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Johann Wolfgang Goethe – Johann Gottfried Jacob Hermann

Briefwechsel 1820-1831

1217
2018
978-3-8233-7249-3
978-3-8233-6249-4
Gunter Narr Verlag 
Christoph Michel

Erstmals wird hier der für Goethes dramatisches Alterswerk hoch bedeutsame Briefwechsel mit dem berühmten Leipziger Altphilologen Gottfried Hermann (1772-1848) komplett vorgelegt, nachdem bisher nur Goethes Briefe vollständig publiziert worden waren. Der Band erschließt durch eine detaillierte Chronik der bereits 1797 beginnenden Kontakte sowie durch die Beigabe von Texten Goethes, die sich Hermanns Anregungen verdanken, eine Wechselbeziehung, wie Goethe sie zuvor ähnlich, doch persönlich konfliktreich, mit dem Gräzisten Friedrich August Wolf durchlebt hatte. Hermanns Briefe, begleitet von seinen Abhandlungen und Textausgaben, erhellen vor allem Goethes Bemühungen um die Rekonstruktion antiker Tragödien-Fragmente. Nicht zuletzt dieser Einblick in das virtuose Zusammenspiel von Dichtung und Philologie könnte auch heute wieder das Interesse an den Alten Sprachen und den antiken Stoffen neu beleben.

<?page no="1"?> Johann Wolfgang Goethe - Johann Gottfried Jacob Hermann Briefwechsel 1820-1831 <?page no="2"?> L eipziger S tudien zur kLaSSiSchen p hiLoLogie 4 Neubegründet von Ekkehard Stärk (†) und Kurt Sier Herausgegeben von Marcus Deufert, Ursula Gärtner und Kurt Sier <?page no="3"?> Johann Wolfgang Goethe - Johann Gottfried Jacob Hermann Briefwechsel 1820-1831 Auf Grundlage der Vorarbeiten von Ernst Günther Schmidt und Ekkehard Stärk herausgegeben von Christoph Michel <?page no="4"?> Umschlagabbildungen: Bild links: J. W. v. Goethe. Ölgemälde von Gerhard v. Kügelgen 1808/ 09. Bild rechts: Gottfried Hermann. Ölgemälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein 1841. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-2186 ISBN 978-3-8233-6249-4 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung (E. G. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 1797-1831 (E. G. Schmidt / Ch. Michel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Briefwechsel 1820-1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Beilagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1 Wilhelm v. Humboldt an Goethe über Hermanns „Metrik“ . . . . . . . . . . . 69 1a Wilhelm v. Humboldt an Goethe, Jena, 10. Februar 1797 . . . . . . . . . 69 1b Wilhelm v. Humboldt an Goethe, Jena, 16. Februar 1797 . . . . . . . . . 69 2 Gottfried Hermann: De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio (1817; Auszug, lat. / dt.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3 Friedrich Creuzer an Goethe, Heidelberg, 12.-14. September 1817 . . . . 79 4 Gottfried Hermann / Friedrich Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus, vorzüglich / über die Theogonie (1818). Fünfter Brief: Hermann an Creuzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5 Gottfried Hermann / Friedrich Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus, vorzüglich über die Theogonie (1818). Aus dem Sechsten Brief: Creuzer an Hermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6 Goethe an Friedrich Creuzer, Weimar, 1. Oktober 1817 . . . . . . . . . . . . . . . 95 7 Goethe an Sulpiz Boisserée, Weimar, 17. Oktober 1817 . . . . . . . . . . . . . . . . 96 8 Goethe an Sulpiz Boisserée, Weimar, [10.-]16. Januar 1818 . . . . . . . . . . . 96 9 Goethe: Geistes-Epochen. Nach Hermanns neusten Mittheilungen (1817) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 10 Goethe: Urworte. Orphisch (1817; 1820) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 11 Gottfried Hermann: Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer (1819) . . . . . . . . . . . . 103 12 Johann Heinrich Meyer: Iliadis fragmenta (1820) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 13 Goethe: Der Horn (1820) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken (1821 / 1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 15 Goethe: Zu Phaethon des Euripides (1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 16 Goethe: Zum „Kyklops“ des Euripides (1823 / 1824 / 1826) . . . . . . . . . . 128 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 17 Goethe: Die tragischen Tetralogien der Griechen: Programm von Ritter Hermann (1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 18 Goethe: Philoktet, dreifach [Philoktet-Studien] (1826) . . . . . . . . . . . . . . 135 19 Goethe: „Die Bacchantinnen“ des Euripides (1826) . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 20 Goethe: Euripides’ Phaethon (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 21 Gottfried Hermann: Widmung seiner Ausgabe von Euripides’ „Iphigenia in Aulide“ (1831) an Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 22 Gottfried Hermann: Aus der Vorrede seiner Ausgabe von Euripides’ „Iphigenia Taurica“ (1833; lat. / dt.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Nachwort: „Programm“ und Fragment. Zur Eigenart des Briefwechsels zwischen Goethe und Hermann (Ch. Michel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Editorische Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Namen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 <?page no="7"?> Siglen und Abkürzungen AA-Ls Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Text, Bd. 4: Überlieferung, Varianten und Paralipomena zu Bd. 1, bearb. v. Edith Nahler, Berlin 1970/ 76 (Akademie-Ausgabe) Bapp Kurt Bapp, Aus Goethes griechischer Gedankenwelt, Leipzig 1921 BG Johann Wolfgang Goethe, Begegnungen und Gespräche, hg. von Renate Grumach, Bde. IV u. V, Berlin, New York 1980 u.1985 Bursian II Conrad Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zweite Hälfte, München und Leipzig 1883 (4. Buch, 2. Kapitel: „Die Fortbildung der Alterthumswissenschaft durch G. Hermann und A. Boeckh“, S. 665-705; 3. Kapitel: „Die grammatisch-kritische Richtung der Philologie unter dem Einflusse G. Hermann’s“, S. 706-971) BW Goethe - Carl August Briefwechsel des Herzogs-Großherzogs Carl August mit Goethe, hg. von Hans Wahl, 3 Bde., Berlin 1915-1918 BW Goethe - Voigt Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt, bearb. u. hg. von Hans Tümmler, 4 Bde. (Bd. 3 u. 4 unter Mitwirkung von Wolfgang Huschke), Weimar 1949-1962 (= SchrGGes Bd. 53-56) DjG³ Der junge Goethe, hg. v. Hanna Fischer-Lamberg, 5 Bde. u. Registerbd., Berlin und New York 1963-1974 EGW Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Begründet von Momme Mommsen. Fortgeführt und hg. von Katharina Mommsen. Bd. IV: Entstehen - Farbenlehre, Berlin, New York 2008; Bd. VII: Hackert - Indische Dichtungen, ebd. 2015 <?page no="8"?> 8 Siglen und Abkürzungen FA Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bde. 1-39 (in 43), hg. von Friedmar Apel u. a., Frankfurt a. M. 1985-1999; Bd. 40.1 u. 40.2: Das Register zum Gesamtwerk, hg. von Christoph Michel, Berlin 2013 (Frankfurter Ausgabe) Fischer Paul Fischer, Goethe-Wortschatz. Ein sprachgeschichtliches Wörterbuch zu Goethes sämtlichen Werken, Leipzig 1929 GG Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn v. Biedermann ergänzt und hg. von Wolfgang Herwig, 5 Bde. (in 6), Zürich (ab Bd. 2: Zürich und Stuttgart; ab Bd. 4: Zürich und München) 1965-1987 GHb 3 Goethe Handbuch, hg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto, Peter Schmidt, 4 Bde. (in 5), Stuttgart/ Weimar 1991-1998 GJb Goethe-Jahrbuch, 1880ff. (Gesamtsigle für alle bisher erschienenen Bände) Goethe und Leipzig Wolfgang Freiherr v. Biedermann, Goethe und Leipzig. 2. Teil: Goethe’s spätere Beziehungen zu Leipzig, Leipzig 1865 Grumach Ernst Grumach, Goethe und die Antike. Eine Sammlung, 2 Bde., Potsdam 1949 GT Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hg. vom Goethe- und Schiller-Archiv, Stuttgart/ Weimar 1998ff. GWb Goethe Wörterbuch, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR (seit 1994: von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), der <?page no="9"?> Siglen und Abkürzungen 9 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stuttgart u. a. 1966ff. HA Goethes Werke in 14 Bänden (Hamburger Ausgabe), hg. von Erich Trunz u. a., Hamburg 1948 (zitiert nach der Neuauflage München 2000) HA-BaG Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 2 Bänden. Gesammelt, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow, München ³1988 (zuerst: Hamburg 1965) Hagen Die Drucke von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen, Berlin 1971 Hermann-Symposion 2007 Kurt Sier / Eva Wöckener-Gade (Hg.), Gottfried Hermann (1772-1848). Internationales Symposion in Leipzig 11.-13. Oktober 2007, Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2010 Jahn I Otto Jahn, Gottfried Hermann. Eine Gedächtnisrede, Leipzig 1849; auch in: ders., Biographische Aufsätze, Leipzig 1866, S. 89-132 Jahn II Goethe’s Briefe an Leipziger Freunde, hg. von Otto Jahn, Leipzig 2 1867 Keudell Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis der von ihm entliehenen Werke, bearb. von Elise v. Keudell, Weimar 1931 (Reprint Leipzig 1982) Köchly Hermann Köchly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Heidelberg 1874 LA Johann Wolfgang Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe, hg. im Auftrage der Deutschen Akademie <?page no="10"?> 10 Siglen und Abkürzungen der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle, begründet von Karl Lothar Wolf und Wilhelm Troll, hg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhard, Weimar 1947ff. Leitzmann Wilhelm von Humboldts Briefe an Gottfried Hermann. Mitgeteilt und erläutert von Albert Leitzmann, Weimar 1929 (Sonderdruck [mit eigener Paginierung, S. 1-50] aus der Festschrift zum 70. Geburtstag von Walther Judeich, Weimar 1929, S. 224-270) MA Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), hg. von Karl Richter u. a., Bde. 1-21 (in 33), München/ Wien 1985-1998 (Bd. 21 = Register sämtlicher Werke [Goethes], bearb. von Gisela Fichtl); Register der Namen, Werke und Orte, hg. und bearb. von Sebastian Mangold, Edith Zehm und Karl Richter, München 2014 Maass Ernst Maass, Goethe und die Antike, Berlin 1912 Opuscula Gottfried Hermann, Opuscula, Bde. I-IV, Leipzig 1827-1831 Petersen Uwe Petersen, Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption der Goethezeit, Heidelberg 1974 Primer Paul Primer, Goethes Beziehungen zu Gottfried Hermann. Schulprogramm des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums Frankfurt a. M. 1913 RA Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Weimar 1980ff. (bis 2017 erschienen: Briefe 1764-1822 in 9 Bdn [ab Bd. 6 in je 2 Teilbänden: Regesten / Register] sowie ein Ergänzungsband zu den Bänden 1-5, 1995); s. auch u., S.-18, Anm.-15 <?page no="11"?> Siglen und Abkürzungen 11 Reiter: Besprechung Primer Siegfried Reiter, Besprechung von Paul Primer, Goethes Beziehungen zu Gottfried Hermann. In: Sokrates NF 2, 1914, S. 643-650 Reiter: Wolf Friedrich August Wolf, Ein Leben in Briefen. Die Sammlung besorgt und erläutert durch Siegfried Reiter, 3 Bde., Stuttgart 1935 Ruppert Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeiter der Ausgabe Hans Ruppert, Weimar 1958 Ruppert 1959 Hans Ruppert, Goethe und die Altertumswissenschaftler seiner Zeit, in: Forschungen und Fortschritte 33, 1959, S. 230-236 Schadewaldt Wolfgang Schadewaldt, Goethes Beschäftigung mit der Antike [1949], in: ders., Goethestudien. Natur und Altertum, Zürich/ Stuttgart 1963, S. 23-126 Schwinge Ernst-Richard Schwinge, Goethe und die Poesie der Griechen (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz] 1986. 5), Wiesbaden/ Stuttgart 1986 WA Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I-IV. Bde. 1-136 (in 143), Weimar 1887-1919 (Nachdrucke Tokyo 1975 und München 1987) (Weimarer Ausgabe) WAN Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Nachträge und Register zur IV. Abteilung: Briefe. Hg. von Paul Raabe. Bde. 51-53, München 1990 Weisinger Ken D. Weisinger, Goethe’s Phaethon . In: DVjs 48, 1974, S. 154-192 Tgb Goethe: Tagebücher TuJ Goethe: Tag- und Jahres-Hefte UPr Universitäts-Programm <?page no="12"?> Abb. 1: Johann Wolfgang v. Goethe. Ölgemälde von Gerhard v. Kügelgen (1808/ 1809) <?page no="13"?> Abb. 2: Johann Gottfried Jacob Hermann. Ölgemälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein (1841) <?page no="15"?> Einleitung 15 Einleitung Von Ernst Günther Schmidt Am 2. November 1831 übersandte Gottfried Hermann (1772-1848), Professor der Universität Leipzig, 1 nach Friedrich August Wolfs Tod (1824) wohl der pro- 1 Über ihn (ausser der bereits unter „Siglen und Abkürzungen“ verzeichneten Literatur: Bursian II; Jahn I/ II; Hermann-Symposion 2007; Köchly; Petersen): E. Platner, Zur Erinnerung an Gottfried Hermann . In: ZfdA 7 (1849), Sp. 1-11; K. F. Ameis, Gottfried Hermann’s pädagogischer Einfluß. Ein Beitrag zur Characteristik des altclassischen Humanisten , Jena 1850; J. P. v. Falkenstein, Einige Randbemerkungen zu H. Köchlys „Gottfried Hermann“ . In: Jbb für classische Philologie 22 (1876), S.-1-11 (darin, S.-2f., der Bericht über Hermanns nach anfänglicher Skepsis begeisterte Aufnahme von Felix Mendelssohn-Bartholdys Vertonung der „Antigone“-Chöre 1841); C. Bursian, Artikel „ Hermann, Gottfried“ . In: ADB 12 (1880), S.-174-180; A. B. Volkmann, Gottfried Hermanns lateinische Brief e, Heidelberg 1882; Euripides, Herakles . Erklärt von U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Bd. 1, Berlin 1889, S.-235-244 (zahlreiche Nachdrucke, zuletzt 1988); E. Bethe, Gottfried Hermann . In: Sächsische Lebensbilder 2, 1938, S.- 198-206; E. Fraenkel, The Latin Studies of Hermann and Wilamowitz . In: Journal of Roman Studies 38 (1948), S.-28-34; C. Lehmann, Die Auseinandersetzung zwischen Wort- und Sachphilologie in der deutschen Klassischen Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts , Diss. HU Berlin 1964 (vgl. dies., Sach- und Wortphilologie in der deutschen Klassischen Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts . In: WZBerlin 36 [1987], S.-15-19); H. J. Mette, Artikel „ Hermann, Gottfried“ . In: NDB 8 (1969), S.-657f.; R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship. From 1300 to 1850 , Oxford 1976, S.- 176-178 (dt. Ausgabe : Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. Aus dem Englischen übertr. v. M. u. E. Arnold, München 1982, S.-218f.); E. Vogt, Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie . In: H. Flashar, K. Gründer, A. Horstmann (Hgg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften , Göttingen 1979, S.- 103-121; St. L. Radt, Welcker und die verlorene Tragödie . In: W. M. Calder III, A. Köhnken, W. Kullmann, G. Pflug (Hgg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung , Wiesbaden und Stuttgart 1986 (Hermes Einzelschriften 49), S.-157-178; E. G. Schmidt, Gottfried Hermann . In: W. W. Briggs, W. M. Calder III (Hgg.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia , New York/ London 1990, S.-160-175 (mit Bibliographie); A. Horstmann, Antike Theorie und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie , Frankfurt a. M. u. a. 1992, S.- 101-115; W. Nippel, Philologenstreit und Schulpolitik. Zur Kontroverse zwischen Gottfried Hermann und August Böckh . In: Geschichtsdiskurs , hg. von W. Küttler, J. Rüsen, E. Schulin, Bd. 3: „Die Epoche der Historisierung“, Frankfurt a. M. 1997, S.- 244-253; I. Benecke-Deltaglia und E. G. Schmidt, Zum 150. Todestag von Gottfried Hermann. Stücke aus dem Nachlaß . In: Philologus 142 (1998), S.-335-358; W. M. Calder III, Gottfried Hermann to Thomas Gaisford. An Unpublished Letter , ebd., S.-359-360; E. Medda, ‚Sed nullus editorum vidit‛. La filologia di Gottfried Hermann e l’„Agamemnone‟ di Eschilo , Amsterdam 2006; Ch. Michel, Artikel „Hermann, Gottfried“ . In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), 2., überarb. u. erw. <?page no="16"?> 16 Einleitung minenteste unter den deutschen Klassischen Philologen, 2 Goethe seine eben erschienene Ausgabe der Euripideischen Iphigenie in Aulis . 3 Zum einen setzte er damit fort, was ihm seit 1820, seit seiner Begegnung mit Goethe in Karlsbad, zur Gewohnheit geworden war: dem Dichter, seinem Bewunderer, diejenigen seiner Publikationen, für die er Goethes Interesse voraussetzen konnte, zukommen zu lassen. Diesmal hatte es mit der Sendung jedoch noch eine andere Bewandtnis: Hermann überraschte Goethe damit, dass er ihm die Ausgabe widmete: GOETHIO TAURICA IPHIGENIA SPIRITUM GRAIAE TENUEM CAMENAE GERMANIS MONSTRATORI D. G. H. 4 Für diese Geste hatte Hermann die passende Gelegenheit abgewartet: Beziehungsvoll eignete er Goethe, dessen Iphigenie auf der Taurischen Iphigenie des Euripides fußte, seine Ausgabe des anderen Euripideischen Iphigenie-Dramas zu. Ausgabe, hg. v. R. Vierhaus, Bd. 4, München 2006, S.- 733f.; M. L. West, Hermannus de argumentis tragicis restituendis . In: Hermann-Symposium 2007, S.-265-276. 2 Zu den ihm international zuteil gewordenen öffentlichen Anerkennungen vgl. die Dokumentation zur Leipziger Feier des 50jährigen Magisterjubiläums Hermanns im Dezember 1840 bei Benecke-Deltaglia / Schmidt (wie Anm. 1), S.- 339-352. Die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien wählte Hermann 1848 zum Ehrenmitglied; sie stellte ihn damit neben M. Faraday, K. F. Gauß, J. Grimm, F. Guizot, A. v. Humboldt, J. v. Liebig, A. Mai und C. Ritter und reihte ihn so unter die führenden Wissenschaftler der Zeit ein; s. das Verzeichnis der ausländischen Ehrenmitglieder im Bericht über die feierliche Eröffnungssitzung am 2. Februar 1848, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 1. Heft, Wien 1848, S.-5-55, hier 39f.; ein Nachruf auf das Ehrenmitglied in: Die feierliche Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 29. Mai 1852, Wien 1852. 3 Euripidis Iphigenia in Aulide , rec. G. Hermannus, Leipzig 1831. 4 So das Widmungsblatt. Die Zeile spiritum Graiae tenuem Camenae ist unverändert Horaz’ Ode an Pompeius Grosphus entnommen (carm. 2, 16, 38); vgl. Petersen, S.-204, Anm. 1, der mit dem Hinweis „Die Widmung in sapphischen Hendekasyllaben“ (nach A. Beck) allenfalls die halbe Wahrheit gibt ‒ ein sapphischer Elfsilbler ist natürlich nur die von Horaz stammende Zeile. Primer, S.- 28, Anm. 4, gibt eine dt. Übers. der Widmung: „G. Hermann widmet dies Werk Goethen, der durch seine Iphigenie auf Tauris den Deutschen den feinen Geist der griechischen Muse gezeigt hat.“ Vgl. auch Köchly, S.-64. ‒ Bereits 1820 hatte der Altphilologe Karl Christian Reisig (1792-1829) („Hermanns genialster Schüler“ [Primer, S.-29]) Goethe durch eine Widmung geehrt, die ihn als „Triumvir“ seinen Lehrern Wolf und Hermann an die Seite stellte: „Aristophanis Nubes Auctore Carolo Reisigio Goethio Wolfio Hermannio Salutem. Lipsiae 1820“ (s. Bernays, S.- 80, Anm. 45; bereits 1816 waren Hermanns Konjekturen zu Aristophanes erschienen). Am 15. 9. 1820 übersandte Reisig Goethe die Edition mit einem Begleitschreiben (s. GT VII, S.-1270; RA <?page no="17"?> Einleitung 17 Goethe antwortete Hermann wenige Tage später, am 12. November 1831, mit einem Brief, der durch das Dankbekenntnis denkwürdig ist, er schulde Hermann „die angenehmsten“, ja, „die glücklichsten Augenblicke“ seines Lebens. 5 Kein Zweifel, hier ist ein Briefwechsel und zugleich eine Folge von Kontakten auf einen Höhepunkt geführt, für den es auch in den reichen Korrespondenzen Goethes kaum ein Gegenstück gibt. Umso mehr verwundert es, dass die Briefe, die Goethe und Hermann gewechselt haben, bis heute nicht vollständig publiziert sind. Die fünf Briefe Goethes an Hermann sind zwar seit langem bekannt. Woldemar von Biedermann hatte sie 1865 erstmals herausgegeben, allerdings nicht fehlerfrei, 6 Otto Jahn 1867 den Biedermannschen Text nachgedruckt, mit allen Fehlern; 7 1905-1909 erschienen sie in der Weimarer Ausgabe der Werke Goethes in korrektem Wortlaut. 8 Dagegen ist von den neun Briefen Hermanns an Goethe bislang nur einer veröffentlicht, und noch dazu an entlegener Stelle. 9 Als der Frankfurter Gymnasialprofessor Paul Primer im Jahre 1913 die bis heute umfänglichste Darstellung der Beziehungen zwischen Goethe und Hermann vorlegte, 10 wollte er die Brieftexte beigeben. Der Direktor des Weimarer Goethe- und Schillerarchivs, der Goetheforscher Wolfgang von Oettingen, verwehrte ihm jedoch die Einsichtnahme unter Hinweis auf ein eigenes Vorhaben (das aber nicht zustande kam) und stellte nur knappste Auszüge zur Verfügung. 11 Siegfried Reiter, Gräzist an der Deutschen Universität in Prag ‒ der später von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt und weiter nach Polen verschleppt wurde und dort vermutlich in einem Lager ums Leben kam 12 ‒, bedauerte in einer Besprechung der Arbeit Primers die Verzögerung nachdrücklich und wies der Klassi- 9/ 1, Nr. 446; Ruppert, Nr. 1243). Reisig war bei Goethes Treffen mit F. A. Wolf im Oktober 1820 in Jena zugegen; s. TuJ 1820: „Geheimrath Wolf belebte die gründlichen literarischen Studien durch seinen belehrenden Widerspruchsgeist, und bei seiner Abreise traf es sich zufällig, daß er den nach Halle berufenen [1820 als Professor der Philosophie, ab 1824 ebd. Professor der Alten Literatur] Dr. Reisig als Gesellschafter mit dahin nehmen konnte, welchen jungen Mann ich nicht allein um meinetwillen sehr ungern scheiden sah“ (FA 17, S.-317, 324; s. auch FA 36, S.-118, 500). 5 S. Brief 14 und „Chronik der Kontakte“, 44a und 45; Beilagen, Text 21; Nachwort, S.-206. 6 Goethe und Leipzig , Bd. 2, S.-265-288. 7 Jahn II, S.-329-340. 8 WA IV, Bd. 33, Nrn. 176 (S.-242f.), 209 (S.-289); Bd. 37, Nrn. 5 (S.-3f.), 152 (S.-243f.); Bd. 49, Nr. 102 (S.-137-139). 9 Petersen, S.-217f. (=-Anhang III). 10 Primer schreibt zu Beginn seiner Abhandlung (S.-3): „Es war ein großer Moment in der deutschen Kulturgeschichte; die Philologie und die Dichtkunst standen gerade in ihrer höchsten Blüte, als die Häupter beider Zweige des deutschen Geisteslebens aneinander traten.“ 11 Primer, S.-12-14 u. 28f.; s. S.-12, Anm. 3 über die nicht erteilte Druckgenehmigung. 12 J. Körner, Besprechung von C. O. Müller (1797-1840), Briefe aus einem Gelehrtenleben , hg. u. erläutert v. S. Reiter, Ergänzungsband 1: Die Texte […] aus dem Nachlaß des Verfassers , hg. v. R. Sellheim, Halle (Saale) 1956, S. VII-IX (Vorwort des Herausgebers). <?page no="18"?> 18 Einleitung schen Philologie die Aufgabe zu, nicht nur Hermanns Briefe an Goethe, sondern alle seine noch erreichbaren Briefe zu sammeln und zu edieren, als notwendige Vorarbeit für eine künftige umfassende Monographie über Hermann. 13 Seit Reiters Appell sind mehrere einschlägige Korrespondenzen publiziert worden, 14 Briefsammlung und Monographie fehlen aber noch immer. Auch die Bemühungen, die Briefwechsel Goethes besser zu erschließen, sind den Briefen Hermanns an den Weimaraner bisher nicht zugute gekommen: Die Regestausgabe der an Goethe gerichteten Briefe hat das Jahr 1820, in dem Goethe und Hermann Briefe zu wechseln begannen, soeben erst erreicht, 15 und in Karl Robert Mandelkows zweibändiger Auswahlausgabe der Briefe an Goethe ist Hermann nicht berücksichtigt. 16 Es ist daher höchste Zeit, der Vernachlässigung Hermanns 17 entgegenzuwirken und den Briefwechsel zwischen Goethe und Hermann nunmehr unverkürzt mitzuteilen. Freilich: Wäre es nicht zureichend, nur die Briefe Hermanns 18 vorzulegen? Bedarf es des nochmaligen Abdrucks auch der Goethe-Briefe? Das Verfahren, 13 Reiter: Besprechung Primer, S.-643: „Gehört ja eine dieses Namens würdige wissenschaftliche Biographie des Meisters ebenso zu den frommen Wünschen der Philologie wie die als Vorstufe hierzu notwendige Sammlung seiner Briefe.“ 14 Briefe an Karl Lachmann aus den Jahren 1814-50, hg. u. erl. v. A. Leitzmann (APAW 1915. 1), Berlin 1915; ders., Wilhelm von Humboldts Briefe an Gottfried Hermann , in: Festschrift W. Judeich zum 70. Geburtstag , Weimar 1929, S.-224-270; F. A. Wolf, Ein Leben in Briefen . Die Sammlung besorgt und erläutert durch S. Reiter, 3 Bde., Stuttgart 1935 (Nr. 248. 695); s. auch Calder III (wie Anm. 1). 15 S. im Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen (o. S. 10): RA. ‒ Bd. 9 (Weimar 2017) enthält die Regesten zu Hermanns Briefen vom 31. 7. 1820 (Nr. 322 [ hier: Brief 1]), 15. 10. 1820 (Nr. 517 [Brief 4]) und 15. 7. 1821 (Nr. 907 [Brief 5]); Erwähnungen Hermanns in den Regesten Nr. 207, 336, 446, 1543 u. 1568. 16 HA-BaG, Bd. 2: Briefe 1809-1832. 17 Hermann galt lange Zeit als Vertreter eines Systems der formalen Philologie und muss für diese angebliche Beschränkung auf Kritik und Grammatik bis heute büßen (vgl. unten Anm. 26). Wilamowitz urteilte eigenwillig über ihn (wie Anm. 1; vgl. ders., Geschichte der Philologie , Leipzig/ Berlin 1921, S.-49), zumal über sein Verhältnis zu Goethe (S.-239): „Wenn man sich vorstellt, daß jemand in einer kommenden zeit ohne jede kenntnis von den tatsächlichen beziehungen bloß nach dem eindruck, der von der gesamtleistung der großen männer bleiben wird, eine vermutung wagen sollte, ob Hermann oder Welcker eine nahe beziehung zu Goethe gehabt hätte, der würde wol ohne zaudern Welcker nennen.“ Ähnlich A. Lesky, Goethe und die Tragödie der Griechen , Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 74 (1970), S.-5-17, hier S.-7: „[…] Gottfried Hermann hat Goethe viel an Material geliefert. Ihm den Weg in das Innere der Tragödie zu erschließen, dazu war er der Mann nicht, das wäre Friedrich Gottlieb Welcker gewesen“; vgl. dagegen J. Wohlleben, Beobachtungen über eine Nicht-Begegnung: Welcker und Goethe , in: W. M. Calder III, A. Köhnken, W. Kullmann, G. Pflug (Hgg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung (Hermes Einzelschriften 49), Stuttgart 1986, S.-3-34, bes. S.-6. 18 Die neun Briefe Hermanns an Goethe werden hier nach den im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrten Originalen wiedergegeben. <?page no="19"?> Einleitung 19 beide Partner zu Wort kommen zu lassen, bietet den Vorteil, dass Goethes schon gedruckte Briefe an den Handschriften nochmals überprüft werden konnten. 19 Wichtiger noch ist, dass die Anteile der Korrespondenz in ihrem Wechselspiel kenntlich werden, die Dokumentation der Beziehung also deren Entwicklung nachzeichnet: den lebhaften Beginn, die einsetzende Stagnation, den neuerlichen Aufschwung, das insgesamt hohe Maß an Konstanz. Darüber hinaus werden die Briefe in eine ihrer Darbietung vorausgehende Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann eingebettet: eine zusätzliche Chance, den Verlauf einer Beziehung zu überschauen, deren Bedeutung beiden Partnern bewusst war, und die schon deshalb weiterhin in Erinnerung gehalten zu werden verdient. Hermann, den „Fürsten der [Text-]Kritiker“ 20 , hier näher vorzustellen, ist kaum nötig. Wilamowitz hat ihn mit Scaliger, Bentley und Boeckh zu den Männern gezählt, die die Klassische Philologie zur Wissenschaft gemacht haben. 21 Das Urteil hat Bestand, auch wenn Hermann heute nicht nur den Goetheforschern, sondern gelegentlich sogar den Klassischen Philologen aus dem Blick geraten ist. 22 Seiner Vaterstadt und ihrer Universität aufs engste verbunden, seit 19 Die fünf Briefe Goethes an Hermann sind in WA teils nach einer im Goethe- und Schiller-Archiv liegenden Abschrift, teils nach den dort befindlichen Konzepten Goethes (von der Hand Johns) wiedergegeben. Sie werden hier nach einer Kollation der Originale (von der Hand Johns) geboten, von denen sich vier in S. Hirzels Goethe-Sammlung der UB Leipzig befinden ( Verzeichnis von Salomon Hirzels Goethe-Sammlung der Universitäts-Bibliothek zu Leipzig. Nach Hirzels Verzeichnis von 1874 neu hg. v. Reinhard Fink, Leipzig 1932); die fünfte Handschrift (zu GW IV 49, Nr. 102) war schon zur Zeit Reiters (Reiter: Besprechung Primer, S.- 648) verschollen, nachdem Köchly (S.- 227f.) sie noch selbst gesehen hatte. 20 Verhandlungen der 3. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Gotha 1840 , Gotha 1841, S.-40-42; vgl. Köchly, S.-94f. u. 252-255. 21 U. v. Wilamowitz-Moellendorff (u. A. Kießling), Vorwort zu den Philologischen Untersuchungen , Bd. 1 (=-U. v. W.-M., Aus Kydathen ), Berlin 1880. 22 Hermanns Name nicht mehr erwähnt bei A. Hentschke, U. Muhlack, Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie , Darmstadt 1972; vgl. P. Riemer, M. Weißenberger, B. Zimmermann, Einführung in das Studium der Gräzistik , München 2000, S.-37 (ebenso schon diess., Einführung in das Studium der Latinistik , München 1998, S.- 37) mit dem irreführenden Hinweis auf Hermanns Schrift De emendanda ratione linguae Graecae (Leipzig 1801) für die „Prinzipien seiner textkritischen Arbeit“. In Wahrheit ist das Buch einem neuen System der griechischen Grammatik gewidmet (s. E. Tichy, „Hermann als Grammatiker“, in: Hermann-Symposion 2007, S.-123-142). Als Textkritiker und Metriker würdigt E. Vogt Hermann in der von H.-G. Nesselrath hg. Einleitung in die griechische Philologie , Stuttgart und Leipzig 1997: „Mit seinen Orphica (1805) und seiner Ausgabe des Aischylos (postum 1852) schuf er Meisterwerke der Edition, mit seinen Elementa doctrinae metricae (1816) eine grundlegende Behandlung der griechischen Metrik“ (S.-125); zur sogen. „Hermannschen Brücke“ siehe ebd. R. Kannicht („ Griechische Metrik “), S.-347f. (zu Hermanns Analyse äolischer Versmaße ebd., S.- 360f.); s. jetzt auch: G. Libermann, „Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh. Révolution et contre-révolution en métrique“, in: Hermann-Symposion 2007, S.-197-219. <?page no="20"?> 20 Einleitung 1786 Student, 1790 Magister, 1794 Privatdozent, 1797 Extraordinarius, 1803 o. Professor der Beredsamkeit und 1809 zusätzlich der Poesie, erfuhr er, obwohl nicht unumstritten, 23 während seines langen Wirkens Ehrungen wie noch kein deutscher Philologe zuvor. 24 Geachtet als Erneuerer der griechischen Grammatik, normsetzend in Fragen der Metrik, unvergleichlich erfolgreich als Textkritiker, 25 wurde und blieb er der ‚Wortphilologe‘ 26 par excellence. 23 Hermann führte, von kleineren Auseinandersetzungen abgesehen, grundsätzliche Kontroversen mit Friedrich Creuzer, August Boeckh, Friedrich Gottlieb Welcker und Karl Otfried Müller, in jungen Jahren mit Richard Porson und den ‚Porsonianern‘. Creuzer: E. Howald (Hg.), Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten , Tübingen 1926; Boeckh: s. unten Anm. 26; Welcker: St. L. Radt, Welcker und die verlorene Tragödie, in: W. M. Calder III, A. Köhnken, W. Kullmann, G. Pflug (Hgg .), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung (Hermes Einzelschriften 49), Stuttgart 1986, S.-157-178; K. O. Müller: F. Ferrari, L’ Eumenidenstreit , ASNP 14 (1884), S.- 1173-1184; G. W. Most, Karl Otfried Müller’s Edition of Aeschylus’ Eumenides , in: W. M. Calder III, R. Schlesier (Hgg.), Zwischen Rationalismus und Romantik. Karl Otfried Müller und die antike Kultur , Hildesheim 1998, S.- 349-373; Porson: C. O. Brink, Classical Scholarship. Historical Reflections on Bentley, Porson, and Housmann , Cambridge 1986, S.-106 u. 134. Zur Qualität von Hermanns Polemik Jahn I, S.-118f., Köchly, S.-56-60 und jetzt Schmidt (wie Anm. 1), S.- 166-168. Wilamowitz (wie Anm. 1), S.- 235, urteilte: „… und blieb zwar nicht immer sieger, aber immer unbesiegt.“ 24 Jahn I, S.-123: „Gelehrte Ehrenbezeugungen hat sein langes Leben ihm in Fülle gebracht, Ehrendiplome von drei Fakultäten und vielen gelehrten Gesellschaften; zahllose Bücher sind ihm gewidmet als Beweise dankbarer Verehrung von Schülern und Freunden. Ihren lebhaftesten und reichsten Ausdruck fand diese, als Hermann am 19. Dec. 1840 sein Magisterjubiläum feierte.“ Zu dieser und anderen Ehrungen s. Benecke-Deltaglia/ Schmidt (wie Anm. 1), S.-339ff. sowie die Aufzählung in: Neuer Nekrolog der Deutschen 26 (1848), S.- 803-811, hier S.- 803 (Weiteres: Schmidt [wie Anm. 1], S.- 162). Als Hermann 1847 zu seinem 50jährigen Professorenjubiläum zum Geheimen Rat ernannt wurde, lehnte er den Titel ab und sandte das königliche Dekret zurück, offenbar ohne damit Anstoß zu erregen; s. J. P. v. Falkenstein, Einige Randbemerkungen zu H. Köchlys ‚Gottfried Hermann ‘, in: Jahrbücher für classische Philologie 22 (1876), S.-1-11, hier S.-9-11. 25 Zur Art von Hermanns Textkritik treffend Jahn I, S.- 115f.; vgl. Schmidt (wie Anm. 1), S.-166: „The quality of Hermann’s conjectures varies in individual cases, but their excellence when taken together is undisputed. The Oxford Classical Texts of the tragedians, for example, ( Aeschylus , ed. Murray; Sophocles , ed. Pearson; Euripides , ed. Murray) cite nearly 900 of Hermann’s readings, counting both those accepted into the text and those cited in the apparatus (Aeschylus, 236 times; Sophocles, 204 times; Euripides, 456 times) ‒ more citations than are granted to any other critic“; abweichende Berechnung auf der Grundlage von Aesch. ed. Page, Soph. ed. Dawe, Eur. edd. Diggle (I-II)/ Murray (III) bei R. D. Dawe, Richard Porson , in: W. W. Briggs, W. M. Calder III (Hgg.), Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia , New York/ London 1990, S. 376-388, hier S. 378 (Aesch.: 220, Soph.: 188, Eur.: 567 =-insges. 975). 26 Zur unterschiedlichen Zielsetzung der Philologie bei Hermann (Sprache bzw. Texte) und bei Boeckh (Sachen) s. die Ausführungen von Vogt (wie Anm. 1), bes. S. 115-117, und Horstmann (wie Anm. 1). Die Simplifizierung des Unterschieds zur Wort- und Sachphilologie geht auf die Geschichtsschreibung Conrad Bursians zurück: Geschichte der classi- <?page no="21"?> Einleitung 21 Über Goethe sei hier nur gesagt, dass ihm seit Ausgang des 18. Jahrhunderts Klassische Philologen als Kontaktpersonen unentbehrlich waren. 27 Noch vor Hermann ist in diesem Zusammenhang Friedrich August Wolf zu nennen. Mit dem Autor der Prolegomena ad Homerum verbanden Goethe besonders herzliche Beziehungen. Das erste Treffen, an das sich später freilich nur Wolf erinnerte, fand 1786 in Jena statt. Die eigentliche Bekanntschaft schlossen beide 1795, kurz nach dem Erscheinen der Prolegomena , die Goethe sogleich einer kritischen Prüfung unterzog. Mit dem gleichen Jahr setzten eine längere Reihe von Begegnungen und der Briefwechsel ein: Erhalten sind 30 Briefe Goethes, von Wolf mehr als 40. 28 Wolf stellte den Briefverkehr 1817 ein, Goethe 1819. Das war allerdings nicht das Ende der Kontakte. Noch im Oktober 1820, ja noch im April 1824, auf seiner Reise nach Südfrankreich, auf der er in Marseille starb, besuchte Wolf Goethe in Weimar. Immerhin: Zwischen ihnen stagnierte der schriftliche Gedankenaustausch seit Ende 1814 und brach 1819 ab. Wenn nun der Briefwechsel zwischen Goethe und Hermann nach ihrer Begegnung in Karlsbad im April 1820 einsetzte, könnte das heißen, dass Hermann für Goethe in gewisser Weise den Platz Wolfs einnahm. Doch abgesehen davon, dass der persönliche Kontakt zu Wolf erst mit dessen Tod 1824 endete: Sprechen in den Briefen der beiden Philologen nicht zwei gänzlich verschiedene Individualitäten? Goethes Briefwechsel mit Wolf ist durch thematische Vielfalt und einen unkonventionellen, vertrauensvollen, von Wolfs Seite geradezu vertrauensseligen Ton gekennzeichnet, dem man die nicht seltenen, überwiegend durch Wolfs heftiges, sarkastisches Naturell provozierten Spannungen und Verstimmungen während und infolge der persönlichen Begegnungen zwischen ihm und Goethe nicht ansieht. Was außer gegenseitiger Hochachtung charakterisiert dagegen den nach nur zwei weit auseinanderliegenden persönlichen Begegnungen einsetzenden, dann über mehr als ein Dezennium geführten und daran gemessen schmalen, jedoch Goethes Reflexion und poetische Imagination in hohem Maß anregenden (überdies in einer wechselseitigen ‚Apotheose‘ endenden) Briefwechsel zwischen Goethe und Hermann, von letzterem verstärkt durch einen kontinuierlichen ‚Unterstrom‘ philologischer Publikationen? Dieser Frage soll schen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart , 2 Hälften, München/ Leipzig 1883, S. 665-705, bes. S. 665f., vgl. Vogt (wie Anm. 1), S. 117ff. 27 Grundlegend Ruppert 1959; vgl. Schadewaldt, S. 101-117; Petersen, S. 160-166; Schwinge, S. 28-88; Wohlleben (wie Anm. 17), S. 6-11; s. dazu auch unten, S. 173f.. 28 Goethes Briefe an Friedrich August Wolf , hg. v. M. Bernays, Berlin 1868; Acht Briefe F. A. Wolfs, sieben Briefe A. Hirts, vier Briefe Goethes an Hirt , hg. v. L. Geiger, in: GJb 15 (1894), S. 54-108; Friedrich August Wolfs Briefe an Goethe , hg. v. S. Reiter, in: GJb 27 (1906), S. 3-96; vgl. ders., F. A. Wolf, Ein Leben in Briefen (wie Anm. 14); s. R. Markner, Friedrich August Wolf, 1759-1824. Eine Bibliographie , in: R. Markner, G. Veltri (Hgg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie (Palingenesia 67), Stuttgart 1999, S. 102-144. <?page no="22"?> 22 Einleitung im Anschluss an die Präsentation der Brief-Dokumente und der in der „Chronik der Kontakte“ versammelten sonstigen Spuren gegenseitiger Kenntnisnahme nachgegangen werden. <?page no="23"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann Von Ernst Günther Schmidt und Christoph Michel vor 1796 1. Hermann liest Goethe, sieht wohl auch Stücke von ihm im Leipziger Theater. Näheres ist darüber nicht bekannt. 2. Dass Goethe schon vor der Mitte der neunziger Jahre der Name Hermanns geläufig gewesen sei, dass er etwa von dessen Schrift über die Gattungen der Dichtkunst von 1794 Kenntnis genommen habe, ist vermutet, aber nicht bewiesen worden und eher unwahrscheinlich. 1796 3. Hermann, damals dreiundzwanzigjährig, veröffentlicht sein erstes Hauptwerk , De metris poetarum Graecorum et Latinorum libri III , das ihn mit einem Schlage bekannt macht. Goethe erwirbt das Buch. 29 1797 3a. Goethe liest laut Tgb am 14. 1. 1797 in „Herrmann de Metris“ 30 , und anscheinend bittet er daraufhin Wilhelm von Humboldt, ihm durch Berichterstattung und Auszug das Verständnis des Werks zu erleichtern. Humboldt schickt ihm am 16. 2. 1797 einen Auszug aus dem Kapitel vom Hexameter. Ursache dieser Bemühungen ist offensichtlich die Arbeit an der epischen Dichtung Herrmann und Dorothea. 1799 4. Seiner lateinisch geschriebenen Metrik von 1796 läßt Hermann einen Abriss zum gleichen Thema in deutscher Sprache folgen: Handbuch der Metrik . Goethe erwirbt auch diesen Band und zieht ihn in der Folge für seine Versdichtungen zu Rate. 31 1800 (Mai) 5. Erste Begegnung zwischen Goethe und Hermann. Während eines mehrtägigen Aufenthalts in Leipzig besucht Goethe den Extraordinarius (seit 1797) der Leipziger Universität. 29 Ruppert, Nr. 676. 30 „Früh Herrmann de Metris. Böttiger wegen des epischen Gedichts“ (GT II 1, S. 93). 31 Ruppert, Nr. 675. <?page no="24"?> 24 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 5a. Goethe, Tgb vom 7. 5. 1800: „Mit Herrn Cotta spatziren und verschiedene litterarische Verhältnisse durchgesprochen. Sodann einen kleinen Spatziergang allein […] dann zu Prof. Herrmann er ist mit dem Aeschylus und Plautus beschäftigt 32 , über mancherley philologische Gegenstände über Euripides 33 zuletzt über Prosodie und Rhythmik. | Herr Fleischer 34 sagte mir daß das Werk über die Sylbenmaase stark nach England gehe. 35 […] Heute erhielt ich die Probe von Bitaubes Uebersetzung von Herrmann und Dorothea“. 36 5b. Hermann an Goethe, 10. 4. 1823 (s. unten Nr. 24): „Die Erinnerung an ein Urtheil, das Sie vor vielen Jahren [1800] einmal über dieses Stück [Euripides’ Bakchen ] gegen mich aussprachen, ist mir immer dabey [beim Edieren dieses Stücks] gegenwärtig gewesen.“ 5c. Hermann, Einleitung zu seiner Ausgabe von Euripides’ Hekabe (1831): „Euripidis versatile et diversissimis argumentis aptum ingenium memini ante multos annos Goethium in sermone quodam, quum ego Aeschylum et Sophoclem anteferrem, multa cum laude praedicare. Et quis magis idoneus arbiter est, quam is vir, quem, si quem umquam, nascentem placido lumine viderunt Musae? “ 37 5d. Jahn I, 112: „Bei dem allgemeinen Aufschwung der poetischen Thätigkeit machte sich damals das Streben geltend, auch in der Vollendung der Form sich den Mustern des Alterthums zu nähern; wie willkommen mußte ein Werk wie die Metrik sein. Besonders Goethe, der damals mit der Achilleïs und der Helena beschäftigt war und genauer in das Wesen der antiken Versmaße einzudringen strebte, nahm den regsten Antheil daran, und als er bald darauf nach Leipzig kam (1800), trat er eines Abends [sic! ] unerwartet zu dem erstaunten Hermann in’s Zimmer. In dem Gespräche, das sich über Verskunst zwischen ihnen entspann, forderte ihn endlich Goethe auf, eine deutsche Metrik zu schreiben, was Hermann mit dem Bemerken ablehnte, es sei Goethe’s Aufgabe die deutsche Metrik zu schaffen.“ 1800 ( Juni)-1816 6. Persönliche Kontakte zwischen Goethe und Hermann sind für diesen Zeitraum nicht nachweisbar, doch gibt es Indizien dafür, dass Goethe von den neuen 32 1799 war Hermanns Ausgabe von Aischylos’ „Eumeniden“ erschienen, 1800 folgte die Recensio von Plautus’ „Trinummus“. 33 Hermann veröffentlichte 1800 eine kommentierte Ausgabe von Euripides’ „Hekabe“: Hecuba / Cum animadversionibus Gfr. Hermanni ad eam et ad Porsoni notas animadversiones . Siehe auch 5c. 34 Gerhard Fleischer (1769-1849), Buchhändler und Verleger in Leipzig. 35 Ob es sich dabei um Hermanns 1799 bei Fleischer erschienenes Handbuch der Metrik handelte, das Goethe nachweislich erst 1802 erhielt (s. auch Ruppert, Nr. 675), bleibt offen. 36 GT III 1, S. 363. 37 S. XIVf. (s. dazu Reiter, Besprechung Primer, S. 650). Siehe auch 5a. <?page no="25"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 25 Veröffentlichungen Hermanns Kenntnis nahm. 38 Sein bevorzugter Gesprächspartner für Fragen der Klassischen Philologie ist Friedrich August Wolf. 39 6a. Hermanns Werke zur griechisch-lateinischen Metrik bleiben für Goethe jedoch ein öfter genutztes Arbeitsmittel. Im September 1800 leiht er „Hermann de metris“ an Schiller aus, nachdem dieser ihn im Anschluss an Goethes „Vorlesung“ von Partien aus dem Helena-Akt zu „Faust II“ um Hermanns Buch gebeten hatte: „Wenn Sie mir den Hermann von den griechischen Sylbenmaßen zu lesen verschaffen könnten, so wäre mirs sehr lieb; Ihre neuliche Vorlesung hat mich auf die Trimeters sehr aufmerksam gemacht 40 und ich wünschte in die Sache mehr einzudringen. Auch habe ich große Lust mich in Nebenstunden mit dem Griechischen zu beschäftigen, nur um so weit zu kommen, daß ich in die griechische Metrik eine Einsicht erhalte. Ich hoffe, wenn Humboldt hieher kommt, dadurch eher etwas von ihm zu profitieren. Auch wünschte ich zu wissen welche griechische Grammatik und welches Lexikon das brauchbarste sein möchte. Fr[iedrich] Schlegel wird wohl am besten darüber Auskunft geben können.“ 41 Goethe veranlasst unverzüglich eine Büchersendung an Schiller (ausser Hermanns „De metris“ die „Griechische Grammatik“ [Halle 1705] von Joachim Lange 42 und Benjamin Hederichs „Graecum lexicon manuale“ [Leipzig 1754]), äussert jedoch im Brief an Schiller vom 28. September 1800 seine Skepsis über den Nutzen solcher Werke für den Dichter: „Ich habe Vulpius geschrieben daß er Ihnen gleich aus meinen Büchern diejenigen aussucht die Sie ohngefähr zu Ihren Zwecken brauchen können. Sie werden sich aber wenig daran erbauen. Das Stoffartige jeder Sprache so wie die Verstandsformen stehen so weit von der Produktion ab daß man gleich, sobald man nur hineinblickt, einen so großen Umweg vor sich sieht daß man gern zufrieden ist wenn man sich wieder herausfinden kann. In meiner Arbeit gehe ich auch nur so nach allgemeinen Eindrücken. Es muß jemand wie etwa Humboldt 38 Am 4. August 1802 benachrichtigte Christian August Vulpius Goethe über den Erwerb von Hermanns Handbuch der Metrik (RA 4, Nr. 338). Vermutlich handelte es sich um ein Exemplar für die Weimarer Bibliothek, nicht um Goethes wohl schon früher erhaltenes Privatexemplar (Ruppert, Nr. 675). 39 Wolfs fachliche Hochschätzung Hermanns, von der seine an diesen gerichteten Briefe zeugen (s. z. B. schon früh zu Hermanns Editionen: „Wie herzlich freue ich mich Ihrer immer beßer grünenden Lorbeern“, Halle, 12. 7. 1800; Reiter: Wolf I, S. 288, Nr. 248), wird Goethe nicht verborgen geblieben sein. 40 Siehe Anm. 46. 41 Weimar, 26. [27.? ] September 1800 (MA 8.1, S. 819). 42 Hermanns einschlägige, in der Fachwelt Aufsehen erregende Schrift De emendenda ratione Graecae grammaticae erschien erst 1801 und befindet sich auch nicht in Goethes Bibliothek. Zur Würdigung dieses Werks aus sprachwissenschaftlicher Sicht s. E. Tichy, „Hermann als Grammatiker“, in: Hermann-Symposion 2007, S. 123-142. <?page no="26"?> 26 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann den Weg gemacht haben um uns etwa zum Gebrauch das Nötige zu überliefern. 43 Ich wenigstens will warten bis er kommt und hoffe auch alsdann nur wenig für meinen Zweck.“ 44 Schiller bestätigt am 29. September den Empfang der Bücher: „[…] an den Herrmann werde ich mich sogleich machen und übrigens in der Sache solange fortfahren als sie mir nicht unerträglich wird.“ 45 Zu Humboldts ‚metrica‘ ergänzt Goethe brieflich am 30. September 1800: „Es fiel mir ein daß ich noch einen Aufsatz von Humbold über den Trimeter habe. Leider habe ich ihn, als er abgeschrieben war, nicht korrigiert es kommen daher einige mir wenigstens unheilbare Schreibefehler darin vor. Auch liegt ein Teil seines Agamemnons bei, beides wird einigermaßen Ihren Wünschen entgegen kommen.“ 46 Am 8. Oktober resumiert Schiller: „Für Mitteilung der Humboldtischen Arbeit danke ich Ihnen sehr; ich hoffe allerlei daraus zu lernen. Es wird mir schwer mit Herrmans Buch zurecht zu kommen, und schon vorn herein finden sich Schwierigkeiten, ich bin neugierig wie es Ihnen mit diesem Buche ergangen und hoffe, daß Sie mir ein Licht darin aufstecken werden.“ 47 6b. Am 17. Januar 1804 schreibt A. W. Schlegel an Goethe: „[August Ferdinand] Bernhardi hat eine Untersuchung über die metrischen Schriften von Hermann, bis auf die letzte noch, ganz ausgearbeitet“ (gedr. in JALZ 1804, Nr. 104-107). 48 43 Über Wilhelm v. Humboldts metrische ‚Konferenzen‘ mit Goethe (zuerst als Berater während der Arbeit an „Herrmann und Dorothea“), durch die Goethe auf Hermann De metris aufmerksam wurde, s. Leitzmann, S. 5-7; s. auch: Beilagen, Texte 1a/ b. 1809 übernahm Hermann durch F. A. Wolfs Vermittlung, die philologische Überprüfung von Humboldts Übersetzung des aischyleischen „Agamemnon“ bis zu deren Erscheinen 1816 (Leitzmann, S. 8-46). S. dazu: J. Flöter, „Gottfried Hermann und Wilhelm von Humboldt. Aspekte neuhumanistischer Bildung in Sachsen und Preußen“. In: Hermann-Symposion 2007, S. 35-49, bes. S. 46-48. ‒ Goethe erhielt den ihm von Humboldt am 9. 8. 1816 brieflich angekündigten „Agamemnon“ am 27. 8. (Tgb) und dankte Humboldt am 1. 9. (WA IV 27, S. 156); in den „Tag- und Jahresheften“ zu 1816 erwähnt er die Sendung: „ Agamemnon übersetzt von Humboldt war mir so eben in die Hände gekommen, und verlieh mir den bequemen Genuß eines Stückes das ich von jeher abgöttisch verehrt hatte“ (FA I 17, S. 275). S. auch Ruppert, Nr. 1228. 44 MA 8.1, S. 820. 45 Ebd., S. 821. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 825. Schiller erhoffte sich aktuell für die Arbeit an seinem Drama „Die Jungfrau von Orleans“ vor allem Aufschlüsse über den iambischen Trimeter. Am 19. November 1800 berichtet er Goethe über den Abschluss der Szenen 6-8 im 2. Aufzug (Montgomery / Johanna): „Ich war in diesen Tagen ziemlich bei meiner Arbeit, und habe die Szenen mit den Trimeters beendigt“ (ebd., S. 827). 48 August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe , hg. von Josef Körner und Ernst Wieneke, Leipzig [1926], S. 155, Brief Nr. 136; am 12. Januar 1804 hatte Goethe Schlegel an erwartete Beiträge für die JALZ von „Ihnen, Steffens, Bernardi [sic! ], Schleyermacher“ erinnert (ebd., Nr. 135). Schlegel hatte Goethe den berliner Schul- <?page no="27"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 27 6c. Am 20. September 1805 schreibt F. A. Wolf an Goethe: „Was Hermann gegen den Orpheomastix hat drucken laßen, in der hiesigen Zeitung, mögen Sie ja nicht ungelesen laßen. Es ist dieß endlich der Anfang der Nemesis. Sie wandelt festen Tritts einher, und dürfte ihm kaum eine Einrede erlauben. Er wird hoffentlich an mein Abrathen denken.“ 49 6d. Ferner erwirbt Goethe 1806 für seine im Vorjahr angelegte Autographensammlung einen Brief Hermanns an einen Unbekannten, ohne Datum, aber datierbar auf Anfang 1801. 50 mann Bernhardi als Beiträger (unter Hinweis auf seine Verdienste um „philosophische Grammatik“ und Verfasser einer „Sprachlehre“) brieflich am 10. September 1803 empfohlen (ebd., S. 142, Nr. 126). Zu Bernhardis Hermann-Rezension bemerkt H. K. A. Eichstädt brieflich am 1. Februar 1804, sie sei geistvoll, aber zu lang (RA 4, Nr. 1354). Am 2. Februar übersendet er Goethe einen „gestern vergessenen“ Brief Bernhardis, der „zur übersendeten Recension gehört“ (RA 4, Nr. 1356; s. auch Nr. 1361: 5. Februar: Eichstädt erwähnt die Sendung von Bernhardis Rezension, „deren Schluß“ er „vom Verfasser wiederherstellen lassen wolle“). 49 Reiter: Wolf I, S. 404 (Nr. 363; s. RA 5, Nr. 210). Als „Orpheomastix“ bezeichnet Wolf den die ‚Geißel‘ schwingenden Johann Heinrich Voß d. Ä., der in einer ungewöhnlich langen Rezension „Über Joh. Gottlob Schneiders und Gottfried Hermanns Ausgabe der Orfischen Argonautica“ ( JALZ Nr. 138-143, 11.-17. Juni 1805, Sp. 489-536; der Druck ist erwähnt in H. K. A. Eichstädts Brief an Goethe vom 2. Juni 1805: RA 5, Nr. 124) die beiden Editionen en detail scharf kritisiert hatte und seinerseits in einer Replik Hermanns im Intelligenzblatt der Hallischen ALZ (Nr. 149, 1805, Sp. 1233-1236) mangelnder Kenntnis der griechischen Grammatik überführt worden war. Darin sieht Wolf, der Voß in einem freundschaftlichen Brief Ende Juni 1805 vergeblich geraten hatte, sich im „Ton“ seiner Kritik zu mäßigen und „Humanität“ walten zu lassen, eine verdiente Strafe (dazu ausführlich Reiter: Wolf III, S. 141, zu Brief Nr. 363, und S. 137, zu Brief Nr. 350). - Zu seiner Goethe vor dem 18. März 1804 übersandten Rezension von J. H. Voß’ d. Ä. „Mythologischen Briefen“ schreibt dessen Sohn, J. H. Voß d. J., im Begleitbrief, er habe Zweifel, ob der „lezte Theil gegen Hermann hinlängliche Klarheit hat, die ich geben wollte . Dieser Mann hat mich geärgert, nicht weil er meinen Vater widerlegte, sondern weil er ihn so dumm widerlegte. (Seinen Nachsprecher Jakobs in Gotha habe ich ganz aus dem Spiel gelassen, weil er Hermanns Vorstellung noch verwirrter gemacht hat.) Wäre er nicht Professor in Leipzig, und wäre ich ein zehn Jahr älter, so hätte ich ihn ganz anders abgefertigt; jetzt mußte ich, auch des Instituts [des Weimarer Gymnasiums, Voß’ künftigem Arbeitsplatz als Lehrer der Alten Sprachen] wegen, höflicher zu Werke gehen, als ich Lust hatte“ (GJb 18 [1897], S. 69f.; s. auch RA 4, Nr. 1439). - Unbeantwortet ließ Goethe ein an ihn gerichtetes Schreiben des Lüdenscheider Rektors Johann Wilhelm Kuithan vom 9. Oktober 1804, mit dem dieser sich um die Nachfolge K. A. Böttigers am Weimarer Gymnasium bewarb, u. a. mit der Selbstempfehlung, er habe „das Wesen der Griechischen Prosodie“ entdeckt, „wovon in der Prachtausgabe Homers Wolf sage, „haeremus in elementis“, so dass die Werke G. L. Mingarellis und G. Hermanns beiseite gelegt werden könnten und sich mancherlei Folgen ergäben, u. a. „das Bedürfniß einer neuen Recension aller griechischen Dichter“ (RA 4, Nr. 1702; ungedr.). 50 Goethes Autographensammlung. Katalog , bearb. v. Hans-Joachim Schreckenbach, Weimar 1961, S. 100, Nr. 719. Hermann kündigt in dem Brief sein neues Werk De emendenda ratione Graecae grammaticae für Ostern an und bittet um einige Auskünfte, die er für die <?page no="28"?> 28 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 6e. Laut Tgb vom 26. Mai 1808 zieht Goethe für sein (unvollendetes) polymetrisches Festspiel „Pandora’s Wiederkunft“ (begonnen im November 1807) Hermanns „Metrik“ (gemeint: das „Handbuch der Metrik“) zurate: „Pandorens Wiederkunft […] überlegt. Hermanns Metrik“ (GT III 1, S. 441). 51 Vollendung der letzten beiden Artikel benötige. Am 26. 2. 1806 schrieb Goethe an H. K. A. Eichstädt im Hinblick auf die Einrichtung der Sammlung, er lege ihm „das Verzeichniß eigenhändiger Briefe merkwürdiger Männer“ bei, die er „schon gegenwärtig besitze. Dichter und ehedem sogenannte Schöngeister deutscher Nation machen bis jetzt die größte Zahl aus; durch Ew. Wohlgeb. Gefälligkeit kann ich hoffen, auch mit den Sternen mancherley Größe des philologischen Himmels näher bekannt zu werden“ (WA IV 19, S. 109f.). S. jetzt die Faksimile-Abb. von Goethes gedruckter Liste seiner „Autographa“ von 1811 in: Aus Goethes Autographensammlung . Hg. vom Goethe- und Schiller-Archiv und vom Freien Deutschen Hochstift, Hamburg 2017, S. 19f. (Abb. 3 u. 4). 51 Bereits am 25. Mai notierte Goethe im Tgb: „Die neuen Scenen in der Pandora durchgegangen im Metrischen“ (GT III 1, S. 441). Am 27. Mai vermerkt er: „Abschluß des 1 Theils von Pandorens Wiederkunft. | Verschiedenes Rhythmisches besprochen“ (ebd., S. 442). Laut Riemers Tagebuch wurde am 26. Mai auch „Morizens [Versuch einer deutschen] Prosodie [Berlin 1786] studirt“ (BG 6, 484). Beide Werke sind auch unter den von Goethe auf seiner Reise von Karlsbad nach Franzensbad mitgeführten Materialien verzeichnet: „Inhalt des Ersten Kastens. […] o.) Hermann Metrik | p.) Moriz Prosodie“ (GT III 1, S. 433). Auch in Goethes Umfeld wird Hermanns Autorität in metricis sichtbar: J. H. Voß d. J. an Goethe, 19. Juni 1808 [? ] zu „seinen Übersetzungsschwierigkeiten bei der Nachbildung der Rhythmen in den Chorstrophen [? des ‚Äschylos‘]“: er „hoffe, daß G. Hermann seine Arbeit loben werde“ (RA 5, Nr. 925). - In der Druckfassung seines am 4. Juni 1898 in der 13. Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar gehaltenen Festvortrags „Goethes Pandora“ (GJb 19 [1898], S. *1-*21; auch in: ders., Reden und Vorträge , Bd. 1, Berlin 1925, S. 357-381) hat Ulrich v. Wilamowitz Moellendorff Stellen in Goethes Dichtung, die auf das Studium von Hermanns „Metrik“ (gemeint ist das Handbuch der Metrik , Leipzig 1799) zu verweisen scheinen, konkretisiert: „Am 17. Mai 1808 spricht er [Goethe] ›Ionici und Choriamben durch‹; am 26. studirt er Hermanns Metrik für den Abschluß der Pandora. Dort findet man S. 176 das Vorbild für die Ioniker V. 813-80 (ich habe die Verse durchgezählt, um kurz citiren zu können); den Ersatz des unserer Sprache eigentlich unerträglichen Ionicus durch den Ditrochaeus, den Goethe namentlich vor einem Absatze zuläßt (855 rasend aufquoll, 873 strebend aufsummt, 880 wilde Rachlust ), hat er glücklich aus dem von Hermann abgedruckten griechischen Chorliede selbst genommen. Daß er jeden Fuß durch Wortende sondert, ist vermutlich auch durch sein eignes rhythmisches Gefühl mehr als durch Horazens miserarumst hervorgerufen, denn er macht es in den Choriamben 768-92 ebenso, obgleich es in dem Vorbilde, bei Hermann S. 164, nicht der Fall ist, dem zu Liebe er Dimeter druckt. Dagegen stammt von dem Ithyphallicus, den er für ein Lied der Fortsetzung vorgemerkt hatte, nur der Name aus der Theorie: in Wahrheit wollte er trochäische Verse von drei Hebungen bilden, wie er solche von vier (aus der spanischen Tragödie) und fünf (aus den serbischen Volksliedern) längst entlehnt und für das antikisirende Drama schon im Palaeophron und im Vorspiel von 1807 angewandt hatte. Man bemerkt, daß erst gegen Ende der Pandora gewagte und kaum billigungswerthe Experimente vorkommen: die Nachbildungen von Anapaesten (36-55, 635-58) und Daktylen (741-60) und Iamben (881-928) sind schon durch den Reim, aber auch im ganzen Baue schöne deutsche Verse. Die Trimeter, im Palaeophron noch recht incorrect, in der Helena durch zu viele zweisylbige Senkungen im Charakter geändert, sind voll- <?page no="29"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 29 6f. Am 11. August 1810 schreibt Christian Gottlob Voigt an Goethe, dass ihn der Berliner Geh. Regierungs- und Staatsrat Wilhelm Uhden besucht habe, „der [für die Besetzung von Professuren an der neugegründeten Berliner Universität] in Leipzig geworben zu haben schien (bei Hermann und Weise [? Christian Samuel Weiß]). Es ist doch immer noch gut, daß man auf die Wissenschaft in diesen Zeiten einen Wert legt“ (BW Goethe ‒ Voigt III, Nr. 401, S. 308). Den 1811 offiziell an ihn ergangenen Ruf lehnte Hermann jedoch ab. 52 6g. Am 25. Januar 1815 schreibt Karl Ludwig von Knebel an Goethe: „Nicht gleichgültig war es mir aus den Litteratur-Blättern zu erfahren, daß ein junger Mann, Prof. Besselt [! ], es unternimmt das Hexengewebe der Hermanschen Metrik ein wenig aufzulösen, und zu zeigen, daß es bei den Griechen nicht auf bloße Silbenmessung angekommen sey, sondern auch auf Zahl und Rhythmus, worin wir uns ihnen näher sehen können. 53 Ueber den Prozeß genauer zu urtheilen verstehe ich bei weitem nicht Griechisch genug, aber die Sache scheint mir schon a priori vernunftgemäßer. Mit den bestimmten Zeiten in den Silbenfüßen scheint es auch bei Griechen und Römern so ganz genau nicht genommen worden zu seyn, und sie halten auf ihre Mittelzeiten, so gut wie wir. Dies lehrt selbst die Natur jeder Sprache, wie auch Kunst. Wenn wir Zahl und Rhythmus endet; doch steht 19 ein siebenfüßiger, 1066 in Trochäen ein Fuß zu viel. Namentlich in den Caesuren zeigt sich die vollendete Kunst. Dem hat die Interpunction zu folgen. Ein Vers wie 624 beweglich wie die Hand, erwidernd Liebesdruck , ist so interpungirt metrisch falsch, nebenher auch sinnlos: hinter beweglich gehört das Komma“ (S.-4*, Anm. 2). 52 Nach Hermanns Absage erhielt die Stelle der noch junge Altphilologe Philipp August Boeckh (1785-1867), schon damals, noch begrenzt auf das Gebiet der antiken Metrik, sein Kontrahent; s. Thomas Poiss: „Zur Idee der Philologie. Der Streit zwischen Gottfried Hermann und August Boeckh.“ In: Hermann-Symposion 2007, S. 143-164, bes. S. 144-148; zu den Verhandlungen zwischen Wilhelm v. Humboldt und Hermann über dessen Berufung s. M. Lenz: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin , Bd. 4, Halle 1910, S. 118-121. 53 Carl August Besseldt (1784-1824), geb. in Zeitz, Studium der Theologie und Philologie in Leipzig, Lehrer in Naumburg, ab 1812 am Conradinum in Jenkau b. Danzig, 1814 in Tilsit, ab 1816 in Memel; publizierte u. a. Beiträge zur Prosodie und Metrik der deutschen und griechischen Sprache. Nebst Bemerkungen über Hrn. Direktor Gottholds Widerlegung der Apelschen Theorie , Halle 1813 [Digitalisat der BSB] (RA 6.1, Nr. 1405; dort Hinweis auf J. A. Apels Rezension in JALZ 1814, Nr. 233f.); ebd. S. 4 Besseldts generelle (neben vieler Einzel-)Kritik an Hermanns De metris und Handbuch der Metrik : „Viele hängen noch an den Grundsätzen Hermanns, obwohl deren Widersprüche mit sich selbst und Unzuverlässigkeit mehrmals sind gezeigt worden [JALZ 1804, Nr. 104ff.], und Hermann, der zur Unsterblichkeit seines Namens nicht der Principien seiner Metrik bedarf, selbst vieles theils in Vorlesungen, theils anderswo [Museum der Alterthumswissenschaft 2. Bd., 2. Stück] zurückgenommen hat“; s. auch ebd., S. 147: „Hermann behauptet, die Alten hätten den Takt nicht gekannt“. Besseldt beruft sich bei seiner Kritik mehrfach auf August Boeckhs Einwände gegen Hermanns Metrik in seiner Abhandlung: Über die Versmaße des Pindaros , Berlin 1809 (s. dazu auch: G. Libermann, „Hermann et la colométrie pindarique de Boeckh. Révolution et contre-révolution en métrique“. In: Hermann-Symposion 2007, S. 197-219). <?page no="30"?> 30 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann in den Versen halten, so möchten wir nach der Möglichkeit unserer Sprache, das Ziel der Alten so ziemlich erreichen können, und deine Achilleïs wie dein Reinike Fuchs ließen sich einem griechischen Ohre ‒ nur keinem pedantischen ‒ gar wohl vorlesen. ‒ Lebe wohl und verzeihe meinen Unwillen über die Pedanten ‒ und erfreue mich bald mit einigen Früchten deiner freien Muse. 54 1817 7. Friedrich Creuzers 1810-12 in vier Bänden erscheinende Symbolik und Mythologie der alten Völker löst einen Gelehrtendisput aus, in dem Hermann zum entschiedenen Kritiker Creuzers wird. 55 Die Debatte lenkt Goethes Aufmerksamkeit erneut auch auf Hermann. Goethe nimmt Kenntnis von dessen unter den Weimarer „Sprachfreunden“ kursierender Schrift De mythologia Graecorum antiquissima und von dem durch Creuzer veröffentlichten einschlägigen Briefwechsel zwischen Hermann und ihm, den Creuzer am 14. September 1817 mit einem Begleitbrief Goethe zuschickt (Eingang am 26. September; s. RA 7.1, Nr. 1231, S. 443; s. unten, Beilagen, Texte 2-6), und den Goethe sogleich studiert (Tgb vom 26. und 27. September 56 , 1., 2. und 28. Oktober 1817 57 ). Creuzers Ansinnen, zwischen ihm und Hermann als Schiedsrichter zu fungieren, weist er zurück, schlägt sich dann jedoch mehr und mehr auf die Seite Hermanns, der die griechische Mythologie anders als Creuzer nicht symbolisch-mystisch, sondern etymologisch-poetisch erklärt wissen will und sie nicht als Absenker uralter östlicher Weisheit, sondern als autochthon deutet. 58 54 Zitiert nach der Transkription in: Anke Bosse, „Meine Schatzkammer füllt sich täglich…“. Die Nachlaßstücke zu Goethes „West-östlichem Divan“. Dokumentation ‒ Kommentar , Bd.-I, Göttingen 1999, S. 261f. (ED in der Akademie Ausgabe des WöD, Plp. 232). S. RA VI.1, S.-476, Nr. 1405. 55 S. dazu: FA 20, S. 1044-1055 (Hendrik Birus); Glenn W. Most, „Hermann gegen Creuzer über die Mythologie“. In: Hermann-Symposion 2007, S. 165-179. Zur zeitgenössischen Debatte um Creuzers Symboltheorie s. Gerhard Schwinge: „Creuzers Symbolik und Mythologie und der Antisymbolikstreit mit Voß sowie dessen Kryptokatholizismusvorwurf“. In: Friedrich Creuzer 1771-1858. Philologie und Mythologie im Zeitalter der Romantik , Begleitband zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Heidelberg 12. Februar - 8. Mai 2008“. Hg. von Frank Engehausen u. a., Heidelberg 2008, S. 73-88. 56 GT VI 1, S. 123: [26. 9.: ] „Sendung von Kreuzer aus Heidelberg. Hermanns Gedanken über die älteste griechische Mythologie: “ [s. die Erläuterung GT VI 2, S. 565] | [27. 9.: ] „Hermanns und Kreuzers Differenzen wegen Mythologie studirt. Mittag zu drei [Goethe, August und Ottilie]. Über diese Gegenstände popular gesprochen. Brief an Kreuzer“ [undatiertes Konzept von Kräuters Hand zum Brief an Creuzer vom 1. Oktober 1817; siehe Beilagen, Text 6]. 57 GT VI 1, S. 125: [1. Okt.] „Hermanns und Kreuzers mytholog. Briefe. […] Brief an Hofr. Kreuzer nach Heidelberg.“ [2. Okt.] „Hermann und Kreuzer wiederholt gelesen.“; S. 138: [28. Okt.]: „Hermann und Kreuzer über Mythologie p. Briefe.“ 58 Dem „Sechste[n] Brief. Creuzer an Hermann“ (S. 88-224) verdankt Goethe möglicherweise den ersten Hinweis auf Giuseppe Bossis Werk „Del cenacolo di Leonardo da Vinci“ (Mai- <?page no="31"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 31 8. Am 2. Oktober 1817 schreibt Goethe laut Tgb eine „Paraphrase zu einer Hermannischen Stelle“ 59 nieder. Mit „Paraphrase“ meint Goethe den im März 1818 in KuA I 3 veröffentlichten Aufsatz Geistes-Epochen. Nach Hermanns neusten Mittheilungen (s. u., Beilagen, Text 9, S. 97-99). Über die „Stelle“, die er „paraphrasiert“, macht Goethe präzise Angaben in einem am 18. Februar 1818 als Verdeutlichung zu seinem Aufsatz entworfenen „Nachtrag“, der in Heft I 4 von KuA erscheinen sollte, aus Platzmangel jedoch ungedruckt blieb: „Die Stelle [im Fünften der Briefe über Homer und Hesiodus ; s. Beilagen, Text 4: Hermann an Creuzer, S. 80-93]: ‚Mit Recht sagen Sie, ‒ nicht weiter gesehen ward‘ [s. S. 82f.] wollten wir soeben abdrucken lassen, daß unsere Leser […] dieser unschätzbaren Gedanken gleichfalls theilhaft würden. Der Raum aber geht uns aus und so sey es genug an diesem Winke für jeden der im Alterthume sein Heil sucht [.]“ 60 8a. Am 2. November 1817 beauftragt Goethe brieflich den Bibliotheks- und Museumsschreiber Johann Michael Färber in Jena: „Auch wünschte ich Hermanns Diss. de Mythologia Graecorum antiquissima, welche dieses Jahr herausgekommen, aber schon vergriffen ist. Vielleicht findet sie sich noch in einem Jenaischen Buchladen, wo nicht, so würde mirs angenehm seyn es auch nur geborgt zu erhalten, die Herrn [Heinrich Carl Abraham] Eichstädt oder [Ferdinand Gotthelf] Hand haben vielleicht diese Gefälligkeit. / Weimar d. 2n Nvbr. 1817. Goethe“. 61 1818/ 1819 8b. Am 17. Januar 1818 beschäftigt laut Tgb „Hermanns älteste Mythologie der Griechen“ Goethe erneut, nun gewiß schon unter dem Gesichtspunkt, die „Paraphrase“ vom 2. Oktober 1817 zu publizieren. Am 21. Januar 1818 folgt die „Abschrift des Aufsatzes über Hermann“ (Tgb). Der anschließende Druck des Beitrags, der jetzt den Titel „Geistes-Epochen. Nach Hermanns neusten Mittheilungen“ trägt, geht rasch vonstatten. Am 5. Februar erhält Goethe von der Druckerei den betreffenden Korrekturbogen, land 1810) und damit den Anstoß zu seinem in KuA I 3 (1817), S. 113-188 veröffentlichten Aufsatz „Abendmahl von Leonard da Vinci“; Goethes Erwähnung „eine[r] sehr richtige[n] Bemerkung des Ritters Bossi“ über die s i t z e n d e Haltung Jesu und seiner Jünger beim Abendmahl (s. dazu FA I 20, S. 1056) rekurriert wohl zunächst auf Creuzers Referat dieser Bemerkung: „Weil so eben vom Sitzen bey den Opfermahlen die Rede war, so erinnert mich dies an eine sehr richtige Bemerkung des Ritters Bossi, die ganz auf Homer Anwendung leidet. Bekanntlich hat Leonardo da Vinci in seinem Abendmahl den Meister Christus und seine Jünger sitzend vorgestellt, ohnerachtet er, der gelehrte Maler, wohl wußte, daß man im Morgenlande damals bey Tische gelegen. Aber er fand die andere Vorstellungsart seinen künstlerischen Absichten weit zuträglicher, was Bossi sehr gut entwickelt“ (S. 128). 59 GT VI 1, S. 125. 60 Vollständiger Abdruck von Goethes „Nachtrag“ am Ende von Beilagen, Text 9 (S. 99); s.-auch: FA 22, S. 570f.; Abdruck der „Stelle“ ebd., S. 1451f.; auch MA 11.2, S. 240-242. 61 WAN 1, S.-427 (Nr. 7901a); siehe Ruppert, Nr. 1970. <?page no="32"?> 32 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann am 6. Februar schickt er ihn zurück. Spätestens am 20. März erscheint der Aufsatz im Heft I 3 von „Kunst und Alterthum“ (noch unter dem Erscheinungsjahr 1817). 9. Entschiedener noch als im Jahr zuvor nimmt Goethe 1818 für Hermann Partei. Brief an Sulpiz Boisserée, 16. Januar 1818: „H e r m a n n in Leipzig ist dagegen unser eigenster Vorfechter. […] seine lateinische Dissertation über die alte Mythologie der Griechen macht mich ganz gesund […]“; s. Beilagen, Text 8, S.