s mir * geschrieben ge/ ** gesagt wir bestätigen *1,5* und * äh) #und dieses bild hier# ist ** #<—sehr teures #ZUR COLLAGE GEWANDT # #ZÖGERLICH, geschirr—># herausgestellt *2* ich glaube (sogar) das OFFIZIELL # is gold * Silber * —>echt<— ** (so was teures neues)< #(...13 SEKUNDEN...)# seine: geschmack * was hab=ich #STÖRGERÄUSCH # hmhm gesehen bei uns (da) war (ja) das nicht möglich * >geht schon jaf< (aber "gab es) ** >hm< * >( )< >—> (jedenfalls war er in der schul) *—< *3* aber möchten nich #>(und mit mit seinem (...)<# *1,5* #DRUCKST # <?page no="349"?> Im Schonraum-Milieu 349 152 PW4 : auch alle vielleicht so in Urlaub fahren nicht so * |bisschen| 153 XW: |LACHT j 154 PW4 155 XXI 156 XX2 157 K die weit kennen net (...) >ich weiß > j a< #eben * nicht# #ZUSTIMMEND # 158 SL: 159 PW4: 160 XX: ja ab/ hm nicht< (. . -) ★ (sobald die großen fuhren) 161 PW4: nich hab ich Urlaub gemacht ** vielleicht in später 162 PW4: LACHT 163 PW9: das kind ist auch (zuwe : nig) J, ** Z. 131-150: Nach einer Pause von drei Sekunden ergreift RW12 das Wort, um ihren Aktivitätsverpflichtungen als Gruppensprecherin nachzukommen. Auch dieser Redebeitrag ist nicht gut verständlich. Erkennbar ist, dass (a) ihre Tumübemahme als Aktivität des Hinzufugens bzw. des Ergänzens von Vorgängeräußerungen markiert ist, dass (b) sie zunächst über die Umstände ihrer Aussiedlung und über erste Eindrücke bei der Einreise in die Bundesrepublik spricht und (c) herausstellt, im Gegensatz zu ihrer Vorrednerin vor der Aussiedlung noch nie in Deutschland gewesen zu sein. RW12 geht auf die Collage ein und weist auf abgebildete Unterschiede im Lebensstandard zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland hin. Sie stellt zunächst am Beispiel von teurem Geschirr Wohlstands-Insignien der Gesellschaft, in die sie gekommen ist, heraus und konstatiert dann, dass es so etwas in ihrer Heimat nicht gegeben hat. Gegen Ende ihrer Darstellungsaktivitäten sind Pausen (Z. 148 u. 150) und ein Formulierungsbruch (Z. 150) zu beobachten. Möglicherweise fühlt sich PW4 dadurch veranlasst, nun wieder als Gruppensprecherin aktiv zu werden. Z. 149-194: Die aus Polen stammende Gruppensprecherin schließt mit einer Äußerung an, die neue Aspektualisierungen enthält. Sie formuliert eine Erwartungshaltung an das Leben generell [aber möchten nicht auch alle vielleicht so in Urlaub fahren nicht so * bisschen die weit kennen net]. PW4 verwendet ein adversatives Äußerungsformat, sie bezieht damit aber keine Gegenposition zu Äußerungen der RW12, sondern führt als neuen Thematisierungsaspekt einen noch nicht genannten Lebenswunsch von allgemeinem Interesse ein. Eine Teilnehmerin ratifiziert die Einschlä- <?page no="350"?> 350 Aussiedler treffen aufEinheimische gigkeit dieses Themas (die Sprechrhythmik des Einwurfs eben * nicht in Z. 156 hat die Symbolisierungseigenschaft einer Bekräftigung, nicht eines Widerspruchs), ohne aber selbst weitere Aspektualisierungen oder Detaillierungen vorzunehmen. Das von PW4 angeschlossene >ich weiß nicht< hat Sequenzierungspotenzial zur Hervorlockung von Redebeiträgen anderer Teilnehmer zu dieser Thematik. Die Sprecherin fährt dann damit fort, sich selbst zu diesem Thema zu äußern. Sie spricht kurz von eigenen Urlaubsaktivitäten, die ihr möglich waren, als sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern musste. Außerdem stuft sie Reisen und Urlaub als Erlebnismöglichkeit zukünftiger Lebensabschnitte ein [vielleicht in später; Z. 161]. Die Antwort, die sie auf die selbstgestellte Frage gibt, schließt PW4 wieder mit einem Lachen ab. Eine Seminarteilnehmerin aus dem Auditorium, PW9, lässt eine kurze Kommentaraktivität folgen, die als allgemeine Stellungnahme zu aufkommenden Reise- und Urlaubswünschen verstehbar ist [das kind is auch (zuwe: nig); Z. 163]. c) Versuch des Seminarleiters, weitere Kommentare einzuholen und Nennung grundlegender Versorgungserfordemisse durch zwei Teilnehmerinnen (Z. 164-193) 164 SL: #möchten sie noch was dazu sagenf zu ergänzenT# ** 165 K #AN DIE SITZENDEN TEILNEHMER GEWANDT # 166 PW7: |(renten) | 167 PW9: #(nu ich: )# ** ja: mit die rente |nich haben) wir (als 168 K #DRUCKST # 169 PW7: |nu | 17 0 PW9 : | rent | nerin) 171 K #<ach das hatt=se schon gesagt> dass wir ja# #ÄRGERLICH # 172 PW7: ** rente kriegen |wir (...) | "ja nun * uns (fehlt) ja gar 173 PW6: | ja | 174 XX: | >j a: < | 175 SL: (und sie sind) 176 PW7: nichtsj, die kinder hab ich auch hier nun | (lange) 177 SL: 178 PW7: 179 SL: 180 PW7: auch schon n=bißchen länger hier), |ne | | ja | * über drei jahre * dr/ drei jahre * >bin ich< no und die tochter sie äh 181 PW7: die ist schon—> zwölf jahre >hier< aber ich war jedes <?page no="351"?> Im Schonraum-Milieu 351 182 PW7: jahr ** #>hier gewesen< (... 5 SEKUNDEN ...)# 183 K& #RASCHELN # 184 SL: kannten also deutschland auch schon vorher ganz guti 185 SL: 186 PW4: 187 PW7: 188 K hmhm *2* also das wichtigste ist eine wohnung nicht #tja: # #ÜBERZEUGT# 18 9 PW4 : —>das ist das wichtigste hier in deutschland eine wohnung nich 190 PW4: nich haben<— 191 RW12: |>ja< | 192 RW15: |darf| |(wir haben) |man fragen eine wohnung und arbeit 193 PW4 : oder rente >(oder so)< 194 RW15: +ja und was haben >bitte sagen sie< Z. 164-188: Der SL hat offenbar den Eindruck, dass die Kommentierungsbereitschaft der beiden Gruppensprecherinnen erschöpft ist und jetzt ein Punkt erreicht ist, an dem sie durch andere aus der Arbeitsgruppe unterstützt werden könnten. Er wendet sich an die übrigen Mitglieder der Arbeitsgruppe und fragt, ob sie noch etwas hinzufügen möchten. Daraufhin setzt PW9 dazu an, das Thema „Rente“ anzusprechen (Z. 167). Eine andere Sprecherin, PW7, unterbindet diese Thematisierungsinitiative, sie meint, dass PW4 schon alles zu diesem Thema gesagt habe. Das Thema Rente erklärt sie auf relativ schroffe Weise für irrelevant. Die Rententhematik war bisher nur einmal kurz von PW4 erwähnt worden, als diese davon sprach, dass ihr Ehemann in Deutschland schon Rente bezogen hat (vgl. Z. 124 u. 126). Mit der Begründung, dass sie bereits Rente bekämen, stuft PW7 dieses Thema als nicht weiter vertiefungsbedürftig ein (Z. 169 u. 172). PW7 spricht in der Wir-Form und bezieht sich vermutlich auf die Gruppe, mit der sie angereist ist. Als wollte sie einen deplatzierten Versuch einer anderen Seminarteilnehmerin unterbinden, die sich über Enttäuschendes oder Bedrückendes beklagen will, verweist PW7 dann auf eine gute Rundum-Versorgung in Deutschland, wobei sie wieder für eine Kollektivität spricht ["ja nun * uns fehlt ja gar nichts; Z. 172-176], Hier wird Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland unter dem Aspekt des Versorgtseins mit dem existenziell Notwendigen erklärt. Mit Bezug auf ihre eigene biografische bzw. familiäre Situation lässt PW7 eine weitere Erklärung ihrer (persönlichen) Zufriedenheit folgen [die kinder hab ich auch hier nun; Z. 176], SL äußert die Vermutung, dass <?page no="352"?> 352 Aussiedler treffen aufEinheimische PW7 schon länger in Deutschland sei. Sie reagiert darauf mit Angabe der Aufenthaltsdauer über drei jahre - und erwähnt, dass ihre Tochter schon seit 12 Jahren hier ist, und sie dadurch Gelegenheit hatte, besuchsweise in die Bundesrepublik zu kommen. SL reformuliert diese Darstellungen unter dem Gesichtspunkt der Vorkenntnisse über Deutschland und stellt PW7 in diesem Punkt mit PW4 gleich [kannten also deutschland auch schon vorher ganz gutj; Z. 184], Z. 186-193: Nach diesen nicht sehr ergiebigen Ergänzungen der anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe wird PW4 wieder initiativ. Sie benennt Lebensbereiche, auf die es für Aussiedler in Deutschland vordringlich ankommt: Wohnung, Arbeit, Rente. Auch hebt PW4 hervor, dass in ihrer Wir-Gemeinschaft dieses alles gegeben ist und macht so deutlich: Die Voraussetzungen für eine Normalisierung des Lebens in Deutschland sind bei ihr erfüllt. Unklar bleibt hier allerdings, auf welche Gemeinschaft sie sich bezieht; es könnte ihre Kleingruppe, mit der sie an der Collage gearbeitet hat, gemeint sein, vielleicht aber auch die Gesamtheit der Seminarteilnehmer. Denkbar ist auch, dass sie sich auf ihre Familie und auf Freunde und Bekannte bezieht. d) Frageinitiativen aus dem Auditorium und allgemeine biografische Angaben der aus Polen ausgesiedelten Gruppensprecherin (Z. 194-229) 193 PW4: 194 RW15: 195 PW4: 196 RW15: 197 PW4: 198 RW15: 199 PW4: 200 RW15: 201 PW4: 202 RW15: 203 PW4: 204 RW15: 205 PW4: 206 PW4: 207 PW4: oder rente >(oder so)< +ja und was haben >bitte sagen sie< ja ich ich war —>hausfrau<— | (ich habe) | äh gearbetetj ** haus|frau nie gearbeitet (so im beruflichen nicht) end en=em |ne: in kollektiv so haben sie da nix |(gemacht)| +>nein< "doch nich das is aber hier auch so=n: * gezähle ja war auch noch <—schwierig—> >und mit=em< geld und alles ja zwei kinder nich * als die zur schule gingen nich >(da wollte man vielleicht aber? arbeit)< * das ging ja —»ich war immer zufrieden mit dem was warf,«— ich ich bin <?page no="353"?> Im Schonraum-Milieu 353 208 PW4: 209 K 210 PW4: 211 PW4: 212 PW4: 213 PW4: 214 PW4: 215 PW4: 216 PW4: 217 SL: 218 PW4: 219 PW4: 220 PW4: 221 PW4: 222 BM: 223 PW4: 224 BM: 225 PW4 : 226 PW4: 227 PW4: 228 K 229 PW4: 230 BM: #immer so# immer gearbeit * ja mir genügt immer das #LACHT # <—was ich hab—> ja * so und reiche laute und die * die schöne zuhause haben ja schöne >hm< teure möbel —»aber ich sag immer ach<— * <ich kann mir das nicht leisten mir gefällt das> aber mir ** —»ich bin immer zufrieden«— mit dem was ich hab nich * ja und wenn ich bißchen habj, * wenn mir bißchen übrig bleibt ja da schick ich noch * «—nach polenj, >familien<—» (...) wenigstens mein |hmhm | |bruderj,| «—ja: und äh-» * tja —»manchmal möchte ich mir auch so was schönes kaufen aber ich sag ich«— ach * die "brauchen das ja und die haben (doch nicht) so gut ** ah ja |bitteT| sind sie jetzt berufstätig in deutsc|hlandt| ne: in ich bin rentner <sind sie jetzt berufstätigT> LACHT KURZ (... 8 SEKUNDEN...) (vielleicht kann ich noch die miete zahlen ja ** >zum leben habe ich noch<) *2* #ich denke das reicht ah# *5* ja: * wir müssen #LACHEND # hinsetzen uns —»jat« also niemand ** niemand is enttäuschtJ, ** Z. 194-228: Mit der Vergegenwärtigung der relevanten Lebensbereiche ist bei einer Teilnehmerin im Auditorium offenbar Interesse am berufsbiografischen Hintergrund der PW4 geweckt worden. RW15, eine russlanddeutsche Teilnehmerin, fragt PW4 danach, als was sie gearbeitet habe. Die Angesprochene gibt Auskunft über ihren beruflichen Status [ja ich ich war —»haus frau«- ; Z. 195] und RW15 fragt noch einmal nach, ob sie nicht in einem kollektiv gearbeitet habe. In ihrer nun erfolgenden Antwort gibt PW4 eine weitere Begründung dafür, dass sie nicht gearbeitet hat (es war schwierig für sie, einer Berufstätigkeit nachzugehen, weil sie zwei Kinder großziehen musste). In diesem Begründungsteil stellt sie sich als schon im- <?page no="354"?> 354 Aussiedler treffen aufEinheimische mer bescheiden und genügsam dar, als jemand, der frei von Neid gegenüber wohlhabenderen Menschen ist, und demonstriert Bereitschaft zum Verzicht zugunsten ihrer noch in Polen lebenden Angehörigen (Z. 207-220). Dann mischt sich BM ein und fragt, ob PW4 hier in Deutschland einer Arbeit nachgehe. Sie verneint diese Frage und bezeichnet sich als rentner. Ihre Antwort ist noch weiter ausgebaut, aber nur teilweise verständlich; vermuten lässt sich, dass sie die Selbstpräsentation als bescheidener Mensch weiterführt oder variiert. Z. 227-229: Mit der lachend formulierten Äußerung ich denke das reicht (Z. 227) meint PW4 nicht die Höhe ihrer Rente (der Abschluss des Themas „Erwerbstätigkeit“ ist durch eine Gesprächspause markiert, Z. 227), sondern ihre Aktivitäten als Gruppensprecherin. Nach einer langen Pause fragt PW4, ob sie und ihre Mitstreiterin wieder unter den anderen Platz nehmen sollen [* 5* ja: * wir müssen hinsetzen uns —> j aT* - ; Z. 227ff.]. Sie zeigt dabei eine Sprecherhaltung an, die auferlegte Aktivitätsverpflichtungen als bearbeitet ansieht und den Ausstieg aus der Sprecherrolle in die Wege leiten will, ihn aber nicht einseitig vornehmen kann. Analytischer Kommentar Z. 83-229: Die Situation des Berichtens über die Kleingruppenarbeit wird im Wesentlichen gestaltet durch Aufzeigen von Unterschieden in den Lebensbedingungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland, sowie mittels allgemein-floskelhafter Aussagen über das aktuelle Befinden und mittels globaler Zufriedenheitsbekundungen. Im Zuge dieser Darstellungsaktivitäten werden von einer Sprecherin Angaben gemacht, die ihre Aussiedlung auf sehr allgemeine Weise in ihren familiengeschichtlichen Kontext einordnen. Ferner werden allgemein-typisierende Kennzeichnungen von Schwierigkeiten unmittelbar nach der Übersiedlung vorgenommen. In der Anhäufung von Zufriedenheitsbekundungen anlässlich einer in Gruppenarbeit erstellten Collage zum Thema „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ offenbart sich ein Situationsverständnis, das Stellungnahmen zu der Frage, wie zufrieden man mit dem Leben nach der Aussiedlung ist, als primäre Kommunikationsaufgabe ansieht. Vor allem zu Beginn der Kommentierungsaktivitäten von PW4 gibt es Anzeichen dafür, dass die Bearbeitung dieser Aufgabe unter dem Druck erfolgt, die neue Lebenssituation so darzustellen, dass sie als bewältigt und zufrieden stellend erscheint. An der Generierung dieses Kommunikationsverhaltens ist SL maßgeblich beteiligt. Er reagiert thematisch steuernd und unterstützend, etwa dadurch, dass er Gelegenheiten zum biografischen Sprechen einräumt, da- <?page no="355"?> Im Schonraum-Milieu 355 durch, dass er gesprächsstrukturierende Relevanzeinordnungen vornimmt und dadurch, dass er die Ausführungen der Gruppensprecherinnen mit Rezeptionssignalen und mit Paraphrasen, die den Nachvollzug der Fremdperspektive anzeigen, zur Kenntnis nimmt. Auffällig an der Gesprächssteuerung des Seminarleiters ist aber auch, dass er von Aktivitäten absieht, die geeignet wären, die angesprochenen Themen zu expandieren und Ansätze biografischen Sprechens zu vertiefen. Zwar stellt er zu Beginn Fragen an PW4, die auf ihren persönlichen Hintergrund zielen, aber er vertieft dieses Themenpotenzial nicht. Auch geht er nicht auf die in der Collage zusammengestellten Abbildungen ein. Desgleichen unterlässt er es, Fragen zu den Vorstellungen von der Bundesrepublik vor der Einreise zu stellen. Aufgrund des gewählten Rahmenthemas lassen sich solche Fragen erwarten, auf alle Fälle wären es situativ passende und zulässige thematische Steuerungsinitiativen. 255 Die thematischen Verarbeitungsaktivitäten des Diskussionsleiters bestehen darin, die relativ gute Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen in Deutschland zu würdigen, die er bei PW4 und PW7 voraussetzen kann (vgl. Z. 120-123 und Z. 175 u. 177 u. 184). Das Thema, das von PW4 eingangs angesprochen und von ihm zurückgestellt wird, nimmt er nicht wieder auf (die schmutzigen Verhältnisse in Schlesien; vgl. Z. 108 u. 110). Die Interaktionssteuerung des SL ist funktional dafür, allgemeine Kommentierungsaktivitäten der Gruppensprecherinnen zu evozieren und funktional dafür, die Darstellungsaktivitäten der Sprecherinnen laufen zu lassen und dort, wo es zu Stockungen zu kommen droht, Anstöße zu geben. Eine Initiative des Seminarleiters zur Einbeziehung anderer Mitglieder aus der Gruppe, für die PW4 und RW12 sprechen, löst ein Statement einer Teilnehmerin, PW7, aus, das ähnlich konstruiert ist wie die ersten Kommentierungsaktivitäten von PW4. Auch PW7 verwendet Antwortformate, die geeignet sind, Themenabschlüsse zu organisieren. Offenbar ist es in diesem Gesprächskontext nicht ganz leicht, ausgebautere persönliche Stellungnahmen zur Seminarthematik zu entwickeln. Auch die Fragen von RW15 und des BM, die auf die Berufstätigkeit der Gruppensprecherin bezogen sind (Z. 194 u. 196 u. Z. 222), können diesen 255 Die gleichen Unterlassungen sind natürlich auch für BM festzustellen. Seine Zurückhaltung in diesen Punkten hat allerdings etwas mit dem Bestreben zu tun, zunächst einmal kommunikative Prozesse in Gang kommen zu lassen, die durch ihn selbst möglichst wenig beeinflusst sind. <?page no="356"?> 356 Aussiedler treffen aufEinheimische Gesprächsrahmen nicht aufbrechen. Aktivitäten, in denen eine thematische Weiterverarbeitung etwa im Stile des Einholens bestätigender oder gegensätzlicher Erfahrungen, im Stile des Abverlangens detaillierter Begründungen für bekundete Zufriedenheit oder des Nachbohrens bei ambivalenten Positionsmarkierungen erfolgt, bleiben aus. So unterbleibt es auch, dass PW4 Genaueres dazu sagt, was die Anfangszeit in Deutschland so schwer macht. Allgemeine Charakterisierungen dieser schwierigen Zeit werden hier als nicht weiter detaillierungsbedürftig behandelt. Es handelt sich um eine Form des Sprechens über leidvolle Erfahrungen, die sich durch Zweierlei auszeichnet: es wird symbolisiert, dass jedes weitere Sprechen über Details überflüssig ist, weil ein gemeinsames kulturelles Wissen über das Erfahrene unterstellt werden kann; es wird aber auch angezeigt, dass Thematisierungsbarrieren wirksam sind, die es schwer machen, ins Detail zu gehen (weil dies mit einem Eintauchen in zurückliegendes Leid verbunden ist). Vergleicht man die Kommentierungsaktivitäten der beiden Gruppensprecherinnen, so fällt auf, dass PW4 diese Aufgabe wesentlich stärker unter dem Gesichtspunkt des Auskunftgebens über die persönliche Zufriedenheit mit der Situation in Deutschland angeht, als dies bei RW12 der Fall ist. Deren Kommentierungsaktivitäten sind strikter auf die Collage bezogen und sie sind deutlicher als „dort-hier“-Vergleich wie in der Themenvorgabe der Seminarveranstaltung angelegt konturiert, als dies bei PW4 der Fall ist. Diese spricht zwar in biografischen Bezügen, aber ohne ihre biografische Erlebnisperspektive wirklich zu entfalten. Sie verwendet Äußerungsformate der Zufriedenheitsbekundung, die eher geeignet sind, Leidensmomente und Enttäuschungserfahrungen zu kaschieren, als innere Zustände authentisch mitzuteilen. Solche Formen des Sprechens, die Identitätszustände nur sehr allgemein darstellen und den Blick auf biografisch-lebensweltliche Hintergründe versperren, sind sicherlich dem Rahmen der Seminarveranstaltung geschuldet. Für PW4 hat dieser Rahmen ein Agieren in ungewohnter Sprecherrolle erzwungen. Sie muss sich im Kontext thematisch auferlegter Relevanzen bzw. vor einem größeren Auditorium und vor Mitarbeitern 256 einer 256 Ich verwende hier die Pluralform, da auch der Beobachter als ein zum Hause gehörender Einheimischer für die Seminarteilnehmer typisierbar war (zur Beobachterrolle im Feld siehe Kap. 6.4). <?page no="357"?> Im Schonraum-Milieu 357 mit Eingliederungsaufgaben betrauten Institution dazu äußern, wie sie die bisher in Deutschland verbrachte Zeit erlebt hat. Ihr Kommunikationsverhalten lässt sich daher auch als Resultat einer paradoxen kommunikativen Anforderungssituation ansehen: Sie steht vor der Aufgabe, über biografisches Erleben von Fremdheit und Anpassungsdruck reden zu müssen, aber so, dass der Veranstaltungsrahmen nicht zu sehr mit biografischem Material belastet wird. 6.8.3.3 Aufdeckung und Verarbeitung enttäuschender Erfahrungen in Deutschland In diesem Abschnitt der Seminardiskussion (Z. 230-449) kommt zur Sprache, dass Aussiedler bei einem Teil der einheimischen Bevölkerung auf Ablehnung stoßen. Damit wird ein Aspekt thematisch, der entgegen den vorausgegangenen Zufriedenheitsbekundungen beiden Gruppensprecherinnen Probleme mit dem Leben in Deutschland bereitet. Die beiden Gruppensprecherinnen machen deutlich, dass die Ressentiments der Einheimischen in den staatlichen Finanzhilfen für Aussiedler begründet liegen. Sie charakterisieren Einstellungen der Einheimischen gegenüber Aussiedlem und markieren ihre eigene Sichtweise darauf. In diesem Zusammenhang werden auch Aktivitäten zur Klärung der Höhe staatlicher Eingliederungshilfen und der Zuwendungen im Falle einer Beerdigung akut. a) Aufdeckung des für Aussiedler belastenden Umstandes, bei Einheimischen auf Ablehnung zu stoßen (Z. 230-299) 229 PW4 : hinsetzen uns —»jaT* - 230 BM: also niemand ** niemand is enttäuscht ** 231 PW4: nee ent|täuscht | bin ich 232 PW7: 233 BM: oder- * |—>ham sich alle<—| |j edenfalls |ü: berhaupt 234 PW4: nicht| ich weiß |(nur) nicht| 235 PW7: nicht| 236 BM: |harn | sich alle wünsche erfülltT 237 SL: 238 PW4: 239 PW7: 240 BM: also es=is +wir ham=ja ** alles ** >ja< *3* >hmhm< |äh |man/ | 241 PW4: manche mögen uns auch nicht ja <—die hier die—> * <?page no="358"?> 358 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 SL: PW4 : PW4 : SL: PW4 : PW4 : K PW4 : PM2 : PW4 : PW7 : PM2 : PW4 : PW4 : SL: PW4 : PW4 : PM2 : SL: PW 4 : PM2 : XX: PW4 : PM2 : SL: PW4 : PW4 : PM2 : K PW4 : BM: PW4 : BM: BM: PW4 : BM: Aussiedler treffen aufEinheimische |hmhm| einheimischen ja |die | sagen so die aussiedler die bekommen alles ja und —>so und so viel geld bekommen sie >hmhm< |also| das stimmt nichti und wir bekommen nichts<— ** |ahm | äh: ja was haben die da #be"komm# als aussiedler hmT ** #HOHE STIMMLAGE# ja das hab ich (dariehen) ** aber das müssen wir zurück (tun) J, gar | nicht gen|ommen äh hab | (—»ich auch nicht<—) | (ich bin) +—»wieso nicht*— ( bekommen) * tausendvierhundert mark <—mein mann bekommen sechshundertT - » ** ich acht>(hundert)<1 zweite >hmhm< hälfte als ich kam ** das ist alles ja- ** tausendvierhundert mark * und sonst nichtsj, darlehn (da) |j a das dariehen |ja das (muss man)| mein sohn hat ist doch fünftausend ( ) | bekommen (für) | <nur dreitausend und er muss |(die leute gleich kaufen)| hmhm zurückzahlen viertausend> ja * >zinsen (nicht)< ja * und ich will keine schulden ich: ich sage dann ** #ha ja# #BASSIG-ZUSTIMMEND# (wenn ich sterbe) w=wird das zahlen jaT * für mich LACHT ** äh ha/ haben das irgendwelche deutschen schon mal direkt zu ihnen gesagtT die aussiedler die sind nur ja |mein nachbar| <—hier—> |äh weil sie | geld haben wollenT oder <?page no="359"?> Im Schonraum-Milieu 359 278 PW4: 279 PW4: 280 BM: 281 PW4: 282 PW4: 283 PW4: 284 PW4: 285 PW4: 286 PW4: 287 PW4: 288 BM: 289 PW4: 290 BM: 291 PW4: 292 PM2: 293 PW9: 294 K 295 PM2: 296 PM4: 297 SL: 298 PM4: 299 XX: 300 K& meinem sohn der nachbar der hat gesagt ja der arbeitet dort am flughafen düsseldorf da: da arbeiten da dort hmhm so aussiedler und (der) verdient "sehr gut die haben ein: >so: < dickes auto gekauft? weil die pro person dreizehntausend kriegen? ja? * ich hab (ihm) gesagt <—aber—> "zeigen sie mir mal die * die >äh< * ja -^diejenigen die be"kommen haben dreizehntausend wir sind«— "auch aussiedler und * also wir haben nichts bekommen? ne? *1,5* [ja: | (der sagt) ** ja einer sagt dem >hm|hm<| anderen und die "denken so * |ja? einfach] oft so ja |ja ja ja | wir <be"komm doch> nichts *1,5* >ne? < aber von wo haben #+"no: # #NEUGIERIG# sie denn dreizehntausend bekommen? der)< der hat so gesagt |ja| I ha j >(sagt #ich glaub * ich glaub »STIMMENGEWIRR Die Aufdeckung eines Lebensumstandes, der für Aussiedler in Deutschland problematisch ist, geht in folgenden Aktivitätsschritten vonstatten: 1) Insistierendes Nachfragen des BM und themenabschließendes Antwortverhalten von Seminarteilnehmerinnen (Z. 230-240); 2) Einräumung eines belastenden Umstandes globale Kennzeichnung der unter Einheimischen verbreiteten Denkweise gegenüber Aussiedlern und Etablierung der darauf bezogenen Widerspruchsposition (Z. 238-246); 3) Ausarbeitung der Gegenposition zur Denkweise der Einheimischen und Aktivitäten zur Klärung der Höhe staatlicher Finanzhilfen für Aussiedler (Z. 247-273); <?page no="360"?> 360 Aussiedler treffen aufEinheimische 4) Nachfrage des BM zum persönlichen Erlebnishintergrund der Gruppensprecherin und Entwicklung einer Belegerzählung zur Urteilsperspektive der Einheimischen (Z. 274-298). Zu 1) Insistierendes Nachfragen des BM und themenabschließendes Antwortverhalten von Seminarteilnehmerinnen (Z. 230-240) Der Versuch von PW4, aus der Kommunikationsrolle der Gruppensprecherin auszusteigen, scheitert an einer Frageinitiative von BM. Er formuliert als Resümee, dass niemand enttäuscht sei und baut damit konditionelle Relevanzen für die gesamte Seminargruppe auf, sich bestätigend oder modifizierend zu äußern. Die dann angehängte Frage, ob sich alle wünsche erfüllt haben, ist ebenfalls an alle Teilnehmer gerichtet. Es ist hier also der Beobachter, der auf Beiträge zum Themenkomplex „allgemeine Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland“ insistiert. Seine Einmischung verhindert, dass das Gruppensprecherinnen-Arrangement aufgelöst wird. Die Beendigung wäre an dieser Stelle vom Seminarleiter vermutlich akzeptiert worden, um dann noch eine Collage einer anderen Gruppen präsentieren zu lassen. Noch als BM dabei ist, seine Frage zu formulieren, antworten PW4 und PW7 (letztere gehört der Arbeitsgruppe an, für die PW4 und RW12 sprechen). Beide verneinen zunächst die Frage nach dem Enttäuschtsein; PW4, indem sie diesen Ausdruck als auf sie nicht zutreffend zurückweist (Z. 231 u. 234); das von ihr gewählte Antwortformat ist auch als Zurückweisung einer zu negativ ausfallenden Bilanzierung verstehbar. Die Äußerung nee enttäuscht bin ich jedenfalls nicht (Z. 231 u. 234) weist eine ähnlich ambivalente Aussagestruktur wie die zu Beginn vorgenommenen globalen Zufriedenheitsbekundungen auf (vgl. Z. 89-90 u. Z. 113-114). Es ist eine Formulierung, die den Ausdruck enttäuscht als ungeeignet für eine Gesamtbeurteilung ihrer Befindlichkeit einordnet, in der sich aber auch andeutet, dass es doch etwas geben könnte, was nicht zur Zufriedenheit ausfällt. Nur Vermutungen lassen sich darüber anstellen, wodurch der Formulierungsansatz ich weiß (nur) nicht (Z. 234) motiviert ist. Er deutet sowohl auf eine Redeabsicht hin, die das zuvor Gesagte als individuelle Stellungnahme deklarieren und Möglichkeiten anderer zur Stellungnahme offen halten will, als auch auf eine Redeabsicht, die die Gültigkeit des zuvor Gesagten [enttäuscht bin ich jedenfalls nicht] aus Besorgnis um künftige Entwicklungen einschränken will. <?page no="361"?> Im Schonraum-Milieu 361 Die Äußerung, mit der PW4 verneint, enttäuscht zu sein, ist weniger dezidiert als die Reaktion von PW7. Diese Sprecherin realisiert mit dem synchron gesprochenen ü : berhaupt nicht (Z. 232 u. 235) ein Antwortformat, das nicht nur die von BM angebotene Bewertungskategorie zurückweist, sondern auch eine Sprecherhaltung anzeigt, die die aufgeworfene Frage für hinreichend beantwortet und nicht weiter thematisierungsbedürftig hält. Die nochmalige Fokussierungsaktivität des BM hindert PW4 vermutlich daran, die begonnene Äußerung zu komplettieren. BMs neuformulierte Frage ham sich alle wünsche erfülltT (Z. 236) bejaht PW7; die Wir-Kategorie, die sie in der Äußerung wir ham=ja alles verwendet, markiert ein Sprechen sowohl für die Wir-Gruppe der Seminarteilnehmer, als auch für die Wir- Gemeinschaft der Aussiedler. Es handelt sich hier um ein knapp gehaltenes Antwortformat, das keine genaueren Angaben darüber enthält, welche Wünsche und Bedürfnisse als erfüllt angesehen werden. Die Beantwortung der Frage nach Enttäuschungserfahrungen unter dem Gesichtspunkt des Versorgtseins mit Lebensnotwendigkeiten verleiht dieser Äußerung den Charakter einer abschließenden Stellungnahme. Das darin enthaltene Sequenzierungspotenzial der Themenbeendigung steht in Opposition zu Aktivitäten, die PW4 vollzieht. Zu 2) Einräumung eines belastenden Umstandes globale Kennzeichnung der unter Einheimischen verbreiteten Denkweise gegenüber Aussiedlem und Etablierung der darauf bezogenen Widerspruchsposition (Z. 238-246) Nachdem PW7 die zufrieden stellende Versorgungslage herausgestellt hat, folgt in Überschneidung mit einem Redeansatz des SL (Z. 237-238) eine Äußerung von PW4, in der sie einen Umstand anspricht, der Aussiedlem zu schaffen macht [man/ manche mögen uns auch nicht ja <-Tiie hier die—> * einheimischen ja; Z. 238-243], Zögerlich und erst nach insistierenden Frageaktivitäten des BM spricht PW4 an, dass es etwas gibt, worüber sie als Aussiedlerin nicht glücklich sein kann: die Tatsache, dass unter den einheimischen Deutschen Ressentiments gegenüber Aussiedlem bestehen. PW4 verwendet zur Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Aussiedlern und hiesiger Bevölkerung mit „nicht mögen“ eine Bewertungskategorie, die konventionell auch auf Sozialbeziehungen angewandt wird, die durch Antipathien geprägt sind. Die Erwähnung der Erfahrungen mit Einheimischen zu einem Zeitpunkt, als die Gruppensprecherinnen bereits dabei sind, <?page no="362"?