-96. 10. Von dem Philologen Ferdinand Gotthelf Hand (1786-1851), einem Schüler Hermanns, bis 1817 Gymnasiallehrer in Weimar, im gleichen Jahr Professor an der Universität Jena 62 , leiht Goethe sich auch die andere Schrift Hermanns zur griechischen Mythologie aus: De historiae Graecae primordiis dissertatio (Leipzig 1818). In ihr deutet Hermann die griechischen Heldenmythen als Spiegelungen historischer Prozesse. Goethe gibt die Schrift nicht zurück, sondern stellt sie, gewiss versehentlich, in seine Bibliothek ein. 63 Hand wird den Verlust sehr wohl bemerkt, aber nicht gewagt haben, sein Eigentum zurückzufordern. 10a. Am 12. Mai 1818 dankt Sulpiz Boisserée Goethe brieflich für die Zusendung des 3. Hefts von „Über Kunst und Alterthum“, das „sehr vielseitigen Stoff zum Weiterdenken und Verhandeln“ biete. Seine Anmerkungen zu Goethes „Darstellung der Geistesepochen [nach Hermanns neusten Mittheilungen]“ „verspare“ er sich „auf den nächsten Brief“. 64 10b. Am 13. Mai 1819 kündigt der russische Politiker und Gelehrte Graf Sergej Semjonowitsch Uwaroff (1786-1855), seit 1818 Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, Goethe als Gegengabe für dessen „Festgedichte“ „Bei allerhöchster Anwesenheit Ihro Majestät der Kaiserin Mutter Maria Feodorowna in Weimar Maskenzug 1818“ die Zusendung seiner „kurze[n] Schrift“ „Über das Vor-Homerische Zeitalter. Ein Anhang zu den Briefen über Homer und Hesiod von Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer“ , St. Petersburg 1819, an. 65 Goethe nimmt 62 Hand hatte (zusammen mit Riemer) Goethe 1813 bei der Restauration und Aufstellung eines Abgusses der kolossalen Statue Domitians („von Statius beschrieben“) in Goethes Haus beraten (TuJ 1813; FA 17, S.- 254), ferner am 24. 2. 1813 an Goethe Schriftproben einiger „der vorzüglichsten Philologen“ für dessen Autographensammlung gesandt (RA 6, Nr. 677), im November 1816 ein Exemplar der Streitschrift P. Buttmanns und Fr. Schleiermachers „Über Heindorf und [F. A.] Wolf“ geliehen (RA 7, Nr. 595); am 17. 4. 1817 teilte er Goethe Namen und Herkunftsort des „jungen Neugriechen“ J. Papadopulos mit (RA 7, Nr. 909), am 6. 4. 1818 bat er Goethe im Auftrag des akademischen Senats der Universität Jena um „Belehrung“, wie eine Gedenkmünze zum im Herbst 1817 gefeierten Reformationsjubiläum gestaltet werden könnte (RA 8, Nr. 191). Bereits im März 1812 war im „Journal des Luxus und der Moden“ Hands umfangreiche Besprechung der Aufführung von „Romeo und Julia nach Shakespeare von Göthe auf dem Weimarischen Hoftheater“ erschienen (FA 12, S. 1526-1534; gekürzt). 63 Ruppert, Nr. 3300 (mit hs. Widmung: „H. Prof. Hand empfiehlt sich Prof. Hermann“. „D. Weben“). 64 BW Goethe ‒ Boisserée 2, S. 219 (auch in HA-BaG 2, S. 241, Nr. 484); s. RA 8.1, Nr. 282. 65 BW Goethe - Uwarow, Nr. 16 (RA 8.1, Nr. 827). <?page no="33"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 33 die als Beilage zu Gregor v. Willamows Brief vom 20. Mai 1820 bei ihm eintreffende Broschüre 66 in seine Bibliothek auf. 67 Eine Antwort an Uwarow ist nicht überliefert. 1820 11. In Karlsbad begegnen sich Goethe und Hermann zum zweiten Mal. Goethe, Kurgast seit dem 29. April, erfährt von Hermanns Anwesenheit, sucht ihn und seinen Kurgefährten Prof. Pölitz 68 , gleichfalls aus Leipzig, am 20. Mai in deren „wunderlicher Bergwohnung“ (Tgb) auf, dem Gasthof „Nürnberger Hof“ auf der Anhöhe östlich der Stadt, verfehlt ihn und hinterläßt, wohl mündlich, die Aufforderung zum Gegenbesuch unten im Tal in seinem Quartier „Zu den drey Mohren“. Hermann kommt der Bitte gleich am nächsten Tag nach, und von da an sehen beide sich täglich, bis zum 27. Mai, dem Vorabend der Abreise Goethes. 11a. Eine Andeutung des Gesprächsinhalts hält Goethe nur für das letzte Beisammensein fest: Tgb 27. Mai 1820: „Über Trilogie pp.“ 69 In seinem ersten Brief an Goethe (unten Nr. 14a) deutet Hermann an, dass er mit ihm über mehrere eigene Schriften der letzten Jahre gesprochen hat, darunter zweifellos De compositione tetralogiarum tragicarum (1819), was sich mit Goethes Notiz deckt. Beim letzten Treffen übergibt Goethe Hermann ein Billett, in dem er ihm den Gymnasiallehrer Prof. Dittrich 70 aus Komotau empfiehlt: „Herrn Professor und Ritter Hermann wird Herr Professor Dietrich von Kommotau hiedurch aufs beste empfohlen. CB. d. 27. May 1820. Goethe.“ 71 66 S. RA 8.1, Nr. 838. 67 Ruppert, Nr. 697. 68 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig (1772-1838), Historiker, Staatswissenschaftler, 1795 Professor an der Ritterakademie in Dresden, 1803 Professor in Leipzig, 1804 in Wittenberg, 1815 wieder in Leipzig. 69 p.: Abkürzung von lat. „perge“ =-„fahre fort“, i.S.v. „usw.“: sehr häufig bei G., bes. in Briefen; auch redupliziert: p.p. 70 Anton Franz Dittrich (G.: Dietrich) (1786-1849), geb. in Wissotschan (Vysočany), Geistlicher, Philologe, Zögling des Zisterzienser-Stifts Ossegg (Priesterweihe am 25. 8. 1810 in Leitmeritz), ab 1810 Gymnasialprofesssor in Komotau, später Professor in Prag, dort 1821 Universitätsprediger, 1844 Präfekt des Altstädtischen Akademischen Gymnasiums. 71 WA IV 33, S. 340 abgedruckt mit der Bemerkung: „Die folgende eigenhändige Empfehlungskarte, jetzt in der Hirzelschen Sammlung / Universitätsbibliothek Leipzig, wird wegen mangelnden Briefcharakters hier [im Anschluss an die Lesarten zu G.s Brief an Sulpiz Boisserée vom 26. Mai 1820, Nr. 28] eingefügt“ (abweichende Lesart: „hierdurch“ statt „hiedurch“). ‒ Hermann hatte das Billett wohl auch als gegenüber den durchweg diktierten Briefen singuläres autographes Dokument Goethes aufbewahrt (s. Hans-Joachim Schreckenbach, Goethes Autographensammlung. Katalog , Weimar 1961, S. 25); s. auch o., S.-27f. mit Anm.-50. <?page no="34"?> 34 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann Ob der Empfohlene, den Goethe von Begegnungen in Teplitz (1. und 16. Juli 1813) 72 , Karlsbad (28. August 1818), Weimar (28. September und 3. Oktober 1818) und wieder Karlsbad (18. September 1819) 73 kannte und schätzte, Hermann aufgesucht hat, ist nicht bekannt. Hermann bewahrt das Billett auf, zur Erinnerung 72 Goethes Tgb vom 1. Juli 1813 (GT V,1, S. 69: „A n t o n D i t t e r i c h Cistercienser Ordens-Priester und Prof des Stils am Gymnasium zu Commotau“) und Dittrichs Bericht über seine Begegnung mit G. am 16. Juli (Brief vom 17. Juli, in: Schriften der Goethe-Gesellschaft 18 [„Goethe und Österreich“ II], S. 392). TuJ 1813: „Bedeutende Personen wurden von mir gesehen. […] Professor Dietrich vom Gymnasium zu Commotau.“ (FA 17, S.-255). Siehe Dittrichs Brief an G. vom 5. 10. 1813 (RA 6.1, Nr. 750 / HA-BaG 2, S. 139- 141, Nr. 428) und G.s Antwortbief vom 27. 11. 1813: „Ew. Wohlgeboren danke zum allerschönsten daß Sie durch Herrn Hofmedikus Schwabe sowohl mündliche als schriftliche Nachricht an mich gelangen lassen. Während des ganzen Feldzugs, durch welchen das liebe Böhmen beschädigt und bedroht wurde, habe ich mich immer fleißig nach Komotau erkundigt und mit Vergnügen gehört, daß die so nahen Kriegsübel sich nicht bis zu Ihnen erstreckt und hierzu wünsche ich um so mehr Glück als ich überzeugt bin, daß Sie die Ihnen nunmehr geplante Ruhe zur Bildung einer hoffnungsvollen Jugend mit gewohntem Eifer verfolgen werden. Die Äußerungen Ihres Briefes, sowohl über unsere Gespräche als über die Wieland gewidmete Denkschrift befestigen bey mir die Überzeugung, daß eine jede Anregung von Ihnen mit Empfänglichkeit aufgenommen und mit Geist und Sinn weiter gefördert werde. Wie sehr sollte es mich freuen Sie in Ihrem Wirkungskreise, zu würdigen Collegen gesellt und von aufmerksamen Jünglingen umgeben, im nächsten Jahre begrüßen zu können“ (WA IV 24, S. 47f.; Konzept). 73 TuJ 1819: „[…] und so ward ich auch im Gespräch mit Professor Dietrich von Commotau an frühere Teplitzer Momente hingewiesen, alte Freude, altes Leid wieder hervorgerufen“ (FA 17, S. 300). ‒ Tgb vom 18. 9. 1819: „Adresse a n P r o f . D i e t r i c h .“ (WA III 7, S. 95 und dazu S. 295). Abb. 3: Egh. Empfehlungskarte Goethes vom 27. Mai 1820 für Prof. Dittrich von Komotau an G. Hermann <?page no="35"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 35 an Goethe und als Autograph von ihm. Es wird das einzige eigenhändige Schreiben des Dichters bleiben, das in seinen Besitz gelangt: Goethes spätere Briefe an ihn sind sämtlich als „Munda“ ausgefertigte (d. h. von Goethe durchgesehene) Diktatniederschriften von der Hand seines Schreibers John. 13. Goethes Rückblick, TuJ 1820: „Mit Professor Hermann aus Leipzig führt mich das gute Glück 74 zusammen und man gelangt wechselseitig zu näherer Aufklärung.“ 75 13a. Am 26. Mai 1820 schreibt Goethe aus Karlsbad an Karl August: „Höchst erfreulich war es mir auch, Professor Hermann aus Leipzig nach vielen Jahren wiederzusehen; er ist noch so wacker und nett wie jemals, sein Dämon ist ihm getreu geblieben.“ 76 13b. Ebenfalls am 26. Mai schreibt der Weimarische Beamte Karl Friedrich Anton Conta (seit 1817 geh. Kommissar für die Angelegenheiten der Universiät Jena, 1819 Geh. Archivar), der sich gleichzeitig mit Goethe und Hermann in Karlsbad aufhielt und mit beiden verkehrte, an seine Frau: „An Goethes Stelle wird mir Hermann treten, ein kraftvoller, geistreicher Mann, der, wenn er auch kein Goethe ist, doch ebenfalls anregend und belebend durch seine Gespräche wirkt. Und Goethe sagte mir von ihm: ‚Wenn man nur so glücklich wäre, einen so interessanten Mann wenigstens alle Vierteljahre einmal zu sprechen.‘ […]“ 77 , und am 27. Mai 1820: „Hermann verehrt Goethen wie einen Gott in Menschengestalt.“ 78 74 In Anlehnung an die antike Apostrophierung der numinosen Macht des Glücks als heilbringende Gestalt (ἀγαθὴ τύχη); vgl. Goethe an Johann Caspar Lavater, Schaffhausen, zwischen 3. u. 5. 12. 1779: „[…] wir [Goethe und Carl August] haben unterweegs mancherlei Anlas gehabt, dem guten Glük einen Stein der Dankbarkeit zu widmen und das ex voto ist keine blose Phrase. […] Zuförderst sollte [auf dem gedachten Monument] das gute heilsame Glük stehen […], die launische Freundinn und Belohnerinn keker Unternehmungen mit Steuerruder und Kranz […]. Das erstemal dass wir nach einer langen nicht immer fröhligen Zeit aus dem Loche in die freye Welt kommen, zusammen den ersten bedeutenden Schritt wagen, gleich mit dem schönsten Hauche des Glücks fortgetrieben zu werden, in der späten Jahrszeit alles mit günstiger Sonne und Gestirnen […]“ (WA IV 4, S. 142-144). Vgl. Goethes analoge Würdigung der durch den Kontakt mit Hermann erlebten „glücklichsten Augenblicke“ seines Lebens im letzten Brief vom 12. 11. 1831 (Nr. 14). 75 FA 17, S. 321f. 76 WA IV 33, S. 46 (Nr. 29); Abweichungen im BW Goethe - Carl August, Bd. 2, S. 287 (Nr. 746): kein Komma nach „auch“, „treu“ statt „getreu“. 77 GG III/ 1, S. 173 (Nr. 4780). 78 Ebd., S. 174 (Nr. 4781); auch an Goethe selbst berichtete Conta aus Karlsbad über Hermann, mit dem er ‚einen Disput zu Entwicklungsfragen der deutschen Literatur‘ gehabt habe, dieser bewundere Goethes Werke (5. 6. 1820; Abdruck des Briefs in GJb 22 [1901], S. 22-25; s. RA 9/ 1, Nr. 207). <?page no="36"?> 36 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 14. Beim Abschied hat Goethe Hermann wohl nicht geradezu aufgefordert, ihm seine Schriften zu schicken, bei Hermann aber offenbar den Eindruck hinterlassen, dass solche Gaben ihm nicht ungelegen sein würden. So kommt es zum Schriftenaustausch und damit verbunden zum Briefwechsel. Nicht lange nach der Rückkehr nach Leipzig eröffnet Hermann diese Form des Kontaktes, die bis 1831 nachweisbar ist und zweifellos nur durch Goethes Tod 1832 ihr Ende findet. 14a. Erster Brief Hermanns an Goethe, 31. 7. 1820 (siehe S. 55). 14b. Als Anlage beigefügt sind folgende Schriften Hermanns: Über die bestrittene Caesur im Trimeter der griechischen Komödie. Ein Brief an den Herausgeber der literarischen Analecta [Friedrich August Wolf] nebst dessen Vorwort. Beilage zum 1. Heft der Analecta, Berlin 1817 (Ruppert, Nr. 673); Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer , Leipzig 1819 (Ruppert, Nr. 1971); De Ricardo Bentleio eiusque editione Terentii dissertatio , UPr Leipzig 1819 (Ruppert, Nr. 1446, 2. Exemplar in G.s Sammelband, Ruppert, Nr. 687; Opuscula II, 1827, 263-287); De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli , UPr Leipzig 1819 (Ruppert, Nr. 1969, in G.s Sammelband, Ruppert, Nr. 687; Opuscula II, 1827, 288-305); De compositione tetralogiarum tragicarum dissertatio , UPr Leipzig, 25. Februar 1819 (Ruppert, Nr. 688, 2. Exemplar in G.s Sammelband, Ruppert, Nr. 687; Opuscula II, 1827, 306-318); De Aeschyli Danaidibus dissertatio , UPr Leipzig 1820 (Ruppert, Nr. 1230, 2. Exemplar in G.s Sammelband, Ruppert, Nr. 687; Opuscula II, 1827, 319-353). 79 14c. Goethes Interesse gilt zunächst der Schrift über die Mythologie: Tgb 6. August 1820: „Den Tag über in Zwischenzeiten Hermann Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie.“ 80 TuJ 1820: „ Hermanns Programm über das Wesen und die Behandlung der Mythologie, empfing ich mit der Hochachtung, die ich den Arbeiten dieses vorzüglichen Mannes von jeher gewidmet hatte: denn was kann uns zu höherem Vortheil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hinrichten! Eine Bemerkung konnte mir nicht entgehen, daß die spracherfindenden Urvölker, bey Benamung der Naturerscheinungen und deren Verehrung als waltender Gottheiten, mehr durch das Furchtbare als durch das Erfreuliche derselben aufgeregt worden, so daß sie eigentlich mehr tumultuarisch zerstörende als ruhig schaffende Gottheiten gewahr wurden. Mir schienen, da sich denn doch dieses Menschengeschlecht in seinen Grundzügen niemals 79 Die Anlage könnte Goethe durch seinen Sohn in zwei Paketen am 5. 8. 1820 nach Jena nachgeschickt worden sein (s. RA 9/ 1, Nr. 336). 80 WA III 7, S. 205. <?page no="37"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 37 verändert, die neusten geologischen Theoristen von eben dem Schlage, die ohne feuerspeiende Berge, Erdbeben, Kluftrisse, unterirdische Druck- und Quetschwerke (πιέσματα), Stürme und Sündfluthen keine Welt zu erschaffen wissen.“ 81 14d. Am Schluß der Abhandlung De compositione tetralogiarum tragicarum rühmt Hermann Euripides und Goethe; der eine habe in der Alkestis , der andere in Götter, Helden und Wieland die Gestalt des Herakles vorzüglich dargestellt. 82 Er äußert den Wunsch, Goethe möge die Farce in eine neue Ausgabe seiner Schriften mit aufnehmen. 83 14e. Durch die Tetralogien-Schrift lässt Goethe sich später zu seiner eigenen kleinen Studie über dasselbe Thema, Die tragischen Tetralogien der Griechen (1823; s. unten Nr. 20 und Beilagen, Text 17, S. 132-135), und zu Bemerkungen über den Kyklops des Euripides (1823/ 24, 1826; s. unten Nr. 21 und Beilagen, Text-16, S. 128-131) anregen. Den Eingangssatz der Hermannschen Abhandlung über die Flussnymphen wählt er zum Schluss-Motto eines seiner geologischen Aufsätze, Der Horn (1820; s. unten Nr. 16 und 18 und Beilagen, Text 13, S. 112): „Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. / Hermannus.“ 15. Im September dankt Goethe. Erster Brief Goethes an Hermann, 9. September 1820 (siehe S. 55f.). 15a. Am 9. September 1820 erreichen Goethe der Aushängebogen des Schlusses und der Umschlag des Heftes II 3 von „Kunst und Alterthum“. Er schließt daraus, die fertigen Hefte würden in wenigen Tagen folgen, und schreibt Hermann noch am gleichen Tag in diesem Sinne. Als die Hefte sich verzögern, will er offenbar den Versand des Briefs nicht länger aufschieben: er notiert unter dem Brief: „Abgegangen den 20. September. / Das angekündigte Heft nächstens.“ Jedoch 81 FA 17, S. 316. 82 „ De compositione tetralogiarum tragicarum dissertatio “, S. 13f.: „Omnino autem, quales Troades sunt, aliae quoque in Euripideis fabulis, eaeque breviores fere tragoediae inveniuntur, quae canticorum varietate ita sunt temperatae, ut eo in trilogiis officio functae videantur, quod Choephoris supra tribuimus. Eiusmodi sunt Andromachae, Supplices, Hercules furens, et, quam doctores quidam umbratici, a quorum tenuitate nimis abhorreret Hercules ille, simili iudicii perversitate ut Aeschyli Persas, paene ad comoediae humilitatem abicii deputarunt, Alcestis. Et tamen Hercule illo vix quidquam divinius ab Euripide factum est. Quod nemo praeclarius ostendit, quam Goethius noster, cuius fabellam, quam Deos Heroas et Wielandium inscripsit, ut ab Operum eius editione vivo Wielandio excludi humanitatis fuerit, at mortuo inseri iis magnopere cupimus. Miseri sunt, quibus in illo spes est, de mortuis non nisi bene . Neque in his est Wielandius, vir immortalis, etiam si quid, ut omnes facimus, aliquando erraverit.“ 83 Der Erstdruck von „Götter Helden und Wieland. Eine Farce“ war 1774 „auf Subscription“ in Leipzig erschienen (Hagen, S. 105 [Einzeldrucke, Nr. 59: auf Veranlassung von Lenz in Kehl gedruckt]); im selben Jahr und 1775 folgten mehrere Nachdrucke: Hagen, Nrn. 60-63; Wiederabdruck erst in Bd. 33 der AlH (C 1 / C²), 1830 (Hagen, Nrn. 23/ 24). <?page no="38"?> 38 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann bestätigt Goethes Tgb erst am 27. September, dass der Brief an „H e r r n P r o f . u n d R i t t e r H e r m a n n nach Leipzig“ 84 nunmehr abgeschickt sei. Die Freiexemplare des Zeitschriftenheftes treffen drei Tage später, am 30. September, bei Goethe ein. Bald darauf erhält Hermann, mit einem neuerlichen, kürzeren Begleitschreiben (vom 5. Oktober 1820), das ihm zugedachte Exemplar. 16. Zweiter Brief Goethes an Hermann, 5. Oktober 1820 (s. Seite 57). 16a. Beilage: J. W. v. Goethe (Hg.), Ueber Kunst und Alterthum, Heft III 2. - Goethe hat in seinem Tgb genau vermerkt, wem er die Freiexemplare des Heftes zukommen lässt: 1. Oktober seinem Sohn August, 4. Oktober Nicolovius, Schultz, Zelter (alle Berlin) und Rochlitz (Leipzig), 6. Oktober Graf Reinhard (Frankfurt/ Main), Hermann (Leipzig) und Frl. Auguste Bergius (Berlin). 85 Dass Hermann in diese Runde aufgenommen ist, kommt aus der Perspektive Goethes einer Auszeichnung gleich. Von ihm erwartet der Dichter auch, wie der Brief vom 9. September (oben Nr. 15) erkennen ließ, ein fachmännisches Urteil. 17. Hermann beeilt sich zu antworten. Zweiter Brief Hermanns an Goethe, 15. Oktober 1820 (siehe S. 57-60). 18. Auf diesen Brief, den längsten der Korrespondenz, musste Goethe nicht unbedingt antworten, wohl aber wäre er mit der Zusendung des am 5. Oktober 1820 in Aussicht gestellten Heftes zur Morphologie mit dem Aufsatz Der Horn am Zug gewesen. Es gibt jedoch keinen Anhalt dafür, dass er das Heft wirklich geschickt hat. Nach dreivierteljähriger Pause ist es vielmehr Hermann, der den Kontakt fortsetzt. 1821 19. Dritter Brief Hermanns an Goethe, 15. Juli 1821 (siehe S. 60f.). 19a. Beilage: G. Hermann, Euripidis fragmenta duo Phaethontis e codice Claromontano edita , UPr Leipzig 1821. 19b. Goethes Tgb, 22. Juli 1821: „Von Professor Hermann aus Leipzig Fragmente des Euripideischen Phädons [sic! ].“ 86 19c. Hermanns Sendung trifft ein, während sich Goethe zur Reise nach Nordböhmen (Marienbad, Eger) rüstet, die er am 26. Juli antritt und von der er erst am 15. September nach Jena und am 4. November nach Weimar zurückkehrt. Sein Interesse an Hermanns Gabe zeigt sich daran, dass er sie ins Reisegepäck nimmt und am Zielort sogleich zu studieren beginnt: Tgb Marienbad, 30. Juli 1821: „Hermann 84 WA III 7, S. 228. 85 Ebd., S. 230-233. 86 WA III 8, S. 80. Die irreführende Form „Phädons“ beruht wohl auf dem Saxonismus „Phaedons“ in Kräuters Diktat-Hs. (WA 41.2, S. 404, Anm. 1). <?page no="39"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 39 Euripides-Fragmente.“ 87 Offenbar bereitet ihm das Griechische jedoch Schwierigkeiten, so dass er die weitere Beschäftigung damit zurückstellt. 19d. Während des Herbstaufenthaltes in Jena schreibt er am 7. Oktober 1821 an Riemer: „Ein Hermannisches Programm, Fragmente eines Euripidischen P h a e t h o n s enthaltend, hat mir auch große Freude gemacht; es ist der Anfang und das Ende und man muß gestehen daß sich die Mitte nicht errathen läßt; im Ganzen hat es mich an Hippolyt 88 erinnert.“ 89 Noch in Jena, bittet er Göttling um Übersetzung der Phaethon -Fragmente. Der Angesprochene liefert das Gewünschte unverzüglich: Tgb 25. Oktober 1821: „Professor Göttling die Übersetzung des Phaetons [sic! ] bringend.“ 90 Schon am nächsten Tag unterzieht er sie einer ersten Durchsicht, Tgb 26. Oktober 1821: „Die Übersetzung des Phaethon durchgegangen.“ 91 19e. Die Intensivphase seiner Beschäftigung mit dem Phaethon setzt wenig später in Weimar ein: Tgb 7., 9.-16., 24. November; 7., 29., 30. Dezember 1821. 92 Von Riemer unterstützt, zieht er anhand der von diesem beschafften Euripides-Ausgabe von Musgrave auch die aus antiken Quellen schon bekannten anderen, jeweils nur wenige Worte umfassenden Fragmente des Stückes heran. Das Tagebuch gibt Einblick in den Arbeitsgang. So hat Goethe den Phaethon am 9. November „genauer durchgesehen und rangirt“, am 13. November „redigirt“, am 24. November teilweise „mundirt“, am 7. Dezember mittags nach Tische in einer „Vorlesung“ dargeboten und am 29. Dezember nochmals „überdacht“ und an ihm „fortgeschrieben“. 19f. Im November äußert er sich auch gegenüber Außenstehenden zum Thema. Brief an K. E. Schubarth, 19. November 1821: „Professor Hermann hat Anfang und Ende eines Euripideischen Stücks Phaethon aus der Pariser Handschrift herausgegeben; ich habe eine Übersetzung veranlaßt und beschäftige mich nun, mit Beyhülfe und Einschaltung schon bekannter Fragmente dieses Stücks 93 das Ganze vor den 87 WA III 8, S. 85. 88 Dazu s. EGW IV, S. 220, Anm. 2: „Mit Euripides’ Hippolytos hatte G sich besonders intensiv im Nov 1807 beschäftigt, als er A. W. Schlegels höchst schätzenswerthe Abhandlung Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide (Paris 1807) studierte; vgl. an Eichstädt 18. Nov 1807 [WA IV 19, S. 459].“ 89 WA IV 35, S. 133. 90 WA III 8, S. 128; s. dazu WA I 41.2, S. 404f. 91 Ebd., S. 129. 92 Sämtliche Belegstellen aus G.s Tgb für November und Dezember 1821 sind aufgeführt in EGW IV, S. 220f. 93 Veröffentlicht in Bd. 2 der Euripides-Ausgabe von S. Musgrave, S. 415, die G. vielleicht schon im Oktober 1821 in Jena konsultiert hatte; eine Übersetzung Göttlings liegt nicht vor. Vermutlich hat erst Riemer diese Fragmente G. aus dem Exemplar der Weimarer Bibliothek mitgeteilt, das G. auch während der Drucklegung des Phaethon am 16. Februar 1823 entlieh. Die von G. eingeschalteten Fragmente aus Musgraves Edition sind nachgewiesen bei Petersen, S. 216 (s. auch FA I 12, S. 1039f.). <?page no="40"?> 40 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann Geist wieder herzustellen, indeß die Chorizonten 94 auch an den ganzen Stücken nieseln 95 und rütteln; jene Beschäftigung macht mir viel Vergnügen.“ 96 Brief an C. L. F. Schultz, 28. November 1821: „Eine angenehme Zwischenbeschäftigung hatte ich diesen Sommer; Professor Hermann in Leipzig gab Fragmente eines Euripidischen Trauerspiels heraus, eines P h a e t h o n s, Anfang und Ende, die Mitte fehlt. Nun sind von einem so benamsten Stücke schon kleinere Fragmente bekannt, und ich ward zu einem Versuch getrieben, das Stück wenigstens gewissermaßen wieder herzustellen: es ist unglaublich groß gedacht und nöthigt uns zum Denken; das Unternommene muß noch reifer werden; was auch daraus entstehe, wird es Ihnen gewiß Freude machen. | Ich habe bey dieser Gelegenheit den Euripides wieder vorgenommen und begreife immer besser, wie Aristophanes ihn hassen und ganz Griechenland ihn verehren konnte; auch er ist das Geschöpf so wie der Günstling seiner Zeit, vor der wir uns denn freylich tief zu verbeugen haben.“ 97 19g. Goethe TuJ 1821: „Die Fragmente Phaethons, von Ritter Hermann mitgetheilt, erregten meine Productivität. Ich studirte eilig manches Stück des Euripides, um mir den Sinn 98 dieses außerordentlichen Mannes wieder zu vergegenwärtigen. Prof. [C. W.] Göttling übersetzte die Fragmente und ich beschäftigte mich lange mit einer möglichen Ergänzung.“ 99 1822 19h. Am 26. Februar spricht Goethe laut Tgb mit J. H. Meyer über „Phaethon und anderes Kunstreiche und Poetische“. 100 Doch dann legt er eine Pause ein. 94 Zu diesem Begriff (von G. auch mit „die [die Einheit der ‚Ilias‘] Zerreißenden“ übersetzt), s. EGW IV, S. 221, Anm. 2. 95 kritteln, herumnörgeln; s. DWb unter „nisseln“ und „nuseln“. 96 WA IV 35, 179. ‒ Zu G.s Arbeit an dem 1823 in KuA IV 2, S. 5-34 veröffentlichten Text „Phaethon. Tragödie des Euripides“ s. die Dokumentation in EGW IV, S. 219-227. ‒ Zu Hermanns Tragödien-Rekonstruktionen s. Martin L. West, „Hermannus de argumentis tragicis restituendis“, in: Hermann-Symposion 2007, S. 265-276. 97 WA IV 35, S. 192f. 98 Die Denk- und Empfindensweise. 99 FA 17, S. 328; zu G.s Rekonstruktion s. Weisinger, der nach detaillierter Prüfung der von Goethe (mit Riemers und Göttlings Hilfe) vorgenommenen Arbeit mit Hermanns Edition der Fragmente zu einer Revision seiner Ausgangs-These („Goethe’s reconstruction of the Phaethon fragments is not one of the masterpieces of the Poet’s old age […]. […] the reconstruction ends indifferently and in some confusion“ [S. 154]) gelangt: „Certainly the play, even in its fragmentary state, led Goethe ‚zum Höchsten und Würdigsten‘ and led him to envision a work of great dramatic possibilities. His reconstruction of the fragments is itself hardly a complete drama, yet through the comments and the later essay we can imagine how splendid the reconstruction would have been if the poet had lived to resume work on it. As it is, we have in the work of Euripides and Goethe two magnificent ruins, each very different from the other, and each with its particular genius“ (S. 192). 100 WA III 8, S. 171. <?page no="41"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 41 Erst im Dezember hält er im Tgb wieder eine Beschäftigung mit dem Stück fest: 2., 3., 20., 21. Dezember 1822. Am 21. Dezember widmet er sich ihm den ganzen Tag, bringt das Manuskript ins Reine und bespricht es mit Riemer. Am 22. und 23. Dezember „redigirt“, „mundirt“ und „corrigirt“ er es. 101 19i. Auch Eckermann, nach Soret, bestätigt diese neuerliche Aktivität Goethes: 3. Dezember 1822: „Er beschäftigt sich jetzt [ aus: gegenwärtig] mit der Übersetzung und Zusammenstellung der Fragmente vom Phaëton [ aus: Phaëthon] des Euripides. Er hat diese Arbeit bereits vor einem Jahre angefangen und in diesen Tagen wieder vorgenommen.“ 102 [Grundschicht, nach Soret: ] „Il s’occupe maintenant à traduire et à compléter une tragédie d’Euripide dont il ne reste que des fragments: Phaéton . C’est un travail entrepris il y a juste un an, mais qu’il vient de reprendre ces jours passés.“ 103 1823 19j. Im Januar kommen die Arbeiten am Phaethon zum Abschluß, Tgb 20. Januar: „Abends Professor Riemer, Phaethon mit ihm durchgegangen“, 26. Januar: „Phaethon emendirt“, 27. Januar: „Sendung an Frommann, Phaethon pp.“ 104 20. In der Schlußphase dieser Arbeiten nimmt Goethe auch das Programm über die Tetralogien vor, das Hermann ihm 1820 mit seiner ersten großen Druckschriftensendung hatte zukommen lassen (s. oben Nr. 14b), Tgb 10. Januar 1823: „Hermann de compositione Tetralogiarum tragicarum Dissertatio. Lipsiae 1819.“ 105 Auch zu diesem Thema schreibt er sogleich einen eigenen kleinen Artikel, Tgb 29. Januar 1823: „Griechische Tetralogie nach Hermann. […] Später den Aufsatz über Tetralogien durchgearbeitet.“ 106 Bald darauf gibt er auch diesen Text für „Kunst und Alterthum“ IV 2 in Satz. 107 21. Nur einen Tag nach Abschluß des Tetralogien-Artikels wird Goethe durch die gleiche Hermannsche Schrift zur Beschäftigung mit dem Kyklops des Euripides geführt, Tgb 30. und 31. Januar, 2. Februar 1823, und legt auch dazu eine kurze Niederschrift an, datiert auf den 3. Februar 1823. Nach längerer Zeit, am 26. Juni 1824, erwähnt er sie Zelter gegenüber und arbeitet im Anschluß daran an ihr weiter (Tgb 11. Juli 1824; auf den 25. August 1824 datierter Manuskript- 101 EGW IV, S. 222. 102 FA 39, S. 509 / 881. 103 Frédéric Soret, Conversations avec Goethe . Documents présentés par A. Robinet Cléry, Paris 1932, S. 8. 104 WA III 9, S. 8-10. 105 Ebd., S. 4. 106 Ebd., S. 11. 107 S. Beilagen, Text 17 (S. 132-135); über die Versendung des Druckmanuskripts gibt es keinen Beleg; Eingang des Revisionsbogens am 5. Mai (Ls 4, S. 235). Zu diesem Aufsatz s. G.s dritten Brief an Hermann (S. 61f.). <?page no="42"?> 42 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann teil). Diesen Text gibt er jedoch nicht in Druck, erst Eckermann bringt ihn 1833 im 46. Band der Goethe-Ausgabe letzter Hand heraus. 108 22. Vom 16. Februar bis 20. März 1823 entleiht Goethe, offenbar um Details seiner Studien zum Phaethon , zu den Tetralogien oder zum Kyklops zu kontrollieren, aus der Weimarer Bibliothek die Bände 2 und 3 der Euripides-Ausgabe von Musgrave 109 , d. h. der gleichen Ausgabe, die er schon 1821 benutzt hatte, s. oben Nr. 19e. Bald nach Eingang der ersten Revisionsbogen von „Kunst und Alterthum“ IV 2 mit dem Phaethon , Bogen 2 laut Tgb am 10. März 1823 110 , stellt Goethe sie, mit Begleitbrief und mit einer zusätzlichen handschriftlichen Skizze zum selben Thema, Hermann zu. 23. Dritter Brief Goethes an Hermann, 6. April 1823 (siehe S. 61f.). 23a. Beilage: „Ueber Kunst und Alterthum“, Heft IV 2, Stuttgart 1823, Bogen 1 und 2; handschriftliche Skizze Goethes zum Phaethon . 23b. Goethe, Tgb 6. April 1823: „Nebenstehende Expeditionen: […] H e r r n P r o f e s s o r R i t t e r H e r m a n n nach Leipzig.“ 111 24. Hermann antwortet unverzüglich. Vierter Brief Hermanns an Goethe, 10. April 1823 (siehe S. 62f.). 24a. Beilage: Sophoclis Tragoediae […], recensuit et brevibus notis instruxit C. G. A. Erfurdt. Vol. I: Antigona . Ed. altera, rec. G. Hermannus, Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 1338); G. Hermann, De Sogenis Aeginetae victoria quinquertii , UPr Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 2054); ders., In nuptias Ioannis principis et Amaliae Bavariae , Leipzig 1823 (in: Ruppert, Nr. 690). 24b. Goethe, Tgb 14. April 1823: „Abends Professor Riemer, die Schubarthische neue Sendung 112 besprochen. Ingleichen die Sendung von Hermann. Über philologische Kritik.“ 113 Goethe antwortet zunächst nicht. Nach einem halben Jahr, im Oktober, schickt Hermann, was er im April angekündigt hatte. 25. Fünfter Brief Hermanns an Goethe, 10. Oktober 1823 (siehe S. 63). 25a. Beilage: G. Hermann, De Aeschyli Niobe , UPr Leipzig 1823; Sophoclis Tragoediae (wie oben Nr. 24a), Vol. II: Oedipus Rex. Ed. altera, rec. G. Hermannus, 108 S. dazu die Dokumentation in EGW IV, S. 231-234 („[Euripides: ] Zum Kyklops des Euripides“). 109 Keudell, Nr. 1464. 110 WA III 9, S. 21. 111 Ebd., S. 33. 112 Erste Hälfte der Aushängebogen von „Paläophron und Neoterpe“ von Karl Ernst Schubarth. 113 WA III 9, S. 36. <?page no="43"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 43 Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 1338); Euripidis Bacchae, rec. G. Hermannus, Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 1260). 25b. Goethe vermerkt den Eingang, Tgb 15. Oktober 1823: „Eine Sendung von Ritter Hermann kam an.“ 114 25c. In der Schrift über die Niobe macht Hermann Goethe ein Kompliment: „Sed ut ad Aeschyli Nioben revertamur, quae compositio fuerit illius fabulae coniiciat fortasse, ut in Euripidis Phaethonte, divinum ingenium Goethii, cui contigit, quod sibi exoptabat Horatius, integra cum mente nec turpem senectam degere nec cithara carentem. 115 Nobis, qui critici fungimur officio, intra fines consistendum est multo angustiores.“ 116 25d. Offenbar durch die Hermannsche Sendung angeregt, entleiht Goethe am 16. Oktober 1823 von der Weimarer Bibliothek Bd. 4 der Musgraveschen Euripides-Ausgabe, Leipzig 1812 [? ]. 117 26. Vierter Brief Goethes an Hermann, 19. Oktober 1823 (siehe S. 64). 26a. Beilage: „Ueber Kunst und Alterthum“, Heft IV 2, Stuttgart 1823. Dass dieses Heft dem Brief beilag, bestätigt auch Goethes Tgb-Notiz vom 20. Oktober 1823: „H e r r n R i t t e r H e r m a n n nach Leipzig. Kunst und Alterthum IV, 2.“ 118 Außer dem Phaethon , den Hermann schon aus den Revisionsbogen kennt (s. oben Nr. 23/ 23a; s. Beilagen, Text 14, S. 113-124), enthält das Heft, was Goethe nicht eigens vermerkt, den Zusatzartikel Zu Phaethon des Euripides , von dem er Hermann eine handschriftliche Skizze geschickt hatte (s. oben Nr. 23/ 23a; s. Beilagen, Text 15, S. 124-127), sowie den durch Hermann angeregten Artikel Die tragischen Tetralogien der Griechen , den er in seinem Brief vom 6. April (s. oben Nr. 23; s. Beilagen, Text 17, S. 132-135) gleichfalls schon erwähnt hatte. 26b. Goethes Nachtrag zum Phaethon ist bemerkenswert nicht nur durch den Einblick in die Entstehungsgeschichte der Rekonstruktion, sondern auch durch ein besonders schmeichelhaftes Kompliment für Hermann: „Die vom Herrn Professor und Ritter H e r m a n n im Jahre 1821 freundlichst mitgetheilten Fragmente wirkten, wie alles was von diesem edlen Geist- und Zeitverwandten jemals zu mir gelangt, auf mein Innerstes kräftig und entschieden […]“ (s. Beila- 114 Ebd., S. 129. 115 Horaz, Carm. I 31,18-20. 116 „De Aeschyli Niobe Dissertatio“, S. 41 („Um jedoch auf die ‚Niobe‘ des Aeschylus zurückzukommen, so könnte den mutmaßlichen Handlungsverlauf jenes Dramas wohl, wie beim ‚Phaethon‘ des Euripides, die göttliche Einbildungskraft Goethes erschließen, dem zuteil wurde, was Horaz sich wünschte [Carm. I 31,18-20]: sein Alter mit unverminderter Geistesstärke in Würde und im Besitz seiner dichterischen Schaffenskraft zu verbringen. Wir, deren Amt die Kritik ist, müssen in viel engeren Grenzen bleiben.“). 117 Keudell, Nr. 1491; kein Rückgabevermerk. 118 WA III 9, S. 131. <?page no="44"?> 44 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann gen, Text 15, S. 124). Diesen einleitenden Worten läßt Goethe ein Schema folgen, wie er sich die Szenen- und Handlungsfolge des Euripideischen Phaethon denkt. 26c. Mit den Bakchen des Euripides hat sich Goethe in der Folgezeit, wie angekündigt, wiederholt beschäftigt und ein Stück daraus auch übersetzt (s. Beilagen, Text 19, S. 138-142), allerdings nicht nach Hermanns Ausgabe, die er zwar zu studieren beginnt, dann aber größtenteils unaufgeschnitten läßt. 27. Offenbar unterläuft Hermann das Mißgeschick, Goethe, der zumindest zu dem zweiten Phaethon -Artikel und dem Tetralogien-Aufsatz eine Äußerung seines Briefpartners erwarten durfte, für die Sendung vom 19. Oktober nicht zu danken. Das dürfte der Grund dafür sein, daß die Beziehung sich entgegen der Erwartung beider lockert. Hermann hält, in Abständen, die Verbindung aufrecht, doch von Goethe liegen aus den nächsten acht Jahren, bis 1831, keine schriftlichen Rückäußerungen vor. Seine Wertschätzung Hermanns und sein zumindest von Fall zu Fall spürbares Interesse für dessen Schriften dauern allerdings fort, s. unten Nr. 33 und 34. 1824 28. In seiner Ausgabe der Euripideischen Alkestis (s. unten Nr. 30b/ c) wiederholt Hermann sein Kompliment von 1819 (s. oben Nr. 14d) für Goethes Farce Götter, Helden und Wieland . 29. Goethe seinerseits nimmt ab dem 11. Juli die Arbeit an seiner Studie zum Kyklops wieder auf (Abschluß von Text II: 25. August): s. oben Nr. 21. 1825 30. Sechster Brief Hermanns an Goethe, 18. März 1825 (siehe S. 64f.). 30a. Zu diesem Brief hat sich auch der Umschlag mit Adresse erhalten: „Seiner Excellenz dem Herrn Geheimrathe und Staatsminister Freiherrn [! ] von Göthe Allhier“. 30b. Beilage: Sophoclis Tragoediae (wie oben Nr. 24a), Vol. III: Ajax . Ed. altera; Vol. VII: Oedipus Coloneus , rec. G. H e r m a n n u s , Leipzig 1825 (Ruppert, Nr. 1338); Euripidis Alcestis cum delectis adnotationibus potissimum I. H. M o n k i i . Accedunt emendationes Godofredi H e r m a n n i , Leipzig 1824 (Ruppert, Nr. 1259); G. Hermann , De emendationibus per transpositionem verborum dissertatio , UPr Leipzig 1824 (Ruppert, Nr. 689); ders., De epitritis Doriis dissertatio , UPr Leipzig 1824 (Ruppert, Nr. 647). Die Schriften waren zu einem Päckchen geschnürt: Goethe, Tgb 23. März 1825: „Packet von Hermann in Leipzig.“ 119 30c. Im Vorwort zur Ausgabe der Alkestis lobt Hermann Euripides ein weiteres Mal (vgl. oben Nr. 14d) für seine kraftvolle Darstellung des Herakles und Goethe dafür, daß er diesen Zug des Heros in Götter, Helden und Wieland vorzüglich erfasst habe. 119 WA III 10, S. 33. <?page no="45"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 45 31. Am 20. März 1825 schickt Friedrich Gottlieb Welcker Goethe sein kurz zuvor herausgekommenes Buch Die Aeschyleische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt , Darmstadt 1824 120 , und sucht in einem Begleitbrief Goethes Vertrauen in Hermanns von der Welckerschen Ansicht abweichende Auffassung der Tetralogienfrage zu erschüttern. 121 Welcker ahnt nicht, dass soeben Hermanns Sendung vom 18. März 1825 (s. oben Nr. 30b) bei Goethe eingetroffen ist und dessen Zustimmung zu Hermanns Grundsätzen sicherlich neuerlich gekräftigt hat, auch wenn der Dichter Hermann Dank und Antwort schuldig bleibt. Auf Welckers Gabe reagiert Goethe ebensowenig wie auf andere Zusendungen seines Bonner Verehrers. 122 1826 32. Anfang Februar reist der im deutschen Exil lebende italienische Revolutionär und Dichter Alessandro Poërio (1802-1848) von Leipzig nach Weimar, wo er 120 Ruppert, Nr. 1233. 121 „Ew. Exzellenz | erlauben gütigst, daß ich Ihnen eine Schrift über Aeschylus vorlege, welche ich schon früher durch einen Freund überreichen lassen zu können gehofft hatte. Ich wünschte nicht blos durch diese Darbringung meiner Armuth Ew. Excellenz einen kleinen Beweis einer Verehrung zu geben, in welcher keiner unter den Freunden des Alterthums und den Verehrern wahrer Kunst zurück bleiben kann; sondern ich hoffe auch, daß vielleicht dieses oder jenes Drama, Iphigenia, Niobe, Sisyphos, oder welches andre dieser unbekannteren, herausgegriffen, nach den geringen Andeutungen des Inhalts, so glücklich seyn dürfte, Ihnen eine heitre halbe Stunde zu gewähren. Die unschätzbarsten Ueberreste, die ich nur zur nothdürftigsten Andeutung des ehemaligen Zusammenhangs zu wenden und zu stellen gesucht habe. | Hr. Prof. Hermann in Leipzig hat meinen Versuch nicht gebilligt, und sogar ein großes Mistrauen gegen die ganze Behandlung gefasst und allgemein zu machen gesucht. Indessen konnten seine Einwendungen meinen Glauben an eine vollkommnere Kunstform und das trilogische Schema des Aeschylischen Dramas nicht erschüttern; und ich hoffe vielmehr durch Erörterung verwandter Erscheinungen auf dem Gebiete der Griechischen Kunst auch dieser, wie ich zu zeigen suche, bisher nicht genug anerkannten neues Licht zu geben. Namentlich sind die Gemälde des Polygnot, deren sicheren Anordnungsgrund ich glaube bemerkt zu haben, hinsichtlich des Umfangs sowohl als der Strenge der Symmetrie, ein auffallendes Seitenstück zu dem Kunstgebäude einer Trilogie. | Ew. Exzellenz haben, wie mir nicht entgangen war, das Hermannsche Programm über die Art der Verbindung antiker Tragödien, verständig und gefällig wie es behandelt ist, mit Beyfall aufgenommen, und Bemerkungen aus anderem Kreise geschöpft an die Seite gestellt. Ich sollte daher fürchten, mit einer abweichenden Ansicht, Ihnen eher misfällig zu werden. Allein ich bekenne in dieser Beziehung mich auf meinen Dichter selbst geruhig zurückzuziehen, welcher sagt: | Τοῖς δ’ ὀλβίοισι καὶ τὸ νικᾶσθαι πρέπει. | [Aischylos, Agamemnon, V. 941] Dieß in dem Fall, als die aufgestellte Ansicht nicht ein Traum und verkehrte Combination ist. Wäre sie dieses, so könnte sie wenigstens bey dem Ernst, womit sie durchgeführt ist, schwerlich einigen Unwillen erregen“ (Textvorlage: GJb 19 [1898], [Reinhard Kekulé von Stradonitz, „Goethe und Welcker“, S. 186-201], S. 188f.; s. auch den Abdruck in HA-BaG 2, S. 402f., Nr. 573). 122 S. Beilagen, Text 8 (Goethe an S. Boisserée, 16. Januar 1818). <?page no="46"?> 46 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann sich von 1825 an insgesamt dreimal aufhält, und besucht Goethe, den er verehrt und dessen Iphigenie er soeben ins Italienische übersetzt hat. 123 Hermann nutzt die Gelegenheit und gibt ihm für Goethe eine schon im letzten Jahr erschienene Schrift mit: G. Hermann, De Aeschyli Philocteta , UPr Leipzig [17. Februar] 1825. 124 Er fügt keinen Brief bei, versieht das Exemplar jedoch mit einer Widmung: „Sr. Excellenz dem Herrn Staatsminister und GeheimRathe von Göthe [sic! ]“. 125 Goethe notiert den Eingang, Tgb 5. Februar 1826: „Herr Poerio von Leipzig kommend, ein Hermannisches Programm überbringend.“ 126 33. Poërio berichtet am 14. Februar nach einem neuerlichen Besuch (am 13.) in Goethes Haus seinem Vater Giuseppe nach Florenz über den Empfang bei Goethe. In dem Brief heißt es u. a.: „[Goethe] molto mi lodò il professore Hermann.“ 127 34. Goethe widmet sich dem Hermannschen Programm unverzüglich, hofft, wie im Falle des Phaethon , zumindest das Aischyleische Stück teilweise rekonstruieren zu können, gibt das Vorhaben nach zwei Anläufen aber auf: Tgb 8.-11. Februar 128 und 27. Juli 129 1826. Zeugnis für die Beschäftigung mit dem Thema ist die „Vergleichende Tabelle“ zu den Philoktet-Dramen des Aischylos (verloren), Sophokles (erhalten) und Euripides (verloren), die Goethe laut Tgb am 10. Februar 1826 angelegt hat. 130 Sie liegt vor in Johns Handschrift, mit flüchtigen Korrekturen von Goethes Hand, in einem Umschlag, der die von Eckermann geschriebene Aufschrift trägt: „Philoktet, dreyfach.“ Unter diesem Titel, Philoktet, dreifach , wird der kurze Text 1907 in WA I 42.2, S. 462-465 erstmals gedruckt (s. Beilagen, Text 18, S. 134-137). 35. Am 18. Februar 1826 schreibt Zelter, Friedrich August Wolf, der seinerzeit Goethe um seinen „neuen Gesang zur Ilias“ (die Fragment gebliebene „Achilleïs“) beneidet habe („wie ein Kaufherr der einen neuen Laden neben sich entstehn sieht“), habe vor seinem Tod (1824) gesprächsweise Goethes Wiederherstellung des Phae- 123 Zu den mehrmaligen Besuchen Poërios bei Goethe ‒ bereits am 2. und 4. Oktober 1825, dann auch am 12. und 13. Februar 1826 ‒ s. seinen Tagebuchbericht: GG III 2, Nr. 5796 und FA 37, S. 363f. mit Kommentar S. 950. 124 Opuscula III (1828), S. 113-129. 125 Ruppert, Nr. 1231. 126 WA III 10, S. 158. 127 GG III 2, Nr. 5797 (italienischer Urtext in: Archiv für Litteraturgeschichte. Hg. von J. Schnorr v. Carolsfeld, Jg. 11, S. 393). 128 WA III 10, S. 159 (8. 2.): „Fortgesetzte Unterhaltung [mit Riemer] über die verschiedene Bearbeitung des Philoktets, deßhalb Dio Chrysostomus.“ (9. 2.): „Später Dio Chrysostomus wegen der griechischen Philoktete.“; S. 160 (11. 2.): „Nachher blieb ich für mich; beschäftigt mit den vier Philokteten und dem Globe.“ ‒ Vom 8. 2. bis 9. 8. 1826 entlieh G. von der Weimarer Bibliothek die Ausgabe „Dionisii Chrysostomi Orationes“, Lutetiae [Paris] 1604 (Keudell, Nr. 1681). 129 Ebd., S. 222: „Abends für mich […]. Die Hermannische Dissertation über die drey Philoctete wieder vorgenommen.“ 130 Ebd., S. 159: „Vergleichende Tabelle der Philoktete.“ <?page no="47"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 47 thon respektiert: „Deine Zutaten zum Phaeton wurden von ihm anerkannt. Ich sagte ihm: ‚ das wäre eine Arbeit gewesen für Sie ‘, worauf ich mich keiner Antwort erinnere.“ 131 Goethe nimmt diese Anekdote in seiner Antwort vom 20. Mai 1826 zum Anlass, den Stand beider Projekte, Phaethon und Philoktet , zu resümieren: „Du gedenkst meines Phaetons, dessen ich mich noch immer freue, obgleich betrübe, daß ich nicht die zwei Hauptszenen damals [1821/ 22] niederschrieb. Wäre es auch nicht zulänglich gewesen, so war es doch immer etwas wovon sich jetzt niemand einen Begriff machen kann. | In jene Regionen werde ich abermals verlockt durch ein Programm von Herrmann, der uns auf drei antike Philoctete aufmerksam macht: der erste von Aeschylus, dem ältesten; der zweite von Euripides, dem jüngsten; der dritte von Sophokles, dem mittlern. Ich mußte mich bald losmachen von diesen Betrachtungen; sie hätten mich ein Vierteljahr gekostet, das ich nicht mehr nebenher auszugeben habe. Von den beiden ersten Stücken finden sich nur Fragmente und Andeutungen; das letzte haben wir noch ganz. Auch hier darf ich nicht weiter gehen, weil ich gleich verführt werde; denn ich konnte mich doch nicht enthalten diese für mich so wichtige Angelegenheit vor allen Dingen durch und durch zu denken; denn hier kommen die wunderlichsten Dinge vor. Sogar hat ein uralter Lateiner 132 einen Philoctet geschrieben und zwar nach dem Aeschylus, wovon denn auch noch Fragmente übrig sind und woraus sich der alte Grieche begreifbar einigermaßen restaurieren ließe. Du siehst aber, daß das ein Meer auszutrinken sei 133 , für unsre alte Kehle nicht wohl hinabzuschlucken.“ 134 Hermann, der Goethes Interesse an dem Philoktet-Thema gewiss nicht ahnt, gibt indes eine nächste Sendung, Brief und Druckschrift, an ihn auf. 36. Siebter Brief Hermanns an Goethe, 29. April 1826 (siehe S. 65). 36a. Beilage: G. Hermann, Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung der griechischen Inschriften , Leipzig 1826. 36b. Goethe, der, was Hermann schwerlich wissen konnte, eine Abneigung gegen Polemik hat, würdigt das Bändchen keiner Beachtung, nimmt es offenbar nicht in seine Bibliothek auf, übereignet es aber auch nicht einer öffentlichen Bibliothek. Für die Registrierung in Goethes „Büchervermehrungsliste“ kommt die Arbeit zu spät, diese Liste bricht mit dem 1. April 1826 ab. 37. Nur eine reichliche Woche, nachdem Goethe das Philoktet-Thema ad acta gelegt hat (s. oben Nr. 34), wendet er sich auf Anregung Göttlings 135 nochmals dem Phae- 131 MA 20.1, S. 909 (Nr. 501). 132 Lucius Accius (170 bis um 86 v. Chr.). 133 Nach der frz. Redensart: „c’est une mer à boire“ (s. GWb Bd. 1, Sp. 1272,20-30). 134 MA 20.1, S. 921 (Nr. 507). 135 S. Goethes Dankesbrief an Göttling für den Hinweis auf Diogenes Laertius, 12. 8. 1826 (WA IV 41, S. 123). <?page no="48"?> 48 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann thon zu, Tgb 5.-9. August 1826 136 , also dem Thema, das er Zelter gegenüber im Mai eigentlich für abgeschlossen erklärt hatte. Insbesondere sucht er jetzt die Angabe bei Diogenes Laertius II 8 u. 10 (Vita des Anaxagoras) auszuwerten, im Phaethon habe Euripides die Sonne einen „Goldklumpen“ genannt. 137 Er legt seine Ansicht, laut Tgb am 9. August, in einem kurzen Aufsatz nieder, den er, gleichfalls laut Tgb 138 , am 12. August an Göttling nach Jena schickt, von diesem am 12. September zurückerhält 139 und im nächsten Jahr zum Druck bringt; s. unten Nr. 38. 140 37a. Für die abschließende Redaktion der neuen Studie zum Phaethon entleiht Goethe vom 2. Dezember 1826 bis 23. Februar 1827 aus der Weimarer Bibliothek nochmals Bd. 2 der Euripides-Ausgabe von Musgrave (s. oben Nr. 19e und 22). 141 1827 38. Unter dem Titel Euripides’ Phaethon (im Inhaltsverzeichnis: Zu Phaethon ) veröffentlicht Goethe den Text aus dem Vorjahr (s. oben Nr. 37) in „Kunst und Alterthum“ Heft VI 1, S. 79-84 (s. Beilagen, Text 20, S. 142-144), schickt Hermann aber offenbar weder ein Heftexemplar noch, wie im Fall von Nr. 23/ 23a, den einschlägigen Revisionsbogen (d 4 ), der Goethe allerdings nur für wenige Tage, vom 13.-17. Januar 1827, zur Durchsicht vorlag (AA-Ls 4, S. 287). 39. Auch von Hermanns Seite ruht der Kontakt. Die ersten beiden Bände seiner gesammelten Kleinen Schriften (Opuscula I / II, Leipzig 1827), die jetzt erscheinen, gelangen nicht in Goethes Bibliothek. 1828 40. Hermann bemüht sich neuerlich um Verbindung zu Goethe. Beim Erscheinen von Bd. III seiner Opuscula schickt er ein Exemplar an Goethe, dazu seine Studie Emendationes Coluthi , UPr Leipzig 1828, ohne Begleitbrief, doch mit handschriftlichen Widmungen: „Sr. Excellenz dem Herrn Staatsminister und Geh. Rathe von 136 WA III 10, S. 226-228: (5. 8.: ) „Las im Diogenes Laertius die Stelle auf Euripides Phaethon bezüglich. […] Nachts Diogenes Laertius. Überlegung wie die darin befindliche Stelle zu nutzen.“ (6. 8.: ) „Wiederaufnahme des Phaethons.“ (7. 8.: ) Phaethon von Euripides auf Anregung von Professor Göttling wieder vorgenommen. Das gestrig Überlegte dictirt.“ (8. 8.: ) „Abends mit Professor Riemer. Anaxagoras zum Phaethon.“ (9. 8.: ) Aufsatz wegen der Stelle im Diogenes Laertius.“ 137 Vom 5.-9. 8. 1826 entleiht Goethe von der Weimarer Bibliothek: Diogenes Laertius: Von den Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen von Borhek , 2 Bde, Wien u. Prag 1807 (Keudell, Nr. 1737), vom 7. 8. 1826-9. 2. 1827: Diogenis Laertii De Vitis, dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum libri X. Graece et Latine , Amsterdam 1692 (Keudell, Nr. 1739). 138 WA III 10, S. 229. 139 Dazu s. AA-Ls 4, 285. 140 S. die Dokumentation in EGW IV, S. 227-230. 141 Keudell, Nr. 1769. <?page no="49"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 49 Göthe zum Zeichen seiner Verehrung der Verf.“ und: „Sr Excellenz dem Herrn Staatsminister u. Geheimen Rathe von Göthe empfiehlt sich der Verf.“ 142 40a. Dem Nachdruck seiner Phaethon -Edition von 1821 (s. oben Nr. 19a) in Opuscula III, 1828, S. 3-21, hat Hermann einen empfehlenden Hinweis auf Goethes Rekonstruktion des Stückes (s. oben Nr. 26a) beigegeben: „Scripta est haec dissertatio a. 1821. Adverterunt haec fragmenta Goethium, quamvis grandaeva in senecta non cithara carentem. Iuvabit contulisse, quae scripsit in libro cui indicem fecit Kunst und Alterthum vol. IV. parte 2. et vol. VI. parte 1.“ (S. 3, Fußnote). 143 40b. Goethe reiht beide Schriften in seine Bibliothek ein, verzeichnet ihren Eingang aber nicht in seinem Tgb, dankt nicht dafür, erwähnt Hermanns Kompliment nicht; möglicherweise hat er es nicht einmal wahrgenommen. 1829 41. Eine weitere Schrift noch aus dem Jahre 1828 stellt Hermann Goethe erst im Frühjahr 1829 zu: G. Hermann, De Aeschyli Prometheo soluto , UPr Leipzig 1828. 144 41a. Goethe, Tgb 8. Mai 1829: „Sodann Professor Riemer. Einiges durchgegangen, anderes besprochen. Ich hatte ein Programm von Herrn Professor Hermann aus Leipzig durch einen Reisenden erhalten, über die Stücke des Äschylus, von denen Prometheus der Gegenstand ist.“ 145 1830 Ohne sich durch Goethes Schweigen entmutigen zu lassen, geht Hermann wieder zur Normalform seines Kontaktes mit ihm über: Brief und Schriftenbeilage. 42. Achter Brief Hermanns an Goethe, 12. August 1830 (siehe S. 65f.). 42a. Beilage: G. Hermann, [Dionysius Halicarnassensis] Incredibilium liber primus , UPr Leipzig 1830. 146 42b. Wie schon im Fall von Nr. 36a trifft Hermann mit der scharf polemischen Schrift Goethes Geschmack nicht. Dieser registriert Brief und Beilage nicht im Tgb und dankt nicht dafür. 142 Ruppert, Nr. 690 (Opuscula III); Nr. 1251 (Coluthus). 143 „Geschrieben wurde diese Abhandlung 1821. Diese Fragmente erweckten das Interesse Goethes, der trotz des hohen Alters seine dichterische Kraft nicht eingebüßt hatte. Mit Gewinn wird man lesen, was er in dem von ihm mit „Kunst und Altertum“ benannten Buch geschrieben hat, Bd. IV, Heft 2 und Bd. VI, Heft 1.“ 144 Nicht bei Ruppert. 145 WA III 12, S. 65. 146 Ruppert, Nr. 1253; zum Adressaten der Polemik s. Benecke-Deltaglia/ Schmidt (o., Anm.-1), S. 335. <?page no="50"?> 50 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 42c. In seinem Brief an Goethe vom 4.-7. September 1830 äußert sich Karl Friedrich Zelter kritisch über Hermanns Metrik 147 : „Apropos Zeit! Da müssen mir zum Unglück die Zeitmeßler und hochmütigen Metrikanten einfallen denn es liegt ein angefangener Brief da, den Schillers Verlegenheit über Hermanns Metrik (im 4ten Bande der Briefe 148 ) veranlaßt hatte, und weil mirs damit nicht besser als Schillern ergangen ist. Nun nahm ich Hermanns Metrik 149 wieder vor und finde mich eben wieder nicht zurecht vielmehr finde ich daß seine Theorie von vorn herein ohne Grund und Boden ist. Da ist geprahlt: ‚Die Zeit hat wie der Raum, ihre schöne Kunst und diese ist die Rhythmik‘ 150 ‒ ‚der Begriff des Rhythm. ist die Aufeinanderfolge von Zeitabteilungen, nach einem Gesetz.‘ 151 - Wenn dieses Gesetz nun der Takt, der Perpendikel 152 , die gleichzeitige [= stetige] Teilung ist woher denn die Taktlosigkeit des Rhythmus? * [Fußnote Zelters: „* Der Mißverstand liegt offenbar in einer Verwechselung des Begriffs der Zeit mit dem was der Musiker Tempo nennt und seinen Grund im Charakter und im Geschmacke findet.“] Solch loses Wesen kursiert nun auch schon 30 Jahre lang in hohen Schulen und keiner weiß was er hat. Es ist beinahe wie mit der Farbenlehre; man weiß daß man das Rechte nicht hat; sie sind wie die Kinder welche nicht in die Schule wollen. Für diese mag das bekannte Lied gedichtet sein das Du mir einmal verflucht hast: | O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit! / Ich weiß vor großer Eitelkeit / Nicht wo ich mich hinwende! “ 153 1831 43. Hermann eröffnet eine Serie von Editionen Euripideischer Stücke mit einer Ausgabe der Hekabe . Obwohl er in der Einleitung an sein Gespräch mit Goe- 147 MA 20.2, S. 1374 (s. dazu den Stellenkommentar in Bd. 20.3, S. 1125; nach diesem die folgenden Erläuterungen). ‒ Goethe kommt auf Zelters Kritik in den folgenden Briefen nicht zu sprechen. 148 Bezieht sich auf Schillers Brief an Goethe vom 1. Oktober 1800 (in der EA in Bd. 5, nicht 4, Nr. 751), in dem er zu seiner Lektüre von Hermanns De metris poetarum Graecorum et Romanorum , Leipzig 1896, schreibt: „Es wird mir schwer mit Herrmanns [! ] Buch zurecht zu kommen, und schon von vorn herein finden sich Schwierigkeiten, ich bin neugierig wie es Ihnen mit diesem Buche ergangen und hoffe, daß Sie mir ein Licht aufstecken werden“ (MA 8.1, S. 825). 149 Hermanns Handbuch der Metrik , Leipzig 1799. 150 Ebd., S. XIX (Vorrede): „Die Zeit nun, hat eben so, wie der Raum, ihre schöne Kunst, und diese ist die Rhythmik.“ 151 Ebd., Erstes Buch, Erstes Kapitel, §-1, S. 1: „Der Begriff des Rhythmus, den uns die Erfahrung darbietet, ist dieser: Rhythmus ist die Aufeinanderfolge von Zeitabteilungen nach einem Gesetz.“ 152 Hier wohl: das Metallpendel des (1816 von Mälzel erfundenen) Metronoms, also das regelmäßige Zeitmaß. 153 Leicht modifiziertes Zitat aus der 1. und 16. Strophe von Johann Rists Kirchenlied „O Ewigkeit / du Donner Wort…“: „O Ewigkeit Zeit ohne Zeit, / ich weis für grosser Traurigkeit / nicht wo ich hin mich wende“ (ED 1642); s. auch MA 20.3, S. 1093. <?page no="51"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 51 the im Jahr 1800 erinnert (s. oben Nr. 5, der Wortlaut der Notiz dort unter 5c), schickt er kein Exemplar an Goethe. Dennoch erreicht der Kontakt zwischen Hermann und Goethe noch im gleichen Jahr unversehens seinen Höhepunkt. Hermann widmet und übersendet Goethe eine seiner nächsten Euripides-Ausgaben, die der Iphigenie in Aulis . 44. Neunter Brief Hermanns an Goethe, 2. November 1831 (siehe S. 67). 44a. Beilage: Euripidis Iphigenia in Aulide , rec. G. Hermannus, Leipzig 1831. 154 Der Widmungstext oben S. 16, in: Beilagen, Text 21, S. 144, im ‚Nachwort‘, S.-207. 44b. Schon am nächsten Tag ist Goethe im Besitz der Sendung. Er notiert den Eingang und beginnt unverzüglich das Studium der Ausgabe, Tgb 3. November 1831: „Kam die neue Ausgabe der Iphigenie von Hermann in Leipzig an. Ich hatte mich den ganzen Abend mit der Vorrede beschäftigt.“ 155 An den folgenden Tagen setzt Goethe das Studium fort, meist zusammen mit Riemer, Tgb 4. 156 , 8. 157 , 11. November 1831. Unter dem letztgenannten Datum heißt es: „Abends Hofrath Riemer. […] Nahmen Ritter Hermanns Iphigenia wieder vor. Es fanden sich glückliche Bemerkungen im Ganzen wie im Einzelnen.“ 158 Am 12. November wird die Lektüre fortgesetzt; Goethe notiert im Tgb: „Abends Iphigenie von Euripides. Die große tragisch-rhetorische Technik bewundert, und wie man offenbar sieht, wie er sich nach Geschmack und Forderung seines Publicums eingerichtet hat; denn der Zuschauer bleibt immer die eine Hälfte der sehr tragischen Vorstellung.“ 159 Ebenfalls am 12. November vermerkt Goethe im Tgb, daß er Hermann geantwortet hat: „[Brief] H e r r n P r o f e s s o r H e r m a n n , Leipzig.“ 160 Dieser Dank an Hermann beschließt den Briefwechsel. 45. Fünfter Brief Goethes an Hermann, 12. November 1831 (siehe S. 67f.). 45a. Wie im Brief angedeutet, setzt Goethe seine Beschäftigung mit der Iphigenie in Aulis noch am selben Tag fort und dehnt sie vom folgenden Tag an auf andere 154 Ruppert, Nr. 1261. 155 WA III 13, S. 165. 156 Ebd., „Fuhr fort, die Iphigenie des Ritter Hermanns zu betrachten. […] Zuletzt Hofrath Riemer. Wir nahmen die Vorrede zur Hermannischen Iphigenie vor.“ 157 Ebd., S. 167: „Betrachtete Iphigenie in Aulis näher. Noch anderes hiezu Gehöriges. Abends Hofrath Riemer. Wir setzten unsre Betrachtungen über die Euripidische Iphigenie in Aulis und die Bearbeitung des Ritter Hermann fort.“ 158 Ebd., S. 169. 159 Ebd., S. 170f. 160 Ebd., S. 170. <?page no="52"?> 52 Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann Euripideische Stücke aus; von ihnen nennen die beiden spätesten Tgb-Eintragungen den Ion : 13., 14., 16., 17., 22., 23. November und 11. Dezember 1831. 161 Am 23. November 1831 schreibt Goethe an Zelter, dass er Hermanns Zusendung der „Iphigenie“-Edition die Wiederbegegnung mit Euripides und die erneute und tiefere Bestätigung seiner Hochschätzung des Dichters verdanke: „Sodann habe zu vermelden daß ich, durch eine neue Ausgabe der Iphigenie in Aulis des Euripides, von Prof. u. Ritter Hermann in Leipzig, wieder auf diesen unschätzbaren griechischen Dichter bin hingewiesen worden. Sein großes und einziges Talent erregte zwar wie sonst [= früher] meine Bewunderung, doch was mir diesmal hauptsächlich hervortrat war: das so grenzenlose als kräftige Element worauf er sich bewegt. Auf den griechischen Localitäten, und auf deren uralter, mythologischer Legenden-Masse schifft und schwimmt er wie eine Stückkugel auf einer Quecksilber-See und kann nicht untertauchen wenn er auch wollte. Alles ist ihm zur Hand[: ] Stoff, Gehalt, Bezüge, Verhältnisse, er darf nur zugreifen um seine Gegenstände und Personen, in dem einfachsten Decurs 162 vorzuführen oder die verwickeltsten Verschränkungen noch mehr zu verwirren; dann zuletzt, nach Maßgabe, aber doch durchaus zu unsrer Befriedigung, den Knoten entweder aufzulösen oder zu zerhauen. Ich werde nicht von ihm ablassen diesen ganzen Winter. Wir haben Übersetzungen genug die einer Anmaßung in’s Original zu sehn gar löblich bei der Hand sind, und welches, wenn die Sonne in die warme Stube scheint, mit Beihülfe der lang hergebrachten Kenntnisse, immer besser von Statten gehen wird, als es, 161 (13. 11.: ) „Die Euripidischen Trauerspiele ferner beachtet, zu immer größerem Erstaunen über ein Talent, das wir gar nicht mehr begreifen. Denn was gehörte dazu, nach Äschylus und Sophokles seiner Zeit genug zu thun, welche genau besehen jenen ersten nicht gewachsen war, und der daher sehr wohl that, das Mindere zu allgemeiner Zufriedenheit in Gang zu bringen“ (ebd., S. 170). ‒ (14. 11.: ) „Zum Euripides zurückgekehrt“ (ebd., S. 171). ‒ (16. 11.: ) „Ich fuhr fort, den Euripides zu lesen“ (ebd., S. 172). ‒ (17. 11.: ) „Nach Tische Euripidisches“ (ebd.). ‒ (22. 11.: ) „Ich las hernach den Ion des Euripides abermals zu neuer Erbauung und Belehrung. Mich wundert’s denn doch, daß die Aristokratie der Philologen seine Vorzüge nicht begreift, indem sie ihn mit herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordinirt, berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch Euripides zu seiner Zeit ungeheure Wirkungen gethan, woraus hervorgeht, daß er ein eminenter Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn alle Nationen seit ihm einen Dramatiker gehabt, der nur werth wäre, ihm die Pantoffeln zu reichen? “ (ebd., S. 176). ‒ (23. 11.: ) „Ich hatte dem Ion des Euripides abermals meine Betrachtung gewidmet und das Werk von der Seite hoher sittlicher Rhetorik betrachtet. In jenem Sinn zeugt es von der größten Reinheit, in diesem von der größten Gewandtheit“ (ebd., S. 177). (11. 12.: ) „Später Ottilie. Wir lasen den Anfang des Ion“ (ebd., S. 187). 162 Hergang. <?page no="53"?> Chronik der Kontakte zwischen Goethe und Hermann 53 in diesem Augenblick, unter den neuentdeckten Trümmern von Messene und Megalopolis 163 , geschehen könnte.“ 164 1832 46. Am 3. März 1832, kurz vor seinem Tod, greift Goethe gegenüber Göttling die Themen Euripides, Phaethon, Iphigenie, Hermann ein letztes Mal auf. In dem Bericht, der dazu vorliegt, heißt es: „In der alten Literatur zog ihn vorzüglich Euripides an, den er sehr schätzte. Das Fragment vom Drama Phaethon interessierte ihn so sehr, daß er bei einem Besuch des Professor G[öttling] am dritten März eine abermalige Revision der Herstellung verhieß. Er sagte unter anderen: ‚Sie wissen, daß mir Hermann seine Ausgabe der Iphigenia dediziert hat. Es hat mich gefreut, auch darum, weil ihr Philologen in euren Urteilen konstant bleibt: ich werde von ihm tenuem spiritum Grajae Camenae Germanis monstrator 165 genannt, womit er mir fast scheint haben andeuten zu wollen, daß ihm Euripides nicht sehr hoch stehe; aber so seid ihr! Weil Euripides ein paar schlechte Stücke, wie Elektra und Helena, geschrieben, und weil ihn Aristophanes gehudelt hat: so stellt ihr ihn tiefer, als andere. Nach seinen besten Produkten muß man einen Dichter beurteilen, nicht nach seinen schlechtesten […]. […] weil der [Euripides] seit langer Zeit angefochten wird, fechtet ihr ihn auch an, und was für prächtige Stücke hat er doch gemacht. Für sein schönstes halte ich die Bacchen. […]‘“ 166 1833 47. Hermann seinerseits gibt im Jahr nach Goethes Tod auch Euripides’ ‚Taurische Iphigenie‘ heraus. Schon im WS 1832/ 33 hatte er das Stück in seinen Vorlesungen behandelt und dabei zum Schluß den Vergleich mit Goethes Iphigenie gezogen. In der Ausgabe bringt er einen ausführlichen Vergleich in der Vorrede (S. VI-XXVIII). 167 Er lobt Goethe, hält aber auch mit Kritik nicht zurück. So setzt er postum öffentlich einen Akzent, wie er seinem Wesen entsprach, wie er ihn im unmittelbaren Umgang mit dem Dichter jedoch - und sicher mit Bedacht ‒ vermieden hatte. 163 Aktuelle Ausgrabungen in der 369 v. Chr. gegründeten Hauptstadt des von der spartanischen Herrschaft befreiten Staats Messenien auf der Peloponnes und der um 368 v. Chr. gegründeten Stadt auf der westarkadischen Hochebene; woher Goethe seine Informationen bezog, ist noch nicht bekannt (spekulativ: FA 38, 880 zu 487,14). 164 MA 20.2, S. 1571f. 165 Siehe S. 16 mit Anm. 4, Beilagen, Text 21 (S. 144) und Nachwort, S. 207. 166 Berichtet durch K. W. Müller, Goethes letzte literarische Tätigkeit : GG III/ 2, S. 845f. (Nr. 6963). - Zu „ tenuem spiritum “ die Fußnote: „*Er [Goethe] ging von dem bescheidenen Sinn des tenuis spiritus bei Horaz aus und wollte es darum nicht in ähnlichem Sinn auf sich beziehen.“ 167 Siehe Beilagen, Text 22, S. 144-172. <?page no="55"?> Briefwechsel 1820-1831 55 Briefwechsel 1820-1831 1 Hermann an Goethe, Leipzig, 31. Juli 1820 (GSA 28/ 88 Bl. 337) Hochwohlgeborener Herr, Verehrtester Herr Geheimer Rath, Mit freudiger und dankbarer Erinnerung an einige unvergeßliche Stunden, die ich in Karlsbad mit Ew. Excellenz mich mündlich unterreden zu können das Glück hatte 168 , nehme ich mir die Freyheit, Ihnen meine letzten Schriften, von denen einiger damals Erwähnung geschah, zu übersenden. 169 Glücklich würde ich mich schätzen, wenn einiges darin Ihre Zustimmung erhielte. Übrigens bitte ich Sie überzeugt zu seyn, daß jemehr ich meine Griechen liebe, desto wahrhafter und lebendiger die große Verehrung ist, mit der ich bin, Ew. Excellenz ehrfurchtsvoll ergebener G. Hermann Leipzig d. 31. Julius 1820. 2 Goethe an Hermann, Jena, 9. September 1820 (WA IV 33, 242f.; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig) Ew. Hochwohlgeboren würde für die erfreulich lehrreiche Sendung schon früher meinen schuldigen Dank abgestattet haben, wenn ich nicht einigermaßen dieselbe zu erwidern gewünscht hätte. Ein so eben abgeschlossenes Heft von Kunst und Alterthum 170 168 Bei den täglichen Begegnungen zwischen dem 21. und 27. Mai 1820; s. die „Chronik der Kontakte“, S. 33-35. 169 Die Titel der sechs beigefügten Schriften Hermanns sind in der „Chronik der Kontakte“ (o., S. 36) aufgeführt; auf drei von ihnen ( Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer ; De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli ; De compositione tetralogiarum tragicarum ) nimmt G. schriftlich Bezug (s. „Chronik der Kontakte“, 14c-e; o., S. 36f.). 170 KuA II 3; mit den Vorarbeiten hatte G. bereits im Dezember 1819 begonnen. <?page no="56"?> 56 Briefwechsel 1820-1831 verleiht hiezu mir die erwünschte Gelegenheit. Möge darin einiges enthalten seyn, was angenehm wäre und einen einsichtigen Beyfall verdiente. Die genaue Würdigung der nach dem Mayländer Manuscripte uns mitgetheilten Kunstbilder, von unserm wackern Hofrath Meyer verfaßt, darf wohl hoffen Ew. Hochwohlgeboren Aufmerksamkeit an sich zu ziehen. 171 Von großer Wichtigkeit sind allerdings die Überlieferungen, in welchen das Kennerauge, durch eine späte Hülle, noch immer den alten Kern zu entdecken vermag. 172 Und so möge auch Ihnen ewiger Dank bleiben, daß Sie den alten griechischen Kern uns unverhüllt bewahren und von Zeit zu Zeit, auf mancherley Weise, die Nebel zerstreuen, die sich darüber hin- und herziehen. Leider ist, nicht allein in diesem höchst bedeutenden Felde, sondern auch in so manchem andern das Unheil, daß man nichts abgesondert, charakteristisch, sich selbst gemäß will bestehen lassen, sondern alles mit allem verknüpfen, ja transsubstanziiren möchte. Wie wohlthätig ist daher die ernste Behandlung, mit welcher Sie Nation und Zeitalter, Kunst und Wissenschaft im Innern selbst zusammen halten und befestigen, ohne die Einwirkung von außen zu läugnen, oder die Wirkung nach außen zu verkennen. Welch großes Verdienst bleibt Ihnen, das Unnöthige und Ungehörige, wenn es auch verwandt erscheinen sollte, abzulehnen und an der Seite zu halten. Haben Sie die Güte, mich künftighin mit demjenigen, womit Sie das Öffentliche beschenken, auch bald bekannt zu machen. Das glückliche Zusammenseyn hat mich, bey allzukurzer Dauer, auf’s neue gekräftigt und die Anhänglichkeit und Verehrung, die ich Ihnen längst gewidmet, auf’s neue lebhaft hervorgerufen. Vorstehendes, welches schon längst abgehen sollte, darf nicht länger zurückbleiben; es geht ab mit den treusten Wünschen und herzlichster Empfehlung. treulichst Goethe. Jena den 9. September 1820. Abgegangen den 20. September 1820. Das angekündigte Heft nächstens. 