> 362 Aussiedler treffen aufEinheimische ihre Kommunikationsverpflichtungen aufzukündigen, lässt dieses Thema als eines erscheinen, für das es in dem aktuellen Kontext eine Thematisierungsschwelle gibt. Im Fortgang der Rede von PW4 werden dann Enttäuschung und Verärgerung über den Tatbestand, dass Einheimische den Aussiedlem keine Sympathien entgegenbringen, erkennbar. Die Sprecherin geht zu Aktivitäten der Gegenwehr und Gegenargumentation über; ihre Gegenposition entwickelt sie in einem Tonfall, der die Symbolisierungsqualität starken Empörtseins besitzt. PW4 charakterisiert zunächst die Denkweise der Einheimischen, verwendet nun nicht mehr die pronominale Form manche, sondern spricht von den Einheimischen [<—die hier die—> * einheimischen ja die sagen so die aussiedier die bekommen alles; Z. 241-244]. Sie fugt dann eine Behauptung an, die gegen die Urteilsbasis dieser Denkweise gerichtet ist [und wir bekommen nichts; Z. 246]. Eine thematische Steuerungsaktivtät des SL sorgt mit dafür, dass die Auseinandersetzung mit nicht anwesenden Gegnern den Einheimischen, die Aussiedler nicht mögen in Gang gehalten wird. Er rephrasiert die Äußerung, mit der PW4 ihre Widerspruchshaltung angezeigt hatte, mit >hmhm< also das stimmt nicht und eröffnet so einen Floor zur weiteren argumentativen Auseinandersetzung mit den negativen Einstellungen der Einheimischen. Zu 3) Ausarbeitung der Gegenposition zur Denkweise der Einheimischen und Aktivitäten zur Klärung der Höhe staatlicher Finanzhilfen für Aussiedler (Z. 247-273) Der Detaillierungs- und Argumentationsaufforderung des SL kommt PW4 mittels einer rhetorischen Frage nach [ja was haben die da be "komm; Z. 247], Es fällt auf, dass PW4 hier von Aussiedlern in der 3. Person spricht. Mit dieser rhetorischen Gegenfrage bringt sie zum Ausdruck, dass die staatlichen Finanzhilfen in einem als geringfügig zu erachtenden Umfang geleistet worden sind. Ein anderer Seminarteilnehmer, PM2, merkt an, dass Aussiedler ein Darlehen in Anspruch nehmen können; hierauf reagiert PW4 und erklärt, dass sie das Darlehen nicht in Anspruch genommen habe; auch PW7 äußert sich in diesem Sinne. Daraufhin will PM2 wissen, warum die Vorrednerin das Darlehen nicht in Anspruch genommen habe. PW4 nennt nun Beträge, die sie und ihr Mann als staatliche Eingliederungshilfen bekommen haben [tausendvierhundert mark mein mann bekommen sechshundert ** ich achthundert; Z. 254-255], Es folgt eine Äußerung, die den be- <?page no="363"?> Im Schonraum-Milieu 363 scheidenen Umfang der erhaltenen Finanzhilfen (einen Betrag von eintausendvierhundert Mark) bekräftigt [als ich kam ** das ist alles ja- ** tausendvierhundert mark * und sonst nichts; Z. 257-258], Daraufhin stellt PM2 richtig, dass sich die Höhe des Darlehens für Aussiedler auf 5000 Mark beläuft (Z. 259 u. 261). PW4 und PM2 reden hier aneinander vorbei. Bei dem von PM2 angesprochenen Darlehen geht es um zinsgünstige Kredite für Aussiedler; PW4 hingegen bezieht sich auf die finanziellen Eingliederungshilfen, die sie und ihr Mann bei der Einreise in die Bundesrepublik bekommen haben. In Überschneidung mit einem Redeansatz des Diskussionsleiters geht PW4 dann auf staatlich gewährte Darlehen ein, um deutlich zu machen, dass es sich dabei nicht um Geschenke handelt, sondern um Kredite, die finanzielle Belastungen verursachen und die vollständig zurückbezahlt werden müssen. Sie führt an, dass ihr Sohn ein Darlehen in Höhe von 3000 Mark bekommen hat und dieses mit Zinsen zurückzahlen muss. Wohl in Reaktion auf die Frage, weshalb sie das Darlehen nicht in Anspruch genommen habe (PM2: -»wieso nichts-; Z. 253), erklärt sie dann, dass sie keine Schulden haben wolle und plausibilisiert diese Haltung unter Hinweis auf Probleme der Darlehensrückzahlung im Todesfall [und ich will keine schulden ich: ich sage dann ** (wenn ich sterbe) w=wird das zahlen ja * für mich LACHT **; Z. 268-273], Zu 4) Nachfrage des BM zum persönlichen Erlebnishintergrund der Gruppensprecherin und Entwicklung einer Belegerzählung zur Urteilsperspektive der Einheimischen (Z. 274-300) Wie gesehen, agiert PW4 als Opponentin gegen Auffassungen der nicht anwesenden Kontrahenten bzw. gegen die Urteilsperspektive, die die Einheimischen auf Aussiedler einnehmen. Einige Seminarteilnehmer halten es dann für klärungsrelevant, wie hoch die finanziellen Eingliederungshilfen für Aussiedler sind, deretwegen sie angefeindet werden. Die von PW4 vollzogenen Klärungsaktivitäten fokussieren persönliche Umstände und Überlegungen, die PW4 davon abgehalten haben, Eingliederungshilfen (ein Darlehen) in Anspruch zu nehmen. Hier kündigt sich ein thematischer Rahmenwechsel an, den BM mit einer Frageinitiative zu verhindern sucht. Er greift die Aussage der PW4 über die Einstellungen der Einheimischen gegenüber Aussiedlern auf und stellt eine Frage, die auf ihre persönlichen Erfahrungen gerichtet ist. BM will von PW4 wissen, ob sie selbst schon <?page no="364"?> 364 Aussiedler treffen aufEinheimische solche Einheimischen kennen gelernt habe, die der Ansicht seien, dass Aussiedler des Geldes wegen nach Deutschland kommen würden. Diese Frage bejaht PW4 und entwickelt dann eine Belegerzählung (Z. 278-291); daraus geht hervor, dass ein Nachbar ihres Sohnes entsprechende Bemerkungen gemacht habe. Er hat dies wird in der kurzen Erzählung deutlich den von einer Aussiedlerfamilie realisierten Kauf eines Autos der gehobenen Mittelklasse siehe dickes auto damit erklärt, dass jedes Familienmitglied eine staatliche Zuwendung in Flöhe von 13.000 Mark bekommen hat. Weiter geht aus der Belegerzählung hervor, dass PW4 im Gespräch mit diesem Einheimischen dieser Behauptung entgegengetreten ist. Dazu hat sie, folgt man ihrer Dialogwiedergabe, Authentizitätsnachweise für die behauptete finanzielle Begünstigung gefordert [ich hab (ihm) gesagt ^aber^> "zeigen sie mir mal die * die >äh< * ja —» diejenigen die be"kommen haben drei zehntausend^—; Z. 283-285] und ihre eigene Familie als Gegenbeweis angeführt [wir sind "auch aussiedler und * also wir haben nichts bekommend neT; Z. 285 U. 286]. Nach einer kurzen Pause äußert PW4 sich dann zur Verbreitung dieser Auffassung unter den Einheimischen. Die Formel einer sagt dem anderen (Z. 287 u. 289) charakterisiert das Denken der Einheimischen als eines, das sich rasch ausbreitet und Fragen nach Wahrheitsentsprechungen nicht aufkommen lässt (was der eine Einheimische über Aussiedler sagt, ist für den anderen per se wahr). Auch wird mit dieser Formel ein Kontext der Urteilsbildung über Aussiedler charakterisiert, der sich der Einflusssphäre der Betroffenen entzieht (die Einheimischen reden über Aussiedler, sie reden nicht mit ihnen). PW4 schließt ihre Antwort auf die Frage von BM ab, indem sie nochmals beteuert, dass sie, die Aussiedler (die Sprecherin verwendet hier die Wir-Kategorie), kein Geld vom Staat bekommen haben (Z. 291). Eine kurze Sequenz, in der PM2 und PW4 aufzuklären versuchen, was es mit der Darlehenssumme, die in der vorausgegangenen Belegerzählung genannt worden war, auf sich hat, löst dann Erklärungsaktivitäten zur Urteilsbildung der Einheimischen aus. PM2 zeigt sich erstaunt über die Summe, die in der Kurzerzählung der PW4 als Finanzhilfe für Aussiedler erwähnt wird. Er fragt, woher die in Rede stehenden Aussiedler diesen Betrag bekommen haben; PW9 zeigt sich mit dem dialektalen "no: (Z. 293) ebenfalls erstaunt, er ist interessiert an einer Klärung dieser Frage. PW4 kann keine klare Auskunft darüber geben, woher der Mann die Zahl 13.000 Mark hatte; sie bleibt dabei, dass der Nachbar ihres Sohnes diese Summe genannt habe. Daraufhin <?page no="365"?> Im Schonraum-Milieu 365 ergreift SL das Wort und entwickelt eine Erklärung dafür, dass Einheimische glauben, Aussiedler bekämen hohe finanzielle Unterstützungsleistungen. b) Verarbeitung der unter Einheimischen verbreiteten Auffassung, dass Aussiedler durch staatliche Finanzhilfen bevorteilt seien, durch den Seminarleiter (Z. 297-321) 297 SL: 298 PM4: 299 XX: 300 K& 301 SL: 302 XX: 303 K& 304 SL: 305 SL: 306 SL: 307 K 308 SL: 309 SL: 310 K 311 SL: 312 K 313 SL: 314 K 315 SL: 316 K 317 SL: 318 SL: 319 SL: 320 SL: 321 SL: 322 PW4: #ich glaub * ich glaub der)< der hat so gesagt |ja| I ha I #STIMMENGEWIRR äh vor * vor vielen ich glaub vor vielen jahren# ne: # da w/ als es noch nicht so viele aussiedler ** gab * also ** da war das n=bißchen anders * aber das is=äh *1,5* #-»das kommt natürlich immer auf * auf auf den fall anf<~ * #REDET SEHR SCHNELL UND FLÜSSIG also ich hab das "irgendwann auch mal im fernsehen gesehen —»ist aber schon lange her ich we: iß nicht zehn jahre oder so<— da hab ich das a/ hab ich noch gar nicht * an an aussiedler eigentlich gedacht —»das hab ich nur so=n bißchen noch im köpf <—# * da kam auch mal n=bericht # <—über—» darüber dass aussiedler geld bekommen * zur entschädigung oder oder so * aber * vleicht is vleicht rührt das auch da"her dass so alte Sachen noch noch ähm *1,5* ^irgendwelche: <— *1,5* gedanken >und äh< * noch * noch in den köpfen kreisen die gar nicht stimmenf ** |ne| I ja| <?page no="366"?> 366 Aussiedler treffen aufEinheimische Z. 297-322: Die gesamte Erklärungsaktivität von SL zeichnet sich durch Verzögerungen und Brüche im Formulieren aus. Die Erklärungsleistung selbst ist relativ allgemein und dazu geeignet, das erklärungsbedürftige Phänomen zu verharmlosen. Sie besagt im Kern, dass die Informationen, die in den Köpfen der Einheimischen kreisen, überholt sind und ordnet die Urteilsperspektive der Einheimischen damit als eine fehlgehende ein. Der Seminarleiter räumt ein, dass es in der Vergangenheit finanzielle Zuwendungen gegeben hat; er formuliert diese Einräumung aber so, dass die jetzt nach Deutschland kommenden (und auch die am Seminar teilnehmenden) Aussiedler vom Kreis der Begünstigten ausgenommen werden [vor vielen jahren da w/ als es noch nicht so viele aussiedler ** gab * also ** da war das n=bisschen anders; Z. 301-305]; in diesem Zusammenhang weist er auch darauf hin, dass die Höhe der finanziellen Hilfeleistung von Fall zu Fall unterschiedlich sein kann (Z. 306). Er bezieht sich dann auf eine Fernsehsendung, die schon länger zurückliegt. Darin wurde über Entschädigungszahlungen für Aussiedler berichtet. Hypothetisch führt SL die in der einheimischen Bevölkerung gegenüber Aussiedlem bestehenden Ressentiments darauf zurück, dass sich alte, inzwischen überholte Meldungen über finanzielle Starthilfen für Aussiedler im Bewusstsein der Bevölkerung festgesetzt haben (Z. 313-321). Insofern, als SL hier anstelle derer, die sich angefeindet fühlen, argumentiert, ergreift er Partei für sie. Durch diesen Solidarisierungsvorgang werden die anwesenden Aussiedler allerdings auch davon entlastet, selbst die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen, die Einheimische über Aussiedler haben, zu fuhren. SL räumt pauschal ein, dass es hinsichtlich finanzieller Eingliederungshilfen für Aussiedler Fallspezifika zu beachten gibt; er vertieft diese Betrachtungsweise aber nicht. Die Auffassung, dass Aussiedler viel Geld vom Staat bekämen, führt er auf veraltetes Wissen bzw. auf das Fortwirken längst überholter Informationen zurück. Was genau am Denken der Einheimischen nicht stimmig ist, bleibt ungeklärt. Die Einordnung der Denk- und Wahmehmungsweise der Einheimischen als nicht stimmig markiert eine mit den Seminarteilnehmern geteilte Sicht auf einen Teil der einheimischen Bevölkerung. Für die seiner Auffassung nach fehlgehende Sichtweise bei Einheimischen macht der Seminarleiter das Unvermögen zum Fremdverstehen und mangelndes Wissen über Unterstützungs- und Zusammenhaltsstrukturen in Aussiedlerfamilien verantwortlich. <?page no="367"?> Im Schonraum-Milieu 367 c) Aufdeckung eines weiteren enttäuschenden Umstandes: Schlechterstellung bei Finanzierung einer Beerdigung; daran angeschlossener Versuch, geltende Bestimmungen über finanzielle Hilfen im Sterbefall zu klären (Z. 322-392) 321 SL: 322 PW4: 323 PW4: 324 SL: 325 PW4: 326 PW4: 327 PW14: 328 PM2: noch in den köpfen kreisen die gar nicht stimmeni ** |ne| i ja| hier ist auch sehr äh schwer eine beerdigung zu machen jaf hm jaf kriegt man bloß zweitausendeinhundert mark tja * von=ner (als beerdigung) von wo *1,5* Versicherung 329 PW4: von der Versicherung jaf und sonst muss man alles 330 PW4: 331 PW14: 332 K 333 PW4: 334 PW14: 335 PW4: 336 PW14: 337 PW4: 338 PW14: 339 PW4: 340 PW14: alles habenf ja da drüben #von der versicherungt# #FRAGEND # |da hatten die be/ | |aber| ich | jetzt bekommen wir| nichts mehr (für)f ** |ne hab noch |zweitausend<einhundert bekommen>| ja das ist das is= (...) neunzig |vor zwei jahren | ab(geschafft worden| das ist abgeschafft worden * do: ch die zweitausendeinhundert "nichts bekommen (sie) 341 PW4: schonf "ich (ich hab| 342 BM: —»von der krankenversicherungf«— (net 343 PW4: ja: ja da kann man ein: 344 PW14: gehört dass man für ( ) 345 PW4: (sarg kaufen ja * das muss man haben) 346 SL: is=das nich geä/ #is=das nicht geändert wordenf 347 K& #GEMURMEL IM HINTERGRUND 348 BM: ach 349 SL: 350 K& so für uns ( ) ^(dass wir das garnicht mehr)<— <?page no="368"?> 368 Aussiedler treffen aufEinheimische 351 SL: 352 RW18: 353 K& 354 SL: 355 BM: 356 K& 357 RW11: 358 BM: 359 K& 360 RW11: 361 BM: 362 K& 363 RW11: 364 SL: 365 RW11: 366 RW11: 367 SL: 368 PW4: 369 PW4: 370 K 371 K& 372 SL: 373 PW4: 374 K& 375 PW4: 376 K 377 K& 378 PW4: 379 K 380 SL: 381 SL: 382 PW4: 383 SL: 384 PW4: (... lange) >(bis=s mal soweit is)< "mein >das is=geändert< "mein ich *1,5* ich guck mal nach * >ich guck mal nach< +ich hör das erste mal z/ ja s=hör ich auch zu ersten | (...) | # bei bei ( ) freu/ freund is=vatter |mal | ne # gestorbenl wir wir haben nicht >(kriecht)< *1,2* —»haben |"ni|chts bekommen | nu | sie müssen selbs=be/ a/ p/ selbs=zahlen für allesi ** I ja| |ja| und da drüben in (polen) da ha=en wir bekommen s=geld #nicht# > ) < dreimal geld # (haben wir bekommen) *2,5* #VERSTÄNDNISSICHERND# #BÄNDKRACHEN hm |hm| |hm| |hm| muss man das geld haben muss man das geld | ha | b | en | und | äh | -^ja deswegen mach ich auch so<-df LACHT #ich darf nicht sterben # LACHEND # (wenn ich dran denke an? dann) die beerdigung# # <<—ja weil das—» geld bezahlen ja das ma/ das bezahlen ja dann doch die kinder> net >das: < (ja die) "haben ja keins * ja: klar ja: * arbeiten "auch noch nicht hmhm <?page no="369"?> Im Schonraum-Milieu 369 385 SL: 386 K 387 PW4: 388 K& #ja sie "sterben ja au=noch nicht # #ÄN PW4 GEWANDT # #man weiß nicht ob #ALLG. GELÄCHTER UND 389 SL: ja ähm 3 90 PW4 : man noch morgen aufstehen kannj, man muss immer dran 391 K& STIMMENGEWIRR 3 92 PW4 : denken * jeden tag * ich denke so jat ich denk=s oft LACHT# 393 K& # Z. 322-393: Den Erklärungsaktivitäten des Seminarleiters lässt PW4 eine Äußerung folgen, in der ein neuer thematischer Aspekt fokussiert ist [ja hier ist auch sehr äh schwer eine beerdigung zu machen jat; Z. 322 u. 323], Sie geht also nicht auf die Ausführungen des SL ein, sondern führt einen weiteren Umstand an, der in Deutschland nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfällt. Die Rückfragen des BM (Z. 230-236) haben diesen Thematisierungsrahmen eröffnet. Es kann nur vermutet werden, dass das Reden über finanzielle Zuwendungen an Aussiedler und die irrigen Vorstellungen, die Hiesige davon haben, PW4 an eigene Fehleinschätzungen bezüglich öffentlicher Unterstützungsgelder im Beerdigungsfall erinnert haben. Jedenfalls kommt PW4 hier auf einen Punkt zu sprechen, den sie aus ihrer persönlichen Erfahrung sehr genau kennt (ihr Mann wurde in Deutschland beerdigt, wie sich familiengeschichtlichen Angaben, die sie später macht, entnehmen lässt). Ihre Aussage, dass man im Falle einer Beerdigung bloß zweitausendeinhundert mark (Z. 325) von der Versicherung bekomme, löst Rückfragen in der Seminargruppe und Aktivitäten zur Überprüfung einschlägiger Bestimmungen aus. Zu diesem relativ turbulenten Geschehen im Einzelnen: Zunächst will PW 14 Genaueres über den Zuwendungsgeber wissen (Z. 327); nachdem PW2 und dann PW4 die Versicherung als die geldgebende Instanz genannt haben, bringt PW14 aktuelles Wissen über diese Finanzhilfe ein. Sie weiß, dass jetzt kein Zuschuss mehr gezahlt wird, wenn ein Familienangehöriger stirbt [jetzt bekommen wir nichts mehr; Z. 334]. Hieran schließt sich eine kurze Sequenz an, in der PW4 und PW14 strittig und auf der Grundlage unterschiedlicher Kenntnisstände geltender Bestimmungen argumentieren. PW4 behauptet, noch einen Zuschuss zu Beerdigungskosten bekommen zu haben. PW 14 widerspricht ihr und insistiert darauf, dass diese Finanzhilfe für Aussiedler inzwischen abgeschafft worden sei. BM mischt sich ein mit einer Frage nach dem Träger der finanziellen Unterstützungsleistungen; <?page no="370"?> 370 Aussiedler treffen aufEinheimische nachdem PW4 kurz bestätigt hat, dass diese Beihilfen von der Krankenversicherung bezahlt werden, benennt sie in einem nicht ganz verständlichen Äußerungsteil einen Verwendungszwecks dieses Geldes [ja da kann man ein: (sarg kaufen ja); Z. 343 u. 345]. SL wirft die Frage auf, ob die einschlägigen Bestimmungen nicht geändert wurden und bezweifelt damit — wie zuvor schon PW 14 — dass die Bestimmungen, von denen PW4 profitiert hat, noch in Kraft sind. Das von ihm gewählte Frageformat zeigt allerdings auch an, dass er selbst nicht auf gesichertes Wissen zurückgreifen kann. Daraufhin kündigt BM an, sich sachkundig zu machen [ich guck mal nach; Z. 355], Auch RW11 bestätigt aus Erfahrungen in ihrer Familie die Auffassung, dass inzwischen keine Zuschüsse zu Beerdigungskosten mehr bezahlt werden (Z. 357-366). PW4 nimmt nun ihre zuvor verfolgte Mitteilungsabsicht der finanziellen Schlechterstellung im Falle einer Beerdigung im Vergleich zwischen Polen und Deutschland wieder auf. Wie sie sagt, wurden im Sterbefall großzügigere finanzielle Zuwendungen in Polen geleistet [und da drüben in (polen) da ha=en wir bekommen s=geld ... dreimal geld (haben wir bekommen); Z.368]. Mit der dann folgenden Äußerung ^>ja deswegen mach ich auch so<—(Z. 375) stellt sie einen Begründungszusammenhang zu ihrer zuvor (Z. 268-273) abgegebenen Erklärung, keine Schulden haben zu wollen, her. Dort hatte sie Besorgnis um die Begleichung von Schulden im Falle ihres Todes gezeigt. Zur Scherzmodalität übergehend [ich darf nicht sterben; Z. 375] bekundet PW4 erneut Sorge um die Kosten ihrer eigenen Beerdigung (Z. 378). SL meint, dass ihre Kinder die Beerdigungskosten bezahlen könnten; dagegen wendet PW4 ein, dass ihre Kinder noch nicht arbeiten und über wenig Geld verfügen. Dass sie selbst einmal Beerdigungskosten verursachen könnte, scheint ihr im Hinblick auf die finanzielle Situation ihrer Kinder Sorgen zu bereiten. Die Scherzmodalität beibehaltend gibt SL der Gruppen Sprecherin weiter zu bedenken, dass sie ja noch nicht sterben werde. Darüber kommt es zur Erheiterung in der Seminargruppe. In das allgemeine Gelächter hinein - und in einer Sinngebung, die die Scherzmodalität nicht durchbricht, aber auch die Ernsthaftigkeit dieser Thematik transportiert zeigt PW4 an, dass sie diesem unernsten Versuch der Ausräumung ihrer Besorgnis nicht folgt [man weiß nicht ob man noch morgen auf stehen kann man muss immer dran denken * jeden tag * ich denke so jaT ich denk=s oft LACHT; Z. 387-391], <?page no="371"?> Im Schonraum-Milieu 371 d) Erneute Problematisierung der Beziehungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen (Z. 394-450) 394 SL: 395 SL: 396 SL: 397 PW4: aber wie is=das denn * äh sie ham das jetz=so angedeutet dass dass sie auch * vor den hiesigen ** manchmal so=n bißchen komisch angeguckt werden vielte | icht als aussiedlerj, |ja (viele? ich denk) die "mögen| 3 98 SL: | sa: |gen sie * ja 399 PW4 : uns nichtj, ja die |die | ja nicht a: lle aber ** 4 00 SL: ->bam=das<— * haben sie das auch schon erfahren |so 4 01 PW4 : |-^(die ich<—) | 402 SL: 403 RW12: 404 XXI: 405 XX2: 406 K& oder siet ja un=dann #(setzen) sie und >ja< #jaja * doch# #BESTÄT. GEMURMEL # #GEMURMEL IM 407 RW12: sagen ja"ja * sie bekommen soviel geld und a: lles un=dann * 408 K& HINTERGRUND 409 RW12 : ahm sagen sie (sagen "hört malaber wir aber wir) (wir ma/ 410 K& 411 PW: +ach das |sind 412 RW12 : ach/ ) *2* die haben so äh Vorstellungen |die kommen 413 K& 414 PW4: 415 RW12: 416 K& a: ussiedler das sind weiße negerj,| aus ( ) I LACHT# un=dann: * wird # 417 RW12: "doch gesagt ha ja die aussiedler die be"kommen soviel * geld 418 SL: 419 RW12: 420 KSc aber das stimmt ja nichl ne und alles un=dann ALLG. GEMURMEL 421 RW12: zu wenn man * (äh) ihnen sagthört mal (die) setz (en) 422 SL: hmhm 423 RW12 : (dich? sich) "hier hin (warte mal) #na ja (sie bekommen 424 K #HÖHERE TONLAGE 425 RW12: ja alles wir bekommen aber hier nichts die die kommen aber 426 K <?page no="372"?> 372 Aussiedler treffen aufEinheimische 427 SL: 428 RW12: 429 K 430 XX: 431 SL: hmhm <also ich glaub die au/ die die nicht)# # 432 SL: 433 K& 434 SL: 435 XX: 436 K& 437 SL: 438 SL: 439 SL: 440 SL: 441 SL: 442 SL: 443 SL: 444 SL: 445 RM16: 446 XM: 447 SL: 448 RM19: 449 K& ( ) hiesigen die übersehen auch oft dass die aussiedler #(...) stark Zusammenhalten also auch in ihrer familie (oder) #BANDRUMPELN großfamilie jat># das (ja das is) * (das=s=ver"ständlich) # verstehen die oft nicht * zum beispiel ist es ja auch * —>also hab ich zumindest so gehört oder auch gesehen<— * äh >bei< so Stichwort "autoda/ * dass sich wirklich also ein/ eine große ** ah: familie ** also mit onkel und tanten auch noch dabei vielleicht- oder großeitern und eitern und kinder * ähm dass die alle zusammen sich <<—ein auto—>> kaufenj, aber das sind dann vielleicht * fünfzehn oder zwanzig personen und nich |nich einer ja| ne: in (wir harn an auto) was dreitausend I ( ) I +und n=alter #ja ja# zehn jahre alt das auto *2* #STIMMENGEWIRR# 450 PW4: ja wir halten auch zusammen * —>so alle die wir kennen Z. 394-449: Nachdem in der Frage finanzieller Leistungen im Beerdigungsfall keine endgültige Klarheit geschaffen werden konnte, und die Besorgnis, die PW4 bei dem Gedanken an ihre eigene Beerdigung überkommt, durch Wechsel in die Scherzmodalität eine verharmlosende Relevanzeinordnung erfahren hat, folgt eine erneute thematische Steuerungsinitiative des SL. Er greift vorausgegangene Darstellungen der Seminarteilnehmer auf, aus denen hervorgegangen war, dass Aussiedler von den Hiesigen nicht gemocht bzw. skeptisch beäugt werden [aber wie ls=das denn * äh sie ham das jetz=so angedeutet dass dass sie auch * <?page no="373"?> Im Schonraum-Milieu 373 vor den hiesigen ** manchmal so=n bisschen komisch angeguckt werden vielleicht als aussiedlerj, ; Z. 394-396]. 257 Daraufhin wiederholt PW4 ihre Einschätzung. Es fällt auf, dass sie jetzt von viele spricht, von vielen Einheimischen also, die Aussiedler nicht mögen. Zur Expandierung dieses Themas wendet SL sich dann an die übrigen Seminarteilnehmer; er will von ihnen wissen, ob sie ähnliche Erfahrungen wie PW4 gemacht haben (Z. 400 u. 402). Es folgen kurze Bestätigungssignale und Redeansätze von verschiedenen Teilnehmern (Z. 402-405). Mit einem ausgebauteren Antwortformat meldet sich die zweite Gruppensprecherin, RW12, zu Wort (Z. 403-429). Sie gibt stereotype, gegen Aussiedler gerichtete Rede von Einheimischen wieder (Z. 403-409 sowie 415-425). Damit wird — wie schon zuvor von PW4 (vgl. Z. 241-244) die unter Einheimischen verbreitete Auffassung, dass Aussiedler von staatlichen Zuwendungen profitieren, als Standpunkt einer Gegenpartei markiert, mit dem sich Aussiedler kollektiv konfrontiert sehen. Aus einem nicht ganz verständlichen Äußerungsteil geht hervor, dass sie die Vorstellungen dieser Einheimischen als irrig und abwegig ansieht (Z. 412-415). RW12 wehrt sich hier gegen die bei Einheimischen wahrgenommenen Ressentiments, indem sie ihnen ein grundfalsches Denken über Aussiedler und die Verweigerung eines fairen und klärenden Austausches anlastet (Z. 419-428). Die Aktivitäten von RW12 haben Belegfiinktion für die von SL reformulierte Behauptung, dass Aussiedler von den Hiesigen manchmal so=n bisschen komisch angeguckt werden (Z. 395-396); sie machen auch deutlich, dass die Sprecherin sich der Denkweise und Urteilsperspektive der Einheimischen ohnmächtig ausgeliefert sieht. Der Versuch, sich mit den Einheimischen auseinanderzusetzen und das Begünstigungsdenken der Einheimischen auszuräumen, scheitert daran, dass diese sich einer solchen Situation entziehen, so jedenfalls verstehe ich das äußerungsabschließende die die kommen aber nicht in Z. 425 u. 428. 25 ' Hier refokussiert der Diskussionsleiter das Thema, das durch Frageinitiativen des Beobachters (vgl. Z. 230-236 und Z. 275-277) Diskussionsgegenstand geworden war. Möglicherweise ist eine Vertiefung dieser Thematik hier ganz im Sinne seiner Interessen als Diskussionsleiter. In der Beobachtungssituation hatte ich den Eindruck, dass er an dieser Stelle bemüht ist, meinen Forschungsinteressen zuzuarbeiten (er wusste, dass ich mich speziell für die Beziehungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen interessiere). <?page no="374"?> 374 Aussiedler treffen aufEinheimische Wie schon zuvor bei PW4 (vgl. Z. 243-247) handelt es sich hier um ein Argumentieren gegen eine nicht anwesende Proponentenpartei, wobei der Proponentenstandpunkt von der Opponentenpartei mit dargestellt wird. 258 Dieses, wie man auch sagen könnte, argumentative Schattenboxen von RW12 wird von PW4 mit einer Bemerkung unterstützt, die eine Geringschätzigkeitshaltung von Einheimischen gegenüber Aussiedlem in Zitatform ausdrückt [ + ach das sind a: ussiedler das sind weiße negeri; Z. 411 u. 414], Diese Art der Redewiedergabe ist geeignet, den pejorativen Gehalt der Kategorisierungsmittel, die Einheimische auf Aussiedler anwenden, zu demonstrieren. Bemerkenswert ist, das PW4 die Wiedergabe des Kategorieninventars, das die Einheimischen auf Aussiedler anwenden [weiße neger], mit einem Lachen kommentiert. RW12 hingegen spricht in einer Tonlage, die Unverständnis und Entrüstung ausdrückt. Lauter werdendes Gemurmel unter den übrigen Seminarteilnehmern deutet darauf hin, dass ein brisanter Punkt erreicht ist, zu dem auch andere Teilnehmer etwas beizusteuem haben. Das argumentative Schattenboxen wird auch durch Markierung eines Widerspruchserfordemisses seitens SL in Gang gehalten. Er hält die Verpflichtungen zur Gegenargumentation aufrecht, indem er erneut die Widerspruchsposition markiert [aber das stimmt ja nichi ; Z. 418] und ein ne anfugt, das sowohl redeauffordemde Funktion hat als auch gemeinsames Wissen über die ‘richtige Sicht’ der Dinge anzeigt. Der Diskussionsleiter reagiert mit einem Einwurf, der die Vorstellung, Aussiedler bekämen viel Geld, als falsch einstuft (Z. 418). Er demonstriert eine mit den Seminarteilnehmern geteilte Perspektive auf die Vorstellungen der Einheimischen und eröffnet Rederaum zur weiteren Auseinandersetzung mit der Vorstellung, die Einheimische über Aussiedler haben. An der von RW12 weitergeführten, aber nicht eindeutig verstehbaren Äußerung (Z. 419-429) ist erkennbar, dass sie eine Situation der Kontaktaufnahme zu den Einheimischen bzw. des Zur- Rede-Stellens beschreibt. Sie gibt diese Situation entindexikalisiert, also ohne nähere Verweise auf zeit-räumliche oder personale Umstände wieder. Ihre Darstellungsbemühungen sind darauf beschränkt, ein verbreitetes Erfahrungsmuster der Kommunikation mit Einheimischen herauszuarbeiten. 