171 Siehe Beilagen, Text 12, S. 104‒111, und Abb. 6‒8: Johann Heinrich Meyer [Anzeige]: „Iliadis fragmenta antiquissima cum picturis etc. Editore Angelo Majo. Mediolani MDCCCXIX. Gr. Folio.“ Zur Entstehung und Drucklegung dieses Beitrags siehe FA 20, S. 1382-1384; GT VII (1819-1820), Bd. 1, S. 116,19: „Ilias von Majus“; dazu: Bd. 2, S. 907f. 172 Vgl. Goethes Äußerung über Mais Edition in den „Tag- und Jahres-Heften“ zu 1820: „Der Mayländische Codex der Ilias, obgleich aus späterer Zeit, war für die Kunstbetrachtungen von großem Belang, indem offenbar ältere herrliche Kunstwerke darin nachgebildet und deren Andenken dadurch für uns erhalten worden“ (FA 17, S. 314). <?page no="57"?> Briefwechsel 1820-1831 57 3 Goethe an Hermann, Jena, 5. Oktober 1820 (WA IV 33, 289; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig) Nur mit wenigen Worten begleite Gegenwärtiges, aber mit dem lebhaften Wunsche, daß es eine freundliche Aufnahme finden möge. Indessen ist mir ein herrliches Wort aus Ihren Mittheilungen zu Gute gekommen, welches, zwar mit kleinen Lettern, aber mit großer Bedeutung anzuführen mich nicht enthalten konnte. Es ist dieses in dem neusten Heft der Morphologie pp. geschehen; ob am rechten Platz, beurtheilen Sie geneigtest selbst, wenn ich genannte Blätter zu übersenden wage. 173 Mich zum allerbesten fortdauerndem Wohlwollen empfehlend. gehorsamst J. W. v. Goethe. Jena den 5. October 1820. 4 Hermann an Goethe, Leipzig, 15. Oktober 1820 (GSA 28/ 402 St. 1) Ew. Excellenz haben die Gnade gehabt, durch ein zweymaliges geneigtes Schreiben und die Übersendung des letzten Heftes über Kunst und Alterthum 174 ein Zeichen Ihrer Gewogenheit zu geben, das mir eben so ehrenvoll ist, als es mich durch seinen Gehalt zu der lebhaftesten Dankbarkeit verpflichtet. Die schönen Orphischen Urworte 175 waren mir eine höchst erfreuliche Erinnerung an Karlsbad. Dort hatte ich sie zuerst durch den Herrn Legationsrath Conta kennen gelernt und andern mitgetheilt. Aber wie viel schöne und herrliche Worte enthält nicht dieses Heft noch außer diesem Gedichte. Aus dem Meere einer kleinlichen und langwierigen grammatischen Untersuchung, in der ich eben befangen bin, 176 habe ich mich wie ein fliegender Fisch ins Freye erhoben und an diesen wohlthätigen Strahlen gesonnt. Die Bemerkungen über die Zeichnungen in dem 173 Gemeint ist Goethes 1820 in Zur Naturwissenschaft überhaupt , Bd.-1, H. 3 veröffentlichter Aufsatz „Der Horn“ (s. „Chronik der Kontakte“, S. 37f., und Beilagen, Text 13, S. 112), der mit dem Eingangssatz „Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia“ aus Hermanns Abhandlung De musis fluvialibus Eumeli endet; die Übersendung des Hefts an Hermann ist nicht belegt (s. „Chronik der Kontakte“ 18, S. 38). 174 S. Anm. 85. 175 S. Beilagen, Text 10. 176 Vielleicht gemeint: die im WS 1820/ 21 (wie schon im vorausgehenden Semester und nachfolgend öfter) gehaltene Vorlesung „De syntaxi linguae latinae“ (s. Köchly, S. 193) oder die kritische Durchsicht von P. Elmsley’s Edition der „Medea“ des Euripides in „Classical Journal“ 19, 21, 22 ( Juni 1819 / Juni 1820 / Dezember 1820 (s. auch Opuscula III, S. 143-261). <?page no="58"?> 58 Briefwechsel 1820-1831 Mayländischen Homer finde ich sehr gegründet. 177 Ich hatte diese Zeichnungen noch nicht gesehen, da ich das Buch nicht selbst besitze. Jetzt habe ich es geborgt, und bin erstaunt über diese unverkennbaren Nachbildungen alter Denkmäler. Ich hoffe, die in der Abhandlung gegebenen Winke werden von Männern, denen die erforderlichen Sammlungen zu Gebote stehen, benutzt werden. Es wird interessant seyn, den Quellen hier und da auf die Spur zu kommen. Eine auffallende Bestätigung, daß alte Werke zum Vorbild gedient haben, glaube ich darin zu finden, daß manche Scenen nicht nach dem Homer dargestellt sind, z. B. N. XXVI. wo Astyanax schon ein straffer Knabe ist, und N. XXXIV. in dem Dolon. Homer giebt ihm zwar eine Wolfshaut, jedoch nur als Mantel, um. 178 Aber der geschmacklose Verfasser des Rhesus, den ich mehr nach meinem Gefühl, als aus streng erweislichen Gründen für einen Alexandrinischen Dichter halte, läßt ihn ganz in einen Wolf verkleidet auf vier Füssen ins Lager schleichen 179 , so daß man auch hier mit Recht ausrufen kann, Blieb der Wolf in dem Walde, So würd’ er nicht beschrien. 180 Ob ich ihn entschuldige, wenn er ein Bildwerk dabey in Gedanken hatte, mag gezweifelt werden. Gewiß aber dient seine Beschreibung mit jener Zeichnung zusammengehalten, zu einem Grunde, auf das Vorhandenseyn einer solchen Darstellung im Alterthume zu schließen. In den Schlachtengemälden weisen dahin die Reiter. Wohin aber die egalisirten Pferde, da Alcibiades seinen Pferden die Schwänze abschlagen ließ, damit man in Athen etwas zu reden hätte? Einen eigenen Reiz hat in diesen Darstellungen, wie in den meisten alten Kunstwerken, die Unverhältnißmäßigkeit der Nebendinge, wie der Mauern, oder der Erschlagenen. Wenn auch wohl eigentlich aus Unbeholfenheit und 177 S. Anm. 171. 178 Ilias K (10. Buch), V. 333f. „Und sogleich warf er [Dolon] sich um die Schultern den krummen Bogen / Und zog sich darüber das Fell eines grauen Wolfes“ (Übers. W. Schadewaldt). 179 Euripidis fabulae , hg. von Gilbert Murray, Bd. III, Oxford 1963: „Rhesos“, V. 208-213: Δο. λύκειον ἀμφὶ νῶτ᾽ ἐνάψομαι δορὰν / καὶ χάσμα θηρὸς ἀμφ᾽ ἐμῷ θήσω κάρᾳ, / βάσιν τε χερσὶ προσθίαν καθαρμόσας / καὶ κῶλα κώλοις, τετράπουν μιμήσομαι / λύκου κέλευθον πολεμίοις δυσεύρετον, / τάφροις πελάζων καὶ νεῶν προβλήμασιν. „Um den Rücken werde ich mir eine Wolfshaut binden / und über meinen Kopf seinen Raubtierrachen ziehen, / und indem ich seine Vorderfüße meinen Händen anpasse / und seine Hinterläufe meinen Beinen, werde ich den vierfüßigen Gang / des Wolfs nachahmen, / für die Feinde schwer [von dem eines echten Wolfs] zu unterscheiden, / indem ich mich dem Graben und Schutzwall um ihre Schiffe nähere.“ 180 Vgl. Goethe, Zahme Xenien 1820 (ED: KuA II 3): „‚Wie ist dir’s doch so balde / Zu Ehr’ und Schmach gediehen? ‘ / Blieb’ der Wolf im Walde, / So würd’ er nicht beschrien“ (MA 13.1, S. 16), wobei die ‚Antwort‘-Verse selber Zitat eines Sprichworts sind; laut Kommentar der MA (ebd., S. 622) „kennzeichnet der Dichter hier seine eigene Situation“. <?page no="59"?> Briefwechsel 1820-1831 59 Ungeschicklichkeit entstanden, wie späterhin in den Holzschnitten alter Bücher, scheinen diese Andeutungen doch Gesetz worden zu seyn, und indem sie die Sachen bloß symbolisch darstellen, kann das Auge desto bequemer auf den Hauptfiguren ruhen. So dürfte, was in anderer Rücksicht Fehler wäre, als Verdienst erscheinen. Dasselbe Gesetz haben wohl auch die Dichter befolgt. Eben so einfach und großartig stehen in der Griechischen Tragödie und Komödie nur wenige Hauptfiguren da, und es müßte nicht uninteressant seyn, diese dramatische Gruppirung mit der in den Werken der bildenden Kunst zu vergleichen. Doch wer vermöchte dieses, wie Ew. Excellenz? Denn um diese kunstlose Kunst des Alterthums, die mit sicherer Hand überall die wesentlichen Momente faßt, und die Nebensachen nicht achtet, richtig und treffend zu würdigen, bedarf es dieser Kunst selbst, und diese ist eine Göttergabe. 181 181 An diese Beobachtungen Hermanns knüpft E. G. Schmidt eine im hs. Nachlass skizzenhaft formulierte generelle Reflexion über den Gewinn, mehr noch die Defizite des Briefdialogs zwischen Goethe und Hermann an, die als Vorstufe zu einem vielleicht erwogenen Fazit hier zitiert sei: „ILIAS / Ähnlichkeit mit Tragödie: Konzentration auf wenige Personen, wenig dekorierten Raum / Dies die wichtigste Beobachtung Hermanns. Auch heute sieht man das so. Hermann nimmt hier also eine Beobachtung vorweg, die für die Forschung erst rund 150 Jahre später zum festen Besitz geworden ist. / Nur seltsam: / Nach Hermanns Worten müßte man annehmen, daß alle Illustrationen der Mailänder Ilias Darstellungen mit wenigen Personen sind. In Wirklichkeit sind auf der Mehrzahl von ihnen viele Personen, ganze Menschenknäuel, wie sie für spätantike Kunst charakteristisch waren. / Wir wissen, daß Hermann solche überfüllte Szenen nicht liebte. Sein Schüler Thiersch bezeugt, daß Hermann selbst Schillers Wallenstein, ein Stück, das er an sich liebte, wegen der Personenfülle tadelte. / Hermann entwickelte eine doppelte Taktik: Was ihm nicht gefällt, tadelt er entweder - oder er schiebt es einfach beiseite. / Zwiespältiger Eindruck. Hermann macht eine Reihe von Beobachtungen, trifft eine Reihe von Bemerkungen. Natürlich sind wichtige Beobachtungen und gute Bemerkungen darunter. Aber aufs ganze gesehen, neigt Hermann doch auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit. Wir kennen Hermann aus Briefen etwa an Creuzer und an Humboldt als einen äußerst gewissenhaften und zugleich glänzenden Briefschreiber. Die Höhe dieser Korrespondenzen erreicht Hermann in seinen schriftlichen Äußerungen gegenüber Goethe nicht: ich sage: in seinen schriftlichen Äußerungen nicht, denn im Gespräch muß Hermann großartig gewesen sein. Hier hat er Goethe wirklich tief zu beeindrucken verstanden, hier hat er Goethe das Gefühl vermittelt, wenn er sich mit Hermann unterhalte, unterhalte er sich mit dem besten damals lebenden Philologen. / Hermann behandelt Goethe als einen großen Geist, aber er akzeptiert Goethe nicht als Fachkollegen, er spricht anders mit ihm als mit Creuzer und Wolf oder Welcker und Humboldt. / Goethe anderseits betrachtet Hermann als den großen Philologen, als die erste Autorität in Fragen des griech. Altertums. / Aber er gibt Hermann keinen Einblick in sein eigenes Schaffen. Arbeitet an Achilleïs, an Faust. Offenbar verschließt er sich gegenüber Hermann. / Hermann regt Goethe an, ein bestimmtes Arbeitsgebiet weiterzuentwickeln. / Achilleïs: Zu Ilias und Odyssee sollte sich ein drittes Epos gesellen. / Phaethon Philoktet: Rekonstruktionen unter Benutzung alter antiker Kerne. / Goethe hat mit diesem Typ nicht Schule gemacht. Entweder schränkt man sich mehr ein, oder man nimmt sich mehr Freiheiten. Hermann hingegen sieht, daß Goethe einen Sonderweg geht, aber ihm räumt er das Recht dazu <?page no="60"?> 60 Briefwechsel 1820-1831 Ich schätze mich glücklich, wenn einiges, was ich geschrieben, Ihnen nicht misfallen hat, und ich bitte im Voraus um geneigte Aufnahme, wenn ich bey wieder eingetretener Veranlassung etwas öffentlich erscheinen zu lassen, dasselbe zu übersenden mir die Freyheit nehme. Mit der größten Verehrung und dem lebhaftesten Danke für den reichen Genuß, den mir diese neueste Schrift von hochwerther Hand gebracht hat, empfehle ich mich zu fernerer Gewogenheit, und beharre Ew. Excellenz unterthäniger GHermann Leipzig, d. 15. Oct. 1820. 5 Hermann an Goethe (Leipzig, 15. Juli 1821; GSA 28/ 93 Bl. 236) Ew. Excellenz, nehme ich mir die Freyheit, mein erst jezt gedrucktes Fastnachtsprogramm 182 zu übersenden. Nur der bedeutende Fund kann ihm ein Interesse geben, den man an zwey so großen Bruchstücken eines gänzlich verloren geglaubten Stückes des Euripides gemacht hat, die, auch abgesehen von allen andern Gründen, ihren Verfasser schon durch den aus dem gemeinen Leben genommenen Zug verrathen würden, daß die Mägde des Merops, während der Herr noch schläft, das Haus fegen. 183 Mir erlaubte der Raum, den die vielen Lebensläufe der Candidaten beschränkten, 184 nur so viel zu sagen als nöthig war um diese Fragmente lesbar zu machen. Daher bedarf diese Schrift gar sehr Ihrer geneigten Gesinnung gegen den Verfasser, um für ihre Trockenheit Entschuldigung zu finden. Dieser Gesinnung mich auch ferner erfreuen zu dürfen, würde ich mich ein. Er erkennt die Imaginationskraft des großen Dichters an. Für Goethe gilt ein eigenes Gesetz, was er zu tun oder zu lassen hat. / Goethe u. Hermann sind Gleichstrebende, aber nicht Gleiche.“ 182 Dazu Reiter: Besprechung Primer, S. 648: „Als Professor Eloquentiae war Hermann auch Programmatarius der Universität, und gegen Schluß des Wintersemesters, das mit der Fastnacht ungefähr zusammenfiel, erschien als Einladungsschrift zur alljährlichen Kreation der Magistri - der sogenannten großen ‚Magisterbäckerei‘ (Köchly S. 49, 294) - auch dieses Programm wie so viele andere, die jetzt in den ‚Opuscula‘ gedruckt vorliegen.“ Das Erscheinungsdatum „Die VIII Martii A.[nno] MDCCCXXI“ ist dem Original nicht beigedruckt (dem Exemplar der Leipziger UB jedoch handschriftlich beigefügt). 183 „[…] die Mägde […] das Haus fegen“: V. 10-12 des I. Fragments (S. 7 in Hermanns Edition): Φ[αέθων]. […] καὶ γὰρ αἵ δ’ ἔξω δόμων / δμωαὶ περῶσιν, αἳ πατρὸς κοιμωμένου / σαίρουσι δῶμα […]. 184 In den „Programmen“ abgedruckte „Curricula vitae“ der Doktoranden. <?page no="61"?> Briefwechsel 1820-1831 61 ungemein glücklich schätzen, da die Verehrung und Bewunderung nicht übertroffen werden kann, mit der ich bin Ew. Excellenz unterthäniger G. Hermann Leipzig den 15. Julius 1821. 6 Goethe an Hermann, Weimar, 6. April 1823 (WA IV 37, 3f.; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig) Ew. Hochwohlgeboren verzeihen geneigtest bey’m Anblick des Vorliegenden 185 mein langes Schweigen und scheinbaren Undank. Sie sehen, wie mich Ihre wichtige Gabe sogleich beschäftigt, wozu sie mich aufgefordert, und ermessen hiernächst, wie ich von einer so schweren Aufgabe, nach verwegenem Angriff, mich doch wieder zurückziehen mußte. Auf einem geschriebenen Blatt lege indessen vor Augen, was ich in dem gegenwärtigen Hefte, wovon dieß die ersten Aushängebogen sind, noch weiter nachzubringen gedenke; in Erwartung ob ein glücklicher Augenblick jenes Unternehmen wohl fördern möchte. Was aber auch auf diesem Wege von mir geleistet worden, es möchte doch die Freunde der alterthümlichen Dichtkunst 186 einigermaßen auf dieß herrliche Werk aufmerksam zu machen geeignet seyn. Auch muß ich vermelden, daß vor kurzem mir das höchst schätzbare Programm ü b e r d i e T e t r a l o g i e n der Alten in die Hände gelangt, wodurch ich veranlaßt worden, einige neuere Beyspiele solcher unzusammenhängend-gesteigerten theatralischen Darstellungen in’s Gedächtniß zurück zu führen und an dasjenige, was Ew. Hochwohlgeboren behaupten, unmittelbar anzuknüpfen. 187 Ich schließe mit der Bitte mir doch künftig alles, was in dieser Art von Ihnen ausgeht, ungesäumt gefälligst mitzutheilen, weil es mir immer neue lebendige Veranlassung gibt, dasjenige wieder vortreten zu lassen, was sich bey mir vielleicht in den tiefsten Hintergrund zurückgezogen hat. 185 „Ueber Kunst und Alterthum“, Heft IV 2, Stuttgart 1823, Bogen 1 und 2; handschriftliche Skizze Goethes zum Phaethon. 186 ‚der antiken Poesie‘. 187 S. Beilagen, Text 17. <?page no="62"?> 62 Briefwechsel 1820-1831 Unbemerkt möge übrigens nicht bleiben, daß gegenwärtiger Brief mit zu der ersten Sendung gehört, die ich nach meiner Wiederherstellung 188 ausfertige; Ihres freundschaftlichen Antheils an der glücklichen Auflösung eines so schweren pathologischen Räthsels gewiß, empfehle mich zum wohlwollenden Andenken. gehorsamst J. W. v. Goethe. Weimar den 6. April 1823. 7 Hermann an Goethe, Leipzig, 10. April 1823 (GSA 28/ 402 St. 2) Ew. Excellenz Haben mich vielfach mit Freude erfüllt, und zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Die Gewißheit Ihrer Herstellung, von so überzeugenden Beweisen regen und lebendigen Lebens begleitet, hat mich mit einer eigenen Empfindung ergriffen: denn nur der kräftige Geist kann es seyn, der Ihr Leben erhalten hat. Und die wohlwollende Geneigtheit, mit der Sie nicht nur meiner gedenken, sondern auch selbst mich von Ihrer Genesung in Kenntniß zu setzen die Güte hatten, wie sollte ich diese nicht mit der dankbarsten Anerkennung verehren? Was Ew. Excellenz mir über den Phaethon mitzutheilen geruhen, ist ein herrlicher Beweis, wie ein schöpferischer Geist das Todte zu beleben, und aus zerstreuten Trümmern die Umrisse und Verhältnisse des vormaligen Prachtgebäudes herzustellen weiß. Wenn die Philologen, die oft nach Art der Barbaren die Trümmern nur noch mehr zerstören, mit solchen Augen sehen könnten, wie ganz anders würde nicht, was jetzt nur in Schutt daliegt, erscheinen, und aus Unordnung Ordnung, aus Verwirrung und Dunkelheit Einfachheit und Klarheit hervortreten. Ew. Excellenz Wunsch, meine Arbeiten zu erhalten, werde ich künftig so erfüllen, daß ich Ihnen dieselben unmittelbar zu übersenden mir erlaube, da ich vermuthen muß, daß auf anderm Wege die Abgabe verspätigt worden. Und ich freue mich, gleich jezt ein Programm nebst der Antigone des Sophokles, denen ich ein lateinisches Gedicht beyzulegen wage, überschicken zu können. In der Antigone waren mir, wie im Oedipus Tyrannus, der bald folgen wird, die Hände durch den Plan des frühern Herausgebers gebunden. Manches unnütze sollte jezt bey Seite gesetzt werden, damit die Jugend nicht zu lernen genöthigt sey, was sie wieder verlernen muß. Dem bessern wird dadurch der Platz genommen, der ohnedieß in solchen bloß philologischen Ausgaben sehr beschränkt ist, und an das, woran man bey Dichtern hauptsächlich denken 188 Seit dem 17. Februar litt Goethe an einer lebensbedrohlichen Erkrankung (vermutl. Herzinfarkt), die sich nach der Krise am 24. Februar nur langsam besserte; ab Mitte März Wiederaufnahme der Arbeit (s. Goethes Tgb und Kanzler v. Müllers Berichte). <?page no="63"?> Briefwechsel 1820-1831 63 sollte, zu erinnern nicht erlaubt. Doch der Kenner sieht auch aus den trockensten Anmerkungen, ob der Kritiker und Erklärer etwas von dem Geiste des Dichters ahndete, oder nicht. In den Bacchen des Euripides, deren Druck beynahe vollendet ist, habe ich, wenn auch ebenfalls bloß auf philologische Kleinigkeiten beschränkt, doch, weil manches sehr misverstanden war, mehr Gelegenheit gehabt, für die, die nicht bloß an dem Buchstaben hängen, unvermerkt aus einer bessern Quelle zu schöpfen, und es wird mich ungemein freuen, wenn ich darin von Ew. Excellenz einigen Beyfall erhalten sollte. Die Erinnerung an ein Urtheil, das Sie vor vielen Jahren 189 einmal über dieses Stück gegen mich aussprachen, ist mir immer dabey gegenwärtig gewesen. Zugleich mit den Bacchen werde ich ein zum Druck fertiges Programm über die Niobe des Aeschylus, aus deren wenigen Bruchstücken ich, so viel meine Kräfte erlaubten, auf das Ganze zu schließen versucht habe, einzusenden mir die Freyheit nehmen. Mit der innigsten Dankbarkeit und wahrhaftesten Verehrung bin ich Ew. Excellenz unterthäniger G. Hermann Leipzig, d. 10. April 1823. 8 Hermann an Goethe, Leipzig, 10. Oktober 1823 (GSA 28/ 103 Bl. 341) Ew. Excellenz bitte ich, die beyliegenden Schriften mit gewohnter Geneigtheit aufzunehmen. In kurzem wird denselben der Philoktet folgen. Die Fragmente der Niobe des Aeschylus hätten freilich eines Blickes, wie der Ihrige ist, bedurft. Indessen würde ich mich doch sehr freuen, wenn meine Vermuthungen nicht des Dichters unwürdig erfunden würden. Mit der größten Verehrung und Ergebenheit verharre ich Ew. Excellenz unterthäniger G. Hermann Leipzig d. 10. Oct. 1823 189 Bei Goethes Besuch Hermanns am 7. Mai 1800 in Leipzig; s. auch „Chronik der Kontakte“, Nrn. 5b und 46 (1832). <?page no="64"?> 64 Briefwechsel 1820-1831 9 Goethe an Hermann, Weimar, 19. Oktober 1823 (WA IV 37, 243f.; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig) Ew. Hochwohlgeboren das durch meine lange Sommer-Abwesenheit 190 mehr als billig verspätete Heft endlich zu übersenden werd ich auf’s freundlichste durch die mir abermals gegönnten verdienstvollen Werke in diesen Tagen angeregt; wofür ich zum allerbesten danke und gewiß nicht verfehle, obgleich nur aus einiger Ferne, an den so gründlichen und geistreichen Arbeiten meinen Theil abzunehmen. Dieses wird mir durch die Nähe des Professor Riemer immerfort erleichtert, und ich sehe hierin abermals einen Vereinigungspunct zu unsern bevorstehenden Winterunterhaltungen; wobey des Gebers dankbar und theilnehmend gedacht werden soll. Auch haben wir schon die so würdige, den poetischen Sinn vollkommen durchdringende Vorrede zusammen angefangen. Möge doch auch einiges meiner fortwährenden Beschäftigungen, das ich an den Tag zu fördern veranlaßt bin, sich Ihrer Aufmerksamkeit zu erfreuen fernerhin das Glück haben; so wie ich hoffen darf von den herrlichen Früchten Ihrer großen Thätigkeit auch in der Folge zutrauliche Mittheilungen zu erleben. gehorsamst J. W. v. Goethe. Weimar den 19. October 1823. 10 Hermann an Goethe, Leipzig, 18. März 1825 (GSA 28/ 111 Bl. 64) Ew. Excellenz war ich im Begriff die beyliegenden Schrifften 191 zu übersenden, als der Überbringer derselben, Herr Deuster aus Kitzingen, mein Weinlieferant 192 , welcher eben über Weimar nach Hause reist, sich erbot dieselben mitzunehmen und abzugeben. Möge ich mich auch für diese Schrifften der geneigten Aufnahme erfreuen dürfen, die anderen meiner Arbeiten zu Theil wurde. Sehr hat es mir Leid gethan, daß ich im verwichenen November mit einem in Geschäften reisenden Freunde von einer kurzen Reise nach Zürich zurückkehrend, beym Grauen des 190 Während der Reise nach Marienbad, Karlsbad und Eger vom 26. Juni bis 17. September 1823; zur Beilage des Hefts von KuA IV 2 s. „Chronik der Kontakte“ 26a. 191 Siehe „Chronik der Kontakte“ 30b. 192 Carl Otto Deuster, Weinhändler und Magistrats-Rat in Kitzingen (erw. in: Jbb. des fränkischen Weinbau-Vereins, 1. Heft, Würzburg 1836; s. Volker Rößner, Die Familie von Deuster. In: Jb. für den Landkreis Kitzingen 2009; ders., Die Familie von Deuster. Ein Aufstieg im 19. Jahrhundert , J. H. Röll Verlag, o. O. u. J.). <?page no="65"?> Briefwechsel 1820-1831 65 Morgens durch Weimar eilen mußte, ohne das Glück haben zu können, persönlich die beständig lebhafte große Verehrung zu bezeigen, mit welcher ich bin Ew. Excellenz unterthäniger G. Hermann Leipzig, d. 18. März 1825. 11 Hermann an Goethe, Leipzig, 29. April 1826 (GSA 28/ 118 Bl. 161) Ew. Excellenz bitte ich eine Schrifft anzunehmen, dergleichen zu schreiben unangenehm, auch wohl unwürdig, bisweilen jedoch nothwendig ist. 193 Ich begleite sie mit etwas Besserem, mit den lebhaftesten Wünschen für Ihr Wohlergehen, und der Versicherung der innigsten Verehrung, mit der ich stets beharre Ew. Excellenz unterthäniger GHermann Leipzig d. 29. April 1826. 12 Hermann an Goethe, Leipzig, 12. August 1830 (GSA 28/ 143 Bl. 260) Ew. Excellenz erlaube ich mir eine Schrifft als ein Zeichen meiner Ergebenheit zu übersenden, welche zu schreiben ich durch einen zu argen Ausbruch der fixen Idee eines durch Leidenschaftlichkeit grämlich gewordenen Mannes gezwungen war. 194 Ich schmeichle mir, bey Ihnen das Zutrauen zu genießen, daß die heitere Griechische Muse, deren wahres Wesen niemand inniger kennt als Sie, mein Herz von den kleinlichen Bewegungen frey gehalten habe, die zu der gelehrten Pedanterey gehören. Mit diesem Bewußtseyn kann ich frey und wohlgemuth die große stets lebendige Verehrung aussprechen, mit der ich bin Ew. Excellenz unterthäniger Dr. Gottfried Hermann 193 G. Hermann, Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung der griechischen Inschriften , Leipzig 1826; s. „Chronik der Kontakte“ 36a/ b. 194 G. Hermann, [Dionysius Halicarnassensis] Incredibilium liber primus , UPr Leipzig 1830; s. „Chronik der Kontakte“, 42a/ b. <?page no="66"?> 66 Briefwechsel 1820-1831 Leipzig den 12. August 1830. Abb. 4: Hermanns egh. Brief an Goethe vom 2. November 1831 <?page no="67"?> Briefwechsel 1820-1831 67 13 Hermann an Goethe, Leipzig, 2. November 1831 (GSA 28/ 152 Bl. 295) Ew. Excellenz bitte ich das beifolgende Buch freundlich aufzunehmen. Ich habe mir erlaubt es Ihnen zu widmen, und Ihnen, wenn auch mit wenigen Worten, ein öffentliches Zeichen einer Verehrung zu geben, die ich im Namen des alten Griechischen Geistes doch eher aussprechen darf, als die, welche Griechisches ins Ungriechische übergetragen für Griechisch halten. 195 Ich habe mich bemüht, das verdorbenste Stück des Euripides möglichst von älterer und neuerer Belästigung zu befreien. Blickt auch der leitende Gedanke des Wahren und Würdigen nur sparsam aus dem schwerfälligen philologischen Gerüste hervor, so ist er es doch allein, der es verstattete Ihren Namen dem Buche vorzusetzen. Möge es wohlwollende Aufnahme erhalten, und einigermaaßen die Gesinnungen bezeugen, mit denen ich von ganzer Seele Ew. Excellenz zugethan bin, Gottfried Hermann. Leipzig den 2. November 1831. 14 Goethe an Hermann, Weimar, 12. November 1831 (WA IV 49, 137-139; hs. Vorlage unbekannt) Ew. Hochwohlgeboren haben mich so oft aus düstern kimmerischen Träumen in jenes heitere Licht- und Tageland gerufen und versetzt, daß ich Ihnen die angenehmsten Augenblicke meines Lebens schuldig geworden. Phaethon, Philoktet, die Urmythologie und so manches Andere haben mich vielfältig beschäftigt und mir möglich gemacht, das nach Zeit und Ort, Gesinnung und Talent Entfernteste an mich heranzurufen. Wollen Sie mir nun gar auf die ehrenvollste Weise zugestehn, daß ich als ein gedämpftes, aber doch treues Echo jene Klänge unserm gemeinsamen Vaterland zugelenkt, so bleibt mir nichts weiter zu wünschen übrig. Die glücklichsten Augenblicke hab ich dabey gelebt; hat sich nun zugleich etwas erfreulich Förderndes für meine Landes- und Zeitgenossen entwickelt, so dient dieß zur 195 S. „Chronik der Kontakte“, Beilage: Euripidis Iphigenia in Aulide , rec. G. Hermannus, Leipzig 1831. Zum Widmungstext s. die Einleitung, oben S. 16, die „Chronik der Kontakte“, 44a; Beilagen, Text 21; Nachwort, S. 206f. <?page no="68"?> 68 Briefwechsel 1820-1831 Stärkung und Belebung meines Glaubens, den ich während eines langen Lebens festgehalten habe. Der Hauptgedanke, nach welchem Sie uns ein so herrliches Stück wiederherstellen, ist bewundernswürdig, die Ausbildung in’s Einzelne unschätzbar. Soviel darf ich wohl im Allgemeinen sagen, wenn ich auch schon, weder jetzt noch künftig, das eigentliche Verdienst gründlich anzuerkennen mir einbilden darf. Doch freu ich mich gerade in solchen Fällen eines lebendigen Ahnungsvermögens, welches durch Ihre Behandlungsweise, so weit sie auch im Besondern von mir abliegen möchte, im Ganzen mich immer befähigt und fördert. Eine schon eingeleitete höchst angenehme so wie belehrende Unterhaltung mit Freund Riemer seh ich über diese neuste Mittheilung vor mir. In diesen sich immer mehr verlängernden Abenden werden Sie also einen stetigen Dank von theilnehmenden Bewunderern zunächst sich immer vergegenwärtigen können. In aufrichtigster Anerkennung und Hochachtung treu verpflichtet J. W. v. Goethe. Weimar d. 12. Nov. 1831. <?page no="69"?> Beilagen 69 Beilagen 1a/ b Wilhelm v. Humboldt an Goethe über Hermanns „Metrik“ (1797) 1a Wilhelm v. Humboldt an Goethe, Jena, 10. Februar 1797 (Textgrundlage: Hs.: GSA Sign. 28/ 439 St. 11, Bl. 1) Wollten Sie wohl Sonntag den Herrmann de metris [ De metris Graecorum et Romanorum libri tres, Leipzig 1796 ] mitbringen? Ich muß mein hier geliehenes Exemplar zurückgeben u. möchte nicht gern den Faden verlieren, den es einem so saure Muse anzuknüpfen kostet. 1b Wilhelm v. Humboldt an Goethe, Jena, 16. Februar 1797 (Textgrundlage: Hs.: GSA Sign. 28/ 439 St. 11, Bl. 2-4) Ich habe nunmehr im Herrmann das Kapitel vom Hexameter durchgelesen, und glaube Ihnen davon Rechenschaft geben zu können. Wenn er von einer incisione prima, septima, duodecima u. s. w. spricht, so versteht er darunter die Cäsur nach der ersten, siebenten, zwölften Silbe u. s. w. Nun rechnet er jeden Fuß zu drei Silben, weil er so viele haben kann, wenn er sie auch in dem gegebenen Beispiel nicht hätte. So ist incisio septima die Cäsur nach der ersten Silbe des 3 ten Fußes, die, welche die Griechen πενθημιμερη nennen, weil diese gerade umgekehrt jeden Fuß zu zwei Silben annehmen u. zwei kurze für eine lange zusammen nehmen. Hiernach sind nun soviel Cäsuren im Hexameter möglich, als derselbe Silben hat, die letzte abgerechnet, folglich 16. Hermann führt von diesen 13 an. Die von ihm citirten Grammatiker sind nicht so ausführlich. Indeß will ich die 3 bei ihm fehlenden hinzufügen, u. mit Beispielen belegen, damit Sie das Schema durchaus vollständig beisammen haben. Vorher bemerken will ich nur noch, daß alle diese Cäsuren in 3 Classen zerfallen; 1.) in solche, die auf eine der ersten langen Silben der Füße treffen u. folglich männlich sind, in die 1. te , 4 te , 7 te , <?page no="70"?> 70 Beilagen 10 te , 13 te , 16 te . 2.) in weibliche, die auf der ersten Kürze des Daktylus ruhen, und also nur dann möglich sind, wenn ein Daktylus dasteht, in die 2 te , 5 te , 8 te , 11 te , 14 te ; 3.) in solche, die auf die letzte Silbe des Dactylus oder Spondeus fallen, u. wo folglich Wort u. Fuß zugleich schließt, in die 3 te , 6 te , 9 te , 12 te , 15 te . Hier nun wäre das ganze Schema: 1.) nach der 1 ten Silbe: βαλλ | αιει δε πυραι νεκυων καιοντο θαμειαι 2.) 2 ten monstra | ferunt; populatque ingentem farris aceruom 3.) 3 ten σῃ ποθῃ | ου μεν γαρ τι κακωτερον αλλο παθοιμι 4.) 4 ten καμπτομενος, | τηλου δε μιῃ πηδησεν ὑφ’ ὁρμῃ. 5.) 5 ten degenerare | tamen, ni vis humana quotannis 6.) 6 ten in cassum furit. | ergo animos aeuumque notabis 7.) 7 ten fortunam Priami | cantabo et nobile bellum 8.) 8 ten ἀνδρα μοι εννεπε, Μουσα | πολυτροπον ὁς μαλα πολλα 9.) 9 ten montibus audiri fragor; | aut resonantia longe 10.) 10 ten Eumenides, quibus anguineo | redimita capillo 11.) 11 ten quae pax longa remiserat arma; | nouare parabant 12.) 12 ten continuo ventis surgentibus | aut freta ponti 13.) 13 ten et ripas rapitare, locosque nouos | ita sola 14.) 14 ten curculio atque inopi metuens formica | senectae 15.) 15 ten ingentem remis Centaurum promouet: | ille 16.) 16 ten parturiunt montes, nascetur ridiculus | mus Unter diesen Cäsuren zeichnen sich jedoch die 7 te , 8 te u. 10 te sehr merkwürdig aus. Sie sind nicht bloß, wie Herrmann sagt, die gewöhnlichsten, sondern außer in so alten u. rauhen Dichtern, als Lucretius und Ennius sind, wird es schwerlich einen einzigen Vers griechisch oder lateinisch geben, der nicht eine dieser drei Cäsuren hätte. Eine von diesen ist die unerläßliche Regel; eine andere der übrigen kann alsdann nach dem Bedürfniß des Sinnes oder Wohlklangs hinzukommen. Die 12 te ist die, welche den Charakter des sogenannten Bukolischen <?page no="71"?> 1a/ b W. v. Humboldt an Goethe über Hermanns „Metrik“ 71 Abb. 5: W. v. Humboldt: Egh. Referat und Exzerpt aus Hermanns „Metrik“ (1797) <?page no="72"?> 72 Beilagen Hexameters ausmacht, der im Theokrit so oft vorkommt. Die 11 te wurde unter den Alten am sorgfältigsten vermieden. Ich füge das beliebte Motto aus dem Bion hinzu: Αἴ μοι καλὰ πέλει τὰ μελύδρια καὶ τάδε μῶνα κῦδος ἐμὶν θησεῦντι, τά μοι πάρος ὤπασε Μοῖσα αἰ δ’ ουχ ἁδέα ταῦτα, τί μοι πολὺ πλήονα μοχθῆν; Den weniger interessanten Ueberrest, der die Gründe entwickelt, lesen Sie wohl einmal selbst in Bruncks Analecten. T. I. p. 388. nr. VI. nach. 2Gottfried Hermann: De mythologia Graecorum antiquissima dissertatio, Leipzig 1817 (Textgrundlage: Wiederabdruck in: Hermann, Opuscula II, Auszug: S. 167-171) [167] Ex omnibus, quotquot hodie supersunt, Graecarum litterarum monumentis nullum, mea sententia, memorabilius est, quam Theogonia Hesiodi. Quod carmen etsi nec magnitudine, nec splendore argumenti, rerumque aut dictionis varietate atque ornatu ad Homerum aliorumque clarorum poetarum scripta comparari potest, tamen aliam eamque ita propriam commendationem habet, ut ea causa etiam anteferendum illis poematis esse videatur. Dico autem non reconditum quiddam et abstrusum, sed id, quod quum cuivis primum in mentem venire debeat, propterea neglectum est, quia parum fructuosum fore putabatur. Nam quis non ante omnia, unde acceperit Hesiodus narrationes illas de originibus deorum, et qua ratione, quove consilio de iis exposuerit, quaerendum censeat? At enim quod ad fontes attinet, ex quibus hausit ille, quum plerique hanc quaestionem non propriam Hesiodei carminis, sed communem universae Graecorum mythologiae esse opinarentur, seiunxerunt eam ab interpretatione Theogoniae. Quo factum est, ut alterum illud investigare, quomodo eas res narasset Hesiodus, supervacuum putarint. Ad ipsam vero mythologiae Graecorum explanationem quum duplex via pateat, eam plerique omnes ingressi sunt, ut, quoniam ex orientis regionibus omnis ista doctrina derivata est, quidquid de Indorum, Phoenicum, Aegyptiorum, aliarumque gentium sapientia compertum habemus, ad Graecas fabulas applicarent. Vnde quanta perturbatio orta sit mythologiae, quantaque dissimillimarum rerum permixtio atque confusio, satis inter omnes constat. Multo rectior, ut mihi videtur, altera via est, quae versatur in eo, ut exclusis, quae ab aliis gentibus probata fuerunt, illa, quoad fieri potest, persequamur, quae a Graecis ipsis sunt tradita. Quorum quum [168] nihil habeamus, quod Homero Hesiodoque antiquius sit, ab his omnis ista ordienda videtur disputatio, praecipue autem ab Hesiodo, quod is non dispersim, neque <?page no="73"?> 2 Hermann: De mythologia Graecorum antiquissima (1817) 73 obiter, ut Homerus fecit, sed ordine et de industria doctrinam illam exposuit. Quo autem modo ex Hesiodi Homerique carminibus enucleanda esset ista ratio mythologiae, plerosque omnes latuisse video: siquidem etiam Heynius, qui rectius quam alii de his rebus sentiebat, in commentatione de Hesiodi Theogonia ex illis duobus, quae in hoc genere ut maxime memorabilia, ita ad enodandam rem unice opportuna sunt, alterum modo obiter attigit, alterum, idque primarium, plane praeteriit. Et hoc quidem in eo est positum, quod nomina deorum omnium origine Graeca sunt, et a munere cuiusque dei atque officio petita. Nam ut nonnulla horum nominum, aut, si cui ita videbitur, omnia in oriente nata sint, at illud tamen apertum est, a Graecis ea Graeca facta, significatusque iis eos attributos esse, qui cum lingua Graeca convenirent. Vnde intelligitur, ex nominibus naturam et munia cognoscenda esse deorum. Nec deorum tantum, sed etiam heroum, omninoque rerum omnium, nominibus, quae propria vocantur, appellatarum. Quis enim non miretur, pleraque heroum, et qui deinceps ex iis procreati sunt, nomina ita cum factis eorum et rebus gestis convenire, ut non ante, quam quisque res illas gessisset, sed post imposita fuisse probabile sit? Illustre exemplum praebent ipsae res Troicae, in quibus qui inclaruere plerique (nam quare non omnes, non est obscurum) iis vocati sunt nominibus, quae poetas ex factis eorum commentos appareat. Hinc valde suspecta fides illarum historiarum, ut partim penitus fictae, partim aliquid veri fictis nominibus tegere videantur. Verum etsi difficillimum est, vera fabulosi temporis a fictis diiudicare, tamen, qui sobrie satis et caute in hac re procedet, aliqua certe, quibus insisti possit, vestigia deprehendet. Alterum, quod in explicanda Hesiodi Homerique mythologia maximum momentum habet, illud est, quod hi poetae ita fabulas istas referunt, ut eos sensum earum plane ignorasse appareat. Quod animadvertit quidem [169] Heynius, sed ut non tantum, quantum debebat, huic rei tribuerit. Nam quum bene intellexisset, utrumque poetam multa ex vetustioribus carminibus hausisse, admonendi erant, docendique, qui explanare fabulas instituerent, non esse quid Homerus aut Hesiodus sensisset investigandum, sed quid illi dicere voluissent, qui his auctores fuerunt. Sic redibitur quidem ad allegoricam interpretationem harum rerum, sed alio modo, quam qui merito ab recentioribus interpretibus explosus est. Exemplum afferam, quo nullum illustrius inveniri potest. Non immerito risit Lucianus notissimos illos in Odyssea versus: τὸν δὲ μετ᾽ εἰσενόησα βίην Ἡρακληείην, εἴδωλον· αὐτὸς δὲ μετ᾽ ἀθανάτοισι θεοῖσι τέρπεται ἐν θαλίῃς καὶ ἔχει καλλίσφυρον Ἥβην […] Refert Homerus accepta, mirabilia illa quidem atque incredibilia, sed credita tamen: unde pro simplicitate sua non est sollicitus, quomodo idem simul et apud inferos et apud superos degere possit. At qui haec invenit, perabsurdus fuisset, <?page no="74"?> 74 Beilagen si commentus esset, quod fieri nequiret. Absit vero talis suspicio. Nam ille quem a gloria Ἡρακλέα appellavit, virtutem voluit intelligi viri fortis ac strenui: qui ubi moreretur, ipsum, ut mortalem, ad Orcum dixit descendere; virtutem autem, ut eam aeternam esse, seniique expertem ostenderet, apud immortales Iuventae consociavit. Qua fabula nihil profecto neque aptius potuit, neque splendidius inveniri. Huiusmodi vero plurima sunt apud Homerum, quorum nonnulla non sunt in omnium conspectu posita: ut quae in Iliadis libro secundo de sceptro Agamemnonis narrantur: quae ita sunt comparata, ut Homerus longe aliter omnia fuerit enarraturus, si intellectam habuisset mentem illius, a quo ista acceperat. Quem si reputamus Pelopi eiusque genti regnum Peloponnesi datum dicere, nec Tantali mirabimur non esse mentionem factam, neque in his, quae non sunt ex more Homeri eo loco dicta, offendemus. Haec igitur illorum, qui auctores fuerunt istarum narrationum, eruditio, Homeri autem Hesiodique earumdem rerum ignorantia, [170] quid aliud, quam veluti nube dispulsa ad immensa temporum spatia prospectum aperit, quibus et emicuit in Graecia lux sapientiae, et clare fulsit, et paullatim rursum exstincta est. Videmus rerum divinarum humanarumque scientiam ex Asia per Lyciam migrantem in Europam; videmus fabulosos poetas peregrinam doctrinam, monstruoso tumore orientis sive exutam, sive nondum indutam, quasi de integro Graeca specie procreantes; videmus poetas illos, quorum omnium vera nomina nominibus ab arte, qua clarebant, petitis oblitterata sunt, diu in Thracia haerentes, raroque tandem etiam cum aliis Graeciae partibus commercio iunctos: qualis Pamphus, non ipse Atheniensis, Atheniensibus hymnos deorum fecit; videmus denique retrusam paullatim in mysteriorum secreta illam sapientum doctrinam vitiatam religionum perturbatione, corruptam inscitia interpretum, obscuratam levitate amoeniora sectantium, adeo ut eam ne illi quidem intelligerent, qui hereditariam a prioribus poesin colentes, quum ingenii excellentia omnes praestinguerent, tanta illos oblivione merserunt, ut ipsi sint primi auctores omnis eruditionis habiti. Nobilis est hanc in rem sententia Herodoti, qui etsi non recte, tamen, ut illo quidem aevo, admirabili perspicientia, lib. II. c. 53 ita de Homero et Hesiodo scribit: οὗτοι δέ εἰσι οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι, καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες· οἱ δὲ πρότερον ποιηταὶ λεγόμενοι τούτων τῶν ἀνδρῶν γενέσθαι ὕστερον, ἔμοιγε δοκέειν, ἐγένοντο τούτων. Quem mirum est quosdam non vulgaris doctrinae viros hoc dicere opinatos esse, primos, qui versibus eas res exponerent, Homerum et Hesiodum fuisse: quod a mente eius alienissimum esse, perspicuum est. Hanc vero tam immensam praestantissimorum monumentorum iacturam aliqua saltem ex parte compensare poterimus investigandis, quaecumque supersunt eorum vestigiis: quibus diligenter collectis, recteque explicatis, historia quaedam condi poterit temporum, quae ante Homerum et Hesiodum fuerunt, eaque talis, quae uberrimam contineat <?page no="75"?> 2 Hermann: De mythologia Graecorum antiquissima (1817) 75 utilissimarum quaestionum materiam. Est autem in hac omni ratione iudicio maxime opus, quia non testibus res agitur, [171] sed ad interpretandi sollertiam omnia revocanda sunt: in qua hoc tantum spectandum, ut procul habita temeritate arbitrii, nihil, nisi quod res ipsa verum esse apteque cohaerere ostendat, admittatur. In quo genere uti plurimum difficultatis habent confinia fabulosi temporis et aevi, in quod historiae primordia incidunt, ita saepe etiam fabulae ipsae propter mutationes atque additamenta, quibus nunc temere, nunc etiam certo consilio deformatae reperiuntur, impeditissimae sunt. Experiar huiusmodi interpretationem in Hesiodi Theogonia. Quod si, ut supra dixi, nomina ipsa, quae res iis nominibus appellatae sint, indicant; Hesiodus autem, sensu fabularum, quas refert, minime perspecto, nihil aliud, quam tradita ab antiquis et credita ab aequalibus carmine exponere voluit: plana est via, qua explicari doctrina ista debeat, dummodo ea, quae poetae ignorantia addita sunt, ab iis, quae ille ab antiquioribus acceperat, diiudicare sciamus. Apertum vero est, hanc θεογονίαν, quae vocatur, κοσμογονίαν potius dicendam esse, siquidem in mundi creatione vitaeque hominum perfectione non modo principium carminis, sed, ut interpretatio nostra docebit, totum carmen versatur. „[167] Von allen Denkmälern der griechischen Literatur, die es heute noch gibt, ist m. E. keins denkwürdiger als die Theogonie des Hesiod. Diese Dichtung, wenn sie auch weder an Größe noch Glanz des Stoffes oder an Abwechslung und Schmuck in Sache und Ausdruck mit den Schriften Homers und anderer berühmter Dichter verglichen werden kann, empfiehlt sich dennoch auf eine andere, und zwar so eigene Weise, dass sie deswegen jenen Dichtungen sogar vorzuziehen sein dürfte. Damit meine ich nichts Verborgenes und Verstecktes, sondern etwas, das, obwohl es jedem als Erstes in den Sinn kommen müsste, nur deshalb unbeachtet geblieben ist, weil man es für nicht ertragreich genug gehalten hat. Denn wer wäre nicht der Meinung, es müsse vor allem erforscht werden, woher Hesiod die Erzählungen vom Ursprung der Götter bezogen und wie und wozu er sich darüber verbreitet habe? Gleichwohl glaubten die meisten hinsichtlich der Quellen, aus denen er schöpfte, diese Frage sei nicht spezifisch für das Gedicht Hesiods, sondern betreffe die gesamte griechische Mythologie, und trennten sie von der Erklärung der Theogonie ab. So kam es, dass man die Untersuchung des zweiten - auf welche Weise Hesiod den Stoff erzählt habe - für überflüssig hielt. Da es nun zur Erklärung der griechischen Mythologie zwei Wege gibt, haben die allermeisten den folgenden beschritten: Sie haben, da ja diese ganze Lehre aus östlichen Gegenden stammt, alles, was wir über die Weisheit der Inder, Phönizier, Ägypter und anderer Völker in Erfahrung gebracht haben, auf die Mythen der Griechen bezogen. Dadurch entstand ein großes Durcheinander in der Mythologie und eine große Vermischung und Ver- <?page no="76"?> 76 Beilagen wirrung von höchst Unterschiedlichem, worüber sich alle ziemlich einig sind. Viel richtiger ist, glaube ich, der andere Weg, der darin besteht, nach Ausschluss dessen, was bei anderen Völkern Geltung besaß, soweit möglich der eigenen Überlieferung der Griechen nachzugehen. Da wir nun davon nichts besitzen, was hinter Homer und Hesiod zurückginge, sollte diese ganze Untersuchung bei ihnen anfangen, speziell aber bei Hesiod, weil er nicht hier und da und auch nicht nebenbei, wie Homer es getan hat, sondern der Reihe nach und mit Vorsatz jene Lehre dargelegt hat. Wie man aber aus den Dichtungen Hesiods und Homers das System der Mythologie herausschälen kann, ist, wie ich sehe, den allermeisten verborgen geblieben, wo doch sogar Heyne, der in diesen Dingen klarer sah als andere, bei der Erläuterung der Theogonie des Hesiod von den beiden Punkten, die dabei nicht nur höchst beherzigenswert, sondern auch zur Klärung der Sache allein brauchbar sind, den einen nur nebenbei gestreift und den anderen, und zwar den erstrangigen, völlig übergangen hat. Und dieser besteht darin, dass die Namen aller Götter griechischen Ursprungs und von den Obliegenheiten und dem Amt eines jeden Gottes abgeleitet sind. Denn mögen auch etliche dieser Namen oder, wenn man so will, alle im Orient entstanden sein, so liegt es doch auf der Hand, dass sie von Griechen zu griechischen gemacht und ihnen Bedeutungen beigelegt worden sind, die zur griechischen Sprache passten. Daraus ersieht man, dass das Wesen und die Obliegenheiten der Götter von ihren Namen her begriffen werden müssen. Und nicht nur der Götter, sondern auch der Heroen und überhaupt aller Dinge, die mit Eigennamen bezeichnet sind. Denn wen wundert es nicht, dass die meisten Namen von Heroen und ihren Nachfahren so zu ihren Werken und Taten passen, dass sie ihnen wahrscheinlich nicht vor, sondern nach Vollführung ihrer Taten beigelegt worden sind? Ein berühmtes Beispiel bietet der Trojanische Krieg: Die meisten, die sich darin auszeichneten (denn warum nicht alle, ist nicht unbekannt), wurden mit Namen bezeichnet, die sich die Dichter offenkundig nach deren Taten ausgedacht haben. Daher beargwöhnt man die Glaubwürdigkeit jener Geschichten; sie erwecken den Anschein, teils völlig erdichtet zu sein, teils etwas Wahres unter erdichteten Namen zu verbergen. Aber selbst wenn es äußerst schwierig ist, Wahres aus sagenhafter Zeit von Erdichtetem zu scheiden, wird dennoch der hierbei nüchtern und vorsichtig Verfahrende gewiss einige Spuren, denen er nachgehen kann, ausfindig machen. Ein zweites, was bei der Erklärung von Hesiods und Homers Mythologie von größter Bedeutung ist: Diese Dichter geben die Erzählungen offensichtlich in völliger Unkenntnis ihres Sinnes wieder. Heyne hat es zwar bemerkt, jedoch ohne diesem Phänomen die schuldige Aufmerksamkeit zu erweisen. Denn nachdem er sehr wohl erkannt hatte, dass beide Dichter vieles aus älteren Gedichten geschöpft haben, hätten diejenigen, die sich an die Erklärung der Erzählungen <?page no="77"?> 2 Hermann: De mythologia Graecorum antiquissima (1817) 77 machten, darauf hingewiesen werden müssen, dass nicht Homers oder Hesiods Meinungen zu erforschen waren, sondern was diejenigen hatten sagen wollen, die deren Gewährsleute waren. So wird man zwar wieder zu einer allegorischen Deutung dieser Dinge gelangen, aber auf eine andere Art als auf die von den neueren Erklärern zu recht verworfene. Ich werde ein an Berühmtheit nicht zu übertreffendes Beispiel anführen. Nicht zu unrecht mokierte sich Lukian über folgende allbekannte Verse aus der Odyssee: „Nach diesem gewahrte ich die Gewalt des Herakles, / nur seinen Schatten, er selber aber ergötzt sich unter den unsterblichen Göttern / an Festlichkeiten und hat Hebe mit den schönen Fesseln.“ [11. Buch, V. 601-603] Homer berichtet Übernommenes, zwar Wunderliches und Unglaubwürdiges, aber doch Geglaubtes - und so hat es ihn, einfältig wie er war, nicht bekümmert, wie ein und derselbe zugleich in der Unterwelt und in der Oberwelt weilen konnte. Wer aber dies aufgebracht hat, wäre nicht recht gescheit gewesen, wenn er etwas ersonnen hätte, was nicht geschehen konnte. Doch ein solcher Verdacht sei ferne! Denn er wollte unter dem, den er, nach seinem Ruhm, Herakles (Hera-kles: „Hera-Ruhm“) nannte, das Verdienst eines tapferen, wackeren Mannes verstanden wissen. Als er starb, behauptet er (der Dichter), ging er, eben als Sterblicher, zum Orkus hinab; um aber zu zeigen, dass sein Verdienst unvergänglich und nie veraltend sei, gesellte er ihn bei den Unsterblichen der Hebe. Angemesseneres oder Herrlicheres als diese Erzählung hätte man wahrhaftig nicht erfinden können! Und von dieser Art gibt es bei Homer sehr viel; manches davon liegt nicht offen zutage, z. B. das, was im zweiten Buch der Ilias [V. 100b-109] über Agamemnons Szepter erzählt wird: Das wird so dargeboten, dass Homer alles ganz anders erzählt hätte, wenn er die Denkart dessen, von dem er es übernommen hatte, begriffen hätte. Wenn wir bedenken, dass er behauptet, Pelops und seinem Geschlecht sei die Herrschaft über die Peloponnes verliehen worden, werden wir uns weder darüber wundern, dass Tantalus nicht erwähnt wird, noch an dem Anstoß nehmen, was an dieser Stelle nicht nach Homers Weise ausgedrückt ist. Die Gelehrtheit also der Verfasser dieser Erzählungen und Homers und Hesiods Unbildung auf ebendiesem Gebiet eröffnet, wie nach Verjagung einer Wolke, nichts Geringeres als einen Blick in unermessliche Zeiträume, in denen in Griechenland das Licht der Weisheit aufleuchtete, hell glänzte und nach und nach wieder erlosch. Wir sehen, wie das Wissen von Gott und Welt aus Asien über Lykien nach Europa wandert; wir sehen, wie die Dichter des Zeitalters der Sagen fremde Lehre, teils vom abgeschmackten orientalischen Schwulst befreite, teils noch damit behaftete, gleichsam neuschaffen, in griechischer Gestalt; wir sehen, wie jene Dichter, deren aller wahre Namen in Vergessenheit geraten sind durch Namen, die von der Kunst, in der sie glänzten, abgeleitet wurden, <?page no="78"?> 78 Beilagen lange Zeit nicht über Thrakien hinauskommen und sich schließlich einzelne Male auch mit anderen Gegenden Griechenlands austauschen: Pamphus z. B., selbst kein Athener, schuf für die Athener Götterhymnen; wir sehen schließlich, wie jene Lehre der Weisen, nachdem sie allmählich in die Geheimkulte abgedrängt worden ist, durch Religionsverwirrung entstellt, durch die Unbildung der Ausleger verdorben und durch den Leichtsinn solcher, die Gefälligerem nachliefen, verdunkelt wird - so sehr, dass nicht einmal diejenigen sie verstanden, die, Erben und Pfleger der Dichtkunst ihrer Vorgänger, wiewohl allen anderen geistig überlegen, jene dermaßen vergessen machten, dass man sie selbst für die Ahnherren aller Bildung hielt. Bekannt ist, wie sich Herodot zu diesem Punkt geäußert hat; er schreibt (Buch II, Kap. 53), wenn auch nicht richtig, so doch mit einem für seine Zeit bewundernswerten Weitblick Folgendes über Homer und Hesiod: „Und sie sind es, die den Hellenen Entstehung und Stammbaum der Götter geschaffen und den Göttern die Beinamen gegeben und ihre Ämter und Fertigkeiten gesondert und ihre Gestalten deutlich gemacht haben. Die Dichter aber, von denen man sagt, sie hätten vor diesen gelebt, haben, so meine ich jedenfalls, später gelebt als diese [beiden].“ Erstaunlicherweise haben einige das Mittelmaß überragende Gelehrte gemeint, er sage damit, Homer und Hesiod seien die ersten gewesen, die diese Materie in Verse brachten; dass er dies keineswegs gemeint hat, liegt klar vor Augen. Doch können wir diesen unermesslichen Verlust an erstrangigen Denkmälern wenigstens zum Teil wiedergutmachen, wenn wir allen Spuren, die es von ihnen noch gibt, nachgehen. Sind sie erst sorgfältig zusammengestellt und richtig gedeutet, wird man gewissermaßen eine Geschichte der Zeiten vor Homer und Hesiod schreiben können, und zwar eine, die überreichen Stoff zu höchst nützlichen Untersuchungen enthält. Bei diesem ganzen Verfahren ist aber Urteilskraft sehr vonnöten, weil keine Zeugen zur Verfügung stehen, sondern alles auf Klugheit im Auslegen abgestellt sein muß, wobei einzig darauf zu achten ist, dass, unter Ausschluss leichtfertigen Urteilens, nur das akzeptiert werde, was sich durch die Sache selbst als wahr und sich in den Zusammenhang fügend erweist. Wie nun auf diesem Gebiet die Abgrenzung des Zeitalters der Sagen von frühgeschichtlicher Zeit die größten Schwierigkeiten macht, so findet man oft auch die Erzählungen selbst infolge von teils zufälligen, teils sogar absichtlichen Änderungen und Zusätzen verunstaltet und schwer entstellt vor. Ich werde mich an eine derartige Deutung von Hesiods Theogonie wagen. Wenn, wie oben gesagt, schon die Namen an sich angeben, welche Sachen mit diesen Namen benannt sind, Hesiod aber den Sinn der Erzählungen, die er überliefert, kaum erfasst und nichts weiter gewollt hat, als das von den Alten Überkommene und von seinen Zeitgenossen Geglaubte mitzuteilen, dann ist der Weg <?page no="79"?> 3 G. F. Creuzer an Goethe (1817) 79 frei, auf dem diese Lehre erklärt werden muss, immer vorausgesetzt, dass wir das, was der Dichter aus mangelnder Kenntnis hinzugefügt hat, von dem, was er von seinen Vorgängern übernommen hat, zu scheiden wissen. Es liegt aber auf der Hand, dass diese sogenannte T h e o g o n i e eher als K o s m o g o n i e zu bezeichnen ist, wenn anders nicht nur der Anfang des Gedichts, sondern, wie unsere Deutung lehren wird, das ganze Gedicht von der Erschaffung der Welt und der Vervollkommnung des Lebens der Menschen handelt.“ 196 ) 3Georg Friedrich Creuzer an Goethe, Heidelberg, 12.-14. September 1817 (Textgrundlage: Hs. GSA 28/ 261 St. 2) Das beiliegende Französische Werkchen hofte ich Eurer Excellenz dahier selbst überreichen zu können [eine 1815 in Paris erschienene Schrift Jeanette Galliens ( Johanna Wyttenbach), Théagène , nach Motiven aus Hesiods Theogonie , mit hs. hommage der Verfasserin an Goethe; s. Ruppert, Nr. 1652]. Wir nährten nämlich die Hofnung, Hochdieselben wieder einige Zeit in unserer Mitte zu besitzen. Darüber blieb das Büchlein etwas länger bei mir liegen. Nachher sollte doch auch noch die kleine philologische enveloppe fertig werden, die sich hiebei dem Theagene anschließt - und so geschieht es denn durch meine Schuld, daß Sie diese Schrift, deren Verfasserin mich mit jenem Auftrag beehrt hatte, später erhalten. Die gelegentliche Entstehung dieser Verhandlungen über Homer und Hesiodus muß mir, wenigstens was meinen Antheil betrift, bei Eurer Excellenz zur Entschuldigung dienen, wenn die Ausführung mit dem Gegenstand in keinem Verhältniße steht. Das Interesse, das Sie an einigen meiner übrigen Versuche genommen haben, läßt mich doch hoffen, daß Sie auch diese Briefe lesen werden, zumal wenn Ihnen Hermanns gelehrt durchgeführte Paradoxie zur Zeit noch unbekannt geblieben wäre. Ich nehme mir zugleich die Freiheit, eine etwas lang gerathene Recension beizufügen, da Sie [sic! ] gleichsam mit in die Kette der dort angeknüpften Verhandlungen eingreift. […] 197 196 Übersetzung: Hans Grüters; die Odyssee-Verse sind in der Übersetzung W. Schadewaldts wiedergegeben ( Homer: Die Odyssee . Übersetzt in deutsche Prosa von Wolfgang Schadewaldt, Reinbek 1958, S. 153f.), das Zitat aus Herodot in W. Margs Übersetzung ( Herodot: Geschichten und Geschichte. Buch 1-4 . Übersetzt von Walter Marg, Zürich und München ²1990, S. 151). 197 Siehe Goethes Antwortbrief: Beilagen, Text 6. <?page no="80"?> 80 Beilagen 4Briefe | über | Homer und Hesiodus | vorzüglich | über die Theogonie | von | Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer, | Professoren zu Leipzig und zu Heidelberg. | (Mit besonderer Hinsicht auf des Ersteren Dissertatio de Mythologia Graecorum antiquissima und auf des Letzteren Symbolik und Mythologie der Griechen.) Heidelberg 1818, S. 56-87 (Textgrundlage: ED) 198 [56] F ü n f t e r B r i e f. H e r m a n n a n C r e u z e r. […] [57] Die zwischen uns obwaltende Streitfrage ist ganz allgemein worden, und geht jetzt darauf hin, wie überhaupt die Mythologie zu betrachten und zu behandeln ist. Da meine Ansicht hier merklich von der Ihrigen abzuweichen scheint […], so erlauben Sie mir, damit die Sache sich leichter übersehen läßt, und ich selbst nicht etwa ein Hauptmoment von Ihren Einwürfen vergesse, diese vorher in gedrängter Kürze zu wiederhohlen. Meiner Behauptung, daß die älteste Griechische Poesie, aus der ich die Mythologie der Griechen abzuleiten versucht hatte, sich durch Einfach[58]heit, wie alles Griechische, characterisire, setzen Sie entgegen, daß man zu jener Zeit noch gar keine Griechen, folglich auch noch nicht die ihnen eigene Einfachheit annehmen könne, die man erst von dem Ende der Heraclidischen Wanderungen an anzunehmen berechtigt sey. Sodann nehmen Sie nächst der Personificirung noch ein chemisches Princip in der Mythologie, Mischung, an; jene sey Homerisch, diese Orphisch. Wenn die ältesten Dichter Priester gewesen sind, könne ihnen das Symbolische, als etwas wesentlich zum Priesterthum Erforderliches, nicht unbekannt gewesen seyn; sey es auch nicht gewesen. Eben so wenig könne Allegorie von der ältesten Poesie und Mythologie ausgeschlossen werden, bey welcher Gelegenheit Sie die Orphischen Gedichte gegen den Vorwurf mißverstandener alten Lehren in Schutz nehmen, und bemerken, weder seyen theologische Dogmen bey den Alten dem Wechsel, wie bey uns, unterworfen gewesen, noch dürfe man aus neuen Wortformen und neuer Einkleidung auf Neuheit des Inhalts schließen. Als leitendes Prinzip nehmen Sie die Rücksicht auf die Völker an, bey denen die Dogmen mit der Art, wie sie dargestellt wurden, am meisten beharrlich waren. 198 Nachdruck Eschborn 1992. <?page no="81"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 81 Indem Sie sich wieder zur Allegorie wenden, bestätigen Sie den Satz, daß die ethische Allegorie [59] genau mit der physischen zusammenhänge, durch das Beyspiel des Hercules. Jeder Nationalmythus, bemerken Sie ferner, habe eine innere, theologische, und eine äußere, volksmäßige Ansicht, und belegen auch dies mit dem Beyspiel des Hercules und Minos, die vielleicht beyde wirklich gelebt haben. Nachdem Sie auseinandergesetzt haben, wie es gekommen sey, daß die alten Dichter sich wenig um die Lehre der Priester, denen sie nicht einmal hold gewesen seyen, bekümmert haben, sagen Sie, es sey doch nicht wahrscheinlich, daß sie von dieser Lehre so gar wenig gewußt haben sollten, und suchen das Gegentheil durch Beweisstellen darzuthun, indem Sie dem Homer die Absicht, manchmal etwas Pikantes zu sagen, zuschreiben. Dieses sind die Hauptsätze Ihres so inhaltvollen und an schönen und wahren Bemerkungen reichen Briefes. Ich will versuchen, keinen unbeantwortet zu lassen, indem ich die ganze Sache in einige Fragen zusammenziehe, deren Erörterung uns, wie ich hoffe, vereinigen, oder doch der Vereinigung näher bringen wird. Wir haben es nicht mit der Mythologie überhaupt, sondern mit der Griechischen Mythologie zu thun, und die höchste der aufzuwerfenden Fragen betrift die Methode, nach der man diese auf so vielfache Art dunkle Materie aufklären soll. Im Ganzen giebt es zwey Methoden, die des Trennens und die des Vereinigens. Die erstere kann [60] blos Einseitigkeit zur Folge haben, die zweyte ist in Gefahr, alles mit allem zu vermischen, und indem sie überall alles findet, alles gleichsam flüssig zu machen, so daß nichts mehr zusammenhält, und, indem am Ende aller Unterschied aufhört, eine Erkenntniß unmöglich wird. Wenn demnach keine von beyden Methoden für sich allein hinreichend, sondern jede einzeln gar schädlich ist, so liegt wohl das rechte in der Mitte, und fordert die Verbindung von beyden. Dies bestätigt sich noch mehr, wenn man die Natur der Sache, die behandelt werden soll, in Erwägung zieht. Die Mythologie ist ihrer Aufgabe nach blos historisch, und soll nichts als eine Geschichte der Mythen und der in ihnen liegenden Ideen seyn. Da diese zusammen ein, wenn auch in einzelnen Theilen unähnliches oder widersprechendes, doch aber auch wiederum in durchgängiger Verwandtschaft stehendes Ganze ausmachen, so wird natürlich die Vergleichung alles dessen, worin diese Mythen und die mit ihnen verbundenen Ideen enthalten sind, als Material erfordert. Aber die Art, wie die Aufgabe gelöst werden kann, ist nicht historisch, weil sie größtentheils außer dem Gebiet der Erfahrung liegt, und historische Zeugen, da meistens keine vorhanden sind, nicht abgehört werden können: sondern sie ist philosophisch, oder, wenn Sie lieber wollen, kritisch, indem sie den Ursprung, Zusammenhang, Widerspruch, des vorhandenen theils aus den Andeutungen, welche die <?page no="82"?> 82 Beilagen Geschichte dar[61]bietet, theils aus der Natur des Gegenstandes selbst zu erforschen bemüht ist. Dieses letztere, die Natur des Gegenstandes selbst, ist es nun, was uns die Regeln seiner Behandlung an die Hand geben muß. Hier, scheint es, weichen wir beträchtlich von einander ab. Sie, wie es mir immer vorgekommen ist, sehen die Mythologie als ein System gewisser symbolisch ausgedrückter Lehren an. Indem Sie hier überall aus demselben Symbol auf dieselbe Lehre schließen, kann es nicht fehlen, daß Sie durchgängige Verwandtschaft finden, und so alles zu Einem vereinigen. Allein dies hat, wie ich oben bemerkt habe, den Nachtheil, daß dadurch die Unterschiede aufgehoben wurden, und es nirgends mehr Grenzen giebt. Ich hingegen halte die Griechische Mythologie für eine vielartige, zwar ihrem Ursprunge nach verwandte, aber keineswegs ein System ausmachende Masse. Die Entwickelung dieser Ansicht wird mir Gelegenheit geben, das, was ich über die einzelnen Punkte Ihres Briefes zu sagen habe, Ihnen vorzulegen. Mit Recht sagen Sie, jeder Nationalmythus habe eine doppelte Ansicht, eine äußere volksmäßige und eine innere theologische: allein erlauben Sie mir, die Bemerkung hinzuzufügen, daß man außer diesen beyden Ansichten noch zwey andere hinzuthun müsse, die philosophische, die Sie, wie es scheint, mit unter der theologischen begriffen haben, ich aber von dieser unterscheide, und eine, [62] die ich die mythologische nennen möchte. Der Unterschied aller dieser Ansichten liegt nicht in dem Inhalte derselben, indem es sich denken läßt, daß in manchen Fällen alle diese vier Ansichten denselben Inhalt haben können; sondern er liegt in dem Erkenntnißgrunde. Der Volksglaube nimmt etwas als historische Wahrheit an, blos aus Tradition, ohne weiter zu fragen, auf welchem Grunde diese beruhe, und ist daher blinder Glaube. Die theologische Ansicht setzt überall einen übersinnlichen Grund voraus, einen unbegreiflichen Zusammenhang mit einem göttlichen Wesen, und ist daher mystisch. Die philosophische Ansicht sieht in dem Mythus eine Allegorie, und geht daher von einer Idee aus. Endlich die mythologische Ansicht, welche eigentlich nichts ist, als historische Critik, geht darauf aus, den Ursprung des Mythus auszumitteln, und ist entweder historisch, wenn sie dies auf dem Wege der Erfahrung versucht, wie z. B. Herodot die Mythologie der Griechen von den Aegyptern herleiten will, oder philosophisch, wenn sie den rationalen Weg einschlägt, und aus der Natur des Mythus selbst ihn zu erklären unternimmt, oder auch historisch und philosophisch zugleich, wenn sie beydes verbindet. Ich will ein ganz einfaches Beyspiel anführen. Volksglaube war, in der Marathonischen Schlacht sey ein Gott in Gestalt eines Landmannes den Griechen zu Hülfe gekommen. Hiermit ist dieser Glaube beschlossen. Das Orakel, das man befragte, antwortete, man sollte den [63] Heros Echetläus verehren. Hierdurch, durch die von dem Ausspruch des Gottes ausgegangene Offenbarung, wurde der Mythus theologisch, <?page no="83"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 83 erhielt religiösen Glauben und Heiligkeit, und der Dienst des Heros seine Gebräuche. Gesetzt, es hätte jemand behauptet, dieser Mythus wolle blos andeuten, die Perser seyen eigentlich blos durch die Kraft des Landvolks geschlagen worden, so wäre das eine philosophische Ansicht. Endlich die mythologische ist hier, wo uns Pausanias ( Attic. XXXII. 4. vergl. ibid. XV. 4.) die That selbst erzählt, ganz klar: ein tüchtiger Bauersmann war in der Schlacht gesehen worden, der mit einem Stücke seines Pfluges viele Perser getödtet hatte, nach der Schlacht aber, vermuthlich weil er umgekommen war, nicht weiter gesehen ward. 199 Lassen Sie uns nun weiter fortgehen, und die drey ersten dieser Ansichten näher beleuchten, damit aus ihnen die vierte, welche die ist, die wir selbst zu nehmen haben, hervorgehe. Der Volksglaube hilft uns gar wenig. Ihn sammeln, alles zusammenstellen, historisch ordnen, und als Thatsachen behandeln ist das, was ehemals die meisten Mythologen gethan haben. Keine Einsicht in die Mythologie geht daraus nicht hervor: indessen ist doch auch diese Zusammenstellung nicht zu verwerfen, und da, wo man es blos mit dem Volksglauben zu thun hat, z. B. in dem Homer, wenn blos davon die Rede ist, was er selbst und seine Zuhörer dachten, oder in den Me[64]tamorphosen des Ovid, darf man auch nicht darüber hinausgehen, wenn man dem Dichter nicht unterschieben will, woran er nicht dachte. Der theologische Glaube hat für uns eben so wenig einen andern, als den historischen Nutzen, daß wir wissen, was für heilig gehalten wurde. Ganz anders aber verhält es sich mit der philosophischen Ansicht. Wenn, wie uns unwiderlegbare Spuren zeigen, das, was der Volksglaube als historische Wahrheit annahm, nicht minder wie das, was die Priester als Geheimnisse lehrten, nichts anders war, als was nachmals Philosophen und Dichter, Historiker und Grammatiker zu erklären versuchten, bildlich dargestellte Philosopheme, so sind diese eigentlich der Gegenstand, den der Mytholog aufsuchen und verständlich machen soll. Aus diesen Philosophemen ist der Volksglaube, aus ihnen die mystischen Lehren der Priester, aus ihnen die Deutung der exoterischen Schriftsteller entsprungen: sie selbst sollen aus diesen drey Quellen aufgefunden werden. Gleich auf den Orient überspringen, wie mehrere Mythologen gethan haben, und in der Griechischen Mythologie nichts als eine Copie der orientalischen finden, heißt den Knoten zerhauen. Was von verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten, an verschiedene Orte, auf verschiedene Weise nach Griechenland gekommen; was dort sich verschiedentlich ausgebildet, verschiedentlich mit dem bereits Umgebildeten vermischt hat, und überhaupt auf die [65] mannig- 199 „Mit Recht sagen Sie […] nicht weiter gesehen ward“: Die von Goethe bezeichnete „Stelle“, die seinem Aufsatz „Geistes-Epochen“ (s. Beilagen, Text 9, S. 97-99) zugrundeliegt. <?page no="84"?