258 Ich sehe die an der Seminardiskussion beteiligten Aussiedler in der Opponentenrolle, da sie sich der unter Einheimischen verbreiteten Auffassung bzw. Behauptung, Aussiedler würden vom Staat viel Geld bekommen, widersetzen. <?page no="375"?> Im Schonraum-Milieu 375 Nach dem Statement von RW12 folgt eine neuerliche erklärungstheoretische Aktivität des SL; sie bezieht sich auf die Vorstellungen, die Einheimische von Aussiedlern haben. SL weist darin auf die Solidaritätsstrukturen unter Aussiedlern hin [stark Zusammenhalten also auch in ihrer familie; Z. 432] und bringt zum Ausdruck, dass Einheimische diese Solidarität nicht bedenken, wenn sie über die finanzielle Lage von Aussiedlem urteilen. Er bezieht somit Position gegen Einheimische, die glauben, dass Aussiedler in großem Umfang finanzielle Zuwendungen vom Staat erhalten. Zwei russlanddeutsche Teilnehmer, RW16 und RM19, reagieren auf das zur Exemplifizierung der Zusammenhaltsstrukturen angesprochene Vorgehen beim Kauf eines Autos. In ihren Redezügen machen beide geltend, dass ihr Familienauto ein altes bzw. ein nicht besonders teures sei (die in Z. 445 genannte Zahl dreitausend bezieht sich auf den Kaufpreis des Autos). Sie reagieren somit gleichsam bestätigend auf die von SL vorgenommene Exkulpation von Aussiedlem. Dann äußert sich auch PW4 bestätigend, sie expandiert dabei aber das Thema Zusammenhalt unter Aussiedlem so, dass eine argumentative Auseinandersetzung mit einem anderen Problembereich, dem Sprachverhalten von Aussiedlern, in Gang kommt. Analytischer Kommentar zum Diskussionsabschnitt Z. 230-449: Die Thematisierung ressentimentbehafteter Einstellungen der Einheimischen gegenüber Aussiedlem kommt nur zögerlich und nur auf Nachfragen des BM in Gang. Später ist es der SL, der durch eine Fokussierungsaktivität für eine vertiefende Diskussion der Einstellungen der Einheimischen gegenüber Aussiedlem sorgt. In diesen Initiativen der Themensteuemng manifestiert sich ein Bemühen, die Diskussion nicht zu oberflächlich werden zu lassen und sie nicht schon nach einigen gemeinplatzartigen Stellungnahmen beenden zu müssen. Die Frageinitiativen von BM und SL zielen darauf, konkrete Erfahrungen und authentisches Erleben im Eingliederungsprozess zum Gegenstand zu machen. Erst diese thematischen Steuerungsleistungen bringen die Gruppensprecherinnen dazu, gegenüber Aussiedlem bestehende Missgunst und Anfeindungen in der einheimischen Bevölkemng anzusprechen. Das zweite Sorgenthema („Beerdigungskosten“) ist offenbar auch für andere in der Seminargruppe von besonderem Interesse. Dies zeigen die Einmischungen von bisher unbeteiligten Sprecherinnen. Die Diskussionsbeteiligung wird in diesem Abschnitt insgesamt lebhafter. Vor allem das Äußerungsverhalten der beiden Gruppensprecherinnen wird engagierter und <?page no="376"?> 376 Aussiedler treffen aufEinheimische vehementer. Lebhafter wird die Diskussion auch durch den Wechsel von ernsthaften Themenbezügen in scherzhafte. Das Thema „Finanzierung einer Beerdigung“ tangiert innerfamiliäre Konstellationen zwischen Alten und Jungen. Wenn auch nicht sehr ausführlich und in Scherzmodalität übergehend werden hier doch Erfahrungen mit der Sterbefallsituation entfaltet. Den biografischen Bezügen, die bei einigen der Teilnehmer zu dem Thema Beerdigungskosten zweifelsohne bestehen, wird nicht nachgegangen, allerdings taucht eine Generationenproblematik auf: das Problem, dass die Sterblichkeit der Älteren nicht nur Trauer und Verlust bereitet, sondern auch zur finanziellen Belastung für die Nachkommen werden kann. Der Diskussionsleiter versteht dieses Sorgenthema nicht dahingehend zu nutzen, das Aussiedlungserleben unter Aspekten des Generationenverhältnisses weiter zu problematisieren. Stattdessen wird dieses Thema verarbeitet als Informationsfrage zu aktuell geltenden Bestimmungen zu finanziellen Unterstützungsleistungen. Der SL sieht sich in erster Linie gefordert, Erklärungen zu den Ressentiments in der einheimischen Bevölkerung abzugeben. Er agiert als Professioneller, der Aussiedler vor Ressentiments der Einheimischen in Schutz nimmt und sie davon frei spricht, für Spannungen zwischen den beiden Gruppen verantwortlich zu sein. Es kommt zur Solidarisierung des Professionellen mit denen, die ‘zu Unrecht’ angefeindet werden. Der Seminarleiter bezieht Position als jemand, der genauso gut wie die Betroffenen um die ‘richtige Sicht der Dinge’ und um die ‘fehlgehenden Vorstellungen’ der Gegenseite weiß. Seine Solidarisierung mit den Betroffenen kommt auch darin zum Ausdruck, dass er ihnen Gelegenheit einräumt, eine Argumentation der Widerlegung dieser ‘fehlgehenden Sicht’ zu führen und damit quasi ein Forum zur Selbstvergewisserung der ‘zu Unrecht diskreditierten Aussiedler’ schafft. Des Weiteren wird der Zusammenhalt unter Aussiedlem von SL als Kollektivmerkmal gewürdigt, das sich in der Nachaussiedlungssituation aufs Neue bewährt. 6.8.3.4 Aufdeckung einer ablehnenden Haltung gegenüber der deutschen Sprache und Herstellung von Konsens über die Irrationalität dieser Einstellung In diesem Diskussionsabschnitt (Z. 450-594) werden Probleme der Aneignung und des Gebrauchs der deutschen Sprache thematisch. Die Behandlung dieser Thematik vollzieht sich in zwei Aktivitätskomplexen: <?page no="377"?> Im Schonraum-Milieu 377 a) Thematisierung der Sprache des Herkunftslandes als bedeutsam für die Binnenkommunikation unter Aussiedlem und Stellungnahme des Seminarleiters zu dieser Spracheinstellung (Z. 459-482) 450 PW4: 451 SL: 452 PW4: 453 PW4: 454 PW4: 455 K 456 SL: 457 PW4: 458 K 459 SL: 460 PW4: 461 SL: 462 PW4: 463 SL: 464 SL: 465 SL: 466 PW4: 467 SL: 468 PW4: 469 SL: 470 SL: 471 SL: 472 SL: 473 SL: 474 SL: 475 SL: 476 XX: 477 SL: 478 SL: ja wir halten auch zusammen * —>so alle die wir kennen hmhm > (und sonst auch)«—< (treffen? halten) besser jaT äh * wir können auch nicht "so: (wie so ja wie leute welche) äh so * so untereinander da sprechen wir #halb polnisch nicht halb #LACHEND das aber so nich# in den worte sagen wir polnisch und wir # +das ist natürlich auch schwierig für ma/ für verstehen unsf die |hie|sigen teilweise wenn * wenn=n hiesiger also jetzt |hm | aussiedler hören die ** "polnisch sprechen oder >äh< russisch sprechen und —>"gar kein«— deutsch sprechen^ * —>dann dann dann«— fragen die sich natürlich «—schon auch—> äh +ja was sie hier +^wa=sin=das denn sind das das sind ja überhaupt keine wollen deutsche! «— vielleicht sagen die das sind ja polen die * sprechen ja polnisch! ** >äh< —»das äh is=also auch«— * «insofern n=bißchen "schwierig! > —»also man muss das auch n=bißchen verstehen glaub=ich! * also die * die "hiesigen müssen verstehen dass * dass sie vielleicht die deutsche spräche nich: äh * ^also sie«— * sie ja sch: on aber dass andere aussiedler nich: die deutsche der (viele viele) deutschen spräche mächtig sind- —»das heißt die sehr schlecht deutsch sprechen können«— weil sie das nicht ge"lernt haben * <?page no="378"?> 378 Aussiedler treffen aufEinheimische Al9 SL: und nicht sprechen durften * nur auf=er andern Seite m/ müssen * 480 SL: vielleicht die aussiedler auch da n=bißchen verstehn we/ wenn * 481 SL: jemand sagt ich bin deutsch und —>"kann überhaupt kein deutsch*— 4 82 SL: sprecheni ist das auch schwierig für jemand <—zu verstehenj,—> net Z. 450-460: Dieser Abschnitt der Seminardiskussion wird damit eingeleitet, dass PW4 die erklärungstheoretische Aussage über die Solidaritätsstrukturen in Aussiedlerfamilien, die SL zuvor entwickelt hat (vgl. Z. 427-443), in themenexpandierender Weise aufgreift. Der Seminarleiter hatte den familialen Zusammenhalt unter Aussiedlem als Besonderheit ihrer Lebensweise hervorgehoben, die von einheimischen Deutschen oft übersehen werde. PW4 bekräftigt die von SL getroffene Aussage am Beispiel der Wir-Gemeinschaft, der sie angehört [ja wir halten auch zusammen; Z. 450], Über die Zusammensetzung dieser Wir-Gemeinschaft gibt der dann folgende Äußerungsteil—>so alle die wir kennen >(und sonst auch)*—< (treffen? halten) besser jaT keine genaue Auskunft. Bekanntheit untereinander, sich treffen (vielleicht auch sich besuchen) sind die gruppenkonstituierenden Merkmale, die Erwähnung finden. Dies spricht dafür, dass PW4 hier eine Wir-Gemeinschaft im Sinn hat, die über familiäre Beziehungen hinausgeht. Und da sie sich als Aussiedlerin aus Polen äußert, kann davon ausgegangen werden, dass sich das Merkmal des Zusammenhaltens auf ein Gemeinschaftsgefüge bezieht, das sich nach der Ausreise unter polnischen Aussiedlem gebildet hat. 259 In dem dann folgenden Äußerungsteil (Z. 452-460) nimmt PW4 im Ansatz eine Konkretisierung der Erfahrung von Zusammenhalt in ihrer Wir-Gemeinschaft vor. In der nicht abgeschlossenen vergleichenden Äußerungskonstruktion wir können auch nicht "so: (wie ja leute welche) äh so scheint sie für ihre Kollektivität ein Handicap oder ein Defizit konstatieren zu wollen. Der anschließende Hinweis auf den Gebrauch des Polnischen legt die Vermutung nahe, dass es ihr hier um die Beherrschung des Deutschen geht. Zwar ist die Vergleichskonstruktion lückenhaft, sie ist aber so formuliert, dass sie den Gebrauch der polnischen 259 Vorstellbar ist, dass auch Familienangehörige von PW4 zu dieser Wir-Gemeinschaft gehören; auch ist denkbar, dass es sich um ein Gemeinschaftsgefuge handelt, das bereits in Polen existierte. Für den weiteren Gang der Analyse sind solche Erwägungen jedoch unerheblich. Worauf es hier ankommt ist, dass PW4 über Zusammenhaltsstrukturen und wie sich noch zeigen wird auch über Auseinandersetzungen innerhalb einer Aussiedlergruppe spricht, die sich als Wir-Gemeinschaft versteht. <?page no="379"?> Im Schonraum-Milieu 379 Sprache als Ausdruck mangelnder Beherrschung des Deutschen verstehbar macht. Was PW4 im Sinn hat, wird deutlicher in dem Äußerungsteil in den werte sagen wir polnisch und wir verstehen unsj, (Z. 457 U. 460). Der Gebrauch des Polnischen wird hier als Ausdruck eines Zusammengehörigkeitsgefühls dargestellt, das in der Benutzung dieser Sprache ausgelebt und bekräftigt wird. PW4 weist auf die gemeinschaftsstiftende Funktion, die das Sprechen der vertrauten Sprache des Herkunftslandes für alle in der Gruppe hat, hin. Sie entwirft das Bild einer Kommunikationsgemeinschaft, die über das Sprechen der ihnen vertrauten Sprache erst zum Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitserleben befähigt wird. Mit dieser Äußerung macht PW4 auch deutlich, dass die Kommunität, die sich im Gebrauch der polnischen Sprache vermittelt, in dieser Wir-Gemeinschaft sehr geschätzt wird. Diese Beschreibungen von Zusammenhaltsstrukturen in der in Rede stehenden Binnengemeinschaft polnischer Aussiedler beinhalten für den Seminarleiter und für andere Teilnehmer brisante Aussagen, wie sich im weiteren Verlauf der Diskussion zeigt. Zunächst aber zur Verarbeitung der unter Aussiedlem bestehenden Vorliebe für die Herkunftssprache durch den Seminarleiter. Z. 459-482: Es folgen Äußerungen des SL, in denen er evaluativ Stellung zu den Aussagen von PW4 nimmt. Seine Stellungnahme besteht aus Äußerungen, die den von PW4 beschriebenen Sprachvorlieben einen Problemcharakter zuweisen; der Gebrauch des Polnischen wird von SL unter Bezug auf die Hiesigen global als schwierig eingeordnet (Z. 459 u. 461, 470-471). Seine Stellungnahme enthält ferner eine Exemplifizierung von Deutungsprozessen, die bei Einheimischen ablaufen können, wenn diese polnisch sprechende Aussiedler hören (Z. 461-470). SL stellt die von PW4 aufgezeigten Präferenzen für die polnische Sprache in einen Kontext, in dem Einheimische mit diesem Sprachgebrauch konfrontiert werden und zeigt Probleme auf, die Aussiedler dadurch bekommen können. Seiner Darstellung nach haben Einheimische Schwierigkeiten damit, den Gebrauch des Polnischen in Einklang mit Identitätsbehauptungen als Deutscher oder Deutsche zu bringen. Zu beachten ist aber auch, dass PW4 in Z. 466 u. 468 die Verdeutlichungsanstrengungen des SL mit eigenen Worten weiterführt und dabei eine Perspektive formuliert, die Einheimische einnehmen, wenn sie polnisch oder russisch sprechende Menschen hören: Sie würden sich fragen, was diese Leute hier wollten. In diesem äußerungskomplettierenden Einwurf demonstriert PW4, dass sie die besorgte Haltung, die der SL gegenüber diesem Sprachverhalten <?page no="380"?> 380 Aiissiedler treffen aufEinheimische markiert, zu teilen vermag. Allerdings ergibt sich hier eine nicht uninteressante Divergenz hinsichtlich der jeweils angezeigten Folgeprobleme: Der SL misst dem Gebrauch der Herkunftssprache insofern Problemcharakter bei, als sie für ablaufende soziale Kategorisierungen Unsicherheiten bzw. Enttäuschungsrisiken in sich birgt. Die äußerungsfortfuhrende Bemerkung von PW4 [+ja was sie hier wollen] fasst die Problematik noch elementarer, indem sie auf Legitimierungsnöte von Fremden, die das Deutsche nicht sprechen, verweist. Des Weiteren besteht die evaluative Stellungnahme des SL aus Aktivitäten, mit denen er an das Erfordernis und an die Bereitschaft zum Fremdverstehen in den Beziehungen zwischen Aussiedlem und Einheimischen appelliert (Z. 472-482). Er fordert von den Hiesigen Verständnis für die schlechten Deutschkenntnisse von Aussiedlem und verlangt andererseits Aussiedlem Verständnis dafür ab, dass es für Einheimische schwierig ist, wenn jemand vorgibt, Deutscher zu sein, aber kein Deutsch spricht. Analytischer Kommentar: Der Seminarleiter bemüht hier ein Beziehungsmodell zwischen Aussiedlem und Einheimischen, bei dem wechselseitige Bereitschaft zum Fremdverstehen ein unkompliziertes Miteinander ermöglicht. Zwar fordert er dabei auch von den Hiesigen Verständnis für die Sprachschwierigkeiten der Aussiedler, aber durch die nachgeordnete und äußerungsabschließende Platziemng der von Aussiedlern zu erbringenden Leistungen des Fremdverstehens erfahren diese eine höherstufige Relevanzeinordnung. In kommunikationsdynamischer Hinsicht geschieht hier Folgendes: Der Diskussionsleiter stellt die Aussagen, die PW4 über die soziale Funktion der Sprache des Herkunftslandes für die Gemeinschaft polnischer Aussiedler getroffen hat, in einen anderen Interpretationsrahmen. Am Beispiel ihres eigenen Freundes- und Bekanntenkreises hat PW4 sozusagen einen Beleg für den von SL behaupteten starken Zusammenhalt unter Aussiedlem geliefert und als wichtiges Solidarisierungsmedium die aus dem Herkunftsland vertraute Sprache aufgezeigt. Zu dieser Darstellungsaktivität bezieht der Seminarleiter Stellung, indem er die vorausgegangenen Aussagen von PW4 in einer Weise problematisiert, die über ihre eigentliche Mitteilungsabsicht hinausgeht. Er entwickelt eine evaluative Stellungnahme, die nicht mehr auf das Ausgangsthema „Zusammenhalt unter Aussiedlem“ bezogen ist, sondern auf einen sozialen Rahmen, in dem die Einheimischen relevant sind. Seine Stellungnahme basiert darauf, dass er das von PW4 beschriebene Sprachverhalten auf Begegnungen zwischen Aussiedlem und Einheimischen projiziert und dann absehbare Komplikationen und Irritatio- <?page no="381"?> Im Schonraum-Milieu 381 nen seitens der Einheimischen in den Vordergrund stellt. Obwohl er selbst den Fokus der Solidarität in Aussiedlergemeinschaften eingeführt hat, sieht SL hier davon ab, das von PW4 beschriebene Sprachverhalten in dem Interpretationskontext zu würdigen, in dem Zusammenhaltsstrukturen in Binnengemeinschaften als wichtig und wertvoll anerkannt sind. Stattdessen ist die evaluative Stellungnahme von SL jetzt an einem Kontext orientiert, in dem Erwartungsstrukturen hiesiger Deutscher gegenüber Aussiedlem maßgeblich sind. Relevant ist in diesem Interpretationsrahmen die Reaktionsweise der Einheimischen beim Hören der polnischen Sprache, nicht der Wert dieser Sprache für die Binnenkommunikation in einer Gruppe von Aussiedlem. Der Versuch einer Aussiedlerin, über Prozesse in ihrer Binnengemeinschaft zu sprechen, wird vom Seminarleiter also damit beantwortet, dass die Perspektive des Anpassungsdrucks an Erwartungen der einheimischen Bevölkerung dominant gesetzt wird. b) Gemeinsame Distanzierung von der Verweigerungshaltung anderer Aussiedler gegenüber der deutschen Sprache (Z. 483-594) 483 SL: 484 PW4: 485 SL: 486 PW4: 487 SL: 488 PW4: 489 PW4: 490 K >hmhm< ja wir sind auch viele: äh von (unsern aussiedler —>ja da/ <— —>aus) polen ja<— * die "wollen auch nicht lernen pol/ —>ja das | ist | aber schlecht^ne "deutschf | ja | die äh ich kenn viele die si/ ja #<die die sind böse dass "ich deutsch> sprechen will #DEUTLICH, BETONT 491 SL: ja 492 PW4: jaf# * d/ die möchten so: * so * polnisch reden ja ** 493 K # 4 94 SL: |aber we=man/ 495 PW4 : | <unterhalten> | sich und so und * ja und (ich sag |wann sollen 496 PM2 : |aber in 497 PW4: wir "le: rnen ihr müsst)| bittet 498 PM2: registrierschein da | schreiben sie * "deutschf 499 PW4: +d|eu|tsch 500 PM2: äh im registrierschein da da haben sie ge/ |in| <?page no="382"?> 382 Aussiedler treffen aufEinheimische 501 PW4: >äh< jaj, 502 PM2: muttersprache deutschj, Staatsangehörigkeit 503 PW4: ja| ja 504 PM2: deutsch! und deutsch wollen sie nicht sprechen >da 505 PM2: 506 XRM: 507 K& verstehe ich das nicht< # (ja . . .) #ALLG. GEMURMEL 508 PW4 : ja das sind so die/ die jüngeren * ja 509 XPW: ich auch nicht 510 XX: ( . . . ) 511 K& 512 PW4: 513 PM2: 514 K 515 K& wir haben gelernt noch ja #nuja: aber da sollen=se doch #EINDRINGLICH 516 SL: 517 PM2: 518 K 519 K& ma=muss man muss es aber auch * äh lernen * auch lernen# # STIMMENGEWIRR WIRD LAUTER 520 SL: 521 PW4: 522 K 523 K& "hier ** # (und ich sa/ und wa/ ) wann sollen wir lemenT (wir #SPRICHT MIT SEHR HOHER STIMME 524 PW4 : wisse dass wir nicht deutsch können) wir ( ) niemals 525 K 526 K& 527 PW4: deutsch (nich kennen) ja# * (wir müssen unser ...) 528 K # 529 K& 53 0 PW4 : ich hab bekannte (auch) die hat gesagt ne: * >äh ich werd mir 531 K& 532 PW4 : (äh wird mir) nich so "polnisch (... —>ich wird mir nich<—) < 53 3 PW4 : wir werden kaputtmachen #(mit der) deutschen spräche## 534 K #LACHEND # 535 K& LAUTES 536 SL: ja aber >äh< das ist schwierig 53 7 K& GELÄCHTER MEHRERER TEILNEHMER# <?page no="383"?> Im Schonraum-Milieu 383 538 SL: 539 PW4: 540 SL: 541 PW4: 542 PW4: 543 K 544 PM2: 545 PW4: 546 PM2: 547 PW4: 548 PM2: 54 9 K& 550 PW5: 551 PW7 : 552 PM2 : 553 K& 554 PW4: 555 PW5 : 556 K& 557 PW4: 558 PW6: 559 PW4: 560 PW6 : 561 PW4 : 562 PW6: 563 PM2 : 564 K 565 PW4: 566 PW5: 567 PW6: 568 PW4: 569 PW7: 570 SL: 571 K& 572 SL: 573 K& dann <—zu erklären—> ne ** äh d/ +aber die will hier bleiben in |j a j a| hmhm deutsch]land | ja die möchte: * ja die ** |und die deutsch #aber nicht#| #HOHE STIMMLAGE# |aber (wenn=se) nur polnisch | * nur polnisch sprechen da naja >sie will< ich weiß nichtda lernt sie niemals deutsch! , sie * sie sagt sie braucht nicht ** wieso #(sie muss #STIMMENGEWIRR, #<sind das ](und die) wenn sie einkaufen gehtT| d/ was dann ** |was sagen wenn du anrufen willst) |# GET .ÄCHTER # #STIMMENbitte **# junge leute nocht> <sind das junge leute nochT> GEWIRR # ja das kann wenn sie einkaufen geht dann muss sie wohl (zeigen)! . sie sagt sie da schmeißt sie |in korb —M ) <— | aber die alles rein | * sie braucht das kleinigkeiten| #no# #KLINGT WIE STÖHNEN# I ( > i |aber wenn sie] dann in die arbeit gehenf no: |die arbeitet | die zeigen |mit dem finger] dann nich LACHT * #<also is=schon * es ist schon besser wenn wenn man auch #STIMMENGEWIRR deutsch lernt! , auch ich glaub für * für "einen per"sönlich <?page no="384"?> 384 Aussiedler treffen aufEinheimische 574 SL: 575 K& 576 SL: 577 RW12: 578 SL: 579 SL: 5 8 0 PW4 : 581 PW4: 582 SL: 583 PW4: 584 SL: 585 PW4: 586 PW4: 587 XX: 588 SL: 589 PW4: 590 PW4: 591 K 592 PW4: 593 BM: 594 PW4: wenn man ma jemand den/ # mit dem nachbarn sprechen will # oder soj, kann man ja auch nur in "deutsch> äh jai —>ich mein wenn=e d/ wenn er<— *1,5* in der regel wird das ja kein aussiedler s: einj, ja +als ich herkam vor zwei jahren * da ging mir (das) auch schwer wir haben (drüben) * bloß |hmhm | pol|nisch| gesprocheni ** ja und da musst=ich überall | hmhm | alleine hin |ämter| * >(und) ja mein mann war krank schon und< * ja da ging schwer aber ober (wenn) man |"muss>| nich >hmhm< |hmhm | hmhm hmhm hm ^dann muss man halt<— (un=da) hab ich viel gele: sen nich äh ** #und la: ut# wenn ich allein bin hab ich bißchen #DEUTLICH # laut gelesen und (. . . 3 SEKUNDEN . . .) fehlt noch "viel | ab | er-> I ja I * ich denke * —>wird immer besser gehen*— ja ** Z. 483-594: Auf die evaluative Stellungnahme des SL folgt eine Äußerung von PW4, die die Problematik mangelnder Beherrschung des Deutschen aufnimmt und auf den von SL aufgezeigten Erwartungsdruck der Aneignung des Deutschen reagiert: PW4 bezieht sich wieder auf Aussiedler aus ihrem Bekanntenkreis und macht deutlich, dass unter ihnen auch eine dezidierte Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Sprache verbreitet ist. Viele aus ihrem Bekanntenkreis hätten gar nicht den Willen, die deutsche Sprache zu lernen. Mit diesem Hinweis auf mangelnde Lembereitschaft rückt PW4 von der Darstellung der Zusammenhaltsstrukturen ihrer Wir-Gemeinschaft ab. Sie knüpft hier an die Problematisierung an, die SL entfaltet hat, pflichtet seiner Problemsicht nicht nur bei, sondern weitet den Problemcharakter aus. Zunächst stellt PW4 diese mangelnde Bereitschaft zum Erlernen der deutschen Sprache ganz allgemein dar [ja wir sind auch viele: äh von (unsern aussiedler —>aus) polen ja*— * die "wollen auch nicht lernen pol/ "deutsch; <?page no="385"?> Im Schonraum-Milieu 385 Z. 484-488]. 260 Nachdem SL sich missbilligend über diese Spracheinstellung geäußert hat [—>ja das ist aber schlecht«—; Z. 487], macht sie deutlich, dass die Verwendung des Deutschen Gegenstand von Auseinandersetzungen in ihrer Wir-Gemeinschaft ist. Aus ihren weiteren Äußerungen geht hervor, dass PW4 sich den Zorn ihrer Bekannten zuzieht, wenn sie versucht, mit ihnen Deutsch ZU sprechen [die äh ich kenn viele die si/ ja <die die sind böse dass "ich deutsch> sprechen will jat * d/ die möchten so: * so * polnisch reden ja; Z. 488-492], Sie macht hier auf gruppeninteme Zwänge aufmerksam, die für den Gebrauch der Herkunftssprache und für eine Vermeidung der deutschen Sprache sorgen. In der dann angeschlossenen Äußerung betont sie, dass es sich nicht um eine von ihr geteilte Position handelt, sondern um eine, gegen die sie selbst schon angegangen ist [ja und (ich sag wann sollen wir "ler: nen ihr müsst); Z. 495 u. 497]. Es schließen sich argumentative Bearbeitungen der von PW4 dargestellten sprachlichen Vorlieben an, an denen neben anderen Seminarteilnehmern PW4 selbst beteiligt ist: - Zunächst signalisiert SL Widerspruchsbereitschaft (Z. 491 u. 494), dann bekundet jemand aus dem Auditorium, PM2, Verständnislosigkeit gegenüber der aufgezeigten Verweigerungshaltung. Er argumentiert unter Bezug auf das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren, in dem Aussiedler Angaben zur Staatsangehörigkeit bzw. zur Volkszugehörigkeit machen müssen. PM2 weist auf Inkonsistenzen zwischen Identitätsangaben im Registrierschein und dem Umgang mit der deutschen Sprache bei den in Rede stehenden Aussiedlem hin. Er konstatiert einen Widerspruch zwischen den im Registrierverfahren gemachten Angaben zur Deutschstämmigkeit bzw. zur Muttersprache und dem Ausbleiben einer entsprechenden Sprachgebrauchspraxis. Äußerungsabschließend bekundet PM2 Verständnislosigkeit gegenüber dem widersprüchlichen Verhalten mancher Aussiedler und markiert so eine Position, die mangelnde Bereitschaft deutsch ZU sprechen, nicht akzeptiert [aber in registrierschein da schreiben sie * "deutschf äh im registrierschein da da haben sie ge/ in muttersprache deutschf Staatsangehörigkeit deutschi und deutsch wollen sie nicht sprechen >da verstehe ich das nicht<; Z. 496-505], 260 Nicht ganz auszuschließen ist, dass sich in der Verwendung der Wir-Form zu Beginn der Äußerung [ja wir sind auch viele: ] eine gewisse Nähe zu den polnischen Aussiedlem ausdrückt, die die Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Sprache dezidiert vertreten. <?page no="386"?> 386 Aussiedler treffen aufEinheimische - PW4 sieht sich dadurch unter Erklärungszwänge gesetzt; sie kommt ihnen nach, indem sie dieses inakzeptable Verhalten der jüngeren Generation zuschreibt und in Erinnerung ruft, dass die Älteren die deutsche Sprache noch im Herkunftsgebiet erlernt haben. - PW2 und SL lassen das Generationenargument nicht als Entschuldigung gelten; sie reagieren mit Äußerungen, die unterstreichen, dass auch die Jüngeren nicht umhin kommen, die deutsche Sprache zu erlernen (Z. 513- 520). Im weiteren Verlauf spricht PW4 erneut von mangelnden Gelegenheiten zum Erlernen der deutschen Sprache (vgl Z. 521-524). Es ist nicht ganz klar, ob diese Äußerung in rechtfertigender Funktion zu den vorausgegangenen Ermahnungen von SL und PM2 vorgenommen wird oder ob PW4 hier die Wiedergabe der Rede weiterfuhrt, in der sie gegen die Spracheinstellung ihrer Bekannten argumentiert. Auch mit dieser Gesprächsaktivität distanziert sie sich von der Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Sprache, die sie zuvor dargestellt hatte. Dann fährt sie mit Aktivitäten fort, die die Perspektive jener Bekannten, die die Verwendung des Deutschen ablehnen, weiter entfalten [ich hab bekannte (auch) die hat gesagt ne: >äh ich werd mir (äh wird mir) nich nich so "polnisch (... —>ich werd mir nich<—) < wir werden kaputtmachen (mit der) deutschen spräche; Z. 530-533]. Diese Gesprächsaktivitäten verraten etwas über die Motivlage, aus der heraus die Sprachverweigerungshaltung eingenommen wird, und sie vermitteln einen Eindruck von der Widerständigkeit, auf die PW4 bei ihren argumentativen Bearbeitungsversuchen dieser Haltung stößt: Zwar ist auch dieser Äußerungsteil fragmentarisch, die Begründungslogik bezüglich der Weigerung deutsch zu sprechen, wird dennoch deutlich. Die ablehnende Haltung gründet offenbar darin, dass Aneignung und Gebrauch der deutschen Sprache als Verlust, als Destruktion, als ein wie sie zitierend sagt kaputtmachen der bisher gelebten kulturellen Identität angesehen werden. Mit der Verwendung der deutschen Sprache ist für die Bekannte, von der hier die Rede ist, offenbar die Sorge verbunden, dass dies auf Abbau der polnischen Sprache und auf Preisgabe der polnischen Identität hinausläuft. Der abschließende Äußerungsteil, in dem PW4 fremde Rede wiedergibt, ist lachend gesprochen (vgl. Z. 533-534) und nach Abschluss der Wiedergabe der Äußerungen ihrer Bekannten setzt unter den Zuhörern lautes Gelächter ein. Dieses Lachen lässt sich als eine Form der Kommentierung des referier- <?page no="387"?> Im Schonraum-Milieu 387 ten Standpunktes ansehen. PW4 und die Teilnehmer aus dem Auditorium markieren so eigene Haltungen zu der vorgetragenen Begründung, die deutsche Sprache nicht sprechen zu wollen. Dieses Lachen wirkte in der damaligen Situation auf mich wie eine Mischung aus Amüsiertheit über eine verbohrte, von überzogenen Ängsten geprägte Weitsicht und Amüsiertheit über eine Konfrontation mit Gedanken, die man insgeheim selbst hegt, aber nicht öffentlich auszusprechen vermag. Auf jeden Fall manifestiert sich in dem lachend formulierten Äußerungsteil und dem anschließenden Ausbrechen von Gelächter eine Art Gruppenkonsens darüber, dass die referierte Perspektive keine von PW4 und der Zuhörerschaft geteilte Perspektive ist und diese jetzt und hier nicht ernsthaft vertreten wird. Der SL reagiert ähnlich wie bereits vorher auch schon; er ordnet die referierte Perspektive als eine ein, die anderen schwer erklärlich zu machen ist (Z. 536 u. 538). Dann kommentiert PW4 selbst noch den Standpunkt ihrer Bekannten, indem sie deren Absicht, in Deutschland bleiben zu wollen, herausstellt und auch ihre Entschlossenheit, nicht deutsch sprechen bzw. lernen zu wollen, unterstreicht [+aber die will hier bleiben in deutschland ja die möchte: * ja die und ** und die deutsch aber nicht; Z. 539 u. 540]. Indem PW4 hier das Diskrepante der Lebenssituation, in die sich die ihr bekannte Aussiedlerin bewusst begibt, herausstellt, markiert sie nochmals Distanz zu der erläuterten Haltung. Der weitere Gang der Seminardiskussion zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass über das heikle Themenpotenzial, das in der aufgezeigten Sprachverweigerungshaltung enthalten ist, hinweggegangen wird. Das heißt, dass ein Diskurs über allgemeine Normalitätsvorstellungen von Eingliederung fortgesetzt wird. Ich sehe hier davon ab, diesen Verlauf detailliert nachzuzeichnen. Prägend für die weitere Themenbehandlung ist, dass mehrere Teilnehmer auf die charakterisierte Sprachverweigerungshaltung mit Aufweis nachteiliger alltagspraktischer Konsequenzen (Z. 539-569) reagieren. Auch SL lässt Äußerungen folgen, die unter Hinweis auf die Befähigung zur nachbarschaftlichen Kommunikation - Vorteile und Notwendigkeiten des Erlemens der deutschen Sprache heraussteilen (Z. 570-579). Schließlich ergreift PW4 noch einmal das Wort, um darzustellen, wie sie selbst von Sprachproblemen in Deutschland betroffen war und wie sie diese durch gezielte Lemanstrengungen gemeistert hat (Z. 580-594). Sie präsentiert sich hier quasi als Vorbild für den Umgang mit den Fremdsprachigkeitsverhältnissen, in die Aussiedler in Deutschland geraten. Die zuvor von ihr thematisierten Funktio- <?page no="388"?> 388 Aussiedler treffen aufEinheimische nen der Herkunftssprache für die Binnenstrukturen in Aussiedlergemeinschaften und die referierte Sorge um den Verlust der mitgebrachten kulturellen Identität werden auch von ihr nicht wieder aufgenommen. Analytischer Kommentar zu Z. 483-594: In diesem Ausschnitt aus der Seminardiskussion kommt eine heikle Thematik zur Sprache: Es geht um eine Spracheinstellung, die das Polnische präferiert und sich dem Deutschen verweigern will. Diese Position wird von PW4 eingebracht. Es kommt eine Auseinandersetzung mit dem SL und anderen aus dem Auditorium in Gang, bei der es um die Akzeptanz und Rationalität dieser Spracheinstellung geht. PW4 wahrt dabei allerdings Konsens mit dem Seminarleiter und anderen Teilnehmern (sie vertreten die Auffassung, dass die Aneignung der deutschen Sprache unverzichtbar für Aussiedler sei). Das rhetorische Verhalten von PW4 ist nicht ohne Raffinesse. Sie thematisiert eine Schwierigkeit polnischer Aussiedler aus der Binnenperspektive des Migrantenkollektivs; sie macht darauf aufmerksam, dass es diese Schwierigkeit gibt und ist darum bemüht, diese Schwierigkeit verständlich zu machen. Sie nimmt aber auch Positionsmarkierungen vor, die Distanz zur dargestellten Sichtweise wahren. PW4 stellt die Begründungslogik der Haltung, die ihre Bekannte gegenüber dem Deutschen einnimmt, dar. Dabei scheint sie sich dieser Haltung nicht ganz verschließen zu können. Im Reden über diese antideutsche Haltung agiert PW4 aber so, dass sie sich nicht außerhalb des Grundkonsenses stellt, der in der Seminargruppe hinsichtlich des Verhältnisses zur deutschen Sprache besteht. Insofern, als eine Spracheinstellung angesprochen wird, die nur schwer mit der Leitvorstellung der Einbürgerung deutschstämmiger Zuwanderer vereinbar ist, taucht hier eine brisante Thematik auf. Das Problem, dass Aussiedler den Aufenthalt in Deutschland als Bedrohung einer bisher gelebten kulturellen Identität erleben können, dass sich Aussiedler (aus Polen) nicht ohne weiteres mit Deutschland und der deutschen Sprache identifizieren können, steht im Raum. In den Äußerungen von PW4 klingt an, dass es unter ihren Bekannten sowohl Distanzierungsbedürfnisse gegenüber dem Deutschen gibt als auch Bedürfnisse, Gemeinschaftszugehörigkeit durch Gebrauch der Herkunftssprache zu erleben. Was PW4 in Form der Wiedergabe fremder Rede problematisiert, ist ein Migrationsverhalten, bei dem ein Leben in Deutschland angestrebt wird, aber nicht um ‘als Deutsche unter Deutschen zu leben’, nicht mit einem kulturellen Eingliederungs- oder Assimilierungs- <?page no="389"?> Im Schonraum-Milieu 389 bestreben, sondern in dem Bestreben, in Bezügen der herkunftsgeprägten kulturellen Identität - und auf Distanz zur kulturellen Identität der Deutschen weiterzuleben. Ein solches Migrationsverhalten, bei dem Deutschstämmigkeit als Aufnahmeoption genutzt, aber die Aneignung der deutschen Sprache nicht erfolgt bzw. angestrebt wird, hat auch PM2 mit seinen Bemerkungen über antragsstrategische Angaben im Registrierschein problematisiert. Die von PW4 dargestellten Schwierigkeiten, die (polnische) Aussiedler mit der deutschen Sprache haben, fordern den Seminarleiter in seiner Funktion als Eingliederungsprozessor und als Repräsentanten der institutioneilen Ordnung der aufnehmenden Gesellschaft. Seine argumentativen Verarbeitungen der Schwierigkeiten, die (polnische) Aussiedler mit der deutschen Sprache haben, vermitteln zwischen der Migrantenperspektive und dem Erwartungssystem der Aufnahmegesellschaft; und zwar so, dass Anpassungserwartungen der Binnenbevölkerung dominant gesetzt werden. Wie sich die Lebenssituation in Deutschland für die Betroffenen darstellt, erscheint in diesem Kontext nicht vertiefungsbedürftig. Die Aufdeckung von Anpassungsschwierigkeiten der Zuwanderer wird mit einer massiven Ankoppelung an das Erwartungssystem der Aufhahmegesellschaft beantwortet. Der Seminarleiter wendet auf die Aussagen der polnischen Aussiedlerin eine Validierungsperspektive an, die sicherstellt, dass im Diskurs über das Aussiedlerleben Relevanzen der aufnehmenden Gesellschaft gewahrt bleiben. SL begründet seine Stellungnahme unter Bezug auf ‘verständliche Reaktionen’ der Einheimischen, wenn diese Aussiedler hören, die nicht deutsch sprechen. In dieser Validierungsperspektive ist nicht die Rolle, die die mitgebrachte Sprache in der Fremdheits- und Übergangssituation spielt, fokussiert, sondern dass Aussiedler Gefahr laufen, in ihrer Fremdheit identifiziert zu werden und sich diskreditierenden Fremdheitszuschreibungen auszusetzen. In Einnahme der Validierungsperspektive unterstellt SL, dass sich diese Identifizierbarkeit als Nicht-Deutsche umgehen ließe. In Anlehnung an Mead'sche Begrifflichkeit lässt sich sagen, dass der Fremdheitsstatus von Aussiedlem hier in Bezügen auf Erwartungsstrukturen eines verallgemeinerten Einheimischen erfolgen. Die angesprochenen Fremdheitssymptomatiken (Bevorzugung der Herkunftssprache für die Birmenkommunikation, Besorgnis um die mitgebrachte kulturelle Identität) sind nicht als Momente eines natürlichen Fremdheitserlebens thematisierbar, sondern nur als Ausdruck irrationalen oder normabweichenden Verhaltens. <?page no="390"?> 390 Aussiedler treffen aufEinheimische 6.8.4 Aspekte der analytischen Abstraktion 6.8.4.1 Zur Gesamtformung der Seminardiskussion: Biografischer Themenbezug und De-Thematisierung des Biografischen Die thematische Ankündigung dieser Seminarveranstaltung - „Die Bundesrepublik Deutschland - Vorstellungen und Wirklichkeit“ lässt sich als eine Rahmendefinition ansehen, die Bezüge zum Migrationserleben, zum Fremdheitsstatus und zur biografischen Situation von Aussiedlem herstellt. Der Veranstaltungsrahmen versetzt die beteiligten Aussiedler in eine Situation, in der sie biografische Rückschau halten und sich ihrer aktuellen Lebenslage zuwenden müssen. Die Vergegenwärtigung von Vorstellungen, die Aussiedler vor der Ausreise von dem Leben in Deutschland hatten, enthält das Moment des Zurückschauens auf Selbsterlebtes und Selbstprojektiertes. Desgleichen regt das vorgegebene Rahmenthema die Teilnehmer zur Bewusstmachung ihrer aktuellen Lebenslage an. Die Zuwendungsart auf diese Thematik ist durch die in Kleingruppen vorgenommene visuelle Aufbereitung von Unterschieden zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland sowie durch das Arrangement von Gruppensprecherinnen strukturiert. Die Seminarteilnehmer wissen, dass sie sich in einem Gesprächsrahmen befinden, in dem sie über Migrationserleben und aktuelles Befinden in einer Gruppenöffentlichkeit sprechen, wenn sie sich äußern. Diese Gruppenbzw. Seminaröffentlichkeit besteht aus den anderen Seminarteilnehmern, Aussiedlern unterschiedlicher Herkunftsgruppen, und aus zwei Einheimischen, wovon zumindest einer eindeutig der Institution zurechenbar ist, die ein Mandat zur Eingliederungshilfe inne hat. Neben der Gestaltungsverantwortlichkeit, die den Gruppensprecherinnen (bzw. der Kleingruppe, für die sie sprechen) auferlegt ist, kommt eine Situationsverantwortlichkeit des Professionellen zum Tragen: Verantwortlichkeit für das Gelingen der Collagenkommentierung und für die Behandlung der festgesetzten Seminarthematik. Diese Situationsverantwortlichkeit realisiert sich in gesprächsunterstützenden und themensteuemden Aktivitäten sowie in Deutungs- und Erklärungsaktivitäten des SL. Das „Participation Framework“ (Goffman 1979b) des BM knüpft an die Situationsverantwortlichkeit des Diskussionsleiters an. Die so verteilten Verantwortlichkeiten für die Situationsgestaltung sind auch ausschlaggebend dafür, dass aus dem Auditorium meist nur kurze Zwischenrufe kommen, sowie dafür, dass ein Großteil der anwesenden Aussiedler sich passiv verhält, sich also auf die Zuhörerrolle beschränkt. <?page no="391"?> Im Schonraum-Milieu 391 Im Verlauf der Seminardiskussion kommt es zur Thematisierung biografischer Erfahrungen von Aussiedlerinnen und zu einem Sprechen über subjektive Erlebnisweisen des Aussiedlungs- und Eingliederungsprozesses. Jedoch ist das Sprechen über biografische Hintergründe und über aussiedlerspezifische Erfahrungen starken kommunikativen Beschränkungen ausgesetzt. Es läuft ein Thematisierungsprozess ab, der Fremdheitserleben und biografische Zustände fokussiert und auch benennt, gleichzeitig aber detaillierendes und expandierendes Sprechen hierüber nicht zulässt. Das Wirksamwerden kommunikativer Beschränkungen ist in dem Gesprächsrahmen der Seminaröffentlichkeit und in der Einnahme fremdbestimmter Sprecherrollen angelegt. Allgemein gehaltene Äußerungsformate werden unter diesen Bedingungen zu präferierten Formaten, da sie funktional für den Ausstieg aus der fremdbestimmten Sprecherrolle sind. So realisiert sich das auf Auf-Distanz-Gehen zur biografischen Erfahrungsperspektive im ersten Diskussionsabschnitt in Zufriedenheitsbekundungen, die die biografische Situation nur sehr allgemein und ambivalent darstellen. Distanz zu subjektiven Erfahrungsprozessen der Aussiedlung wird dabei auch insofern gewahrt, als die in den Zufriedenheitsbekundungen zum Ausdruck kommende Ambivalenz weder vom Seminarleiter noch von Zuhörern als Themenpotenzial genutzt wird. Von den Teilnehmern wird Distanz zum biografischen Erleben der Aussiedlung ferner dadurch gewahrt, dass Begründungen für Lebenszufriedenheit mittels Gemeinplätzen entwickelt werden. Auch die auf Jedermann-Interessen abzielenden Thematisierungsinitiativen einer Gruppensprecherin wahren diese Distanz, obwohl über persönliche Orientierungsrelevanzen gesprochen wird (siehe: Urlaubsreisen als Lebenswunsch, Arbeit und Wohnung als das Wichtigste nach der Einreise). Diese Prozesse der De-Thematisierung der biografischen Erfahrungswirklichkeit im Sprechen über das Aussiedler-Sein steuert der Seminarleiter mittels spezifischer Gesprächsstrategien: Er reformuliert Äußerungen der Seminarteilnehmer in sehr allgemeinen Sinnbezügen; seine Nachfragen zu biografischen Angaben der Sprecherinnen haben im Wesentlichen die Funktion, den Äußerungsfluss in Gang zu halten. Die floskelhaften und von dem Bemühen um kommunikative Selbstbeschränkung getragenen Gesprächsaktivitäten einiger Teilnehmerinnen bekommen durch Nachfragen des Beobachters und des Seminarleiters neue Impulse. Streng genommen sind es forscherseitige Interessen (auch bei Fragen, die der Seminarleiter stellt), die den Gesprächsrahmen verändern. Auch in den Diskussionspassagen, in denen es lebhafter zugeht und in denen persönliche Haltungen deut- <?page no="392"?> 392 Aussiedler treffen aufEinheimische lieber zum Ausdruck kommen, greift der Professionelle zu Strategien der De-Thematisierung biografischer Relevanzen. Die Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhältnis zwischen Aussiedlern und Einheimischen wird in Bahnen gelenkt, die dieses Verhältnis als weniger problematisch und besorgniserregend erscheinen lassen. Das Thema Beerdigungskosten wird lediglich als Thema genutzt, bei dem Aufklärungsbedarf besteht und Wissensunsicherheiten zu beseitigen sind, nicht als Potenzial zur Thematisierung leidvoller Erfahrungen oder etwa des Generationenverhältnisses. Im letzten Diskussionsabschnitt wird der Identitäts- und Sprachenkonflikt, in den Aussiedler aus Polen geraten, eindimensional verarbeitet, nämlich lediglich unter dem Gesichtspunkt pragmatischer Notwendigkeiten der Sprachaneignung. 6.8.4.2 Der Diskurs über Eingliederungsproblematiken als rituelle Übung Für den Gesamtverlauf der Seminardiskussion ist zu konstatieren: Obwohl eine Rahmendefinition in Kraft ist, die Aussiedlerbiografien und die biografische Situation nach der Aussiedlung fokussiert, werden in den realisierten Themenbezügen nur sehr oberflächlich biografische Erlebnisprozesse der Seminarteilnehmer dargestellt. Die Themenbezüge resultieren nicht aus echten Kommunikationsbedürfnissen der Teilnehmer, und sie bearbeiten die soziale Lage, in der Aussiedler sich befinden, nicht tiefgründig. Es sind Themenbezüge, die in erster Linie situative Erfordernisse bearbeiten, nämlich die auferlegte Kommunikationsaufgabe, über Erfahrungen nach der Aussiedlung sprechen zu müssen. Dadurch kommt es im Gesamtablauf der Seminardiskussion zu einer pragmatischen Beschränkung auf Äußerungsformen, die Befindlichkeiten darstellbar machen, aber so, dass nicht wirklich zu subjektiven Erlebens- und Erleidensprozessen vorgedrungen wird (wie dies beispielsweise der Fall ist, wenn Trennungsschmerz offenbart und über den Verlust der vertrauten Heimat gesprochen wird). Die Themenbezüge haben zwar etwas mit der Lebenssituation der beteiligten Aussiedler zu tun, in erster Linie aber dienen sie dazu, Sinneinverständnis untereinander und mit dem Professionellen zu zelebrieren. Es handelt sich um eine Situation der Inszenierung eines gemeinsamen Wissensbestandes; es läuft eine Situation des Sichverständigens über allgemeine Problematiken der Nachaussiedlungssituation ab. In ähnlicher Weise könnten Aussiedler auch in anderen Kontexten mit Hiesigen in einen Verständigungsprozess treten und Sinneinverständnis herstellen. <?page no="393"?> Im Schonraum-Milieu 393 Vor dem Hintergrund, dass auch in anderen Seminarveranstaltungen ähnliche Thematisierungsbedingungen wie in der analysierten Veranstaltung beobachtbar sind, stellt sich die Frage nach den Sinngebungsfunktionen eines solchen Veranstaltungsrahmens. Als Kommunikationsereignis ist die Seminarveranstaltung durch vorgegebene Thematisierungsbedingungen geprägt. Diese Bedingungen lassen eine Situation entstehen, in der Seminarteilnehmer biografische Reflexion und Bilanzierung der Aussiedlung leisten sollen, dazu aber Darstellungsaktivitäten realisieren müssen, die das Erleben des Aussiedlungs- und Eingliederungsprozesses in Form allgemeiner Problemtypisierungen präsent machen. Unter solchen kommunikativen Anforderungen wird das formelhafte und gemeinplatzartige Sprechen über Identitätsverfassungen und -Veränderungen zur situationsadäquaten Form des Sprechens über Erfahrungen, die von enormer biografischer Bedeutsamkeit sind. Die thematisch fokussierte Seminarveranstaltung dient dazu, die Lebenslage nach der Aussiedlung in allgemeinen Typen des Erfahrungswissens präsent zu halten, die Verfügbarkeit gemeinsamer Wissensbestände zu demonstrieren und die Seminarteilnehmer auf diesem Wege an die für ihre Lebenssituation allgemein geltenden Erwartungsmuster und Normalitätsvorstellungen anzuschließen. Dies wird insbesondere in jenen Gesprächsaktivitäten deutlich, in denen der Seminarleiter Stellungnahmen und Ansätze biografischer Detaillierung seitens der Seminarteilnehmer verarbeitet: Er würdigt die Aussiedlung als lebenskritisches Ereignis, aber so, dass das Krisenhafte dieser Lebenslage nicht zu sehr akzentuiert ist. So kommt ein Verständigungsprozess über eine lebenskritische Situation zustande, in dem sich die Akteure zwar dem Problemcharakter dieser Lebenssituation zuwenden, aber nicht mit wirklicher Hintergrundaufmerksamkeit in einen Diskurs über diese Problematiken eintreten. Vielmehr wird ein Kommunikationsprozess durchgeführt, bei dem es darum geht, dass die beteiligten Aussiedler zeigen, dass sie sich auf einen Grundbestand gemeinsamen Wissens über die problematische Lebenssituation beziehen können, darum, dass sie Gebrauchsfertigkeiten hinsichtlich dieser Wissensbestände demonstrieren. Die Art und Weise, in der auf diese Wissensbestände Bezug genommen wird, hat Vergegenwärtigungs-, Bestätigungs- und Einsozialisierungsfunktion. Die Situationskonstruktion der thematisch fokussierten Seminarveranstaltung hat dabei die Funktion, den beteiligten Aussiedlern zu symbolisieren, akzeptierte Gesellschaftsmitglieder zu sein. Sie stellt darüber hinaus sicher, dass solche kommunikativen Verläufe vermieden werden, die die Lebenssituation nach der Aussiedlung tiefgehend und unter Einbeziehung schmerzhafter Verände- <?page no="394"?> 394 Aussiedler treffen aufEinheimische rungserfahrungen thematisieren. So können Thematiserungsweisen umgangen werden, die in innerlich destabilisierende Erkenntnisse über die eigene biografische Situation einmünden könnten und bei entsprechender Expressivität auch ein besonderes Situationsmanagement des Seminarleiters erforderlich machen. Prägend für die kommunikative Beteiligungsweise der Seminarteilnehmer ist ein Situationsverständnis, bei dem ihnen bewusst ist, dass eine solche Veranstaltungsform absolviert werden muss. Desgleichen ist ihnen bewusst, dass sich die darin ablaufenden Verständigungsprozesse different zu den ihnen vertrauten Kommunikationsroutinen und zu den Thematisierungsweisen, die sie selbstbestimmt realisieren können, verhalten. Insgesamt wird eine Situation gestaltet, in der Wirklichkeitserleben von Aussiedlem thematisiert wird, wobei den beteiligten Zuwanderem klar ist, dass sie den ihnen auferlegten öffentlichen Diskurs auf sich nehmen müssen, da er zum Eingliederungsprogramm gehört. Sie wissen aber auch, dass es nicht um wirklich solidarische Bearbeitung von Problemen mit der Fremdheitssituation geht. Insofern kommt der ablaufende Verständigungsprozess einer rituellen Übung gleich. 261 Im Umgang mit Fremden haben rituelle Übungen die Funktion, offizielle Wirklichkeitsdefinitionen vor Aushöhlungen und Verlust ihres Geltungsanspruches zu bewahren (vgl. Berger/ Luckmann 1969, S. 167). Die im Rahmen der Seminarveranstaltung abzusichemde offizielle Wirklichkeitsdefmition ist die Leitvorstellung eines bruchlosen Übergangs von deutschstämmigen Zuwanderem in die Kollektivität der Binnendeutschen. Die Arbeit am Selbstverständnis als Deutsche macht bewusst, dass das Deutschsein unter Beweisdruck steht und mit Identitätsanforderungen verbunden ist, die als unverzichtbar gelten. 261 Hinnenkamp (1989a) macht darauf aufmerksam, dass die rituelle Aufrechterhaltung von Gesprächen in ihren Kommunikationsfunktionen zu unterscheiden ist von „primär ‘phatischer Kommunion’, die sich mit den ‘unverbindlichen’ (? ) small-talks des Alltags hersteilen und bei denen inhaltliche Aspekte nur Anlaß und Beiwerk sind, aber bei denen dennoch alle kooperativen Regeln inhaltlicher wie konversationeller Kohärenz strikt zur Anwendung gelangen“ (ebd., S. 76; Hervorhebungen im Original). In Anlehnung an Hinnenkamp lassen sich rituelle Gespräche dahingehend bestimmen, dass ihre Hauptleistung darin besteht, Kooperations- und Konsensfähigkeit unter den Situationsbeteiligten zu zelebrieren und anzuzeigen, dass in einer Situation, in der kommunikationserschwerende und dissoziative Umstände wirksam sind, kommunikative Vergemeinschaftung funktioniert. <?page no="395"?> Im Schonranm-Milieu 395 Schließlich ist die Sicherstellung eines Verständigungsprozesses über allgemeine Themenbestände auch funktional für die Vermeidung von Kommunikationskonflikten. Solche Konflikte könnten die Situationskontrolle und die thematischen Steuerungsinteressen des Professionellen gefährden. So könnte sich die Seminardiskussion ja auch in dem Sinne ungünstig entwickeln, dass Thematisierungen vorgenommen werden, die ausgesprochen heikel und im Seminarrahmen schwer zu handhaben sind. Es könnten Kommunikationsprozesse in Gang kommen, die sich zu weit von eingespielten Gestaltungsroutinen entfernen; es könnten auch Problematisierungen aufkommen, die den im Marienhaus intendierten Sinngebungen zuwiderlaufen. Im Fallbeispiel VORSTELLUNGEN UND WIRKLICHKEIT zeigt sich, dass Ansätze für ein solches Problematischwerden gegeben sind: Einmal dort, wo die beiden Gruppensprecherinnen Verärgerung über Einstellungen von Einheimischen gegenüber Aussiedlem zu erkennen geben. Dann auch dort, wo eine Gruppensprecherin die Bedeutung der polnischen Sprache für ihre Wir-Gemeinschaft deutlich zu machen bemüht ist und einen Aussiedlertypus erwähnt, der eine volle Identifikation mit deutscher Kultur vermissen lässt. 6.8.4.3 Dilemmata, in die der Professionelle gerät Der Ablauf der Seminardiskussion macht spezifische professionelle Handlungsschwierigkeiten in der Arbeit mit Aussiedlem sichtbar. So befindet sich der Seminarleiter in dem Dilemma, sympathisierender Anderer, aber auch Repräsentant der offiziellen Eingliederungsideologie zu sein. Er kann aber nur so weit sympathisierender Anderer sein, wie dies mit den Leitvorstellungen und Identitätsanforderungen der Aussiedlereinbürgerung vereinbar ist. Seine Akzeptanzhaltung gegenüber Aussiedlern entlastet ihn nicht davon, Eingliederungsprozessor zu sein. Als solcher agiert er nicht nur dort, wo er der Thematisierung des Wertes der Herkunftssprache aus dem Weg geht und sich darauf beschränkt, die Unverzichtbarkeit der Aneignung des Deutschen zu bekräftigen. Auch in dem Diskussionszusammenhang, in dem Spannungen im Verhältnis zwischen Einheimischen und Aussiedlem zur Sprache kommen, betätigt er sich als solcher. Auf die Gesprächsaktivitäten, die die Ressentiments der Einheimischen zum Gegenstand haben, lässt er Verarbeitungsschritte folgen, die geeignet sind, die aufgezeigten Spannungen zu entschärfen. Er sieht ab von Aktivitäten, durch die eine Dichotomisierung zwischen Aussiedlem und Einheimischen deutlicher hervortreten würde. Dadurch kann er es vermeiden, dass die Leitvorstellung einer brachlosen Eingliederbarkeit von Aussiedlem in die Aufnahmegesellschaft erschüttert wird. <?page no="396"?> 396 Aussiedler treffen aufEinheimische Mit den von ihm gewählten Verarbeitungsaktivitäten vermeidet der Seminarleiter Strategien der Gesprächsfühmng, die eine stringente und produktive Auseinandersetzung mit „harten Realitäten“ in Deutschland in Gang setzen könnten. Ein solcher Diskussionsverlauf könnte nur dann stattfmden, wenn der Seminarleiter sich mit seinen eigenen harmonisierenden Erklärungstheorien zu den Ressentiments der Einheimischen zurückhalten würde. Er hätte dann die Möglichkeit, die Angefeindeten selbst an der Erklärungssuche zu beteiligen oder mit ihnen in einen Diskurs über das Selbstverständnis als zugewanderte Minderheit einzutreten. Auf solche thematische Entwicklungen kann sich der Seminarleiter aber nur schwer einlassen, da sie die offizielle Leitideologie von Aussiedlerintegration untergraben würden. Die im Staatsangehörigkeitsrecht angelegte und von Prozessoren der Aufnahmegesellschaft gestützte Eingliederungsideologie lässt es nicht zu, Aussiedler als Fremde und Außenstehende anzusehen. So kann der Seminarleiter die Mitglieder seiner Seminargruppe nicht konsequent als Fremde behandeln, da sie der Leitideologie nach der Kollektivität der Deutschen bereits zugehörig sind. Die Schwierigkeiten des Professionellen, sich auf die Fremdheit der Aussiedler einzulassen, haben aber noch andere Gründe. Nicht unwichtig ist hier, dass er es nicht zum ersten Mal mit Aussiedlern zu tun hat. Als pädagogischer Mitarbeiter im Marienhaus ist er mit dem Typus der Biografien, die seine Teilnehmer repräsentieren, vertraut. Typikalisiertes Wissen über Biografien anderer lässt spontane Neugier auf die Biografieträger und ein originäres Interesse an der Entdeckung der Erfahrungsbestände und der Lebenslage der Betroffenen nicht mehr aufkommen. Die Seminarteilnehmer sind für den Professionellen solche Fremde, deren Fremdsein bereits schematisiert ist, deren biografische Situation er schon zu gut kennt und mit denen er in Arbeitssituationen verkehrt, für die er bewährte Routinepraktiken parat hat. Auf einen anderen Aspekt habe ich bereits hingewiesen: Sich Einlassen auf das wirkliche Fremdheitserleben von Aussiedlern in Deutschland würde die institutionell eingespielte Situationskonstruktion gefährden. Ein wirkliches Thematisieren einer Fremdheitssituation ist unauflöslich mit dem Thematisieren von Leidenserfahrungen verbunden. Davon geht die Gefahr aus, dass subjektive Leidensbetroffenheit in der Seminaröffentlichkeit bearbeitungsrelevant wird. Eine Veranstaltung, die als Einübung allgemeiner Wissensbestände und als Einübung von Teilhabefähigkeit an Vergesellschaftungspro- <?page no="397"?> Im Schonraum-Milieu 397 zessen der Binnendeutschen konzipiert ist, könnte dann aber nicht stattfinden. An ihre Stelle würden heikle, schwer handhabbare Kommunikationsprozesse treten. Zu einem weiteren Dilemma, das sich in der Diskussionsführung des Seminarleiters manifestiert: Würde der Seminarleiter im Zusammenhang mit den Sprachproblemen polnischer Aussiedler einen tiefer gehenden Diskurs über ihr Fremdheitserleben in Deutschland zulassen, würde er sich nicht nur von der offiziellen Einbürgerungsideologie fortbewegen, er müsste dann auch Bezüge auf historisch bedingte Spannungen zwischen Polen und Deutschland zulassen. Er würde sich also auch hier auf eine sehr problematische Thematik einlassen und Gefahr laufen, die Leitvorstellung einer problemlosen Ankoppelung von Aussiedlem an Identitätsanforderungen in Deutschland in Frage stellen zu müssen. Zur Aufrechterhaltung der Situationskonstruktion, die der Einübung und Vergewisserung gemeinsamer Wissensbestände dient, bleibt hier die heikle Geschichte zwischen Polen und Deutschland unthematisiert. <?page no="399"?