> 84 Beilagen fachste Art verändert worden ist, kann man nicht so geradezu als einen Abdruck des Originals, zumal wenn dieses selbst nicht in allen Zügen kenntlich ist, ansehen. Wenn wir daher auch von dem Gedanken ausgehen, daß wir aus dem Orient entsprungene Mythen vor uns haben, so hilft das doch noch sehr wenig, wenn wir nicht durch Hypothesen uns weiter verlieren wollen, als wir zu thun Grund haben. Wir müssen es daher, glaube ich, gerade machen, wie unsere Rechtslehrer, die, wie viel auch aus dem Römischen Rechte in unseres übergegangen ist, doch das gebräuchliche Recht als etwas für sich Bestehendes betrachten, und nur wo dieses schweigt, und zur Erläuterung das Römische in subsidium zu Hülfe nehmen. Die drey angegebenen Quellen der Mythologie, die Philosopheme, welche dem Volksglauben, den Priesterdogmen und den Darstellungen der exoterischen Schriftsteller zu Grunde liegen, schneiden ziemlich scharf nicht blos drey Theile der Mythologie, sondern auch drey Perioden derselben ab. Billig fangen wir mit dem ältesten, dem Volksglauben an, von dem die Theogonie des Hesiodus und der Homer die ersten, wichtigsten und merkwürdigsten Urkunden sind. Mögen immer die hier zum Grunde liegenden Philosopheme aus dem Orient abstammen, was meiner eigenen Ueberzeugung nach wirklich so ist; so behaupte ich dennoch, diese Mythologie müsse als eigentlich Griechische Mythologie angesehen werden, und zwar einmal [66] der Namen wegen, die nicht fremd, sondern ursprünglich Griechisch sind, sodann der Einfachheit wegen, die das characteristische Zeichen der Griechischen Nation ist. Das letztere wenigstens leugnen Sie, weil es damals, als jene Mythologie gebildet wurde, noch keine Griechen gegeben habe, mithin natürlich auch noch nicht die Einfachheit, durch die sich die Griechen auszeichnen. Ich enthalte mich hier mit Fleiß zweyer Einwürfe, die sich sogleich darbieten, des einen, daß die angegebene Einfachheit ja nicht eine Folge des Griechischen Characters, sondern als ein allgemeiner Zug alter Zeit, die Ursache desselben gewesen seyn könnte, zumal in einem Lande, wo diese Ursache ungehindert wirken konnte; des zweyten, daß es überhaupt kaum glaublich sey, Einfachheit folge dem entgegengesetzten Zustande, und gehe nicht vielmehr ihm voraus. Im Gegentheil will ich mich streng an Ihre und meine Worte halten, wie sie gesagt und gemeynt sind. Wir sprechen beide von den ältesten Bewohnern Griechenlands, die Sie erst seit dem Ende der Heraclidischen Wanderungen Griechen genannt wissen wollen. Mögen sie so oder anders geheisen haben, wir reden von den Vorfahren dieser Leute, und ich sollte denken, wenn ihre Nachkommen sich durch Einfachheit auszeichneten, so mußten sie selbst, je älter desto mehr, diese Eigenschaft gehabt haben. Aber was wissen wir denn eigentlich von diesen Leuten? Die Wahrheit zu sagen, nicht viel <?page no="85"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 85 mehr, als daß sie müssen [67] da gewesen seyn, wenn wir die Griechen nicht wollen als αὐτόχθονας aus der Erde wachsen lassen. Vixere fortes ante Agamemnona multi: sed omnes illacrimabiles urgentur ignotique longa nocte, carent quia vate sacro. 200 In diesen Worten liegt ein höchst wichtiger, und gewiß noch lange nicht genug beachteter Grundsatz, daß alte Zeiten aus Mangel an Begebenheiten sich in kurze Zeiträume zusammendrängen. Ich hoffe, wie die Naturwissenschaft unserm Erdball schon zu einem ganz andern Alter verholfen hat, als man ihm ehemals zuschrieb, werde es auch mit der Geschichte gehen, und die Völker älter werden, als man jetzt glaubt. In dem fabelhaften Zeitalter Griechenlands begegnen uns überall, wie jetzt Juden, so damals Pelasger, über die noch kürzlich erst M a r s h eine sehr gelehrte Schrift herauszugeben angefangen hat, der aber auch wie auf festem historischen Boden auftritt. Völker erhalten ihren Namen erst von andern Völkern, und wenn sie sich selbst einen geben, geschieht es nicht eher, als bis sie sich von ihren Nachbarn unterscheiden wollen. Wer sind nun diese überall zerstreuten Pelasger? Ich glaube, wir haben wenig eigentlich historischen Grund, sie für ein und dasselbe Volk zu halten, das hier und da und dort sich angesiedelt habe. Vielmehr, scheint es mir, haben diese [68] Leute keinen Namen gehabt, und das Wort bedeute, von πελάζειν, woher auch πέλαργος, abgeleitet, blos Ankömmlinge, so daß die Griechisch redenden alle und jede, fremde oder einheimische, die ihren alten Wohnsitz verließen, und an einen andern Ort kamen, πελασγούς genannt haben. Doch ich kehre wieder zu der Mythologie jener Vorfahren der Griechen zurück. Wenn wir sehen, wie diese ihre woher auch immer geschöpften Philosopheme in ganz einfachem Zusammenhange, blos personificirend, alles mit Griechischen Namen vortragen (von dem einzigen Amisodarus bey’m Homer ( Iliad . XVI. 328.) weiß ich nicht, was ich denken soll) müssen wir dies nicht für eine wahre Griechische Nationalmythologie halten? Doch darüber sind wir wohl einig; weniger aber, wie wir sie zu deuten haben. Sie wollen auch die Allegorie und das Magische des Symbols, wie überhaupt Priesterweisheit, da doch jene ältesten von mir vorausgesetzten Dichter Priester gewesen seyen, nicht ausgeschlossen haben. Ich glaube, darüber werden wir uns leicht vereinigen, da wir uns hierüber nur mit einander zu 200 Horaz, carm. IV, 9, 25-28 („Vor Agamemnon lebte schon mancher Held, / Doch unbeweint hält alle die lange Nacht / Und unbekannt umfangen, denn es / Fehlt der geheiligte Sänger ihnen“; Übersetzung nach der 1967 von Hans Färber hg. zweisprachigenTusculum-Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ des Horaz). <?page no="86"?> 86 Beilagen verständigen brauchen. Die Allegorie von jener ältesten Poesie gänzlich auszuschließen, war gar meine Absicht nicht, und konnte es nicht seyn, da in der Personificirung schon, und in den Handlungen, die den personificirten Wesen beygelegt werden, Allegorie enthalten ist. Ich habe blos das sagen wollen, ein zweyter Schritt der Poesie sey der gewe[69]sen, wo sie blos allegorisch wurde, und jede beliebige Lehre in einer dazu besonders erfundenen Geschichte darstellte, anstatt daß sie vorher nur Wirklichkeit, aber mit Personificirung der wirklichen Naturkräfte, erzählt hatte. Eben so wenig bin ich gemeynt gewesen, der ältesten Poesie die Kenntniß des Symbols, oder dessen, worin eine göttliche Kraft sichtbar wird, abzusprechen, da dies unerläßliche Bedingung religiösen Glaubens ist, den ich weit entfernt bin, jenen ältesten Dichtern nicht einräumen zu wollen. Allein das hilft uns nichts zur Sache: denn der religiöse Glaube gehört nicht als solcher, als Dogma, zur Mythologie, sondern nur durch das dem Dogma zu Grunde liegende Philosophem. Weit schwieriger ist die Frage, was es mit der Priesterweisheit in jener ältesten Mythologie für eine Bewandniß habe. Sehr scharfsinnig ist die Art, wie Sie das Sinken des Priesterthums erklären, und ich möchte nicht behaupten, daß das nicht so gewesen sey. Nur möchte ich aus dem, was Sie aus dem Homer anführen, nicht auf Spaltungen zwischen den Priestern und Sängern schließen. Daß die Sänger sich selbst hochachten, ist natürlich. Daß die Wahrsager oft gescholten und übel behandelt worden, ist aus der Wirklichkeit genommen und eben so natürlich. Meistens werden diese Leute erst im Unglück befragt, und können also meistens auch nichts Gutes weissagen: daher sie verhaßt werden. Ἀπὸ δὲ θεσφάτων τίς ἀγαθὰ φάτις [70] βροτοῖς τέλλεται; sagt der Chor im Agamemnon ( Aeschyl. Agam. 1141. sq. ) und mehreres ähnliche findet sich dort und anderwärts. Und wie hoch geehrt erscheint nicht Tiresias in der Odyssee, dem allein unter den Todten verständig zu seyn gegeben war? Ich kann daher nicht leugnen, daß ich eine andere Ansicht dieser Sache habe. Es ist doch eine auffallende Erscheinung, daß Homer und Hesiodus weder von Orakeln, noch von Priesterweisheit etwas zu wissen scheinen. Ἀλλ᾽ ἄγε δή τινα μάντιν ἐρείομεν ἢ ἱερῆα ἢ καὶ ὀνειροπόλον sagt Achill ( Iliad. I. 62.), und die Alten bemerken, wie durch diese Aufzählung die Sphäre erschöpft sey. Die Priester zu Dodona, des einzigen von Homer berührten Orakels, heisen blos Διὸς ὑποφῆται, was jeder andere Wahrsager ist, θεῶν ἐκ θέσφατα εἰδώς. Sollten wir hieraus nicht mit Fug und Recht die Folgerung ziehen, daß, wenn auch schon zu Homers Zeiten Orakel, Mysterien, oder vielmehr Orgien, und Priesterwissenschaft angefangen haben, dieselben doch noch ganz im Dunkeln geblieben seyen, und erst nachher Berühmtheit, Ansehen und Einfluß auf den Volksglauben erhalten haben mögen? Es scheint das in der Natur der Sache zu liegen. Allerdings bin auch ich der Meynung, daß <?page no="87"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 87 alle Weisheit der vorhomerischen Poesie von Priestern ausgegangen ist. Aber da diese den Zweck hatten, das noch ganz [71] rohe und aller Kenntnisse leere Volk zu belehren und zu bilden, mußten sie ihre Weisheit klar und einfach, obwohl, um verstanden werden zu können, in Bildern und Allegorien vortragen. Das religiöse dabey, den Glauben an Götter, und den Glauben an die Gemeinschaft, in der sie mit den Göttern stunden, hatten sie nicht nöthig, auf eine künstliche Art zu bewirken. Die staunende Unwissenheit glaubte das von selbst. Beruhigt in diesem Glauben, lernte das Volk die bildlichen Lehren auswendig, und, indem es sich blos an das Bild hielt, vergaß es den Sinn. Bey fortschreitender Bildung mußte der Glaube an die Gemeinschaft einzelner Menschen mit den Göttern allmählich sinken, und nun wurden, um ihn aufrecht zu erhalten, Orakel immer nothwendiger und wichtiger, wo durch mancherley schauerliche Blendwerke die Nähe des Gottes sich augenscheinlich anzukündigen schien. Zugleich mußten aber auch die Lehren der Priester eine andere Gestalt annehmen. Waren die Priester vorher bemüht gewesen, ihre Weisheit dem Volke mitzutheilen, und es dadurch aufzuklären; so mußten sie jetzt sich bestreben, dieselbe vor dem Volke zu verhüllen und dasselbe in Unwissenheit zu erhalten. So kam es, daß die ἱεροὶ λόγοι, anfangs bildlich dargestellte Philosopheme, späterhin ohne deutlichen Begriff geglaubte Sagen, nun geheimnißvolle Deutung erhielten, und mystische Lehren wurden. Auf diesem, wie mir scheint, von der Natur der Sache [72] selbst vorgezeichneten Wege, wird alles deutlich. Homer und Hesiodus gehören, meines Erachtens, in jene mittlere Periode, wo die alten bildlich eingekleideten Systeme von Kosmogonie und ethischen und physischen Lehren unverstanden als historische Wahrheit angenommen und vorgetragen wurden. Von diesem Nichtverstehen habe ich in meinem vorigen Briefe einige Beyspiele angegeben. Und da nirgends sich eine Spur zeigt, daß diese Dichter etwas anderes, als was sie sagen, andeuten wollen, so kann ich Ihrer Meynung, daß Homer manchmal seinen Zuhörern eine Aufgabe gegeben, und dadurch pikant habe werden wollen, nicht beytreten. Ich gestehe, in den Stellen, die Sie anführen, nichts hiervon entdecken zu können. Wollen Sie aber sagen, daß diese Dichter durch Anführung mancher aus jenen Philosophemen genommenen wunderbaren und, wörtlich verstanden, unbegreiflichen Sachen, ihre Gedichte haben ausschmücken, ihre Gelehrsamkeit zeigen, und durch das Wundervolle Erstaunen erregen wollen; so gebe ich das gerne zu, oder vielmehr, es ist meine eigene Meynung. In solchen Dingen aber, wie das ist, daß Ulysses, was er von sich erdichtet, allemal nach Kreta verlegt, finde ich gar nichts von jener Art. Auch angenommen, daß alle jene Erzählungen von Einem Dichter herrühren, und nicht von verschiedenen Dichtern nach einem Vorbilde gemacht sind, sehe ich weiter nichts darin, als daß Kreta deswegen gewählt wurde, weil die [73] Kreter sich damals überall auf dem Meere herum trieben […], und man daher <?page no="88"?> 88 Beilagen bey einem zu Wasser [74] Angekommenen voraussetzen konnte, er werde eher aus Kreta, als wo anders her seyn. Auf eben diese Art haben ja bey uns viele Romanschreiber die Gewohnheit, wenn sie einen Sonderling aufstellen, dazu einen Engländer, wenn einen Windbeutel, einen Franzosen, wenn einen Banditen, einen Italiäner zu nehmen. Was nun die Mythen selbst, die bey dem Homer und Hesiodus unverstanden aus der vorhomerischen Poesie wiederhohlt sind, anlangt, so habe ich oben schon eingeräumt, daß ich ihnen die Allegorie gar nicht abspreche, nur aber die Personificirung für das erste halte, Homer aber, und Hesiodus, behaupte ich, wissen nicht, daß es Allegorie ist. Diese Unbefangenheit, die zum Wesen dieser Dichter gehört, ist so characteristisch, daß, so viel ich mich entsinne, nur zweymal etwas der Art vorkommt, aber beyde Male mit dem ausdrücklichen Zusatze αἶνος, bey’m Hesiodus ( Opp . v. 201.) ὧδ᾽ ἴρηξ προσέειπεν ἀηδόνα, und bey’m Homer die Erzählung des Ulysses XIV. Odyss. 459.f. wo, um ja gleich dem Zuhörer die Sache verständlich zu machen, συβώτεω πειρητίζων hinzugesetzt wird. Doch, um Ihnen auch ein wirkliches Beyspiel von Allegorie zuzugeben, lasse ich mir es gar gerne gefallen, daß Hercules auch schon in jener vorhomerischen Poesie die Sonne bedeutet habe. Auch dieser Mythus liegt ja in den Namen und der Sache selbst, daß der Sohn des Amphitryon und der Alkmene, des Umkreisers und [75] der Kraft, vielleicht Centralkraft, erst zehn, dann, nach einer spätern Eintheilung des Jahres, zwölf Arbeiten vollende. Ob aber jene andere Deutung, nach der Hercules die Tugend ist, so mit dieser zusammenhänge, will ich nicht behaupten. Später mag sie seyn: allein ich möchte lieber annehmen, der ethische Mythus sey nur eine andere Deutung der Namen, folglich ein ganz für sich neben jenem bestehender Mythus, so daß der eine Hercules nicht der andere ist. Um manche solche Mythen zu erklären, müssen wir freylich oft unsere Zuflucht zu der Quelle derselben im Orient nehmen, und so muß man es allerdings auch mit dem Minos machen, Odyss. XIX. 180., wobey ich jedoch bemerke, daß ἐννέωρος ὀαριστής der Homerischen Sprache wegen nicht mit einander verbunden werden könne, sondern bey dem Homer (ob er seinen Vorgänger richtig verstanden habe, ist eine andere Frage) gehört ἐννέωρος entweder zu βασίλευε, oder zu Μίνως. Das letztere scheint mir das richtige. Denn schwerlich hat ἐννέωρος je neunjährig bedeutet, sondern dieses Wort, das an mehreren Stellen dunkel ist, scheint, wie μετέωρος, von αἰωρεῖν herzukommen, und ein neunfaches Gewicht habend, sodann schwer, groß, bedeutet zu haben. […] Sehr aber müssen wir uns hüten, bey [76] einem solchen Mythus irgend etwas mehr zu denken, als was sich der Grieche, der ihn aufstellte, nothwendig dabey denken mußte. Hierin vorzüglich sehe ich mich genöthigt, von Ihnen abzuweichen, indem das Characteristische Ihrer Symbolik, wie es mir scheint, auf dem Grundsatze beruht, wo dasselbe Zeichen ist, auch <?page no="89"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 89 dieselbe Sache anzunehmen. Diesen Grundsatz kann ich auf keine Weise zugeben. Allerdings haben manche Symbole, wie Worte in einer Sprache, ihre feste Bedeutung erhalten, aber aus dem Gebrauch des Symbols folgt noch so wenig die Identität dessen, dem das Symbol beygelegt wird, wie in der Sprache aus demselben Prädicate, das mehreren Subjecten zugeschrieben wird, die Identität der Subjecte hervorgeht. Erlauben Sie mir, ein Beyspiel von umgekehrter Art aus Ihrem Briefe anzuführen. Die Hermenartige Venus-Urania [77] zu Athen ἐν κήποις gab ein in der Inschrift der Statue enthaltener ἱερὸς λόγος für die älteste der Parcen aus. In Ihrem Briefe, wie in der Symbolik, finden Sie darin eine Spinnerin. Hier muß ich Ihnen gänzlich widersprechen. Ihr Schluß ist dieser: die älteste der Parcen ist Klotho; Klotho ist die Spinnerin; also ist Venus als die älteste der Parcen Spinnerin. Was aber berechtigt zu diesem Schlusse? […] War nicht auch die Tyche, wie ebenfalls Pausanias aus dem Pindar anführt, als Parce, und zwar als die mächtigste der Parcen [78] aufgestellt worden? Hier läßt sich wohl nicht eben an das Spinnen denken. Meines Erachtens haben wir nicht den geringsten Grund, über das, was in der Inschrift liegt, hinauszugehen. Und was enthält sie? ein schönes einfaches Philosophem. Venus-Urania, der himmlische Zeugungstrieb der ganzen Natur (nicht der Venus πάνδημος entgegengesetzt, sondern als Trieb der ganzen Natur gedacht), ist Parce. Parcen sind die Bestimmerinnen der Schicksale, wobey blos an ihr Amt, nicht an die sinnbildliche Darstellung desselben, zu denken Veranlassung ist. Nun konnte die Venus-Urania auch schlechthin Parce genannt werden: aber dann war das Philosophem nicht ganz deutlich ausgedrückt. Sie wird also die älteste der Parcen genannt, mit Rücksicht auf den Begriff mehrerer das Schicksal bestimmenden Göttinnen, aber nicht Klotho, weil nicht gesagt werden soll, sie sey von diesen dreyen die älteste, sondern sie sey das älteste von allem, was die Schicksale bestimmt, d.-h. von Anfange an geschehe alles in der Natur durch nothwendige Erzeugung. Wenn ich das bisher Gesagte in einem Resultate zusammenfassen soll, so ist es dieses: alle alte Nationalmythologie besteht aus bildlich dargestellten Philosophemen, die man, so weit es nur immer möglich ist, aus ihnen selbst erklären muß; die mannigfache Abänderungen und Verschiedenheiten enthalten, aber auch auch als verschieden angesehen werden müssen, und daher zwar mit einander ver[79]glichen, keineswegs aber mit einander vermischt werden dürfen. Ich komme nun zu der zweyten Periode der Mythologie, zu den geheimen Lehren der Priester. Sie nehmen in der Mythologie noch ein chemisches Princip, Mischung, an, wogegen ich nichts einzuwenden habe, sobald Sie es nur von der alten Nationalmythologie, von der ich bis jetzt sprach, ausgeschlossen lassen. Wie Sie den Kampf des Vulcan mit dem Skamander Iliad . XXI. als ein Beyspiel solcher Mischung angesehen wissen wollen, leuchtet mir nicht ein. Wenn einige Alte hier so etwas wollen gefunden haben, so wußte doch Homer nichts davon. <?page no="90"?> 90 Beilagen Daß diese Rhapsodie neu ist, und aus der Stelle eines ältern Dichters, XX. 56.-ff. weiter ausgeführt, habe ich in der Vorrede zu den Homerischen Hymnen S.-7f. bemerkt. Aber schon der alte Dichter hatte den Sinn dessen, von dem er den Mythus hatte, verfehlt, und der neuere redet vollends, wie der Blinde von der Farbe. An Mischung aber hat wohl keiner von allen dreyen gedacht. Was soll überhaupt Mischung seyn? Nicht die Uebertragung eines Prädicats auf eine andere Gottheit von einer andern, wie das eben angeführte Beyspiel der Venus als Parce. Dies ist blos Beylegung einer Eigenschaft, wodurch zwar z. B. die Venus als Parce, aber nicht die Parce auch als Venus dargestellt wird. Mischung kann in der Mythologie blos die Verbindung mehrerer Götter zu Einem bedeuten, so [80] daß beyde identisch sind und eine gemeinsame Natur ausmachen. Diese Mischung findet sich allerdings in der Mythologie, aber erst in dieser zweyten Periode. Sie hat eine doppelte Ursache, einmal die Vereinigung mehrerer Religionen, welche durch Ansiedelungen und Anlegung von Colonien bewirkt wurde; sodann die Mysterien. Denn überhaupt lassen sich nur zwey Ursachen davon denken: eine äußere, und diese mußte in der Vereinigung verschiedener Götter und ihrer Verehrung an Einem Orte liegen; und eine innere, die in der Lehre besteht, daß verschiedene Götter Eins sind, welche als eine geheime Offenbarung behandelt wird. Zu einer äußern Vereinigung konnte nun natürlich nichts als Handel, Ansiedelungen, Colonien, die Veranlassung geben; beförderlich aber war dazu der große Hang der Griechen, theils ihre Weisheit gern aus dem Orient her haben zu wollen, theils alles zu hellenisiren, verbunden mit einer grenzenlosen Leichtgläubigkeit und Akrisie, wozu vielleicht noch manchmal um des Vortheils willen ein gegenseitiges Nachgeben, ein Accomodiren, gekommen seyn mag. Auf diese Art ist nun aus derselben Quelle, aus der vielleicht in frühern Zeiten die alte Mythologie der Griechen geflossen war, späterhin ein neuer Zuwachs zu jener bereits nationell gewordenen Mythologie hinzugekommen, der, wiewohl seinem ersten Ursprunge nach verwandt, doch jetzt als eine fremdartige Beymischung angesehen werden muß, und auch wirklich, zum [81] Theil wenigstens, als solche sich durch den fremden Namen ankündigt, wie die Kabiren, bey denen ich nicht unerwähnt lassen kann, daß mir eben erst Herr Hofrath Böttiger eine sehr schöne und interessante Ansicht in einem Gespräche mitgetheilt hat, wie man diesen Mythus anzusehen habe. Doch das werden Sie von ihm selbst besser und ausführlicher hören können. Mir sind für den gegenwärtigen Zweck die Mysterien wichtiger. Was Sie behaupten, die Priesterdogmen seyen bey den Alten weit weniger, als bey uns, dem Wechsel unterworfen gewesen, kann ich nicht unbedingt zugeben. Verstehen Sie darunter das eigentliche theologische Dogma, das Sacrament, so habe ich nichts dawider. Dieses als eine geheiligte, zum Cultus gehörige Sache, mußte natürlich bleiben, wie es war, wenn anders die Religion selbst bleiben sollte. Meynen Sie ferner die Bedeutung <?page no="91"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 91 gewisser Symbole, so habe ich auch dagegen nichts: denn diese als anerkannte Bildersprache blieben auch, und änderten wohl wenig ihre Bedeutung. Meynen Sie aber die Auslegung des dem Dogma zum Grunde liegenden Philosophems, so muß ich bekennen, eine andere Ueberzeugung zu haben. Der aufkeimende und immer weiter um sich greifende Hang der Nation zum Philosophiren und Forschen nach geheimer Weisheit konnte bey den Griechen eben so wenig ohne Einfluß auf die Theologie bleiben, als bey uns, und wenn die herrschende Meynung, daß die Priester am ersten [82] Aufschlüsse geben könnten, diese erinnerte, um so weniger zurückzubleiben, je mehr dadurch die Religion selbst würde gefährdet worden seyn; so finde ich es höchst wahrscheinlich, daß auch sie in Bildung ihrer Ansichten weiter gehen, und die früher in bloßer Aufrechthaltung des Dogma’s bestandene Lehre durch Philosopheme unterstützen und befestigen mußten. Den Weg zeichnete ihnen, wie ich oben angedeutet habe, die Sache selbst vor: sie mußten ihre Lehre in Dunkel einhüllen, und, indem sie sie an das Sacrament knüpften, als Geheimniß vortragen, zugleich aber auch dem Zustande der Cultur, den sie bey ihren Zeitgenossen vorfanden, anpassen. Die Mythen blos philosophisch und allegorisch betrachtet, hätten blos auf eine Kosmogonie, Physik und Ethik hinführen können: dann wäre aber das Wesen der Theologie und der Grund des Priesterthums, das Dogma und der religiöse Glauben aufgehoben und vernichtet worden, gerade so, wie bey uns der zunehmende Rationalismus dieselbe Folge haben muß. Indem man also das Dogma und Sacrament erhalten, und doch mit der fortschreitenden Philosophie vorwärts gehen wollte und mußte, blieb nichts übrig, als beydes durch Pantheismus zu vereinigen, der wieder nur durch Monotheismus Zusammenhang und Festigkeit hat. Und so ist wohl die Ansicht, die noch neulich Herr von Ouwaroff in einer Abhandlung sur les mystères d’Eleusis vertheidigt hat, nicht ungegründet, daß die Lehren [83] der Mysterien auf Monotheismus hinausgelaufen seyen. Hieraus folgte offenbar, daß man jenes Princip der Mischung annehmen, und in jedem Gotte den andern, und so in allen Einen aufstellen mußte. Da aber der Sinn der alten Mythen nur noch zum Theil in den ἱεροῖς λόγοις aufbewahrt war, nemlich in wie fern jene alten Philosopheme noch als ἱεροὶ λόγοι bestanden, zum Theil aber gar nicht mehr verstanden wurden, so war es natürlich, daß diese Priesterphilosophie ihren eigenen Gang gehen, und mithin sehr oft von dem wahren Sinne der alten Philosopheme sich verirren mußte. Ich glaube dies daher ganz mit Recht von den Orphischen Gedichten behaupten zu können, die, nach dem, was ich gesagt habe, nichts anders als Lehren der Mysterien sind, die man, in Verse gebracht, welche genugsam ihre Neuheit beurkunden, für Worte des fabelhaften Sängers, der die Mysterien gestiftet haben sollte, ausgab. Ein Beyspiel, daß diese Orphischen Gedichte wirklich zum Theil auf Mißverständnissen alter Mythen beruhen, mögen die Titanen geben. In einfacher Größe tritt dieses Ge- <?page no="92"?> 92 Beilagen schlecht bey dem Hesiodus auf, je zwey und zwey, wie sie zusammen gehören, bis endlich, einsam und allein, der jüngste der Uraniden, der Vollender, Κρόνος, die Reihe beschließt. Was finden wir dagegen in den Orphischen Versen? Nichts als eine zufällig zusammen gekommene Schaar von Leuten, von denen höchstens einige, weil einmal Hesiodus sie [84] verbunden hatte, und das Metrum die Verbindung empfahl, neben einander, wie sie sollten, stehen geblieben sind. Diese Lehren der Priester würden blos als ein Philosophem über die Mythologie anzusehen seyn, wenn sie nicht eben wieder als Lehre vorgetragen, und zu Glaubensartikeln wären erhoben worden. Dadurch wurden sie nun selbst Mythen, und es fragt sich, welche Regeln man bey ihrer Erklärung zu befolgen habe. Wenn der aufgestellten Ansicht nach das Wesen dieser Lehren in der behaupteten Identität entweder mehrerer Götter, oder aller bestand, so glaube ich, muß das Verfahren ganz historisch seyn, und man muß in jedem einzelnen Falle nur so weit gehen, als mit historischer Critik ausgemacht werden kann, daß diese und jene Götter an diesem oder jenem Orte nach dieser und jener Idee als Eins angesehen worden sind. Weiter zu gehen, würde eine Vermischung verschiedener Lehren, und eine gänzliche Zusammenschmelzung aller Mythen in Einen zur Folge haben. Wie leicht oder schwer das bey so unvollständigen, vieldeutigen Nachrichten ist, mag ich nicht bestimmen: Problem aber bleibt es, und muß stets mit möglichster Strenge beobachtet werden. Ich wende mich zu der dritten Periode der Mythologie. Die alte Nationalmythologie sowohl, als die mystischen Lehren der Priester, konnten nicht ohne Einfluß auf das Volk bleiben. Durch beyde wurden mancherley Ideen immer [85] bekannter und ausgebreiteter. Beyde veranlaßten, jede auf die ihr eigene Art, manchen, für sich selbst weiter zu gehen. Die in historischen Glauben ausgeartete alte Nationalmythologie gab Gelegenheit, indem man bald etwas für Fabel, bald auch für Allegorie hielt, auf diesem Wege weiter zu gehen, und so entstanden mancherley Veränderungen und Zusätze zu den alten Sagen, bald um dichterische Erfindungskraft zu zeigen, bald um einen Satz allegorisch zu versinnlichen. Dies war das Geschäft der Dichter, von denen Stesichorus die meisten und seltsamsten Dinge vorgebracht hat, deren erster Entstehung auf die Spur zu kommen, interessant seyn müßte. Die Lehren der Priester wiederum, so sehr sie auch zum Theil als Geheimniß behandelt wurden, mußten doch nothwendig durch die Eingeweihten allmählig die Begriffe von Identität mehrerer Götter und von Vereinigung aller in einem Urwesen geläufig machen. Und so finden wir, daß Dichter und Philosophen auf mannigfaltige Art ihre Ansichten darüber vortragen. Alles dieses war nun eigentlich nicht Mythologie, nicht eine wirkliche Lehre, sondern nur Philosopheme über die alten vorhandenen Lehren. Aber in wie fern sich diese Ansichten theils mit den bestehenden Lehren vermischten, und selbst <?page no="93"?> 4 G. Hermann / F. Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus (1818). 5./ 6. Brief 93 wieder eine Art von Glauben erhielten, theils für uns zu der gesammten Masse mythologischer Ideen, deren eine immer zu der Erklärung der andern angewendet werden kann, gehören, machen sie wirklich einen Theil der Mythologie aus, der aber [86] wieder seine besondere Behandlungsart erfordert. Und zwar kommt es hier vorzüglich darauf an, die individuelle Meynung dessen, der das Philosophem vorträgt, die Idee, von der er ausgieng, die Regeln, die er befolgte, zu erforschen, und dann seine Ansicht mit der früher vorhandenen Mythologie zu vergleichen, um auszumachen, was ihm und was jener angehöre. Alles bisher Gesagte, in wenigen Worten zusammengefaßt, würde ich so ausdrücken: die älteste Nationalmythologie der Griechen muß etymologisch-allegorisch; die Lehre der Priester und Mysterien historisch-dogmatisch; und die exoterische Theorie der Dichter und Philosophen philosophisch-kritisch behandelt und erklärt werden. Es sind mir nur noch zwey Dinge übrig, über die ich ein Paar Worte zu sagen habe. Sehr gern gebe ich Ihre Behauptung zu, daß die Rücksicht auf diejenigen Völker, bey denen die Dogmen und die Art, wie diese Dogmen dargestellt wurden, am meisten beharrlich waren, als ein leitendes Princip in der Mythologie dienen könne. Allein es kommt, meiner Ueberzeugung nach, sehr viel darauf an, welchen Gebrauch man von diesem Princip mache. Ich meines Theils glaube, daß dieser Gebrauch blos ein grammatischer seyn, und sich nicht weiter erstrecken dürfe, als über das, was man mythologische Sprache nennen könnte, d. h. die jedem Zeichen beywohnenden Bedeutungen. Will man wegen desselben hier und wieder wo an[87]ders gebrauchten Symbols auch die Gegenstände, zu deren weiterer Bezeichnung das Symbol angewendet worden, identificiren, so kann daraus, wie ich schon oben bemerkt habe, keine sichere und klare Einsicht hervorgehen, sondern es entsteht eine Vermischung, wodurch die Unterscheidung aufgehoben wird. Zweytens ist auch mir nicht unwahrscheinlich, daß viele Mythen, die ihrer Natur und ihrem Ursprunge nach nichts als Philosopheme waren, sich nachmals mit wirklichen Begebenheiten vermischt, und an wirkliche Oerter und Personen angeknüpft haben. In wie fern aber dieses angenommen werden könne oder müsse, aus welchen Gründen man es zu schließen berechtigt oder gezwungen sey, und auf welche Weise es zugegangen, dies halte ich für den schwersten Theil der historischen Kritik, obwohl ich überzeugt bin, daß Untersuchungen dieser Art nicht unmöglich sind, und auf eine sehr interessante Weise geführt werden können. Dies, verehrtester Herr, ist es, was ich jetzt aus dem Stegreif über Ihren Brief, der durch seinen Inhalt noch weit mehr Veranlassung geben könnte, das und jenes zu besprechen, zu sagen weiß. Nehmen Sie damit vorlieb, und entschuldigen Sie, was auf Rechnung der wenigen Zeit, die mir jetzt bey vielen Arbeiten übrig blieb, kommt. <?page no="94"?> 94 Beilagen 5Aus dem Sechsten Brief. Creuzer an Hermann (Textgrundlage wie zu Text 4; S. 141-144) [141] Sie setzen: die Namen der Gottheiten und Heroen sind Griechisch, und bezeichnen in dieser Sprache ihr Thun und Lassen, folglich müssen wir bey der Götter- und Heroenlehre auf Griechischem Grund und Boden bleiben. Ich antworte: allerdings müssen wir in den Untersuchungen über den Griechischen Mythus vor allen Dingen sehen, wie weit wir mit Griechischen Elementen (Namen) kommen können. Und wir können oft weit damit kommen. Ich will ein Beyspiel geben: Wer da weiß, was Aglauros, Erse, Pandrosos und Erichthonius heisen (und wer sollte dies nicht wissen? ), der bringt so ziemlich die wesentlichen Züge jenes Attischen Mythus zusammen. Aber die ursprüngliche Einheit der ersten Idee wird er dennoch nicht sehen. Er wird den Geist des Symbols nicht fassen. Dazu gehört noch ein zweyter wesentlicher Act. Er muß auf den Orient blicken, muß dorten vom Bilde der übermenschlich klugen Schlange im Paradiese an bis zu den nummis serpentiferis der Aegyptischen Kaisermünzen herab lernen, wie das Morgenland, was wir in Begriffsreihen denken, in der Einheit von Bildern [142] dem Auge weiset, muß diese Bilderreihe in alle Beziehungen mit den Hauptlehren alter Religionsschriften zu bringen suchen. Alsdann, wenn er das gethan, vermag er erst den prägnanten Moment zu fassen, in welchem Symbol und Mythus jenes Attischen Adams-Erichthonius gebohren wurde. Denn fast bey allen Hauptmythen, besonders bey solchen, die sich so morgenländisch ankündigen, wie der bemerkte, müssen wir uns, daß ich so sage, im Orient erst orientiren. […] [143] Daraus ergeben sich zwey Folgerungen. Zuvörderst diese und immer wiederkehrende, daß wir auch bey Behandlung der ältesten Griechischen Mythen unsern Blick nicht abwenden sollen von der unerschöpflichen Bilderwelt des alten Morgenlandes, deren stille, festere Typen uns so oft einzig retten aus der Unruhe der plauderhaften hellenischen Fabeley. Zweytens, daß wir auf keinen einzelnen Griechischen Namen, und sey er auch noch so alt, und kenne ihn auch Homer und Hesiod, allein unsere ganze Rechnung gründen, sondern alle zu Rathe ziehen, ja die verschiedenen Namen nicht blos, sondern auch die verschiedenen Formen und Erklärungen eines Namens, falls Sprachgesetz und Sprachanalogie für sie sprechen, weil sie alle zusammen erst die zersplitterten Ele[144]mente des Grundbegriffs darstellen, oder falls dieser außer dem Kreise Griechischer Namen liegt, ihn doch in’s Licht setzen helfen. […] <?page no="95"?> 5 F. Creuzer: Sechster Brief. An G. Hermann | 6 Goethe an F. Creuzer (1817) 95 6Goethe an Friedrich Creuzer, Weimar, 1. Oktober 1817 (Textgrundlage: WA IV 28, S. 266f.; Nr. 7881; dazu ein undatiertes Konzept [27. September 1817] von Kräuters Hand: Sign. GSA 29/ 16, Bl 161) Ew. Wohlgeboren bin ich für die übersendeten Hefte [die Briefe über Homer und Hesiodus ; Ruppert Nr. 1220] den größten Dank schuldig. Sie haben mich genöthigt in eine Region hineinzuschauen, vor der ich mich sonst ängstlich zu hüten pflege. Wir andern Nachpoeten müssen unserer Altvordern, Homers, Hesiods u. a. m., Verlassenschaft als urkanonische Bücher verehren; als vom heiligen Geist Eingegebenen beugen wir uns vor ihnen und unterstehen uns nicht, zu fragen: woher, noch wohin? Einen alten Volksglauben setzen wir gern voraus, doch ist uns die reine charakteristische Personification ohne Hinterhalt und Allegorie Alles werth; was nachher die Priester aus dem Dunklen, die Philosophen in’s Helle gethan, dürfen wir nicht beachten. So lautet unser Glaubensbekenntniß. Geht’s nun aber gar noch weiter, und deutet man uns aus dem hellenischen Gott-Menschenkreise nach allen Regionen der Erde, um das Ähnliche dort aufzuweisen, in Worten und Bildern, hier die Frost-Riesen, dort die Feuer-Brahmen; so wird es uns gar zu weh, und wir flüchten wieder nach Jonien, wo dämonische liebende Quellgötter sich begatten und den Homer erzeugen. Demohngeachtet aber kann man dem Reiz nicht widerstehn, den jedes Allweltliche auf Jeden ausüben muß. Ich habe die gewechselten Briefe mit vielem Antheil wiederholt gelesen, wenn aber Sie und Hermann streiten, was macht unser einer als Zuschauer für eine Figur! Wiederholten Dank also für die Hin- und Hersicht, wenn auch für mich keine Umsicht möglich ist. Manches bisher Unsichere versteh ich wenigstens besser, und es ist nicht zu läugnen, die Ihnen angeborene Behandlungsart, bey so großem literarischem Reichthum, muß auch dem anziehend seyn, der sich dafür fürchtet. Der französischen anmuthigen Freundin [ Jeanette Gallien; s. Beilagen, Text 3] sprechen Sie meinen Dank aus und lassen mir gelegentlich etwas Näheres von ihr erfahren. <?page no="96"?> 96 Beilagen 7Goethe an Sulpiz Boisserée, Weimar, 17. Oktober 1817 (Textgrundlage: WA IV 28, S. 283; Nr. 7895) Wie übrigens alles zusammentrifft, um der schon bekannten Geschichte der alten Kunst noch mehr aufzuhelfen, sie zu erläutern, zu bestätigen, ist sehr erfreulich und nöthigt mich die hieher bezüglichen Schriften von Hermann, Creuzer, Schelling, Wagner, Dallaway u. a. genauer durchzulesen, woraus viel zu nehmen ist; nur geht es leider in diesen Dingen wie nach heitern Tagen, die Meinungswolken und Grillennebel vergrauen gar bald Himmel und Horizont. Mich rührt es nicht, denn ich weiß recht gut auf welcher Seite ich stehe und welche Denkweise mir angemessen ist. Diese such ich in mir auszubilden, es sey an Natur oder Kunst, andere mögen anders verfahren, streiten werd ich niemals mehr. 8Goethe an Sulpiz Boisserée, Weimar, [10.-]16. Januar 1818 (Textgrundlage: WA IV 29, S. 1f.; Nr. 7951) Zuerst spreche ich meine Freude aus über die sich unter uns immer mehr ausgleichende Überzeugung; auch dießmal stimme ich völlig ein. Winkelmanns Weg, zum Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte, Meyer hat ihn ohne Wanken streng verfolgt, und ich habe ihn auf meine Weise gern begleitet. Der sonstigen treuen Mitarbeiter in diesem Felde gab es auch wohl noch; sehr bald aber zog sich die Betrachtung in Deutung über und verlor sich zuletzt in Deuteleyen; wer nicht zu schauen wußte fing an zu wähnen und so verlor man sich in egyptische und indische Fernen, da man das Beste im Vordergrunde ganz nahe hatte. Zoega fing schon an zu schwanken, Böttcher tastete überall herum, am liebsten im Dunkeln und man hatte nun immerfort an den unseligen dionysischen Mysterien zu leiden. Creuzer, Kanne und nun auch Welcker entziehen uns täglich mehr die großen Vortheile der griechischen lieblichen Mannigfaltigkeit und der würdigen israelitischen Einheit. H e r m a n n in Leipzig ist dagegen unser eigenster Vorfechter. Die Briefe, zwischen ihm und Creuzer gewechselt, kennen Sie, der fünfte ist unschätzbar. Dazu nun seine lateinische Dissertation über die alte Mythologie der Griechen macht mich ganz gesund: denn mir ist es ganz einerley, ob die Hypothese philologisch-kritisch haltbar sey, genug, sie ist kritisch-hellenisch patriotisch und aus seiner Entwickelung und an derselben ist so unendlich viel zu lernen als mir nicht leicht in so wenigen Blättern zu Nutzen gekommen ist. <?page no="97"?> 7 | 8 Goethe an S. Boisserée (1817/ 18) | 9 Goethe: Geistes-Epochen (1817) 97 9Goethe: Geistes-Epochen. Nach Hermanns neusten Mittheilungen (Textgrundlage: Über Kunst und Alterthum I 3, 1817, S. 107-112) Die Urzeit der Welt, der Nationen, der einzelnen Menschen ist sich gleich. Wüste Leerheit umfängt erst alles, der Geist jedoch brütet schon über Beweglichem und Gebildetem. Indeß die Autochthonen-Menge staunend ängstlich umher blickt, kümmerlich das unentbehrlichste Bedürfniß zu befriedigen, schaut ein begünstigter Geist in die großen Welterscheinungen hinein, bemerkt was sich ereignet und spricht das Vorhandene ahndungsvoll aus als wenn es entstünde. So haben wir in der ältesten Zeit Betrachtung, Philosophie, Benahmsung und Poesie der Natur alles in Einem. Die Welt wird heiterer, jene düstere Elemente klären sich auf, entwirren sich, der Mensch greift nach ihnen sie auf andere Weise zu gewältigen. Eine frische gesunde Sinnlichkeit blickt umher, freundlich sieht sie im Vergangenen und Gegenwärtigen nur ihres Gleichen. Dem alten Namen verleiht sie neue Gestalt, anthropomorphisirt, personificirt das Leblose wie das Abgestorbene und vertheilt ihren eigenen Character über alle Geschöpfe. So lebt und webt der Volksglaube, der sich von allem Abstrusen, was aus jener Urepoche übrig geblieben seyn mag oft leichtsinnig befreit. Das Reich der Poesie blüht auf und nur der ist Poet der den Volksglauben besitzt oder sich ihn anzueignen weiß. Der Charakter dieser Epoche ist freie, tüchtige, ernste, edle Sinnlichkeit, durch Einbildungskraft erhöht. Da jedoch der Mensch in Absicht der Veredelung sein selbst keine Grenzen kennt, auch die klare Region des Daseyns ihm nicht in allen Umständen zusagt, so strebt er in’s Geheimniß zurück, sucht höhere Ableitung dessen was ihm erscheint. Und, wie die Poesie Dryaden und Hamadryaden schafft über denen höhere Götter ihr Wesen treiben, so erzeugt die Theologie Dämonen, die sie so lange einander unterordnet, bis sie zuletzt sämmtlich von Einem Gotte abhängig gedacht werden. Diese Epoche dürfen wir die heilige nennen, sie gehört im höchsten Sinne der Vernunft an, kann sich aber nicht lange rein erhalten und muß, weil sie denn doch zu ihrem Behuf den Volksglauben aufstutzt, ohne Poesie zu seyn, weil sie das Wunderbarste anspricht und ihm objective Gültigkeit zuschreibt, endlich dem Verstand verdächtig werden. Dieser, in seiner größten Energie und Reinheit, verehrt die Uranfänge, erfreut sich am poetischen Volksglauben, und schätzt das edle Menschenbedürfniß ein Oberstes anzuerkennen. Allein der Verständige strebt alles denkbare seiner Klarheit anzueignen und selbst die geheimnißvollsten Erscheinungen faßlich aufzulösen. Volks- und Priesterglaube wird daher keinewegs verworfen, aber hinter demselben ein Begreifliches, Löbliches, Nützliches angenommen, die Bedeutung gesucht, das <?page no="98"?> 98 Beilagen Besondere ins Allgemeine verwandelt, und aus allem Nationalen, Provinzialen, ja Individuellen etwas der Menschheit überhaupt Zuständiges herausgeleitet. Dieser Epoche kann man ein edles, reines, kluges Bestreben nicht absprechen, sie genügt aber mehr dem einzelnen, wohlbegabten Menschen als ganzen Völkern. Denn wie sich diese Sinnesart verbreitet, folgt sogleich die letzte Epoche, welche wir die Prosaische nennen dürfen, da sie nicht etwa den Gehalt der frühern humanisiren, dem reinen Menschenverstand und Hausgebrauch aneignen möchte, sondern das Aelteste in die Gestalt des gemeinen Tags zieht und, auf diese Weise, Urgefühle, Volks- und Priesterglauben ja den Glauben des Verstandes, der hinter dem Seltsamen noch einen löblichen Zusammenhang vermuthet, völlig zerstört. Diese Epoche kann nicht lange dauern. Das Menschenbedürfniß, durch Weltschicksale aufgeregt, überspringt rückwärts die verständige Leitung, vermischt Priester-, Volks und Urglauben, klammert sich bald da bald dort an Ueberlieferungen, versenkt sich in Geheimnisse, setzt Märchen an die Stelle der Poesie und erhebt sie zu Glaubensartikeln. Anstatt verständig zu belehren und ruhig einzuwirken streut man willkührlich Saamen und Unkraut zugleich nach allen Seiten; kein Mittelpunkt auf den hingeschaut werde ist mehr gegeben, jeder Einzelne tritt als Lehrer und Führer hervor und giebt seine vollkommene Thorheit für ein vollendetes Ganze. Und so wird denn auch der Werth eines jeden Geheimnisses zerstört, der Volksglaube selbst entweiht; Eigenschaften die sich vorher naturgemäß aus einander entwickelten, arbeiten wie streitende Elemente gegen einander und so ist das Tohu wa Bohu wieder da, aber nicht das erste, befruchtete, gebärende, sondern ein absterbendes, in Verwesung übergehendes, aus dem der Geist Gottes kaum selbst eine ihm würdige Welt abermals erschaffen könnte. Uranfänge tiefsinnig beschaut, schicklich benamst. Poesie Volksglaube Tüchtig Einbildungskraft Theologie Ideelle Erhebung Heilig Vernunft Philosophie Aufklärendes Herabziehen. Klug Verstand Prosa Auflösung ins Alltägliche. Gemein Sinnlichkeit Vermischung, Widerstreben, Auflösung. [ dazu ein lt. Tgb am 18. Februar 1818 entstandener, erst postum veröffentlichter Nachtrag Goethes; WA I 41.1, 471: ] <?page no="99"?> 9 Goethe: Geistes-Epochen (1817) | 10 Goethe: Urworte orphisch (1817/ 1820) 99 Wenn wir die neusten Mittheilungen H e r m a n n s andeuten, so verstehen wir darunter dieses vorzüglichsten Mannes Dissertation De mythologia Graecorum antiquissima , wofür ihm alle griechische Patrioten nicht genug danken können. Was wir aber nach unserer Weise dort gesagt, bezieht sich eigentlich auf seinen Briefwechsel mit C r e u z e r , und zwar auf den fünften Brief. Die Stelle „Mit Recht sagen Sie, ‒ nicht weiter gesehen ward“ wollten wir soeben abdrucken lassen, daß unsere Leser, so viel ihrer seyn möchten, dieser unschätzbaren Gedanken gleichfalls theilhaft würden. Der Raum aber geht uns aus und so sey es genug an diesen Winke für jeden der im Alterthume sein Heil sucht. [ Dazu WA I 41.1, S. 471: „Mit einer Einleitung versehen <…> findet sich der bezügliche Abschnitt des Briefes Hermanns (Briefe über Homer und Hesiodus <Fünfter Brief> | <s. Beilagen, Text 4> in Kräuters Handschrift auf zwei <…> Quartblättern gelblichen Papiers“ <GSA 25/ XXXVI,20,4, Bl 1-2; abgedr. WA I 41.1, 472f.> ] 10 Goethe: „Urworte orphisch“ (Textgrundlage: Über Kunst und Alterthum II 3, 1820, S. 66-78) U r w o r t e o r p h i s c h . Nachstehende fünf Stanzen sind schon im zweyten Heft der Morphologie abgedruckt, allein sie verdienen wohl einem größeren Publicum bekannt zu werden; auch haben Freunde gewünscht daß zum Verständniß derselben einiges geschähe, damit dasjenige was sich hier fast nur ahnen läßt auch einem klaren Sinne gemäß und einer reinen Erkenntniß übergeben sey. Was nun von älteren und neueren orphischen Lehren überliefert worden, hat man hier zusammenzudrängen, poetisch, compendios, lakonisch vorzutragen gesucht. Diese wenigen Strophen enthalten viel Bedeutendes in einer Folge, die, wenn man sie erst kennt, dem Geiste die wichtigsten Betrachtungen erleichtert. _________ Δ α ι μ ω ν , D ä m o n . Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz wonach Du angetreten. So musst Du seyn, Dir kannst Du nicht entfliehen, So sagten schon Sybillen, so Propheten, Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form die lebend sich entwickelt. <?page no="100"?> 100 Beilagen Der Bezug der Ueberschrift auf die Strophe selbst bedarf einer Erläuterung. Der Dämon bedeutet hier die nothwendige, bey der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begränzte Individualität der Person, das Charakteristische wodurch sich der einzelne von jedem andern, bey noch so großer Aehnlichkeit unterscheidet. Diese Bestimmung schrieb man dem einwirkenden Gestirn zu und es ließen sich die unendlich mannigfaltigen Bewegungen und Beziehungen der Himmelskörper, unter sich selbst und zu der Erde, gar schicklich mit den mannigfaltigen Abwechselungen der Geburten in Bezug stellen. Hiervon sollte nun auch das künftige Schicksal des Menschen ausgehen und man möchte, jenes erste zugebend, gar wohl gestehen daß angeborne Kraft und Eigenheit mehr als alles Uebrige des Menschen Schicksal bestimme. Deßhalb spricht diese Strophe die Unveränderlichkeit des Individuums mit wiederholter Betheuerung aus. Das noch so entschieden Einzelne kann, als ein Endliches, gar wohl zerstört, aber, so lange sein Kern zusammenhält, nicht zersplittert, noch zerstückelt werden, sogar durch Generationen hindurch. Dieses feste, zähe, dieses nur aus sich selbst zu entwicklende Wesen kommt freylich in mancherley Beziehungen, wodurch sein erster und ursprünglicher Charakter in seinen Wirkungen gehemmt, in seinen Neigungen gehindert wird, und was hier nun eintritt, nennt unsere Philosophie _________ Τ υ χ η , d a s Z u f ä l l i g e . Die strenge Gränze doch umgeht gefällig Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt; Nicht einsam bleibst Du, bildest Dich gesellig, und handelst wohl so wie ein andrer handelt. Im Leben ists bald hinbald wiederfällig, Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt. Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet, Die Lampe harrt der Flamme die entzündet. Zufällig ist es jedoch nicht, daß einer aus dieser oder jener Nation, Stamm oder Familie sein Herkommen ableite: denn die auf der Erde verbreiteten Nationen sind, so wie ihre mannigfaltigen Verzweigungen, als Individuen anzusehen und die Tyche kann nur bey Vermischung und Durchkreuzung eingreifen. Wir sehen das wichtige Beyspiel von hartnäckiger Persönlichkeit solcher Stämme an der Judenschaft; europäische Nationen in andere Weltteile versetzt legen ihren Charakter nicht ab, und nach mehreren hundert Jahren wird in Nordamerika der Engländer, der Franzose, der Deutsche gar wohl zu erkennen seyn; zugleich aber auch werden sich bey Durchkreuzungen die Wirkungen der Tyche bemerklich machen, wie der Mestize an einer klärern Hautfarbe zu erkennen ist. Bey <?page no="101"?> 10 Goethe: Urworte orphisch (1817/ 1820) 101 der Erziehung, wenn sie nicht öffentlich und nationell ist, behauptet Tyche ihre wandelbaren Rechte. Säugamme und Wärterinn, Vater oder Vormund, Lehrer oder Aufseher, so wie alle die ersten Umgebungen, an Gespielen, ländlicher oder städtischer Localität, alles bedingt die Eigenthümlichkeit, durch frühere Entwickelung, durch Zurückdrängen oder Beschleunigen; der Dämon freylich hält sich durch alles durch, und dieses ist denn die eigentliche Natur, der alte Adam und wie man es nennen mag, der, so oft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurückkehrt. In diesem Sinne einer nothwendig aufgestellten Individualität hat man einem jeden Menschen seinen Dämon zugeschrieben, der ihm gelegentlich ins Ohr raunt was denn eigentlich zu thun sey, und so wählte Sokrates den Giftbecher, weil ihm ziemte zu sterben. Allein Tyche lässt nicht nach und wirkt besonders auf die Jugend immerfort, die sich, mit ihren Neigungen, Spielen, Geselligkeiten und flüchtigem Wesen bald da bald dorthin wirft und nirgends Halt noch Befriedigung findet. Da entsteht denn mit dem wachsenden Tage eine ernstere Unruhe, eine gründlichere Sehnsucht; die Ankunft eines neuen Göttlichen wird erwartet. _________ Ε ρ ω ς , L i e b e . Die bleibt nicht aus! - Er stürzt vom Himmel nieder, Wohin er sich aus alter Oede schwang, Er schwebt heran auf luftigem Gefieder Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang, Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder, Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang. Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen, Doch widmet sich das Edelste dem Einen. Hierunter ist alles begriffen was man, von der leisesten Neigung bis zur leidenschaftlichsten Raserey, nur denken möchte; hier verbinden sich der individuelle Dämon und die verführende Tyche mit einander; der Mensch scheint nur sich zu gehorchen, sein eigenes Wollen walten zu lassen, seinem Triebe zu fröhnen, und doch sind es Zufälligkeiten die sich unterschieben, Fremdartiges was ihn von seinem Wege ablenkt; er glaubt zu erhaschen und wird gefangen, er glaubt gewonnen zu haben und ist schon verloren. Auch hier treibt Tyche wieder ihr Spiel, sie lockt den Verirrten zu neuen Labyrinthen, hier ist keine Gränze des Irrens: denn der Weg ist ein Irrthum. Nun kommen wir in Gefahr uns in der Betrachtung zu verlieren, daß das was auf das Besonderste angelegt schien ins Allgemeine verschwebt und zerfließt. Daher will das rasche Eintreten der zwey <?page no="102"?> 102 Beilagen letzten Zeilen uns einen entscheidenden Wink geben, wie man allein diesem Irrsal entkommen und davor lebenslängliche Sicherheit gewinnen möge. Denn nun zeigt sich erst wessen der Dämon fähig sey; er, der selbstständige, selbstsüchtige, der mit unbedingtem Wollen in die Welt griff und nur mit Verdruß empfand wenn Tyche, da oder dort, in den Weg trat, er fühlt nun daß er nicht allein durch Natur bestimmt und gestempelt sey; jetzt wird er in seinem Innern gewahr daß er sich selbst bestimmen könne, daß er den durchs Geschick ihm zugeführten Gegenstand nicht nur gewaltsam ergreifen, sondern auch sich aneignen und, was noch mehr ist, ein zweytes Wesen, eben wie sich selbst, mit ewiger unzerstörlicher Neigung umfassen könne. Kaum war dieser Schritt gethan, so ist durch freyen Entschluß die Freyheit aufgegeben; zwey Seelen sollen sich in einen Leib, zwey Leiber in eine Seele schicken und indem eine solche Uebereinkunft sich einleitet, so tritt, zu wechselseitiger liebevoller Nöthigung, noch eine Dritte hinzu; Eltern und Kinder müssen sich abermals zu einem Ganzen bilden, groß ist die gemeinsame Zufriedenheit, aber größer das Bedürfniß. Der aus so viel Gliedern bestehende Körper krankt, gemäß dem irdischen Geschick, an irgend einem Theile, und, anstatt daß er sich im Ganzen freuen sollte, leidet er am Einzelnen und dem ohngeachtet wird ein solches Verhältniß so wünschenswerth als nothwendig gefunden. Der Vortheil zieht einen jeden an und man läßt sich gefallen die Nachtheile zu übernehmen. Familie reiht sich an Familie, Stamm an Stamm, eine Völkerschaft hat sich zusammengefunden und wird gewahr daß auch dem Ganzen fromme was der Einzelne beschloß, sie macht den Beschluß unwiederruflich durchs Gesetz; alles was liebevolle Neigung freywillig gewährte wird nun Pflicht, welche tausend Pflichten entwickelt, und damit alles ja für Zeit und Ewigkeit abgeschlossen sey, läßt weder Staat, noch Kirche, noch Herkommen es an Zeremonien fehlen. Alle Theile sehen sich durch die bündigsten Contracte, durch die möglichsten Oeffentlichkeiten vor, daß ja das Ganze in keinem kleinsten Theil durch Wankelmuth und Willkühr gefährdet werde. ________ Α ν α γ κ η , N ö t h i g u n g . Da ist’s denn wieder wie die Sterne wollten: Bedingung und Gesetz und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, Und vor dem Willen schweigt die Willkühr stille; Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. So sind wir scheinfrey denn, nach manchen Jahren, Nur enger dran als wir am Anfang waren. <?page no="103"?> 11 Hermann: Ueber das Wesen […] der Mythologie (1819) 103 Keiner Anmerkungen bedarf wohl diese Strophe weiter; niemand ist dem nicht Erfahrung genugsame Noten zu einem solchen Text darreichte, niemand der sich nicht peinlich gezwängt fühlte wenn er nur erinnerungsweise sich solche Zustände hervorruft, gar mancher der verzweifeln möchte wenn ihn die Gegenwart so gefangen hält. Wie froh eilen wir daher zu den letzten Zeilen, zu denen jedes feine Gemüth sich gern den Commentar sittlich und religios zu bilden übernehmen wird. _________ Ε λ π ι ς , H o f f n u n g [ . ] Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt, Sie stehe nur mit alter Felsendauer! Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt. Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt, Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt nach allen Zonen; Ein Flügelschlag! und hinter uns Aeonen. 11 Gottfried Hermann: Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer, Leipzig 1819 (Textgrundlage: ED; Auszüge) 201 [S. 30] Primus in orbe deos fecit timor. Dieß ist ein sehr wahres Wort. Furcht, Entsetzen, Erstaunen bey Dingen und Erscheinungen, die sich der rohe noch ganz unerfahrne Mensch nicht erklären konnte, mußten in ihm die Vorstellung übermächtiger Wesen bewirken, deren Gnade man sich zu erwerben, deren Zorn man zu besänftigen habe. Indem er nun die Gottheit unter der Gestalt des Feuers, bald eines Stiers, bald einer Schlange und andrer Dinge wahrzunehmen glaubte, hatte er ein Symbol erlangt, d. h. eine auf unbegreifliche Weise mit dem göttlichen Wesen in Verbindung stehende Sache. Eben dadurch war auch der Glaube begründet, der, kurz definirt, die Ueberzeugung von dem Unbegreiflichen ist. Auf eben diesem Wege mußte die Meinung von den Mitteln entstehen, wodurch man sich die Gnade der Götter erwerben, oder ihren Zorn abwenden könnte. […] 201 Zu Hermanns ‚Etymologien‘ s. die kritischen Bemerkungen von Glenn W. Most, „Hermann gegen Creuzer über die Mythologie“, in: Hermann-Symposion 2007, S. 175f. <?page no="104"?> 104 Beilagen [S. 82] Der älteste der Titanen ist der Ocean, die große Wasserfluth. Die Erscheinungen, welche dieselbe begleiten, sind die Geschwister des Ocean, die zerrüttung und das durcheinandergeworfenwerden aller Dinge. Dieses besteht in dem aufsteigen aus der Tiefe, und im hinabstürzen, Ὑπερίων und Ἰάπετος im fortgeschwemmt und im auseinander geschwemmt werden, wobey, wie ich aus[83]drücklich gesagt habe, der gemeinsame Begriff der des fortgetriebenwerdens ist, die Verschiedenheit aber darin besteht, daß einiges seine Substanz dabey behält, Θεία, anderes sie verliert und aufgelöst wird, Ῥεία im ansetzen und befestigen und im aufregen und beweglich machen, Θέμις und Μνημοσύνη im reinigen und wegschaffen des unnützen, und im an sich ziehen und herbeyschaffen des nützlichen, Φοίβη und Τηθύς endlich im allmäligen vollenden und herstellen eines bleibenden Zustandes, Κρόνος. 12 Johann Heinrich Meyer: Iliadis Fragmenta […] (Textgrundlage: Über Kunst und Alterthum II 3, 1820, S.-99-116) 202 I L I A D I S F R A G M E N T A a n t i q u i s s i m a c u m p i c t u r i s e t c . E d i t o r e A n g e l o M a j o . M e d i o l a n i M D C C C X I X . G r . F o l i o . Aus den öffentlichen Blättern werden sich unsere Leser zuverlässig der Nachricht zu erinnern wissen, daß in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mayland ein sehr altes Manuscript aufgefunden worden, Fragmente aus der Ilias enthaltend und mit vielen Malereyen geziert. Dieses Werk ist nun sehr schön gedruckt erschienen, mit großen Quadratlettern, der Handschrift nachgebildet und die Gemälde sauber in Umrissen mit wenigen Schattenstrichen dazu gestochen. Wir finden keine gegründete Ursache an der Treue dieser Abbildungen zu zweifeln, da sie in allen Theilen eine lobenswürdige Sorgfalt verrathen, auch der Kupferstecher sich, wie billig, enthalten hat die vom Alter und Zufall beschädigten Stellen der Originale willkührlich zu ergänzen, sondern Löcher, Risse und Erloschenes gewissenhaft angedeutet. Ueberhaupt besteht das Werk aus acht und funfzig Gemälden, alle aus der Ilias gezogen, vom ersten wo Chryses zum Apollo fleht und dieser seine Pfeile unter die Griechen sendet, bis zum letzten, welches den Priamus darstellt, traurig mit Geschenken ins griechische Lager fahrend, um Hektors Leichnam 202 S. dazu die Dokumentation in EGW VII, S. 492f. (Nr. 505). <?page no="105"?> 12 J. H. Meyer: „Iliadis Fragmenta“ (1820) 105 Abb. 6: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta. Titelblatt <?page no="106"?> 106 Beilagen vom Achilles zu verlangen. Unter jedem Gemälde stehen 10 bis 12 Verse oder nach Beschaffenheit mehr und weniger aus dem bezüglichen Gesange der Ilias, wodurch der Inhalt der Bilder erklärt wird. So viel haben wir geglaubt über das aufgefundene alte Manuscript im Allgemeinen berichten zu müssen, von dem der Mayländische Herausgeber vermuthen will, es rühre aus dem 5ten Jahrhundert unserer Zeitrechnung her. Was nun die erwähnten unter den Gemälden stehenden homerischen Stellen betrifft, den Werth der etwa in denselben befindlichen noch nicht bekannten Lesarten, wie auch den der alten ebenfalls neuaufgefundenen Scholien , welche als Anhang beygedruckt sind, ist Sache der Sprachgelehrten. Ueber die Gemälde aber finden wir uns zu nähern Betrachtungen aufgefordert, weil sie uns in gewissem Sinne ein wahrhaft erheblicher Fund scheinen, werth der nähern Aufmerksamkeit der Kunstfreunde wie der Alterthumsforscher. Ein großer Theil dieser Bilder, wenige nur ausgenommen, enthalten Gruppen, einzelne Figuren und Motive, welche, nach Gewährschaft mehrerer Kennzeichen, von ältern bessern Kunstwerken geliehen sind, selbst in einigen ganzen Bildern läßt sich die Nachahmung solcher Muster erkennen; hierbey darf man jedoch nicht an wirkliche genaue Copien nach ältern trefflichen Werken denken, sondern der Künstler welcher die Gemälde im Mayländischen Codex verfertigt, hat, wie wir glauben, bald mit größerer, bald mit geringerer Sorgfalt nach flüchtigen Entwürfen, zuweilen wohl gar nur aus flüchtigen Erinnerungen ohne vorliegendes Muster gearbeitet und diese Vermuthung wird um so wahrscheinlicher, da mehreres im Ganzen vortrefflich zu nennendes sich findet, was aber im Detail sehr mangelhaft ist. Dieses gilt besonders vom Poetischen der Erfindung wie auch von der Anordnung der Gruppen; denn die Beschaffenheit der Zeichnung überhaupt, Formen, Verhältnisse und Ausdruck können keine große Verdienste haben, weil die Bilder aus Zeiten gesunkener Kunst herrühren, aus welcher Ursache man auch denen, am sichersten für Nachahmungen anderer besserer Werke zu haltenden Figuren, Gruppen u.s.w. nur wenige Genauigkeit zutrauen darf; indessen sind sie immer noch sehr schätzenswerth, wenn wir sie auch bloß als Andeutungen, als Erinnerungen an verloren gegangene edle Werke der Kunst betrachten. Den nachzubilden unternommenen Mustern scheint der Maler des Mayländischen Codex, bey folgenden Nummern, im Ganzen der Compositionen, am meisten treu geblieben zu seyn. V. Achilles, welchem die Herolde Talthybius und Eurybates die Briseis abfordern; beyde Herolde sind ihrer großen Hüte wegen merkwürdig. Achilles, der mit leidenschaftlichem Unwillen zu ihnen spricht, ist gut gestellt. VI. Die Herolde führen das Mädchen weg, Achill sieht ihnen zürnend nach, Briseis hingegen mit Neigung auf das Zelt und den Helden zurück. <?page no="107"?> 12 J. H. Meyer: „Iliadis Fragmenta“ (1820) 107 X. Gastmahl der Götter, Vulkan reicht ihnen den Becher, Apoll führt den Chor der Musen an welche singen; merkwürdige Figuren im Basreliefgeschmack angeordnet. XII. Opfer der Griechen in Aulis. Calchas deutet das Wunder der Schlange welche die Sperlinge frißt. Der Seher ist eine würdige Figur, geschmackvoll drappirt, die Gruppe, das griechische Heer und die Führer desselben vorstellend, wäre wohl werth an der Trajanischen Säule zu stehen. XIV. Acht der Helden aus Troja stehen an der Spitze ihres Heers; eine große Gruppe, ebenfalls an die Basreliefe der trajanischen Säule erinnernd. XXXI. Rath der griechischen Führer, hinter ihnen das Heer unter Waffen, die Herolde zu beyden Seiten, Agamemnon redet; das Ganze wieder auf Weise der beyden Vorigen angeordnet. XXXIII. Berathung der Griechen Kundschafter in das Lager der Trojer zu senden. Sechs der Häuptlinge sitzen neben einander auf einem im Halbkreise gebogenen Thron oder Divan, Ulysses und Diomedes stehen, Nestor auch, ihnen Abb. 7: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta (LIV): Die Griechen vor Troias Mauern <?page no="108"?> 108 Beilagen zusprechend. Symmetrische Composition, im Sinne eines Basereliefs, wohl erfunden und in allen ihren Theilen bedeutend. LIV. Bis vor Trojas Mauern sind die Griechen gerückt, schildbedeckt; Hektor weilt noch allein vor der Stadtpforte, Frauen rufen ihm von den Mauern bittend zu. Offenbar ist dieses Stück einer erhobenen Arbeit von Verdienst nachgebildet. Die Anordnung ist gut, die Figuren größer gehalten als in den übrigen Gemälden, zudem ist auch der Styl und die Zeichnung der Formen beträchtlich besser. Einzelnes aus bessern Werken entlehnte, auch wohl mehreres ungleichartige in demselben Gemälde zusammengestellte glauben wir zu finden in: I. Apollo auf Bitte des Chryses sendet tödtende Pfeile unter die Griechen. Die reiche wohlgeordnete Gruppe Todter, Sterbender in diesem Bilde zeichnet sich, auch hinsichtlich auf Mannigfaltigkeit und Gehalt der Motive so vortheilhaft aus, daß wir uns überzeugt achten dieselbe sey irgend einem berühmten Kunstwerke nachgebildet und zwar allem Anscheine nach einem Gemälde, da hingegen für eine andere Gruppe eben dieses Bildes, die zum Rath versammelten griechischen Führer darstellend, eher erhobene Arbeit von der Art wie auf der Trajanischen Säule vorkömmt zum Muster gedient haben mag. IX. Götterversammlung. Jupiter, Juno, Mars, Apollo, Minerva und Venus sitzen auf einem gemeinschaftlichen, sich im Bogen umherziehenden Thron; hinter dem Apollo sieht man noch den Merkur stehen und auf der Seite im Bilde Jupitern zum zweyten Male, hier auf einem besondern Throne sitzend und Thetis welche vor ihm knieet. In diesem Bilde nun hat die Gruppe der auf dem großen Throne beysammen sitzenden Gottheiten etwas Hochedles, Herrliches im Styl und in der Anordnung des Ganzen, welches nicht zweiflen läßt der Künstler habe bey derselben irgend ein großes Meisterstück in Gedanken gehabt, denn daß er nicht eigentlich copirte ist klar, weil die Gebärde des quer über den Leib gelegten rechten Vorderarms sich mehrere mal wiederholt. Die Nebengruppe, Jupiters und der Thetis, mag anderswoher entlehnt, vielleicht gar eigne Erfindung des Künstlers seyn, welcher den mayländischen Codex mit Gemälden schmückte; sie ist von weit geringerm Verdienst, sowohl des Styls als der Anordnung im Ganzen. XXIII. Hier sitzen vier Gottheiten, nämlich Jupiter, Juno, Minerva und Apollo beysammen, auf einwärts gebogenem Thron; Mars tritt vor ihnen auf, sich über den Diomedes beschwerend, von welchem er verwundet worden, jene hadern mit dem Kriegsgott, Juno allein scheint zu seinen Gunsten dem Jupiter zuzureden. Die vier sitzenden Gottheiten sind von wahrhaft edlem Styl, auch als Gruppe wohl angeordnet; sie dürften in beyderley Hinsicht unter das allerbeste gehören was in dieser ganzen Bilderreihe zu finden ist, und sind zweifelsfrey einem vortrefflichen Kunstwerk nachgebildet, dahingegen die mittelmäßig ausgefallene Figur des Krie- <?page no="109"?> 12 J. H. Meyer: „Iliadis Fragmenta“ (1820) 109 gesgottes anderswoher entlehnt, oder, wie vorhin auch vom Jupiter und der Thetis Nro. IX. vermuthet worden, vielleicht eigene Erfindung des Malers seyn mag. Deutlicher noch verräth sich die Benutzung von mehr als einem Vorbilde in dem Gemälde No. XXXV., wo links Ulysses und Diomedes die schlafenden Thrazier überfallen und tödten, rechts die geraubten Pferde den Griechen vorführen. Dort machen die beyden würgenden Helden mit den schlafenden Feinden eine künstlich im Kreis geordnete Gruppe, vielleicht einer erhobenen Arbeit nachgebildet. Die Helden mit den Pferden sind, obgleich an sich keineswegs verdienstlos, doch von anderer geringerer Art und Styl, schon als Gruppe betrachtet minder elegant angeordnet und lassen, jener größern gegenüber, die Composition ohne das erforderliche Gleichgewicht. Aber das Bild No. XLIX., den Kampf um den Leichnam des Patroklos darstellend, berechtigt uns mehr als jedes andere zu der Vermuthung, der Verfertiger dieser Gemälde habe, indem er ältere Kunstwerke nachbildete, bedürfenden Falls auch wohl eigene Figuren angebracht, denn in dem erwähnten Gemälde ist die Anlage des Ganzen unstreitig lobenswerth, allein die übel gezeichnete Figur des todten Patroklos erscheint fremde, nur eingeschoben, und keinesweges der Gegenstand um den die Streitenden sich schlagen. Die Gruppe trojanischer Frauen welche der Minerva ein Opfer bringen, im Gemälde No. XXV. erinnert, durch gut angelegte Gewänder und zum Theil ange- Abb. 8: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta (XXIII): Mars, Juno, Jupiter, Apollo, Minerva <?page no="110"?> 110 Beilagen nehme Stellungen der Figuren, an die Malereyen des Herkulanum und Pompeji; die am andern Ende des Bildes befindliche Darstellung, wo Hektor dem bey der Helena sitzenden Paris Vorwürfe macht, ist von schlechterer Beschaffenheit. Der Flußgott Scamander im Gemälde No. LII. mag wohl einer Statue nachgezeichnet seyn, wir finden ihn von gutem Styl, angemessenem Charakter, auch ist seine Stellung bequem. Ferner begegnen wir einigen Bildern welche, nach den in Kupfer gestochenen Umrissen zu urtheilen, dem Geschmack der Gemälde auf Gefäßen von gebrannter Erde sich nähern. Von wirklichen Vasengemälden copirt sind sie indessen wohl schwerlich, weil diese im Alterthum, da noch aller Art Meisterstücke der Kunst in Menge vorhanden waren, unmöglich für musterhaft gelten konnten. Es sind folgende Bilder welche diese Bemerkung veranlaßten. XVI. Schlacht wo Diomedes, von Minerva beschützt, streitet; aus Helm und Schild brechen Flammen hervor. XVII. Anderes Gefecht, wo Diomedes wieder durch flammende Waffen ausgezeichnet ist. XXI. Noch eine Schlacht; Sarpedon und Tleptolemus kämpfen, umgeben von einem Kreis Fechtender, Verwundeter und Todter; Jupiter, Juno und Minerva schauen, von Wolken herab, dem Kampf zu. XXXIV. gehört auch hierher: zur Linken nehmen Ulysses und Diomedes den Dolon gefangen, rechts aber sind sie beschäftigt ihn zu zerstücken. Oben schwebt auf Wolken die Nacht, den Mantel ausbreitend und hat große Flügel. In einigen andern Bildern glaubten wir Geschmacksähnlichkeit mit den erhobenen Arbeiten auf Etrurischen Graburnen zu entdecken. Noch sind besonderer Erwähnung werth die No. LVII. und LVIII. wie Priamus aus Troja ziehen will, mit Geschenken den Leichnam des Hektor vom Achilles zu erbitten, und wie auf dem Wege zum griechischen Lager Merkur ihm begegnet, von Jupiter gesendet, den Alten zu geleiten; beyde sind gut gedacht, haben einen eigenen von den übrigen Bildern unterschiedenen Charakter und lassen vermuthen sie seyen aus irgend einem gemalten Cyclus trojanischer Geschichten entlehnt. Aus allem Vorhergehenden ergab sich klar genug: daß zu den meisten Gemälden im Mayländischen Codex ältere gute Kunstwerke, verschiedener Art, bald theilweise bald im Ganzen benutzt worden; nicht weniger gewiß ist es aber auch, daß manche Bilder desselben Merkmale des spätern Geschmacks und gänzlich gesunkener Kunst an sich tragen: Diesen kann man weder Verdienst der Erfindung noch der Anordnung zugestehen und sie sind offenbar eigne Entwürfe des Malers der sie ausgeführt hat; sollten wir die darin herrschende Manier näher andeuten, so möchte etwa gesagt werden: sie hätten Geschmacksähnlichkeit mit Malereyen in den Catacomben, ferner den am schlechtesten gearbeiteten Basreliefen am Triumphbogen Constantins und auf christlichen Graburnen. Gleichwohl ist dieser Maler, mit billiger Hinsicht auf die Zeit in <?page no="111"?