> 7. Theoretische Modellierung der Befunde: Aussiedlerspezifische Identitätsproblematiken und damit verbundene Schwierigkeiten der Einbindung in Reziprozitätsstrukturen In der vorliegenden Studie wurden Interaktionsereignisse zwischen Aussiedlem und Einheimischen als soziale Rahmen der Entfaltung von Identitätsverfassungen, von Lebenswirklichkeit und Wirkkräften der Identitätsänderung analysiert. Die in ethnografisch-interaktionistischer Analysehaltung ausgewerteten Materialien haben die identitätskritische Lebenslage von Aussiedlern in verschiedenen Hinsichten transparent gemacht: - Sie wurde als Lebenssituation analysiert, die von starken Diskrepanzen zwischen mitgebrachten Vorstellungs- und Erwartungshorizonten einerseits und den im Aufnahmeland Vorgefundenen Verhältnissen andererseits geprägt ist; sie wurde als Lebenssituation analysiert, auf die hoheitsstaatliche Regelungen durchschlagen und die durch staatlich initiierte Gestaltungsbemühungen des Eingliederungsprozesses strukturiert wird; schließlich wurde auch analysiert, wie die unter Leidens- und unter Veränderungsdruck stehende Aussiedleridentität in konkreten Situationen mit einheimischen Interaktionspartnem „auf dem Spiel steht“ und entfaltet wird. Diese Analyseperspektiven verbindet, dass sie mit ihrer je besonderen Akzentsetzung Einsichten in die Lebenswirklichkeit von Aussiedlem und in ihre Beziehungen zu Angehörigen der einheimischen Bevölkerung eröffnen: Die dokumentierten Entfaltungen von Identitätsverfassungen, die jeweiligen interaktiven Gestaltungsleistungen und sozialen Einbettungsverhältnisse haben erkennen lassen, wie sich Lebens- und Interaktionsprozesse in der Nachaussiedlungssituation in soziale Kontroll- und Steuerungsbemühungen der aufnehmenden Gesellschaft einfugen. 262 Damit eröffnen sich auch Zugänge zur Einbindung von Aussiedlem in die Reziprozitätsstrukturen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und zu dabei auftretenden Widerständen und Brüchen. 262 Die hier umrissene theoretische Perspektive auf die Lebenssituation lehnt sich an die von Vertretern der Chicago-Soziologie eingenommene Perspektive auf Migrationsfolgen an; siehe hierzu die Arbeiten von Park, Thomas/ Znaniecki, Wirth und Zorbaugh. <?page no="400"?> 400 Aussiedler treffen aufEinheimische Probleme gesellschaftlicher Eingliederung von Zuwanderem lassen sich generell verstehen als Probleme der Erzeugung neuer Muster gesellschaftlicher Reziprozität. Die situationsüberdauemde Einnahme der Haltungen anderer gesellschaftlicher Gruppen und Akteure und die situationsgebundene Einnahme der Interpretationsperspektive konkreter Interaktionsgegenüber ist bei Mead (1975) als grundlegendes Prinzip der Vergesellschaftung beschrieben worden. Die Erzeugung sozialer Reziprozitätsverhältnisse hat jede Gesellschaftsordnung und jede Form des zwischenmenschlichen Austausches zum Kernproblem. Die Einbindung des Individuums in gesellschaftliche Reziprozitätsmuster wird bei Mead als Universalisierungsmechanismus konzeptualisiert, als Erzeugungsmechanismus von Intersubjektivität durch Einnahme der Haltungen anderer gesellschaftlicher Einheiten bzw. durch die Befähigung von Gesellschaftsmitgliedem, ihr moralisches Handeln an gemeinsam geteilten an gesellschaftlichen - Bedeutungen orientieren zu können. Auf unterschiedlichen Allgemeinheitsebenen stellen Universalisierungsmechanismen Zugehörigkeiten zu Wir-Gemeinschaften sicher. 263 Migration ist eine Triebkraft gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die Reziprozitätsstrukturen brüchig und die Erzeugung neuer Reziprozitätsfolien problematisch werden lässt. Zu einer bestimmenden Lebensaufgabe wird die Einbindung in neue Reziprozitätsmuster für den Migranten, der in der Aufnahmegesellschaft in eine marginale Lage gerät. Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nicht allein dadurch schwierig, dass der Zuwanderer sich in einer inneren Krise befindet, sie wird auch dadurch erschwert, dass auf die Ankoppelungsbemühungen an die Reziprozitätsstrukturen der aufnehmenden Gesellschaft zugleich äußere Bedingungen einwirken, die sich auf verschiedenartige Weise als erschwerende Momente der Einbindung in Reziprozitätsstrukturen bemerkbar machen. Ich verfolge die Problematik der Einbindung in Muster gesellschaftlicher Reziprozität hier zum einen auf der Ebene des Reziprozitätsaufbaus in konkret situierten Interaktionszusammenhängen, zum anderen auf der Ebene des Gebrauchs von Gemeinschaftssymbolen und Wir-Kategorien. Die Ausführungen in den nun folgenden Kapiteln haben Besonderheiten der Identitätsgestaltung im Aussiedlungsprozess und die Einbindungsproblematik von Aussiedlern in Reziprozitätsstrukturen zum Gegenstand. Sie sind 263 Ausführlicher hierzu Mead (1975, S. 299-307) sowie Schütze (1975, S. 301- 310). <?page no="401"?> Theoretische Modellierung der Befunde 401 gerichtet auf Erzeugungsmechanismen des Veränderungsdrucks, unter den Aussiedler geraten, auf die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten der Identitätsgestaltung sowie auf sich dabei abzeichnende Bearbeitungsmuster ihrer identitätskritischen Lebenslage. In anderen Worten: Es werden Fassetten eines kollektiven Wandlungsprozesses"" 64 herausgearbeitet. Diese Ausführungen stellen die Lebenssituation russlanddeutscher Aussiedler in den Mittelpunkt. Die in den vorausgegangenen Kapiteln angestellten Beobachtungen zur Frage, wie Aussiedleridentität in Begegnungen mit Binnendeutschen auf dem Spiel steht, erfassen aussiedlungsbedingte Identitätsproblematiken, soweit sie in konkreten Interaktionsvollzügen symbolisiert, dargestellt und im kommunikativen Austausch konstituiert werden. Sich hierauf stützende theoretische Überlegungen müssen sich solcher Aussagen enthalten, die komplexe biografische Wirkzusammenhänge der Marginalisierungserfahrung und des Identitätswandels betreffen. 265 Eine weitere Einschränkung dieses Modells besteht darin, dass es soziodemografische Differenzierungsgesichtspunkte nur grob auf der Altersdimension berücksichtigen kann. Das Modell ist materialbedingt stärker auf Erfahrungsbedingungen älterer Aussiedler bezogen als auf die der jüngeren. Ferner lässt es Bestimmungsmomente der Lebenssituation von Aussiedlem unberücksichtigt, die mit Erfahrungen während der Perestrojka und Post-Perestrojka-Phase Zusammenhängen. Ein für die Identitäts- 264 „Ein kollektiver Wandlungsprozeß läßt in einer gesellschaftlichen Wir-Gemeinschaft [wie den Aussiedlern bzw. Aussiedlergruppen in Deutschland, U.R.] (...) eine produktive Femdheit des sozialen Raums entstehen, in welchem dann immer neue Überraschungssituationen mit neuartigen Handlungsmöglichkeiten auftauchen, und die alten Erwartungshorizonte nicht mehr funktionieren; er schafft neue, zunächst fremdartig anmutende Kategorien von Akteuren und Ereignissen und deren Relationen untereinander und zueinander; er konfrontiert die Mitglieder der Wir-Gemeinschaft mit neuen Sichten der eigenen Wir-ldentität und deren Implikationen für die individuellen Ich-Identitäten; er läßt die Mitglieder neue Handlungskompetenzen, Entwicklungspotentiale und Karrieren erfahren; und er erweitert die Umweltbeziehungen und moralischen Universalisierungsmechanismen der Akteure.“ (Schütze 1989, S. 54). 265 Die in natürlichen Gesprächssituationen realisierten Identitätsdarstellungen und Formate biografischen Sprechens können identitätsrelevante Prozesse nicht auf solchen Expansionsniveaus repräsentieren, wie sie bei der Durchführung narrativer biografischer Interviews erreicht werden. Zur Analyse von Identitätswandel bei Aussiedlern mittels solcher Materialien siehe die Arbeiten von Freitag (1991) und Gövert-Loos (1994). <?page no="402"?> 402 Aussiedler treffen aufEinheimische Problematik der Nachaussiedlungssituation wichtiger, hier aber ebenfalls nicht berücksichtigter Erfahrungsbereich stellt die Arbeitswelt bzw. die berufsbiografische Wandlung dar. 266 Die Lebenssituation von Aussiedlem wird zunächst als Resultat eines kollektiven Positionierungsvorgangs in der Aufnahmegesellschaft dargestellt, der an migrationsgeschichtliche und -politische Besonderheiten geknüpft ist (Kap. 7.1). Die Verortung der Aussiedlungsbewegung im Kontext historischer und parallel verlaufender Wanderungsströme zeigt, dass dieser Positionierungsvorgang an kollektivgeschichtliche Hintergründe gekoppelt ist, die eine wichtige Identitätsressource für die Zuwanderer darstellen. Auf der Basis einer eigenständigen und kulturerhaltenden Lebensweise als Deutsche im Osten ist es Aussiedlem möglich, sich als historische Heimkehrer zu begreifen. Sich in der Position des historischen Heimkehrers sehen zu können, ist aber eine ambivalente Identitätsressource. In Kap. 7.2 stelle ich unter Heranziehung soziologischer Konzepte zur Bestimmung der Identitätsproblematiken von Wanderern (der Fremde, der Heimkehrer) die Grundparadoxien dar, die mit der Lebenssituation von Aussiedlem in Deutschland verbunden sind. Wie sich die besondere Identitätsressource des historischen Heimkehrers konkret bewährt, d.h., wie produktiv und wie kontraproduktiv sie im Prozess des Ankommens und Eingliedems werden kann, ist Thema der anschließenden Kapitel. Die identitätskritische Lage der Nachaussiedlungssituation wird in Kap. 7.3 als eine Lage dargestellt, für die (a) spezifische Bearbeitungsstrategien der Fremdheitsproblematik (und darin angelegte fremdheitsverstärkende Momente) sowie (b) spezifische Reziprozitätsbrüche im Verhältnis zu anderen Kollektivitäten (und auch zu Angehörigen der eigenen Statuskategorie) prägend sind. Lebenslagen von Individuen sind immer auch institutionell vermittelte Lagen (vgl. Beck 1986); auf die Rolle institutioneller Bedingungen bei der Positionierung von Aussiedlem in Deutschland gehe ich im anschließenden Kap. 7.4 ein; hier werden die diskrepanten Momente, die die administrativen und institutionellen Steuerungsbemühungen des Aufnahme- und Eingliederungsprozesses der identitätskritischen Lage des historischen Heimkehrers gleichsam hinzufugen, herausgearbeitet. In Kap. 7.5 wird der Prozess des Übergangs als ein Geschehen betrachtet, in dem ethnisch-kulturelle Identitätsgewissheiten fragwürdig und Identitätsbilder entwickelt werden, die auf die Situation des Zwischen-den-Stühlen-Sitzens zugeschnitten sind. Zum 266 Ausführlich hierzu Nienaber (1995). <?page no="403"?> Theoretische Modellierung der Befunde 403 Schluss (Kap. 7.6) befasse ich mich mit der Identitätsentfaltung von Aussiedlem in Face-to-Face-Situationen mit Einheimischen und mit den sich dabei manifestierenden Beschränkungen von Interaktionsreziprozität. Behandelt werden hier spezifische Aktivitätsformen, die für den Umgang mit Ratifizierungsmängeln des Identitätsanspruch ‘als Deutsche unter Deutschen zu leben’ symptomatisch sind. 7.1 Die Aussiedlungsbewegung auf der Landkarte der Migrationsströme Gewöhnlich ist die Stellung von Zuwanderem in der Staatskollektivität der Deutschen gleichbedeutend damit, Ausländer zu sein sie befinden sich auf dem Staatsterritorium des Aufnahmelandes, sind aber nicht im Besitz der (deutschen) Staatsangehörigkeit. Mit dem Ausländerstatus werden Fremde bzw. Zuwanderer in ein Exklusionsverhältnis zur aufnehmenden Nation gesetzt. Dieses nationale Ausschließungsmoment entfällt bei Aussiedlem; sie finden Aufnahme als „sonstige Deutsche“ bzw. als Volkszugehörige (vgl. Kap. 2.3). Anders als bei Ausländem steht ihnen in der Marginalitätsposition die nationale Zugehörigkeitskonzeption als Identitätsressource zur Verfügung; gleichwohl nehmen sie aber einen Zuwandererstatus ein. Hervorgegangen ist die Aussiedlungsbewegung aus Vertreibungsmaßnahmen während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach. 267 In ihren historischen Ursprüngen ist sie also eine Flüchtlingsbewegung, eine Migrationsbewegung, die Deutsche auf der Flucht vor der sowjetrussischen Armee von östlichen in westliche Gebiete geführt hat. Als Ost-West-Migration, bei der es zur Aufnahme von Deutschen auf deutschem Territorium bzw. zur Eindeutschung von Zuwanderem kam, ist dieser Wanderungsstrom aber kein Novum. Bereits nach Gründung des Deutschen Reiches (1871) wurden Zuwanderer aus Russland, Galizien und Polen auf ostelbischem Gebiet angesiedelt. 268 Wer sich dort niederließ, wurde nach dem Ius-Soli-Prinzip und unabhängig von seiner Herkunftskultur Angehöriger des Deutschen Reiches. Diese damals praktizierte und relativ unkomplizierte Form der Eindeut- 267 Ich lasse hier die wanderungsgeschichtlichen Zusammenhänge, die zur Besiedlung osteuropäischer Gebiete durch Deutsche geführt haben, unberücksichtigt. 268 Die Besiedlungspolitik Preußens zielte auf die Abwehr des Polentums und der Entvölkemngstendenzen bzw. auf die Festigung der Verteidigungsfähigkeit; ausführlicher hierzu Nienaber (1995, S. 435-442). <?page no="404"?> 404 Aussiedler treffen aufEinheimische schung geht darauf zurück, dass die Kollektivvorstellung der deutschen Nation selbst noch nicht klar konturiert war, die Nationenbildung gewissermaßen noch in ihren Anfängen steckte (vgl. Nienaber 1995). Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Ost-West-Wanderung ist kein eigentlich homogenes Migrationsgeschehen, auch wenn die Rede von „der“ Aussiedlungsbewegung dies nahelegt. Sie ist eine in unterschiedlichen historischen Etappen realisierte Migrationsbewegung, die von verschiedenen östlichen Ländern ausgeht. Während die eben erwähnte, gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu verzeichnende Ost-West-Wanderung eher nach dem Freiwilligkeitsprinzip vonstatten ging, spielten in die Wanderungsbewegungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg stattfanden, starke Zwangsmomente hinein (vgl. Nienaber 1995, S. 435ff). Die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten erfolgte und erfolgt auf äußeren Druck hin und in Reaktion auf extrem restriktive und benachteiligende Verhältnisse im Herkunftsland. Waren es in den 40er- und 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Kriegsereignisse und Kriegsfolgen, vor denen Deutsche und Deutschstämmige flüchteten, ging es in den Jahrzehnten danach stärker darum, sozialistischen Lebens- und Herrschaftsverhältnissen zu entkommen. Die in den Herkunftsländern betriebene Politik der Verhinderung von Ausreisemöglichkeiten hat in Zeiten der Ost-West-Blockbildung dazu beigetragen, dem in dieser Zeit spärlich fließenden Aussiedlerstrom Züge einer nur schwer zu realisierenden Fluchtbewegung zu verleihen. Die staatsbürokratischen Kontroll- und Eindämmungsbemühungen von Ausreisewilligen haben allerdings eine besondere Form der Kettenmigration hervorgebracht. Dieses Phänomen hat Nienaber (1995) insbesondere unter Aussiedlern aus Polen festgestellt: In den Zeiten erschwerter Ausreisemöglichkeiten hatten die Angehörigen derjenigen, denen die Ausreise gelang, mit Sanktionen in der Arbeits- und Institutionenwelt zu rechnen, so dass unter den Zurückgelassenen das Bestreben, selbst bald zu gehen, verstärkt wurde (ebd., S. 441). Der Aussiedlerstrom, der Ende der 80er und in den ersten Jahren des darauf folgenden Jahrzehnts seinen Höhepunkt erreicht hat, steht im Zusammenhang mit freizügigeren Handhabungen von Ausreisemöglichkeiten seitens der Staatsapparate der Herkunftsländer sowie mit dem Zerfall des sozialistischen Herrschaftsbereiches. Die in dieser Umbruchsphase aufkommende Sogwirkung des Aussiedlerstromes geht aber nicht allein darauf zurück, dass die Migranten nachzuholen versuchten, was jahrzehntelang nicht zu realisieren war. Sie ist durch das Aufleben nationalistischer Bestrebungen in den <?page no="405"?> Theoretische Modellierung der Befunde 405 Herkunftsregionen miterzeugt worden. In Folge der Erlangung von Eigenstaatlichkeit einiger Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion sind ethnische Orientierungen in der Stammbevölkerung Kasachstans, Tadschikistans, Kirgisiens usw. gestärkt worden. Unter den aufkommenden Spannungen in den Herkunftsgebieten und unter den immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Verhältnissen und Zukunftsperspektiven ist die Ausreise nach Deutschland unter neuen Vorzeichen zu einer Flucht der von Verarmung und von ethnischer Benachteiligung Bedrohten bzw. zu einer ethno-politischen Migrationsbewegung geworden (vgl. Opitz 1997). In dieser Hinsicht bestehen Parallelen zu anderen Migrationsbewegungen: Zu den nach Israel zurückkehrenden russischen Juden sowie den nach Griechenland 269 zurückkehrenden Russlandbzw. Schwarzmeergriechen. Ferner zu den Flüchtlingen, die vor den kriegerischen Auseinandersetzungen und ethnischen Säuberungsaktionen auf den Territorien des ehemaligen Jugoslawien geflohen sind. Die in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zugewanderten Aussiedler befinden sich in einer anderen Situation als die Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges. Diese kamen in Massen und fanden Aufnahme in Gebieten, die von Kriegszerstörungen verschont geblieben waren; sie wurden meist in ansässigen Hausgemeinschaften und Familien beherbergt. Auch wenn sie in den lokalen Gemeinschaften nicht immer willkommen waren, waren die Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen keine Fremden aus einem anderen Land, keine ethnisch ausgrenzbare Gruppe von Zuwanderern. Sie waren Zuwanderer, deren Verlust an Hab und Gut, an Heimat und Angehörigen zu einer Angelegenheit nationaler Solidarität wurde. Diese Anerkennung als Zuwanderer, die auf Solidarisierungsleistungen der nationalen Kollektivität rechnen dürfen, vermittelt sich Aussiedlem inzwischen fast ausschließlich über das Rechtsverfahren zur Aufnahme in Deutschland und über staatlich finanzierte Eingliederungshilfen. 269 Mit den aus der GUS zurückkehrenden Migranten griechischer Abstammung haben russlanddeutsche Aussiedler den Anstoß zur Auswanderung bzw. zur Re-Migration in Folge der politisch-wirtschaftlichen Umwälzungsprozesse in der ehemaligen Sowjetunion gemeinsam. Ihre Ansiedlung dort erfolgte anders als bei den Deutschen, die vor 200 Jahren in das zaristische Russland übersiedelten zumeist im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung. Etwa 500.000 Griechen sind während des griechisch-türkischen Krieges (1919-1922) von den Türken vertrieben worden. Auch während des Bürgerkrieges (1942- 1949) sind zahlreiche Griechen in die Sowjetunion geflüchtet (für Informationen zu den Russlandbzw. Pontosgriechen danke ich Pantelis Nikitopoulos). <?page no="406"?> 406 Aussiedler treffen aufEinheimische Neben der Herkunft aus (ehemaligen) Ostblock-Ländern ist der Zustrom von Aussiedlem aus Polen, aus Rumänien, aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und aus anderen Ländern dadurch als besondere Migrationsbewegung gekennzeichnet, dass die Zuwanderer die Abstammung von deutschen Vorfahren und ein vorausgegangenes Leben in deutschen Kulturbezügen nachweisen müssen. Die nach dem Abstammungsprinzip bzw. dem Kriterium ethnischer Homogenität regulierte Zuwanderung trifft im Aufnahmeland allerdings auf eine Situation, in der in zunehmendem Maße ethnische Differenzierungsprozesse stattfinden. Die Hochphase der Aussiedlerzuwanderung fällt mit dem Erwachsenwerden von Gastarbeiterkindem zusammen; Aussiedler treffen verstärkt zu einem Zeitpunkt in Deutschland ein, zu dem Nachkommen der Arbeitsmigranten in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben. Von den Binnendeutschen werden diese vielfach als der deutschen Kultur näher stehend angesehen als die fremden, meist aus Russland kommenden Deutschen. Desgleichen fällt der Hauptzuwanderungsstrom mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands zusammen, in deren Folge es zu verstärkten Abwanderungen vom östlichen in das westliche Deutschland kommt. Rapide steigen auch die Zahlen der Asylbewerber an. Im Gefolge dieser Wanderungsbewegungen wächst Fremdenfeindlichkeit in der bundesrepublikanischen Bevölkerung; Übergriffe und Abwehrreaktionen mit neofaschistischem Hintergrund werden häufiger registriert. Die zugewanderten Aussiedler treffen auf eine Stimmungslage, in der sie für Teile der einheimischen Bevölkerung nur Fremdartige (‘Russen’) oder Fremde, deren Wanderungsmotiv keine Solidarität verdient (Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge), sind. Diese Stimmungslage in Bevölkerungsteilen läuft dem Ius-Sanguinis-Gedanken zuwider, nach dem die Aufnahme der Aussiedler betrieben wird. Die Existenz von Arbeits- und Armutsmigranten und die Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylbewerbern hat in Deutschland starke Tendenzen ethnischer Heterogenisierung aufkommen lassen. Im Gegensatz hierzu steht die Aufnahme von Aussiedlem, die staatlicherseits strikt am Modell ethnischer Homogenität orientiert ist. 270 In Reaktionen, die politische Verantwortungsträger in jüngerer Zeit auf diese Stimmungslage gezeigt haben, sind Bestrebungen erkennbar geworden, die zwar nicht als Überwindung des ethnischen 270 Zu diesen gegenläufigen Tendenzen der Staats- und Nationenbildung siehe Münch (1997). <?page no="407"?> Theoretische Modellierung der Befunde 407 Homogenitätsprinzips, wohl aber als Versuche einer restriktiveren Handhabung dieses Prinzips anzusehen sind (Einführung von Sprachprüfungen). In dieser von den Verhältnissen in den späten 40er- und frühen 50er-Jahren deutlich unterschiedenen Aufnahmesituation deutschstämmiger Zuwanderer, in der nationale Solidarität nur als Abstraktum erfahrbar ist bzw. als Rechtsanspruch durchgesetzt werden muss, besteht für Aussiedler eine besondere Notwendigkeit, sich Nischen für eine marginale Identität zu schaffen. Sie benötigen Erfahrungsräume, in denen der Kulturwechsel ausbalanciert werden kann, in denen nach Möglichkeiten gesucht werden kann, mit mitgebrachten kulturellen Ressourcen und Sinnquellen weiterleben zu können. Und sie benötigen Erfahrungsräume, in denen sie für sich entdecken können, wie die abstrakte Identität als deutsche Staatsangehörige mit der bisher gelebten Biografie verkoppelt werden kann. Wie sich dieser Prozess vollzieht, mit welchen Ressourcen und Strategien diese Identitätsaufgaben gestaltet werden, welche Widerstände und Diskrepanzen dabei auftreten, sollen die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Prinzipiell liegt in der Position des Wanderers und in der Erfahrung des Kulturwechsels die Chance, zu entdecken, dass Einbindungen in die aufnehmende Gesellschaft nicht allein über die Gemeinschaftskategorie der Nation verlaufen, sondern auch über andere Identitätskategorien, über die Schaffung von Gemeinschaftsformen auf lokaler Ebene und durch Zugehörigkeit zu Subsystemen mit eigenen Identitätsfundamenten. Die nachfolgenden Ausführungen sollen auch deutlich machen, wodurch diese Entwicklungschancen begünstigt bzw. beeinträchtigt werden. 7.2 Die Besonderheit in der Lebenslage von Aussiedlem: Fremde in der Position des historischen Heimkehrers Im vorausgegangenen Abschnitt wurden Besonderheiten der Aussiedlungsbewegung anhand wanderungsgeschichtlicher Hintergründe und im Kontrast zu anderen Migrationsströmen in den Blick genommen. In diesem Kapitel sollen nun die Besonderheiten der Lebenslage, in die diese Migrationsbewegung führt, im Bezugsrahmen der Soziologie des Fremden herausgearbeitet werden. Mit dem Verlassen ihrer Herkunftsgebiete und der Einreise in Deutschland begeben sich Aussiedler in eine Situation des Fremdseins. In dieser Lebenslage kommt eine Fremdheitsparadoxie zum Tragen, die sich in Anlehnung an <?page no="408"?> 408 Aussiedler treffen aufEinheimische Simmel (1968) und an Schütz (1972b) folgendermaßen bestimmen lässt: Der Fremde erfahrt sich in Differenz zur Kultur und Geschichte der aufnehmenden Gruppe. Sofern er zum bleibenden Fremden zum Wanderer, der „heute kommt und morgen bleibt“ (Simmel 1968) wird, ist er um Annäherung an die kulturellen Besonderheiten dieser Gruppe und um Abbau des Mangels an Gemeinsamkeiten bemüht. Die Aneignung bzw. Übernahme der fremden Kultur leistet er auf der Grundlage mitgebrachter kultureller Ressourcen. Sein mitgebrachtes kulturelles Wissen wird dabei fragwürdig, sein „Denken wie üblich“ (Schütz 1972b) bewährt sich nicht mehr. Der Fremde gerät in eine „Krisis“, die darin gründet, dass Kulturmuster, die den Status des Erprobten und Bewährten haben, nicht zur Verfügung zu stehen. 271 Geschichte und Kulturmuster der Gruppe, der er sich nähert, sind ihm zwar zugänglich, sie haben für ihn aber „nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten, und nur deshalb, und sonst aus keinem anderen Grund, weil er nicht an der lebendigen geschichtlichen Tradition teilnimmt, durch die diese Muster gebildet wurden“ (ebd., S. 59). Der Neuankömmling ist bemüht, sich die neuen Kulturmuster anzueignen; er kann sie aber nicht in der gleichen Weise verwenden wie die Mitglieder der Gruppe, der er sich nähert. Um die neuen Kultur- und Ausdrucksmuster verwenden zu können, muss der Fremde sie auf die ihm vertrauten Muster hin übersetzen, durch diese Übersetzungsarbeit ist aber nicht gewährleistet, dass er die neuen Kulturmuster in gleicher Weise wie die Mitglieder der neuen Gruppe verwenden kann. Er läuft Gefahr, Ausdrucks- und Auslegungsschemata abweichend von den Gruppenkonventionen zu verwenden, muss daher „mit fundamentalen Brüchen rechnen, wie man Dinge sieht und Situationen behandelt“ (Schütz 1972b, S. 63). 271 Schütz wählt zwar als typischen Repräsentanten des Fremden den Immigranten, betont aber, dass seine Überlegungen auch auf andere soziale Annäherungskonstellationen zu beziehen sind: „Wer sich in einem geschlossenen Club um Mitgliedschaft bewirbt, der zukünftige Bräutigam, der in die Familie seines Mädchens aufgenommen werden möchte, der Junge vom Land, der auf die Universität geht, der Städter, der sich in einer ländlichen Gegend niederläßt, der ‘Freiwillige’, der in die Armee eintritt, eine Familie, wo der Vater arbeitslos war, und die jetzt in eine wirtschaftlich expandierende Stadt zieht hier sind sie alle Fremde, entsprechend der eben angegebenen Definition, obwohl in diesen Fällen die typische ‘Krisis’, welche der Immigrant durchmacht, leichter verläuft oder auch ganz ausbleibt“ (Schütz 1972b, S. 53; Flervorhebungen im Original). <?page no="409"?> Theoretische Modellierung der Befunde 409 Die Lebenslage von Aussiedlem wäre ahistorisch und stark vereinfachend dargestellt, würde man sie lediglich als Resultat der Positionierung von Fremden in einer Aufnahmegesellschaft charakterisieren. Eine weitere wesentliche Erfahrungsbedingung der Aussiedlung nach Deutschland ist, dass die Zuwanderer das Zielland als eine Art Urheimat ansehen können und so den Eintritt in die aufnehmende Gesellschaft mit Vorstellungen ethnischkultureller Homogenität und nationaler Zugehörigkeit sowie mit Hoffnungen auf Vergemeinschaftung mit den Alteingesessenen verknüpfen können. Die Aussiedlung in Sinnbezügen von Rückkehr in eine historische oder kulturelle Heimat erleben zu können, gründet in dem Wissen um Abstammung von Vorfahren aus der Kollektivität der Deutschen, in Bedrohungserfahrungen als Angehörige der deutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion sowie in Erwartungen einer bzw. in Hoffnungen auf eine „Heimführung“ nach Deutschland (Repatriierungspolitik). Das Wissen um die Wanderungsgeschichte der eigenen Vorfahren nährt Rückkehrvorstellungen und macht Deutschland zu einer imaginierten, einer geglaubten Heimat. 2 2 Es ist somit nicht einfach nur die Problematik des Fremden, die prägend für die Identitätsarbeit in der Nachaussiedlungssituation ist, es kommt darin auch eine besondere Heimkehrerproblematik auf.' 73 Die besondere Home-Coming-Paradoxie in der Lebenssituation von Aussiedlem sei in Anlehnung an die Lagebeschreibung des Heimkehrers (vgl. Schütz 1972c) dargestellt. 272 Diese Formulierung lehnt sich an Weber (1972) an, für den geglaubte Gemeinsamkeiten konstituiv für ethnische Gruppen sind. 273 Ich gehe hier auf Heimkehrvorstellungen unter deutschstämmigen Zuwanderern als einem kulturellen Konstrukt ein, das im Aussiedlungsprozess orientierungsleitend ist. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass es für alle, die als Aussiedler aufgenommen werden, relevant ist. Wie Vorstellungen von Heimkehr in die Selbstwahmehmung und Identitätsorientierungen eingehen, mag die folgende Explikation zum Begriff „Heim“ verdeutlichen: „Wo ich zufällig bin, da ist mein ‘Aufenthalt’; wo ich bleiben möchte, da ist mein Wohnsitz; von wo ich herkam und wohin ich zurückkehren möchte, dort ist mein ‘Heim’“ (Schütz 1972c, S. 72; Hervorhebungen im Original). <?page no="410"?> 410 Aussiedler treffen aufEinheimische Während der Fremde sich in die neuen Lebensbedingungen und Kulturmuster, denen er sich annähert, nur hineindenken kann, besitzt der Heimkehrer Kenntnisse über die Welt, in die er zurückkehrt. Er kann auf „Erinnerungen seiner Vergangenheit“ (Schütz 1972c) zurückgreifen. Der Fremde steht von vornherein unter dem Zwang, sich mit fremden Zivilisationsmustern auseinandersetzen zu müssen. Sofern er sich diese aneignet, kann er sie aber nicht auf gleiche habituelle Weise verwenden wie die Mitglieder der Gruppe, der er sich nähert. Hingegen sieht der Heimkehrer in der Erinnerbarkeit von Heimat und „heimatlichen Dingen“ einen Zugang zu der Gruppe, in die er zurückkehrt. Der Fremde weiß um die Differenzen zwischen den Kulturmustem seiner Herkunftsgemeinschaft und denen der aufnehmenden Gruppe. Er weiß, dass er fremd ist und er weiß, dass für seine Positionierung in der aufnehmenden Gruppe die Aneignung ihrer Kulturmuster notwendig ist. Während sich der in einer Annäherungssituation befindliche Fremde (wie bei Schütz) in die Lebensbedingungen und Kulturmuster der aufnehmenden Gruppe hineinzudenken versucht, gestaltet der typische Heimkehrer 274 den Prozess der (Wieder-)Annäherung im Rückgriff auf „Erinnerungen seiner Vergangenheit“; er erwartet, „in eine Umwelt zurückzukehren, von der er immer und auch jetzt wieder so denkt er intime Kenntnisse besitzt und besessen hat, die er nur wieder fraglos annehmen muß, um sich dort selbst wieder zurechtzufinden“ (Schütz 1972c, S. 70f.). Der Heimkehrer glaubt Vertrautheit und Bekanntes vorfmden zu können; er glaubt, dorthin zurückzugehen, wo er sich zu Hause fühlen kann. Zu Hause zu sein und sich heimisch fühlen zu können bedeutet, von der permanenten Erarbeitung von Situationsdefmitionen für die Bewältigung des Alltagslebens entlastest zu sein. Der Heimkehrer glaubt Alltagsbelange ebenso wie Neuartiges und Krisenhaftes in einer „anerkannten Art“ und mit den vorhandenen Routinen bewältigen zu können (vgl. ebd., S. 72f.). Problematisch an der Situation des typischen Heimkehrers ist Folgendes: Das Verlassen der Heimat hat zur Folge, dass der Abwesende von den Dagebliebenen nicht in der Einmaligkeit seiner individuellen Erfahrungen verstanden wird. Die Perspektive desjenigen, der die Gruppe einmal verlassen hat und wieder zurückgekehrt ist, kann daher nur schwer mit der Perspektive derer, die zu Haus geblieben sind, in Einklang gebracht werden. Die zu Hause Gebliebenen haben die „sich wandelnde Welt gemeinsam durch- 274 Typischer Heimkehrer ist bei Schütz der heimkehrende Veteran. <?page no="411"?> Theoretische Modellierung der Befunde 411 lebt, den Wandel unmittelbar erfahren, sie haben ihr Auslegungssystem darauf angepasst und sich selbst dem Wandel angeglichen“ (Schütz 1972c, S. 78). Im Verhältnis zur Gruppe, die der Heimkehrer verlassen hat und in die er jetzt zurückkehrt, befindet dieser sich in einer Position, in der die Wiederherstellung ehemaliger Wir-Beziehungen 275 problematisch ist. Insoweit, wie der Aussiedlung nach Deutschland Heimkehrorientierungen unterlegt sind, kommt eine Heimkehrerproblematik auf, die anders gelagert ist, als die von Schütz beschriebene. Der Aussiedlungsbewegung (von Ost nach West) sind Abspaltungen von der Staatsnation der Deutschen in einem Jahrhunderte währenden Geschichtsprozess vorausgegangen. Insofern stellt sich das Problem der Wiederherstellung ehemaliger Wir-Beziehungen bei der Rückwanderung der Deutschstämmigen aus osteuropäischen Ländern allenfalls im Erwartungshorizont der Zuwanderer. Es stellt sich nicht, weil wirklich gelebte Sozialzusammenhänge nur vorübergehend unterbrochen waren. Im Aufnahmeprozess der deutschstämmigen Zuwanderer geht es allein um Anschluss an die nationale Wir-Gemeinschaft. Somit wird in der Lebenssituation von Aussiedlem eine ganz besondere Home-Coming-Paradoxie wirksam: Es bestehen Vorstellungen, die denen des Heimkehrers entsprechen; aus ihrer biografischen Situation heraus sind die Zuwanderer aber keine Heimkehrer. Sie hegen Erwartungen, in Deutschland Vertrautheit („Heimisches“) vorfmden zu können, tatsächlich befinden sie sich aber in der Position des Wanderers und Fremden, der in der aufnehmenden Gruppe nicht wirklich heimisch ist und der mit den Mitgliedern dieser Gruppe nur „gewisse allgemeinere Qualitäten gemein hat“ (Simmel 1968). Es wird Heimatliches, Vertrautes, Erinnerbares in einer Lebenslage gesucht, in der Fremdheit vorherrscht. Sich als Deutscher begreifen zu können, Deutschland als eine historische Heimat, aber nicht als die eigentliche die biografisch erlebte Heimat ansehen zu können, ist die besondere Home-Coming-Paradoxie, die im Aussiedlungs- und Eingliederungsprozess wirksam wird. Wo der Übergang in 275 In der Wir-Beziehung „kann ich das Bewußtseinsleben des anderen in einer lebendigen Gegenwart erfassen, so wie es sich entwickelt und sich selbst aufbaut, und auch er kann dies mit Bezug auf meinen Bewußtseinsstrom. (...) Der andere ist für mich und ich bin für den anderen nicht eine Abstraktion, nicht ein bloßes Beispiel typischen Verhaltens, sondern, gerade weil wir eine gemeinsame lebendige Gegenwart teilen, diese einzigartige individuelle Persönlichkeit in dieser einzigartigen besonderen Situation“ (Schütz 1972b, S. 74). <?page no="412"?> 412 Aussiedler treffen aufEinheimische die aufnehmende Gesellschaft von Vorstellungen einer kulturellen Heimat und von Heimkehr gestützt wird, wo die Hoffnung auf ein Leben als (anerkannter) Deutscher unter Deutschen orientierungsleitend ist und wo sich eben diese Erwartungen als trügerisch erweisen, gesellt sich zur „Krisis des Fremden“ die Erfahrung, doppelt heimatlos geworden zu sein. Enttäuschung darüber, dort nicht heimisch werden zu können, wo man Heimatliches zu finden glaubte, geht in subjektive Befindlichkeiten ein. Mit der Kemproblematik des echten bzw. für Schütz typischen Heimkehrers haben Aussiedler Folgendes gemeinsam: Kulturelle Leistungen, die sie dort, wo sie herkommen, erbracht haben ihre Anpassungs- und Überlebensstrategien, die sich in der Vergangenheit bewährt haben sind nicht ohne weiteres übertragbar auf das soziale Leben in der Gemeinschaft, in das sie der Leitideologie nach zurückkehren (vgl. Schütz 1972c, S. 82). In ihrer kulturbewahrenden Lebensweise und in ihren kollektivgeschichtlichen Erfahrungsbeständen können sie Leistungen sehen, die sie in besonderer Weise mit der Abstammungsgemeinschaft verbinden, da es sich um Leistungen handelt, die wie Anna Klein sinngemäß sagt (vgl. Kap. 4.3.3.1) dem Erhalt des deutschen Menschen dienten. Im Aufnahmeland wird diesem kulturellen Kapital jedoch kein besonderer Wert beigemessen. Anerkennung für das in der Fremde Geleistete gibt es für die deutschstämmigen Zuwanderer in Form von Rechtsprinzipien, die Aufnahme, Einbürgerung und Eingliederungshilfen regeln, weniger im alltäglichen Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung (ausführlicher hierzu Kap. 7.3.4). Der Erhalt ethnisch-kultureller Eigenständigkeit auf fremdkulturellen Territorien stellt eine wichtige Identitätsressource für russlanddeutsche Aussiedler dar. 27 ' 1 Das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung gestaltet sich aber überwiegend so, dass diese Identitätsressourcen nur in ganz besonderen Konstellationen (etwa in professionellen Eingliederungsdiskursen oder in Forschungsarrangements) entfaltet werden können bzw. so, dass sie nur selten als Ressourcen validiert werden, die den (Wieder-)Anschluss an die nationale Kollektivität erleichtern. Der historische Heimkehrer wird von der aufnehmenden Gruppe mit Kategorien belegt, die diese für Zuwanderer und Fremde entwickelt hat. Dadurch 2/ 7 Zu kulturerhaltenden Leistungen und erfolgreichen Überlebensstrategien als Identitätsressource bei Aussiedlem aus Polen, aus Rumänien und den Nachfolgestaaten der UdSSR siehe Nienaber (1995). <?page no="413"?> Theoretische Modellierung der Befunde 413 wird die Lebenssituation deutscher Zuwanderer auf besondere Weise prekär: Mit dem Nichtverstehen und der Nichtanerkennung ihrer historischen und kulturellen Leistungen durch die aufnehmende Gesellschaft und mit dem Aufkommen von Ressentiments gegen die ‘irgendwie Fremden’ sind die deutschstämmigen Zuwanderer in der geglaubten Heimat ähnlich positioniert wie in der vormaligen Heimat, in der sie vielfach ethnischen Spannungen ausgesetzt waren. Das von Feindseligkeiten geprägte Verhältnis zu Kollektivitäten im Herkunftsland findet für den historischen Heimkehrer insofern eine Fortsetzung, als seine kulturbewahrenden Leistungen nicht als solche gewürdigt sondern als Merkmale behandelt werden, die ihn jetzt von der aufnehmenden Gesellschaft differenzieren. 7.3 Identitätsproblematiken in der Position des historischen Heimkehrers Sich als historischer Heimkehrer begreifen zu können, ist eine Ressource der Identitätsgestaltung, die dem typischen Fremden nicht zuhanden ist. Dadurch, dass diese Identitätsressource das Zugehörigkeitsempfmden zur aufnehmenden Gesellschaft stärken kann, besitzt sie Potenzial zur Abmilderung von Eingliederungsproblemen. Mit dem Gebrauch dieser Ressource wird Identitätsarbeit in der Nachaussiedlungssituation zugleich auf spezifische Weise prekär. Ausgehend von der Frage, wie Aussiedler selbst den Eingliederungsprozess gestalten und an der Änderung ihrer Identität arbeiten, soll im Folgenden untersucht werden, was Heimkehr- und nationale Vergemeinschaftungsvorstellungen der Identitätsarbeit deutschstämmiger Zuwanderer an Komplikationen hinzufügen. 7.3.1 Ausblendungstendenzen der Fremdheitsproblematik in der Erlebnishaltung des historischen Heimkehrers Die Ablaufgeschichte der Russlanddeutschen hat ‘Bewahrung des deutschen Menschen’ zu einem kulturellen Leitmotiv werden lassen, das auch im Übergang vom Herkunftsland in die Kollektivität des Aufnahmelandes als Sinnquelle fungiert. Vor allem für die Aussiedler, für die die Ereignisse während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zentrale Erinnerungsressource sind, wird die Ausreise nach Deutschland in Sinnbezügen der Errettung und der Erfüllung eines kollektivgeschichtlich festgelegten Schicksals erlebt. Zu dieser Vorstellungswelt gehört konsequenterweise, die Aussiedlung in Einnahme einer Endgültigkeitsperspektive zu betreiben. <?page no="414"?> 414 Aussiedler treffen aufEinheimische Die Aufnahme in Deutschland kann mit solchen Hochgefühlen über das Erreichen des Ziellandes erlebt werden, wie sie in dem Gedicht eines Aussiedlers, das ich dieser Arbeit vorangestellt habe, zum Ausdruck kommen. Darin werden Gefühlsbewegungen bei der Ankunft in Deutschland bzw. bei der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wiedergegeben, die hauptsächlich unter älteren Aussiedlem verbreitet sein dürften. Die Einreise nach Deutschland und die Aufnahme in die Kollektivität der Deutschen werden in einer solchen Erfahrungsperspektive quasi zur Rückkehr in einen heiligen Kosmos. Wo das Ankommen in Deutschland in Sinnbezügen des Erreichens eines lang ersehnten Zieles und als Erfüllung letzter Hoffnungen erlebt wird, kann dieses Erleben so stark werden, dass andere, schmerzhaftere Gefühle damit zugedeckt werden. Die Erleichterung darüber, es geschafft zu haben, Gefühle des Stolzes auf das Erreichte können so mächtig sein, dass real bestehende Diskrepanzen der neuen biografischen Situation nur schwer in den Blick geraten. Insofern als Heimkehrvorstellungen zu einer Barriere im Erkennen tatsächlich bestehender Differenzen zwischen Vergemeinschaftungsideologie und faktischen Lebensverhältnissen werden, erschweren sie die Anwendung der Fremdheitskategorie auf die eigene Lebenssituation und dadurch auch die Ausbildung eines Identitätsbewusstseins als Marginal Man. Die Heimkehrvorstellungen bei Aussiedlem stützen sich auf eine Selbstsicht als Deutsche; sie befähigen zu einer Identitätshaltung, in der sie sich der Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen gewiss sind. Mit der Selbstsicht und Selbstgewissheit, in der sie sich als Zuwanderer, die bereits Deutsche sind, sehen können, wird ein realistischer Blick auf die marginale Positionierung, in die der Kulturwechsel unausweichlich führt, versperrt. Auch wird es in diesem Erwartungshorizont schwer, sich selbst und auch anderen gegenüber Enttäuschungen einzugestehen, die die neue Lebenslage bereitet. Die Betroffenen sind sozusagen bemüht, die schmerzhaften Implikationen des Fremdseins als Deutschstämmige in Deutschland nicht zuzulassen. Die mit der Aussiedlung verbundenen Enttäuschungs- und Leidenserfahrungen, werden allenfalls indirekt thematisiert, indem über die ‘anderen Aussiedler’, die Schlimmes durchgemacht haben oder hier nicht zurecht kommen, gesprochen wird. Oder auch indem jenen, die noch kommen wollen, empfohlen <?page no="415"?> Theoretische Modellierung der Befunde 415 wird, sich diesen Schritt gut zu überlegen. 2 ' 7 Besonders heikel wird es, Enttäuschungen und Erleidensmomente gegenüber Einheimischen zu thematisieren, weil man dabei riskiert, als undankbar gegenüber Deutschland angesehen zu werden. Dieser Umstand trägt mit dazu bei, dass die Identitätsentfaltung in Kommunikationssituationen mit Einheimischen Mechanismen kommunikativer Selbstbeschränkung unterliegt (siehe auch Kap. 7.6.3). 7.3.2 Die vormalige Lebensweise und die Bearbeitung von Fremdheits- und Verlusterfahrungen Aussiedlung nach Deutschland ist für die Betroffenen vor allem eine Erfahrung des Kulturwechsels und der Herauslösung aus heimatlichen Bindungen, ln der „Gelöstheit des Kommens und Gehens“, die der bleibende Wanderer nicht vollständig überwindet (Simmel 1968), ist er nicht gänzlich frei von der vormaligen Lebensweise. Durch Abkoppelung von geschätzten „heimatlichen Dingen“ und von Gemeinschaften mit intakten Solidaritätsstrukturen werden bei den Betroffenen Gedanken an die verlassene Heimat intensiviert. Mit dem Verlassen des heimatlich Vertrauten werden emotionale Bindungen an Herkunftsgemeinschaften und Herkunftsregionen bestimmend für innere Zustände und für das Orientierungsverhalten von Migranten. Ihre im Herkunftsgebiet gemachten Erfahrungen und aufgegebenen Lebensverhältnisse haben Orientierungsfunktionen in der neuen Lebenslage. Sie schlagen sich in Identitätshaltungen nieder, die sich auch als Strategien zur Bewältigung von Fremdheits-, Entwurzelungs- und Verlusterfahrungen ansehen lassen. Folgende Identitätshaltungen können hier unterschieden werden: die Identitätshaltung, die eine strikte Annahme der neuen Lebenssituation fordert, das Bestreben der Selbsteinbindung in Gemeinschaftsfonnen, die in der Migrantenkollektivität fortbestehen, sowie das Offenhalten von Heimatoptionen im Herkunftsland. 278 Wie das vormalige Leben seinen Niederschlag in diesen Identitätsstrategien findet und welche je besonderen Bearbeitungschancen 277 Ich beziehe mich hier auf Passagen aus einem familiengeschichtlichen Gespräch (Familie Hahnemann), das hier nicht ausführlicher untersucht werden konnte. 278 Mit dieser Unterscheidung soll nicht behauptet werden, dass damit das Spektrum der Identitätshaltungen, die sich in der Nachaussiedlungssituation herausbilden können, abgedeckt ist. Eine Identifizierung weiterer Identitätshaltungen ist sicherlich auf der Grundlage umfangreicher biografisch-narrativer Interviews möglich. Für den Umgang mit Fremdheitserleben und Entwurzelungserfahrungen sind die hier unterschiedenen Identitätshaltungen aber von zentraler Bedeutung. <?page no="416"?> 416 Aussiedler treffen aufEinheimische und -risiken der Fremdheits- und Verlusterfahrungen damit einhergehen, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 7.3.2.1 Identitätshaltung der strikten Annahme der neuen Lebenssituation In der von Fremdheitsschock und Heimatverlust geprägten Lebenslage wird die unbedingte Annahme der neuen Lebenssituation, das Sichfügen und Sicheinleben in die neuen Verhältnisse zur alles bestimmenden Lebensaufgabe. Die Betroffenen bemühen sich um eine konsistente, nicht von Zweifeln an der eigenen Migrationsentscheidung erschütterte Haltung. Symptomatisch hierfür ist die Identitätshaltung, die Martha Klein in dem Erzählzusammenhang einnimmt, in dem sie über ihre Fremdheitsgefühle und über das Gewahrwerden von Heimatverlust gleich nach der Einreise spricht (vgl. Kap. 4.3.3.4). Sie weist den Wunsch nach Rückkehr in die verlassene Heimat dezidiert von sich; sie fokussiert die Abkoppelung von der heimischen Lebensweise und die Tatsache, jetzt hier zu sein, als vordringliche Aufgabe der Daseinsgestaltung, bei deren Bewältigung es nur hinderlich sein kann, zurückzuschauen und Gedanken an das vormalige Leben zuzulassen. Diese Identitätshaltung ist nichts Ungewöhnliches bei Migranten. Das Bemühen um rigorose Annahme der neuen Verhältnisse erscheint dabei als Ausweg aus der bedrückenden Lebenssituation. Entscheidend verstärkt wird der Druck zur Annahme der neuen Lebenssituation dadurch, dass das Aufnahmeland quasi als ein heiliger Kosmos gesehen werden kann, mit dem man durch Abstammung, durch kulturerhaltende Leistungen und auch durch Rückkehrprophezeiungen verbunden ist. Auch ist der Gedanke daran, im Herkunftsgebiet jeglicher Existenzgrundlage verlustig gegangen zu sein, hier ein wichtiger Stützmechanismus. Wo die lebenskritische Situation nach der Aussiedlung in der Identitätshaltung der rigorosen Annahme der neuen Lebenssituation angegangen wird, kommen in Bezug auf die Probleme des Fremdseins Ausblendungsmechanismen zum Tragen. In dieser Identitätshaltung können biografische und familienkollektive Brüche, in denen die Betroffenen leben, nicht realistisch in den Blick genommen werden, tiefergehende Thematisierungsmöglichkeiten, etwa im Familienkollektiv, sind erschwert. Für das Gelingen der Restabilisierungs- und Renonnalisierungsbemühungen ihrer Lebenssituation ist <?page no="417"?> Theoretische Modellierung der Befunde 417 aber gerade die Reflexion und gezielte Bearbeitung der Brüche, mit denen Aussiedler leben müssen, unverzichtbar, denn Identitätsentwicklung, die den neuen Verhältnissen im Aufnahmeland gerecht werden kann, „ist das Ergebnis der Integration dessen, was zunächst als Fremdes die eigene Identität störte, ja, zu zerstören drohte“ (Ehlich 1992, S. 72). Die Identitätshaltung der strikten Annahme der neuen Lebenssituation erschwert Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Fremdseins und der Marginalisierungsbedingungen im Aufnahmeland (vgl. Kap. 7.3.1). Durch die Leitorientierung der Bewahrung kultureller Identität werden solche Ausblendungsmechanismen noch verstärkt: Diese erschwert die Anwendung der Fremdheitskategorie auf die eigene Lebenssituation und wird dadurch zu einer Barriere im Erkennen tatsächlich bestehender Differenzen zu den faktischen Lebensverhältnissen. 13.2.2 Das Bestreben der Selbsteinbindung in Herkunftsgemeinschaften Das eben erwähnte Bemühen um eine stringente Haltung gegenüber der Migrationsentscheidung darf nicht gleichgesetzt werden mit einem Streben danach, Mitgebrachtes zügig durch das im Aufnahmeland Vorgefundene ersetzen zu wollen, nicht mit einem Streben nach rascher Assimilation. Ihre mitgebrachte kulturelle Ausstattung streifen Migranten nicht einfach ab; vielmehr sind sie bemüht, in vertrauten Kulturbezügen weiter zu leben und sich auf dieser Grundlage neue Lebensverhältnisse anzueignen und/ oder sich darin einzurichten. Gesucht wird in der Nachaussiedlungssituation nicht Anpassung um jeden Preis, sondern eine Lebensform, in der Mitgebrachtes Sinnquelle und Identitätsanker sein kann. Das Streben nach dem Leben ‘als Deutscher unter Deutschen’ realisiert sich für Aussiedler vor allem in der Bewahrung von Werten, Sinnquellen und Gewohnheiten, die in der vormaligen biografischen, familialen und ortsgesellschaftlichen Situation bedeutsam waren. In der Zeit unmittelbar nach der Einreise befinden sich Aussiedler in einer Situation extremer Fremdheit. Dabei ist die vormalige Lebensweise in der Migrantenpersönlichkeit als schmerzhafte Verlusterfahrung präsent; somit entsteht die widersinnige Situation, dass Heimweh gegenüber einer Heimat empfunden wird, in der zuvor ein Weiterleben als bedrückend und wenig lohnenswert angesehen wurde. Die neue Umgebung hat nichts Vertrautes; sie symbolisiert Entwurzelung und den Verlust des Vertrauten. Das Gewahrwerden der Trennung von Heimat und Angehörigen erfasst die Betroffenen so stark, dass sie oft nur mit Trauer und Leidensexpressionen darauf <?page no="418"?> 418 Aussiedler treffen aufEinheimische reagieren können. Zeitweilig herrscht in der Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation Befangenheit. In der Situation, in der der Schmerz des Getrenntseins von anderen Verwandten und Freunden sehr stark empfunden wird, ist die Hoffnung auf baldigen Nachzug anderer Familienangehöriger eine wichtige Quelle des Trostes. Familienintegration wird dadurch zu einem zentralen Orientierungsbezug im Eingliederungsprozess. 279 Der Trennungsschmerz löst ein sehnliches Verlangen nach baldigem Nachzug der anderen Familienangehörigen aus; auch kann er sich als tief empfundene moralische Verantwortlichkeit für die Zurückgelassenen bis hin zu Schuldgefühlen 80 bemerkbar machen. Verzögerungen bei der Ausreise der sehnsüchtig erwarteten Eltern, Geschwister, Vettern, Cousinen usw. bereiten großen Kummer und erzeugen Unverständnis gegenüber den administrativen Instanzen, die die Aufnahme von Aussiedlem verwalten und organisieren. Mit Einführung der Sprachtests taucht im Generationenverhältnis eine besondere Absurdität auf: Für Eltern und Großeltern, die im Interesse ihrer Kinder die Aussiedlung betreiben und die in der Lage sind, Sprachtests zu bestehen, wird die vollzogene Ausreise zu einem sinnlosen Akt, wenn ihre Kinder und Enkelkinder nicht nachreisen können, weil sie bei den Sprachtests durchfallen. 281 Vom Gelingen der familienintegrativen Anstrengungen gehen zweifelsohne wichtige restabilisierende Wirkungen auf die von Fremdheitsgefühlen und inneren Erschütterungen betroffenen Menschen aus. Die Ausreise im Familienkollektiv, die Bemühungen um möglichst baldigen Nachzug von Angehörigen und die Bemühungen, mit Verwandten und Freunden möglichst nah beieinander zu wohnen oder Besuchskontakte zu pflegen, lassen sich als Bestrebungen verstehen, in kollektivgeschichtlich vertrauten Gemeinschaftsbezügen weiterleben zu wollen. Somit wirken in der Nachaussiedlungssitua- ~ 7) Zur besonderen Bedeutung der Familie bei den Eingliederungsbemühungen von Zuwanderern aus dem agrarisch strukturierten Sizilien in die urbanen Lebensbedingungen des Chicago der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts siehe auch Zorbaugh (1976). ~ sü Dieses für die Gefiihlsverfassung vorausgegangener Familienmitglieder bedrückende Moment wird bei Gövert-Loos (1994, S. 153ff.) am Beispiel einer rumäniendeutschen Aussiedlerfamilie herausgearbeitet. 281 Von solchen Entwicklungen berichten die in der Aussiedlerbetreuung tätigen Wohlfahrtsverbände. Die Sprachtests lassen sich mittlerweile als das vorrangige Instrumentarium ansehen, mit dem die Bundesrepublik Deutschland die Ausweitung derer, die als Deutsche anzusehen sind, begrenzt. <?page no="419"?> Theoretische Modellierung der Befunde 419 tion Solidarisierungsmechanismen fort, die bereits im Herkunftsland wichtig für das Überleben als angefeindete und diskriminierte Minderheit waren. Solche Prozesse der Selbstorganisation, in die die kulturelle Sonderstellung im Herkunftsland hinein spielt, finden über familiale Zusammenhaltsstrukturen hinausgehend statt. Die Landsmannschaft der Russlanddeutschen bzw. der Bund der Vertriebenen sind Organisationen, die sich den Erhalt mitgebrachter kultureller Muster und die Pflege des landsmannschaftlich-kulturellen Traditionszusammenhanges zur Daueraufgabe gemacht haben." 82 Sie suchen die im Traditionszusammenhang wurzelnden Solidaritätsstrukturen und mitgebrachten Sinnressourcen für die Gestaltung der neuen Lebenssituation fruchtbar zu machen. Auch die Rolle der Religionsgemeinschaften muss in diesem Zusammenhang beachtet werden. Mit dem Fortbestehen vormaliger Religionsgemeinschaften 283 und mit Anschlüssen an die im Aufnahmeland bestehenden 282 Die Landsmannschaft der Russlanddeutschen wurde 1950 als „Interessenvertretung aller aus Rußland bzw. der UdSSR kommenden Deutschen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern (...) in Auswanderungsländem auf dem amerikanischen Kontinent“ gegründet. Sie finanziert sich „weitgehend durch Mitgliedsbeiträge (zur Zeit ca. 50 DM pro Jahr) und Spenden von Mitgliedern“. Die Landsmannschaft „versucht neben ihrer Aufklärungsarbeit über die Lebenssituation ihrer Landsleute in der UdSSR, Politiker in Ost und West zum Einsatz für diese ‘Volksgruppe’ zu bewegen“ (Boll 1993, S. 345). Wie Boll weiter zeigt, wird die Landsmannschaft von Neuankömmlingen hauptsächlich in den ersten Jahren nach der Einreise wegen „ihrer mangelnden Sach- und Sprachkenntnisse“ genutzt. Ihre Beratungsdienste werden gern in Anspruch genommen; geschätzt werden auch verschiedene Treffen auf Orts-, Landes- und Bundesebene. Boll hat in seiner Befragungsstudie allerdings auch kritische Positionen gegenüber der landsmannschaftlichen Arbeit unter Aussiedlern ermittelt. Danach wird insbesondere die „Heimat- und Deutschtümelei“, die sich u.a. in folkloristischen Aufführungen äußert, beklagt (ebd., S. 346). Insgesamt erachtet Boll den „Einfluß der Landmannschaft der Deutschen aus Rußland auf Werte und Verhaltensmuster ihrer Landsleute in der Bundesrepublik (...) sowohl in numerischer als auch qualitativer Hinsicht“ als eher gering, hält aber eine Veränderung für nicht ausgeschlossen: „Aufgrund der in den vergangenen drei Jahren deutlich gestiegenen Anstregungen im Kulturarbeitsbereich könnte sich dies [Einflussnahme auf die Lebenssituation russlanddeutscher Aussiedler, U.R.] jedoch in absehbarer Zeit ändern“ (ebd., S. 347). 283 Das Weiterleben in stabilen Religionsgemeinschaften trifft vor allem auf Aussiedler mennonitischen Glaubens zu. Müller (1992) hat anhand umfangreicher <?page no="420"?> 420 Aussiedler treffen aufEinheimische Glaubensgemeinschaften wirken Daseinskonzepte fort, die schon in der Minderheitenposition im Herkunftsland bewährungstauglich waren (auch wenn es oft schwierig war, die dazugehörigen Bekenntnisrituale öffentlich geduldet zu praktizieren). Einbindung in Migrantengemeinschaften hat für die Betroffenen wichtige Funktionen im Bemühen um innere Restabilisierung und bei der Organisation des Alltagslebens. Mit den Einbindungsbestrebungen in mitgebrachte Gemeinschaftsformen schlagen kollektiv- und familiengeschichtliche Orientierungen auf die biografische Identität der Zuwanderer durch. Die stabilisierende Funktion besteht vor allem darin, die Fremdheitsproblematik durch Distanzwahrung zu fremdmachenden, stigmatisierenden und schwer zu kontrollierenden Handlungskontexten entschärfen zu können. 