> 12 J. H. Meyer: „Iliadis Fragmenta“ (1820) 111 welcher er gelebt hat, keineswegs gering zu achten, denn, wenn angenommen wird das Manuscript gehöre wirklich dem fünften Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung an, und die Kupferstiche seyen mit leidlicher Treue den Gemälden nachgebildet, so war dieses Malers Kunstfertigkeit immer noch ehrenwerth, größer als man sie aus jenen Zeiten erwartet. Das oben schon mit Lob erwähnte Gemälde LIV. wo die Griechen unter Trojas Mauern sich vor Geschoß und Würfen decken, Hektor am Stadtthore steht, beweist, wenn es auch einem trefflichen ältern Kunstwerk nachgebildet ist, doch immer daß der copirende Künstler Figuren mit Geschick und Verstand zu zeichnen wußte. In No. LVI. den Wettlauf um die vom Achilles ausgesetzten Preise darstellend, hat Ulysses, nackt, aber durch seine Mütze kenntlich gemacht, hinreichend zierliche und wohlverstandene Formen. Ajax hinter dem Helden aus Ithaka ausgleitend und in den Koth fallend ist ebenfalls eine wohlgezeichnete Figur, der Ausdruck seiner Gebärde aber verfehlt, er scheint nicht sowohl hinzufallen als sich zu bücken und irgend etwas von der Erde aufheben zu wollen. Hier muß auch an die vier sitzenden Gottheiten im Gemälde No. XXIII. als wohlgezeichnete, hübsch drappirte Figuren erinnert werden; und ähnlicher Eigenschaften wegen ist die Juno zu loben, auf dem in mehrerem Betracht merkwürdigen Gemälde No. LIII. wo Vulkan den Scamander mit Feuer ängstigt. Licht und Schatten mag, weil das Manuscript sehr alt und manches Gemälde stark beschädigt ist, ohne Zweifel nicht mehr deutlich wahrgenommen werden, vermuthlich war die malerische Wirkung nie besonders kräftig; nach Maßgabe der Kupferstiche scheint sich die Andeutung des Schattens nur auf das Höchstnothwendige einzuschränken und der Zweck welchen der Künstler im Auge gehabt einzig der gewesen zu seyn die Hauptfiguren etwas mehr hervor zu heben. Für das Costume enthalten diese Gemälde gar vieles Brauchbare an Gebäuden, Kleidertrachten, Geräthschaften u. dgl. doch dürfte bey weitem nicht alles der homerischen Zeit angemessen seyn; wir wollen zum Belege hierfür nur anführen, daß die Wagenrenner im Gemälde No. LV. nach Art der römischen Aurigä gekleidet sind, überdem haben sie Mützen und lange, bis an die Knöchel der Füße reichende, die Quere gestreifte Beinkleider; wahrscheinlich eben das Costume der Wettrenner im Circus zur Zeit da das Gemälde verfertigt wurde. Andere Stücke mögen, wie oben bereits angemerkt ist, Kunstwerken aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenem Styl nachgebildet seyn, daher denn mancherley Ungleichartiges im Costume entstehen mußte. <?page no="112"?> 112 Beilagen 13 Goethe: Der Horn (in: Zur Naturwissenschaft überhaupt, Bd. 1, H. 3, 1820, S. 230f.; Textgrundlage: LA I 8, S. 165f.) Der Horn Ein freier hoher Gebirgsrücken, der auf einer flachen Höhe aufsitzt, bleibt dem Reisenden nach Carlsbad rechts, und wird von dorther immer als ein ansehnlicher Berg beachtet. Seinen Gipfel habe nie bestiegen, Freunde sagen er sei Basalt, so wie die von der Fläche seines Fußes gewonnenen Steine. Sie werden zur Chausseeausbesserung angefahren und haben das Merkwürdige daß sie, ohne etwa zerschlagen zu sein, einzeln klein sind, so daß eine Kinderhand die kleinern, die größern eine Knabenhand gar wohl zu fassen vermöchte. Sie werden also zwischen einem Tauben- und Gänseei hin- und wiederschwanken. Das Merkwürdigste aber hiebei darf wohl geachtet werden: daß sie sämtlich, genau besehen, eine entschiedene Gestalt haben, ob sie sich gleich bis ins Unendliche mannigfaltig erweisen. Die regelmäßigsten vergleichen sich dem Schädel eines Tiers, ohne untere Kinnlade; sie haben alle eine entschiedene Fläche auf die man sie legen kann. Alsdann stehen uns drei Flächen entgegen, wovon man die obere für Stirn und Nase, die beiden Seiten für Oberkiefer und Wangen, die zwei rückwärts für die Schläfe gelten läßt, wenn die hinterste, letzte dem Hinterhaupt zugeschrieben wird. Ein Modell in diesem Sinne verfertigt zeigt einen regelmäßigen Krystall, welcher nur selten in der Wirklichkeit erscheint; der aber, sobald man diese Grundform, diese Grundintention der Natur einmal anerkannt hat, überall, auch in den unförmlichsten Individuen wieder zu finden ist. Sie stellen sich nämlich von selbst auf ihre Base und überlassen dem Beobachter die übrigen sechs Flächen herauszufinden. Ich habe die bedeutendern Abweichungen in Ton nachgebildet und finde daß selbst die unregelmäßigsten sich zu einer oder der andern Mittel-Gestalt hinneigen. Sie scheinen nicht von der Stelle gekommen zu sein. Weder merklich abgestumpft noch abgewittert, liegen sie auf den Äckern um den Berg wie hingeschneit. Ein geistreicher junger Geolog sagte: es sähe aus wie ein Aerolithen-Haufen, aus einer frühern, prägnanten Atmosphäre. Da wir im Grunde nicht wissen, woher diese Dinge kommen mögen; so ist es gleichviel ob wir sie von oben oder von unten empfangen, wenn sie uns nur immer zur Beobachtung reizen, Gedanken veranlassen und zu Bescheidenheit freundlich nötigen. Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. 203 Hermannus. 203 „Es gibt eine Kunst und Wissenschaft auch des Nichtwissens.“ S. dazu: „Nachwort“, S.-187. <?page no="113"?> 13 Goethe: Der Horn | 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 113 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides (1821/ 1823) (Textgrundlage: AA-Ls 1, S. 159-170) P h a e t h o n , T r a g ö d i e d e s E u r i p i d e s . V e r s u c h e i n e r W i e d e r h e r s t e l l u n g a u s B r u c h s t ü c k e n . Ehrfurchtsvoll an solche köstliche Reliquien herantretend, müssen wir vorerst alles aus der Einbildungskraft auslöschen, was in späterer Zeit dieser einfach großen Fabel angeheftet worden, durchaus vergessen, wie Ovid und Nonnus sich verirren, den Schauplatz derselben ins Universum erweiternd. Wir beschränken uns in einer engen, zusammengezogenen Localität, wie sie der griechischen Bühne wohl geziemen mochte, dahin ladet uns der P r o l o g . Des Okeans, der Thetis Tochter, Klymenen Umarmt als Gatte Merops dieses Landes Herr, Das von dem vierbespannten Wagen allererst Mit leisen Strahlen Phoebus morgendlich begrüßt; 5. Die Glut des Königs aber wie sie sich erhebt, Verbrennt das Ferne, Nahes aber mäßigt sie. Dies Land benennt ein nachbar-schwarzgefärbtes Volk Eos die glänzende, des Helios Rossestand. Und zwar mit Recht, denn rosenfingernd spielt zuerst 10. An leichten Wölkchen Eos bunten Wechselscherz. Hier bricht sodann des Gottes ganze Kraft hervor, Der Tag und Stunden regelnd alles Volk beherrscht, Von dieser Felsenküsten steilem Anbeginn Das Jahr bestimmt der breiten ausgedehnten Welt. 15. So sey ihm denn, dem Hausgott unserer Königs-Burg, Verehrung, Preis und jedes Morgens frisch Gemüth. Auch ich der Wächter ihn zu grüßen hier bereit, Nach diesen Sommernächten, wo’s nicht nachten will, Erfreue mich des Tages vor dem Tagesblick, 20. Und harre gern, doch ungeduldig, seiner Glut, Die alles wieder bildet was die Nacht entstellt. So sey denn aber heute mehr als je begrüßt <?page no="114"?> 114 Beilagen Des Tages Anglanz[.] Feyert prächtig heute ja Merops der Herrscher seinem kräftig einzigen Sohn 25. Verbindungsfest mit Gottgezeugter Nymphenzier; Deshalb sich alles regt und rührt im Hause schon. Doch sagen andere - Mißgunst waltet stets im Volk - Daß seiner Freuden innigste Zufriedenheit Der Sohn, den er vermählet heute, Phaethon 30. Nicht seiner Lenden sey, woher denn aber wohl? Doch schweige jeder, solche zarte Dinge sind Nicht glücklich anzurühren, die ein Gott verbirgt. V. 5. 6. Hier scheint der Dichter durch einen Widerspruch den Widerspruch der Erscheinung auflösen zu wollen; er spricht die Erfahrung aus: daß die Sonne das östliche Land nicht versengt, da sie doch so nah und unmittelbar an ihm hervortritt, dagegen aber die südliche Erde, von der sie sich entfernt, so glühend heiß bescheint. V. 7. 8. Nicht über dem Ocean, sondern diesseits am Rande der Erde suchen wir den Ruheplatz der himmlischen Rosse, wir finden keine Burg wie sie Ovid prächtig auferbaut, alles ist einfach und geht natürlich zu. Im letzten Osten also, an der Welt Gränze, wo der Ocean ans feste Land umkreisend sich anschließt, wird ihm von Thetis eine herrliche Tochter geboren, Klymene. Helios, als nächster Nachbar zu betrachten, entbrennt für sie in Liebe; sie gibt nach, doch unter der Bedingung, daß er einem aus ihnen entsprossenen Sohn eine einzige Bitte nicht versagen wolle. Indessen wird sie an Merops, den Herrscher jener äußersten Erde, getraut und der ältliche Mann empfängt mit Freuden den im Stillen ihm zugebrachten Sohn. Nachdem nun Phaethon herangewachsen, gedenkt ihn der Vater, standesgemäß, irgend einer Nymphe oder Halbgöttin zu verheiraten, der Jüngling aber, muthig, ruhm- und herrschsüchtig, erfährt, zur bedeutenden Zeit, daß Helios sein Vater sey, verlangt Bestätigung von der Mutter, und will sich sogleich selbst überzeugen. K l y m e n e . P h a e t h o n . K l y m e n e . So bist du denn dem Ehebett ganz abgeneigt? P h a e t h o n . Das bin ich nicht, doch einer Göttin soll ich nahn 35. Als Gatte, dies beklemmet mir das Herz allein. <?page no="115"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 115 Der Freye macht zum Knechte sich des Weibs, Verkaufend seinen Leib um Morgengift. K l y m e n e . O Sohn! soll ich es sagen? dieses fürchte nicht. P h a e t h o n . Was mich beglückt zu sagen, warum zauderst du? K l y m e n e . 40. So wisse denn auch du bist eines Gottes Sohn. P h a e t h o n . Und wessen? K l y m e n e . Bist ein Sohn des Nachbargottes Helios Der Morgens früh die Pferde hergestellt erregt, Geweckt von Eos hoch bestimmten Weg ergreift; Auch mich ergriff. Du aber bist die liebe Frucht. P h a e t h o n . 45. Wie? Mutter, darf ich willig glauben was erschreckt. Ich bin erschrocken vor so hohen Stammes Werth, Wenn dies mir gleich den ewig innern Flammenruf Des Herzens deutet, der zum Allerhöchsten treibt. K l y m e n e . Befrag ihn selber: denn es hat der Sohn das Recht 50. Den Vater dringend anzugehn im Lebensdrang. Erinner’ ihn, daß umarmend er mir zugesagt: Dir Einen Wunsch zu gewähren, aber keinen mehr. Gewährt er ihn, dann glaube fest, daß Helios Gezeugt dich hat; wo nicht, so log die Mutter dir. P h a e t h o n . 55. Wie find’ ich mich zur heißen Wohnung Helios? K l y m e n e . Er selbst wird deinen Leib bewahren der ihm lieb. P h a e t h o n . Wenn er mein Vater wäre, du mir Wahrheit sprächst. K l y m e n e . <?page no="116"?> 116 Beilagen O glaub’ es fest! Du überzeugst dich selbst dereinst. P h a e t h o n . Genug! Ich traue deines Worts Wahrhaftigkeit. 60. Doch eile jetzt von hinnen! Denn aus dem Palast Nahn schon die Dienerinnen, die des schlummernden Erzeugers Zimmer säubern, der Gemächer Prunk Tagtäglich ordnen und mit vaterländischen Gerüchen des Palasts Eingang zu füllen gehn. 65. Wenn dann der greise Vater von dem Schlummer sich Erhoben und der Hochzeit frohes Fest mit mir Im Freyen hier beredet, eil’ ich flugs hinweg, Zu prüfen, ob dein Mund, o Mutter, Wahres sprach. (Beyde ab). Hier ist zu bemerken, daß das Stück sehr früh angeht, man muß es vor Sonnenaufgang denken, und dem Dichter zugeben, daß er in einen kurzen Zeitraum sehr viel zusammenpreßt. Es ließen sich hievon ältere und neuere Beyspiele wohl anführen, wo das Dargestellte in einer gewissen Zeit unmöglich geschehen kann, und doch geschieht. Auf dieser Fiction des Dichters und der Zustimmung des Hörers und Schauers ruht die oft angefochtene und immer wiederkehrende dramatische Zeit- und Orts-Einheit der Alten und Neuern. Das nun folgende Chor spricht von der Gegend und was darin vorgeht ganz morgendlich. Man hört noch die Nachtigall singen, wobey es höchst wichtig ist, daß ein Hochzeit-Gesang mit der Klage einer Mutter um ihren Sohn beginnt. C h o r d e r D i e n e r i n n e n . Leise, leise, weckt mir den König nicht! 70. Morgenschlaf gönn’ ich jedem, Greisem Haupt zu allererst. Kaum noch tagt es, Aber bereitet, vollendet das Werk. Noch weint im Hain Philomele 75. Ihr sanft harmonisches Lied; In frühem Jammer ertönt Itys, o Itys, Rufen! Syrinx Ton hallt im Gebirg, Felsenanklimmender Hirten Musik: 80. Es eilt schon fern auf die Trift Brauner Füllen muthige Schaar; <?page no="117"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 117 Zum wildaufjagenden Waidwerk Zieht schon der Jäger hinaus; Am Uferrande des Meers 85. Tönt des melodischen Schwans Lied. Und es treibt in die Wogen den Nachen hinaus Windwehen und rauschender Ruderschlag, Aufziehn sie die Segel Aufbläht sich bis zum mittlen Tau das Segel. 90. So rüstet sich jeder zum andern Geschäft; Doch mich treibt Lieb’ und Verehrung heraus, Des Gebieters fröhliches Hochzeitfest Mit Gesang zu begehn: denn den Dienern Schwillt freudig der Muth bey der Herrschaft 95. Sich fügenden Festen - Doch brütet das Schicksal Unglück aus, Gleich trifft’s auch schwer die treuen Hausgenossen. Zum frohen Hochzeitfest ist dieser Tag bestimmt, Den betend ich sonst ersehnt, 100. Daß mir am festlichen Morgen der Herrschaft das Brautlied Zu singen einst sey vergönnt. Götter gewährten, Zeiten brachten Meinem Herrn den schönen Tag. Drum tön’ o Weihlied zum frohen Brautfest! 105. Doch seht, aus der Pforte der König tritt Mit dem heiligen Herold und Phaethon, Her schreiten die dreye verbunden! O schweig Mein Mund in Ruh! Denn Großes bewegt ihm die Seel’ anjetzt: 110. Hin giebt er den Sohn in der Ehe Gesetz, In die süßen bräutlichen Bande. D e r H e r o l d . Ihr, des Okeanos Strand Anwohnende, Schweigt und höret! Tretet hinweg vom Bereich des Palastes! 115. Stehe von fern, Volk! Ehrfurcht hegt vor dem nahenden Könige! - Heil entsprieße Frucht und Segen dem heitern Vereine, Welchem ihre Nähe gilt, <?page no="118"?> 118 Beilagen 120. Des Vaters und des Sohns, die am Morgen heut Dies Fest zu weihen beginnen. Drum schweige jeder Mund! Leider ist die nächste Scene so gut wie ganz verloren; allein man sieht aus der Lage selbst, daß sie von herrlichem Inhalt seyn könnte. Ein Vater der seinem Sohne ein feyerlich Hochzeitfest bereitet, dagegen ein Sohn der seiner Mutter erklärt hat, daß er unter diesen Anstalten sich wegschleichen und ein gefährliches Abenteuer unternehmen wolle, machen den wirksamsten Gegensatz und wir müßten uns sehr irren, wenn ihn Euripides nicht auch dialectisch zur Sprache geführt hätte. Und da wäre denn zu vermuthen, daß wenn der Vater zu Gunsten des Ehestands gesprochen, der Sohn auch allenfalls argumentirt habe; die wenigen Worte, die bald auf den angeführten Chor folgen M e r o p s . ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ denn wenn ich Gutes sprach - geben unserer Vermuthung einiges Gewicht; aber nun verläßt uns Licht und Leuchte. Setzen wir voraus, daß der Vater den Vortheil, das Leben am Geburtsorte fortzusetzen, herausgehoben, so paßt die ablehnende Antwort des Sohns ganz gut: P h a e t h o n . Auf Erden grünet überall ein Vaterland. Gewiß wird dagegen der wohlhäbige Greis den Besitz, an dem er so reich ist, hervorheben und wünschen daß der Sohn in seine Fußtapfen trete; da könnten wir denn diesem das Fragment in den Mund legen: P h a e t h o n . Es sey gesagt! Den Reichen ist es eingezeugt 125. Feige zu seyn: was aber ist die Ursach des? Vielleicht daß Reichthum, weil er selber blind, Der Reichen Sinn verblendet wie des Glücks. Wie es denn aber auch damit beschaffen mag gewesen seyn, auf diese Scene folgte nothwendig ein abermaliger Eintritt des Chors. Wir vermuthen, daß die Menge sich hier zum Festzuge angestellt und geordnet, woraus schönere Motive hervorgehen als aus dem Zuge selbst. Wahrscheinlich hat hier der Dichter nach <?page no="119"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 119 seiner Art das Bekannte, Verwandte, Herkömmliche in das Kostum seiner Fabel eingeflochten. Indeß nun Aug’ und Ohr des Zuschauers freudig und feyerlich beschäftigt sind, schleicht Phaethon weg, seinen göttlichen eigentlichen Vater aufzusuchen. Der Weg ist nicht weit, er darf nur †die steilen Felsen hinabsteigen, an welchem †die Sonnenpferde täglich heraufstürmen, ganz nah da unten ist ihre Ruhestätte; wir finden kein Hinderniß uns unmittelbar vor den Marstall des Phöbus zu versetzen. Die nunmehr folgende, leider in dem Zusammenhang verlorne Scene war an sich vom größten Interesse, und machte mit der vorhergehenden einen Contrast, welcher schöner nicht gedacht werden kann. Der irdische Vater will den Sohn begründen wie sich selbst, der himmlische muß ihn abhalten sich ihm gleich zu stellen. Sodann bemerken wir noch folgendes; wir nehmen an, daß Phaethon hinabgehend mit sich nicht einig gewesen, welches Zeichen seiner Abkunft er sich vom Vater erbitten solle; nur als er die angespannten Pferde hervorschnauben sieht, da regt sich sein kühner, des Vaters werther, göttlicher Muth und verlangt das Uebermäßige, seine Kräfte weit Uebersteigende. Aus Fragmenten lässt sich vielleicht folgendes schließen: die Anerkennung ist geschehen, der Sohn hat den Wagen verlangt, der Vater abgeschlagen. P h o e b u s . Den Thoren zugesell’ ich jenen Sterblichen, Den Vater, der den Söhnen, ungebildeten, 130. Den Bürgern auch des Reiches Zügel überläßt. Hieraus läßt sich muthmaßen daß Euripides nach seiner Weise das Gespräch ins Politische spielt, da Ovid nur menschliche, väterliche, wahrhaft rührende Argumente vorbringt. P h a e t h o n . Ein Anker rettet nicht das Schiff im Sturm, Drey aber wohl. Ein einziger Vorstand ist der Stadt Zu schwach, ein zweyter auch ist Noth gemeinem Heil. Wir vermuthen daß der Widerstreit zwischen Ein- und Mehrherrschaft umständlich sey verhandelt worden. Der Sohn ungeduldig zuletzt mag thätlich zu Werke gehen und dem Gespann sich nahen. <?page no="120"?> 120 Beilagen P h o e b u s . Berühre nicht die Zügel 135. Du Unerfahrner, o mein Sohn! den Wagen nicht Besteige, Lenkens unbelehrt. Es scheint Helios habe ihn auf rühmliche Thaten, auf kriegerische Heldenübungen hingewiesen, wo soviel zu thun ist; ablehnend versetzt der Sohn: P h a e t h o n . Den schlanken Bogen haß’ ich, Spieß und Uebungsplatz. Der Vater mag ihn sodann im Gegensatz auf ein idyllisches Leben hinweisen P h o e b u s . Die kühlenden Baumschattenden Gezweige, sie umarmen ihn. Endlich hat Helios nachgegeben. Alles Vorhergehende geschieht vor Sonnenaufgang; wie denn auch Ovid gar schön durch das Vorrücken der Aurora den Entschluß des Gottes beschleunigen läßt; der höchst besorgte Vater unterrichtet hastig den auf dem Wagen stehenden Sohn. P h o e b u s . 140. So siehst du oben um den Aether gränzenlos, Die Erde hier im feuchten Arm des Oceans. ferner: So fahre hin! den Dunstkreis Lybiens meide doch, Nicht Feuchte hat er, sengt die Räder dir herab. Die Abfahrt geschieht, und wir werden glücklicher Weise durch ein Bruchstück benachrichtigt wie es dabey zugegangen; doch ist zu bemerken, daß die folgende Stelle Erzählung sey und also einem Boten angehöre. A n g e l o s . Nun fort! zu den Plejaden richte deinen Lauf! — 145. Dergleichen hörend rührte die Zügel Phaethon Und stachelte die Seiten der Geflügelten. <?page no="121"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 121 So gings, sie flogen zu des Aethers Höh’. Der Vater aber, schreitend nah dem Seitenroß, Verfolgte warnend: dahin also halte dich! 150. So hin! den Wagen wende dieserwärts! Wer nun der Bote gewesen, läßt sich so leicht nicht bestimmen; dem Local nach könnten gar wohl die früh schon ausziehenden Hirten der Verhandlung zwischen Vater und Sohn von ihren Felsen zugesehen, ja sodann, als die Erscheinung an ihnen vorbeystürmt, zugehört haben. Wenn aber und wo erzählt wird, ergiebt sich vielleicht am Ende. Der Chor tritt abermals ein, und zwar in der Ordnung wie die heilige Ehstandsfeyer nun vor sich gehen soll. Erschreckt wird aber die Menge durch einen Donnerschlag aus klarem Himmel, worauf jedoch nichts weiter zu erfolgen scheint. Sie erholen sich obgleich von Ahnungen betroffen, welche zu köstlichen lyrischen Stellen Gelegenheit geben mußten. Die Katastrophe, daß Phaethon, von dem Blitze Zeus getroffen, nah vor seiner Mutter Hause niederstürzt, ohne daß die Hochzeitfeyer dadurch sonderlich gestört werde, deutet abermals auf einen enggehaltenen, lakonischen Hergang und läßt keine Spur merken von jenem Wirrwarr, womit Ovid und Nonnus das Universum zerrütten. Wir denken uns das Phänomen als wenn mit Donnergepolter ein Meteorstein herabstürzte, in die Erde schlüge und sodann alles gleich wieder vorbey wäre. Nun aber eilen wir zum Schluß, der uns glücklicher Weise meistens erhalten ist. K l y m e n e . (Dienerinnen tragen den todten Phaethon.) Erinnys ist’s die flammend hier um Leichen webt, Die Götterzorn traf; sichtbar steigt der Dampf empor! Ich bin vernichtet! — Tragt hinein den todten Sohn! — O rasch! Ihr hört ja wie der Hochzeit Feyersang 155. Anstimmend mein Gemahl sich mit den Jungfraun naht. Fort, Fort! Und schnell gereinigt, wo des Blutes Spur Vom Leichnam sich vielleicht hinab zum Boden stahl! O eilet, eilet Dienerinnen! Im Gemach Will ich ihn bergen, wo des Gatten Gold sich häuft, 160. Das zu verschließen mir alleinig angehört. O Helios, glanzleuchtender! Wie hast du mich Und diesen hier vernichtet! Ja, Apollon nennt Mit Recht dich, wer der Götter dunkle Namen weiß. <?page no="122"?> 122 Beilagen C h o r . Hymen, Hymen! 165. Himmlische Tochter des Zeus, dich singen wir Aphrodite! Du, der Liebe Königin, Bringst süßen Verein den Jungfrauen, Herrliche Kypris, allein dir, holde Göttin, Dank ich die heutige Feyer; 170. Dank auch bring’ ich dem Knaben, Den du hüllst in aetherischen Schleyer, Daß er leise vereint. Ihr beyde führt Unserer Stadt großmächtigen König, 175. Ihr den Herrscher in dem goldglanzstrahlenden Pallast zu der Liebe Freuden. Seliger du, o gesegneter noch als Könige, Der die Göttin heimführt, Und auf unendlicher Erde 180. Allein als der Ewigen Schwäher Hoch sich preisen hört! M e r o p s . Du geh’ voran uns! Führe diese Mädchenschaar Ins Haus und heiß mein Weib den Hochzeitreihen jetzt Mit Festgesang zu aller Götter Preis begehn. 185. Zieht Hymnen singend um das Haus und Hestia’s Altäre, welcher jedes frommen Werks Beginn Gewidmet seyn muß ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ aus meinem Haus 190. Mag dann der Festchor zu der Göttin Tempel ziehn. D i e n e r . O König! eilend wandt’ ich aus dem Haus hinweg Den schnellen Fuß; denn wo des Goldes Schätze du, Die herrlichen, bewahrest, dort — ein Feuerqualm Schwarz aus der Thüre Fugen mir entgegen dringt. 195. An leg’ ich rasch das Auge; doch nicht Flammen sieht’s, Nur innen ganz geschwärzt vom Dampfe das Gemach. O eile selbst hinein, daß nicht Hephästos Zorn <?page no="123"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides 123 Dir in das Haus bricht und in Flammen der Palast Aufloht am frohen Hochzeittage Phaethon’s! M e r o p s . 200. Was sagst du? Sieh denn zu ob nicht vom flammenden Weihrauch des Altars Dampf in die Gemächer drang! D i e n e r . Rein ist der ganze Weg von dort und ohne Rauch. M e r o p s . Weiß meine Gattin, oder weiß sie nichts davon? D i e n e r . Ganz hingegeben ist sie nur dem Opfer jetzt. M e r o p s . 205. So geh’ ich; denn es schafft aus unbedeutendem Ursprunge das Geschick ein Ungewitter gern. Doch du des Feuers Herrin, o Persephone, Und du, Hephästos, schützt mein Haus mir gnadenreich! C h o r . O wehe, weh mir Armen! wohin eilt 210. Mein beflügelter Fuß? Wohin? Zum Aether auf? Soll ich in dunkelem Schacht Der Erde mich bergen? O weh mir! Entdeckt wird die Königin, Die verlorene! Drinnen liegt der Sohn, 215. Ein Leichnam geheim. Nicht mehr verborgen bleibt Zeus Wetterstrahl, Nicht die Glut mehr, mit Apollon die Verbindung nicht. O Gottgebeugte! Welch ein Jammer stürzt auf dich? Tochter Okean’s 220. Eile zum Vater hin, Fasse sein Knie Und wende den Todesstreich von deinem Nacken! M e r o p s . O Wehe! — Weh! C h o r . O hört ihr ihn, des greisen Vaters Trauerton? <?page no="124"?> 124 Beilagen M e r o p s . 225. O weh! — mein Kind! C h o r . Dem Sohne ruft er, der sein Seufzen nicht vernimmt, Der seiner Augen Thränen nicht mehr schauen kann. Nach diesen Wehklagen erholt man sich, bringt den Leichnam aus dem Palast und begräbt ihn. Vielleicht daß der Bote dabey auftritt und nacherzählt, was noch zu wissen nöthig; wie denn vermuthlich die von Vers 144‒150 eingeschaltete Stelle hierher gehört. K l y m e n e . — — — — doch der Liebste mir Vermodert ungesalbt im Erdengrab. 15 Goethe: Zu Phaethon des Euripides (1823) (Textgrundlage: AA- Ls 1, S. 171-174) Zu Phaethon des Euripides. Die vom Herrn Professor und Ritter H e r m a n n im Jahre 1821 freundlichst mitgetheilten Fragmente wirkten, wie alles was von diesem edlen Geist- und Zeitverwandten jemals zu mir gelangt, auf mein Innerstes kräftig und entschieden; ich glaubte hier eine der herrlichsten Productionen des großen Tragikers vor mir zu sehen; ohne mein Wissen und wollen schien das Zerstückte sich im innern Sinn zu restauriren, und als ich mich wirklich an die Arbeit zu wenden gedachte, waren die Herren Professoren G ö t t l i n g und R i e m e r , in Jena und Weimar, behülflich, durch Uebersetzen und Aufsuchen der noch sonst muthmaßlichen Fragmente dieses unschätzbaren Werks. Die Vorarbeiten, an die ich mich sogleich begab, liegen nunmehr vor Augen; leider ward ich von diesem Unternehmen, wie so vielen andern, abgezogen, und ich entschließe mich daher zu geben, was einmal zu Papier gebracht war. Die gewagte Restauration besteht also: aus einer Göttlingischen Uebersetzung der von R. Hermann mitgetheilten Fragmente, aus den sonstigen Bruchstücken, die der Musgrave’schen Ausgabe, Leipzig, 1799 und zwar deren zweytem Theil S. 415 hinzugefügt sind, und aus eigenen eingeschalteten und verbindenden Zeilen. Diese drey verschiedenen Elemente ließ ich ohne weitere Andeutung, wie solches wohl durch Zeichen hätte geschehen können, gesammt abdrucken; <?page no="125"?> 14 Goethe: Phaethon, Tragödie des Euripides | 15 Zu Phaethon des Euripides 125 der einsichtige Gelehrte unterscheidet sie selbst, die Freunde der Dichtung hingegen würden nur gestört; und da die Aufgabe war, etwas Zerstücktes wenigstens einigermaßen als ein Ganzes erscheinen zu lassen, so fand ich keinen Beruf, mir meine Arbeit selbst zu zerstücken. Anfang und Ende sind glücklicherweise erhalten, und noch gebe ich nicht auf, die Mitte, von der wir kaum Winke haben, nach meiner Weise herzustellen. Indessen wiederhole ich die in der Arbeit selbst schon angedeuteten Situationen zu nochmaliger Belebung der Einbildungskraft und des Gefühls. D e r P r o l o g macht uns bekannt mit Stadt und Land, mit der topographischen Lage derselben im Osten. Wir hören von einer dem Königshaus sich nahenden Hochzeitfeyer, und zwar des einzigen Sohnes; auf dessen Herkunft jedoch einiger Verdacht geworfen wird. K l y m e n e , P h a e t h o n . Dem Jünglinge widerstrebt’s eine Göttin, wie sie ihm beschieden ist, zu heirathen, weil er nicht untergeordnet seyn will; die Mutter entdeckt ihm, dass auch er der Sohn eines Gottes, des Sonnengottes sey; der kühne Jüngling will es sogleich erproben. C h o r d e r D i e n e r i n n e n . Frischeste Morgenfrühe eines heitern Sommertags, Gewerbsbewegung über Land und Meer, leise Ahnung irgend eines Unheils; Hausgeschäftigkeit. H e r o l d . Der die Menge bey Seite weis’t. M e r o p s , P h a e t h o n . Zarteste Situation, deren Ausführung sich kaum denken läßt. Der bejahrte Vater kann dem Sohne alles irdische Glück an diesem Tage überliefern, der Sohn hat noch anderes im Sinne; das Interesse ist verschieden ohne sich gerade zu widersprechen; der Sohn muß Vorsicht brauchen, daß die Absicht, während der Feyerlichkeiten noch einen abenteuerlichen Versuch zu machen, nicht verrathen werde. <?page no="126"?> 126 Beilagen C h o r d e r F e s t l e u t e sammelt und ordnet sich wie der Zug vorschreiten soll; dieß gab die schönste Gelegenheit zu theatralischer und characteristischer Bewegung. _________ Von hieraus begeben wir uns gern zu dem Rastorte des Helios. H e l i o s , E o s . Die unruhige schlaflose Göttin treibt den Helios aufzufahren; er versagt sich nicht, ihr die morgendlichen Abenteuer mit schönen Hirten und Jägerknaben vorzuwerfen, wir werden erinnert an den ersten Gesang des Chors. H e l i o s , P h a e t h o n . Heftig schnelle Verhandlung zwischen Vater und Sohn; letzterer bemeistert sich des Wagens und fährt hin. __________ Wir wenden uns wieder vor den Palast des Merops. C h o r d e r F e s t l e u t e , mitten in dem Vorschreiten der Festlichkeit, Donnerschlag aus heiterm Himmel, Bangigkeit. K l y m e n e , n ä c h s t e D i e n e r i n n e n . Phaethons Leichnam wird gefunden und versteckt. C h o r d e r V o r i g e n . Hat sich vom Schreck erholt und verfolgt die Feyerlichkeit. M e r o p s . Eben diese Functionen fördernd. <?page no="127"?> 15 Zu Phaethon des Euripides 127 D i e n e r . Brandqualm im Hause verkündend. N ä c h s t e D i e n e r i n n e n . Jammer des Mitwissens. K l y m e n e , L e i c h n a m . Es geschieht die Bestattung. E i n B o t e . Der Frühhirten einer, Zeuge des Vorgangs, berichtet was zu wissen nöthig. _________ Möge die Folgezeit noch einiges von dem höchst Wünschenswerthen entdecken und die Lücken authentisch ausfüllen; ich wünsche Glück denen die es erleben und ihre Augen, auch hiedurch angeregt, nach dem Alterthum wenden, wo ganz allein für die höhere Menschheit und Menschlichkeit reine Bildung zu hoffen und zu erwarten ist. Wie viel ließe sich nicht über die Einfalt und Großheit auch dieses Stückes rühmen und sagen, da es ohne labyrinthische Exposition uns gleich zum Höchsten und Würdigsten führt, und mit bedeutenden Gegensätzen auf die naturgemäßeste Weise ergötzt und belehrt. <?page no="128"?> 128 Beilagen 16 Goethe: Zum Kyklops des Euripides (1823/ 1824/ 1826) (Textgrundlage 1-3: AA-Ls 1, S. 155-158) Zum Kyklops des Euripides. 1 Das griechische Volk war so gewohnt im gemeinen Leben öffentliche Reden zu hören, daß es damit wie mit seinen eigenen Thun und Lassen höchst bekannt war; dieses Element, die Redekunst, war den dramatischen Dichter höchst willkommen der auf einer fingirten Bühne die höchsten menschlichen Intereßes vorzuführen und das Für und Wider verschiedener Partheyen, durch Hin- und Wiederreden kräftig auszusprechen hatte. Bediente er sich nun dieses Mittels zum höchsten Vortheil seiner Tragödie und wetteiferte mit dem Redner im völligen obgleich imaginairen Ernste, so war es ihm für das Lustspiel beynahe noch willkommener: denn indem er die niedrigsten Gegenstände und Handlungen durch hohes Kunstvermögen ebenfalls im großen Stiel zu behandeln wußte, so brachte er etwas unbegreifliches und höchst Ueberraschendes vor; denn von dem Niedrigen Sittenlosen wendet sich der Gebildete mit Abscheu weg und wird in Erstaunen gesetzt wenn es ihm dergestalt gebracht wird daß er es nicht abweisen kann, vielmehr solches mit Behagen aufzunehmen genöthigt ist. Aristofanes giebt uns hievon die unverwerflichsten Zeugniße und man kann das Gesagte aus dem Kyklops des Euripides vollkommen darthun, wenn man nur auf die künstliche Rede des gebildeten Ulyßes hinweißt, der doch den Fehler begeht nicht zu denken daß er mit dem rohsten aller Wesen spreche; der Kyklope dagegen argumentirt mit voller Wahrheit aus seinem Zustande heraus und indem er jenen ganz entschieden wiederlegt bleibt er unwiederleglich. Man wird durch die große Kunst in Erstaunen gesetzt und das Unanständige hört auf es zu seyn weil es uns auf das Gründlichste von der Würde des Kunstreichen Dichters überzeugt. Weimar d. 3. Febr. 1823. <?page no="129"?> 16 Goethe: Zum Kyklops des Euripides 129 2 Ein mächtiger Adler, aus Myrons oder Lysippus Zeiten, läßt sich so eben, zwey Schlangen in den Klauen haltend, auf einen Felsen nieder, seine Fittige sind noch in Thätigkeit, sein Geist unruhig, denn jene beweglich widerstrebende Beute bringt ihm Gefahr. Sie umringeln seine Füße ihre züngelnden Zungen deuten auf tödtliche Zähne. Dagegen hat sich auf Mauergestein ein Kauz niedergesetzt, die Flügel angeschloßen, die Füße und Klauen stämmig, er hat zwey Mäuse gefaßt, die ohnmächtig ihre Schwänzlein um seine Füße schlingen, indem sie kaum noch Zeichen eines piepsend abscheidenden Lebens bemerken laßen. Man denke sich beyde Kunstwerke nebeneinander! Hier ist weder P a r o d i e noch T r a v e s t i e sondern ein von Natur h o h e s , und von Natur n i e d e r e s , beydes von gleichem Meister im gleich erhabenen Styl gearbeitet; es ist ein Parallelismus im Gegensatz, der einzeln erfreuen und zusammengestellt in Erstaunen setzen müßte; der junge Bildhauer fände hier eine bedeutende Aufgabe. (Hierher gehörte nun was über den Cyclops des Euripides zu sagen wäre.) Eben so merkwürdig ist die Vergleichung der Ilias mit Troilus und Cressida; auch hier ist weder Parodie noch Travestie, sondern, wie oben zwey N a t u r g e g e n s t ä n d e einander gegenüber gesetzt waren; so hier ein zwiefacher Z e i t s i n n . Das griechische Gedicht im hohen Styl, sich selbst darstellend, nur das Nothdürftige bringend und sogar in Beschreibungen und Gleichnissen allen Schmuck ablehnend, auf hohe mythische Ur-Ueberlieferungen sich gründend; das englische Meisterwerk dagegen darf man betrachten als eine glückliche Umformung, Umsetzung jenes großen Werkes ins romantisch dramatische. Hiebey dürfen wir aber nicht vergessen, daß dieses Stück, mit manchem andern, seine Herkunft aus abgeleiteten schon zur Prosa herabgezogenen nur halb-dichterischen Erzählungen nicht verläugnen kann. Doch auch so ist es wieder ganz Original als wenn das Antike gar nicht gewesen wäre, und es bedurfte wieder einen eben so gründlichen Ernst, ein eben so entschiedenes Talent als des großen Alten, um uns ähnliche Persönlichkeiten und Charaktere mit leichter Bedeutenheit vorzuspiegeln, indem einer späteren Menschheit neuere Menschlichkeiten durchschaubar vorgetragen wurden. W. d. 25. Aug[ust] 1824 <?page no="130"?> 130 Beilagen 3 Zum Kyklops des Euripides. ________ Wie schwer es ist sich aus den Vorstellungsarten seiner Zeit herauszuarbeiten, besonders wenn die Aufgabe so gestellt ist, daß man sich in höhere, uns unerreichbare Zustände versetzen müße, begreift man nicht eher als nach vielen, theils vergeblichen, theils auch wohl gelungenen Versuchen. Von meinen Jünglingszeiten an trachtete ich mich mit griechischer Art und Sinne möglichst zu befreunden, und mir sagen zuverläßige Männer, daß es auch wohl gelungen sey. Ich will hier nur an den Euripidischen Herkules erinnern, den ich einem modernen und zwar keineswegs verwerflichen Zustande entgegengesetzt hatte. 204 In jenem Bestreben, es sind nunmehr gerade funfzig Jahre, bin ich immer fortgeschritten und auf diesem Wege habe ich jenen Leitfaden nie aus der Hand gelaßen. Inzwischen fand ich noch manche Hindernisse, und konnte meine nordische Natur nur nach und nach beschwichtigen, meine deutsche Gemüthsart die aus der Hand des Poeten alles für baar Geld nahm, was doch eigentlich nur als Einlösungs- und Anticipations-Schein sollte angesehen werden. Höchst verdrießlich war ich daher zu lesen und zu hören daß über den herrlich überschwenglich ergreifenden Stücken der Alten noch zum Schluß der Vorstellung eine Narrensposse sey gegeben worden. Wie mir aber gelang mit einem solchen Verfahren mich auszusöhnen und mir ein Unbegreifliches zurecht zu legen sey hier gesagt, ob es vielleicht auch andern fromme. Um nun mit einer Verneinung anzufangen um das Feld zu reinigen so sag ich vorerst daß wir uns keineswegs ein Possen- oder Fratzenstück nach unserer Art am wenigsten aber eine Parodie und Travestie denken müssen wozu uns vielleicht Horazens Verse 205 verleiten könnten. Nein! bey den Griechen ist alles aus einem Stücke, und alles im großen Styl, derselbe Marmor, dasselbe Erz das einen Zeus einen Faun möglich macht und immer der gleiche Geist der allen die gebührende Würde verleiht. Hier ist nun keineswegs der parodistische Sinn welcher das Hohe, Große, Edle, Gute Zarte herunterzieht und ins Gemeine verschleppt, woran wir immer ein Symptom sehen daß die Nation die daran Freude hat auf dem Wege ist sich zu verschlechtern vielmehr wird hier das Rohe Brutale, Niedrige, das an und 204 In der 1773 niedergeschriebenen Farce Götter, Helden und Wieland . 205 De arte poetica , V. 220-250. <?page no="131"?> 16 Goethe: Zum Kyklops des Euripides 131 für sich selbst den Gegensatz des Göttlichen macht durch die Gewalt der Kunst, *** daß wir dasselbe gleichfalls als an dem Erhabenen theilnehmend empfinden und betrachten müssen. Die komischen Masken der Alten, wie sie uns übrig geblieben stehen dem Kunstwerth nach in gleicher Linie mit dem Tragischen. Ich besitze selbst eine kleine komische Maske von Erz, die mir um keine Goldstange feil wäre, denn sie giebt mir tagtäglich das Anschauen von der hohen Wahrheit die ich so eben ausgesprochen habe. 206 W. d. 28. Nov. 1826. 206 Eine 1819 durch Goethe von Predari erworbene kleine bronzene Komödienmaske: Schuchardt II 13, Nr. 32; Lothar Frede, Goethe, der Sammler. Ein Essay , Köln / Berlin 1969, S. 52 (Abb.); nach Kristin Knebel, Goethe als Sammler figürlicher Bronzen. Sammlungsgeschichte und Bestandskatalog , hg. von der Klassik Stiftung Weimar 2009, S. 37-39, zu Katalog Nr.-55, S. 97; Inv.-Nr. GPl 01246) könnten Goethes undatierte Federzeichnungen (CG VIA, Nr. 70f.) dieser Maske während seiner Beschäftigung mit dem „Kyklops“ des Euripides entstanden sein (s. dazu auch G. Femmel in CG VIA, S. 24). Abb. 9: Theatermaske. Handzeichnung Goethes nach einer Kleinbronze aus seiner Kunstsammlung <?page no="132"?> 132 Beilagen 17 Goethe: Die tragischen Tetralogien der Griechen (1823) (Textgrundlage: AA-Ls 1, S. 175-177) 207 Die tragischen Tetralogien der Griechen, Programm von Ritter Hermann 1819. Auch dieser Aufsatz deutet seiner Ansicht und Behandlung nach auf einen meisterhaften Kenner, der das Alte zu erneuen, das Abgestorbene zu beleben versteht. Es kann nicht geläugnet werden, daß man sich die Tetralogien der Alten sonst nur gedacht als eine dreyfache Steigerung desselben Gegenstandes, wo im ersten Stück die Exposition, die Anlage, der Hauptmoment des Ganzen vollkommen geleistet wäre, im zweyten darauf sich schreckliche Folgen ins Ungeheure steigerten, im dritten aber, bey nochmaliger Steigerung, dennoch auf eine gewisse Weise irgend eine Versöhnung herangeführt würde; wodurch denn allenfalls ein viertes munteres Stück, um den Zuschauer, den häuslicher Ruhe und Behaglichkeit bedürftigen Bürger wohlgemuth zu entlassen, nicht ungeschickt angefügt werden konnte. Wenn also z. B. im ersten Stück Agamemnon, im zweyten Klytämnestra und Aegisth umkämen, im dritten jedoch der von den Furien verfolgte Mutter-Mörder durch das athenische Oberberufungsgericht losgesprochen und deßhalb eine große städtische ewige Feyer angeordnet würde, da kann uns dünken, daß dem Genie hier irgend einen Scherz anzuknüpfen wohl mochte gelungen seyn. Ist nun zwar, wie wir eingestehen, die griechische Mythologie sehr folgereich und langmüthig, wie sich denn der umsichtige Dichter gar bald überzeugen wird, daß aus jedem Zweig jenes gränzenlosen Stammbaums ein paar Trilogien heraus zu entwickeln wären; so kann man doch begreifen, daß, bey unerläßlichen Forderungen nach immer sich überbietenden Neuigkeiten, nicht immerfort eine gleich reine Folge zu finden gewesen. Sollte sodann der Dichter nicht bald gewahr werden, daß dem Volk an der Folge gar nichts gelegen ist? sollte er nicht klug zu seinem Vortheil brauchen, daß er es mit einer leichtsinnigen Gesellschaft zu thun hat? Er giebt lieber sein Innerstes auf, als es sich ganz allein und umsonst sauer werden zu lassen. Höchst natürlich und wahrscheinlich nennen auch wir daher die Behauptung gegenwärtigen Programms: eine Tri- oder gar Tetralogie habe keineswegs einen zusammenhängenden Inhalt gefordert, also nicht eine Steigerung des Stoffs, wie 207 S. dazu die Dokumentation in EGW VII, S. 198-201 (Nr. 465), und ebd. im Vorwort von K. Mommsen S. XI. <?page no="133"?> 17 Goethe: Die tragischen Tetralogien der Griechen 133 oben angenommen, sondern eine Steigerung der äußeren Formen, gegründet auf einen vielfältigen und zu dem bezweckten Eindruck hinreichenden Gehalt. In diesem Sinne mußte nun das erste Stück groß und für den ganzen Menschen staunenswürdig seyn; das zweyte, durch Chor und Gesang, Sinne, Gefühl und Geist erheben und ergötzen; das dritte darauf durch Aeußerlichkeiten, Pracht und Drang aufreizen und entzücken, da denn das letzte zu freundlicher Entlassung so heiter, munter und verwegen seyn durfte als es nur wollte. Suchen wir nun ein Bild und Gleichniß zu unseren Zeiten. Die deutsche Bühne besitzt ein Beyspiel jener ersten Art an Schillers Wallenstein, und zwar ohne daß der Dichter hier eine Nachahmung der Alten beabsichtigt hätte; der Stoff war nicht zu übersehen, und zerfiel dem wirkenden und schaffenden Geiste nach und nach selbst gegen seinen Willen in mehrere Theile. Der Empfindungsweise neuerer Tage gemäß bringt er das lustige heitere Satyrstück: d a s L a g e r voraus. In den P i c c o l o m i n i ehren wir die fortschreitende Handlung; sie ist noch durch Pedanterie, Irrthum, wüste Leidenschaft niedergehalten, indeß zarte himmlische Liebe das Rohe zu mildern, das Wilde zu besänftigen, das Strenge zu lösen trachtet. Im dritten Stücke mißlingen alle Versuche der Vermittelung; man muß es im tiefsten Sinne hochtragisch nennen, und zugeben, daß für Sinn und Gefühl hierauf nichts weiter folgen könne. Nun müssen wir aber, um an die von dem Programm eingeleitete Weise, völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen, durch ein Beyspiel irgend eine Annäherung zu gewinnen, uns über die Alpen begeben, und uns die italiänische, eine dem Augenblick ganz gewidmete Nation, als Zuschauermasse denken. So sahen wir eine vollkommen ernste Oper in drey Akten, welche, in sich zusammenhängend, ihren Gang ruhig verfolgte. In den Zwischenräumen der drey Abtheilungen erschienen zwey Ballette, so verschieden im Charakter unter einander als mit der Oper selbst; das erste heroisch, das zweyte ins Komische ablaufend, damit die Springer Gewandtheit und Kräfte zeigen konnten. War dieses vorüber, so begann der dritte Akt der Oper, so anständig einherschreitend, als wenn keine Posse vorhergegangen wäre. Ernst, feyerlich, prächtig schloß sich das Ganze. Wir hatten also hier eine Pentalogie, nach ihrer Weise der Menge vollkommen genugthuend. Noch ein Beyspiel fügen wir hinzu: denn wir sahen, in etwas mäßigern Verhältnissen, Goldonische dreyaktige Stücke vorstellen, wo zwischen den Abtheilungen vollkommene zweyaktige komische Opern auf das Glänzendste vorgetragen wurden. Beyde Darstellungen hatten weder dem Inhalt noch der Form nach irgend etwas mit einander gemein, und doch freute man sich höchlich, nach dem ersten Akt der Comödie, die bekanntbeliebte Ouverture der Oper unmittelbar zu vernehmen. Eben so ließ man sich, nach dem glänzenden Finale dieses Singaktes, den zweyten Akt des pro- <?page no="134"?> 134 Beilagen <?page no="135"?> 17 Goethe: Die tragischen Tetralogien der Griechen | 18 Philoktet-Studien 135 saischen Stücks gar wohl gefallen. Hatte nun abermals eine musikalische Abtheilung das Entzücken gesteigert, so war man doch noch auf den dritten Akt des Schauspiels höchst begierig, welcher denn auch jederzeit vollkommen befriedigend gegeben ward. Denn der Schauspieler, compromittirt durch seine sangreichen Vorgänger, nahm nun alles was er von Talent hatte zusammen, und leistete, durch die Ueberzeugung seinen Zuschauer im besten Humor zu finden selbst in guten Humor versetzt, das Erfreulichste, und der allgemeine Beyfall erscholl beym Abschluß auch dieser Pentalogie, deren letzte Abtheilung gerade die Wirkung that wie der vierte Abschnitt der Tetralogien, uns befriedigt, erheitert und doch auch gemäßigt nach Hause zu schicken. 18 Goethe: Philoktet-Studien (1826) (Textgrundlage: AA-Ls 1, S. 178-180; s. dazu AA-Ls 4, S. 237-240) Philoktet-Studien 1 A e s c h y l u s 526 War der erste Minerva prologirt einleitend. Das Chor bestand aus Lemniern Ulysses. Ob in eigner Gestalt Ob unkenntlich durch Jahre Oder durch Sinn und Geistesschwache des Philoctet’s? Wer mit ihm gekommen, ist unbekannt. Wahrscheinlich, daß er einen Gesellschafter gehabt. Weil Aeschylus mit jedem Act eine neue Person einzuführen pflegt. An dem Stücke wird gerühmt: Sowohl was die Sitten der Personen, als was die Behandlung betrifft. Seelengröße Alte Sitten Nichts Tückisches Nichts Geschwätziges Oder Niedriges. Festsinn. Austerität. Einfalt <?page no="136"?> 136 Beilagen E u r i p i d e s. 485 War der zweite Das Chor gleichfalls Lemnier Ulysses, von Minerva verwandelt, prologirt. Diomed kommt als Begleiter Gerühmt wird große Sorgfalt und Scharfsinn. Besonders in Bezug auf Staatsangelegenheiten. S o p h o c l e s 509 der dritte Der Chor besteht aus Griechen Die Sitten des Ulysses sind milder und einfacher Des Neoptolem’s die einfachsten und großartigsten. Das Stück enthält nicht viele Sittensprüche, noch Ermahnung zu Tugenden. Die Poesie verdient sich das Lob einer ernsten Pracht. Ein großer Reichthum von Stoff und Gehalt ist diesem Stücke eigen. A c c i u s. Ein alter Römer, der Vierte. Scheint sich an den Aeschylus gehalten zu haben, welcher deshalb auf diesem Wege zu vervollständigen ist. 2 Wenn die bis jetzt genannten Werke mir dem Kreise literarischer Betrachtungen sämmtlich zum Vortheil gereichten so schloß sich zuletzt noch eine wichtige Mittheilung an die mich in Gefahr setzte aus dem ruhigen Kreise der Beschaulichkeit, in welchem wir nur an uns selbst die Forderung machen in den bedenklichen Kreis der Productivität versetzt zu werden, wo wir andere von denen wir wünschen unser Geleistetes wohl aufgenommen zu sehen unverwandt im Auge haben sollen. „De Aes[c]hyli philocteta Dißertatio” unseres verehrten Hermanns verursachte mir manche unruhige Stunde. Wie ich durch die Fragmente des Phaëton zu mannigfaltigen Bemühungen aufgerufen worden, wie ich ferner durch die wenigen Bruchstücke der Niobe auf einige Zeit angezogen ward, so erging es mir abermals und zwar diesmal sehr lebhaft, denn was könnte uns erwünschteres begegnen als †die drey großen Tragiker gegen die wir denn doch die Augen aufzuheben uns kaum erkühnen, dergestalt vergleichen lernten† daß wir einsehen könnten wie sie einen Gegenstand, jeder nach seiner Weise behandelt und durchgeführt. <?page no="137"?> 18 Goethe: Philoktet-Studien 137 Schon obgedachte Schrift überliefert uns einen solchen Reichthum von Hindeutungen daß ich davon ergriffen zugleich Diochrysostomus vornahm um dem Euripides näher zu treten, so wie †ich das was Herrmann von dem Römer Accius sorgfältig gesammelt, kritisch restaurirt, und das einigermassen Ergänzte dem reinen Sinne näher bringt, erregte meine aufmerksamsten Betrachtungen† um an den Aeschylus heranzukommen. Aber ich fühlte gar bald nur zu sehr, daß die ganze Wucht des griechischen Alterthums auf mich hereinzubrechen drohte und ich fühlte mich gewarnt, da ich doch auch wohl erfahren hatte, daß leidenschaftliche Neigung zu irgend einem Unternehmen uns zu anmaßlicher und vielleicht gar folgeloser Kühnheit verleitet. Denn genannter Schriftsteller hatte das Glück die drey bedeutenden Werke vollständig vor sich zu sehen und ihren Werth zu überdenken. Eine allgemeine Schätzung dieser vortrefflichen Männer mit unsern Ueberzeugungen giebt er zuerst, dann wendet er sich vorzüglich zu Euripides und giebt uns den Anfang wo Ulysses selbst prologirt und einen geringen Theil der Scene wo er von Philoktet entdeckt wird; dieses geschieht zwar durch ein prosaisches Umschreiben woraus wir jedoch die ursprünglichen Trimeter herauszufinden hofften. Weniger ist von dem Aeschylischem Stück übrig geblieben und zwar durch römische Vermittelung indem Accius einen Philotect dem Aeschylischen nachgebildet hatte, wovon die kümmerlichen Reste, durch unseres Hermanns Sorgfalt einer klaren Einsicht wieder gegeben sind. Doch auch jetzt wie früher müssen wir uns von einem Geschäft losreißen welches fortzusetzen ein ernstliches conzentrirtes Beschäftigen erforderte und dessen vollendenden Abschluß niemand erwarten kann. Bedauern wir nun daß uns nicht gegönnt worden weder das Aeschylische noch das Euripidische Stück näher kennen zu lernen, so wollen wir uns glücklich preisen das Sophocletische zu besitzen. Aber auch an dieses letztere neuerdings wieder heranzugehen und uns von seinen Vorzügen zu durchdringen wäre eine für ein hohes Alter allzubedenkliche Aufgabe daß dem Vortrefflichen unserer Vorfahren weniger productive Kraft entgegen zu setzen sich fühlt und unter dem Gewicht jener Vorzüge sich gebeugt ja vernichtet finden müßte. <?page no="138"?> 138 Beilagen 19 Goethe: Die Bacchantinnen des Euripides (1826) (Textgrundlage: AA-Ls 1, S. 190-194) Die Bacchantinnen des Euripides. Semele, Tochter des Thebaischen Herrschers Cadmus, in Hoffnung dem Viel- Vater Zeus einen Sohn zu bringen ward verderbt und aufgezehrt durch himmlisches Feuer, der Knabe gerettet, im Verborgenen aufgepflegt und erzogen, auch des Olymps und eines göttlichen Daseyns gewürdigt. Auf seinen Erdewanderungen und Zügen in die Geheimnisse des Rheadienstes bald eingeweiht, ergiebt er sich ihnen und fördert sie aller Orten, ingeheim einschmeichelnde Mysterien, öffentlich einen grellen Dienst unter den Völkerschaften ausbreitend. Und so ist er am Beginn der Tragödie von lydischen enthusiastischen Weibern begleitet in Theben angelangt, seiner Vaterstadt, will daselbst als Gott anerkannt seyn und Göttliches erregen. Sein Großvater Cadmus lebt noch, uralt; er und der Urgreis Tiresias sind der heiligen Weihe günstig und schließen sich an. Pentheus aber, auch ein Enkel des Cadmus von Agave, jetzt Oberhaupt von Theben, widersetzt sich den Religions-Neuerungen und will sammt den Thebanern und Thebanerinnen einen göttlichen Ursprung des Bacchus nicht anerkennen. Zwar giebt man zu: er sey ein Sohn der Semele, diese aber, eben deßwegen weil sie sich fälschlich als Geliebte Jupiters angegeben, vom Blitz und Feuerstrahl getroffen worden. Pentheus behandelt nun daher die vom Bacchus als Chor eingeführten lydischen Frauen auf das schmählichste; dieser aber weiß sich und die Seinigen zu retten und zu rächen, und dagegen Agaven mit ihren Schwestern und die andern ungläubigen Thebanerinnen zu verwirren, zu verblenden und von begeisterter Wuth angefacht nach dem ominosen Gebirg Kithäron, woselbst der verwandte Aktäon umgekommen, hinauszutreiben. Dort halten sie sich für Jägerinnen, die nicht allein dem friedlichen Hochwild, sondern auch Löwen und Panthern nachzujagen berufen sind. Pentheus aber, auf eine abenteuerliche Weise gleichfalls verwirrt, von gleichem Wahnsinn getrieben, folgt ihrer Spur, und wird, sie belauschend, von seiner Mutter und ihren Gefährten entdeckt, aufgejagt als Löwe, erschlagen und zerrissen. Das Haupt, vom Körper getrennt, wird nun als würdige Beute auf einen Thyrsus gesteckt, den Agave ergreift und damit nach Theben triumphirend hereinzieht. Ihrem Vater Cadmus, der eben des Sohnes Glieder kümmerlich aus den Gebirgsschluchten gesammelt hereinbringt , begegnet sie, rühmt sich ihrer Thaten, zeigt auf das Löwenhaupt das sie zu tragen wähnt, und verlangt in ihrem Uebermuth ein großes Gastmahl angestellt; der Vater aber jammervoll beginnt: <?page no="139"?> 19 Goethe: Die Bacchantinnen des Euripides 139 CADMUS. O Schmerzen! gränzenlose, nicht dem Blick zu schaun, Todtschlag geübt, ein jammervolles Händewerk. Mag diess den Göttern hochwillkommnes Opfer seyn; Zum Gastmahl aber rufst du Theben, rufest mich. O weh des Unheils, dir zuerst und mir sodann: So hat der Gott uns, zwar gerecht, doch ohne Maass, Obschon Verwandte zugeführt dem Untergang. AGAVE. So düster lustlos wird das Alter jeglichem Getrübten Auges. Aber möge doch mein Sohn Jagdglücklich seyn, nach mütterlichem Vorgeschick, Wenn er thebaisch jungem Volke zugesellt Auf Thiere strebt. Mit Göttern aber liebt er sich Allein zu messen. Vater, warnen wir ihn doch! Mit grübelhaftem Uebel nie befass’ er sich. Wo ist er denn? wer bringt ihn vor mein Auge her? O ruft ihn, dass er schaue mich Glückselige! CADMUS. Weh! weh! erfahrt ihr jemals was ihr da gethan; Schmerz wird euch schmerzen, grimmig! bleibt ihr aber so Hinfort in diesem Zustand, welcher euch ergriff, Wenn auch nicht glücklich, glaubt ihr euch nicht unbeglückt. AGAVE. Was aber ist Unrechtes hier, und Kränkendes? CADMUS. So wende mir zuerst dein Auge ätherwärts. AGAVE. Wohl denn! Warum befiehlst du mir hinaufzuschaun? CADMUS. Ist er wie immer, oder siehst du Aenderung? AGAVE. Viel glänzender denn sonst, und doppelt leuchtet er. <?page no="140"?> 140 Beilagen CADMUS. So ist ein Aufgeregtes in der Seele dir. AGAVE. Ich weiss nicht was du sagen willst, doch wird es mir Als ein Besinnen, anders aber als es war. CADMUS. Vernimmst mich also deutlich und erwiederst klug? AGAVE. Vergessen hab’ ich, Vater, was zuvor ich sprach. CADMUS. In welches Haus denn kamst du bräutlich eingeführt? AGAVE. Dem Sohn des Drachenzahns ward ich, dem Echion. CADMUS. Und welchen Knaben gabst dem Gatten du daheim? AGAVE. Pentheus entsprang aus unser beyden Einigkeit. CADMUS. Und wessen Antlitz führst du auf der Schulter hier? AGAVE. Des Löwen, wie die Jägerinnen mir gereicht. CADMUS. So blicke grad’ auf, wenig Mühe kostet es. AGAVE. Ach, was erblick’ ich? trage was hier in der Hand? CADMUS. Betracht’ es nur, und lerne deutlich was es ist! <?page no="141"?> 19 Goethe: Die Bacchantinnen des Euripides 141 AGAVE. Das grösste Leiden seh’ ich Unglückselige. CADMUS. Dem Löwen doch vergleichbar nicht erscheint dir diess? AGAVE. Nein, nicht! von Pentheus trag’ ich jammervoll das Haupt. CADMUS. Bejammert lange, früher als du’s anerkannt. AGAVE. Wer tödtet’ ihn? wie kam er doch in meine Faust? CADMUS. Unsel’ge Wahrheit! wie erscheinst du nicht zur Zeit. AGAVE. Sprich nur, das Herz hat dafür auch noch einen Puls. CADMUS. Du, du erschlugst ihn, deine Schwestern würgten mit. AGAVE. Wo aber kam er um? zu Hause, draussen, wo? CADMUS. Von seinen Hunden wo Aktaeon ward zerfleischt. AGAVE. Wie zum Kithaeron aber kam der Unglücksmann? CADMUS. Dem Gott zum Trotze, deiner auch, der Schwärmenden. AGAVE. Wir aber dort gelangten an ihn welcher Art? <?page no="142"?> 142 Beilagen CADMUS. Ihr ras’tet, ras’te bacchisch doch die ganze Stadt. AGAVE. Dionysos, er verdarb uns, diess begreif’ ich nun. CADMUS. Den ihr verachtet, nicht als Gott ihn anerkannt. AGAVE. Allein der theure Leib des Sohnes, Vater, wo? 20 Goethe: Euripides’ Phaethon (1827) (Textgrundlage: AA-Ls 1, S. 195f.) Euripides’ Phaethon. (Zu Kunst und Alterthum IV. 2. S. 26.) Wo einmal ein Lebenspunct aufgegangen ist, fügt sich manches Lebendige daran. Dieß bemerken wir bey jener versuchten Restauration des Euripidischen Phaethon, worüber wir uns auf Anregung eines kenntnißreichen Mannes folgendermaßen vernehmen lassen, indem wir die Freunde bitten die fragliche Stelle gefällig vorher nachzusehen. Als am Ende des vorletzten Acts, um nach unserer Theatersprache zu reden, Phaethon von seinem göttlichen Vater die Führung des Sonnenwagens erbeten und ertrotzt, folgt ihm unsere Einbildungskraft auf seiner gefährlichen Bahn und zwar, wenn wir das Unternehmen recht in’s Auge fassen, mit Furcht und Entsetzen. In des irdischen Vaters Hause jedoch gehen die Hochzeitsanstalten immer fort, schon hören wir in der Nähe feyerliche Hymnen erschallen, wir erwarten das Auftreten des Chors. Nun erfolgt ein Donnerschlag, der Sturz des Unglückseligen aus der Höhe geschieht außerhalb des Theaters, und in Gefolg oben angeführter Restauration wagte man schon folgende Vermuthung. „Wir denken uns das Phänomen als wenn mit Donnergepolter ein Meteorstein bey heiterm Himmel herabstürzte, in die Erde schlüge und sodann alles wieder vorbey wäre; denn so bald Klymene den todten Sohn versteckt hat, ja sogar inzwischen, fährt der Chor in seinem Festgesange fort.“ <?page no="143"?> 19 Goethe: Die Bacchantinnen des Euripides | 20 Euripides’ Phaethon 143 Nun finden wir bey Diogenes Laertius, in dem Leben des Anaxagoras, einige hierher gehörige Stellen. Von diesem Philosophen wird gemeldet: „Er habe behauptet die Sonne sey eine durchglühte Metallmasse, μύδρος διάπυρος“ wahrscheinlich wie der aufmerkende und folgernde Philosoph sie aus der Oesse halbgeschmolzen unter den schweren Hämmern gesehen. Bald darauf heißt es, daß er auch den Fall des Steins bey Aigos Potamoi vorausgesagt und zwar werde derselbe aus der Sonne herunter fallen. Daher habe auch Euripides, der sein Schüler gewesen, die Sonne, in der Tragödie Phaethon, einen Goldklumpen genannt: χρυσέαν βῶλον. Ob uns nun schon die Stelle des Tragikers nicht vollständig übrig geblieben, so können wir doch, indem dieser Ausdruck sogleich auf die Erwähnung des gefallenen Steins folgt, schließen und behaupten, daß nicht sowohl von der Sonne, sondern von dem aus ihr herabstürzenden brennenden Jüngling die Rede sey. Man überzeuge sich, daß Phaethon, den Sonnenwagen lenkend, für kurze Zeit als ein anderer Helios, identisch mit der Sonne gedacht werden müsse; daß ferner Zeus in der Tragödie die unselige Abirrung unmittelbar merkend, großes Unheil, wie es Ovid und Nonnus ausgemalt, zu verhüten, zugleich aber einen enggehaltenen lakonischen Hergang der Tragödie zu begünstigen, mit dem Blitz alsobald drein geschlagen. In der Verflechtung eines solchen Augenblicks ist es gleichlautend ob die Sonne selbst, oder, sich absondernd von ihr ein feuriger Metallklumpen, oder der wagehalsige Führer als entzündetes Meteor herunterstürze. Höchst willkommen muß dem hochgebildeten Dichter dieses Zweydeutige gewesen seyn um seine Naturweisheit hier eingreifen zu lassen. Dieses Ereigniß war von großem theatralischen Effect und doch nicht abweichend von dem wie es in der Welt herzugehen pflegt: denn wir würden uns noch heutiges Tags von einem einzelnen Donnerschlag nicht irre machen lassen, wenn er sich bey irgend einer Feyer vernehmen ließe. Daher können wir die Art nicht billigen wie das Fragment von Markland 208 (Beck’s Ausgabe des Eurip. Thl. II. S. 462) erklärt wird, indem er es für eine Variante von χρυσέᾳ βάλλει φλογί hielt und darüber von Porson zu Eurip. Orest 971. belobt wurde. Dieß kann durchaus der Fall nicht seyn, weil sich Diogenes ausdrücklich auf den gleichen Ausdruck des Anaxagoras beruft. Vergleichen wir nun dazu Plin. Histor. Nat II. 58: celebrant Graeci Anaxagoram - praedixisse quibus diebus saxum casurum esset de sole. - Quod si quis praedictum credat, simul fateatur necesse est, majoris miraculi divinitatem Anaxagorae fuisse, solvique rerum naturae intellectum et confundi omnia, si aut ipse sol lapis esse aut unquam lapidem in eo fuisse credatur: decidere tamen crebro non erit dubium. Aristoteles in dem ersten Buche über Meteorisches und zwar dessen achten Capitel, spricht bey Gelegenheit der Milchstraße und deren Ursprung und Ver- 208 Vielmehr: Musgrave. <?page no="144"?> 144 Beilagen hältniß Folgendes aus: es hätten einige der Pythagoreer sie den Weg genannt, die Bahn solcher Gestirne dergleichen bey dem Untergang Phaethons niedergefallen sey. Hieraus ergiebt sich denn, daß die Alten das Niedergehen der Meteorsteine durchaus mit dem Sturze Phaethons in Verknüpfung gedacht haben. 21 Gottfried Hermann: Widmung seiner Ausgabe von Euripides: Iphigenia in Aulide (1831) an Goethe GOETHIO / TAURICA IPHIGENIA / SPIRITUM GRAIAE TENUEM CAMENAE / GERMANIS MONSTRATORI / D. / G. H. 209 22 Gottfried Hermann: Auszug aus der Vorrede seiner Ausgabe von Euripides: Iphigenia Taurica, Leipzig 1833 (Textgrundlage: Euripidis tragoediae. Recensuit Godofredus Hermannus. Voluminis I. Pars III. Iphigenia Taurica. Lipsiae in libreria Weidmannia. MDCCCXXXIII. / Praefatio. / p. VI-XXVIII) 210 PRAEFATIO […] [p. VI] […] Dignissima est […] haec tragoedia, cui quantum fieri possit pristina forma restituatur. Est enim in praestantissimis earum, quas fecit Euripides, invitamurque ad eam accurate cognoscendam praecipue Germani, apud quos summus poeta Goethius idem argumentum in scenam produxit, ita ille Atheniensem poetam aemulatus, ut hominem natione Graecum, sed eum talem audire videamur, qui nostri [p. VII] aevi cultu eruditus non solum virtutis puriorem excelsioremque imaginem animo impressam habeat, sed etiam oblectandi materiam magis ex sententiarum vi et copia, quam ex verborum ornatu et varietate numerorum depromat. Uterque poeta suo in genere admirabilis est; 209 S. dazu o., Einleitung, S. 16, mit Anm. 4; Chronik der Kontakte, 44a; Briefe, Nr. 10; Nachwort, S. 207. 210 Den (hier abgedruckten und übersetzten) in Hermanns „Praefatio“ vorgenommenen ausführlichen kritischen Vergleich der Euripideischen und Goetheschen „Iphigenie“, der für beide Werke Vorzüge und Mängel notiert, referiert Primer (1913), S. 31-36, der nach Überprüfung der von Hermann gegen Goethe gerichteten „Einwände“ resumiert, sie seien „geistreich“ und verdienten „alle Beachtung“, seien „aber doch, wie wir gezeigt zu haben glauben, sämtlich leicht zu widerlegen“ (S. 36). ‒ S. auch: O. J. Brendel, Iphigenie auf Tauris - Euripides und Goeth e. In: Antike und Abendland 27 (1981), S. 52-97. <?page no="145"?> 21 Hermann: Widmung | 22 Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 145 uterque diligenter perpensa argumenti natura fabulam et invenit et exornavit; sed alter famam sequutus, quam mutare religio vetabat, alter, nullis constrictus vinculis, fingens quae apta iudicabat. Id enim tragoedias illas inter se comparanti ante omnia tenendum est, Euripidem necessario curare debuisse, ut non solum Iphigenia e Taurica abduceretur, sed asportaretur etiam simulacrum Dianae. Sic enim ferebat fama, colebantque illud signum Attici Halis, in quem locum ab Oreste delatum credebatur. Goethio vero licebat in solo Iphigeniae reditu consistere, quumque, si statua illa maneret apud Tauros, ea ipsa re solvi nodum posse intelligeret, ad id ambiguitate oraculi, sororem reduci iubente Apolline, potuit uti. Sed videndum est de omni utriusque tragoediae inventione. Prologum apud utrumque poetam agit Iphigenia, sola in scenam progressa. Et apud Euripidem quidem, cuius in fabula sciunt Tauri Agamemnonis filiam esse, genus suum et quomodo in ista loca venerit enarrat, crudelibusque sacris praefecta abhorrere se ab illa immanitate ostendit, ac saltem non ipsam mactare hospites. Tum somnium exponit, quo fratris mortem significari rata inferias ei se parare dicit, arcessituraque, quas morari videt, ministras suas intro abit. Horum ea quae prima sunt commune habent vitium prologorum Euripidis, ut [p. VIII] narrentur res notae; nec sit in iis quod animos moveat audientium. Caetera aptius sunt et doctius inventa. Nam somnio, quod vidit, et ipsius et spectatorum cogitationes ad Orestem advertuntur, ne is postea casu et fortuito advenire videatur. Somnium autem non debebat eiusmodi esse, ut speraret adventum fratris: sic enim nec metus excitari ille poterat, in quo sumus, quum videmus eo rem adduci, ut non multum absit, quin soror fratrem nescia atrocissimae morti consecret, neque agnitio tantopere commoveret animos spectatorum, sperato exspectatoque adventu Orestis. Quaerat vero aliquis fortasse, cur, quum columnam ruente domo unam superstitem manere in somnis viderit, de fratre, ac non de patre cogitet. Id ne fieri possit partim per rem ipsam, partim a poeta cautum est. Per rem ipsam, quod fratrem, quem infantem Argis reliquerat, magis amabat Iphigenia quam patrem, cuius animum minime paternum experta erat Aulide; per poetam, quum et flavas comas enatas ex capite columnae dixit, quod aperte iuvenis speciem praebet, et columnam domus marem filium esse Iphigeniam dicentem fecit. Simul autem, quo magis postea, ubi congressa est Iphigenia cum Oreste et Pylade, omnia ad Orestem referri possent, nec de Pylade importunius quaerendi necessitas afferretur, curavit poeta, ut nominari alter illorum Pylades posset, nec tamen eum sibi affinem esse sciret Iphigenia. Itaque fecit eam cogitantem secum, an forte quis alius illo somnio significaretur; at nullum esse, qui indicari potuerit, siquidem Strophius, cui nupta erat soror Agamemnonis, illo saltem tempore, quo Aulidem abducta sit, non habuerit [p. IX] filium. Denique etiam opportunissimum erat illud somnium ad chorum ita introducendum, is ut lugubria canere possit, quibus eo aptior locus erat in principio fabulae, quod <?page no="146"?> 146 Beilagen eventus rerum deinde optatus succedit. Verum quamvis haec docte sint periteque inventa, tamen Graecum poetam longe superavit Germanicus. Is in prologo fecit Iphigeniam nihil nisi querentem quod patria et cognatis careat, obiterque tactis rebus Aulide gestis precantem ab dea ut se suis restituat. Nulla in his frigida narratio, nihil docte callideque excogitatum: sed omnia talia, ut simul et moveant animum, et indicent quo tendat fabula, et mentem aperiant virginis pie deorum quamvis dura decreta reverentis. Nec tamen omisit Goethius illa, quae ab Euripide in principio prologi enarrata Germanis multo magis quam Graecis exponi oportebat: sed inseruit eo loco eaque ratione, ut, quum apud Euripidem nullam ad animos commovendos vim habeant, maximam habeant ac plane divinam in Germanica fabula. Prorsus enim deserens vestigia Euripidis Thoantem fecit connubium expetere Iphigeniae, idque primo per nuncium, virum gravem et sapientem. Qui postquam repulsam tulit, ipse rex, victor reversus ex bello in quo filius eius ceciderat, ita uti et aetatem eius dignitatemque decet et moribus consentaneum est antiquorum, non mollibus blanditiis et precibus, sed tranquilla oratione offert tori consortium rebus divinis destinatae virgini. Ibi vero illa, quum adhuc celasset originem suam, declinare studet connubium, quo sibi reditum in patriam intercludi videt, detestataque ex domo se ortam esse dicit, tandemque et ipsa quae [p. X] sit fatetur, et impia narrat secelerosaque facta maiorum suorum: qua scena nihil fingi potest praeclarius. Revertor ad Euripidem. Apud hunc, ubi Iphigenia scenam reliquit, accedunt ad templum Orestes et Pylades, opportunitatem simulacri auferendi circumspicientes. Difficultatem autem rei et periculi magnitudinem videns Orestes, spe abiecta domum redire mavult: sed a Pylade admonitus, non vanum fore Apollinis oraculum, noctuque rem perfici posse, manere et audere aliquid constituit. Huius scenae necessitatem ipsum argumentum fabulae afferebat, quia non casu ad haec loca delati sunt, sed venerunt Apollinis iussu simulacrum Dianae in Graeciam asportaturi. Sed est haec scena etiam accommodate ad mores Graecorum inventa, dolos et vafritiam amantium, apteque composita ad ingenium fortunamque iuvenum ostendendam, nec vacua dictis, quae animos commoveant. Nam Orestes, videns tandem templum illud, in quo omnis ei spes salutis posita est, simul autem intelligens tam munitum esse eum locum, ut se exsequi posse iussa dei desperet, miserabili oratione ipsum alloquitur Apollinem, conquerens, quod in apertam missus sit perniciem, petensque consilium a Pylade. Consentaneum est autem Orestem, insaniae crebris accessionibus fatigatum, timidiorem esse, quam qui integris viribus fruebatur Pyladem. Postquam abierunt Orestes et Pylades, redit in scenam Iphigenia inferias factura fratri, quem mortuum esse putat, ministrante choro. Ibi lugubribus anapaestis et fratris obitum et sua tristia fata succinente choro deplorat. Id canticum, veritate sen[p. XI]tentiarum magis quam iis virtutibus insigne, quae magni <?page no="147"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 147 ingenii documenta sint, accomodatum quidem est consilio poetae, qui persuasum de morte Orestis esse voluit Iphigeniae, sed habet, quae parum veri similia esse videantur. Exspectamus enim ut et quaerat chorus quid istud somnii sit, quo tam certo credat obiisse fratrem, et vero etiam consoletur eam, moneatque fallacia saepe esse visa somniorum. At neutrum facit. Repeti enim, credo, nolebat poeta, quae in prologo dicta essent de somnio. Tum vero aut gnarum iam eorum quae videre sibi visa esset Iphigenia introducere chorum debebat, aut in prologo breviter iniecta mentione somnii nunc id explicate choro exponentem facere Iphigeniam. Consolatio autem, quam desideramus, tantum aberat ut obfuerit eius consilio, ut ea uti potuerit efficacissime, si Iphigenia adspernaretur omne solatium vel prae amoris in Orestem magnitudine vel quod deos perdere gentem crederet tot Pelopis, Atrei, Thyestae, Agamemnonis impie factis contaminatam. Finito cantico venit bubulcus, duos Graecos adesse nuncians, conspectos in rupibus, et ab aliis pro diis habitos, aliis naufragos esse visos, quorum altero, quum eos capere vellent, insania correpto Furiasque se cernere clamitante pavidi illo spectaculo pastores stupuerint, mox autem, ubi furens ille stricto gladio in armenta impetum fecerit, concurrerint ad opem gregibus suis ferendam, acrique tandem certamine bellicosos iuvenes armis spoliatos ad regem adduxerint, quem eos huc mactandos esse missurum. Egregia haec omnis narratio est, tum rerum atrocium ac mirabilium accurata verbisque [p. XII] aptissimis exornata descriptione, tum quod fortia facta duorum adversus magnam multitudinem pastorum se strenue defendentium advertunt animum audientis, implentque exspectatione qui sint illi, quos non aliquos de vulgo, sed generosae stirpis propaginem esse oporteat. Apteque illud quoque inventum est, quod alterum illorum iuvenum Pyladem vocari audivit pastor iste, ut, quum Strophii nullum filium norit Iphigenia, de Pyladae istius origine quaerendi nulla caussa sit, tantoque magis attentio animi ad alterum convertatur, qui detrectat edere nomen suum. Eximia arte etiam quae sequitur scena facta est. Nam quum ultimis nuncii verbis monita esset Iphigenia opportunitatem sibi dari ulciscendi sacrificii Aulidensis mactandis advenis e Graecia, iam illa, fratrem credens mortuum esse, invidens felicioribus, exacerbatur, indignataque quod non Helena, non Menelaus infortunii sui auctores ad Tauros aliquando sint delati, recordatur malorum suorum, recordatur precum, quibus frustra oraverit patrem ne se interficeret; nuptiarum, quarum falsa specie Aulidem sit vocata; amplexuum, quibus nec sorori nec fratri valedixerit, ut brevi se redituram sperans. Sed subita est haec animi commotio, neque in obstinatam crudelitatem abit. Nam ubi in mentem venit, quam beata ex vita patriae domus sublatus sit Orestes, dolore mollita languescit ad saevitiam, qua usura in hospites erat, reputatque illam sacrificiorum immanitatem non ab dea, sed ab hominibus barbaris, sanguinem peregrinorum expetentibus, esse institutam. Relinquit igitur scenam ita, ut appareat non par- <?page no="148"?> 148 Beilagen cere quidem velle advenis, sed tamen magis quoniam in [p. XIII] necessitatem inciderint pereundi, quam ipsa quod gaudeat illo crudeli deae ministerio. Iam chorus, ex captivis ille mulieribus Graecis constans, auditis fortiter factis advenarum, quid aliud quam cogitet secum qui sint tandem illi, quove casu ad inhospitalem terram delati, optetque ut Helena potius huc appellat, magis vero etiam, ut venerit qui aliquid de patria sua nunciet, vel ipsas hasce captivas ex tristi apud barbaros servitio liberet? Id carmen, summa sententiarum aptissimum ad animos exspectatione iuvenum illorum implendos, Euripides more suo oneravit magis quam ornavit descriptione Nereidum ad propositum nihil pertinente. Adducuntur nunc Orestes et Pylades vincti. Ministros demere iis vincula introque abire et parare sacra iubet Iphigenia. Tum postquam tacens aliquantisper intuita est hospites, populares suos, iuvenes adspectu non ignobiles, plena adhuc fratris quo se orbatam esse credit recordatione, parentes, sororemque, si quam habeant illi, miseratur, talibus carituram fratribus, cogitansque quam improvisum hominibus veniat infortunium, clementer eos alloquitur, quaeritque qui sint, quos longo itinere ad aeternam a patria absentiam huc fata detulerint. Haec ut ex intima animi natura petita sunt, ita non possunt non excitare eosdem in audientibus sensus. Neque vero haec tantum, sed etiam quae sequuntur eximie ad veritatis exemplum expressa sunt, eoque magis movent et ipsos qui colloquuntur inter se et eos qui illa audiunt, suspensosque tenent inter spem metumque. Orestes moriendi necessitatem et sibi et Pyladi adesse videns, monet Iphigeniam, ne miserando mi[p. XIV]nuere crudelitatem officii, quique desperent salutem magis affligere velit: scire eos, qua sibi morte sit pereundum. Igitur Iphigenia uter eorum Pylades vocetur quaerit; indicatoque etiam cognoscere patriam cupit. Pudet Orestem Argivos esse fateri: itaque declinat responsum. Porro quaerenti fratresne sint, amore, non ortu esse dicit. Nomen ipsius exquirenti, eodem pudore cohibitus, infelicem se, si vero nomine vocandus sit, appellandum esse respondet. Amplius instanti, ignotus si pereat, contemptu cariturum ait. Exprobranti superbiam, c o r p u s m e u m , inquit, n o n n o m e n s a c r i f i c a b i s , monere eam volens, ut faciat officium suum, nec quaerat quod ad eam non pertineat. Denique quum de patria interrogatus ne hanc quidem nominat, blande illa hoc sibi ut gratiam petit. Tum vero cedens, quia eam non levitate quadam aut vana res alienas cognoscendi cupiditate, sed humano erga miseros affectu quaerere videt, Argos nominat, animadvertensque quantopere illa hoc dicto commoveatur, etiam felices quondam Mycenas sibi natale solum esse dicit, ampliusque blanda voce petenti, ut ad quaestiones suas respondeat, adnuit, vix numerandum esse significans, si hoc suis malis accedat. Optatum adesse Argis ubi asseveravit Iphigenia, n o n m i h i , inquit: a n t i b i , i d t u v i d e . Quae sententia gravis Iphigeniae, mactaturae obsequiosum hospitem, gravior spectatoribus est, videntibus quid fratri ab sorore immineat. Tum Iphigenia anxia et <?page no="149"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 149 plena metu, ut natura fert, quum veremur ne mala potius quam bona audituri simus, non statim de carissimis quaerit, sed paullatim magis magisque ad ea accedit, [p. XV] in quibus ei aut spes aut desperatio parata est, de Troia, de Helena, de reditu Graecorum interrogans, atque de hoc quidem timida sic universe, quoniam sponte de summi ducis fortuna aliquid dicturum esse Orestem putat. Sed ille id refugiens, q u a m , inquit, o m n i a s i m u l c o m p r e h e n d i s . Ad quae illa tristis: h o c f r u i c u p i o , p r i u s q u a m t u m o r i a r e . Satisfacturum ille se huic miserantis desiderio ostendit. Igitur amplius pergit de iis, quorum artibus periit in Aulide, de Calchante et Ulixe, tum de eo, cui coniux dolose destinata erat, Achille, de quibus rebus tam distincte percunctante stupet Orestes, quaeritque quae sit. Illa, pari ut Orestes pudore genus suum nominare verita, ex Graecia se esse fatetur, tenera aetate huc translatam. Tum denique illa de patre, sed prae metu quid auditura sit non cum nomine appellans, q u i d a u t e m d u x , inquit, q u e m f e l i c e m p r a e d i c a n t ? Id vehementer movet Orestem: q u i s ? inquit: n o n e n i m , q u e m e g o q u i d e m n o v i , i n t e r f e l i c e s e s t . Ad haec illa subtimide: a t f e r e b a t u r q u i d a m A t r e i f i l i u s A g a m e m n o e s s e . Ibi horrore ex gentis suae malorum memoria correptus Orestes, n e s c i o , inquit: m i t t e h u n c s e r m o n e m , m u l i e r . Anxie vero petenti, orantique per deos, ut pergat, perisse eum dicit: et sic porro paullatim reliqua, occisum esse ab uxore, uxorem interfectam a filio fatetur. De subole Agamemnonis interrogatus, Electram superstitem esse dicit; de se ipsa quum quaesivit, mortuam perhiberi ait; postremo de filio Agamemnonis quaerenti vivere eum, sed vagum errare dicit. Ita illa vanum fuisse somnium suum in[p. XVI]telligit, nec tamen amplius percunctandi ei relicta est occasio, quoniam de vago atque extorri nihil compertum esse hospiti credit. Vanitatem somnii Orestes confirmat eo, quod ne dii quidem qui sapientissimi habeantur somniis sint veraciores, ut, qui caetera non stultus divinationibus et oraculis fidat, nihil nisi mala inveniat. Ibi in mentem venit Iphigeniae, quum hic hospes, quicum nunc colloquuta est, Argivus sit noritque Mycenas, posse eum illuc cum litteris mitti, dummodo alter victima cadat Dianae. Id vero detrectat Orestes, se eum esse dicens, quem fata trahant, Pyladem autem dumtaxat ut amicum in societatem venisse malorum: quare illum Argos mitti, se autem mactari aequum censet. Admirata illa generosum iuvenis animum, optansque ut talis sit quem superstitem habeat frater, nam ne se quidem fratre carere, nisi quod eum non ante oculos videat, consentit, sciscitantique quomodo sacrificium peragatur et an ipsa eum sit mactatura, ad singula respondet, quumque ille dolet quod non sibi contingat ab sorore ossa sua condi, ipsa quoque dolore tacta omnem quem possit populari suo promittit inferiarum honorem. Tum abit allatura litteras, sperans gratum se fratri nuncium missuram. Haec quis non videat quantis spei, timoris, horroris, miserationis fluctibus agitare debeant animos audientium? <?page no="150"?> 150 Beilagen Itaque quid aliud chorus, qui haec spectavit atque audivit, quam utriusque amicorum sortem deploret, ambigens uter sit infelicior, is cui moriendum sit, an ille qui vitam et reditum in patriam morte lucretur amici? Res ipsa ferebat, ut illi duo mirarentur, quod mulier peregrina tam accurate teneret res Argivas. [p. XVII] Unde Oresti Argivam esse suspicanti assentitur Pylades, sed, monens regum fata facile omnibus innotescere, aliud eam dixisse ait, quod ipse ferre non debeat, quia et turpe sibi sit, ut ignavum, pereunte amico domum redire, nec vacuum suspicione insidiarum, ut regni heres fieret, structarum. Quare una mori cum Oreste vult. Sic dum iterum de ambobus solliciti sumus, Pyladae quoque constantiam et generosam amicitiam admirantes, iis eum argumentis refutat Orestes, quibus non potest resistere: se parricidio impiatum, illum innocentem esse; se impuram, illum puram habere domum: illum ex Electra prolem suscepturum, et sic sibi quoque nec nomen nec patriam domum exstinctum iri: postremo mandat ut tumulum sibi exstruat memoriamque conservet; et nunciet ab Argiva se muliere esse immolatum; ut tueatur orbatam cognatis sororem suam Electram: denique amico a pueritia sodali, fidoque in summis periculis, valedicit. His victus argumentis promittit Pylades se quod petierit amicus facturum: sed tamen nondum plane desperandum esse monet, quod saepe etiam in summo discrimine mutetur fortuna. Mirifice haec quoque scena ad miserationem facta est, egregia etiam eo, quod omnia ad Orestis interitum, de quo praecipue solliciti sumus, tendunt, exspectatione in fine scenae, quum adhuc sperantem videmus Pyladem, novum incrementum capiente. Colloquio amicorum finem facit reditus Iphigeniae epistolam ferentis. Satellites illa intro abire iubet, quo sola cum hospitibus et choro relinquatur. Id prudenter sic instituit poeta, quo quae deinceps aguntur non alios testes haberent, quam quibus illa tuto committi possent. Verens autem Iphigenia [p. XVIII] ne Pylades, salute impetrata, negligat perferre epistolam, iurato eum affirmare vult, se litteras Argis redditurum esse ei ad quem sint scriptae. Paciscitur cum ea Orestes, ut ipsa vicissim iuret, curaturam ille ut vivus ex his locis abeat. Metuendum erat enim ne rex id impediturus esset. Itaque Iphigenia, paullum tacita secum hoc recordata, effecturam spondet. Iurant igitur ambo: sed Pylades, ut virum prudentem decebat, videns naufragio perire posse epistolam, hoc ut sibi sine fraude sit postulat. Eo fit, ut Iphigenia, cuius plurimum interest ne sibi nuncii Argos mittendi opportunitas pereat, recitare quae scripta sint in tabellis constituat, ut, si illae intereant, ore referre Pylades quod inerat possit. Hoc simplici et ex re ipsa quasi sponte nato invento illud consequutus est Euripides, ut, quo minus Iphigenia suspicatur fratrem, ad quem scripsit epistolam, coram adstare et ista praesentem audire, eo vehementius quum Orestes commoveatur, tum spectatores hac fortunae conversionis mutatione trepident. Ubi Oresti Agamemnonis filio sororem Iphigeniam non mortuam, sed viventem scribere ille <?page no="151"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 151 audivit, perculsus vehementissime, u b i e s t i l l a ? a n m o r t u a r e v i x i t ? exclamat. Illa vero ignara, cur hoc quaerat, h a e c q u a m v i d e s , inquit: n e m e i n t e r p e l l a . Quum pergit scripta recitare, iterum illo iterumque exclamante quum quaerit quid in re aliena deos appellet, iam omnia penitus audire cupiens Orestes, n i h i l e s t , inquit: a l i u d m i h i e r a t i n m e n t e . Audita tota epistola exsultans Pylades quod tam facile exsequi possit mandata, amico, nomine eum appellans, sororis reddit litteras. Ille accipit, perfususque gaudio amplecti vult sororem: quae stu[p. XIX]pens re incredibili retro cedit, dubitans, mirans, requirens documenta: quae ille quum minime dubia memoravit, tum vero amplectitur ipsa, ingentemque in laetitiam effusa modo insperatum gaudium, modo pristina sua mala, modo periculum ex quo servata est mactandi carissimi fratris, sedatius interloquente fratre, persequitur. Monente tandem Pylade, tempus esse abstinere ab laetitiae et amoris testificationibus, curareque ut salvi e barbaris evadant, non ante se obsequuturam dicit Iphigenia, quam de Electra caeterisque qui sibi cari sint facta sit certior. Id sicuti naturae animi humani consentaneum, ita ad reliquam partem fabulae necessarium est. Postquam enim Orestes de se, suisque laboribus, et quomodo quaque caussa Apollinis iussu hic adsit exposuit, Iphigenia et deae iram verita, si signum eius prodat, et sibi mortem a Thoante metuens, rationem quaerit, qua Orestes ipsam simul cum statua deae hinc possit abducere. Varia frustra proponente Oreste denique ipsa dolum comminiscitur, ut simulacrum quasi a parricida contaminatum arcanis sacris in mari purgatura in navem imponat, ipsaque cum Oreste et Pylade aufugiat. Id igitur, silentium promittente choro, constituunt. Quae omnia et probabiliter inventa et verbis sententiisque aptissime exornata esse non est quod explicate demonstremus. Quod si forte quis putet, Iphigeniae, ubi Pyladem videt litteras amico tradere, eumque ut fratrem eius salutare, id suspectum videri debuisse, quasi confictum ex tempore, quo parcere eam velit vitae eius quem fratrem suum esse audiat: facile vel paullum ea de re cogitanti appareat necesse est ne in mentem quidem hoc venire Iphigeniae potuisse. Nam non solum plane [p. XX] incredibilis illa temeritas atque audacia esset, si Pylades, statim computato tempore, quod ab Aulidensi sacrificio effluxisset, infantem tunc fuisse Orestem et proinde vix a facie notum Iphigeniae esse posse perspexisset, eaque re ad fraudem faciendam uteretur; sed etiam Orestem tam infortunatum, tam vitae satiatum, tam generose se potius quam amicum morti tradere paratum vidit Iphigenia, ut alia omnia potius quam istiusmodi astutiam et fallaciam possit suspicari. Finito hoc actu chorus carmen canit, cuius summa bene rei convenit: sed hoc quoque canticum poeta nimia ubertate inutilium verborum instruxit. Desiderium suum patriae declarant hae mulieres, ex qua bello captae huc venerunt, beatam praedicantes redituram illuc Iphigeniam, optantesque ut reverti sibi <?page no="152"?> 152 Beilagen quoque ad illa loca liceat, in quibus olim virgines saltando inter se ac vestium nitore comarumque ornatu certaverint. Graeca tragoedia non eam est legem sequuta, quam sibi multi recentiorum tragicorum, non poesi animos suaviter afficere, sed exspectationem theatri in exitum rerum intentam explere volentes scripserunt, ut ea quae maximam vim ad commovendos spectatores haberent differrent usque ad ipsum finem tragoediae, subitaque solutione nodi abrupto filo auditores quasi attonitos destituerent. Hinc in hac quoque Euripidis tragoedia, ut in plerisque veterum, remissior est motus animorum in posteriore parte fabulae, qua confecto quod summum erat res denique plene ad exitum perducitur. Potissimum erat agnitio fratris et sororis, ex qua et salus Orestis et statuae ablatio pendebat, cui coniunctissimus est etiam Iphigeniae in patriam reditus. Sed postquam [p. XXI] sunt agniti, etiam quomodo ablatum esset simulacrum ipsique salvi evasissent erat declarandum. Itaque primo quem inter se composuerant dolum perfici videmus, callide Iphigenia persuadente Thoanti de arcana lustratione statuae. Cuiuismodi artibus quum valde delectarentur Graeci, cupide haec spectata esse credibile est. Quae quoniam fiunt, ut impleatur oraculum Apollinis, chorus sanctissimi illius oraculi memoriam a prima eius origine persequitur. Mox satellitum unus, qui captivis custos additus erat, relictus ab Iphigenia procul a mari, adest regem quaerens, quem chorus negat in templo esse, quo Iphigeniae, dum eum nuncius alibi quaerat, plus spatii ad fugam sit. Decipi se sentiens ille, ipse pultat fores templi, egressoque regi quomodo illi clam cum Iphigenia et simulacro deae aufugere voluerint, quomodo impediti fuerint, quomodo nunc navi fluctibus ad litus repulsa inter scopulos haereant exponit. Itaque rex illuc et equites et naves mitti iubet, ut capiat profugos et ad supplicium trahat. Apertum est, hunc dignum vindice nodum esse, ut recte intersit deus. Nam quid faceret poeta? Num introduceret nuncium, qui fugisse illos cum Iphigenia et simulacro deae referret? At is turpis rei exitus ac potius nullus fuisset. Neque enim Thoas non potuisset vindictam parare et bello petere raptam statuam. Id vero famae repugnabat, quae nulla de bello ob illum raptum suscepto exstabat. An capti qui fugerant ad regem reducerentur? Ita vero et fugae inventum inane erat, potuerantque capi antequam fugerent, et capti puniri debebant. Itaque ne sic quidem is qui debebat exitus facti esset consequutus. Omnibus igitur modis quum ne[p. XXII]cessaria esset dei interventio, sapienter poeta rem sic instituit, ut eo ipso momento, quo summum fugientibus periculum imminet, Minerva de caelo veniat, reprimens iustam iram Thoantis, fataque exponens signum Dianae in Graeciam deportari volentia, poscensque ut et Orestes atque Iphigenia et post eos captivae mulieres illaesae in patriam revertantur. Sic neque a Thoante, viro pio nec deorum irreverente, quidquam impedimenti relinquitur, neque illorum, qui oraculum Apollinis impleverunt, aut fortuna incerta manet, aut fallacia coniuncta esse <?page no="153"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 153 cum perfidia atque impietate videtur. Deo autem quum opus esset, etsi prae omnibus vel Diana, cuius sacra in Graeciam transferrentur, vel Apollo, cuius iussa statua esset ablata, in mentem venire poetae debebant, tamen ille Minervam praetulit, ut deam tutelarem Athenarum, quarum in ditione situs esset locus ille, qui recepturus esset signum Dianae Tauricae. Quod nisi in agrum Atheniensem transferri signum illud oportuisset, non apte introduxisset Minervam: nunc loco illo opportunitatem praebente praeferenda caeteris erat ea dea, quam ut suae civitatis praesidem Athenienses colebant. Aliam viam ingressus est Goethius. Is haec duo videtur proposita habuisse, ut exspectationem usque ad finem fabulae vehementer suspensam teneret, vigente etiam in postrema parte motu animorum; et ut summae virtutis exempla in hominibus sexu, aetate, munere diversis exhiberet. Itaque quum, ut supra dictum est, Arcas, administer et amicus Thoantis, vir gravis et prudens, monens Iphigeniam ut connubium petenti regi tandem obsequatur, repulsam tulisset, rex ipse ubi petitor qua [p. XXIII] decorum erat dignitate venit, urgeri se videns Iphigenia, primum genere suo aperiendo deterrere eum conatur: quod ubi frustra esse videt, vitam Dianae dicatam praetendit. Tum rex aegre ferens repulsam, filii in bello interitum intermissioni sacrificiorum, quibus Iphigeniae humanitas obstiterit, tribuens, duos captivos missurum se dicit, quos antiquo more mactari iubeat. Postquam abiit rex, Iphigenia eximio carmine orat Dianam, ut ab se avertat homines immolandi necessitatem: cuiusmodi alia quoque carmina, quibus quartus actus incipit et finitur, instar eorum sunt canticorum, quae in Graeca tragoedia chorus canit. In secundo actu prodeunt in scenam Orestes et Pylades, non, ut apud Euripidem, statuae auferendae opportunitatem circumspicientes, sed Orestes de salute desperans, Pylades non abiiciens spem, ac potius vel audendum aliquid vel dolo tentandum censens. Haec scena etsi non multum promovet, tamen inventione et sententiis praeclara est, egregieque ingenia et mores utriusque iuvenis declarat. Illud tamen non video quomodo defendi possit, quod homines captivi, manus catenis vincti, sine custodibus adsunt, liberamque veniendi abeundique potestatem habent. Adveniente Iphigenia secedere Pylades Orestem iubet. Pyladem catenis liberat Iphigenia, sentiens popularem suum esse: vicissimque ille, Graecae vocis sono praeter opinionem gavisus, quaerit, quae sit. Satis illa esse dicente, si sacerdotem esse accipiat, ipsum edisserere quis et unde sociusque eius venerint iubet. Ille Cretenses esse refert, Adrasti filios, se Cephalum, illum Laodamantem, quem fratre occiso a Furiarum persequutionibus requiem in templo Dianae inventurum Apollo sit vaticinatus. Aperte in his Ho[p. XXIV]merum imitatus est Goethius, sed plane id sine caussa, eoque non recte fecit. Nam neque cur celet vera Pylades quidquam inveniri potest, et, si ista sunt celanda, cur simillima iis quae celat refert? Ignota enim mulier utrum Laodamantem Cretensem occiso <?page no="154"?> 154 Beilagen fratre, an Argivum Orestem propter interfectionem matris a Furiis agitari audiat, perinde est, nec quidquam differt. Multo igitur consideratius aptiusque Euripides, apud quem Orestes celat genus suum, quia pudet, quod Agamemnonis summi Graecorum ducis filius non in bello honesta morte, sed captivus a barbaris turpi sacrificio ut hostia cadat. Caetera in illa scena, quibus Iphigenia patris interitum ab uxore propter interfectam Aulide Iphigeniam cognoscit, egregia sunt: pariterque hoc, quod quum his auditis illa prae dolore caput veste tegens abiit, aliquid spei ex eius commotione affulget Pyladae. Magis etiam eminet tertii actus prima scena, in qua amplius de gente sua Oreste sciscitanti Iphigeniae ad singula sic ille respondet, ut vehementissime inter gaudium et horrorem fluctuent animi audientium. Sed quod Orestis dira sorte accepta nondum sciens ipsum illum qui haec referat Orestem esse, simili in malo hunc hospitem versari dicit Iphigenia, ille autem, indignatus quod ficta narraverit Pylades, se esse Orestem profitetur, id ego quidem et quae deinceps sequuntur, etsi orationis et sententiarum gravitatem valde admiror, tamen minime probem aut laudem. Primum enim commentum illud Pyladae, quod et sine caussa et parum apte inventum esse supra diximus, propterea insertum esse apparet, ut in pari caussa fictum illum [p. XXV] Laodamentem esse opinata Iphigenia confessionem qui sit ab Oreste eliciat. At ea parum sufficiens caussa est. Nam neque celatum velle nomen suum Orestem usquam indicatum est, neque ingenui mores eius animusque ad extrema patienda paratus dubitari sinunt, quin commoveri sentiens Iphigeniam malis Orestis usquam indicatum est, neque ingenui mores eius animusque ad extrema patienda paratus dubitari sinunt, quin commoveri sentiens Iphigeniam malis Orestis ultro se eum esse dicturus fuerit. Deinde quum ille edito nomine suo ferocius mortem expetens paullum secessit, Iphigenia, quam attonitam stare ac tum vehementissimo gaudii impetu corripi exspectamus, multo quam veri simile est tranquilliore oratione ob expletam spem suam diis gratias agit. Quae etsi monita erat a Pylade, ut Furiarum accessionibus obnoxium socium suum caute et leniter tractaret, tamen ad primam auditionem nominis id oblivisci, praesertim secedente illo, debebat, deinde autem secum recordari, seque ipsa monere, ut parcat misero, nec statim et improvide se sororem, quam mortuam putet, esse prodat. Non satis est enim facere id illam, sed etiam cur faciat quod contra naturam est patere debet spectatoribus. Igitur ubi rursum accessit Orestes vehementer animo perturbatus, dum paullatim Iphigenia quae ipsa sit aperit, magis ille magisque agitatur neque credens neque non credens, ut neque insanire eum, nec tamen procul ab insania abesse appareat, usque dum confectus illis animi motibus collabitur. Haec etsi docte periteque et inventa sunt et verbis aptissime declarata: tamen his factis periit vis illa quam agnitio in Euripidis fabula habet. Nam apud Goethium Orestes sororem simul et agnoscit et non agnoscit. Licetque hoc <?page no="155"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 155 quoque in exemplo animadvertere, quod multis in veterum tragoediis primum auctorem, qui argumentum maxima simpli[p. XXVI]citate et convenientissime naturae exposuit, superiorem esse iis, qui post eum, quoniam planissima atque optima sibi praerepta videbant, minus probabilia excogitare cogebantur. Hinc etiam quae sequuntur duae scenae, licet dictis sententiisque admirabiles sint, ad cursum actionis non multum conferunt, sed necessariae sunt propter praegressa. Nam in prima earum expergiscens ex animi deliquio Orestes apud inferos esse sibi videtur, in altera autem liberatum se a Furiis esse sentiens non agnoscit sororem, sed ut de agnita iam loquitur. In quarti actus initio anxie sollicitam videmus Iphigeniam de sorte Orestis et Pyladis suique cuiusdam mendacii conscientia turbatam. Id secus factum est, quam antiquus poeta facturus erat. Is curavisset, ut aut scirent iam spectatores aut nunc cognoscerent quid istud esset mendacii. Nam etiam si non diceret Iphigenia quid mox fingere vellet, tamen suggestum aliquid doli sibi a Pylade esse indicare debebat. Nunc id demum ex eius cum Arcade colloquio cognoscimus, cui eadem, quae apud Euripidem de purgando in mari simulacro Dianae exponit. Illud vero aptissime institutum, ut Arcas iterum Iphigeniam et de connubio cum Thoante et de clementia atque humanitate, qua ille semper erga eam usus sit, admoneat. Quo illa, quum abiit Arcas, magis angitur doli quem parat turpitudine. Venit deinde Pylades, cui ablaturo statuam, rogantique an nunciaverit regi quod suasisset, haesitans Iphigenia, fecisse se id quidem respondet, sed exspectandum esse responsum regis, priusquam sacra quae finxerit peragantur. Aucta ita rei difficultate quid porro faciendum sit docet Pylades, dubitantemque et ancipitem [p. XXVII] inter periculum hospitum et turpitudinem mendacii propemodum ad suam perducit sententiam. Ita animo in diversa distracto reputans impietatem in deam, si simulacrum eius abripi patiatur, ingrataeque mentis opprobrium, si regem optime de se meritum fallat, auxilium deorum implorat, Parcarum recordata carmen, quod cecinerint Tantali posterorum ex aurea inter deos sede expulsi poenas praesagientes. Eximie finito quarto actu quinti primae duae scenae parum necessariae videntur, quarum in prima Arcas regi nunciat suspectos fugae esse hospites, rex autem insidias iis locari iubet; in altera rex solus iram suam in Iphigeniam prodit. Sequitur deinde colloquium Iphigeniae cum rege, egregium illud quidem, sed hoc neque ex Graecorum consuetudine, neque ad legem artis poeticae factum, quod quaerente rege qui sint hospites illi, trepidans Iphigenia titubante voce esse eos, videri, putare se Graecos esse dicit. Est haec quidem imitatio naturae, sed non omnia imitari decet poetam, quem oportet quae vulgaria et humilia sunt, in quibus est haesitatio vocis et revocatio atque correctio, decentiorem et graviorem in formam redigere. Mox confirmato consilio, mendacii conscientiam verita, fiduciamque habens magno regis animo, ingenue fatetur qui sint hospi- <?page no="156"?> 156 Beilagen tes: inclinantque rege ad dignum generoso viro consilium, armatus adest Orestes: sed ferro cernere paratos gravibus monitis retinet Iphigenia: advenientibusque etiam Pylade et Arcade armatis, dum utriusque copiae inter se pugnant, rex pariterque Orestes cessare pugnam iubent, quamdiu duces colloquantur. Rogatus igitur Orestes an sit ille filius Agamemnonis, ubi id se pugnando cum [p. XXVIII] fortissimo Scytharum comprobaturum dixit ea lege ut, si vincat, abrogentur hospitum immolationes, rexque ipse cum eo dimicaturus est, pacare eos conatur utrique metuens Iphigenia: sed rex, etiam si ille verus Orestes sit, tamen armis decernendum contendit, quia simulacrum deae rapturi venerint hospites. Tum vero solvit nodum Orestes, intelligens iam mentem oraculi, quod sororem non Apollinis sed Orestis abduci iusserit: itaque statuam missam faciens sola cum Iphigenia ut sibi domum abire liceat postulat, oranteque simul ipsa quoque Iphigenia rex a b i t e i g i t u r inquit. Quem aegre nec sine indignatione consentire videns Iphigenia enixe orat ut se non inimica mente dimittet. Cedens ille precibus v a l e t e dicit. In hac scena, quae plena motus est, dictorumque gravitate et luminibus sententiarum egregia, tamen illud postremum v a l e t e vehementer laedit animum audientis, quod nec Graecae tragoediae consuetudini, neque omnino legi artis poeticae convenit. Finem enim poematis talem esse convenit, praesertim in tragoedia, ut composito motu requiescat animus, nec violenter repressa reticeantur, quae eloqui poetam oportebat. Quae ille si non eloquitur, quid aliud quam imperfectam relinquit et fine destitutam tragoediam? Graecus poeta non illud aegre extortum v a l e t e posuisset, sed Thoantem fecisset sic, ut virum magnanimum decebat, aliquot versibus dicentem, se, quamvis invitus dimittat Iphigeniam, tamen, fatis deorumque voluntati cedentem, bonis cum votis et ipsam et quem invenisset fratrem domum iubere revertere. […] [VI] 211 [Diese Tragödie] gehört […] zu den hervorragendsten, die Euripides geschaffen hat, und sie genau kennenzulernen, sind besonders wir Deutschen eingeladen; hat doch unser größter Dichter, Goethe, dasselbe Sujet auf die Bühne gebracht, wobei er mit dem Dichter aus Athen derart wetteiferte, dass wir einen Griechen zu hören meinen, aber einen solchen, der, [VII] als ein Gebildeter unsrer Zeit, nicht nur von einer reineren und höheren Sittlichkeit geprägt ist, sondern auch den Stoff zur Unterhaltung mehr aus der Kraft und Fülle der Gedanken als aus schmückenden Worten und metrischer Vielfalt gewinnt. Jeder der beiden Dichter ist auf seine Weise bewundernswert; jeder von beiden hat nach sorgfältiger Abwägung der Natur des Gegenstandes die Handlung erfunden und ausgearbeitet; der eine jedoch, indem er der überlieferten Sage folgte, 211 Übersetzung: Christoph Michel (Revision: Eva Tichy) <?page no="157"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 157 die zu verändern [ihm] die Ehrfurcht verbot, der andere, indem er, durch keinerlei Einschränkungen gehemmt, das gestaltete, was er für geeignet hielt. Denn das muss wer jene beiden Tragödien miteinander vergleicht zu allererst beachten: dass Euripides dafür zu sorgen hatte, dass nicht nur Iphigenie von Tauris weggebracht würde, sondern auch das Bild der Diana. Denn so überlieferte es die Sage, und jenes Standbild verehrten die Bewohner Atticas in Halae, wohin es, wie man glaubte, von Orest gebracht worden war. Goethe aber konnte es bei der Rückkehr nur der Iphigenie belassen, indem er erkannte: wenn jene Statue bei den Taurern bliebe, werde der Knoten sich gerade dadurch lösen lassen, dass zu ihm die Zweideutigkeit des Orakels, ‚die Schwester‘ werde auf Geheiß des Apollo zurückgeführt, beigetragen habe. Aber sehen wir uns die Handlungsentwürfe beider Tragödien jeweils im Ganzen an. Den Prolog spricht bei beiden Dichtern Iphigenie, nachdem sie allein die Bühne betreten hat. Bei Euripides, in dessen Stück die Taurer wissen, dass sie Agamemnons Tochter ist, berichtet sie über ihre Herkunft und wie sie an diesen Ort gekommen sei, und sie spricht offen aus, dass sie, mit der Aufsicht über die grausamen Menschenopfer betraut, vor dieser Ungeheuerlichkeit zurückschrecke und auch nicht selbst die beiden Fremden hinschlachten werde. Hierauf erzählt sie einen Traum, in dem sie, wie sie sagt, nachdem sie den Tod des Bruders verkündet, ein Totenopfer für ihn auszurichten beschlossen hat, und geht, um ihre Dienerinnen herbeizurufen, die sie zögern sieht, ins Innere [des Tempels]. Der allen Prologen des Euripides gemeinsame Fehler liegt in ihrem Eingangsteil: [VIII] dass bereits Bekanntes erzählt wird, und dass nichts darunter ist, was die Herzen der Zuhörer bewegen könnte. Das übrige ist [der Situation] angemessener und durchdachter gestaltet. Denn durch den Traum, den sie gesehen hat, werden ihre eigenen Gedanken und die der Zuschauer auf Orest gelenkt, so dass dessen Auftritt in der Folge nicht unvermittelt und nicht als Zufall erscheint. Der Traum aber durfte nicht den Eindruck erwecken, als erwartete sie die Ankunft des Bruders: denn so hätte er [der Traum] weder die Furcht zu erregen vermocht, in der wir uns befinden, wenn wir die Handlung beinahe bis zu dem Punkt getrieben sehen, dass die nichtsahnende Schwester ihren Bruder dem grausamsten Tod übergeben hätte, noch hätte die Erkennungsszene die Herzen der Zuschauer so bewegt, wenn die Ankunft Orests erhofft und erwartet gewesen wäre. Nun könnte vielleicht einer fragen, warum sie, nachdem sie im Traum gesehen hatte, wie beim Einsturz des Palasts eine einzige Säule stehengeblieben war, an den Bruder und nicht an den Vater denkt. Dass dies aber nicht geschieht, dafür sorgte zum einen die Sache selbst, zum anderen der Dichter. Die Sache selbst, weil Iphigenie ihren Bruder, den sie als kleines Kind in Argos zurückgelassen hatte, mehr liebte als ihren Vater, dessen wenig väterliches Herz sie in Aulis kennengelernt hatte; der Dichter, weil er zum einen gesagt hatte, dass aus <?page no="158"?> 158 Beilagen dem Säulenkapitell blonde Haare hervorgewachsen seien, was offenkundig auf einen Jüngling verweist, zum andern, weil er Iphigenie hat sagen lassen, dass ein Sohn die Säule des Hauses sei. Zugleich aber, damit später, wenn Iphigenie mit Orest und Pylades zusammengekommen ist, alles auf Orest bezogen werden kann und sich nicht die Notwendigkeit ergibt, es von Pylades zu einem ungünstigeren Zeitpunkt zu erfragen, hat der Dichter dafür gesorgt, dass einer von den beiden Pylades genannt werden konnte, Iphigenie aber dennoch nicht wusste, dass er mit ihr verwandt sei. Daher ließ er sie bei sich bedenken, ob vielleicht ein anderer mit jenem Traum bezeichnet sein könnte, ließ aber keinen da sein, der hätte gemeint sein können, weil ja Strophius, mit dem Agamemnons Schwester verheiratet war, zumindest zu der Zeit, als sie [Iphigenie] nach Aulis gebracht worden war, keinen Sohn gehabt hatte. [IX] Schließlich war jener Traum auch sehr geeignet, den Chor so einzuführen, dass dieser Klagelieder singen konnte; und für diese war der Ort zu Beginn der Tragödie umso passender, als der Ausgang der Handlung dann nach Wunsch folgt. Aber obwohl dies mit Sach- und Kunstverstand ausgeführt ist, hat doch der deutsche den griechischen Dichter weit übertroffen. Dieser hat im Prolog Iphigenie nur beklagen lassen, dass sie ihr Vaterland und ihre Blutsverwandten entbehre, und hat sie, nach beiläufiger Erwähnung der Geschehnisse in Aulis, die Göttin darum bitten lassen, sie den Ihren zurückzugeben. Nichts davon ist nur kaltes Erzählen, nichts nur gelehrt und künstlich ausgedacht, sondern alles so beschaffen, dass es zugleich das Gemüt bewegt, die Richtung der Handlung angibt und die Gesinnung der Jungfrau offenbart, die fromm die Gebote der Götter ehrt, mögen sie auch hart sein. Dennoch hat Goethe nicht übergangen, was, von Euripides zu Beginn des Prologs berichtet, den Deutschen weit mehr als den Griechen dargelegt werden musste - aber er fügte es an dem Ort und mit der Absicht ein, dass es, während es bei Euripides keinerlei Kraft hat, die Herzen zu bewegen, im deutschen Drama die größte, ja geradezu eine göttliche besitzt. Denn indem er gänzlich aus den Fußstapfen des Euripides tritt, lässt er Thoas die Vermählung mit Iphigenie begehren, und zwar zuerst durch einen Boten, einen besonnenen und klugen Mann. Nachdem dieser ihre abschlägige Antwort überbracht hat, bietet der König selbst, als Sieger aus einem Krieg zurückgekehrt, in dem sein Sohn gefallen war, so wie es seinem Alter und seiner Würde geziemt und den Sitten der Vorfahren entspricht, nicht mit schmeichlerischen Worten und Bitten, sondern in gesetzter Rede der ihm nach göttlichem Recht zubestimmten Jungfrau die eheliche Gemeinschaft an. Darauf aber sucht jene, nachdem sie bis dahin ihre Herkunft verheimlicht hatte, die Heirat abzuwehren, durch die sie sich an der Rückkehr in ihr Vaterland gehindert sieht; sie sagt, dass sie aus einem fluchbeladenen Haus stamme, bekennt schließlich, wer sie selber sei, [X] <?page no="159"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 159 und schildert die ruchlosen und verbrecherischen Taten ihrer Vorfahren - etwas Herrlicheres als diese Szene kann nicht erfunden werden. Ich kehre zu Euripides zurück. An der Stelle, wo Iphigenie den Schauplatz verließ, nähern sich Orest und Pylades dem Tempel, wobei sie sich nach der günstigsten Gelegenheit umsehen, das Bild [der Göttin] fortzutragen. Orest, der die Schwierigkeit des Unterfangens und die Größe der Gefahr sieht, gibt die Hoffnung auf und will lieber nachhause zurückkehren; aber von Pylades darauf hingewiesen, dass das Orakel des Apollo kein Trug sein werde, und dass die Tat in der Nacht ausgeführt werden könne, beschließt er zu bleiben und ein Wagnis einzugehen. Die Notwendigkeit dieser Szene lieferte der Stoff des Dramas selbst, weil die beiden nicht zufällig an diesen Ort verschlagen wurden, sondern weil sie gekommen waren, um auf Geheiß des Apollo das Bild der Diana nach Griechenland zu bringen. Aber diese Szene ist auch den Wesenszügen der Griechen entsprechend angelegt, um Listen und Findigkeit der Liebenden, und passend eingerichtet, um den Erfindungsgeist und das Glück der Jünglinge vor Augen zu führen, und sie ist auch nicht arm an herzbewegenden Worten. Denn Orest, indem er endlich jenen Tempel sieht, auf dem für ihn die ganze Hoffnung auf Heilung ruht, indem er zugleich aber auch erkennt, dass dieser Ort so befestigt ist, dass er daran verzweifelt, die Befehle des Gottes ausführen zu können, spricht in einer Mitleid erregenden Rede Apollo selbst an, klagt, dass er in ein offenkundiges Verderben geschickt wurde, und bittet Pylades um Rat. Hinzu kommt aber auch, dass Orest, durch die häufigen Anfälle seines Wahnsinns ermattet, ängstlicher ist als der sich des Vollbesitzes seiner Kraft erfreuende Pylades. Nachdem Orest und Pylades gegangen sind, kehrt Iphigenie auf den Schauplatz zurück, um, unterstützt vom Chor, das Totenopfer für ihren vermeintlich toten Bruder darzubringen. Dabei bejammert sie in Klage-Anapästen das Ableben des Bruders und ihr trauriges Schicksal, wobei der Chor miteinstimmt. Dieser Gesang, ausgezeichnet mehr durch die Aufrichtigkeit [XI] der Gedanken als durch Vorzüge, die von großem Scharfsinn zeugen, entspricht zwar dem Plan des Dichters, der wollte, dass Iphigenie vom Tod des Bruders überzeugt sei, hat aber Stellen, die allzu unwahrscheinlich erscheinen. Denn wir erwarten, dass der Chor zum einen fragt, was das für eine Art Traum sei, durch den sie so sicher glaubt, dass der Bruder gestorben ist, zum andern aber auch, dass er sie tröstet und sie daran erinnert, dass Traumgesichte oft trügerisch sind. Aber keins von beidem tut er. Denn der Dichter wollte nicht, meine ich, dass wiederholt werde, was im Prolog über den Traum gesagt wurde. Dann aber hätte er entweder einen Chor vorführen müssen, der bereits von dem Kenntnis gehabt hätte, was Iphigenie gesehen zu haben schien, oder er hätte, was im Prolog durch die Erwähnung des Traums nur kurz angedeutet worden war, jetzt Iphigenie ausführlich dem Chor berichten lassen müssen. Eine Tröstung aber, die <?page no="160"?> 160 Beilagen wir ersehnen, lag so fern, dass sie seinem Plan im Wege gestanden hätte, sie am wirkungsvollsten nutzen zu können, wenn Iphigenie jeden Trost verschmähte, sei es wegen der Größe ihrer Liebe zu Orest oder weil sie glaubte, dass die Götter das von so vielen Untaten befleckte Geschlecht des Pelops, Atreus, Thyest und Agamemnon vernichten würden. Nach dem Ende des Gesangs kommt ein Rinderhirt, der berichtet, es seien zwei Griechen angekommen, in den Felsen gesehen und von den einen für Götter gehalten worden, den anderen als Schiffbrüchige erschienen. Weil der Eine von ihnen, als sie sie hätten gefangen nehmen wollen, vom Wahnsinn ergriffen worden sei und geschrien habe, er sehe die Furien, seien die Hirten über dieses Schauspiel erschrocken stehengeblieben. Bald darauf aber, als sich jener rasend, mit gezücktem Schwert, auf das Weidevieh gestürzt habe, hätten sie sich zusammengeschart, um ihren Herden zu Hilfe zu kommen, und hätten die nach heftigem Kampf schließlich entwaffneten kriegerischen Jünglinge zum König gebracht, der sie zum Opfertod hierher geschickt habe. Dieser ganze Bericht ist hervorragend, zum einen durch die genaue und mit [XII] den treffendsten Worten geschmückte Beschreibung der grausamen und erstaunlichen Geschehnisse, zum anderen, weil das mutige Auftreten der beiden gegenüber einer großen Menge sich entschlossen zur Wehr setzender Hirten das Gemüt des Zuhörers für sie einnimmt und mit Neugierde erfüllt, wer jene sind, die nicht irgendwelche Leute aus dem Volk, sondern Abkömmlinge eines edlen Stammes sein müssen. Auch das ist mit Bedacht ausgeführt, weil besagter Hirt gehört hat, wie einer der beiden Jünglinge Pylades genannt wurde, so dass, da Iphigenie keinen Sohn des Strophius kennt, kein Anlass besteht, nach der Herkunft dieses Pylades zu fragen, und sich die innere Erwartung umso mehr auf den anderen richtet, der sich weigert, seinen Namen preiszugeben. Mit höchster Kunstfertigkeit ist auch die darauf folgende Szene gestaltet. Denn indem Iphigenie, durch die letzten Worte des Boten [Hirten] daran erinnert, dass sich durch die Schlachtung der griechischen Ankömmlinge die Gelegenheit ergäbe, ihre Opferung in Aulis zu rächen, bereits erbittert war, weil sie ihren Bruder für tot hielt und Neid gegenüber den Glücklicheren empfand, und empört, dass nicht Helena, nicht Menelaos, die Urheber ihres Unglücks, je nach Tauris verschlagen wurden, gedenkt sie ihrer Leiden, ihrer Bitten, mit denen sie ihren Vater vergeblich anflehte, sie nicht zu töten; gedenkt ihrer Hochzeit, durch deren Vorspiegelung sie nach Aulis gelockt worden war; gedenkt der in der Hoffnung auf baldige Rückkehr weder mit ihrer Schwester noch ihrem Bruder getauschten Umarmungen. Aber diese Aufwallung ihrer Gefühle währt nur kurz und endet nicht im Entschluss zur Grausamkeit. Denn sobald ihr bewusst wird, aus welch glücklichem Leben im Vaterhaus Orest geschieden ist, zeigt sie sich, durch den Schmerz weich gestimmt, milder hinsichtlich der gegen Fremde <?page no="161"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 161 gebotenen Unerbittlichkeit und erwägt, dass jene Ungeheuerlichkeit der Opfer nicht von der Göttin, sondern von barbarischen Menschen, die nach dem Blut der Reisenden gierten, verordnet sei. Sie verlässt daher den Schauplatz, so dass es scheint, sie wolle zwar die Ankömmlinge nicht verschonen, aber doch eher deshalb, weil sie dem Todesschicksal [XIII] verfallen seien, als dass sie selbst an jenem grausamen Dienst für die Göttin Gefallen fände. Was nun hätte jener aus gefangenen Griechinnen bestehende Chor, nachdem er von den tapferen Taten der Ankömmlinge gehört hatte, anderes bei sich denken sollen, als wer diese denn seien, und was sie zu dem ungastlichen Land geführt habe, und was hätte er anderes wünschen sollen, als dass statt ihrer Helena hier anlande, mehr aber noch, dass einer komme, der etwas über sein Vaterland berichte oder sie selbst, die Gefangenen, aus der traurigen Sklaverei bei den Barbaren befreie? Dieses Lied, in seiner Gesamtheit höchst geeignet, die Herzen mit Neugier auf jene Jünglinge zu füllen, hat Euripides nach seiner Gewohnheit mehr befrachtet als geschmückt mit einer Schilderung der Nereiden, die zur Hauptsache nichts beiträgt. Nun werden Orest und Pylades gefesselt herbeigeführt. Iphigenie befiehlt ihren Dienern, ihnen die Fesseln abzunehmen, in den Tempel zu gehen und die Opfervorbereitungen zu treffen. Nachdem sie eine ganze Weile die Fremden schweigend betrachtet hat, ihre Landsleute, Jünglinge, dem Aussehen nach nicht unedel, beklagt sie, noch ganz erfüllt von der Erinnerung an ihren für verloren gehaltenen Bruder, deren Eltern und, falls sie eine Schwester hätten, auch diese, dass sie solche Brüder entbehren müsse, und indem sie bedenkt, wie unvermutet den Menschen Unglück widerfahren kann, spricht sie in sanftem Ton zu ihnen und fragt, wer sie seien, die auf dem langen Weg zu einer Abwesenheit vom Vaterland ohne Rückkehr das Schicksal hierhergeführt habe. Da diese Worte aus der innersten Natur ihrer Seele kommen, können sie bei denen, die sie hören, nur ebensolche Empfindungen erregen. Aber nicht nur dies, sondern auch das Folgende äussert sie in höchstem Maße aufrichtig, und umso mehr bewegt es sowohl die am Gespräch Beteiligten wie jene, die ihm zuhören, und hält sie zwischen Furcht und Hoffnung in der Schwebe. Orest, der erkennt, dass ihm und Pylades der Tod unausweichlich bevorsteht, ermahnt Iphigenie, nicht durch Mitleidsäusserungen [XIV] die Grausamkeit ihres Amtes kleinzureden und die an ihrer Rettung Verzweifelnden noch mehr niederzudrücken: ihnen sei bekannt, auf welche Weise sie sterben müssten. Also fragt Iphigenie, wer von den beiden Pylades heiße; und nachdem er ihr [durch Orest] bezeichnet wurde, verlangt sie auch sein Vaterland zu wissen. Orest zögert zu bekennen, dass sie Argiver seien: also weicht er der Antwort aus. Als sie weiterfragt, ob sie Brüder seien, antwortet er ihr, sie seien es durch Liebe, nicht durch Geburt. Als sie sich nach seinem Namen erkundigt, antwortet er, von der gleichen Scheu <?page no="162"?> 162 Beilagen zurückgehalten, er müsse, wenn bei seinem wahren Namen, „Unglücklicher“ genannt werden. Als sie ihm Stolz vorwirft, entgegnet er: „Meinen Körper, nicht meinen Namen wirst du opfern“, womit er sie ermahnen will, ihre Pflicht zu tun und nicht nach dem zu fragen, was für sie belanglos sei. Als er schließlich auf die Frage nach seinem Vaterland auch dieses nicht nennen will, erbittet sie es sich von ihm mit gewinnenden Worten als eine Gefälligkeit. Darauf gibt er ihr nach, weil er sieht, dass sie nicht leichtfertig oder aus dem eitlen Verlangen, die Verhältnisse fremder Menschen in Erfahrung zu bringen, sondern aus menschlicher Anteilnahme an den Unglücklichen fragt, und nennt Argos; und als er bemerkt, wie sehr das Gesagte sie bewegt, fügt er noch hinzu, dass die einst glückliche Stadt Mykene sein Geburtsort sei; und, da sie weiter mit bewegender Stimme darum bittet, dass er ihre Fragen beantworten möge, willigt er ein, wobei er bemerkt, dass dies im Verhältnis zu dem ihm widerfahrenen Unglück kaum zählen werde. Als Iphigenie versichert, dass er von Argos kommend hier erwünscht sei, sagt er: „Nicht mir, ob dir, das überlege selbst.“ Diese Worte sind schwer erträglich für Iphigenie, die den bereitwilligen Fremden hinschlachten lassen soll, schwerer noch für die Zuschauer, die sehen, was dem Bruder von seiner Schwester droht. Darauf fragt Iphigenie, beunruhigt und voller Angst, wie es natürlich ist, wenn wir befürchten, dass wir eher Schlimmes als Gutes zu hören bekommen werden, nicht sofort nach ihren Liebsten, sondern nähert sich allmählich mehr und mehr dem Punkt, [XV] an dem entweder Hoffnung oder Verzweiflung sie erwarten, indem sie nach Troja, nach Helena, nach der Rückkehr der Griechen fragt, und nach all dem so ängstlich, weil sie meint, dass Orest von sich aus etwas über das Schicksal des höchsten Heerführers [Agamemnons] sagen wird. Jener aber scheut davor zurück und sagt: „Wie du alles auf einmal fragst! “ Worauf sie, traurig: „Dies begehr’ ich noch zu erfahren, bevor du stirbst.“ Er erklärt, dass er der Mitleidigen diesen Wunsch erfüllen werde. Also fragt sie weiter und eingehender über diejenigen, deren Ränken sie in Aulis zum Opfer gefallen war, über Calchas und Ulixes, ferner über den, dem sie hinterlistig zur Gattin bestimmt worden war, Achilles; über all dies erkundigt sie sich so bis ins Einzelne hinein, dass Orest erstaunt ist und fragt, wer sie sei. Sie, durch die gleiche Scheu wie Orest davor zurückgehalten, ihre Herkunft zu nennen, sagt, sie stamme aus Griechenland und sei noch als Kind hierher gebracht worden. Jetzt endlich spricht sie vom Vater, aber nennt ihn, aus Furcht vor dem, was sie hören wird, nicht mit Namen: „Was ist“, sagt sie, „mit dem Feldherrn, den sie ‚den Glücklichen‘ nennen? “ Das bewegt Orest heftig: „Wer? “, sagt er, „denn der, den ich zumindest kenne, gehört nicht zu den Glücklichen.“ Darauf sie, mit verhaltener Angst: „Aber es heißt, dass es ein Sohn des Atreus, ein gewisser Agamemnon sei.“ Hierauf, durch die Erinnerung an die unheilvolle Geschichte seines Stammes von Entsetzen ergriffen, sagt er: „Ich weiß es nicht. <?page no="163"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 163 Beende dieses Gespräch, Frau! “ Weil sie ihn jedoch angstvoll bittet und bei den Göttern beschwört, er möge fortfahren, sagt er, jener sei umgekommen - und so gibt er nach und nach das Übrige preis: dass er von seiner Frau erschlagen worden, die Frau von ihrem Sohn getötet worden sei. Über die Nachkommen Agamemnons befragt, sagt er, Electra sei am Leben geblieben; als sie nach sich selbst fragt, entgegnet er, man halte sie für tot; auf ihre letzte Frage nach dem Sohn Agamemnons, sagt er, dieser lebe, aber irre ziellos umher. Somit erkennt sie, dass ihr Traum sie getrogen hat, ihr jedoch keine Gelegenheit mehr zu weiterer Nachforschung bleibt, [XVI] weil dem Fremden, wie sie glaubt, nichts über den Umherziehenden und Heimatlosen bekannt sei. Die Nichtigkeit des Traums bestätigt Orest, indem er hinzufügt: Nicht einmal die Götter, die doch für allwissend gehalten würden, seien vertrauenswürdiger [als Träume], so dass jemand, der, sonst nicht töricht, göttlichen Weissagungen und Orakeln vertraue, sich nur Übles einhandle. An diesem Punkt kommt es Iphigenie in den Sinn, diesen Fremden, mit dem sie soeben gesprochen hat, weil er ein Argiver sei und Mycene kenne, mit einem Brief dorthin zu senden, während der andere Diana geopfert werden müsse. Das aber lehnt Orest ab, indem er sagt, e r sei es, den sein Schicksal fortziehe, Pylades aber sei nur mitgekommen, um als Freund an seinem Elend teilzunehmen: deshalb halte er für angemessen, dass jener nach Argos gesandt, er selber aber geopfert werde. Jene stimmt zu, nachdem sie die hochherzige Gesinnung des Jünglings bewundert hat und indem sie wünscht, dass der ihr verbliebene Bruder ein ebensolcher wäre, denn auch sie habe einen Bruder, auch wenn sie ihn nicht von Angesicht zu Angesicht sehe; und als er sich erkundigt, auf welche Weise das Opfer vollzogen werde und ob sie selbst ihn töten werde, gibt sie ihm im Einzelnen Bescheid. Und als er bedauert, dass es ihm nicht vergönnt sei, dass seine Gebeine von der Schwester bestattet würden, verspricht sie ihm, selber schmerzlich berührt, als ihrem Landsmann jede ihr mögliche Ehrbezeigung beim Totenopfer. Darauf geht sie fort, um den Brief zu holen, in der Hoffnung, ihrem Bruder eine willkommene Botschaft zu senden. Wer sähe nicht, mit welchen Strömen von Hoffnung, Angst, Schrecken, Mitleid diese Worte das Gemüt der Zuhörer bewegen müssen? Was soll daher der Chor, der dies gesehen und gehört hat, anderes beweinen als das Schicksal beider Freunde, schwankend, wer von beiden unglücklicher sei, derjenige, der sterben muss, oder jener, der sein Leben und die Rückkehr ins Vaterland durch den Tod des Freundes gewinnt? Natürlich mussten die beiden [Freunde] sich wundern, dass eine in der Fremde lebende Frau die Verhältnisse in Argos so genau in Erinnerung behalten hatte. [XVII] Daher stimmt Pylades dem Orest zu, der in ihr eine Argiverin vermutet, gibt aber zu bedenken, dass das Schicksal von Königen leicht allgemein bekannt werde, und sagt, sie habe etwas für ihn selbst Unerträgliches geäußert, <?page no="164"?> 164 Beilagen weil es für ihn schmachvoll sein werde, nach dem Tod des Freundes als ein Feigling heimzukommen und obendrein verdächtigt zu werden, er habe durch einen heimtückischen Anschlag Erbe der Königsherrschaft werden wollen. Deshalb möchte er gemeinsam mit Orest sterben. Während wir so wiederum um die beiden in Sorge sind und auch die Standhaftigkeit und hochherzige Freundschaft des Pylades bewundern, hält Orest ihn mit folgenden unwiderleglichen Argumenten zurück: Er selbst sei durch den Muttermord verflucht, jener schuldlos; er habe ein unreines, jener ein reines Haus; jener werde von Electra Nachkommen empfangen, und so werde weder sein [Orests] Name noch sein Vaterhaus erlöschen. Zuletzt trägt er ihm auf, ihm einen Grabhügel aufzuschütten und ein Denkmal zu errichten; zu verkünden, dass er von einer Argiverin geopfert worden sei; seine ihrer Verwandten beraubte Schwester Electra zu beschützen. Zuletzt sagt er seinem ihm von Kindheit an vertrauten, auch in den höchsten Gefahren treuen Freund lebewohl. Von diesen Worten bezwungen, verspricht Pylades, seinem Freund alle Wünsche zu erfüllen. Aber er rät dennoch davon ab, schon gänzlich zu verzweifeln, weil sich oft in der höchsten Gefahr noch das Schicksal wende. Auch diese Szene ist bewundernswert darauf angelegt, Mitleid zu erwecken, hervorragend auch dadurch, dass alles auf Orests Tod hinzielt, der uns besonders beunruhigt, wobei die Spannung am Ende der Szene, als wir Pylades noch immer hoffen sehen, aufs neue gesteigert wird. Das Gespräch der Freunde endet, als Iphigenie mit dem Brief zurückkehrt. Sie befiehlt ihren Dienern, ins Tempelinnere zu gehen, um mit den Fremden und dem Chor allein zu sein. Das hat der Dichter klug so eingerichtet, damit, was im folgenden besprochen wird, keine anderen Zeugen hat als die, denen es sicher anvertraut werden kann. Weil Iphigenie aber fürchtet [XVIII], Pylades könne über seiner glücklichen Heimkehr vergessen, den Brief zu übergeben, will sie, dass er durch einen Schwur bekräftigt, den Brief in Argos demjenigen auszuhändigen, für den er geschrieben sei. Orest bedingt sich von ihr aus, sie solle ihrerseits schwören, dafür zu sorgen, dass jener [Pylades] lebend von hier fortgehe. Denn es war zu befürchten, dass der König dies verhindern könnte. Also schwört Iphigenie, nachdem sie kurz schweigend darüber nachgedacht hat, sie werde das ermöglichen. Es schwören also beide. Aber Pylades, als ein voraussichtiger Mann, bedenkt, dass der Brief bei einem Schiffbruch verloren gehen könne, und fordert, dass in diesem Fall der Eid für ihn hinfällig sei. Das hat zur Folge, dass Iphigenie, die sich keinesfalls die Gelegenheit entgehen lassen will, einen Boten nach Argos zu senden, den Inhalt der Schreibtafeln vorzulesen beschließt, so dass für den Fall, dass diese verloren gingen, Pylades ihn mündlich wiedergeben könnte. Mit diesem einfachen und aus der Situation heraus gleichsam von selbst entsprungenen Einfall hat Euripides erreicht, dass, je weniger Iphigenie ahnt, dass der Bruder, dem sie den Brief geschrieben hat, vor ihr steht <?page no="165"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 165 und dem, was sie sagt, zuhört, umso heftiger einerseits Orest erschüttert wird und anderseits die Zuschauer um den Ausgang dieser glücklichen Wendung bangen. Wie jener [Orest] hört, dass dem Orest, dem Sohn Agamemnons, die Schwester, Iphigenie, nicht als Tote, sondern als Lebende schreibt, ruft er, aufs heftigste erschüttert, aus: „Wo ist sie? Ist sie vom Tod wieder auferstanden? “ Sie aber antwortet, ohne zu wissen, warum er dies fragt: „Hier, die du siehst! Unterbrich mich nicht! “ Als sie fortfährt, das Geschriebene vorzulesen, und ihn, der wieder und wieder in Ausrufe ausbricht, fragt, warum er in einer fremden Angelegenheit die Götter anrufe, entgegnet Orest, der nun alles zu wissen begehrt: „Es bedeutet nichts, ich habe an etwas anderes gedacht.“ Nachdem er den ganzen Brief gehört hat, übergibt Pylades hoch erfreut, dass er den Auftrag so leicht erfüllen kann, seinem Freund, wobei er ihn beim Namen nennt, den Brief der Schwester. Der nimmt ihn und will, von Freude überwältigt, seine Schwester umarmen. Sie, überrascht [XIX] von dem unerhörten Ereignis, weicht zurück, zweifelnd, verwundert, Beweise fordernd. Nachdem jener die unbezweifelbarsten in Erinnerung gebracht hat, umarmt sie ihn ihrerseits und spricht, nach einem ungeheuren Freudenausbruch, unterbrochen von der gelasseneren Zwischenrede des Bruders, über ihre unverhoffte Glückseligkeit, ihre vergangenen Leiden und die überstandene Gefahr, ihren liebsten Bruder zu ermorden. Als schließlich Pylades mahnt, es sei an der Zeit, die Freuden- und Liebesbekundungen zu beenden und dafür Sorge zu tragen, das Land der Barbaren unversehrt zu verlassen, sagt Iphigenie, sie werde nicht eher mitgehen, als bis sie gewissere Nachricht über Electra und die übrigen habe, die ihr teuer seien. Das entspricht nicht nur der Natur des menschlichen Herzens, sondern wird auch für den Fortgang der Handlung benötigt. Denn nach Orests Bericht über sich, seine Mühsale und wie und weshalb er auf Geheiß Apollos hierhergekommen sei, sucht Iphigenie, die den Zorn der Göttin, wenn sie deren Bild ausliefert, scheut und ihren Tod durch Thoas fürchtet, einen Weg, wie Orest sie selbst samt der Statue der Göttin von hier wegbringen könne. Nachdem Orest vergeblich verschiedene Vorschläge gemacht hat, denkt sie selbst sich schließlich die List aus, das durch den Vatermord gleichsam befleckte Götterbild, nachdem sie es unter geheimen Riten im Meer gereinigt hat, in ein Schiff zu tragen und mit Orest und Pylades zu fliehen. Dies also beschließen sie, wobei der Chor Stillschweigen verspricht. Dass all das sowohl glaubwürdig erfunden wie durch Worte und Sentenzen aufs trefflichste ausgeschmückt ist, müssen wir nicht im Einzelnen aufzeigen. Wenn aber einer vielleicht glauben sollte, es hätte Iphigenie, als sie Pylades den Brief seinem Freund übergeben und ihn als ihren Bruder grüßen sieht, verdächtig erscheinen müssen, gleichsam aus dem Stegreif erfunden, als ob er wolle, dass sie das Leben dessen schone, den sie ihren Bruder nennen hört: so muss es selbst dem, der darüber nur etwas nachdenkt, ohne weiteres einleuchten, dass dies <?page no="166"?> 166 Beilagen Iphigenie gewiss nicht hätte in den Sinn kommen können. Denn nicht nur wäre jene [XX] Unbesonnenheit und Dreistigkeit völlig unglaubwürdig, wenn Pylades, beim Nachrechnen der Zeit, die seit der Opferung in Aulis verflossen war, sofort erkannt hätte, dass Orest damals ein Kind gewesen sei und infolgedessen von seinem Aussehen her Iphigenie kaum hätte bekannt sein und daher für die Ausführung der List hätte nützlich sein können; sondern Iphigenie sah auch Orest als einen so Unglücklichen, so des Lebens Überdrüssigen, so hochherzig dazu Entschlossenen, eher sich als den Freund dem Tod auszuliefern, dass sie alles andere als eine solche List und Intrige vermuten konnte. Nachdem dieser Auftritt beendet ist, singt der Chor ein Lied, das in der Hauptsache gut zur Situation passt; aber auch diesen Gesang hat der Dichter mit einer Überfülle an unnötigen Wörtern versehen. Ihrer Sehnsucht nach dem Vaterland, aus dem sie als Kriegsgefangene hierhergekommen sind, geben diese Frauen Ausdruck, indem sie Iphigenie glücklich preisen, weil sie dorthin zurückkehren wird, und indem sie wünschen, es möge auch ihnen vergönnt sein, wieder an jene Orte zu gelangen, an denen sie einst als junge Frauen beim Tanz untereinander um den Glanz ihrer Gewänder und den Schmuck ihrer Haare wetteiferten. Die griechische Tragödie folgte nicht dem Gesetz, nach dem viele der neueren Tragiker geschrieben haben, die durch die Dichtkunst nicht besänftigend auf das Gemüt einwirken, sondern die auf den Ausgang der Handlung gespannte Erwartung des Theaterpublikums erfüllen wollen, so dass sie das, was die Zuschauer am stärksten zu erregen vermag, bis ans Ende der gesamten Tragödie aufschieben und durch die plötzliche Lösung des Knotens und das Abreißen des Handlungsfadens die Zuschauer gleichsam betäubt zurücklassen. Daher ist auch in dieser Tragödie des Euripides, wie in den meisten der Alten, die Gemütsbewegung im späteren Verlauf des Stücks entspannter, wodurch die Handlung nach dem Höhepunkt völlig zuende geführt werden kann. Das Wichtigste war die Wiedererkennung zwischen Bruder und Schwester, von der sowohl die Rettung Orests wie die Überführung der Götterstatue abhing, und mit der auch die Rückkehr Iphigenies in ihr Vaterland aufs engste verknüpft ist. Aber nachdem [XXI] sie einander wiedererkannt hatten, musste auch deutlich werden, wie sie das Götterbildnis fortbrächten und selbst unversehrt entkämen. Deshalb sehen wir zuerst die List ausgeführt, die sie untereinander verabredet hatten, indem Iphigenie mit schlauer Berechnung Thoas von der geheimen Reinigung des Standbilds überzeugt. Da sich die Griechen an derlei Redekünsten [Listen] sehr ergötzten, ist es glaubhaft, dass diese Szene begierig erwartet wurde. Weil dies geschah, damit das Orakel des Apollo erfüllt würde, trägt der Chor die Geschichte jenes heiligsten Orakels von seinen ersten Anfängen an vor. Bald danach tritt einer der Diener auf, der den Gefangenen als Wächter zugeordnet und von Iphigenie weit vom Meer entfernt zurückgelassen war, und fragt nach <?page no="167"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 167 dem König, von dem der Chor behauptet, er sei nicht im Tempel, wodurch Iphigenie, während ihn der Bote anderswo sucht, einen größeren Vorsprung für die Flucht gewinnt. Als jener merkt, dass man ihn täuscht, schlägt er an das Tor des Tempels, und als der König heraustritt, schildert er ihm, wie jene heimlich mit Iphigenie und dem Bild der Göttin hätten entfliehen wollen, wie sie daran gehindert wurden, und wie sie jetzt mit ihrem von den Meereswogen zum Gestade zurückgetriebenen Schiff zwischen Felsen festhingen. Daher befiehlt der König, Reiter und Schiffe dorthin auszusenden, um der Flüchtlinge habhaft zu werden und sie zur Verantwortung zu ziehen. Es liegt auf der Hand, dass diese Verwicklung eines Vermittlers bedarf, so dass zurecht ein Gott eingreift. Denn was hätte der Dichter machen sollen? Hätte er einen Boten einführen sollen, der berichtet hätte, dass jene mit Iphigenie und dem Bild der Göttin entkommen seien? Doch dieses Ende der Handlung wäre schmählich, vielmehr, es wäre keines gewesen. Denn Thoas hätte ja auf jeden Fall die Rettung in die Wege leiten und durch einen Kampf die geraubte Statue zurückgewinnen können. Das aber stand im Widerspruch zur Überlieferung, die nichts von einem wegen jenes Raubs unternommenen Kampf berichtet. Oder hätten die Geflohenen nach ihrer Ergreifung zum König zurückgebracht werden sollen? So aber wäre zum einen die Erfindung der Flucht umsonst gewesen und hätten sie bereits vor der Flucht gefangen werden können, und hätten zum anderen die Gefangenen bestraft werden müssen. So wäre nicht einmal der erforderliche Abschluss der Handlung zustande gekommen. Da also in jedem Fall [XXII] das Eingreifen einer Gottheit nötig war, hat der Dichter es klug so eingerichtet, dass gerade in dem Augenblick, als den Flüchtigen die höchste Gefahr droht, Minerva vom Himmel herabkommt, den gerechten Zorn des Thoas dämpft, die göttliche Weisung, das Bild der Diana nach Griechenland zurückzubringen, verkündet und verlangt, dass Orest und Iphigenie und danach auch die gefangenen Frauen unversehrt in ihr Vaterland zurückkehren. So steht weder von Seiten des Thoas etwas im Wege, eines frommen und gegen die Götter ehrerbietigen Mannes, noch bleibt für jene, die den Orakelspruch des Apollo verwirklicht haben, der glückliche Ausgang ungewiss oder scheint es, als sei ihre List mit Niedertracht und Gottlosigkeit verknüpft gewesen. Als aber ein Gott nötig war, bevorzugte der Dichter, auch wenn jenem vor allen entweder Diana in den Sinn hätte kommen müssen, deren Kult nach Griechenland gebracht werden sollte, oder Apollo, auf dessen Geheiß ihr Standbild weggeführt worden war, dennoch Minerva, als Schutzgottheit Athens, in dessen Gerichtsbarkeit jener Ort lag, der das Standbild der Taurischen Diana aufnehmen sollte. Hätte das Standbild aber nicht in athenisches Gebiet gebracht werden müssen, hätte er [der Dichter] Minerva nicht passend eingeführt; indem nun jener Ort sich dafür eignete, musste diejenige Göttin bevorzugt werden, die die Athener als Beschützerin ihrer Stadt verehrten. <?page no="168"?