284 Wo Migranten ihre Lebenslage im Aufnahmeland als durch Ausschließungsmechanismen und Geringschätzigkeitshaltungen der Alteingesessenen bestimmt begreifen, wird das Aufsuchen von Schonraummilieus und das Verbleiben in den zugestandenen Nischen zu einem präferierten Prinzip der Lebensführung. Mit El wert (1982) lässt sich das Bestreben der Selbsteinbindung in Herkunftsgemeinschaften (Binnenintegration) zweifelsohne als wichtiger sozialer Mechanismus für die individuelle und gesellschaftliche Bewältigung von Migrationsfolgen ansehen. Die Einbindung in mitgeethnografischer Materialien untersucht, wie mennonitische Glaubensvorstellungen die Organisation des Alltagslebens und die Gestaltung des Eingliederungsprozesses dieser Gruppe von Aussiedlern bestimmen. Auch Boll (1993) hat den Einfluss unterschiedlicher religiöser Organisationen untersucht; er kommt resümierend zu folgendem Ergebnis: „Den Aussagen der Interviewpartner nach zu urteilen haben die Kirchen und deren Vertreter (...) einen breiteren und auch stärkeren Einfluß auf die Wertvorstellungen und Verhaltensmuster der russlanddeutschen Aussiedler als Arbeitsplatz, Nachbarschaft und Landsmannschaft. Wenn auch längst nicht alle einer kirchlichen Gemeinde angehörenden Befragten auch regelmäßig zum Gottesdienst oder zu Betstunden gehen, orientieren sie sich dennoch stark an den durch Geistliche und Laienprediger verkündeten kirchlichen bzw. biblischen Moralvorstellungen, die häufig (...) auf subtile, unbewusste Art in den Alltag der Menschen hineinwirken“ (ebd., S. 347f.). 284 Zu dieser wichtigen Funktion der Binnenorganisation von Migrantengemeinschaften siehe auch die Studie von Müller (1992), in der das Gemeindeleben von Aussiedlem mennonitischen Glaubens untersucht wird; ferner die wegweisenden Studien von Wirth (1956) über jüdische Ghettos in den USA der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts sowie von Zorbaugh (1976) über den Wohnbezirk Little Hell bzw. Little Sicily in Chicago. <?page no="421"?> Theoretische Modellierung der Befunde 421 brachte Solidaritätsstrukturen hat aber auch eine Kehrseite. Mit den Selbsteinbindungsbestrebungen in Herkunftsgemeinschaften werden immer auch vormalige Lebensweisen präsent gehalten; insofern können von der Zugehörigkeit zu Aussiedler-Binnengemeinschaften auch Intensivierungen von Verlusterfahrung ausgehen. Hinzu kommt, dass Selbsteinbindung in die Wir-Gemeinschaften der Migranten mit Grenzziehungsprozessen im Verhältnis zu Umgebungsgemeinschaften einhergeht. Binnenintegrative Prozesse sind im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft unausweichlich mit Grenzziehungs- und Distanzierungsprozessen verbunden. Im Falle der Aussiedler sind diese Tendenzen allerdings schwer vereinbar mit der offiziellen Vergemeinschaftungsideologie, die dem Aufnahme- und Eingliederungsprozess unterlegt ist. Grenzziehung bzw. Wahrung von Distanz ist hier sowohl in einem sozialräumlichen Sinne als auch im Sinne explizit-kategorisierender Reaktionsweisen unter „Etablierten und Außenseitern“ (Elias/ Scotson 1990) gemeint. Das Zusammenspiel zwischen territorialen und definitorischen Abgrenzungsprozessen zeigt sich dort, wo die Einbindungsbemühungen von Aussiedlem in eigene Solidargemeinschaften von den Hiesigen als Distanzierungsverhalten und als selbstgewollte Isolierung gedeutet werden. Als Barriere im Verhältnis zwischen Aussiedlem und Einheimischen kommen so Wahrnehmungsweisen auf, die Aussiedler als integrationsunwillige oder -unfähige Fremde ansehen. In Kap. 7.4.2 werde ich noch erläutern, wie diese Tendenz durch Bereitstellung von Schonraummilieus verstärkt wird. 7.3.2.3 Offenhalten von Heimatoptionen im Herkunftsland Unter dem starken Eindruck des Verlustes vertrauter Lebenswelten und im Bemühen, die Lebenslage zu meistern, in der vormalige Solidaritäts- und Reziprozitätsstrukturen nicht ohne weiteres durch neue ersetzt werden können, wird das Aufrechterhalten von Verbindungen zur verlassenen Heimat zu einer wichtigen Sinnressource. Mit Aufrechterhalten von Verbindungen meine ich hier weniger mediale Kontakte zu den Zurückgelassenen, obgleich Briefe und Telefonate wichtige Instrumente im Umgang mit dem Trennungserleben sind; ich meine hier die bewusstseinsmäßigen Verbindungen zum Herkunftsland, die die Migrierten für sich in Handlungsplänen und in Lebensentwürfen aufrechterhalten. <?page no="422"?> 422 Aussiedler treffen aufEinheimische Gedanken an und Hoffnungen auf Rückkehr in die verlassene Heimat die Aufrechterhaltung von Heimkehrillusionen sind aus der migrationssoziologischen Forschung als Mechanismus zur Bewältigung „anomischer Spannungen“ in der ersten Generation von Zuwanderern bekannt (vgl. Hoffman-Nowotny 1973; Treibei 1990, S. 101). Rückkehrorientierung kann allerdings auch Ausdruck einer idealisierenden Sicht auf das Herkunftsland sein. Rückkehrgedanken verweisen auf einen leidvollen Ablöseprozess vom Herkunftsland. Sie sind Indiz für starke Bindungen an vormalige Lebensverhältnisse, Indiz für intensive Auseinandersetzungen mit einer erwartungsdiskrepanten Lebenssituation und für Ankoppelungsschwierigkeiten der biografischen Identität an die neuen Lebensbedingungen. 2X ^ Bei diesem Modus der Aufrechterhaltung von Verbindungen zur verlassenen Heimat ist das Herkunftsland als eine biografische Option orientierungsrelevant. Von dieser Heimatoption kann sowohl in Gedanken an Rückgängigmachung der Migrationsentscheidung (in einer unbestimmten Zukunft) als auch in tatsächlich realisierten Rückkehrbewegungen Gebrauch gemacht werden. 286 Im Unterschied zu anderen Migrationsbewegungen ist diese Alternative zur Bewältigung der marginalen Lage in Deutschland für Aussiedler ungleich schwerer zu realisieren. Die Aussiedlungsentscheidung ist mit einer Entlassung aus dem Herkunftsstaat verknüpft (die allerdings auch unterlaufen oder hinausgezögert werden kann); damit können administrative Barrieren " 85 Aus Erfahrungsberichten von Aussiedlerbetreuem geht hervor, dass das Thema Rückkehr überwiegend im Kontakt mit jugendlichen Aussiedlem aufkommt. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass unter Aussiedlem, die schon im Rentenalter sind, und sehr stark an Vereinsamung und am Verlust der vertrauten Umwelt leiden, ein ausgeprägtes Rückkehrverlangen aufkommt, dem vereinzelt auch konkrete Verwirklichungsschritte folgen. 286 Dass es zu (freiwilligen) Rückwanderungen unter Aussiedlem gekommen ist, wurde mir auf Anfrage bei Wohlfahrtsverbänden sowie beim Bundesverwaltungsamt bestätigt. Über die Größenordnung von Rückwanderungsbewegungen liegt in Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden kein statistisches Material vor, da es für die Rückkehr in das Herkunftsland kein behördliches Procedere gibt, das dem Aufnahmeverfahren vergleichbar wäre. Auch die Auswanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes ist hier nicht aussagekräftig. Sie registriert lediglich ausgewanderte Deutsche; Aussiedler, die zuvor die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt haben, werden somit nicht als gesonderte Statusgruppe erfasst. <?page no="423"?> Theoretische Modellierung der Befunde 423 wirksam werden. Wo die Aussiedlungsentscheidung als eine endgültige Änderungsinitiative der biografischen und familienkollektiven Situation angesehen wird, kommen mentale Barrieren hinzu. Auch wird eine Rückkehr sinnlos, wo sich ganze Ortsgesellschaften, in denen die Betroffenen einst heimisch waren, aufgelöst haben. Dort, wo Rückkehrwillige noch Verbliebene vorfinden könnten, setzen sie sich bei Realisierung dieses Vorhabens dem Risiko aus, als in Deutschland Gescheiterte heimzukehren. Eine andere Bearbeitungsmöglichkeit des Nachwirkens alter Bindungen an das Herkunftsgebiet besteht in Formen der Pendelmigration. Die für Aussiedler nahe liegende Variante des so genannten Besuchstourismus lässt sich allerdings nur bei ausreichenden finanziellen Mitteln realisieren und wohl auch erst dann, wenn mit den Besuchen im Herkunftsgebiet Aussiedlungserfolg demonstrierbar ist. 7.3.3 Der historische Heimkehrer und die Herausbildung disparater Identitätsorientierungen im Generationenverhältnis Der kollektivgeschichtliche Hintergrund der deutschstämmigen Zuwanderer ist in zweierlei Hinsicht für ihre Identitätsarbeit bedeutsam: Er stellt Orientierungspotenzial für die Erarbeitung neuer Identitätsmuster bereit und er ist zentrale Sinnressource zur Legitimierung der Aussiedlungsentscheidung. In der Ablaufgeschichte der Russlanddeutschen ist das Leitmotiv der Bewahrung kultureller Identität fundiert; darin wirken Prophezeiungen eines von Drangsal freien Lebens in Deutschland nach. In das Land der Väter und Urväter zurückzukehren ist ein Projekt, das vor allem zum Wohle der Nachkommen angegangen und mit Endgültigkeitsvorstellungen versehen wird. Die in diesem Verständnis betriebene Aussiedlung nach Deutschland hat mit dafür gesorgt, dass Familienensembles entstehen, die aufgespalten sind in Initiatoren der Aussiedlung und in Mitgenommene. Mitgenommene sind hauptsächlich die Nachkommen der Initiatoren; die Rolle der Mitgenommenen kann aber auch Angehörigen zufallen, die bereits sehr alt sind. Sofern die Mitgenommenen nicht gleichzeitig mit ausreisen, folgen sie vor die Wahl zwischen einem Leben mit oder ohne Familienverband gestellt später den vorausgegangenen Familienangehörigen (wie z.B. der älteste Sohn von Anna Klein, Kapitel 4.3.3.3). Ich beschränke mich im Folgenden darauf, einige Ausprägungen disparater Identitätsorientierungen in Familienmilieus aufzuzeigen. Es muss weiteren <?page no="424"?> 424 Aussiedler treffen aufEinheimische Untersuchungen Vorbehalten bleiben, diese Problematik im Generationenverhältnis zu verfolgen. Auf alle Fälle können die Wandlungsprozesse in den Generationenbeziehungen nicht als abgeschlossen angesehen werden. Die Sinnkonzepte, in denen die Initiatoren die Aussiedlung betrieben haben - ‘Rückkehr in das Land der Urväter’ bzw. ‘als Deutscher unter Deutschen leben’ sind nicht immer Sinnkonzepte, die für alle Familienmitglieder gleichermaßen leitend sind. Ihre Orientierungsfunktion unterliegt im Generationsverhältnis Abschwächungstendenzen. Im hier ausgewerteten Material und auch in anderen Forschungsbeiträgen zeichnet sich ab, dass die Bereitschaft, nach Deutschland zu gehen, vor allem bei den jüngeren Jahrgängen weniger stark ausgeprägt war als bei den älteren Aussiedlem. 287 Sicherlich wird die Ausreise nach Deutschland von den Jüngeren auch weniger in Sinnbezügen von (historischer) Heimkehr, von Schicksalsbestimmung und Errettung erlebt. Für sie ist die Aussiedlung vor allem ein lebensveränderndes Ereignis, durch das sie aus Bildungs- und Berufskarrieren, aus Altersgruppen und aus Freundschaftsbeziehungen auch zu Angehörigen anderer ethnischer Gemeinschaften herausgerissen werden. Unter diesen Voraussetzungen treten Probleme innerfamiliärer und intergenerativer Sinnvermittlung bezüglich der Aussiedlung nach Deutschland auf, und es entstehen Belastungen innerfamiliärer Solidaritäts- und Reziprozitätsverhältnisse. Mangelnde Identifikationsbereitschaft mit der neuen Lebenssituation kann sich für mitgenommene Familienangehörige zu existenziellen Problemen ausweiten. Verweigerung von Lernbereitschaft, Einnahme einer Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Sprache, Apathie, Rückzug in Peer Groups, deviantes Verhalten usw. werden unter diesen Bedingungen zu Formen der Auflehnung gegen aufgezwungene biografische Brüche. Dabei 287 Die geringere Bereitschaft der Heranwachsenden, nach Deutschland auszusiedeln, steht im Zusammenhang mit der von Boll (1993) festgestellten nachlassenden Identifikation der Jugendlichen mit russlanddeutscher Kultur. Zu Unterschieden zwischen den Generationen hinsichtlich des Ausreisewunsches siehe auch Oxen (1995a, S. 37). Dass Kinder und Jugendliche Ausreisemotive ihrer Eltern häufig nicht teilen, wurde bereits in einer Erhebung festgestellt, die sich mit der Lebenssituation polnischer Aussiedler befasst, die Ende der 70er-Jahre in die Bundesrepublik gekommen sind; vgl. Röh (1982). Zur ethnischen Identitätsorientierung msslanddeutscher Aussiedlerjugendliche siehe Dietz (1997, S. 26f, 76ff); zur ethnischen Identitätsorientierung bei jugendlichen Aussiedlem aus Polen siehe Meister (1997, S. 214-224). <?page no="425"?> Theoretische Modellierung der Befunde 425 sind die gewählten Protestformen von den Adressaten, an die sie gerichtet sind den Initiatoren der Aussiedlung nur schwer zu entschlüsseln. So kann die Aussiedlungsentscheidung, die zum Wohle der Nachkommen getroffen wurde, in familiale Verhältnisse einmünden, die von internen Spannungen geprägt sind und in denen desintegrative Tendenzen wirksam werden. Eine gemeinsame, familienkollektive Bearbeitung der Übergangssituation ist unter solchen Bedingungen erschwert. Damit verflüchtigt sich das soziale Kapital der Familienmigration, das im Übergang vom Herkunftsland in die Aufnahmegesellschaft von außerordentlich hohem Wert ist. Im Generationenverhältnis können aber noch Brüche anderer Art auftreten, Brüche, die etwas damit zu tun haben, dass sich die Jüngeren Strömungen in der neuen Lebenssituation öffnen, die sie als Modemisierungsschub erleben, sich dabei aber von den Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen der Älteren entfernen. 288 Solche Brüche treten nicht bloß dort auf, wo unterschiedliche Haltungen zu den Produkten der hiesigen Kulturindustrie, den technologischen Trends und zu den sozialen und moralischen Standards in der Aufnahmegesellschaft bestehen. Die Familienverhältnisse können auch dadurch disparat werden, dass unterschiedliche Verwendungskonzeptionen der deutschen Sprache verfolgt werden. Die Aussiedlungsentscheidung wird zwar vielfach damit legitimiert, dass die Nachkommen dazu befähigt werden sollen. Deutsch zu sprechen, 289 das Deutsch, das sie hier dann lernen und verwenden, ist für die Älteren aber nicht das Deutsch, in dem sich die Weitergabe und Bewahrung kultureller Identität als Russlanddeutsche realisiert. So erachten es die älteren Frauen in der Großfamilie Klein (Martha und Anna) als eine Art Verpflichtung gegenüber ihren Vorfahren, in ihrer Familie weiterhin den mitgebrachten russlanddeutschen Dialekt zu sprechen und so kulturelles Erbe zu bewahren. 290 Hingegen hält Annas 27jährige Tochter es für 288 Das Aufkommen von Konflikten zwischen Eltern und Kindern in Migrantenfamilien aufgrund eines stärker ausgeprägten Assimilationsverhaltens der Heranwachsenden ist auch bei starker elterlicher Sozialkontrolle unvermeidlich, wie schon Zorbaughs Beobachtungen in Wohnbezirken italienischer Einwanderer im Chicago der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gezeigt haben (vgl. Zorbaugh 1976, S. 159-181). 289 Bei der Befragung von Aussiedlern hat Boll (1993) dieses Motiv als einen „der meistgenannten Ausreisegründe“ ermittelt (S. 42). 290 Ich beziehe mich hier auf Passagen aus dem Tischgespräch bei Familie Klein, die bei der strukturellen Beschreibung ausgewählter Stellen nicht berücksichtigt wurden. Boll (1993) zeigt, dass in russlanddeutschen Familien Spannungen hin- <?page no="426"?> 426 Aussiedler treffen aufEinheimische wichtig, in der Familie Hochdeutsch zu sprechen. Sie lehnt den mitgebrachten Dialekt wegen seiner fremdmachenden Wirkung in der neuen Umgebungsgesellschaft ab, auch empfindet sie ihn als störend bei der Aneignung des Hochdeutschen. Die Spracheinstellung der Tochter deutet darauf hin, dass sie im Familienverband eine Position als Aktivistin der Ankoppelung an neue Wirklichkeitsstrukturen einnimmt. Sie begibt sich damit aber in Gegenposition zu der Sprachverwendungskonzeption, die ihre Mutter und ihre Großmutter verfolgen. Diese Konstellation in der Familie Klein lässt einen Bruch im Generationenverhältnis erkennen, der sich in verallgemeinerter Form so umschreiben lässt: Das Symbolmedium, in dem sich vor allem für die älteren Aussiedler Bewahrung kultureller Identität realisiert die mitgebrachte dialektale Varietät des Deutschen ist durch Erfordernisse der Lebensgestaltung, die außerhalb der familialen Sphäre liegen und primär von den Jüngeren wahrgenommen werden, einem Bedeutungsverlust ausgesetzt. 7.3.4 Das Einbürgerungsprivileg und die Me-Bilder der Einheimischen - Ratifizierungsmängel des Identitätsanspruchs als Deutsche Das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik nimmt Bezug auf familiengeschichtliche Leistungen, durch die kulturelle Identität als Deutsche erhalten worden ist. Es ist an Rechtsgedanken schutzwürdiger Interessen und Kompensation erlittenen Unrechts als Angehörige des deutschen Volkes orientiert. Es honoriert Bewahrung ethnisch-kultureller Identität als Deutsche mit Aufnahme in die nationale Kollektivität der Binnendeutschen. Als kodifiziertes Wissenssystem verheißt das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Volkszugehörigen Bewahrung ihrer kulturellen Identität, es eröffnet und stützt Orientierungsbezüge auf ein Leben in einer ethnisch definierbaren Abstammungsgemeinschaft. Insofern weckt das Staatsangehörigkeitsrecht Erwartungen auf Wiedergutmachung durch Zugehörigkeit zur Kollektivität der Binnendeutschen und durch Teilhabe an ihren Gemeinschaftsgütern. Auch wenn insbesondere die Russlanddeutschen eine kulturelle Entwicklung genommen haben, die sie von der heutigen deutschen Gesellschaft entfernt hat (vgl. Otto 1990 sowie Boll 1993), ist die Vorstellung eines generationenüberdauernden Weiterlebens in deutschen Kulturbezügen eine zentrale Sinnsichtlich der familienintem präferierten Sprache und der extern bzw. öffentlich verwendeten Sprache bereits im Herkunftsland erfahren wurden (S. 43). <?page no="427"?> Theoretische Modellierung der Befunde All quelle im Aussiedlungsprozess. Die Eigensicht als Heim- und Rückkehrer, als Zuwanderer, der ‘als Deutscher unter Deutschen leben’ will, wird durch das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik gestärkt. 291 Der rechtlich fixierte Anspruch auf Aufnahme in Deutschland und auch die spezifischen Eingliederungshilfen für Aussiedler stellen im Vergleich zu anderen Gruppen von Zuwanderem ein Einwanderungs- und Integrationsprivileg dar. Wenn auch Aussiedler die nationale Identitätskategorie und daraus ableitbare Rechtsansprüche für sich reklamieren können, ist damit natürlich nicht wirkliche gelebte Zugehörigkeit zur einheimischen Bevölkerung hergestellt, sind Fremdheits- und Marginalitätsproblematiken nicht automatisch verringert oder entschärft. Die nationale Identitätskategorie ist vor allem relevant als Regulativ für Partizipationschancen an bestimmten sozialen Gütern und Lebensbereichen. Nationales Zugehörigkeitsdenken bei Aussiedlem prallt im Prozess des Ankommens und Sicheinlebens teils auf subtile, teils auf massive und auch aggressive Symbolisierungen von Nichtzugehörigkeit und Unerwünschtheit. Die rechtliche Gleichstellung mit der bundesdeutschen Bevölkerung verhindert nicht, dass fremdmachende und ethnisierende Typisierungen auf deutschstämmige Zuwanderer angewandt werden. Unter solchen Bedingungen sehen sich Aussiedler der Reziprozitätsbasis mit Einheimischen fundamental beraubt. Sie sehen sich stigmatisierenden Fremddefinitionen ausgesetzt, die „symbolischen Formen von Gewalt“ (Nienaber 1995, S. 451) gleich kommen und gravierende Mängel der Anerkennung von Zugehörigkeit offenbaren. Sie müssen 291 Die Begriffe „Heimkehrer“ und „Heimkehrvorstellungen“ sollen nicht überstrapaziert werden; daher spreche ich im Weiteren auch von nationalem Zugehörigkeitsdenken. Dieser Ausdruck erscheint mir geeignet, sowohl die im Kollektivbewusststein der Russlanddeutschen als auch im Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland fundierte Vorstellung von Verbundenheit mit Deutschland zu charakterisieren. Da es sich dabei um eine Verbundenheitsvorstellung handelt, die sich auf Zugehörigkeit zur Staatskollektivität bezieht, soll nicht von ethnischem sondern von nationalem Zugehörigkeitsdenken die Rede sein. Sozialwissenschaftliche Definitionen des Nationenbegriffs heben über den gemeinsamen Glauben an einen „überzeitlichen Charakter“ und an Verbundenheit durch bestimmte gemeinschaftsstiftende Elemente hinaus den Bezug auf einen gemeinsamen Staatsapparat hervor. Eine Nation verfugt über Organisationen, die der kollektiven Interessensverwirklichung und dem kollektiven Selbsterhalt dienen. Insofern, als sie damit auch über einen Apparat zur Regelung von Ab- und Ausgrenzung verfügt, ist die Nation anderen Kollektivzugehörigkeiten überlegen (vgl. Eiwert 1989, S. 446f). <?page no="428"?> 428 Aussiedler treffen aufEinheimische erfahren, dass ihr kollektivgeschichtlicher Hintergrund als Deutschstämmige für viele Binnendeutsche nicht verstehbar ist und dass ihre Migrationsmotive den Hiesigen nicht vermittelbar sind. Sie müssen erfahren, dass ihre aktuelle biografische Situation für Angehörige der Aufnahmegesellschaft nur in ffemdmachenden und ausgrenzenden Kategorien fassbar ist. Für ihre Identitätsarbeit werden Fremdzuschreibungen relevant, durch die sich Aussiedler nicht nur abgewiesen, sondern auch missverstanden fühlen, Fremdzuschreibungen, die mit ihrem Selbstbild kollidieren und ihre Selbstachtungsbedürfhisse verletzen. Wie so etwas abläuft, wie die in ihrer biografischen Situation und in ihrem Leiden an Fremdheit unverstandenen Aussiedler aufgewühlt werden und welche Erkenntnisbildungen über Einheimische sich dabei festsetzen, haben die Erfahrungsberichte von Anna und Martha Klein gezeigt (vgl. Kap. 4.3.3.2). Die Ratifizierungsmängel des Identitätsanspruchs ‘als Deutscher unter Deutschen’ gründen im Wesentlichen darin, dass Aufnahme und Anwesenheit der deutschstämmigen Zuwanderer in der einheimischen Bevölkerung unter anderen Relevanzgesichtspunkten verarbeitet werden, als die, die in der Verfassung und im Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik fixiert sind. Aussiedlerintegration als nationale Aufgabe anzusehen, hat zwar in den mit Eingliederungsarbeit betrauten Verbänden und Institutionen normatives Gewicht, kaum aber in der einheimischen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass die ursprünglichen Leitideologien der Kompensation von Verlust- und Unterdrückungserfahrungen und der Wahrung schutzwürdiger Interessen der Deutschstämmigen inzwischen auch in der Aussiedlerpolitik von Verträglichkeitserwägungen bezüglich der Aufnahmebereitschaft in der einheimischen Bevölkerung überlagert sind. Bestrebungen, in der einheimischen Bevölkerung Akzeptanz für deutschstämmige Zuwanderer über den Gedanken der demografischen Bereicherung des Staatsvolkes zu fördern, finden wenig Widerhall. Eine diffuse Abwehrhaltung gegenüber fremden Zuwanderem und ein starkes Benachteiligungsempfinden gegenüber jenen, die mit besonderen Ansprüchen auf Eingliederungshilfen und auf Leistungen der Sol idarsysteme ausgestattet sind, sperren sich sowohl der Bereitschaft zu historischer Verantwortungsübernahme für die Deutschstämmigen im Osten als auch dagegen, kinderreiche Aussiedlerfamilien als Gewinn für das Renten- und Beschäftigungssystem anzusehen. Offiziell werden die deutschstämmigen Zuwanderer zwar als Verstärkung der Mehrheitsgesellschaft (die eine De-facto-Einwanderungsgesellschaft ist) deklariert, aber auch für diesen Status mangelt es an Ratifizierungen. <?page no="429"?> Theoretische Modellierung der Befunde 429 Die in der einheimischen Bevölkerung beobachtbare Ratifizierungsverweigerung des Anspruchs auf nationale Zugehörigkeit gründet nicht zuletzt darin, dass der kollektivgeschichtliche Hintergrund der Deutschstämmigen nicht bekannt, das daraus hervorgegangene Leitmotiv, ‘als Deutscher unter Deutschen leben zu wollen’, somit für Hiesige vielfach schwer nachvollziehbar ist. Hinzu kommt, dass in der einheimischen Bevölkerung oftmals größere kulturelle Distanz gegenüber Aussiedlem als gegenüber Angehörigen anderer Zuwanderergruppen empfunden wird, so dass andere Fremde verschiedentlich auch eher auf Akzeptanz stoßen als die ‘fremden Deutschen’. Hier spielt mit hinein, dass andere Zuwanderer nicht in dem Maße als von staatlichen Förderungen Bevorteilte angesehen werden wie Aussiedler. 242 Neben der unter Einheimischen verbreiteten Tendenz, Aussiedlem Aufenthaltsberechtigung und Zugehörigkeit zur Staatskollektivität der Deutschen abzusprechen, gibt es noch einen weiteren Umstand, der es Aussiedlem schwer macht, die nationale Identitätskategorie als Ressource der Identitätsgestaltung zu nutzen: Werden die kollektivgeschichtlichen und kulturellen Voraussetzungen für eine Identität als Deutsche herausgestellt etwa im Sinne der Bekenntnishaltung, die das Aufnahmeverfahren abverlangt laufen Aussiedler Gefahr, wegen antiquierter und deutschtümelnder Gesinnung stigmatisiert zu werden. Die nun folgenden Überlegungen gelten der Frage, wie die Ratifizierungsmängel des Identitätsanspruchs als Deutsche Identitätsprozesse in der Nachaussiedlungssituation grundlegend strukturieren. 292 Das für deutschstämmige Zuwanderer bestehende Einwanderungsprivileg ist als rechtlicher Stützmechanismus der Einbindung in Reziprozitätsstmkturen der Aufnahmegesellschaft konzipiert. Von ihm gehen aber insofern gegenläufige Effekte aus, als Aufnahmepolitik und Integrationshilfen auf Unverständnis und Ablehnung in der einheimischen Bevölkerung stoßen. Auf diesen, den Intentionen staatlicher Eingliederungspolitik zuwiderlaufenden Effekt macht auch Nienaber (1995) aufmerksam: „Einheimische lehnen oft Aussiedler nicht nur ab, weil sie als zugewanderte ‘Fremde’ aus Kulturkreisen kommen, die den Bundesbürgern unbekannt sind, sondern wegen ihrer ‘Rechtsansprüche'. Der ‘Fremde’ in der Person des Aussiedler ist jemand, der mit Ansprüchen in die Bundesrepublik kommt, die er aufgrand seiner Rechtsstellung auch realisieren kann“ (ebd., S. 454; Hervorhebungen im Original). <?page no="430"?