> 168 Beilagen Einen anderen Weg schlug Goethe ein. Er scheint sich zweierlei vorgenommen zu haben: die Erwartung bis ans Ende des Dramas unter starker Spannung zu halten, bei auch im letzten Teil noch lebhafter Gemütsbewegung; und Beispiele höchster Tugend in Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und Talents darzustellen. Als daher, wie oben gesagt, Arcas, Gefolgsmann und Freund des Thoas, ein besonnener und kluger Mann, der Iphigenie mahnt, dem um ihre Hand anhaltenden König endlich nachzugeben, ihre abschlägige Antwort überbracht hat, und der König selbst als Freier [XXIII] in der Würde seiner Auszeichnungen kommt, versucht Iphigenie, die sich bedrängt sieht, ihn zunächst dadurch abzuschrecken, dass sie offen über ihre Herkunft spricht; als sie sieht, dass das vergeblich ist, gibt sie vor, dass ihr Leben der Diana geweiht sei. Darauf sagt der König, den die Zurückweisung schmerzt und der den Tod seines Sohns im Krieg der Unterbrechung der Opfer zuschreibt, denen Iphigenies Menschlichkeit entgegenstanden habe, er werde die beiden Gefangenen schicken und befehle, sie nach altem Brauch zu schlachten. Nachdem der König gegangen ist, bittet Iphigenie in einem höchst bewegenden Lied Diana, sie möge den Zwang, Menschen opfern zu müssen, von ihr abwenden. Auch weitere derartige Lieder, mit denen der vierte Akt beginnt und endet, nehmen die Stelle jener Gesänge ein, die in der griechischen Tragödie der Chor anstimmt. Im Zweiten Akt betreten Orest und Pylades die Bühne; anders als bei Euripides spähen sie nicht nach einer Gelegenheit aus, die Statue fortzutragen, sondern Orest verzweifelt an der Rettung, Pylades dagegen gibt die Hoffnung nicht auf, sondern ist vielmehr der Meinung, etwas wagen oder mit List versuchen zu müssen. Diese Szene bringt zwar keinen großen Fortschritt, ist aber in Erfindung und Sprache vorzüglich und lässt Geist und Charakter jedes der beiden erkennen. Und doch sehe ich nicht, wie es zu rechtfertigen wäre, dass Gefangene, deren Hände gefesselt sind, ohne Bewacher auftreten und die Möglichkeit haben, frei zu kommen und zu gehen. Als Iphigenie naht, sagt Pylades zu Orest, er solle sich entfernen. Iphigenie befreit Pylades von seinen Ketten und merkt dabei, dass er ihr Landsmann ist. Er wiederum, erfreut über den unerwarteten griechischen Klang ihrer Stimme, fragt, wer sie sei. Sie antwortet, es genüge für ihn zu wissen, dass sie Priesterin sei, und verlangt von ihm Auskunft darüber, wer er und sein Gefährte seien und woher sie kämen. Er berichtet, sie seien Kreter, Söhne des Adrast, er Cephalus, jener Laodamas, dem nach einem Brudermord Apollo geweissagt habe, er werde im Tempel der Diana Ruhe vor der Verfolgung durch die Furien finden. Hier hat Goethe offensichtlich [XXIV] Homer nachgeahmt, aber er hat es ganz unbegründet und insofern nicht sachgemäß getan. Denn weder lässt sich ein Grund finden, warum Pylades die Wahrheit verschweigen sollte, und warum er, wenn er sie verschweigen muss, etwas berichtet, das dem, was er verbergen möchte, höchst ähnlich ist. Denn <?page no="169"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 169 ob eine fremde Frau hört, dass ein Kreter Laodamas nach dem Brudermord oder ein Argiver Orest wegen der Tötung seiner Mutter von den Furien umgetrieben wird, ist gleichgültig und macht keinen Unterschied. Viel überlegter und passender daher Euripides, bei dem Orest seine Abstammung verschweigt, weil er sich schämt, dass der Sohn Agamemnons, des größten Heerführers der Griechen, nicht im Krieg durch einen ehrenvollen Tod, sondern als Gefangener von Barbaren durch ein schändliches Opfer wie ein Schlachtvieh sterben soll. Das Weitere in dieser Szene ist hervorragend: wie Iphigenie erfährt, dass ihr Vater von seiner Frau wegen der in Aulis getöteten Iphigenie ermordet wurde; ebenso, dass, als sie auf diese Nachricht hin im Weggehen vor Schmerz das Haupt mit ihrem Gewand bedeckt hat, dem Pylades aus ihrer Erschütterung etwas Hoffnung aufscheint. Noch herausragender ist die erste Szene des Dritten Aktes, in der Orest der ihn näher über seine Herkunft befragenden Iphigenie im Einzelnen jeweils so [ausführlich] antwortet, dass die Empfindungen der Zuhörer aufs heftigste zwischen Freude und Entsetzen schwanken. Aber dass Iphigenie, nachdem sie das grausame Schicksal Orests kennt und nur noch nicht weiss, dass der Erzähler selbst Orest ist, sagt, dieser Fremdling befinde sich in einer ähnlich schlimmen Lage, der aber, unwillig, dass Pylades etwas Erfundenes erzählt hat, bekennt, dass er Orest sei: das zumindest und was danach folgt kann ich, auch wenn ich den gewichtigen Ernst der Rede und der einzelnen Sätze sehr bewundere, keineswegs gutheißen oder loben. Denn jene erste Lüge des Pylades, von der wir oben gesagt haben, sie sei ohne Grund und nicht recht passend erfunden, scheint deswegen eingefügt worden zu sein, damit Iphigenie, die geglaubt hatte, jener aus demselben Grund Erfundene sei [XXV] Laodamas, Orest das Geständnis entlocken soll, wer er sei. Aber jene Begründung reicht nicht ganz aus. Denn weder ist irgendwo angedeutet, dass Orest seinen Namen geheim halten wollte, noch lassen sein aufrichtiger Charakter und die Bereitschaft, Schwerstes auf sich zu nehmen, daran zweifeln, dass er, sobald er bemerkt, dass Iphigenie über Orests Unglück erschüttert ist, sich aus freien Stücken als dieser [Orest] zu erkennen geben wird. Als er, der nach der Nennung seines Namens noch heftiger nach dem Tod verlangt, sich darauf für eine Weile entfernt, dankt Iphigenie, von der wir erwarten, dass sie wie vom Donner gerührt dasteht und sodann vom heftigsten Freudensturm hingerissen wird, in einer ganz unwahrscheinlich ruhigen Rede den Göttern für die Erfüllung ihrer Hoffnung. Auch wenn sie die Aufforderung des Pylades, seinem den Angriffen der Furien ausgesetzten Gefährten vorsichtig und schonend zu begegnen, beim ersten Hören seines Namens vergessen haben sollte, zumal er sich zurückzog, hätte sie sich später doch daran erinnern und sich selbst ermahnen müssen, den Elenden zu schonen, und nicht sofort und unvorsichtig mitteilen dürfen, dass sie die von ihm für tot <?page no="170"?> 170 Beilagen gehaltene Schwester sei. Denn es genügt nicht, dass sie das tut, sondern warum sie etwas tut, was gegen die Natur verstößt, muss den Zuschauern begreiflich gemacht werden. Als Orest, innerlich aufgewühlt, zurückkehrt und Iphigenie ihm nach und nach eröffnet, wer sie sei, gerät er mehr und mehr in Erregung, bald ungläubig, bald gläubig, so dass er wenn nicht wahnsinnig, doch nicht fern vom Wahnsinn zu sein scheint, bis er zuletzt durch diese Gemütserschütterungen erschöpft zusammenbricht. Obwohl dies klug und mit Sachverstand erdacht und aufs passendste in Sprache umgesetzt ist, ging bei der Ausführung die Kraft verloren, die der Erkennungsszene im Drama des Euripides eignet. Denn bei Goethe erkennt Orest die Schwester und erkennt sie zugleich nicht. Auch an diesem Beispiel kann man, wie an vielen Tragödien der Alten, sehen, dass der erste Dichter, der den Stoff mit der größten Einfachheit [XXVI] und höchsten Natürlichkeit behandelt hat, denen überlegen ist, die nach ihm, weil sie sich des Klarsten und Besten beraubt sahen, gezwungen waren, sich weniger Wahrscheinliches auszudenken. Daher tragen auch die beiden folgenden Szenen, mögen sie auch in Worten und Wendungen bewundernswert sein, zum Gang der Handlung nicht viel bei, sind aber wegen des Vorausgegangenen nötig. Denn in der ersten von ihnen meint Orest, indem er aus seiner seelischen Zerrüttung aufwacht, in der Unterwelt zu sein, in der folgenden aber, in der er sich von den Furien befreit fühlt, erkennt er sie nicht [erneut] als seine Schwester, sondern spricht von ihr als einer bereits Erkannten. Zu Beginn des Vierten Akts sehen wir Iphigenie in angstvoller Unruhe über das Schicksal von Orest und Pylades und verstört wegen ihrer Mitwisserschaft an einer Lüge. Das ist anders gemacht, als ein antiker Dichter es gemacht haben würde. Dieser hätte dafür gesorgt, dass die Zuschauer entweder schon wussten oder jetzt erführen, um was für eine Lüge es sich handelt. Denn auch wenn Iphigenie nicht sagen würde, was sie sich bald ausdenken wolle, müsste sie doch kundtun, dass ein Teil der List ihr von Pylades beschrieben worden sei. Jetzt erfahren wir das endlich aus ihrem Gespräch mit Arcas, dem sie dasselbe wie bei Euripides über das im Meer zu reinigende Bild der Diana darlegt. Dem ist nun aber höchst geschickt angefügt, dass Arcas Iphigenie abermals an die Heirat mit Thoas und an die Güte und Menschlichkeit erinnert, die jener ihr gegenüber stets habe walten lassen. Wodurch sie, nachdem Arcas gegangen ist, noch mehr an der Schändlichkeit der List leidet, die sie plant. Hierauf kommt Pylades, dem Iphigenie, als er die Statue wegtragen will und fragt, ob sie dem König berichtet habe, was er ihr angeraten hätte, zögernd antwortet, sie habe es zwar getan, es müsse jedoch die Antwort des Königs abgewartet werden, bevor die von ihr erfundenen heiligen Handlungen ausgeführt werden könnten. Angesichts der schwieriger gewordenen Lage zeigt Pylades, was nun weiter getan werden muss, und überredet sie, die unschlüssig ist und [XXVII] zwischen der <?page no="171"?> 22 Hermann: Vorrede zu Euripides „Iphigenia Taurica“ 171 Gefährdung der Fremdlinge und der Schändlichkeit der Lüge schwankt, beinahe zu seiner Meinung. So in ihrem Innern hin- und hergerissen, indem sie zum einen den Frevel gegen die Göttin, wenn sie den Raub ihres Bildes zulässt, bedenkt, und zum andern den Vorwurf eines undankbaren Herzens, wenn sie den König täuscht, der sich um ihr Wohlergehen höchst verdient gemacht hat, fleht sie die Götter um Hilfe an, wobei sie sich an das Lied der Parzen erinnert, das sie sangen, als sie die Bestrafung der Nachkommen des vom goldenen Stuhl zwischen den Göttern vertriebenen Tantalus voraussagten. Nach dem vortrefflichen Schluss des Vierten Akts sind die beiden ersten Szenen des Fünften anscheinend weniger notwendig, in deren erster Arcas dem König meldet, dass die Fremdlinge der Flucht verdächtig seien, worauf der König ihnen einen Hinterhalt zu legen befiehlt; in der zweiten Szene äußert der König, allein, seinen Zorn über Iphigenie. Hierauf folgt ein Gespräch Iphigenies mit dem König, das gewiss ausgezeichnet ist; das aber entspricht weder griechischer Art noch den Regeln der Poetik, dass auf die Frage des Königs, wer jene Fremdlinge seien, Iphigenie zitternd, mit stockender Stimme sagt, sie seien - sie schienen - sie halte sie für Griechen. Zwar ist dies eine Nachahmung der Natur, aber nicht alles darf der Dichter nachahmen, der, was gewöhnlich und niedrig ist, wie das Zögern der Stimme, das Widerrufen und Sich-selbst-Verbessern, in eine schicklichere und würdevollere Form bringen muss. 212 Bald fasst sie sich wieder; in Sorge um ihre Mitwisserschaft an der Lüge und im Vertrauen auf die Großherzigkeit des Königs gesteht sie freimütig, wer die Fremdlinge sind; und während der König [bereits] einem Entschluss zuneigt, der eines großmütigen Mannes würdig ist, tritt der bewaffnete Orest auf. Aber Iphigenie hält mit beschwörenden Worten die zum Austragen der Sache mit Waffengewalt Entschlossenen zurück. Als auch Pylades und Arcas in Waffen auftreten und die Gefolgsleute der beiden bereits miteinander kämpfen, befehlen der König und ebenso Orest, den Kampf ruhen zu lassen, solange die Führer miteinander reden. 212 Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Wilamowitz in einer Fußnote zu seinem Vortrag „Goethes Pandora“ (s.-o., Anm. 51): „[Vers] 386 [=-V. 406 nach WA I 50, S. 316] wird ein ganzer Vers mit Interjectionen gefüllt [„Epimeleia / … / Ai! Ai! Weh! Weh mir! Weh! Weh! Weh! Ai! Ai mir! Weh! “]: das ist die Uebertreibung des Nachahmers. Denn dass Philoktet so brüllt, ist pathologisch: kein Grieche würde Epimeleia mehr als einen Klageruf gegeben haben“ (S. 5*, Anm. 1). Wilamowitz übersieht jedoch, dass den Interjektionenen viele weitere Klagerufe Epimeleias folgen, in die auch Epimetheus einstimmt, und dass diese Eskalation von dem dazwischentretenden Prometheus als „Mordgeschrei“ qualifiziert und mit einer adäquaten Machtgeste gegenüber dem Aggressor Phileros (durch den „Griff der starken Faust“) beantwortet wird. Zu kurz greift auch seine Behauptung, die Häufung der Klagerufe aus weiblichem Mund sei ‚ungriechisch‘: vgl. die Klagesequenzen Kassandras in Aischylos „Agamemnon“, V. 1072-1342, insbesondere die nur aus Interjektionen bestehenden Verse 1072, 1076, 1214, und ihre lautliche Qualifizierung durch den Chor. <?page no="172"?> 172 Beilagen Auf die Frage, ob er der Sohn Agamemnons sei, sagt Orest, zum Beweis wolle er mit dem Tapfersten der Scythen kämpfen, unter der Bedingung, [XXVIII] dass die Opferungen der Fremdlinge abgeschafft würden, wenn er siege; daraufhin sucht Iphigenie, die um beide gleichermaßen fürchtet, sie zu besänftigen. Aber der König besteht darauf, die Waffen entscheiden zu lassen, auch wenn jener wirklich Orest sei, denn die Fremdlinge seien schließlich gekommen, um das Bild der Göttin zu rauben. Dann aber löst Orest den Knoten, indem er sagt, jetzt erkenne er den Sinn des Orakels: nicht die Schwester des Apoll, sondern die des Orest habe es wegzuführen befohlen. Deshalb fordert er ihn [den Thoas] auf, indem er sie [Iphigenie] als das gesandte Götterbild verstehe, ihn [Orest] mit Iphigenie allein heimkehren zu lassen. Als auch Iphigenie selbst ihn bittet, sagt der König: „So geht! “ Da Iphigenie ihn verdrießlich und nur mit Widerwillen zustimmen sieht, bittet sie ihn inständig, er möge sie nicht unfreundlich entlassen. Er gibt ihren Bitten nach und sagt „Lebt wohl! “ In dieser Szene, die voller Leidenschaft ist und sich durch bedeutungsschwere Worte und glanzvolle Sentenzen auszeichnet, verletzt jedoch dieses letzte „Lebt wohl! “ empfindlich das Gemüt des Zuhörers, weil es weder der Ausdruckweise der Griechischen Tragödie, noch überhaupt der poetischen Kunstsprache entspricht. Denn das Ende einer solchen Dichtung, zumal einer Tragödie, sollte so sein, dass nach der Beschwichtigung der Leidenschaft die Seele zur Ruhe kommt und nicht gewaltsam unterdrückt oder verschwiegen wird, was der Dichter hätte aussprechen sollen. Wenn er es nicht zur Sprache bringt, was lässt er dann anderes zurück als eine unvollständige und ihres Endes beraubte Tragödie? Der Griechische Dichter hätte nicht dieses widerwillig herausgepresste „Lebt wohl! “ verwendet, sondern hätte Thoas so, wie es sich für einen großherzigen Mann geziemt, in mehreren Versen sagen lassen, dass er Iphigenie zwar ungern gehen lasse, aber den Göttersprüchen nachgebe und daher sie selbst und ihren wiedergefundenen Bruder mit guten Wünschen nach Hause zurückkehren heiße. <?page no="173"?> Nachwort „Programm“ und Fragment. Zur Eigenart des Briefwechsels zwischen Goethe und Hermann 213 Von Christoph Michel Dass Goethe im Verlauf seines langen Lebens zahlreiche persönliche Kontakte zu klassischen Philologen hatte, kurz- und längerfristige, einige von größerer Bedeutung für seine Werke, ist bekannt 214 und doch noch nicht im Zusammenhang dargestellt: Hans Rupperts Skizze „Goethe und die Altertumswissenschaftler seiner Zeit. Mit den von Goethe und Heyne gewechselten Briefen“ 215 hat keine Monographie angeregt. 213 Überarbeitete und bibliographisch aktualisierte Wiedergabe des vom Vf. auf dem von der Universität Leipzig veranstalteten internationalen Symposion „Gottfried Hermann (1772-1848)“ vom 11.-13. Oktober 2007 gehaltenen Vortrags (zuerst gedruckt in dem von Kurt Sier und Eva Wöckener-Gade hg. Tagungsband, Tübingen 2010 (Leipziger Studien zur Klassischen Philologie Bd. 6), S. 51-82. ‒ Zitate längerer Passagen aus dem Briefcorpus und den unter „Beilagen“ (o., S. 69-172) versammelten literarischen Texten waren im diskursiven und argumentativen Kontext nicht immer zu vermeiden. - Zur abgekürzt zitierten Literatur s. das Verzeichnis „Siglen und Abkürzungen“, o., S. 7-11. 214 Der Bogen spannt sich vom häuslichen Lateinunterricht durch Johann Jakob Scherbius und den seinerseits durch die Gymnasialzeit am Coburger „Casimirianum“ altsprachlich vorgebildeten Vater (überliefert und publiziert sind unter den Titeln „Exercitia privata“ und „Labores iuveniles“ zusammengefasste deutsch./ lateinische und deutsch/ griechische Übungstexte des jungen Goethe) über den (vom Vater strikt abgelehnten) Wunsch des 15jährigen, sich bei Christian Gottlob Heyne und Johann David Michaelis in Göttingen als Hörer einzuschreiben („Dichtung und Wahrheit“, 1. Teil, 6. Buch; WA I 27, S. 42), die Teilnahme an Vorlesungen Friedrich August Wolfs in Halle (1805), die langjährige fachliche Beratung durch den Altphilologen Friedrich Wilhelm Riemer (zunächst auch Hauslehrer für den Sohn August), später auch durch Karl Wilhelm Göttling, die sporadischen oder längerfristigen Kontakte mit Schulmännern und Universitätslehrern (u. a. Voß d. J., Passow, Osann, Schubarth, Welcker) bis zu dem vermächtnishaften Dankesbrief an Gottfried Hermann vom 12. November 1831 (s. S. 67f.). 215 In: Forschungen und Fortschritte 33 (1959), H. 8, S. 230-236. - Für die in Anm. 214 erwähnten altsprachlichen Grundkenntnisse Goethes s. E. Mentzel, Wolfgang und Cornelia Goethes Lehrer. Ein Beitrag zu Goethes Entwicklungsgeschichte. Nach archivalischen Quellen , Leipzig o. J. [1909], bes. die Kapitel „Johann Jacob Gottlieb Scherbius“ (S. 118-150) und „Johann Georg Albrecht“ (S. 210-239); E. Schwab, Goethe als Lateinschüler . In: Neue Jahrbücher für Pädagogik, 14. Jg. (1911), S. 345-371; C. Köttelwesch, „Nachwort“ zur Fak- <?page no="174"?> 174 Nachwort Nicht einmal sein Vorschlag, „bei einer Neuauflage des Standardwerkes von Ernst Grumach, ‚Goethe und die Antike‘, Berlin 1949, im Abschnitt ‚Altertumswissenschaft‘ die Zeugnisse über F. A. Wolf hinaus um die für die bedeutenden anderen Philologen“ zu vermehren, 216 wurde realisiert, die „Neuauflage“ ist bis heute ein Desiderat. Es blieb bei punktuellen Erschließungen der doch eher raren Beziehungen Goethes zu prominenten ‚Fachgelehrten‘, denen er persönlich begegnete, mit denen er längerfristig korrespondierte, deren Publikationen ihn anregten und beschäftigten. Nur für zwei herausragende Philologen hat die Forschung die Dokumente zusammengeführt, ausgewertet oder zum Sprechen gebracht: Friedrich August Wolf und Gottfried Hermann; und nur Wolfs Briefe sind bisher durch ausführliche Kommentare erschlossen. 217 Eine Gesamtdarstellung der wechselseitig anregenden, von Goethe aber auch immer wieder als belastend empfundenen Kontakte mit Wolf 218 steht noch aus; hingegen sind wir durch die Darstellung Paul Primers 219 über Hermanns Beziehungen zu Goethe simile-Edition der „ Labores Juveniles “, Stuttgart 1964; E. Lefèvre, Goethe als Schüler der alten Sprachen . In: Gymnasium 92 (1985), S. 288-298; D. Hopp (Hg.), „Goethe Pater“. Johann Caspar Goethe (1710-1782) . Begleitband zur Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe Museum, Frankfurt a. M. 2010. 216 Ebd., S. 230, Anm. 1; vgl. Grumach, Bd. 2, S. 933-953; in den Zeugnissen sind außer Wolf auch Hermann und Bentley erwähnt, Hermann ausserdem in den Zeugnissen (1. Bd.) zu Aischylos (Bd. 1, S. 249-253), Euripides (S. 274-297), Plautus (S. 326), Accius (S. 334), zum Abschnitt „Glaube“ (Bd. 2., S. 707-716: Creuzer - Hermann). - Zu Goethe und Welcker s. R. Kekulé von Stradonitz, Goethe und Welcker . In: GJb 19 (1898), S. 186-201; J. Wohlleben, Beobachtungen über eine Nicht-Begegnung: Welcker und Goethe , in: W. M. Calder III u. a. (Hg.), Friedrich Gottlieb Welcker. Werk und Wirkung (Hermes Einzelschriften 49), Stuttgart 1986, S. 3-34. 217 Friedrich August Wolf. Ein Leben in Briefen . Die Sammlung besorgt und erläutert durch Siegfried Reiter. 3 Bde., Stuttgart 1935; die 43 erhaltenen Briefe Wolfs an Goethe (aus dem Zeitraum 1795-1817) hatte Reiter schon im GJb 27 (1906), S. 3-96 veröffentlicht. Für Goethes 30 Briefe an Wolf (1795-1819) müssen die Bände 10f., 14, 16f., 19, 21f., 25, 27 und 31 der Briefabteilung der Weimarer Ausgabe konsultiert werden. Reiter selbst nimmt in seinem „Vorbericht“ zum Problem der fehlenden „Gegenstimme“ Stellung (Bd. 1, S. XIf.). 218 S. die summarische Äußerung Goethes gegenüber Kanzler v. Müller, anlässlich der letzten Begegnung mit Wolf auf dessen Durchreise nach Frankreich, Weimar, 5. April 1824: „Geheimrat Wolf sei der unverträglichste, unleidlichste Sterbliche durch sein ewiges Negieren. Deshalb sei Goethe so gut wie zerfallen mit ihm. Wenn er komme, sei es, als ob ein beißiger Hund, ein reißendes Ungetüm ins Haus trete. ‚[…] Oft hatte ich etwas von ihm gelernt; wenn ich es nach 2 Tagen wieder vorbrachte, behandelte er es wie die größte Absurdität.‘“ (Kanzler Friedrich von Müller, Unterhaltungen mit Goethe , hg. v. Renate Grumach, Weimar 1982, S. 122). - Wertvolle Ergänzungen zu Reiters Edition enthält Rudolf Pfeiffers Besprechung im Gnomon, Bd. 14, Heft 8 (August 1938), S. 401-410. - S. auch: Johannes Irmscher, Friedrich August Wolf e Goethe , in: S. Cerasuolo (Hg.), Friedrich August Wolf e la scienza dell’ antichità. Atti del convegno internazionale, Napoli 24-26 maggio 1995 , Neapel 1997, S. 171-176. 219 Paul Primer, Goethes Beziehungen zu Gottfried Hermann . Schulprogramm des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums Frankfurt a. M. 1913; s. dazu die kritische und weiterführen- <?page no="175"?> „Programm“ und Fragment 175 einigermaßen informiert; aber erst die von Ernst Günther Schmidt, einem der besten Kenner von Hermanns Leben und Werk, durch eine umfängliche Materialsammlung vorbereitete kommentierte Edition des (wenn auch schmalen) Briefwechsels und einer Dokumentation der (von beiden Seiten reichlichen) Sendungen aktueller Publikationen, sollte die Grundlage für eine verlässliche und differenzierte Beurteilung dieses vor allem für Goethes Spätwerk ertragreichen Austauschs schaffen; diese Disposition und die zu Lebzeiten Schmidts noch begonnene Ausarbeitung des umfänglichen Materials blieben für die hier vorgelegte Edition maßgeblich. 220 Ebenfalls auf Schmidts Vorarbeit aufbauend, soll hier über die Vorgeschichte, den Verlauf und Ertrag des Briefkontakts zwischen Goethe und Hermann berichtet und darüber hinaus der Frage nachgegangen werden, wie Goethe die fachspezifischen Mitteilungen Hermanns in seine literarische Produktion integriert, aber auch Hermann fachübergreifend als ,Gleichgesinnten‘ etabliert hat. Dabei ist es bemerkenswert, dass der Briefwechsel mit Hermann erst 1820 einsetzt, kurz nach dem Ende der schriftlichen Korrespondenz mit F. A. Wolf (1819), bemerkenswert ferner, dass Goethe auf Hermann zuerst 1796 aufmerksam wurde, nah an der ersten persönlichen Begegnung mit Wolf und dessen Zusendung der „Prolegomena ad Homerum“ (1795), wodurch der Briefwechsel mit letzterem in Gang gekommen war. 221 Grund für Goethes damaliges Interesse an Hermann war dessen eben erschienene Schrift „De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri III“, die den Vierundzwanzigjährigen mit einem Schlag bekannt machte. Goethe, der für die Arbeit an seiner epischen Dichtung „Herrmann und Dorothea“ ‒ wie schon für den 1794 veröffentlichten „Reineke Fuchs“ ‒ Hexameterstudien betrieb, 222 erwarb die Schrift 223 und begann im Januar 1797 mit deren Studium. 224 Nach Wilhelm v. Humboldts Eindruck wurde sie in der nächsten Zeit zu Goethes „Hauptbuch, das de Besprechung Siegfried Reiters in: Sokrates NF 2 (1914), S. 643-650. - Erste Hinweise auf die Beziehungen und den Briefwechsel bei Hermann Köchly, Gottfried Hermann. Zu seinem hundertjährigen Geburtstage , Heidelberg 1874, S. 62f. u. 227f. 220 S. u.: Editorische Nachbemerkung, S. 209f. ‒ S. auch E. G. Schmidt, Gottfried Hermann , in: Classical Scholarship. A Biographical Encyclopedia , hg. v. W. W. Briggs u. W. M. Calder III, New York/ London 1990, S. 160-175. 221 F. A. Wolf, Ein Leben in Briefen I, S. 172 (Nr. 154); WA IV 10, S. 309 (Nr. 3211). 222 Nicht nur weil ihm Voß’ in der Vorrede zu seiner „Georgica“-Übersetzung dargelegte Anforderungen an die Gestaltung des deutschen Hexameters „sibyllinische Blätter“ geblieben waren (und trotz der Beratung durch Herder, Knebel und Wieland), hatte Goethe 1800 eine metrische Umarbeitung des „Reineke Fuchs“ mit Hilfe A. W. Schlegels begonnen, die jedoch nur hs. für die ersten vier Gesänge überliefert ist (vgl. dazu MA 4.1, S. 1022f.). 223 Ruppert, Nr. 676. 224 Goethes Tgb vom 14. 1. 1797: „Früh Herrmann de Metris. Böttiger wegen des epischen Gedichts“ (GT II 1, S. 93). <?page no="176"?> 176 Nachwort er vorzüglich als eine Autorität zu [metrischen] licenzen zu gebrauchen“ schien. 225 An Humboldt wandte sich Goethe offensichtlich auch mit der Bitte, ihm das Verständnis des Buchs zu erleichtern, wie aus Humboldts Brief an Goethe vom 16. Februar 1797 hervorgeht, dem er ein um eigene Beispiele und Erklärungen erweitertes Exzerpt aus der „Metrik“ beilegte. 226 Humboldt hatte bereits 1795 während eines Besuchs bei Hermann Einblick in dessen Vorarbeiten zur „Metrik“ erhalten und sich danach in einem Brief an Schiller kritisch über Hermanns Prinzipien geäußert (Tegel, etwa 10. Juli 1795): „Dieser Mann, unter dem Sie Sich einen recht eigentlichen Magister mit einem geflickten Rock, in einer engen schmutzigen Stube und unter Büchern vergraben denken müssen 227 , hat den sonderbaren Einfall die Silbenmaaße der Alten aus den Kantischen Kategorien erklären zu wollen. Ein Stückchen muß ich Ihnen doch zur Probe mittheilen. Die Kategorien, die er zur Erklärung anwendet, sind die der Causalität und der Wechselwirkung . Jede Silbe, sagt er, muß durch die vorhergehende bestimmt werden und aus ihr entstehen. Nicht genug aber, daß jede folgende Silbe muß in der vorhergehenden gegründet seyn, so muß auch jede folgende auf die vorhergehende zurückwirken, und alle müssen durch wechselseitige Causalität verbunden seyn. Nun äußern sich aber hiebei zwei Schwierigkeiten: 1., da jede Silbe entstanden sein muß, kann keine die erste seyn, 2., da alle wechselseitig auf einander einwirken, so müßten entweder alle lang oder alle kurz seyn. Die Lösung beider Schwierigkeiten war er nicht im Stande mir in irgend einer Sprache zu sagen, sondern verwies mich lediglich auf sein Buch, das Michaelis erscheint.“ 228 Ob Humboldt seine grundsätzlichen Einwände gegenüber Goethe wiederholt hat, wissen wir nicht; in einem Brief an Wolf vom 3. März 1797 scheinen die Vorbehalte jedoch einer generellen Zustimmung gewichen: „Der Hermann de 225 An Carl Gustav v. Brinckmann, 13. 2. 1797 (Grumach, Begegnungen und Gespräche , Bd. 4, S. 284). 226 Siehe o., S. 69-72: Beilagen, Text 1b. 227 Über Hermanns Leipziger Wohnungen s. E. Platner, Zur Erinnerung an Gottfried Hermann . In: Zeitschrift für die Altertumswissenschaft VII (1849), S. 1-11; Hermann selbst beschreibt seine „Stube“ rückblickend im Brief an Ernst Platner vom 7. 3. 1828: „wie ehemals, unter Büchern, Papieren, Pfeifen, Handschuhen, Sporen und ähnlichen Dingen bunt durch einander“ (in: Neun Briefe Gottfried Hermann’s […] , hg. von Hermann Schöne, Greifswald 1911, S. 14). 228 Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt , hg. v. Siegfried Seidel, Bd.-1, Berlin 1962, S. 64f. - Hermanns Verdienste um die Metrik würdigt aus heutiger Sicht Ernst Günther Schmidt in seinem oben, Anm. 1 genannten Artikel, S. 162f. <?page no="177"?> „Programm“ und Fragment 177 metris hat mich erstaunlich interessiert. Es ist ein Meisterwerk in jeder Absicht. Ich studiere noch sehr daran. Nächstens mehr darüber.“ 229 Eine unmittelbare Antwort Goethes auf Humboldts Mitteilung fehlt, auch ist die praktische Auswirkung von Hermanns metrischem ‚System‘ auf Goethes deutsche Hexameter und generell auf seine Nachbildungen antiker Versmaße noch nicht genügend untersucht: ausser „Herrmann und Dorothea“ wären hier u. a. die „Achilleïs“, „Helena im Mittelalter“, die Versepisteln und Theater-Prologe, Xenien und Elegien, die undatierten Übersetzungen aus „Ilias“ und „Odyssee“ und die polymetrische „Pandora“ einzubeziehen. 230 An äußeren Indizien für Goethes fortgesetzte Beschäftigung mit Hermanns metrischen Studien fehlt es jedenfalls nicht; so erwarb er Hermanns 1799 erschienenes „Handbuch der Metrik“ 231 (das er, neben Karl Philipp Moritz’ „Prosodie“, während der Arbeit an „Pandora“ nutzte 232 ) und lieh „De metris“ an Schiller aus. 233 Mehr noch: Metrisches war ein Gesprächsgegenstand während Goethes (vielleicht durch den Leipziger Verleger Gerhard Fleischer angeregtem) Besuch bei Hermann (seit 1797 Extraordinarius an der Leipziger Universität) am 7. Mai 229 Schiller Nationalausgabe . 35. Bd. Briefwechsel. Briefe an Schiller 25. 5. 1794-31. 10. 1795 , in Verbindung mit Liselotte Blumenthal hg. v. Günter Schulz, Weimar 1964, S. 239 (Nr. 243); s. dazu auch Wilhelm von Humboldts Briefe an Gottfried Hermann . Mitgeteilt und erläutert von Albert Leitzmann, Weimar 1929, S. 5f. (=-Sonderdruck aus der FS zum 70. Geburtstag von Walther Judeich). Die Wolf angekündigte detaillierte Stellungnahme Humboldts zur „Metrik“ ist offenbar nicht erfolgt. Doch eröffnete Humboldt 1809 den Briefwechsel mit Hermann mit der Bitte, seine Übersetzung des „Agamemnon“ zu überprüfen, vor allem „diejenigen Lesarten zu bemerken, welche auf die Übersetzung Einfluß haben können, auch in den Chören die Veränderungen, die Sie im Metrum und der Abtheilung der Verse machen“ (Leitzmann, S. 9). 230 Zu letzterer s. aber die o., Anm. 51, zitierten Bemerkungen v. Wilamowitz’ zu Goethes z. T. anhand von Hermanns „Handbuch der Metrik“ (1799) unternommenen Transfers griechischer Metra in sein Festspiel. 231 Ruppert, Nr. 675. 232 S. Goethes Tgb vom 26. 5. 1808: „Pandorens Wiederkunft […] überlegt. Hermanns Metrik“ (GT III 1, S. 441). 233 S. Goethes Tgb vom 28. 9. 1800 (GT II 1, S. 386). - Zu erwähnen sind auch zwei speziellere Abhandlungen Hermanns zur antiken Metrik, die dieser Goethe zuschickte: Über die bestrittene Cäsur im Trimeter der griechischen Tragödie (Berlin 1817; Ruppert, Nr. 673) und: De epitritis Doriis dissertatio (Leipzig 1824; Ruppert, Nr. 674); Bemerkungen zur Metrik enthält auch die Abhandlung De Ricardo Bentleio eiusque editione Terentii dissertatio (Leipzig 1819), die Goethe als Einzeldruck erhalten hatte (Ruppert, Nr. 1446). Hermanns 1816 in Leipzig erschienenes Buch Elementa doctrinae metricae befindet sich dagegen nicht (mehr? ) in Goethes Bibliothek. - Unsicher ist, ob Goethes von Eckermann unter dem 11. 2. 1831 referierte Kritik an „Philologen der letzten Zeit“, die „sich gar zu viel mit dem Technischen und mit langen und kurzen Sylben zu schaffen gemacht“ hätten (FA II 12, S. 431), auch auf Hermann geht, der in der „Vorrede“ seiner Ausgabe von Euripides’ „Bakchen“ allein 56 Seiten auf das syllabische Augment verwendet hatte. <?page no="178"?> 178 Nachwort 1800, über den er im Tagebuch vermerkte: „[…] zu Prof. Herrmann er ist mit dem Aeschylus und Plautus beschäftigt, über mancherley philologische Gegenstände über Euripides zuletzt über Prosodie und Rhythmik. | Herr Fleischer sagte mir daß das Werk über die Sylbenmaase stark nach England gehe.“ 234 Hermann hat bei dieser Begegnung vor allem Goethes Verteidigung des Euripides und speziell seine Hochschätzung der „Bakchen“ beeindruckt. Darauf kam er im Brief an Goethe vom 10. April 1823 zu sprechen, der die Zusendung seiner Ausgabe der „Bakchen“ ankündigte: „In den Bacchen des Euripides, deren Druck beynahe vollendet ist, habe ich, wenn auch […] bloß auf philologische Kleinigkeiten beschränkt, doch, weil manches sehr misverstanden war, mehr Gelegenheit gehabt, für die, die nicht bloß an dem Buchstaben hängen, unvermerkt aus einer bessern Quelle zu schöpfen, und es wird mich ungemein freuen, wenn ich darin von Ew. Excellenz einigen Beyfall erhalten sollte. Die Erinnerung an ein Urtheil, das Sie vor vielen Jahren einmal über dieses Stück gegen mich aussprachen, ist mir immer dabey gegenwärtig gewesen.“ 235 Auch in der Einleitung zu seiner Edition von Euripides’ „Hekabe“ (1831) kommt Hermann auf das Gespräch zurück: „Euripidis versatile et diversissimis argumentis aptum ingenium memini ante multos annos Goethium in sermone quodam, quum ego Aeschylum et Sophoclem anteferrem, multa cum laude praedicare. Et quis magis idoneus arbiter est, quam is vir, quem, si quem umquam, nascentem placido lumine viderunt Musae? Manebit merito haec laus Euripidis, etiam si non eius sit solius propria.“ 236 Nur bedingt glaubwürdig ist dagegen, was Otto Jahn in seiner „Gedächtnisrede“ auf Hermann (1849) über das Gesprächsthema ‚Metrik‘ berichtet: „Bei dem allgemeinen Aufschwung der poetischen Thätigkeit machte sich damals das Streben geltend, auch in der Vollendung der Form sich den Mustern des Alterthums zu nähern; wie willkommen mußte ein Werk wie die Metrik sein. Besonders Goethe, der damals mit der Achilleïs und der Helena beschäftigt war und genauer in das Wesen der antiken Versmaße einzudringen strebte, nahm den regsten Antheil daran, und als er bald darauf nach Leipzig kam (1800), trat er eines Abends unerwartet zu dem erstaunten Hermann in’s Zimmer. In dem Gespräche, das sich über Verskunst zwischen ihnen entspann, forderte ihn endlich Goethe auf, eine deutsche Metrik zu schreiben, was Hermann mit dem Bemerken ablehnte, es sei Goethe’s Aufgabe die deutsche Metrik zu schaffen.“ 237 234 GT II 1, S. 363. 235 Nach der Hs. (GSA 28 402 St. 2); s. oben, Briefwechsel, Nr. 7, S. 63; in Goethes Bibliothek: Euripidis Bacchae , rec. Godofredus Hermannus, Leipzig 1823 (Ruppert, Nr. 1260). 236 Euripidis Tragoediae , rec. Godofredus Hermannus, Bd. 1.1, Leipzig 1831, S. XIVf. (s. auch GG I, S. 744, Nr. 1565). 237 O. Jahn, Gottfried Hermann. Eine Gedächtnisrede , in: O. J., Biographische Aufsätze , Leipzig 1866, S. 89-132, das Zitat auf S. 112 (s. auch GG I, S. 444, Nr. 1564). <?page no="179"?> „Programm“ und Fragment 179 Dass nach diesem verheißungsvollen Auftakt das Gespräch zwischen Goethe und Hermann über ein langes, zwanzigjähriges Intervall hin nicht in der sichtbaren Form eines Briefwechsels fortgesetzt wurde, berechtigt nicht zu der Annahme, daß Wolfs dominante Persönlichkeit Goethes Interesse an Hermann habe schwinden lassen, wie umgekehrt die Deutung zu kurz greift, der 1820 einsetzende Briefwechsel zwischen Goethe und Hermann sei die Folge einer rapiden Entfremdung zwischen Goethe und Wolf gewesen, sodass Hermann nun „in gewisser Weise den Platz Wolfs eingenommen“ hätte. Vielmehr stehen sachliche Gründe hinter der erneuten (durch eine zweite Begegnung, 1820 in Karlsbad, inaugurierten) Annäherung und der folgenden engeren Zusammenarbeit. Vorbereitet war diese auch durch Goethes in den vorausgegangenen Jahren gewachsenes Interesse an Hermanns Schriften und seine Zustimmung zu Hermanns Position in der zwischen diesem und Friedrich Creuzer öffentlich geführten Debatte über die Auffassung der antiken Mythologie. Ausgelöst hatte den Disput und seine Weiterungen Creuzers Schrift „Symbolik und Mythologie der alten Völker“ (Leipzig 1810-1812), in der die griechische Mythologie als Relikt uralter östlicher Weisheit symbolisch-mystisch verstanden wurde, wogegen Hermann mit der Dissertatio „De Mythologia Graecorum antiquissima“ (Leipzig 1817) 238 opponierte. Seine Ansicht, dass die griechische Religion poetisch-etymologisch zu erklären sei, wiederholte und befestigte er in einem Briefwechsel mit Creuzer, den dieser 1818 unter dem Titel „Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie“ unter beider Namen in Heidelberg veröffentlichte. Der 5. dieser Briefe, in dem Hermann die Streitfrage „wie überhaupt Mythologie zu betrachten und zu behandeln“ sei, durch ein methodisch differenziertes, periodisierendes Konzept zu entscheiden suchte, 239 fand Goethes ungeteilte Zustimmung, der er durch eine knappe Paraphrase unter 238 In Goethes Bibliothek (Ruppert, Nr. 1970); in Goethes Tgb wird die Schrift erstmals am 17. 1. 1818 erwähnt. Am 10. 2. 1818 schrieb Goethe dem Leipziger Buchhändler J. A. G. Weigel: „Können zwey Exemplare der Dissertation des vortrefflichsten Hermanns, dem ich gelegentlich meine Verehrung auszudrücken bitte, | De Graecorum mythologia antiquisssima , | beygelegt werden, so würde es mir sehr angenehm seyn.“ (WA IV 49, S. 25; Nr. 7972) Die „Tag- und Jahres-Hefte“ 1817 bekräftigen das Lob Hermanns: „ Hermann über die älteste griechische Mythologie interessirte die Weimarischen Sprachfreunde auf einen hohen Grad“ (FA I 17, S. 286). 239 Aufgrund seiner Überzeugung, „daß die älteste Griechische Poesie, aus der ich die Mythologie der Griechen abzuleiten versucht hatte, sich durch Einfachheit, wie alles Griechische, characterisire“, und daß „alle alte Nationalmythologie […] aus bildlich dargestellten Philosophemen“ bestehe, „die man, so weit es nur immer möglich ist, aus ihnen selbst erklären“ müsse: „die älteste Nationalmythologie der Griechen muß etymologisch-allegorisch; die Lehre der Priester und Mysterien historisch-dogmatisch; und die exoterische Theorie der Dichter und Philosophen philosophisch-kritisch behandelt und erklärt werden“ ( Briefe über Homer und Hesiodus […], S. 57f., 78, 86). <?page no="180"?> 180 Nachwort dem Titel „Geistes-Epochen. Nach Hermanns neusten Mittheilungen“ im 3. Heft des 1.-Jahrgangs seiner Zeitschrift „Über Kunst und Alterthum“ (1818) Ausdruck verlieh. 240 Bereits in seinem Schreiben an Creuzer vom 1. Oktober 1817, in dem er diesem für die Übersendung der „Briefe“ 241 dankt, hatte Goethe, verbindlich, doch dezidiert und in geradezu feierlich-bekenntnishafter Form, 242 Position bezogen: Ew. Wohlgeboren | bin ich […] den größten Dank schuldig. Sie haben mich genöthigt in eine Region hineinzuschauen, vor der ich mich sonst ängstlich zu hüten pflege. Wir andern Nachpoeten müssen unserer Altvordern, Homers, Hesiods u. a. m., Verlassenschaft als urkanonische Bücher verehren; als vom heiligen Geist Eingegebenen beugen wir uns vor ihnen und unterstehen uns nicht, zu fragen: woher, noch wohin? Einen alten Volksglauben setzen wir gern voraus, doch ist uns die reine charakteristische Personification ohne Hinterhalt und Allegorie Alles werth; was nachher die Priester aus dem Dunklen, die Philosophen in’s Helle gethan, dürfen wir nicht beachten. So lautet unser Glaubensbekenntniß. Geht’s nun aber gar noch weiter, und deutet man uns aus dem hellenischen Gott-Menschenkreise nach allen Regionen der Erde, um das Ähnliche dort aufzuweisen, in Worten und Bildern, hier die Frost-Riesen, dort die Feuer-Brahmen; so wird es uns gar zu weh, und wir flüchten wieder nach Jonien, wo dämonische liebende Quellgötter sich begatten und den Homer erzeugen. Demohngeachtet aber kann man dem Reiz nicht widerstehn, den jedes Allweltliche auf Jeden ausüben muß. Ich habe die gewechselten Briefe mit vielem Antheil wiederholt gelesen, wenn aber Sie und Hermann streiten, was macht unser einer als Zuschauer für eine Figur! 243 Entschiedener noch als in diesem Schreiben und durch den Aufsatz „Geistes-Epochen“ hat Goethe in Briefen an Sulpiz Boisserée vom 17. Oktober 1817 und [10.-]16. Januar 1818 gegen Creuzer (und seine ‚Gefolgsleute‘) Position bezogen und Hermann zu seinem Verbündeten erklärt. Vor allem der Brief vom 16. Januar 1818 macht die Fronten deutlich: „Zuerst spreche ich meine Freude aus über die sich unter uns immer mehr ausgleichende Überzeugung; auch dießmal stimme ich völlig ein. Winkelmanns 240 S. 107-112; der Erstdruck wiedergegeben in FA I 20, S. 243-246; Beilagen, Text 9, S.-97-99. 241 Ruppert, Nr. 1220. 242 Auf diese ‚religiöse‘ Tönung zu achten, hat uns Albrecht Schöne in seinem Buch Goethes Farbentheologie (München 1987) gelehrt. 243 WA IV 28, 266f.; Nr. 7881; vollständige Wiedergabe des Briefs unter Beilagen, Text 6, S.-95. <?page no="181"?> „Programm“ und Fragment 181 Weg, zum Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte, Meyer hat ihn ohne Wanken streng verfolgt, und ich habe ihn auf meine Weise gern begleitet. Der sonstigen treuen Mitarbeiter in diesem Felde gab es auch wohl noch; sehr bald aber zog sich die Betrachtung in Deutung über und verlor sich zuletzt in Deuteleyen; wer nicht zu schauen wußte fing an zu wähnen und so verlor man sich in egyptische und indische Fernen, da man das Beste im Vordergrunde ganz nahe hatte. Zoega fing schon an zu schwanken, Böttcher tastete überall herum, am liebsten im Dunkeln und man hatte nun immerfort an den unseligen dionysischen Mysterien zu leiden. Creuzer, Kanne und nun auch Welcker entziehen uns täglich mehr die großen Vortheile der griechischen lieblichen Mannigfaltigkeit und der würdigen israelitischen Einheit. H e r m a n n in Leipzig ist dagegen unser eigenster Vorfechter. Die Briefe, zwischen ihm und Creuzer gewechselt, kennen Sie, der fünfte ist unschätzbar. Dazu nun seine lateinische Dissertation über die alte Mythologie der Griechen macht mich ganz gesund: denn mir ist es ganz einerley, ob die Hypothese philologisch-kritisch haltbar sey, genug, sie ist kritisch-hellenisch patriotisch und aus seiner Entwickelung und an derselben ist so unendlich viel zu lernen als mir nicht leicht in so wenigen Blättern zu Nutzen gekommen ist.“ 244 Ohne dass es einer direkten Verständigung bedurft hätte, vermutlich ohne davon zu wissen war Hermann also in Goethes und seiner Freunde Kunst- und Kulturprogramm einbezogen, ja zum externen „Vorfechter“ befördert worden, und so fiel auch das Wiedersehen mit Goethe am 20. Mai 1820 in Karlsbad für ihn äusserst erfreulich und trotz des langen Intervalls wie ein Treffen Gleichgesinnter aus. Wieder war es Goethe, der die Initiative ergriff und Hermann „in seiner wunderlichen Bergwohnung“ im Nürnberger Hof aufsuchte; es folgten mehrere Begegnungen bis zum 27. Mai, dem Vortag von Goethes Abreise. 245 In den „Tag- und Jahres-Heften“ 1820 erwähnt Goethe summarisch das Menschlich-Atmosphärische und deutet nur indirekt den sachlichen Ertrag der Gespräche an: „Mit Professor Hermann aus Leipzig führt mich das gute Glück zusammen und man gelangt wechselseitig zu näherer Aufklärung.“ 246 Dass Goethe diese Begegnung als ‚glückliches Ereignis‘ empfand, bestätigt auch ein Bericht 244 WA IV 29, S. 12f.; Nr. 7951; Wiedergabe des Briefs auch unter Beilagen, Text 8, S.-180f. 245 Vgl. Goethes Tgb, 20. 9. 1820: „Gegen Abend hinter St. Florian hinauf, die Stadt Nürnberg aufzusuchen, merkwürdig als augenblickliche Herberge der Professoren Hermann und [Karl Heinrich Ludwig] Poelitz [seit 1815 Prof. der Sächs. Geschichte und Statistik] aus Leipzig“; 21. 9.: „Hermann und Poelitz aus Leipzig“; 22. 9.: „Nach Tische Aufstieg nach der Stadt Nürnberg. Bey der Rückkehr die Herren Professor Hermann und Poelitz angetroffen. Mit ihnen spazieret und conversirt“; 25. 9.: „Am Brunnen, mit Prof. Hermann gesprochen“; 27. 9.: [Nachmittags] Prof. Hermann. Über Trilogie pp.“ (WA III 7, S. 175-178). 246 FA I 17, S. 321f. <?page no="182"?> 182 Nachwort des Weimarer Legationsrats v. Conta, der, seit Mitte Mai in Karlsbad, dort fast täglich Umgang mit Goethe hatte und dadurch auch mit Hermann in Kontakt kam: „An Goethes Stelle wird mir [nach dessen Abreise] Hermann treten, ein kraftvoller, geistreicher Mann, der, wenn er auch kein Goethe ist, doch ebenfalls anregend und belebend durch seine Gespräche wirkt. Und Goethe sagte mir von ihm: ‚Wenn man nur so glücklich wäre, einen so interessanten Mann wenigstens alle Vierteljahre einmal zu sprechen.‛“ 247 Doch nicht nur die Vergewisserung wechselseitiger menschlicher Sympathie (Goethe mag an Hermann auch die von ihm so geschätzten Eigenschaften des Resoluten, Tatkräftigen bewundert haben) ließ die Karlsbader Begegnung zum Kairos und zum Ausgangspunkt längerer Zusammenarbeit werden: es waren vor allem die gemeinsamen Themen, die diese begründeten. Auch darauf kommt Goethe in den „Tag- und Jahres-Heften“ 1820 zu sprechen, wenn er diejenigen Arbeiten Hermanns und Wolfs nebeneinanderstellt, denen er „von jeher“ seine „Hochachtung gewidmet“ habe, oder die ihm„schon längst auf [s]einem Wege vorgeleuchtet“ hätten und ihn auch gegenwärtig (wieder) beschäftigten: Wolfs „Prolegomena“ und Hermanns „Programm über das Wesen und die Behandlung der Mythologie“. An letzterem hebt Goethe die exemplarische Behandlung des Methodischen hervor und demonstriert darüber hinaus an einem einzelnen Beispiel die produktive Wirkung, die von dieser Schrift auf ihn ausging: „[…] was kann uns zu höherem Vortheil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hinrichten! Eine Bemerkung konnte mir nicht entgehen, daß die spracherfindenden Urvölker, bey Benamung der Naturerscheinungen und deren Verehrung als waltender Gottheiten, mehr durch das Furchtbare als durch das Erfreuliche derselben aufgeregt wurden, so daß sie eigentlich mehr tumultuarisch zerstörende als ruhig schaffende Gottheiten gewahr wurden. Mir schienen, da sich denn doch dieses Menschengeschlecht in seinen Grundzügen niemals verändert, die neusten geologischen Theoristen von eben dem Schlage, die ohne feuerspeiende Berge, Erdbeben, Kluftrisse, unterirdische Druck- und Quetschwerke (πιέσματα), Stürme und Sündfluthen keine Welt zu erschaffen wissen.“ 248 Indem Goethe eine an Hermanns philologisch-etymologischen Exempla gewonnene Erkenntnis in eine Attacke gegen seine geologischen Gegner integriert, folgt er demselben Muster wie bei seiner Indienstnahme der Hermannschen 247 K. F. A. Conta an seine Frau, Karlsbad, 26. 5. 1820 (GG III/ 1, S. 173); Hermann habe seinerseits „Goethen wie einen Gott in Menschengestalt“ verehrt (an dies., 27. 5.; ebd., S. 174). 248 FA I 17, S. 316. <?page no="183"?> „Programm“ und Fragment 183 „Mythologie“ für die Zwecke der „Weimarer Kunstfreunde“. Und wiederum vergleichbar ist die Geste, mit der Goethes erstes, auf die Begegnung folgendes und den Briefwechsel seinerseits 249 eröffnendes Schreiben an Hermann diesen (noch immer im Reflex auf die Mythologica) zu weiteren Mitteilungen auffordert ( Jena, 9. [20.] September 1820): „Von großer Wichtigkeit sind […] die Überlieferungen, in welchen das Kennerauge, durch eine späte Hülle, noch immer den alten Kern zu entdecken vermag. Und so möge auch Ihnen ewiger Dank bleiben, daß Sie den alten griechischen Kern uns unverhüllt bewahren und von Zeit zu Zeit, auf mancherley Weise, die Nebel zerstreuen, die sich darüber hin- und herziehen. Leider ist, nicht allein in diesem höchst bedeutenden Felde, sondern auch in so manchem andern das Unheil, daß man nichts abgesondert, charakteristisch, sich selbst gemäß will bestehen lassen, sondern alles mit allem verknüpfen, ja transsubstanziiren möchte. Wie wohlthätig ist daher die ernste Behandlung, mit welcher Sie Nation und Zeitalter, Kunst und Wissenschaft im Innern selbst zusammen halten und befestigen, ohne die Einwirkung von außen zu läugnen, oder die Wirkung nach außen zu verkennen. Welch großes Verdienst bleibt Ihnen, das Unnöthige und Ungehörige, wenn es auch verwandt erscheinen sollte, abzulehnen und an der Seite zu halten. Haben Sie die Güte, mich künftighin mit demjenigen, womit Sie das Öffentliche beschenken, auch bald bekannt zu machen. Das glückliche Zusammenseyn hat mich, bey allzukurzer Dauer, auf’s neue gekräftigt und die Anhänglichkeit und Verehrung, die ich Ihnen längst gewidmet, auf’s neue lebhaft hervorgerufen.“ 250 Beigelegt war diesem Brief Heinrich Meyers Besprechung des Tafelwerks „Iliadis fragmenta antiquissima cum picturis etc. Editore Angelo Majo“, Mailand 1819. 251 Meyer rezensiert in der für ihn charakteristischen kleinschrittigen Weise, im Wechsel von Lob und Tadel die nach älteren, wohl spätantiken Vorlagen angefertigten Umrisszeichnungen zu ausgewählten Partien (‚Szenen‘) der „Ilias“. Sollte diese Sendung nur unbefangene Mitteilung sein und lediglich Hermanns „Aufmerksamkeit an sich ziehen“? Oder sah Goethe nicht bereits in Hermann einen in seinem Fach dem hochgeschätzten Meyer vergleichbaren Geistesverwandten und zudem methodisch ähnlich ‚genau‘ vorgehenden Kriti- 249 S. Briefwechsel, Brief 2, S. 56. Voraus ging Hermanns Brief an Goethe vom 31. 7. 1820 (Briefwechsel, Brief 1, S. 55); zu den beigelegten Schriften Hermanns s. Chronik der Kontakte, 14b (S. 36). 250 WA IV 33, S. 242f.; Vorlage: Hs. Johns in der Slg. Hirzel, UB Leipzig. 251 Erschienen in „Über Kunst und Alterthum“ II 3 (1820), S. 99-116; s. Beilagen, Text 12 (S.-104-111); s. auch die Erläuterungen in FA I 20, S. 1382-1385. <?page no="184"?> 184 Nachwort ker, der auf seine Weise dem „Winckelmannschen Faden“ zu folgen versprach? Enthält doch Hermanns Antwortbrief, sonst von eigenem Rang, in der Anwendung philologischer Kriterien Analogien zu Meyers ästhetischer Bildkritik (15. Oktober 1820): 252 „Aus dem Meere einer kleinlichen und langwierigen grammatischen Untersuchung, in der ich eben befangen bin, habe ich mich wie ein fliegender Fisch ins Freye erhoben und an diesen wohlthätigen Strahlen gesonnt. 253 Die Bemerkungen über die Zeichnungen in dem Mayländischen Homer finde ich sehr gegründet. Ich hatte diese Zeichnungen noch nicht gesehen, da ich das Buch nicht selbst besitze. Jetzt habe ich es geborgt, und bin erstaunt über diese unverkennbaren Nachbildungen alter Denkmäler. Ich hoffe, die in der Abhandlung gegebenen Winke werden von Männern, denen die erforderlichen Sammlungen zu Gebote stehen, benutzt werden. Es wird interessant seyn, den Quellen hier und da auf die Spur zu kommen. Eine auffallende Bestätigung, daß alte Werke zum Vorbild gedient haben, glaube ich darin zu finden, daß manche Scenen nicht nach dem Homer dargestellt sind, z. B. N. XXVI. wo Astyanax schon ein straffer Knabe ist, und N. XXXIV. in dem Dolon. Homer giebt ihm zwar eine Wolfshaut, jedoch nur als Mantel, um. Aber der geschmacklose Verfasser des Rhesus, den ich mehr nach meinem Gefühl, als aus streng erweislichen Gründen für einen Alexandrinischen Dichter halte, läßt ihn ganz in einen Wolf verkleidet auf vier Füssen ins Lager schleichen, so daß man auch hier mit Recht ausrufen kann, Blieb der Wolf in dem Walde, So würd’ er nicht beschrien. Ob ich ihn entschuldige, wenn er ein Bildwerk dabey in Gedanken hatte, mag gezweifelt werden. Gewiß aber dient seine Beschreibung mit jener Zeichnung zusammengehalten, zu einem Grunde, auf das Vorhandenseyn einer solchen Darstellung im Alterthume zu schließen. In den Schlachtengemälden weisen dahin die Reiter. Wohin aber die egalisirten Pferde, da Alcibiades seinen Pferden die Schwänze abschlagen ließ, damit man in Athen etwas zu reden hätte? Einen eigenen Reiz hat in diesen Darstellungen, wie in den meisten alten Kunstwerken, die Unverhältnißmäßigkeit der Nebendinge, wie der Mauern, 252 S. o., Brief Nr. 4 (S. 57-59). 253 Hermanns Dank bezieht sich auf das ihm von Goethe zugeschickte Heft II 3 von „Kunst und Alterthum“ (s. Anm. 251), namentlich auf die ihm schon in Karlsbad durch Conta bekanntgewordenen „Urworte. Orphisch“. - E. G. Schmidt bemerkt, dass bereits die Aufnahme in den Kreis der von Goethe mit einem Freiexemplar des Heftes Beschenkten eine Auszeichnung bedeute; so habe Goethe die wenigen Adressaten im Tgb namentlich verzeichnet: seinen Sohn August, Nicolovius, Schultz, Zelter, Rochlitz, Graf Reinhard, Hermann und Bergius; s. dazu „Chronik der Kontakte“, 15a-16a (o., S. 37f.). <?page no="185"?> „Programm“ und Fragment 185 oder der Erschlagenen. Wenn auch wohl eigentlich aus Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit entstanden, wie späterhin in den Holzschnitten alter Bücher, scheinen diese Andeutungen doch Gesetz worden zu seyn, und indem sie die Sachen bloß symbolisch darstellen, kann das Auge desto bequemer auf den Hauptfiguren ruhen. So dürfte, was in anderer Rücksicht Fehler wäre, als Verdienst erscheinen. Dasselbe Gesetz haben wohl auch die Dichter befolgt. Eben so einfach und großartig stehen in der Griechischen Tragödie und Komödie nur wenige Hauptfiguren da, und es müßte nicht uninteressant seyn, diese dramatische Gruppirung mit der in den Werken der bildenden Kunst zu vergleichen. Doch wer vermöchte dieses, wie Ew. Excellenz? Denn um diese kunstlose Kunst des Alterthums, die mit sicherer Hand überall die wesentlichen Momente faßt, und die Nebensachen nicht achtet, richtig und treffend zu würdigen, bedarf es dieser Kunst selbst, und diese ist eine Göttergabe.“ Sekundierten derartige Bemerkungen und Aufschlüsse Hermanns im Binnenraum des Briefwechsels mit Goethe dessen eigenen Kunstansichten, ohne dass der Empfänger sie andernorts als Bestätigung oder Bereicherung publik gemacht hätte, so nannte Goethe ausdrücklich den Urheber, wenn er aus Hermanns Publikationen zitierte oder ihnen eine Anregung entnahm. Beispielhaft lässt sich das Procedere einer solchen ‚Offenlegung‘ an Goethes Exzerpt eines einzelnen Satzes aus Hermanns Programm „De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli“ (1819) 254 zeigen, den er, vom Kontext isoliert, als „herrliches Wort“ zum Aphorismus, ja zur Maxime erhob und, mit Nennung des (unter Gebildeten inzwischen berühmten) Verfassers, als Fazit ans Ende eines eigenen, naturwissenschaftlichen Aufsatzes stellte. Diese Transposition sah Goethe sich sogar verpflichtet, Hermann (wenn auch als fait accompli) anzuzeigen, indem er ihm (am 5. Oktober 1820) schrieb: „Indessen ist mir ein herrliches Wort aus Ihren Mittheilungen zu Gute gekommen, welches, zwar mit kleinen Lettern, aber mit großer Bedeutung anzuführen mich nicht enthalten konnte. Es ist dieses in dem neusten Heft der Morphologie pp geschehen; ob am rechten Platz, beurtheilen Sie geneigtest selbst, wenn ich genannte Blätter zu übersenden wage.“ 255 Das angekündigte, dann aber (versehentlich? ) doch nicht übersandte, Heft ist das 3. des 1. Bandes von Goethes Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft überhaupt“ (1820; S. 230f.); plaziert ist das Zitat am Schluß eines Aufsatzes über den Horn, 254 S. Anm. 173; wieder abgedruckt in: Opuscula II, 1827, S. 288-305. 255 S. Briefwechsel, Nr. 3 (S. 57). <?page no="186"?> 186 Nachwort einen von Goethe im Mai 1820 besuchten Berg bei Elbogen, dessen merkwürdig gestaltete Basalte „von der Größe einer Kinderfaust“ Rätsel aufgaben: Der Horn Ein freier hoher Gebirgsrücken, der auf einer flachen Höhe aufsitzt, bleibt dem Reisenden nach Carlsbad rechts, und wird von dorther immer als ein ansehnlicher Berg beachtet. Seinen Gipfel habe nie bestiegen, Freunde sagen er sei Basalt, so wie die von der Fläche seines Fußes gewonnenen Steine. Sie werden zur Chausseeausbesserung angefahren und haben das Merkwürdige daß sie, ohne etwa zerschlagen zu sein, einzeln klein sind, so daß eine Kinderhand die kleinern, die größern eine Knabenhand gar wohl zu fassen vermöchte. Sie werden also zwischen einem Tauben- und Gänseei hin- und wiederschwanken. Das Merkwürdigste aber hiebei darf wohl geachtet werden: daß sie sämtlich, genau besehen, eine entschiedene Gestalt haben, ob sie sich gleich bis ins Unendliche mannigfaltig erweisen. Die regelmäßigsten vergleichen sich dem Schädel eines Tiers, ohne untere Kinnlade; sie haben alle eine entschiedene Fläche auf die man sie legen kann. Alsdann stehen uns drei Flächen entgegen, wovon man die obere für Stirn und Nase, die beiden Seiten für Oberkiefer und Wangen, die zwei rückwärts für die Schläfe gelten läßt, wenn die hinterste, letzte dem Hinterhaupt zugeschrieben wird. Ein Modell in diesem Sinne verfertigt zeigt einen regelmäßigen Krystall, welcher nur selten in der Wirklichkeit erscheint; der aber, sobald man diese Grundform, diese Grundintention der Natur einmal anerkannt hat, überall, auch in den unförmlichsten Individuen wieder zu finden ist. Sie stellen sich nämlich von selbst auf ihre Base und überlassen dem Beobachter die übrigen sechs Flächen herauszufinden. Ich habe die bedeutendern Abweichungen in Ton nachgebildet und finde daß selbst die unregelmäßigsten sich zu einer oder der andern Mittel-Gestalt hinneigen. Sie scheinen nicht von der Stelle gekommen zu sein. Weder merklich abgestumpft noch abgewittert, liegen sie auf den Äckern um den Berg wie hingeschneit. Ein geistreicher junger Geolog sagte: es sähe aus wie ein Aerolithen-Haufen, aus einer frühern, prägnanten Atmosphäre. Da wir im Grunde nicht wissen, woher diese Dinge kommen mögen; so ist es gleichviel ob wir sie von oben oder von unten empfangen, wenn sie uns nur immer zur Beobachtung reizen, Gedanken veranlassen und zu Bescheidenheit freundlich nötigen. Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. Hermannus.“ 256 256 S. o., Beilagen, Text 13 (S. 112). <?page no="187"?> „Programm“ und Fragment 187 Legt der unmittelbar vorausgehende Satz nahe, das angezogene Zitat als generelle Aufforderung zur (von Goethe noch öfter empfohlenen) Selbstbescheidung des Forschers zu verstehen, so läßt der Kontext des gesamten Aufsatzes noch eine andere Lesart zu: bildet doch auch seinen Hintergrund Goethes lebenslanges Misstrauen gegenüber den aus Phänomenen des Vulkanismus abgeleiteten Erdentstehungs-Theorien. Darauf verweist die wegen fehlender Autopsie als Kautele formulierte Bemerkung „Freunde sagen es sei Basalt“. Selbst die wohlwollend referierte Deutung des „geistreiche[n] junge[n] Geolog[en]“ (vermutlich C. F. v. Conta), es handele sich um ein ‚kosmisches‘ Phänomen, impliziert einen Vorbehalt, indem Goethe den gängigen, ihm suspekten Begriff „Meteoriten“ (aus dem Weltraum herabgestürzte Steine) durch „Aerolithen“ (durch Kondensation entstandene atmosphärische Steine) ersetzt, d. h. eine weniger spektakuläre, ‚erdnähere‘ Erklärung bevorzugt, für die nächstliegende aber, Basaltzerklüftung, 257 sich gar nicht erst entscheidet, sondern auf die ihm geheure Empirie ausweicht und an der merkwürdigen Form die Grundintention der Natur zur Gestalt erläutert. Das Zitat der „ars nesciendi“ dürfte demnach hier nicht so sehr einer Vertiefung der Bescheidenheits-Topik als der Verhüllung eines geologischen Rückzuggefechts dienen. In einem anderen Licht erscheint Hermanns dictum, wenn man seinen Kontext noch um den Schluß des im selben Heft vorausgehenden Artikels erweitert, in dem Goethe Carl Wilhelm Noses wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung „Historische Symbola, die Basalt-Genese betreffend, zur Einigung der Parteien dargeboten“ (1820) 258 in einem „kurzen, geordneten Auszug“ referiert. Gerade Goethes morphologische Hefte sind von ihm so angelegt, dass ihre Artikel miteinander korrespondieren, sich wechselseitig erhellen. Dementsprechend weist der Schlussabschnitt des Referats auf Hermanns ‚Maxime‛, genauer: auf die ihr von Hermann beigegebene (von Goethe nicht zitierte) Erläuterung, 259 voraus, in der, wie auch bei Nose, die „wichtigste Frage“ zur Sprache kommt „inwiefern wir ein Unerforschtes für unerforschlich erklären 257 Nach heutigem Verständnis die zutreffende Erklärung; vgl. FA I 25, S. 1126. 258 Ruppert, Nr. 4942. 259 „De Musis fluvialibus Epicharmi et Eumeli“ ( Opuscula II, 1827, S. 288): „Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia. Nam si turpe est nescire, quae possunt sciri, non minus turpe est, scire se putare, quae sciri nequeunt. Alterum enim segnitiem aut inertiam, alterum assentandi levitatem aut temeritatem coniectandi arguit. Posita est autem haec, quam dico, ars in eo, ut quis cognito, quousque progredi sciendo liceat, quod citra est, strenue persequatur, quod autem ultra est, ab eo sese abstineat”. Auf die Affinität dieser Stelle zu Kants Wissenschaftsbegriff hat bereits Köchly verwiesen (S. 11f. mit Anm. 16); genauer jetzt: Michael Schramm, Hermann und Kant . In: Hermann-Symposion 2007, S. 118f. u. 120f. - Vgl. auch Goethes bekannten, vermutlich 1829 aus Plutarchs Moralia in die eigene wissenschaftsphilosophische Terminologie ‚übersetzten‘, Prosa-Spruch: „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist das Unerforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren“ (FA I 13, S. 240; s. dort ferner im Begriffsregister die Stichworte „Unendliches“, „Unerforschliches“ und „[Selbst-]Beschränkung“). <?page no="188"?> 188 Nachwort dürfen, und wie weit es dem Menschen vorwärts zu gehen erlaubt sei, ehe er Ursache habe vor dem Unbegreiflichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen? “ Goethe beantwortet sie auf eigene, sich von der Antwort der Gelehrten unterscheidende Weise: „Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gar wohl gezieme ein Unerforschliches anzunehmen, daß er dagegen aber seinem Forschen keine Grenzen zu setzen habe; denn wenn auch die Natur gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen sie im Vorteil, daß er, wenn auch nicht durch sie durch, doch über sie hinaus denken kann. Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir, in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit, von Angesicht zu Angesicht anschauen und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das, in seiner Einfalt, Unbegreifliche sich in tausend und aber tausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unveränderlich offenbart.“ 260 Goethes Letztbegründung seiner Abstinenz, das Aperçu, führt über die Aporie hinaus und weist ihn wieder auf die Empirie zurück, öffnet den Blick aufs neue für die unendliche Varietät der Erscheinungen und hält auch den Weg zur Erklärung des ‚Problematischen‛ und ‚Rätselhaften‛ offen. Für solche, nicht auf die Naturwissenschaften beschränkten, sondern im weitesten Sinn ästhetischen „Offenbarungen“ liefern Hermanns „Programme“ Goethe das willkommenste Substrat. Bereits bei der letzten Karlsbader Begegnung hatte Goethe im Tagebuch das Stichwort „Über Trilogie pp.“ notiert, 261 und in seinem ersten Brief an Goethe vom 31. Juli 1820 schrieb Hermann von eigenen Schriften der letzten Jahre, „von denen einiger damals Erwähnung geschah“. 262 Darunter dürfte sich auch das Programm „De compositione tetralogiarum tragicarum“ (1819) befunden haben, das Hermann nun nachträglich seinem Brief beilegte. 263 Diese Abhandlung fasste Goethe in einem eigenen kleinen Aufsatz zusammen, den er 1823 in „Ueber Kunst und Alterthum“ 264 veröffentlichte: „Die tragischen Tetralogien der Griechen, Programm von Ritter Hermann 1819“: „Auch dieser Aufsatz deutet seiner Ansicht und Behandlung nach auf einen meisterhaften Kenner, der das Alte zu erneuen, das Abgestorbene zu beleben versteht. 260 MA 12, S. 542. 261 27. Mai 1820 (WA III 7, S. 178). 262 S. o., Briefwechsel, Brief 1, S. 55. 263 S. „Chronik der Kontakte“ 14b (o., S. 36). 264 IV 2, S. 158-165; s. auch „Chronik der Kontakte“ 20 (S. 41), Beilagen, Text 17 (S.-132-135). <?page no="189"?> „Programm“ und Fragment 189 Es kann nicht geläugnet werden, daß man sich die Tetralogien der Alten sonst [= früher] nur gedacht als eine dreyfache Steigerung desselben Gegenstandes, wo im ersten Stück die Exposition, die Anlage, der Hauptmoment des Ganzen vollkommen geleistet wäre, im zweyten darauf sich schreckliche Folgen ins Ungeheure steigerten, im dritten aber, bey nochmaliger Steigerung, dennoch auf eine gewisse Weise irgend eine Versöhnung herangeführt würde; wodurch denn allenfalls ein viertes munteres Stück, um den Zuschauer, den häuslicher Ruhe und Behaglichkeit bedürftigen Bürger wohlgemuth zu entlassen, nicht ungeschickt angefügt werden konnte. Wenn also z. B. im ersten Stück Agamemnon, im zweyten Klytämnestra und Aegisth umkämen, im dritten jedoch der von den Furien verfolgte Mutter-Mörder durch das athenische Oberberufungsgericht losgesprochen und deßhalb eine große städtische ewige Feyer angeordnet würde, da kann uns dünken, daß dem Genie hier irgend einen Scherz anzuknüpfen wohl mochte gelungen seyn. Ist nun zwar, wie wir eingestehen, die griechische Mythologie sehr folgereich und langmüthig, wie sich denn der umsichtige Dichter gar bald überzeugen wird, daß aus jedem Zweig jenes gränzenlosen Stammbaums ein paar Trilogien heraus zu entwickeln wären; so kann man doch begreifen, daß, bey unerläßlichen Forderungen nach immer sich überbietenden Neuigkeiten, nicht immerfort eine gleich reine Folge zu finden gewesen. Sollte sodann der Dichter nicht bald gewahr werden, daß dem Volk an der Folge gar nichts gelegen ist? sollte er nicht klug zu seinem Vortheil brauchen, daß er es mit einer leichtsinnigen Gesellschaft zu thun hat? Er giebt lieber sein Innerstes auf, als es sich ganz allein und umsonst sauer werden zu lassen. Höchst natürlich und wahrscheinlich nennen auch wir daher die Behauptung gegenwärtigen Programms: eine Tri- oder gar Tetralogie habe keineswegs einen zusammenhängenden Inhalt gefordert, also nicht eine Steigerung des Stoffs, wie oben angenommen, sondern eine Steigerung der äußeren Formen, gegründet auf einen vielfältigen und zu dem bezweckten Eindruck hinreichenden Gehalt. In diesem Sinne musste nun das erste Stück groß und für den ganzen Menschen staunenswürdig seyn; das zweyte, durch Chor und Gesang, Sinne, Gefühl und Geist erheben und ergötzen; das dritte darauf durch Aeußerlichkeiten, Pracht und Drang aufreizen und entzücken, da denn das letzte zu freundlicher Entlassung so heiter, munter und verwegen seyn durfte als es nur wollte. Suchen wir nun ein Bild und Gleichniß zu unseren Zeiten. Die deutsche Bühne besitzt ein Beyspiel jener ersten Art an Schillers Wallenstein, und zwar ohne daß der Dichter hier eine Nachahmung der Alten beabsichtigt hätte; der Stoff war nicht zu übersehen, und zerfiel dem wirkenden und schaffenden Geiste nach und nach selbst gegen seinen Willen in mehrere Theile. Der Empfindungsweise neuerer Tage gemäß bringt er das lustige heitere Satyrstück: d a s L a g e r <?page no="190"?