> 430 Aussiedler treffen aufEinheimische Identitätsarbeit in der Position der Stigmaabwehr und davon ausgehende Schwierigkeiten des Reziprozitätsaufbaus Mit dem Gewahrwerden von Einstellungen und Wahmehmungsstereotypen der Einheimischen gegenüber Aussiedlem werden für die Identitätsarbeit der Zuwanderer vor allem Me-Bilder relevant, die mit starker Negativsymbolik behaftet sind. In diesen negativen Bildern fühlen sich Aussiedler extrem missverstanden, diskreditiert und ausgeschlossen. Eine Identitätshaltung der Stigmaabwehr wird ausgebildet, für das Verhältnis zwischen Aussiedlem und einheimischer Bevölkerung wird Grenzarbeit dominant. Sie äußert sich in Strategien der Kontaktvermeidung 293 und in der Zuwendung auf Erfahrungsräume, in denen das Unter-sich-Sein gewährleistet ist. Die Me-Bilder der Einheimischen fuhren aber noch in anderer Hinsicht zu Reziprozitätseinschränkungen: Im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung bildet sich eine Erwartungshaltung heraus, die sozusagen darauf gerichtet ist, stigmatisiert und abgelehnt zu werden. Dabei gibt es aber durchaus Binnendeutsche, die ein gutes Gespür für die Lebenssituation und die Befindlichkeit von Zuwanderem haben es gibt auch den sympathisierenden Einheimischen, der imstande ist, sensibel mit Aussiedlem umzugehen; die Ausführungen in den Analysekapiteln haben dies hinlänglich bestätigt. Wo aber Aussiedler davon ausgehen, dass seitens der relevanten Anderen nur Negativbilder über die eigene Statuskategorie bestehen, kann das Vorhandensein positiverer Me- Bilder auf Seiten der Einheimischen schwerlich zugelassen werden. Und wo davon ausgegangen wird, dass bei den Einheimischen keine positiven Me- Bilder existieren, können solche idealisierenden Annahmen nicht zur Interaktionsgrundlage gemacht werden, können Aussiedler in der Interaktion mit Einheimischen nicht frei von Stigmatisierungsängsten sein. Marktteilhabe als Ausweg? Aussiedler befinden sich in einer äußerst erwartungsdiskrepanten Lebenslage: Sie stehen unter dem Selbstanspruch - und auch unter dem Erwartungsdruck der Einbürgemngsadministration - ‘richtige Deutsche’ zu sein; auf der 293 Wie solche Strategien in konkreten Handlungszusammenhängen greifen, konnte ich in der sozialpädagogischen Betreuung jugendlicher Aussiedler miterleben, als eine Sozialarbeiterin zur Gestaltung des Abends vorschlug, in das Kino einer nahe gelegenen Großstadt zu gehen. Dieser Vorschlag wurde von einem russlanddeutschen Jugendlichen mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Gruppe nicht dorthin wolle, wo sich die arroganten Deutschen aufhielten. <?page no="431"?> Theoretische Modellierung der Befunde 431 anderen Seite aber bekommen sie von der einheimischen Bevölkerung gespiegelt, dies eben nicht zu sein, ln der Situation, in der ihr besonderes Identitätsbewusstsein als Deutsche für die Hiesigen unverstanden bleibt, in der sich Aussiedler fremdmachenden Kategorisierungsprozessen ausgesetzt sehen, gelten Hoffnungen auf ein zufrieden stellendes Leben in Deutschland hauptsächlich der Teilhabe an Arbeits-, Bildungs-, Wohnungs- und nicht zuletzt Warenmärkten. Über Teilhabemöglichkeiten an diesen Marktprozessen vermittelt sich wohl am ehesten das Gefühl, dass sich die Aussiedlung gelohnt hat. Mit den Zugangschancen zu diesen Märkten können auch Hoffnungen verknüpft sein, auf diesem Wege soziale Anerkennung bei den Binnendeutschen zu finden. 294 Sieht man davon ab, dass es den Aussiedlem, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, durch Sparpolitik der Bundesregierung und durch Arbeitsplatzknappheit schwer gemacht worden ist, ebenso rasch Konsumstandards zu erreichen, wie dies Ende der 70er-Jahre und in den 80er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts möglich war, macht sich auch in dieser Gestaltungssphäre von Zugehörigkeit zur Kollektivität des Aufnahmelandes eine Art Gegenströmung bemerkbar; auch sie gründet in den Wahmehmungs- und Deutungsschemata der Einheimischen: Die Teilhabe an den Konsumstandards der Aufnahmegesellschaft kann zum Auslöser und Verstärker von Ressentiments der Hiesigen werden. Sofern es Aussiedlem möglich ist, beispielsweise Wohneigentum oder Konsumgüter wie einen Mittelklassewagen zu erwerben, bestätigen sie sozusagen damit das Stereotyp, Nutznießer staatlicher Begünstigungen zu sein. 7.3.5 Das Dilemma der Ankoppelung an eine Täter-Nation In Migrationsprozessen, denen das Verständnis von Rückwanderung in eine historische Heimat unterlegt werden kann, ist die Geschichte dieses Volkes relevant für Vergemeinschaftungsvorstellungen und für kollektives Identitätsbewusstsein. Die Geschichte Deutschlands erweist sich im Aussiedlungs- und Eingliederungsprozess allerdings als ein heikles Vergemeinschaf- 294 Ein Streben nach sozialer Anerkennung durch einen Konsumstandard, der dem der Hiesigen ebenbürtig ist, hat Röh (1982) für Aussiedler aus Polen, die Ende der 70er-Jahre nach Deutschland gekommen sind, festgestellt. Die Autorin weist in diesem Zusammenhang allerdings auch darauf hin, dass Konsumverhalten in erster Linie eine Form der Lebensgestaltung darstellt, in der Aussiedler Verlust- und Enttäuschungserfahrungen kompensieren können (ebd., S. 186). <?page no="432"?> 432 Aussiedler treffen aufEinheimische tungssymbol. Deutschstämmigen Zuwanderem steht dieses Gemeinschaftssymbol nicht in gleicher Weise als Identitätsressource zur Verfügung wie die Geschichte ihres Volkes anderen ethnischen Remigranten, beispielsweise dem jüdischen Volk, zur Verfügung steht. 295 Der historische Ereigniszusammenhang, aus dem die Aussiedlungsbewegung maßgeblich hervorgegangen ist der Eroberungs- und Vernichtungskrieg, den das faschistische Deutschland zu verantworten hat erschwert auf eigentümliche Weise die Suche nach Anschlussmöglichkeiten an die Kollektivität der Deutschen. In dem Bewusstsein, dass Deutschland einen Eroberungskrieg gegen Russland geführt hat, ist es aus verschiedenen Gründen nicht leicht, in Deutschland und unter den Deutschen heimisch zu werden. Für Martha Klein (vgl. Kap. 4.3.3.2) trägt ffitlerdeutschland die Verantwortung dafür, dass großes Leid über die Menschheit, über die Russen und auch die Russlanddeutschen gekommen ist. Sie realisiert damit Geschichtsbezüge, die Distanz zu einer Täter-Nation wahren, Geschichtsbezüge, die die Kriegspolitik der Deutschen als verantwortlich für die Opferrolle, in die die Deutschstämmigen in Russland gerieten, ansehen. Solche Geschichtsbezüge verweisen auf eingeschränkte Identifikationsmöglichkeiten mit Deutschland und den Deutschen. Ankoppelungsbemühungen an die Kollektivität der Deutschen sind durch die Kriegsereignisse noch in anderer Elinsicht erschwert. Der Zweite Weltkrieg ist im Bewusstsein der Russlanddeutschen nicht nur der historische Rahmen, der ein kollektives Trauma verursacht hat. Er ist für Katharina Krüger (vgl. Kap. 2.6) auch der Geschichtsprozess, durch den Zugehörigkeitsempfindungen zu Deutschland geweckt, Identifikation mit dieser „Kultur-Nation“ intensiviert und das Streben nach einem Leben in der Kollektivität der Deutschen verstärkt worden sind. Bei ihr erfolgt ein Umgang mit jüngerer Angehörigen des jüdischen Volkes stehen in kanonisierten Schriften kulturelle Ressourcen zur Identifizierung mit dem Land und dem Volk, in das sie zurückkehren (oder dem sie sich verbunden fühlen) zur Verfügung. Auch können sie sich konsequent als Angehörige einer verfolgten Schicksalsgemeinschaft begreifen. Wenn sie sich als einem Volk zugehörig begreifen, das schwere Schuld auf sich geladen hat und das zu Recht von Gott bestraft worden ist, ist damit Identifizierbarkeit mit der Geschichte des eigenen Volkes nicht in dem Maße erschwert, wie dies bei einer Nation der Fall ist, die in jüngerer Zeit anderen Nationen Eroberungskriege aufgezwungen und die unsägliche Schuld des systematischen Ausrottungsversuches eines anderen Volkes auf sich geladen hat. <?page no="433"?> Theoretische Modellierung der Befunde 433 deutscher Geschichte, der in weiten Teilen der einheimischen Deutschen auf wenig Verständnis stößt, zumindest in den Bevölkerungskreisen, die sich von den dunklen Flecken in der deutschen Geschichte distanzieren. Die Geschichte Deutschlands ist aber noch aus anderen Gründen nur bedingt tauglich als Gemeinschaftssymbol. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges unterliegen Verdrängungsmechanismen bei den Binnendeutschen ebenso wie bei den deutschstämmigen Zuwanderem. Tendenziell verringert sich damit die Bedeutung dieser Ereignisse für die hoheitsstaatliche Regulierung nationaler Einschlüsse, vor allem aber für Zugehörigkeitskonzeptionen, von denen sich Binnendeutsche wie auch Aussiedler selbst leiten lassen. Darüber hinaus spielt hier eine wichtige Rolle, dass die Figur des Opfers der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges nicht allein von Deutschstämmigen aus Russland, sondern auch von den einheimischen Deutschen beanspruchbar ist. Unter Binnendeutschen existieren Haltungen zu den Kriegsereignissen, die durch eigene biografische Leidenserfahrungen oder familiäre Verluste geprägt sind [in "russland is mein mann gebliebeer is nich mehr zurickgekomm vom krieg; siehe Kap. 4.3.3.2]. Auch die Tatsache, dass Einheimische der älteren Generation unter Bezug auf harte Entbehrungszeiten und strapaziöse Aufbauleistungen nach dem Kriege sich als Angehörige einer kriegsgeschädigten Schicksalsgemeinschaft begreifen können, steht der alleinigen Beanspruchung der Rolle des Kriegsopfers durch Aussiedler entgegen. Wo Aussiedler auf Binnendeutsche stoßen, die sich selbst als Opfer des Zweiten Weltkrieges 296 sehen, unterliegt die von Russlanddeutschen eingenommene Selbstsicht als Opfer nivellierenden und herabstufenden Relevanzeinordnungen. Schließlich spielt hier auch Folgendes hinein: Die von Stalin ergriffenen Zwangsmaßnahmen gegen die Deutschstämmigen in der Sowjetunion machten sie sowohl zu Trägem der Kollektivschuld für den Zweiten Weltkrieg (da sie als Verbündete der deutschen Faschisten behandelt wurden) als auch zu Opfern des Dritten Reiches. In diesem historischen Zusammenhang betrachtet können Aussiedler auch als Repräsentanten eines „guten Deutschlands“ 297 gelten, das nicht in eins gesetzt werden kann mit 296 Ein solches Selbstverständnis ist insbesondere unter den älteren Binnendeutschen verbreitet; vgl. Nienaber (1995, S. 456). 297 Zur Unterscheidung zwischen dem guten und dem bösen Deutschland siehe auch Thomas Manns Rede über „Deutschland und die Deutschen“, die er nach seiner Emigration in den USA gehalten hat; vgl. Thomas Mann (1986, S. 701-723). <?page no="434"?> 434 Aussiedler treffen aufEinheimische dem Nazideutschland, das Kriegspolitik und Völkermord zu verantworten hat. Die Deportationen und Zwangsrekrutierungen in die Trud-Armee machten die Russlanddeutschen zu Deutschen, die letztlich durch den deutschen Faschismus zu Leidtragenden und Opfern wurden. Damit gehören sie zu den wenigen Deutschen, die nicht der Kollektivschuld des Hitler-Deutschland anheim gefallen sind. In historischer Sicht repräsentieren sie das „gesittete“ Deutschland; sie verkörpern dieses bessere Deutschland aber als ‘einfache’ oder ‘kleine Leute’ 2 ’* und befinden sich damit gewissermaßen in einer schwächeren Konkurrenzposition als die Deutschen der Goethe-Kultur- Nation oder die Protagonisten eines sozialistischen Deutschland. Normalisierungsstrategien der Kriegsschuldfrage Auf Grund der Ereignisse während des Angriffskrieges und auf Grund des systematischen Völkermordes während der nationalsozialistischen Herrschaft besitzt das Land, in dem Aussiedler Aufnahme suchen und aus dem ihre Väter und Urväter stammen, den Makel einer Tätemation. Sofern auf diese Tatsache nicht mit Ausblendungen und Verdrängungen reagiert wird, sind besondere legitimatorische Konstrukte gefragt, durch die die eigene Lebensgeschichte mit dem Unheil deutscher Geschichte in Einklang gebracht werden kann. Die in dieser Untersuchung herangezogenen Materialien können die Frage, wie Aussiedler mit der Ambivalenz deutscher Geschichte umgehen, nicht erschöpfend beantworten. Es sei hier aber auf zwei in den Gesprächsmaterialien erkennbare - Deutungsschemata hingewiesen; sie lassen sich auch als Normalisierungsstrategien im Umgang mit der Kriegsschuldfrage ansehen: - Auf die Kriegsverantwortlichkeit des Dritten Reiches wird so Bezug genommen, dass sie als historisches Faktum präsent ist, ohne das Verhältnis zu den Binnendeutschen damit sonderlich zu belasten. Ein solches Deutungsschema zeichnet sich dadurch aus, dass die Kriegsschuldfrage unter Verweis auf politische Machtstrukturen, denen die ‘kleinen Leute’ unterworfen sind, geklärt wird. Somit wird eine Sozialkategorie enaktiert, die Schuldlosigkeit an den Kriegsereignissen als grundlegende Gemeinsamkeit mit dem einheimischen Deutschen definierbar macht. Diese Sozialkategorie entnehme ich einem Erzählzusammenhang, in dem sich Martha Klein zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion äußert. <?page no="435"?> Theoretische Modellierung der Befunde 435 - Ein anderes, in den Materialien auffindbares Deutungsschema zielt darauf, das Kriegsgeschehen einem biologistischen Menschenbild folgend zu normalisieren: Dass der Starke sich gegenüber dem Schwachen zu behaupten versucht, wird dabei als naturwüchsiger Bestandteil der Menscheitsgeschichte angesehen. Die Mobilisierung solcher Deutungsschemata verweist auf besondere interpretative Leistungen, derer es bedarf, um über die problematische deutsche Geschichte hinweg Beziehungen zu Hiesigen eingehen und das Einleben in Deutschland gestalten zu können. Die skizzierten Deutungsschemata lassen die Tatsache, dass Anschluss an eine Täter-Nation gesucht wird, weniger diskrepant erscheinen. Ihre pragmatische Funktion in konkreten Interaktionssituationen mit Einheimischen besteht darin, Belastungspotenzial, das in der Kollektivvergangenheit der Deutschen für die konkrete Beziehungsgestaltung besteht, einzuklammem, darin also, Brüche, die zwischen der Aussiedlerbiografie und der deutschen Geschichte bestehen, zu kitten. 7.3.6 Entfremdung von der bundesdeutschen Gesellschaft durch Existenz anderer Fremder Die in Vorstellungen von Heimkehr und kultureller Homogenität gründende Hoffnung darauf, dass die in Deutschland Lebenden nicht extrem fremd sind, erweist sich noch in anderer Hinsicht als trügerisch: Deutschland, das Land in dem Bewahrung kultureller Identität gesucht wird, wird auch durch die Anwesenheit anderer Migrantengruppen zu einem Land der Fremden. Andere Fremde können prägnantes Symbol dafür sein, dass die Verhältnisse in Deutschland nicht so sind, wie man sie sich vorgestellt hatte. Dabei ist es nicht einfach der Umstand, nicht-deutsche Bevölkerungsgruppen vorzufinden, der Irritationen auslöst. Es ist vor allem die Tatsache, dass darunter Angehörige jener ethnischen Gemeinschaften sind, zu denen ein spannungsreiches Zusammenleben im Herkunftsgebiet erinnerbar ist. Gemeint sind hier Angehörige muslimischer Völker, die von Aussiedlern in Anspielung auf die charakteristische Haarfarbe auch als ‘die Schwarzen’ bezeichnet werden.“ 99 299 Ich beziehe mich hier auf Gespräche, die ich mit Aussiedlem fuhren konnte und in denen sie Initiativen zur Thematisierung der Existenz von Ausländern in Deutschland starteten. Auf die besondere Irritation, die für manche Aussiedler von der Anwesenheit der so genannten Schwarzen ausgeht, wurde ich erstmals in Interviews mit professionellen Aussiedlerbetreuern aufmerksam. Die abwertende Wahmehmungsweise ausländischer Mitbürger als Angehörige muslimi- <?page no="436"?> 436 Aussiedler treffen aufEinheimische Während die Anwesenheit von deutschstämmigen Zuwanderem aus anderen Herkunftsländern Auseinandersetzungen um das „bessere“, um das authentischere Deutschsein hervorruft, werden durch die Anwesenheit von Fremden anderer ethnischer Herkunft Fragen nach deren prinzipieller Aufenthaltsberechtigung für den historischen Heimkehrer virulent. Mit der Anwesenheit anderer ethnischer Gruppen in Deutschland wird bei den deutschstämmigen Zuwanderem Vertrauen in den aufnehmenden Staat tendenziell untergraben, weil Besorgnis um die Zuwanderungschancen der noch in den Herkunftsgebieten lebenden Deutschen sowie Besorgnis um die eigenen Existenzsicherungschancen im Aufnahmeland aufkommt. Dass die Irritationen, die von der Anwesenheit anderer Zuwanderergmppen ausgehen, auch in Zweifeln an der Loyalität der Regierungsverantwortlichen gegenüber ihren Landsleuten in den Herkunftsgebieten einmünden können, ist nur auf der Basis der kollektiven Sinnwelten, die nationales Zugehörigkeitsdenken stützen, möglich. 7.3.7 Authentizitätsauseinandersetzungen deutscher als die anderen Aussiedler? Als eine Strategie zur Bewältigung der Fremdheitsproblematik habe ich oben die Selbsteinbindung in Herkunftsgemeinschaften diskutiert (vgl. Kap. 1.32.2). Dabei ging es um Solidarisierungsprozesse, die hauptsächlich in Aussiedler-Binnengemeinschaften wie dem Familienverband, dem Freundes- und Nachbarschaftskreis sowie in religiösen und landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen ablaufen. Die hier feststellbaren Bestrebungen der Binnenintegration dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch zu Tendenzen der Entsolidarisierung und der Konkurrenzverschärfung in der Gesamtheit derer, die als deutschstämmige Zuwanderer Aufnahme in der Bundesrepublik gefunden haben, kommt. Von zunehmender Konkurrenz innerhalb der Statusgruppe Aussiedler um das soziale Gut Arbeit bzw. auch um gering entlohnte Erwerbsmöglichkeiten berichtet Nienaber (1995). Innerhalb der Statusgruppe bestehen aber auch Konkurrenzverhältnisse, die sich auf den Anspruch der Zugehörigkeit zur Kollektivität der Deutschen und auf die Verkörperung des für die Hiesigen akzeptablen Aussiedlers beziehen. Im Prinzip geht es bei dieser Rivalität um scher Völker darf aber nicht als ein durchgäng und einheitlich ausgebildetes Stereotyp bei russlanddeutschen Aussiedlem angesehen werden; vgl. Wilkiewicz (1989, S. 56). <?page no="437"?> Theoretische Modellierung der Befunde 437 glaubwürdigeres Deutschsein und um höherrangige Aufenthaltsberechtigung in Deutschland. Eine wichtige Rolle spielt hier der Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftsgebietes. So ist bei Aussiedlem, die bereits sehr früh in die Bundesrepublik gekommen sind (in den 80er-Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts oder noch früher) festgestellt worden, dass der Ausreisezeitpunkt sozusagen als Verifikationskriterium des gelebten Deutschtums angesehen wird (vgl. Müller 1992, S. 354). Die später Gekommenen werden demgemäß als Aussiedler angesehen, deren Deutschtum weniger glaubwürdig oder authentisch ist, weil sie die Ausreise nicht unter den damals noch schwierigen Bedingungen betrieben haben und nicht so beharrlich um ihre Ausreise kämpfen mussten. Rivalität bezüglich des ‘besseren’ Deutschseins und der größeren kulturellen Verbundenheit mit Deutschland und Deutschtum besteht vor allem zwischen Aussiedlem aus den verschiedenen Herkunftsländern. Wie sich Auseinandersetzungen um das authentischere Deutschsein abspielen und welches Argumentationspotenzial dabei relevant ist, habe ich in Kap. 4.2.2 exemplarisch erläutert. Von Authentizitätsauseinandersetzungen dieser Art berichteten mir auch professionelle Aussiedlerbetreuer. Danach fühlen sich insbesondere Zuwanderer aus Rumänien in ihrem Deutschtum den Aussiedlem aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion weit überlegen. Symptomatisch für die Anspruchskonkurrenz (Nienaber 1995) um das authentische Deutschsein ist der Gebrauch pejorativer Kategorien für Angehörige der jeweils anderen Herkunftsgruppe. So hat Boll (1993) die Verwendung des Schimpfwortes „Polacken“ für Aussiedler aus Polen unter russlanddeutschen Aussiedlem beobachtet, während sie sich selbst durch Bezeichnungen als Russen durch die Hiesigen verletzt fühlen (ebd., S. 321). Aussiedlem aus Oberschlesien wiederum ist aus ihrer siedlungsgeschichtlichen Situation heraus eine Selbstsicht als Reichsdeutsche möglich, womit ihnen ein Kriterium gegeben ist, sich von den geografisch weiter entfernt lebenden Volksdeutschen aus Russland abzuheben. 300 Dass zwischen den Aussiedlergruppen, die sich nach Einreisezeitpunkt und Herkunftsland voneinander abgrenzen, Spannungen bestehen, hat auch etwas mit der Sorge um das Ansehen der eigenen Statusgruppe in der einheimischen 300 Der Begriff der deutschen Reichsangehörigkeit ist vor dem (nationalsozialistischen) Begriff der Volkszugehörigkeit entstanden; vgl. Nienaber (1995, S. 435- 446). <?page no="438"?> 438 Aussiedler treffen aufEinheimische Bevölkerang zu tun. Zum einen werden Nachzügler von jenen, die bereits vor ihnen nach Deutschland gekommen sind, für schlechter werdendes Sozialprestige verantwortlich gemacht. Zum anderen sind es bestimmte Verhaltensweisen und Erscheinungsbilder anderer Aussiedler, die eigene Stigmatisierungsängste wachsen lassen. Hier fallen nicht nur solche Vorkommnisse ins Gewicht, wie beispielsweise die, dass sich vor einem Kiosk oder vor Lebensmittelgeschäften Aussiedler zum gemeinsamen Alkoholverzehr versammeln (vgl. Meister 1997, S. 221), auch Schlagzeilen über kriminelle Delikte von Aussiedlerjugendlichen schüren die Stigmatisierungsängste. Nicht zuletzt gilt in den eigenen Reihen oftmals auch die Verwendung der Herkunftssprache in der Öffentlichkeit als ein zu missbilligendes Verhalten, da es den Identitätsanspruch als Deutsche untergräbt und Stigmatisierungspotenzial enthält. Geringe Solidarisierungsbereitschaft derer, die schon länger in Deutschland leben, mit den später Eingetroffenen, und Konkurrenzbeziehungen zwischen Aussiedlem aus unterschiedlichen Herkunftsländern erschweren prinzipiell solche Prozesse der Binnenintegration, die über familiale Netzwerke und den sozialen Nahbereich hinausgehen. 7.4 Mechanismen der Identitätsänderung im offiziellen Aufnahme- und Eingliederungsprozess Im Übergang vom Herkunftsland in das Aufnahmeland sind Aussiedler einer Reihe von institutioneilen Auflagen und professionellen Zugriffen ausgesetzt. Diese Auflagen und Zugriffe stehen im Zusammenhang mit den hoheitsstaatlichen Regulierungsprinzipien des Aufnahmeprozesses und mit den Bestrebungen, die Einbindung der deutschstämmigen Zuwanderer in Reziprozitätsmuster des Aufnahmelandes zu unterstützen bzw. nicht unkontrolliert vonstatten gehen zu lassen. Für die Identitätsarbeit von Aussiedlem sind die in den Händen staatlicher Institutionen und ihrer Eingliederungsprozessoren liegenden Maßnahmen von fundamentaler Bedeutung, da sie Auseinandersetzungsweisen mit neuen Existenzbedingungen stimulieren und organisieren. Die im Aufnahme- und Eingliederungsprozess angelegten Mechanismen der Identitätsänderung sind aber bezogen auf die offizielle Eingliederungsideologie nicht frei von kontrafaktischen Momenten. Das heißt, dass die Bedingungen und Praktiken, unter denen der aufnehmende Staat Zugehörigkeit zur Kollektivität des Aufnahmelandes herstellt, mit <?page no="439"?> Theoretische Modellierung der Befunde 439 Symbolisierungen einhergehen, die mit der nationalen Vergemeinschaftungsideologie nicht vereinbar sind und die die offiziell intendierte Identitätsgestaltung ‘als Deutscher unter Deutschen’ untergraben. Ich untersuche im Folgenden die mit der hoheitsstaatlichen Steuerung verknüpften Bedingungen des Übergangs in das Staatsvolk der Deutschen auf ihre ambivalenten Funktionen bei der Identitätsgestaltung in der Übergangssituation. Wichtige Bedingungen sind hier erstens der besondere Einbindungsmodus in die nationale Kollektivität, zweitens die Zuweisung eines sozialräumlichen Platzes in der Aufnahmegesellschaft, drittens die Beteiligung von Eingliederungsprozessoren an der Identitätsgestaltung sowie viertens spezifische Auflagen zum Gebrauch des Gemeinschaftssymbols Sprache. 7.4.1 Deutschwerdung im Zuge eines Beantragungsprocederes Das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren kann als ein Initiierungsritual angesehen werden es geht darin ja um das Abstreifen einer ehemaligen Kollektivzugehörigkeit und um die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft. Als Initiierungsritual regelt dieses Verfahren nicht einfach nur neue Zugehörigkeiten oder stellt diese her, der Übergang von einem Status zum anderen unterliegt damit auch Mechanismen sozialer Kontrolle und Selektion. Dies äußert sich darin, dass Aussiedlern eine Biografie abverlangt wird, die Deutschstämmigkeit verifizierbar bzw. die Aufnahme in Deutschland legitimierbar macht. Spätestens mit Initiierung des Aufnahmeverfahrens kommt so bei den Antragstellern biografische Arbeit in Gang, die auf Neubzw. Wiederentdeckung deutscher Kulturzugehörigkeit gerichtet ist. Insofern, als Aussiedler dabei biografischen und familiengeschichtlichen Fundierungen eines Lebens in deutschen Kulturbezügen nachspüren, wird Deutschwerdung im Identitätsbewusstsein intensiviert. Mit anderen Worten: Über die administrative Zuweisung der nationalen Identitätskategorie hinaus sorgt dieser Erwerbsmodus der nationalen Identitätskategorie dafür, dass Aussiedler sich selbst die biografischen und kollektivgeschichtlichen Voraussetzungen für nationale Zugehörigkeit aufzeigen und sich ihrer vergewissern. 301 301 Es sollte nicht übergangen werden, dass dieser Erwerbsmodus prinzipiell auch Chancen auf einen strategischen oder optionalen Umgang mit der nationalen Identitätskategorie eröffnet. Das heißt, dass es lohnend erscheinen kann, sich um den Erwerb der Identitätskategorie zu bemühen, ohne der nationalen Zugehörigkeit zu den Deutschen einen größeren ideellen Wert beizumessen. <?page no="440"?> 440 Aussiedler treffen aufEinheimische Der Selbstanspruch, ‘richtige Deutsche’ zu sein, wird durch das Aufnahme- und Anerkennungsverfahren also miterzeugt. Auf diesem Wege wird eine Haltung zum eigenen Selbst generiert, die sich als Eigensicht formuliert so umschreiben lässt: ‘Ich werde geprüft, ob ich aufgenommen und dazu gehören kann. Und ich muss nicht nur einmal, ich muss immer wieder meine Zugehörigkeitsberechtigung, mein Deutschsein, unter Beweis stellen.’ Diese Identitätshaltung ist nicht schon mit den biografischen und kollektivgeschichtlichen Erfahrungsbeständen der Betroffenen gegeben, sie entsteht im Aufnahme- und Anerkennungsverfahren. Biografiekonstruktionen fungieren dabei als Erwerbsbedingung der nationalen Identitätskategorie, d.h., dass es nicht um die tatsächlich gelebte Biografie geht, sondern darum, eine Biografie vorweisen zu können, die auf evidente Weise mit deutscher Kultur verbunden ist. Auf diesem Wege Deutscher zu werden, hat für die Betroffenen zur Folge, dass sie unter Beweisdruck ihrer Identität als Deutsche geraten. In konkreten Begegnungen mit Einheimischen manifestiert sich dieser Druck in Formen interaktiver Identitätsarbeit, die sich auch als Bewältigungsstrategien der Folgeprobleme von Passing-Verhalten 302 ansehen lassen. Die problematische Seite dieser Identitätshaltung habe ich bereits bei den Ausführungen zur Erlebnishaltung des historischen Heimkehrers (Kap. 7.3.1) gestreift eine Selbstsicht als Fremder und als Betroffener eines Marginalisierungsprozesses ist weitgehend tabuisiert. Das heißt, alles, was dem nationalen Zugehörigkeitsdenken und der Vergemeinschaftungsideologie entgegensteht, kann von den Betroffenen nur schwer zugelassen werden. Dadurch aber wird Identitätsarbeit, die der marginalen Lebenslage Rechnung trägt, erschwert. Selbstwahmehmungen im Vorstellungshorizont kultureller Homogenität und nationaler Zugehörigkeit fuhren zu Identitätshaltungen, in denen Aussiedler sich vergegenwärtigen, bereits Deutsche zu sein. Dies aber behindert, dass sie offen und konsequent von der Fremdheitskategorie als Selbstauslegungsressource und als Ressource der Interaktionsgestaltung Gebrauch machen können. Für die Restabilisierungs- und Neuorientierungsbemühungen von Zuwanderem in der aufnehmenden Gesellschaft ist es nicht nur wichtig, einen anerkannten Status als Fremde einnehmen zu können, die Neuankömmlinge selbst müs- 30 " Unter „Passing“ wird allgemein der Versuch verstanden, „als rassistisch stigmatisierte, aber vom Phänotypus nicht eindeutig identifizierbare Personen [sich] mit Hilfe eines Identitäts- und Ortswechsels [...] der herrschenden Gruppe zurechnen zu lassen“ (Heckmann 1992, S. 205). Ich komme in Kap. 7.6 auf diese Problematik zurück. <?page no="441"?> Theoretische Modellierung der Befunde 441 sen sich auch in ihrer Fremdheit erkennen und anerkennen. Als Gestaltungsressource der Lebenslage, die durch Migration entsteht, kann die Fremdheitskategorie aber nur dann produktiv werden, wenn eine Selbstsicht möglich ist, die die eigene Fremdheit fokussiert. Nun zu einer anderen Implikation des aussiedlerspezifischen Erwerbsmodus der Staatsangehörigkeit. Während Binnendeutsche i