> 190 Nachwort voraus. In den P i c c o l o m i n i ehren wir die fortschreitende Handlung; sie ist noch durch Pedanterie, Irrthum, wüste Leidenschaft niedergehalten, indeß zarte himmlische Liebe das Rohe zu mildern, das Wilde zu besänftigen, das Strenge zu lösen trachtet. Im dritten Stücke mißlingen alle Versuche der Vermittlung; man muß es im tiefsten Sinne hochtragisch nennen, und zugeben, daß für Sinn und Gefühl hierauf nichts weiter folgen könne. Nun müsen wir aber, um an die von dem Programm eingeleitete Weise, völlig Unzusammenhängendes auf einander glücklich und schicklich folgen zu lassen, durch ein Beyspiel irgend eine Annäherung zu gewinnen, uns über die Alpen begeben, und uns die italiänische, eine dem Augenblick ganz gewidmete Nation, als Zuschauermasse denken. So sahen wir eine vollkommen ernste Oper in drey Akten, welche, in sich zusammenhängend, ihren Gang ruhig verfolgte. In den Zwischenräumen der drey Abtheilungen erschienen zwey Ballette, so verschieden im Charakter unter einander als mit der Oper selbst; das erste heroisch, das zweyte ins Komische ablaufend, damit die Springer Gewandtheit und Kräfte zeigen konnten. War dieses vorüber, so begann der dritte Akt der Oper, so anständig einherschreitend, als wenn keine Posse vorhergegangen wäre. Ernst, feyerlich, prächtig schloß sich das Ganze. Wir hatten also hier eine Pentalogie, nach ihrer Weise der Menge vollkommen genugthuend. Noch ein Beyspiel fügen wir hinzu: denn wir sahen, in etwas mäßigern Verhältnissen, Goldonische dreyaktige Stücke vorstellen, wo zwischen den Abtheilungen vollkommene zweyaktige komische Opern auf das Glänzendste vorgetragen wurden. Beyde Darstellungen hatten weder dem Inhalt noch der Form nach irgend etwas mit einander gemein, und doch freute man sich höchlich, nach dem ersten Akt der Comödie, die bekanntbeliebte Ouvertüre der Oper unmittelbar zu vernehmen. Eben so ließ man sich, nach dem glänzenden Finale dieses Singaktes, den zweyten Akt des prosaischen Stücks gar wohl gefallen Hatte nun abermals eine musikalische Abtheilung das Entzücken gesteigert, so war man doch noch auf den dritten Akt des Schauspiels höchst begierig, welcher denn auch jederzeit vollkommen befriedigend gegeben ward. Denn der Schauspieler, compromittirt durch seine sangreichen Vorgänger, nahm nun alles was er von Talent hatte zusammen, und leistete, durch die Ueberzeugung seinen Zuschauer im besten Humor zu finden selbst in guten Humor versetzt, das Erfreulichste, und der allgemeine Beyfall erscholl beym Abschluß auch dieser Pentalogie, deren letzte Abtheilung gerade die Wirkung that wie der vierte <?page no="191"?> „Programm“ und Fragment 191 Abschnitt der Tetralogien, uns befriedigt, erheitert und doch auch gemäßigt nach Hause zu schicken.“ Obwohl Goethe gleich zu Beginn seines Referats hinter Hermann zurücktritt und ihm das Verdienst zuspricht, ein (wissenschaftlich fundiertes) theatralisches Gegenkonzept zu dem abstrakten Schema des ‚trilogischen Verbandes‘ (Satz - Gegensatz - Vermittlung) entwickelt zu haben, das August Wilhelm Schlegel in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ (Wien 1808) formuliert hatte, 265 ist sein Beitrag durchaus nicht nur eine Illustration der Hermannschen These. Vielmehr steht hinter den von Goethe angeführten Beispielen einer von wirkungsästhetischen Absichten, (in Hermanns Terminologie: durch die „tractatio“, nicht das „argumentum“) 266 bestimmten Folge der Stücke seine eigene langjährige (erst eben, 1817, beendete) Praxis in der Entwicklung und Leitung des Weimarischen Theaters. Wie diese bleiben hier auch die Kritiker der Goetheschen Programmgestaltung unerwähnt ‒ und wiederum sein Befremden über die von A. W. Schlegel rigoros auf den Punkt gebrachte Definition der Trilogie als eines „dreiaktigen Dramas“, 267 auch diese in Goethes Sicht Bestandteil der regressiven Kunstansichten der ‚Romantiker‘. Hermann dagegen setzte sich mit Schlegels These in ihrer aktuellen Wiederaufnahme durch den (Bühnen-)Architekten und Archäologen Hans Christian Genelli auseinander, gegen dessen ‚aufführungspraktisches‘ Werk „Das Theater zu Athen“ 265 Der erste Teil der Vorlesungen „Über dramatische Kunst und Literatur“ erschien 1809 in Heidelberg. In der teilweise noch unausgearbeiteten Manuskriptfassung notiert Schlegel zu der Frage „Was eine Trilogie sei? “: die Verknüpfung mehrerer Tragödien, „unbeschadet der beschlossenen Selbständigkeit“, „vermöge eines gemeinsamen durch ihre Handlungen hingehenden Verhängnisses zu einem großen Zyklus […]. Dieser beschränkte sich aber auf die Zahl drei (welche auch bei der Einteilung in Akte die einzig gültige ist, nämlich: Anfang, Mittel und Ende) als die Satz, Gegensatz und Vermittlung beider in sich enthält“ (A. W. Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur , hg. v. Edgar Lohner, Stuttgart 1964, S. 281). - Hermanns Thesen in De compositione bespricht vor dem Hintergrund der Aufklärungsästhetik und der zeitgenössischen Gegenpositionen Petersen, S. 167-173 („Über die Auflösung des trilogischen Verbandes“). 266 Ziel war eine möglichst große Verschiedenheit der einzelnen Stücke. „Wie in der Musik führt das Gesetz der ‚diversitas‘ nach Hermanns Meinung auch in der Tragödie zu einer Dreiteilung. Sie wird begründet mit dem rationalistisch-psychologischen Hinweis, dass der Zuschauer in dreifacher Weise angesprochen werden müsse: durch das Herz (‚animis‘), durch die Ohren (‚auribus‘) und durch die Augen (‚oculis‘). Für Hermann sind dies aber nicht drei Bereiche, die in der Aufführung zu gleicher Zeit angesprochen werden, sondern er verteilt sie mit ihren Schwerpunkten auf die drei Teile der Trilogie: die erste Tragödie bringt gedrängte Handlung für das Herz, die zweite Musik für die Ohren, die dritte Neues und Überraschendes für das Auge“ (Petersen, S. 167f.). 267 A. W. Schlegel, Vorlesungen 1, S. 141. <?page no="192"?> 192 Nachwort (Berlin 1818) er in seinem ‚Programm‘ polemisiert. 268 Ganz vermeidet Goethe in seinem Referat schließlich den Reflex auf die in eigenen Dramen praktizierten genre-fremden oder die Stringenz der Handlung unterbrechenden ‚Digressionen‘, die, auch sie „Beyspiele […] unzusammenhängend-gesteigerte[r] theatralische[r] Darstellungen“, 269 von Goethe selbst oder von Dritten kritisiert worden waren und an dieser Stelle mit neuen Argumenten hätten verteidigt werden können (z. B. „Proserpina“ im „Triumph der Empfindsamkeit“; 270 der ‚opernhafte’ „Egmont“-Schluss; 271 das „Intermezzo“ in der Walpurgisnacht-Szene des „Faust I“ 272 ). Doch selbst wenn Goethe auf solche Exempla verzichtet, ist sein scheinbar objektives Referat, sind seine kunsttheoretischen und poetologischen Aufsätze (wie das Organ „Über Kunst und Alterthum“) insgesamt Mitteilungen ‚in eigener Sache‘, indirekt 273 Lehrschriften. Konsequent lässt Goethe, indem er ganz auf die theatralische Praxis zielt, Hermanns systematischen, auf Kant zurückweisenden, Ansatz 274 ausser acht und bedient sich der Elemente, die ihm für seine ‚modernen Avantagen‘ oder kreativen Palingenesien brauchbar erscheinen. Dieser Modus bestimmt auch Goethes durch Hermann angestoßene, unter beständigem Rekurs auf dessen ‚Programme‘ unternommene Rekonstruktionen antiker Dramen. Während unvollendete oder fragmentarisch überlieferte Werke der bildenden Kunst und Architektur Goethe von früh auf zu Rekonstruktionen herausgefor- 268 Siehe dazu Petersen, S. 168f.; ebd. auch ein Hinweis auf die von Friedrich Gottlieb Welcker in Die Aeschyläische Trilogie Prometheus […] nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt (Darmstadt 1824) geäußerte Kritik an Hermanns De compositione . 269 Goethe an Hermann, Weimar, 6. 4. 1823; s. o., Briefwechsel, Brief 6 (S. 61f.). 270 Dazu Goethes späte Selbstkritik: „ Proserpina […] freventlich in den „Triumph der Empfindsamkeit eingeschaltet und ihre Wirkung vernichtet“ (TuJ: „Bis 1780“; FA I 17, S. 13). 271 Mit dem Tadel, Goethe habe sich, indem er sein Publikum zuletzt durch „einen Salto mortale in eine Opernwelt“ versetze, „an Natur und Wahrheit versündigt“, endet Schillers berühmte Rezension des „Egmont“ in der „Allgemeinen Literaturzeitung“ 1788, Sp. 778 (SNA 22, S. 209). 272 „Walpurgisnachtstraum oder Oberons und Titanias goldne Hochzeit. Intermezzo“: FA I 7/ 1, S. 181-187; die komtroverse Diskussion über diese „Einstreuung von satyrischem Häckerling in ein ewiges Gedicht“ (F. T. Vischer) hat Albrecht Schöne in „Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte“, München ³1993, S. 113- 119, dokumentiert und selbst vehement gegen die Plazierung dieses „handlungslose[n] Blocksberg -Theater[s]“ Stellung bezogen (so noch in FA I 7/ 2, S. 362-364). 273 Im Unterschied zu den „Propyläen“, denen mit der „Einleitung“ ein umfangreicher ‚avis au lecteur‘ beigegeben war (vgl. Victor Langes Kommentar in MA 6.2, S. 954-958 sowie den Abschnitt „Kunstpolitik“ in Langes Bandeinführung zu MA 6.1, S. 869-872). 274 Siehe Anm. 265. <?page no="193"?> „Programm“ und Fragment 193 dert hatten, 275 datieren derartige Versuche im Literarischen sämtlich erst aus dem letzten Lebensjahrzehnt - den e i n e n großen Plan, Schillers „Demetrius“-Fragment zu vollenden, ausgenommen. 276 Lapidar vermerken die „Tag- und Jahres-Hefte“ zu 1821 den Ausgangspunkt: „Die Fragmente Phaethons, von Ritter Hermann mitgetheilt, erregten meine Productivität. Ich studirte eilig manches Stück des Euripides, um mir den Sinn dieses außerordentlichen Mannes wieder zu vergegenwärtigen. Professor Göttling übersetzte die Fragmente und ich beschäftigte mich lange mit einer möglichen Ergänzung.“ 277 Die Dissertatio Euripidis fragmenta duo Phaethontis e cod.[ice] Claromontano edita (Leipzig 1821) 278 erreichte Goethe als Beilage zu Hermanns Brief vom 15. Juli 1821 kurz vor der Abreise nach Eger und Marienbad (26. Juli bis 15. September) und fand augenblicklich Goethes Interesse; er nahm das Heft auf die Reise mit, und bereits am Tag nach der Ankunft in Marienbad verzeichnet sein Tagebuch eine erste Lektüre. 275 Beispielsweise die Münsterturm-Rekonstruktionen in Straßburg; später: „Myrons Kuh“, „Der Tänzerin Grab“ sowie die Galerie-Rekonstruktionen „Polygnots Gemälde“ und „Philostrats Gemälde“. 276 S. dazu Goethes Bericht in den TuJ zu 1805; FA I 17, S. 141-143. - F. W. Riemer notiert unter dem 29. 8. 1809: „Bei Goethe. Aus Schlegels Vorlesungen vorgelesen. […] Zu den Supplices hat er [Goethe] früher das dritte Stück der Trilogie erfunden und im Kopfe ausgeführt, aber nichts aufgeschrieben“ (G II, S. 473; Nr. 3025). 277 FA I 17, S. 328. 278 Wiederabdruck in Opuscula III, S. 3-21; dort verweist Hermann eingangs in einer Fußnote auf Goethes Rekonstruktion, indem er bezeichnenderweise auf den D i c h t e r abhebt: „Adverterunt haec fragmenta Goethium, quamvis grandaeva in senecta non cithara carentem. Iuvabat contulisse, quae scripsit in libro cui indicem fecit Kunst und Alterthum vol. IV. parte 2. et vol. VI. parte 1.“ Am Ende seiner kurzen textgeschichtlichen Praefatio skizziert Hermann als Hilfe zum Verständnis der im folgenden mitgeteilten Fragmente den tradierten Mythos und schließt mit einem Problem, für das Goethe später eine überzeugende Lösung fand: „Ad haec fragmenta intelligenda satis est scire, Clymenen, quae ex Sole clam Phaethontem pepererat, Meropi, regi Aethiopium nuptam esse, Phaethontemque pro filio Meropis haberi. Cui quum, ut Ovidius narrat, de origine sua dubitatio iniecta esset, a matre, unde natus sit, accipit, Solemque ipsum ea de re adire iubetur. Hinc, ut fabulae fragmenta ostendunt, fatalis casus Phaethontis sequebatur, cuius ambustum corpus matri affertur eo ipso tempore, quo Merops nuptias filii instituebat. Deam, vel dearum cuiuspiam filiam ei destinatam uxorem fuisse, verba poetae docent. Sed quae illa sit, ego tanto minus vereor mihi ignotum profiteri, quod etiam Boettigerus, vir veteris mythologiae scientissimus, interroganti mihi non cognitam sibi hanc Phaethontis sponsam esse respondit“ (S. 6). - Die Komplexität von Goethes Rekonstruktion des Phaethon erhellt Petersen, S. 173-196; s. aber auch die noch immer lesenswerte ältere Studie von Karl Fries, Goethe und Euripides , in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 99 (1897), S. 253-270. - Zu Hermanns zahlreichen Versuchen, verlorene antike Tragödien aus ihren überlieferten Fragmenten zu rekonstruieren, s. Martin L. West, „Hermannus de argumentis tragicis restituendis“, in: Hermann-Symposion 2007, S. 265-276. <?page no="194"?> 194 Nachwort Allerdings trafen die Anregungen Hermanns auf Goethes höchste Empfänglichkeit. Denn bereits 1820 hatte Goethe sich Wolfs Prolegomena wieder vorgenommen und seinen 1798 begonnenen „Auszug aus der Ilias“ fortgesetzt, den er 1821 abschloss. Dass er zu diesem Zeitpunkt unter den Gelehrten und im gebildeten Publikun, vor allem unter den Jüngeren, ein Ende der von ihm durchlittenen Chorizonten-Phase in der Homerauffassung gekommen sah, sprach er in Briefen und Gesprächen, im Tagebuch und in den „Tag- und Jahres-Heften“ immer wieder aus, am anschaulichsten wohl im „Entwurf einer Einleitung zum Auszug der Ilias“ vom 3. Dezember 1820: „[…] Seit dreysig Jahren hat die sondernde und zweifelnde Kritik dergestalt überhand genommen daß wir fast allen Glauben an schriftlich Ueberliefertes verlieren mußten. Ein Alter Autor nach dem andern ward uns entrißen und wir sahen nichts als Trümmer jener hohen Zeit auf zerfetztem Pergament, und trauerten wie uns eine Marmorsammlung halbzerstörter Kunstwercke traurig macht. Wir waren so alt als möglich geworden auf einmal ermannt sich die deutsche Jugend wieder neigt sich ehrfurchtsvoll vor der Bibel wie vor dem Homer und stellt die Lebendigkeit, Würde, Einheit und frische Jugendkraft wieder her. […] Deshalb säum ich denn nicht frühere Arbeiten in solchem Sinne unternommen jetzt wieder vorzunehmen, durchzusehen und zu redigiren; dazu gehört den[n] jetzt ein Schema der Ilias, welches die sämmtlichen Motive der Handlung in genauer Folge darstellen soll, wodurch man verleitet werden kann [anzunehmen, daß] dieses unsterbliche Werck wenn es auch nicht völlig fertig und gerüstet wie Pallas entsprungen wäre[,] doch auf einen Hephaistos hindeutet, welcher so künstlich zu arbeiten weiß daß Leuchter sich von selbst von und zu ihren Plätzen bewegen und goldene Mädchen mit Sinn und Anmuth ihrem Schöpfer unter die Arme greifen. […]“ 279 Wie eng für Goethe Homer-Philologie und Tragödien-Restauration zusammenhingen, zeigt sich auch im Terminologischen, so, wenn er dem jungen Homerforscher Karl Ernst Schubarth über seine Arbeit an „Phaethon“ berichtet: er beschäftige sich nun (Ende 1821), „mit Beyhülfe und Einschaltung schon be- 279 AA-Ls 4, S. 201f. (Textkorruption; ergänzt von C. M.); im Tgb vom 4.12.1820 bezeichnete Goethe die Diktat-Handschrift dieses Entwurfs mit „Über die Lust zu trennen und zu verbinden“ (WA III 7, S. 255). Ähnlich, doch knapper beschreibt er den Paradigmenwechsel in den Tag- und Jahres-Heften zu 1820 (FA I 17, S. 328), wo er auch einen der jungen Philologen, Karl Ernst Schubarth, nennt, dessen Ideen über Homer und sein Zeitalter eben erschienen waren. Die ‚Internationalität‘ des Aufbruchs betont er im Entwurf einer Anzeige von Campbells Lectures on Poetry (AA-Ls 1, S. 151; 4, S. 205-207). <?page no="195"?> „Programm“ und Fragment 195 kannter Fragmente dieses Stücks das Ganze vor den Geist wieder herzustellen, indeß die Chorizonten auch an den ganzen Stücken nieseln und rütteln“. 280 Zum Intentionalen kommen ‚technische‘ Vorkenntnisse. Wenn Goethe auch rückblickend an Hermann schrieb, dessen Programme hätten seine d i c h t e r i s c h e Produktivität erregt, sein ‚lebendiges Ahnungsvermögen‘ angesprochen, 281 er also den divinatorischen Aspekt seiner Rekonstruktionen hervorhob, so war er doch auch in der philologischen Erschließung fragmentarischer Texte erfahren und auf sie vorbereitet: durch frühe Bearbeitungen antiker Stücke, durch die an archäologischen und kunstgeschichtlichen Objekten geschulte Kombinatorik und durch die im dauernden Kontakt mit der Bühne geübte, bis ins kleinste Detail dringende inszenatorische Phantasie und Anschauungskraft. In die Textphilologie hatten ihn die Korrespondenz und Gespräche mit F. A. Wolf eingeführt, doch auch der Umgang mit humanistisch Gebildeten wie Herder, Voss, Wieland, Wilhelm v. Humboldt und Böttiger, später die Beratung durch Riemer, Passow und Göttling. Trotz solcher Voraussetzungen näherte sich Goethe seinem Gegenstand nur mit großer Vorsicht („Ehrfurchtsvoll an solche köstliche Reliquien herantretend“) 282 und nach umfangreichen Vorarbeiten, die er in einem ‚Werkstattbericht‘ offenlegte: „Die vom Herrn Professor und Ritter H e r m a n n im Jahre 1821 freundlichst mitgetheilten Fragmente wirkten […] auf mein Innerstes kräftig und entschieden; ich glaubte hier eine der herrlichsten Productionen des großen Tragikers vor mir zu sehen; ohne mein Wissen und Wollen schien das Zerstückte sich im innern Sinn zu restauriren, und als ich mich wirklich an die Arbeit zu wenden gedachte, waren die Herren Professoren G ö t t l i n g und R i e m e r […] behülflich, durch Uebersetzen und Aufsuchen der noch sonst muthmaßlichen Fragmente dieses unschätzbaren Werks. […] Die gewagte Restauration besteht also: aus einer Göttlingischen Uebersetzung der von R. Hermann mitgetheilten Fragmente, aus den sonstigen Bruchstücken, die der Musgrave’schen Ausgabe, Leipzig, 1779 und zwar deren zweytem Theil S. 415 hinzugefügt sind, und aus eigenen eingeschalteten und verbindenden Zeilen. Diese drey verschiedenen Elemente ließ ich ohne weitere Andeutung, wie solches wohl durch Zeichen hätte geschehen können, gesammt abdrucken; der einsichtige Gelehrte unterscheidet sie selbst, die Freunde der Dichtung hingegen würden nur gestört; und da die Aufgabe war, etwas Zerstücktes wenigs- 280 19. 11. 1821; WA IV 35, S. 179; s. o., S. 39f. mit Anm. 93-95. 281 Vgl. Briefwechsel, Brief 14: Goethe an Hermann, 12. 11. 1831 (S. 68); s. auch unten, S.-206. 282 AA-Ls 1, S. 159. <?page no="196"?> 196 Nachwort tens einigermaßen als ein Ganzes erscheinen zu lassen, so fand ich keinen Beruf, mir meine Arbeit selbst zu zerstücken. Anfang und Ende sind glücklicherweise erhalten, und noch gebe ich nicht auf, die Mitte, von der wir kaum Winke haben, nach meiner Weise herzustellen.“ 283 Goethes Verfahrensweise scheint trotz dieser nachträglichen Offenlegung der Methode (von der Konzeption über die Prüfung und Ausarbeitung des Vorhandenen zur, die Spuren des mittleren Arbeitsgangs gleichsam wieder tilgenden, Veröffentlichung) fragwürdig. Wird durch den vorgefassten ‚Begriff‘, die ‚Idee‘ des Stücks, die Nachprüfung nicht zu einer bloßen Bestätigung? Wird das Publikum (soweit es nicht ‚vom Fach‘ ist) nicht um den Sachverhalt (den ‚unheilbaren‘ Zustand des Fragments, die bleibenden Unsicherheiten in der Zuordnung der einzelnen Fragmente) betrogen, nur um ein ästhetisches Ganzes genießen zu dürfen? Wird nicht überhaupt zu ,visuell‘ (wie bei einem bildkünstlerischen oder architektonischen Fragment) restauriert? Liest man den Aufsatz selbst aber genauer, so fällt auf, dass eine durchgängige Reflexion auf das Fragmentarische, Hypothetische, Problematische stattfindet: Aussagemodus ist überwiegend der Konjunktiv (als Potentialis), Verluste von Text und Zusammenhang werden erwähnt, Lücken markiert, Vermutungen, Ungewißheit, ja Ratlosigkeit („aber nun verläßt uns Licht und Leuchte“) 284 ausdrücklich zugegeben. Die Idee des Ganzen und das Räsonnement des Fragmentarischen sind in der Synthese der ‚Darstellung‘ aufgehoben, doch so, dass jede konstruktive Entscheidung erkennbar bleibt. Hinzu kommt noch die 1823 (in „Über Kunst und Alterthum“ IV 2) veröffentlichte (oben zitierte) Rechenschaft über das Verfahren selbst, die auch den persönlichen Ehrgeiz des Verfassers nicht verschweigt, den Ganzheits-Erwartungen seiner Leser entsprechen zu wollen. In einer dritten Publikation schließlich unterzieht Goethe 1827 aufgrund neuer Funde das ‚Aperçu‘ selbst einer Revision. 285 Der eigentlich problematische Tatbestand wird dem Publikum schon im ersten Aufsatz nicht verschwiegen: Die Mitte des Stücks ist die „Lücke“ im Fragment. Goethe füllt sie mit den ‚geringeren‘ Materialien, d. h. mit den kleinen und nicht immer sicher zuzuordnenden Bruchstücken. Diese Rekonstruktion umfasst den größten Teil des Stücks. Sie beginnt mit dem Gespräch zwischen Merops und Phaethon an dessen Hochzeitsmorgen und endet mit dem Sturz des Jünglings. Goethes Konjektur sucht der erkannten Größe der Tragödie in jedem Moment adäquat zu sein; so, indem sie die in Euripides’ Stücken überhaupt, hier 283 Zu Phaethon des Euripides („Über Kunst und Alterthum“ IV 2, 1823, S. 152-158). ‒ Vollständig zitiert in: Beilagen, Text 15, o., S. 124-127. 284 S. o" S. 118. 285 Euripides’ Phaethon („Über Kunst und Alterthum“ VI 1, 1827); s. o., S. 142-144. <?page no="197"?> „Programm“ und Fragment 197 aber besonders wirksamen Gegensätze und Kontraste in Charakterzeichnung und Handlungsstruktur hervortreten lässt (dialektisch/ agonal zwischen Merops und Phaethon, Phaethon und Phoebus; chiastisch als Szenenkontrast: „Der irdische Vater will den Sohn begründen wie sich selbst, der himmlische muß ihn abhalten, sich ihm gleich zu stellen“; 286 im gegensätzlichen Parallelismus von Hochzeitsvorbereitung und Zurüstung zur Wagenfahrt). Für den Kulminationspunkt, Phaethons Auffahrt und Sturz, verweigert sich Goethes Rekonstruktion allen Ausschmückungen; anstelle jenes „Wirrwarr, womit Ovid und Nonnus das Universum zerrütten“, 287 lässt sie, um den „enggehaltenen lakonischen Hergang der Tragödie zu begünstigen“, Zeus mit dem Blitz „alsobald drein geschlagen“ 288 haben und stellt die Katastrophe als einen nur den im Prolog umrissenen Raum ‒ statt des Universums nur eine „enge[ ], zusammengezogene[ ] Localität, wie sie der griechischen Bühne wohl geziemen mochte“ 289 ‒ erschütternden Sturz dar, vergleichbar dem eines Meteorsteins. Für die Größe des Euripides ist Goethe auch dessen ‚Simplicität‘ und Ökonomie ein Beweis. Dieser Angelpunkt in Goethes Rekonstruktion bestätigt sich ihm Jahre später durch einen Fund als divinatorische Konjektur. Am 5. August 1826 liest Goethe „im Diogenes Laertius die Stelle auf Euripides Phaethon bezüglich“, 290 auf die ihn Göttling kurz zuvor in einem Brief hingewiesen hatte. In den folgenden Tagen schon entsteht unter Verwendung dieser und zweier weiterer antiker Stellen (aus Plinius d. Ä. und Aristoteles) 291 ein Aufsatz, der 1827 unter dem Titel „Euripides’ Phaethon“ in „Über Kunst und Alterthum“ (VI 1) erscheint. 292 Die antiken Zeugnisse geben seiner in der Rekonstruktion zum Ende des vorletzten Aktes 293 geäusserten Vermutung recht, dass der Sturz Phaethons als rascher, für die Natur folgenloser meteorischer Fall verstanden worden sei. Euripides habe damit seinem Lehrer Anaxagoras, der den Fall eines Meteoriten bei Aigos Potamoi vorausgesagt und diesen als Sturz eines Goldklumpens aus der als eine „durchglühte Metallmasse“ aufgefassten Sonne bezeichnet hatte, ein Denkmal gesetzt, wobei er den Ausdruck „Goldklumpen“ ambivalent, und zwar „nicht 286 AA-Ls 1, S. 165 ( Phaethon, Tragödie des Euripides ); s. o., S. 119. 287 AA-Ls 1, S. 167; s. o., S. 121; vgl. Ovid, Metamorphosen 1, v. 747-779; Nonnos, Dionysiaca XXXVIII, v. 105-183. 288 AA-Ls 1, S. 196 ( Euripides’ Phaethon ); s. o., S. 143. 289 AA-Ls 1, S. 159 ( Phaethon, Tragödie des Euripides ); s. o., S. 113. 290 WA III 10, S. 226; vgl. Diogenes Laertius, Anaxagoras II 10, 1-4. 291 Plinius, Historia naturalis 2, 58; Aristoteles, Meteorologica I, 8. 345a 13. 292 AA-Ls 1, S. 195f.; s. o., Beilagen, Text 20 (S. 142-144). 293 AA-Ls 1, S. 167; s. o., S. 121 und 142. <?page no="198"?> 198 Nachwort sowohl von der Sonne, als von dem aus ihr herabstürzenden brennenden Jüngling“ gebraucht habe. 294 Diese Erklärung des Phänomens dient Goethe nicht nur zur Bestätigung seiner These von der Ökonomie des Euripides, er nutzt sie auch als Gelegenheit zu einem Hinweis auf den „hochgebildeten Dichter“, der sich der Naturwissenschaft bediene, um ein „Ereigniß […] von großem theatralischen Effect und doch nicht abweichend von dem wie es in der Welt herzugehen pflegt“, also ein Außerordentliches „naturwahr“ darzustellen. 295 Dass Goethe hier auch zugleich von seinen eigenen poetischen Intentionen spricht, ist offenkundig. Denn gleichzeitig mit dem Rückblick auf den Sturz des Phaethon nimmt er die Arbeit am „Helena“-Zwischenspiel zu „Faust. Zweiter Teil“ wieder auf, 296 um eine seiner ältesten Konzeptionen „mit einem gewaltsamen Anlauf“ und doch auch in einer „gewissen genialen“, 297 d. h. „vom Glück […], ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks“ 298 abhängigen „Redaction“ zu vollenden, sie „im Zeitmoment“ (von Byrons Tod und der Eroberung Missolunghis) „solidescirt endlich verharren“ zu lassen. 299 Euphorions Sturz wird vom Chor zwar als Ikarus-Schicksal apostrophiert (V. 9901f.), ist aber der Substanz und Bedeutung nach sehr viel mehr als dieses: Die „Aureole“ weist, nach Goethes Erläuterung, den genialen, hoffnungsvollen Jüngling dem Kreis göttlicher Personen zu: „Und so kehrt denn diese Geistesflamme, bey seinem Scheiden, wieder in die höhern Regionen zurück.“ 300 Das Aufflammen und Verschwinden der Aureole verdeutlicht die Szenenanweisung an einem Naturphänomen. Lassen das strahlende Haupt, der nachziehende Lichtschweif des für einen Augenblick Schwebenden die Deutung noch offen, um welche Art Meteor es sich handelt, so wird das Phänomen im Folgenden, auch als Symbol, präzise (man vergleiche das „sidus Iulium“ 301 ) bezeichnet: „die Aureole steigt wie ein Komet zum Himmel auf“. Nicht eindeutig, höchst rätselhaft ist jedoch die Identität des Entschwindenden, ‚früh sich selbst Verlorenen‘ (vgl. V. 9917). Das Naturphänomen entspricht diesem Tatbestand: Dem Toten wird nicht die Verstirnung, keine Astralmythe (wie 294 AA-Ls 1, S. 195f. (χρυσέα βῶλος); s. o., S. 143 ( Euripides’ Phaethon ). 295 AA-Ls 1, S. 196; s. o., S. 143f. 296 Tgb vom 12./ 13. 8. 1826 (WA III 10, S. 229). 297 Goethe an Nees v. Esenbeck, 24. 5. 1827 (WA IV 42, S. 198). 298 Eckermann, Gespräche , 15. 1. 1827 (FA 39, S. 201). 299 So in dem Anm. 297 genannten Brief an Nees v. Esenbeck; vgl. Eckermann, Gespräche , 5. 7. 1827 (FA 39, S. 251). 300 Goethe in der Beilage zum Brief an C. J. L. Iken vom 27. 9. 1827 (WA IV 43, S. 85). 301 Dazu Karl Christ, Krise und Untergang der römischen Republik , Darmstadt 1979, S. 405. <?page no="199"?> „Programm“ und Fragment 199 einem geprüften Helden) zuteil, flüchtig, kometengleich kehrt der vom Körper wieder gelöste „Geist […] aufwärts, wo er ewig bleibt“. 302 Das Studium des Phaethon scheint aber nicht nur dem aussergewöhnlichen Ende Euphorions zugute gekommen, es scheint auch in dem äussersten Lakonismus, in dem die Szene „Schattiger Hain“ im ganzen gehalten ist, wirksam zu sein. Von der ersten Entfaltung bis zur Katastrophe und den Epilogen bleiben Ort und Personenperspektive unverändert, entsteht allein aus dem Gegensatz zwischen Euphorions Streben und den Warnungen von Elternpaar und Chor die dramatische Situation, die freilich nicht in dem Maß Handlung ist wie die antike: den ‚Lakonismus‘ überführt der die „Avantagen“ der Moderne 303 nutzende Dramatiker in die symbolische Darstellung. Nicht von ungefähr also beginnt die Retractatio des „Phaethon“ 1826/ 1827 mit dem Satz: „Wo einmal ein Lebenspunct aufgegangen ist, fügt sich manches Lebendige daran.“ 304 Die Rekonstruktion wird, mit einem Begriff aus Goethes „Morphologie“, 305 im autobiographischen und werkgeschichtlichen Kontext gesehen - es entsteht eine von Funden, glücklichen Zufällen, zusammenschießenden Assoziationen mitbestimmte Folge. Das Moment des Unvorhersehbaren, Zufälligen deutet Goethe in einem Brief an Zelter vom 12. August 1826 an, in dem er den Eingangssatz der Retractatio vorformuliert: „Zu den Fragmenten des Phaethon hat sich wieder eine gar hübsch erläuternde und eingreifende Stelle gefunden. Wer kann wissen, was sich alles an einen Lebenspunct anschließt.“ 306 Für solche Anschlüsse ist es von Bedeutung, dass die Substrate fragmentarisch sind, Materialien, die dem anschließenden Denken Raum lassen, den ästhetischen Prozess offenhalten. Die ‚Vitalität‘ des an „Phaethon“ aufgegangenen Lebenspunktes, dessen Keim vielleicht schon in den „Labores juveniles“ gelegt worden war, 307 bestätigt sich nochmals, indem Goethe die Fragmente wenige Tage vor seinem Tod von neuem so interessierten, „daß er bei einem Besuch des Professor G.[öttling] am dritten März eine abermalige Revision der Herstellung verhieß“. 308 302 Vgl. Goethes Gedicht: „Howard’s Ehrengedächtnis“: Nimbus , V. 52 (FA 2, S. 504). 303 S. die berühmte Äußerung Goethes über die „barbarischen Avantagen“ (gegenüber den „antiken Vorteilen“) in seinen „Anmerkungen“ zu Diderot, Rameaus Neffe (WA I 45, S. 176f.). 304 AA-Ls 1, S. 195; s. o.: Beilagen, Text 20 (S. 142). 305 Vgl. das Vorwort zur „Morphologie“: „Die Absicht eingeleitet“ (FA I 24, S. 394). 306 WA IV 41, S. 120f. 307 Vgl. Goethes Übersetzung des Phaethon-Mythos ins Lateinische (DjG³ I, S. 50-52). 308 GG III/ 2, S. 845; Nr. 6963 (K. W. Müller: Goethes letzte literarische Tätigkeit ). <?page no="200"?> 200 Nachwort Kann man die „Phaethon“-Rekonstruktion Goethes nun aber auch objektiv als geglückt, zudem als einen Beitrag zur Wissenschaft bezeichnen, als den Goethe sie doch auch verstanden wissen wollte? Goethe selbst bedauerte in einem Brief vom 20. Mai 1826 Zelter gegenüber, 1821 nicht die zwei „Hauptscenen“, die Rede-Agone Phaethon - Merops und Phaethon - Helios niedergeschrieben zu haben: „Wäre es auch nicht zulänglich gewesen, so war es doch immer etwas, wovon sich jetzt niemand einen Begriff machen kann.“ 309 Damit rückte er auch unauffällig zurecht, was Zelter in einem früheren Brief „Deine Zutaten zum ‚Phaethon‘“ 310 genannt und auf eine Stufe mit der „Achilleïs“ gestellt hatte. Goethes strenger Begriff von Rekonstruktion hatte ja gerade den Verzicht auf dichterische Erweiterung impliziert. Dass selbst zünftige Philologen in diesem Punkt nicht klar unterschieden und Goethes Bedauern missverstanden, zeigt Conrad Bursians „Geschichte der classischen Philologie in Deutschland“, in der von dem „leider nicht vollendeten Versuch einer Wiederherstellung […] aus Bruchstücken“ die Rede ist. 311 Auch Hermann selbst wird Goethes ihm schon 1823, nach Abschluss des „Versuchs“, mitgeteiltes Eingeständnis, „wie ich von einer so schweren Aufgabe, nach verwegenem Angriff, mich doch wieder zurückziehen mußte“, 312 als Abbruch, ja als Scheitern interpretiert haben. Doch stellt sich solchen Beurteilungen und auch Goethes Selbstzweifeln gegenüber die „Phaethon“-Rekonstruktion als in sich komplett, als eine echte (d. h. diskutable) große ‚Konjektur‘ dar. Auch einzelne Beobachtungen, Argumente und Entscheidungen Goethes haben, gemessen am neueren Forschungstand, ihre Validität bewiesen. Haben sich auch die Sprecherthese für den Prolog (statt des Wächters, wie schon Wilamowitz erkannte: Klymene) 313 und seine aus Ovid gewonnene Erweiterung nicht halten können, so sind doch einzelne Konjekturen (Hinweise auf die Tageszeit, das Hochzeitsfest, das Geheimnis um die göttliche Abstammung) durch die Revision des Clermonter Codex’ (1885) sowie durch die Papyrus-Funde von 1907 bestätigt worden. Eine erstaunliche Renaissance ist durch die jüngere Forschung auch der in Goethes Prolog enthaltenen Hypothese zuteil geworden, dass die von Merops für Phaethon ausgewählte Braut eine Nymphe aus göttlichem Geschlecht (und nicht, wie von Wilamowitz bis Lesky angenommen, Aphrodite selbst) gewesen sei. James Diggle hat in seiner maßgeblichen „Phae- 309 WA IV 41, S. 38. 310 4. 2.‒4. 3. 1826 (MA 20.1 [BW Goethe - Zelter], S. 909: Zelter erinnert sich, allerdings ironisch, F. A. Wolf habe Goethes „Zutaten zum ‚Phaeton‘“ anerkannt; s. o., S. 47. 311 Bd. 1, München und Leipzig 1883, S. 594. 312 Goethe an Hermann, 6. 4. 1823; s. o., Briefwechsel, Brief 6 (S. 61). 313 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Phaethon , in: Hermes 18 (1883), S. 396-434, dort: S. 398 (auch in: Kleine Schriften I, Berlin 1935, S. 110-147, dort: S. 112). <?page no="201"?> „Programm“ und Fragment 201 thon“-Edition 314 plausibel machen können, dass es sich um eine der Heliaden gehandelt haben werde. 315 Dadurch bekommt aber auch Goethes These von der Ökonomie des großen Tragikers in der Beschränkung der Lokalität, dem Lakonismus der Handlungsführung in einem weiteren wichtigen Punkt Unterstützung. Und sogar die Anonymität, in der Goethe und seine Mitarbeiter die Braut belassen hatten, erscheint in diesem Zusammenhang glänzend gerechtfertigt. Denn, argumentiert Diggle, die Tatsache, dass Euripides’ Stück in der Tradition des Mythos eine so singuläre Stellung einnehme, dass seine Version von den späteren Mythographen nicht aufgegriffen worden sei, erkläre sich vor allem daraus, dass er dem Mythos keine neuen Elemente hinzugefügt, sondern vorhandene (wie die Heliaden) ‚umfunktioniert‘ habe, um den spezifisch dramatischen Anforderungen zu entsprechen: „A bride imported from an alien source or invented purely for her present rôle could not have disappeared from literature with such ease.“ 316 Goethes durch Hermanns Editionen angeregte Beschäftigung mit antiken Tragödienfragmenten stand jedoch nicht nur im Zeichen des Gelingens. Es gibt auch das Faktum des Scheiterns. Aus der Differenz zwischen der ‚durchgefühlten Herrlichkeit‘ der einzelnen Splitter, der erahnten Größe des Verlorenen und einer angesichts allzu lückenhafter Überlieferung versagenden Imagination resultierte Resignation. Ein Zeugnis dafür sind Goethes Bemühungen um „Philoktet“. Die Anregung, wieder durch eine Schrift Hermanns ( De Aeschyli Philocteta dissertatio ), 317 ist nicht geringer, ja fast noch stärker als bei „Phaethon“, dessen ‚Wiedergewinnung‘ zudem stimulierend wirkt. Gleich nach Erhalt der Schrift stellt Goethe eine „Vergleichende Tabelle der Philoktete“ auf (10. Februar 1826): die durch Hermann aus Fragmenten des Accius, jedoch nur in einigen wenigen Grundzügen erschlossene Version des Aischylos, die auch nur in Andeutungen (durch Dion Chrysostomos) überlieferte des Euripides, gefolgt von dem voll- 314 James Diggle, Euripides’ ‚Phaethon‛. Edited with Prolegomena and Commentary , Cambridge 1970; rezensiert von Richard Kannicht in: Gnomon 44 (1972), S. 1-12. 315 Diggle, a. a. O., S. 36: „[…] the genealogical information comes more naturally from Clymene“. Kannicht, a.a.O., S. 4: „[….] dramaturgisch wahrscheinlich, daß Klymene auch die Prologrhesis gesprochen hat“. Vgl. jetzt Kannichts Ausgabe: Tragicorum Graecorum Fragmenta 5. Euripides , Göttingen 2004, Bd. 2, S. 800 zu F 771 und, zur Frage der Braut, S. 817 zu F 781, 14-31. 316 Diggle, a.a.O., S. 160. 317 1825 veröffentlicht; dann wieder in Opuscula III, Leipzig 1828, S. 113-129. Goethe erhielt die Schrift am 5. 2. 1826; sie wurde mit Riemer besprochen und die Quelle Dion Chrysostomos herangezogen (WA III 10, S. 153-160). Vgl. C. W. Müller, Euripides, Philoktet. Testimonien und Fragmente, hg., übersetzt und kommentiert , Berlin/ New York 2000, S. 86f. <?page no="202"?> 202 Nachwort ständigen „Philoktet“ des Sophokles. 318 Zweck der Vergleichung war, über Hermanns auf Accius gestützten Versuch hinaus, durch Sophokles und Euripides zu einigen Aufschlüssen über die für Aischylos charakteristische Behandlung des Stoffs zu gelangen. Eine in dieser Hinsicht gelungene Rekonstruktion hätte alle bisherigen Bemühungen Goethes übertroffen. Doch schon am 26. Mai 1826 schreibt Goethe an Zelter, der das Thema der ‚Restauration‘ soeben wieder angeschlagen hatte, über sein Vorhaben: „In jene Regionen werde ich abermals verlockt […]. Ich mußte mich bald losmachen von diesen Betrachtungen […] sogar hat ein uralter Lateiner einen ‚Philoktet‛ geschrieben und zwar nach dem Äschylus, wovon denn noch Fragmente übrig sind und woraus sich der alte Grieche begreifbar einigermaßen restauriren ließe. Du siehst aber, daß das ein Meer auszutrinken sey, für unsre alte Kehle nicht wohl hinabzuschlucken.“ 319 Ein an Hermann und die eigene Tabelle anknüpfendes Konzept Goethes spricht die Gründe für den Abbruch noch deutlicher aus: 318 AA-Ls 1, S. 178; s. Beilagen, Text 18 (o., S. 134-137). Vgl. auch Eckermanns Goethes eigene Aporie durch einen harmonistisch-didaktischen Cento verdeckende Version: Gespräche , 31. 1. 1827 (FA 39, S. 226f.): „Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die Griechen so groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Faktums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den Philokteten ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den Philokteten des Aeschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restaurieren, so wie ich es mit dem Phaethon des Euripides getan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein. / Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvortun. Der Ulyß soll ihn holen; aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Aeschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophocles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegt’s und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.“ 319 WA IV 41, S. 38f. <?page no="203"?> „Programm“ und Fragment 203 „Wie ich durch die Fragmente des Phaëton zu mannigfaltigen Bemühungen aufgerufen worden, wie ich ferner durch die wenigen Bruchstücke der Niobe auf einige Zeit angezogen ward, so erging es mir abermals und zwar diesmal sehr lebhaft, denn was könnte uns erwünschteres begegnen als [daß wir] die drey großen Tragiker gegen die wir denn doch die Augen aufzuheben uns kaum erkühnen, dergestalt vergleichen lernten[,] daß wir einsehen könnten wie sie einen Gegenstand, jeder nach seiner Weise behandelt und durchgeführt. […] […] das was Herrmann von dem Römer Accius sorgfältig gesammelt, kritisch restaurirt, und {so einigermassen ergänzt} dem reinen Sinne näher bringt, erregte meine aufmerksamsten Betrachtungen um an den Aeschylus heranzukommen. Aber ich fühlte gar bald nur zu sehr, daß die ganze Wucht des griechischen Alterthums auf mich hereinzubrechen drohte und ich fühlte mich gewarnt, da ich doch auch wohl erfahren hatte, daß leidenschaftliche Neigung zu irgend einem Unternehmen uns zu anmaßlicher und vielleicht gar folgeloser Kühnheit verleitet. Denn genannter Schriftsteller hatte das Glück die drey bedeutenden Werke vollständig vor sich zu sehen und ihren Werth zu überdenken. […] {Doch selbst an den vollständigen ‚Philoktet‘ des Sophokles} neuerdings wieder heranzugehen und uns von seinen Vorzügen zu durchdringen wäre eine für ein hohes Alter allzubedenkliche Aufgabe da[s] dem Vortrefflichen unserer Vorfahren weniger productive Kraft entgegenzusetzen sich [imstande] fühlt und unter dem Gewicht jener Vorzüge sich gebeugt ja vernichtet finden müßte.“ 320 Vergleicht man die als Hermanns Leistung hervorgehobenen Schritte mit Goethes Methode bei „Phaethon“, so wird deutlich, was zu einem ‚Begriff‘ des aischyleischen Stücks fehlt: Hermann sammelte und sichtete, er ergänzte und stellte das Gewonnene fasslich dar; bei Goethe aber stand die das Ganze bereits ‚erahnende‘ Konzeption voran. Dem Dreischritt dort, der (wie riskant auch immer) das Gelingen einschloss, stand der (in sich musterhafte, jederzeit rational verantwortete) Zweischritt des Philologen gegenüber. Doch überließ sich Goethe nicht der Inspiration: die „kümmerlichen Reste“ waren nicht der Boden für einen solchen Aufschwung. Goethe verweist hier auf frühere Unternehmungen, die „folgelos“ (eines seiner negativsten Urteilswörter) geblieben waren. „Prometheus“, „Achilleïs“, „Pandora“ könnten ihm (da von Restauration noch nicht die Rede sein konnte), ihrem riesenhaften Zuschnitt nach, vor Augen gestanden haben. Eine Grenze wird sichtbar: Das agonale Moment, das sich 320 AA-Ls 1, S. 179f.; korrupter Text, an einigen Stellen von mir (C. M.) gebessert; s. auch: Beilagen, Text 18 (S. 136f.). <?page no="204"?> 204 Nachwort Goethes Beschäftigung mit antiken Stoffen immer dann beigesellt, wenn sie „in den bedenklichen Kreis der Productivität“ 321 eintritt, droht in Verzweiflung und Selbstvernichtung umzuschlagen, wenn das allzu Fragmentarische jeden Halt versagt, aber auch, wenn das ‚Vollkommene‛ in seiner Übergröße erfahren wird (Goethe nennt das unpathetisch: sich von den „Vorzügen“ „durchdringen“). Zu einer Zuspitzung kommt es dennoch nicht, aufgrund des Eingeständnisses der eigenen Unzulänglichkeit (einer Reflexion, die Goethe „Bedenken“ nennt) 322 und des Überleitens der Produktivität in neue Stoffe. So wendet Goethe sich im (oben zitierten) Brief an Zelter sogleich wieder der Betrachtung des ‚Fugen‛-Bildes „Charon“ zu, so fährt er in der Ausarbeitung des „Helena“-Zwischenspiels fort, wobei die an „Philoktet“ thematisierte Problematik der Übergröße antiker Stoffe und Gestalten vielleicht auch in der romantischen Brechung des zweiten Teils der „Phantasmagorie“ wiedererkannt werden darf: antike „Vorteile“ durch „barbarische Avantagen“ auszugleichen, 323 wäre eine (für den „Philoktet“ selbst aus philologischer Strenge abgewiesene) dichterische Lösung des Problems. Führt man sich den poetologischen und dichterischen Gewinn, den Goethe aus Hermanns Mitteilungen gezogen hat, auch nur partiell vor Augen (ergänzend wäre auf Goethes das antike Satyrspiel völlig neu bewertende Studien „Zum Kyklops des Euripides“ 324 und die Beschäftigung mit den besonders geschätzten „Bakchen“ 325 einzugehen), ist Goethes nach seinem Brief vom 19. Oktober 321 AA-Ls 1, S. 179 (s. o., S. 136); vgl. auch Goethes Brief an Schiller vom 9. 12. 1797: „Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen seyn? daß das höchste pathetische auch nur ästhetisches Spiel bey ihnen gewesen wäre, da bey uns die Naturwahrheit mitwirken muß um ein solches Werk hervorzubringen. Ich kenne mich zwar nicht selbst genug um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich erschrecke aber blos vor dem Unternehmen und bin beynahe überzeugt daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte“ (WA IV 12, S. 373f.). 322 AA-Ls 1, S. 180 (o., S. 137). 323 S. Anm. 301; dazu Hermann Schöne, Antike Vorteile und barbarische Avantagen. Ein Goethewort , in: Die Antike 10 (1934), S. 286-305. 324 Im Februar 1823, Juli bis August 1824, November 1826: AA-Ls 1, S. 155-158; s. o.; Beilagen, Text 16 (S. 128-131; s. auch Goethes Briefkonzept an C. P. W. F. Beuth vom 13. 6. 1827: er (Goethe) habe in seinem Aufsatz über den „Kyklops“ des Euripides „darzuthun“ gesucht, „daß in den Satyrspielen der Alten nicht sowohl um Karikiren und Erniedrigen höherer Naturen zu thun gewesen, sondern daß man vielmehr heroische Gestalten in solche Lagen versetzt, worin sie sich deplacirt gefühlt und in Gefahr gekommen lächerlich zu werden, wie denn wirklich in obgedachtem Spiele der verschlagene kunstgewandte Redner Ulysses gegen den plumpen Natursohn Polyphem sich gar komisch ausnimmt“ (WA IV 42, S. 220). 325 Die Ankunft von Hermanns Edition Euripidis Bacchae verbucht Goethe am 15. 10. 1823 (WA III 9, S. 330; Ruppert, Nr. 1260). Für seine Übersetzungen genutzt hat er sie nicht (der Textteil ist unaufgeschnitten), vielmehr vermutlich den 2. Band der dreibändigen <?page no="205"?> „Programm“ und Fragment 205 1823 (mit der Beilage des zweiten „Phaethon“-Artikels und des Tetralogien-Aufsatzes) einsetzendes, acht Jahre währendes Schweigen als Korrespondent (bei fortgesetzten Zusendungen und einigen Begleitschreiben Hermanns) merkwürdig. Auch die rühmende Erwähnung im Vorwort von Hermanns Ausgabe der „Alkestis“, Widmungsexemplare von „De Aeschyli Philocteta“, Band III der „Opuscula“ (mit dem schon erwähnten Fußnoten-Hinweis auf Goethes „Phaethon“-Rekonstruktion) und den „Emendationes Coluthi“ blieben unerwidert. Goethes Verstummen auf das Hermann unterlaufene „Missgeschick“ zurückzuführen, für die Sendung vom 19. Oktober 1823 nicht gedankt zu haben (so die Vermutung Ernst Günther Schmidts), scheint angesichts der durch Dritte bezeugten anhaltenden Hochachtung Goethes gegenüber Hermann, mehr noch angesichts des Interesses, das er seinen Veröffentlichungen weiterhin entgegenbrachte, als Erklärung nicht auszureichen. Vielmehr scheint sich zu wiederholen, was schon für das erste, weitaus längere schriftlose ‚Intervall‘ zwischen der Leipziger und der Karlsbader Begegnung charakteristisch gewesen war: dass Goethe Hermann so sehr in seinen ‚geistigen Haushalt‛ aufgenommen hatte, daß es konventioneller Sympathiebekundungen (und solche enthalten Hermanns ‚überbrückende‘ Briefe durchweg) nicht bedurfte. Letztlich ist Goethes fortgesetzter produktiver Umgang mit Hermanns Schriften als ‚faktisches Sprechen‘ oder Korrespondieren zu bewerten. Nicht verwunderlich ist demnach auch der (nur scheinbar als spontane Reaktion auf Hermanns Zusendung seiner Edition der „Iphigenie in Aulis“ 326 folgende) Brief Goethes vom 12. November 1831, der eine Summe zieht und die Perspektive des Zusammenwirkens verlängert. Hermann hatte seiner Sendung vom 2. November 1831 ein kurzes, auch die unterschiedlichen ‚Niveaus‘ von Dichter und Philolog korrelierendes, Begleitschreiben beigefügt: „Ich habe mir erlaubt es [das folgende Buch] Ihnen zu widmen, und Ihnen, wenn auch mit wenigen Worten, ein öffentliches Zeichen einer Verehrung zu geben, die ich im Namen des alten Griechischen Geistes doch eher aussprechen darf, als die, welche Griechisches ins Ungriechische übergetragen für Griechisch halten. Ich habe mich bemüht, das verdorbenste Stück des Euripides möglichst von älterer und neuerer Belästigung zu befreien. Blickt auch der leitende Gedanke des Wahren und Würdigen nur sparsam aus dem schwerfälligen philologischen Euripides-Ausgabe von Barnes/ Musgrave/ Beck (Leipzig 1778-1788); s. auch Petersen, S. 196-204 („Übersetzung und Paraphrase der ‚Bakchen‘“), bes. S. 198, Anm. 11. 326 Euripidis Iphigenia in Aulide . Rec. Godofredus Hermannus, Leipzig 1831 (Ruppert, Nr. 1261). <?page no="206"?> 206 Nachwort Gerüste hervor, so ist er es doch allein, der es verstattete Ihren Namen dem Buche vorzusetzen.“ 327 Goethe, der sich unmittelbar nach Erhalt der Sendung am 3. November „den ganzen Abend mit der Vorrede“ der Edition beschäftigte, dieses Studium auch in den nächsten Tagen fortsetzte und dabei „glückliche Bemerkungen im Ganzen wie im Einzelnen“ fand, antwortete Hermann: „Ew Hochwohlgeboren haben mich so oft aus düstern kimmerischen Träumen in jenes heitere Licht- und Tageland gerufen und versetzt, daß ich Ihnen die angenehmsten Augenblicke meines Lebens schuldig geworden. Phaethon, Philoktet, die Urmythologie und so manches Andere haben mich vielfältig beschäftigt und mir möglich gemacht, das nach Zeit und Ort, Gesinnung und Talent Entfernteste an mich heranzurufen. Wollen Sie mir nun gar auf die ehrenvollste Weise zugestehn, daß ich als ein gedämpftes, aber doch treues Echo jene Klänge unserm gemeinsamen Vaterland zugelenkt, so bleibt mir nichts weiter zu wünschen übrig. Die glücklichsten Augenblicke hab ich dabey gelebt; hat sich nun zugleich etwas erfreulich Förderndes für meine Landes- und Zeitgenossen entwickelt, so dient dieß zur Stärkung und Belebung meines Glaubens, den ich während eines langen Lebens festgehalten habe. Der Hauptgedanke, nach welchem Sie uns ein so herrliches Stück wiederherstellen, ist bewundernswürdig, die Ausbildung in’s Einzelne unschätzbar. Soviel darf ich wohl im Allgemeinen sagen, wenn ich auch schon, weder jetzt noch künftig, das eigentliche Verdienst gründlich anzuerkennen mir einbilden darf. Doch freu ich mich gerade in solchen Fällen eines lebendigen Ahnungsvermögens, welches durch Ihre Behandlungsweise, so weit sie auch im Besondern von mir abliegen möchte, im Ganzen mich immer befähigt und fördert.“ 328 Nicht zu überhören sind aber auch hier die Andeutungen des Trennenden, ja die Vorbehalte. Äusserte Goethe doch einen solchen, grundsätzlichen auch ge- 327 S. o., Briefwechsel, Brief 13 (S. 67). - Noch deutlicher, und durchaus selbstbewusst, hat Hermann den Dichter vom Philologen abgegrenzt im seiner Dissertatio De Aeschyli Niobe (zuerst 1823, dann in Opuscula III, 1828, S. 41): „Sed ut ad Aeschyli Nioben revertamur, quae compositio fuerit illius fabulae coniiciat fortasse, ut in Euripidis Phaethonte, divinum ingenium Goethii, cui contigit, quod sibi exoptabat Horatius, integra cum mente nec turpem senectam degere nec cithara carentem. Nobis, qui critici fungimur officio, intra fines consistendum est multo angustiores“ (s. auch o., Chronik der Kontakte, 25c und Anm. 116). 328 S. o., Briefwechsel, Brief 14 (S. 67f.). <?page no="207"?> „Programm“ und Fragment 207 genüber Hermanns gedruckter Widmung (GOETHIO | TAURICA IPHIGENIA | SPIRITUM GRAIAE TENUEM CAMENAE | GERMANIS MONSTRATORI), die ihn veranlasste, noch kurz vor seinem Tod, am 3. März 1832, im Gespräch mit Göttling, Euripides erneut den Philologen gegenüber in Schutz zu nehmen: „Er [Goethe] sagte unter andern: ‚Sie wissen, daß mir Hermann seine Ausgabe der Iphigenia dediziert hat. Es hat mich gefreut, auch darum, weil ihr Philologen in euren Urteilen konstant bleibt: ich werde von ihm tenuem spiritum* Grajae Camenae Germanis monstrator genannt, womit er mir fast scheint haben andeuten zu wollen, daß ihm Euripides nicht sehr hoch stehe; aber so seid ihr! Weil Euripides ein paar schlechte Stücke, wie Elektra und Helena, geschrieben, und weil ihn Aristophanes gehudelt hat: so stellt ihr ihn tiefer, als andere. Nach seinen besten Produkten muß man einen Dichter beurteilen, nicht nach seinen schlechtesten. Überhaupt seid ihr Philologen, obgleich ihr einen gewissen unverächtlichen Geschmack habt und durch eure solide stämmige Bildung immer einen großen Einfluß auf die Literatur behaupten werdet, doch eine Art Wappenkönige. Wie diese nur das für ein gutes Geschlecht halten, welches seit Jahrhunderten dafür gegolten hat, und wie sie zum Beispiel meinen Stamm deshalb für einen schwachen halten würden, so tut ihr es in der Literatur mit Euripides: weil der seit langer Zeit angefochten wird, fechtet ihr ihn auch an, und was für prächtige Stücke hat er doch gemacht. Für sein schönstes halte ich die Bacchen. […]‘“ 329 Im „Nachtrag“ zu „Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi“ (1805) hatte Goethe eine Alternative zu der sich bereits autonom verstehenden (Fach-)Wissenschaft seiner Zeit vorgeschlagen, indem er die „Freunde des Altertums und der Kunst“ aufforderte, sich „zwischen dem Gelehrten und Künstler in die Mitte“ 329 Berichtet durch K. W. Müller, Goethes letzte literarische Tätigkeit : GG III/ 2, S. 845f. (Nr. 6963). Drastischer formulierte Goethe selbst wenig später im Tgb: „Ich las […] den Jon des Euripides abermals zu neuer Erbauung und Belehrung. Mich wundert’s denn doch, daß die Aristokratie der Philologen seine Vorzüge nicht begreift, indem sie ihn mit herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordinirt, berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes. Hat doch Euripides zu seiner Zeit ungeheure Wirkungen gethan, woraus hervorgeht, daß er ein eminenter Zeitgenosse war, worauf doch alles ankommt. Und haben denn alle Nationen seit ihm einen Dramatiker gehabt, der nur werth wäre, ihm die Pantoffeln zu reichen? “ (22.-23. 11. 1831; WA III 13, S. 176f.). Dass Goethes Kritik sich nicht nur gegen die ‚zünftigen‘ Philologen, sondern unausgesprochen auch und vor allem gegen A. W. Schlegels Missachtung des Euripides richtet, betont und dokumentiert Hendrik Birus in seinem Beitrag „ Ueber Kunst und Alterthum im Lauf der Jahre“ zum Begleitband der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift - Frankfurter Goethe-Museum (9. 9.-13. 11. 2016) „Goethes Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum . Von den Rhein- und Mayn-Gegenden zur Weltliteratur“, Göttingen 2016, S. 70f. - S. auch oben, S. 53 u. Anm.-166. <?page no="208"?> 208 Nachwort zu stellen. 330 War es eine rückwärtsgewandte Utopie, wenn er, fast simultan zum ersten Brief- und Arbeitskontakt mit Hermann, dem Entwurf seiner Studie über „Julius Cäsars Triumphzug, gemalt von Mantegna“ (1820/ 1822) die Bemerkung anfügte, „daß die Künstler des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts immer mit Gelehrten und Alterthumsforschern, die damals auch von ihrer Seite künstlerisch arbeiteten, in genauer Verbindung standen“? 331 Einen Abglanz, eine schmale Renaissance solcher Verhältnisse scheint Goethe ‒ ‚bona fide‘ 332 ‒ in seiner Verbindung mit Gottfried Hermann gesehen und seinerseits tatkräftig genutzt zu haben. 330 FA I 18, S. 918. 331 WA I 49.2, S. 235. 332 Erst nach Goethes Tod veröffentlichte Hermann seine Edition der „Iphigenia Taurica“ (1833), in deren „Praefatio“ er dem antiken Drama Goethes „Iphigenie auf Tauris“ gegenüberstellt und Stärken und Schwächen beider Dichtungen (weitgehend nach rationalistischen Kriterien) kontrastiv herausarbeitet (s. o.: Beilagen, Text 22, S. 144-172). <?page no="209"?> Editorische Nachbemerkung 209 Editorische Nachbemerkung Die weit zurückreichende Vorgeschichte dieser Edition begann am 21. 1. 1999 mit der Zusendung eines von dem Altphilologen Ernst Günther Schmidt (1929-1999) verfassten, noch unvollendeten Typoskripts „Goethe und Gottfried Hermann. Briefwechsel und Chronik der Kontakte“ 333 an den in Boston lehrenden Gräzisten Wolfgang Haase mit der Anfrage, ob er als Hauptherausgeber der Zeitschrift „International Journal of the Classical Tradition (IJCT)“ an einer Veröffentlichung der kommentierten Briefedition in diesem Periodicum interessiert sei. Noch vor dem Eintreffen einer Antwort starb Schmidt (am 28. 2. 1999). 334 Bereits am 21. 10. 1999 erkundigte sich der in Leipzig lehrende Latinist Ekkehard Stärk (1958-2001) bei Haase, ob an dem Manuskript noch Interesse bestehe, und bot an, das Begonnene zuende zu führen. Zu diesem Zeitpunkt lagen Schmidts Chronik der Kontakte 335 und die Transkription der Briefe vollständig, die Einführung und die Brief-Erläuterungen nur fragmentarisch vor; eine Recherche in Schmidts Nachlass brachte kein weiteres Material zutage. Stärk stellte die Komplettierung des Begonnenen ab Frühjahr 2000 in Aussicht, Haase die Publikation im IJCT für Ende 2000/ Anfang 2001. Doch bereits am 14. 2. 2001 bat Stärk den Herausgeber des IJCT um Freigabe des Manuskripts, nachdem sich durch die aktuelle Neugründung der Publikationsreihe „Leipziger Studien zur Klassischen Philologie“ die Möglichkeit ergeben habe, die Briefedition als Monographie herauszugeben. In einem Schreiben vom 26. 2. 2001 an Gunter Narr (Tübingen), den Verleger der künftigen Reihe, kündigte Stärk die Edition des Briefwechsels als Band 2 für das Frühjahr 2002 an; doch beendete sein früher Tod am 16. 9. 2001 336 das Projekt. In seinem Nachlass fand sich Schmidts Edition in unverändert fragmentarischem Zustand, darüber hinaus eine Fülle von Exzerpten Schmidts und Stärks aus der nachgeführten Forschungsliteratur, die der Kommentierung hatten zugute kommen sollen. 2001 nahm der in Leipzig lehrende Gräzist Kurt Sier, mit Stärk Neubegründer der „Leipziger Studien zur Klassischen 333 Noch mit der, später gestrichenen, Widmung „Benedetto Marzullo zum 75. Geburtstag“ versehen. Annonciert hatte Schmidt den künftigen Publikationsort des Briefwechsels allerdings bereits 1998 in dem gemeinsam mit Ingeborg Benecke-Deltaglia veröffentlichten Bericht „Zum 150. Todestag von Gottfried Hermann. Stücke aus dem Nachlaß“. In: Philologus 142, Heft 2, S. 336, Anm. 7. 334 S. den Nachruf von Jürgen Werner in: Gnomon 72 (2000), S. 472-476. 335 Allerdings nicht durchgängig annotiert. 336 S. den Nachruf von Eckard Lefèvre in: Gnomon 77 (2005), S. 89-94; darin auch der Hinweis auf Stärks Interesse an dem Hermann-Schüler Theodor Ladewig (1812-1878), Direktor des Neustrelitzer humanist. Gymnasiums; s. Stärks Lebensbild in: Beiträge zur Altertumskunde 61 (2001). <?page no="210"?> 210 Editorische Nachbemerkung Philologie“ und Mitherausgeber der Reihe, das ‒ auch Schmidts und Stärks Korrespondenz zur Publikation des Briefwechsels enthaltende ‒ Konvolut in seine Obhut. Durch die Vermittlung von Dr. Germaid Ruck-Stärk wurde der Kontakt zwischen Sier und dem Unterzeichneten hergestellt und dieser 2003 mit der Komplettierung der Edition beauftragt. Aufgrund seiner beruflichen Beanspruchung gelang es dem Herausgeber nicht, den Briefwechsel zum ursprünglich erhofften Termin vorzulegen: anläßlich der 2007 von der Kustodie / Kunstsammlung der Universität Leipzig veranstalteten Ausstellung „Ein Rauchaltar für Gottfried Hermann. Klassische Philologie im Leipzig der Goethezeit“, verbunden mit der Übergabe einer Schenkung von Nachlassstücken Hermanns aus dem Besitz seiner Nachkommen 337 und einer von Kurt Sier vorbereiteten, Gottfried Hermann gewidmeten internationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung (11.-13. Oktober 2007). 338 Auch während des folgenden langen Intervalls bis zum ‚endlichen Abschluss‘ der Edition ist dem Herausgeber in ganz ungewöhnlichem Maß Vertrauen, Geduld, Zuspruch und Förderung zuteil geworden, sodass sein Dank, wie auch immer ausgesprochen, unzulänglich bleibt. Doch seien hier als Adressaten namentlich genannt: Annette Schmidt und Dr. Germaid Ruck-Stärk (Leipzig), Ingeborg Benecke-Deltaglia (München), Prof. Dr. Kurt Sier (Leipzig), Prof. Dr. Rudolf Hiller von Gärtringen (Leipzig), Prof. Dr. Eva Tichy (Freiburg im Breisgau), Sabine Schäfer, MA (GSA Weimar), Hans Grüters † (FDH Frankfurt a. M.), Dr. Edith Zehm (Gilching), Prof. Dr. Eckard Lefèvre (Freiburg im Breisgau), Dr. Gisela Strasburger † (Freiburg im Breisgau), Prof. Dr. h.c. Hans-Joachim Weitz † (Bensheim-Auerbach / Darmstadt), Dr. Claudia Michel (Freiburg im Breisgau), Dr. Bernd Villhauer und Tillmann Bub (Gunter Narr Verlag, Tübingen). Freiburg/ Breisgau, November 2018 Christoph Michel 337 S. dazu den o., Anm. 1, genannten Bericht der Eigentümerin und Donatorin, Frau Ingeborg Benecke-Deltaglia. Zutage getreten waren die Nachlassstücke bereits „rechtzeitig zu Hermanns 150. Todestag, dem 31. Dezember 1998“. 338 Die Beiträge erschienen in dem von Kurt Sier und Eva Wöckener-Gade hg. Band: Gottfried Hermann (1772-1848). Internationales Symposion in Leipzig / 11.-13. Oktober 2007, Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2010 (Leipziger Studien zur Klassischen Philologie 6). <?page no="211"?> Abbildungsverzeichnis 211 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Johann Wolfgang v. Goethe. Ölgemälde von Gerhard v. Kügelgen (1808/ 1809); UB Dorpat 12 Abb. 2: Johann Gottfried Jacob Hermann. Ölgemälde von Carl Christian Vogel von Vogelstein (1841); Universität Leipzig 13 Abb. 3: Egh. Empfehlungskarte Goethes vom 27. Mai 1820 für Prof. Dittrich von Komotau an G. Hermann; UB Leipzig 34 Abb. 4: Hermanns egh. Brief an Goethe vom 2. November 1831. GSA Weimar; Klassik Stiftung Weimar 66 Abb. 5: W. v. Humboldt: Egh. Referat und Exzerpt aus Hermanns „Metrik“ (1797); GSA Weimar; Klassik Stiftung Weimar 71 Abb. 6: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta. Titelblatt (Vorlage: Erstausgabe); UB Heidelberg 105 Abb. 7: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta: Die Griechen vor Troias Mauern; UB Heidelberg 107 Abb. 8: Angelo Mai: Iliadis Fragmenta: (XXIII): Mars, Juno, Jupiter, Apollo, Minerva; UB Heidelberg 109 Abb. 9: Theatermaske. Handzeichnung Goethes nach einer Kleinbronze aus seiner Kunstsammlung (7,4 x 8cm; C6 VI A, 70); Klassik Stiftung Weimar 131 <?page no="213"?> Namen- und Werkregister 213 Namen- und Werkregister (Auswahl) Accius, Lucius 47, 134, 136f., 174, 201-203 ‒ Philocteta ( Philoctet ) 47, 134, 136f., 201-203 Aischylos (Aeschylus) ‒ Agamemnon 15, 26, 45, 86, 132, 171, 177, 189 ‒ Choephoren ( Choephoroi ) 37 ‒ Eumenides ( Die Eumeniden ) 20, 24, 37 ‒ Niobe 42f., 45, 63, 136, 203, 206 ‒ Persae ( Die Perser ) 37 ‒ Philoktet ( Philoctet ) 46f., 59, 63, 67, 135-137, 201f., 205 ‒ Prometheus (-Trilogie) 45, 49, 132, 203 Anaxagoras 48, 143, 197f. Aristophanes 16, 40, 52f., 207 ‒ Nubes ( Wolken ) 16 ‒ Ranae ( Frösche ) 53, 207 Aristoteles 143f., 197 ‒ Meteorica 143f., 197 Bernhardi, August Ferdinand 26f. ‒ (Rez.) Hermanns Schriften zur Metrik 26f. Besseldt (Besselt), Carl August 29 ‒ Beiträge zur Prosodie und Metrik der deutschen und griechischen Sprache 29 Boeckh (Böckh), Philipp August 15, 19f., 29, 47, 65 ‒ Über die Versmaße des Pindaros 29 Böttiger, Karl August 23, 27, 90, 175, 195 Boisserée, Sulpice (/ Sulpiz) 32f., 96, 180f. Bossi, Giuseppe 31 ‒ Del cenacolo di Leonardo da Vinci 31 Conta, Karl Friedrich Anton 35, 57, 182, 184, 187 Cotta, Johann Friedrich (seit 1817: von) 24 Creuzer (Kreuzer), Georg Friedrich 20, 30-32, 36, 55, 59, 79-83, 94-96, 99, 103, 174, 179-181 ‒ Briefe über Homer und Hesiodus 30f., 79-96, 99, 179, 181 ‒ Symbolik und Mythologie der alten Völker 30f., 88f., 179 <?page no="214"?> 214 Namen- und Werkregister Diogenes Laertios (Laertius) 47f., 143, 197 ‒ Anaxagoras 47f., 143, 197 Dittrich (G.: Dietrich / Ditterich), Anton Franz 33-35 (Abb. 3) Eckermann, Johann Peter 41f., 46, 177, 198, 202 ‒ Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 41f., 177, 198, 202 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 27f., 31, 39 Euripides 16, 20, 24, 37-44, 46-49, 51-53, 57f., 60, 62f., 67, 113-127, 134-172, 174f., 193, 195-197, 199, 201, 207 ‒ Alkestis ( Alcestis ) 37, 44, 205 ‒ Andromache ( Andromacha ) 37 ‒ Bakchen ( Bacchen / Die Bacchantinnen ) 24, 44, 63, 138-144, 177f., 193, 204 ‒ Elektra 53, 206 ‒ Hekabe ( Hecuba ) 24, 50, 178 ‒ Helena 53, 88 ‒ Hercules furens ( Herakles ) 37 ‒ Hippolytos ( Hippolyt; Phèdre ) 39 ‒ Ion 51f. ‒ Iphigenia in Aulide ( Iphigenie in Aulis ) 16, 51-53, 67, 144, 204f., 206f. ‒ Iphigenia Taurica ( Iphigenie auf Tauris / Taurische Iphigenie ) 16, 53, 144- 172, 204 ‒ Kyklops 37, 41f., 44, 128-135, 204 ‒ Orestes 143 ‒ Phaethon (auch: Phaeton ) 38-48, 53, 113-127, 142-144, 193-201 ‒ Philoktet ( Philoctet ) 46f., 134-137, 201f. ‒ Rhesos ( Rhesus ) 58, 184 ‒ Supplices ( Hiketides ) 37, 193 ‒ Troiades ( Troades ) 37 Göttling, Karl Wilhelm 39f., 47f., 53, 124, 173, 193, 195, 197, 207 Hand, Ferdinand Gotthelf 31f. Hederich, Benjamin 25 ‒ Graecum lexicon manuale 25 Herder, Johann Gottfried (seit 1801: von) 175, 195 Herodot 74, 78f. ‒ Historiae 74, 78f. 82 Hesiod 72-99, 179f. ‒ Theogonie ( Theogonia ) 72-179 Homer 21, 27, 31f., 58, 72-76, 79f., 82f., 85f., 88f., 94f., 168, 175, 179f. 184, 194 ‒ Ilias 58, 74, 85f., 104-111 (Abb. 6-8), 184, 194 ‒ Odyssee 58, 73, 77, 79, 88 <?page no="215"?> Namen- und Werkregister 215 Homerische Hymnen 90 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 10, 20, 33, 72, 118, 192 ‒ Oden 10, 20, 33, 72, 192 ‒ De arte poetica 118 Humboldt, Alexander von 16 Humboldt, Friedrich Wilhelm von 18, 23, 29, 59, 69-71 (Abb. 5), 175-177, 195 ‒ (Übers.) Aischylos: Agamemnon 26, 177 ‒ Briefe an Gottfried Hermann 23, 26, 177 Karl (Carl) August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzog / Großherzog 35 Knebel, Karl Ludwig von 29, 175 Mai (Maius / Majo), Angelo 16, 56, 58, 104-111, 183f. ‒ (Hg.) Iliadis fragmenta antiquissima cum picturis 56, 104-111 (Abb. 6-8), 183f. Meyer, Johann Heinrich 40, 56, 96, 104-111, 181, 183f. ‒ (Anzeige) Iliadis fragmenta 56, 104-111, 183f. Moritz (Moriz), Karl Philipp 28, 177 ‒ Versuch einer deutschen Prosodie 28, 177 Müller, Karl Otfried 20 ‒ (Hg.) Aischylos: Eumenides 20 Musgrave, Samuel 29f., 32, 112, 191 ‒ (Hg.) Euripidis quae extant omnia 29f., 132 (dort irrtümlich: Markland) Nonnos (Nonnus) von Panopolis 113, 121, 143 ‒ Dionysiaka ( Dionysiaca ) 113, 121, 143, 197 Ovid (Publius Ovidius Naso) 83, 113f., 119f., 143, 193, 197, 200 ‒ Metamorphosen 83, 113f., 119f., 143, 193, 197, 200 Passow, Franz Ludwig Karl Friedrich 173, 195 Pausanias 83, 89 ‒ Beschreibung Griechenlands ( Perihegesis Hellados ) 83, 89 Pindaros (Pindar) 19, 21, 29, 76 Plautus, Titus Maccius 24, 174, 178 ‒ Trinummus 24 Plinius d. Ä. (C. Plinius Secundus) 197 ‒ Naturalis historia 197 Plutarchos (Plutarch) 187 ‒ Moralia 187 Poerio (Poërio), Alessandro Conte de 45 Porson, Richard 20, 24, 143 <?page no="216"?> 216 Namen- und Werkregister Reisig, Karl Christian 16f. ‒ (Hg.) Aristophanes: Nubes 16 Riemer, Friedrich Wilhelm 28, 32, 39-42, 46, 48f., 51, 64, 68, 124, 173, 193, 195, 201 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (seit 1808: von) 96 Schiller, Friedrich (seit 1802: von) 25f., 50, 133, 176f., 189, 192f., 204 ‒ Demetrius 193 ‒ Die Jungfrau von Orleans 26 ‒ (Rez.) Goethes „Egmont“ 192 ‒ Wallenstein (-Trilogie) 59, 133, 189 Schlegel, August Wilhelm (seit 1815: von) 26, 39, 175, 191, 193, 207 ‒ Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide 39 ‒ Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 191, 193, 207 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich (seit 1815: von) 25f. Schubarth, Karl Ernst 39, 42, 173, 194 ‒ Ideen über Homer und sein Zeitalter 194 ‒ Paläophron und Neoterpe 42 Schultz, Christoph Friedrich Ludwig 38, 40, 184 Sophokles (Sophocles) 20, 46f., 52, 62, 202 ‒ Antigone (Antigona) 62f. ‒ Oedipus Coloneus ( Ödipus auf Kolonos ) 42 ‒ Oedipus Rex ( Oedipus Tyrannus ) 42, 62 ‒ Philoktet ( Philoctet / Philocteta ) 46f., 134-137, 202f. Uwaroff (Ouwaroff), Sergej Semjonowitsch 32f., 91 ‒ Sur les mystères d’Eleusis 91 ‒ Über das Vor-Homerische Zeitalter. Ein Anhang zu den Briefen über Homer und Hesiod von Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer 32f. Voigt, Christian Gottlob von 29 Voß, Johann Heinrich d. Ä. 27, 30, 175 ‒ Mythologische Briefe 27 ‒ (Rez.) Über J. G. Schneiders und G. Hermanns Ausgabe der Orfischen Argonautica 27 ‒ Vorrede zur Übersetzung von Vergils „Georgica“ 27, 175 Voß, Johann Heinrich d. J. 27f., 127, 173 ‒ (Rez.) J. H. Voß d. Ä.: Mythologische Briefe 27 Vulpius, Christian August 25 <?page no="217"?> Namen- und Werkregister 217 Wagner, Johann Martin (seit 1829: von) 96 ‒ Bericht über die Aeginetischen Bildwerke 96 Welcker, Friedrich Gottlieb 15, 18, 20, 45, 59, 96, 173f., 181, 192 ‒ Die Aeschyleische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos 45, 192 Wieland, Christoph Martin 34, 37, 44f., 130, 175, 195 ‒ Alceste 37, 44f., 130 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 15, 18-20, 28, 171, 177, 200 ‒ (Hg.) Euripides: Herakles 15 ‒ Geschichte der Philologie 18 ‒ Goethes „Pandora“ 28, 171 ‒ „Phaethon“ 200 ‒ Philologische Untersuchungen 19 Wolf, Friedrich August 15-18, 21, 25-27, 32, 46, 59, 173-177. 179, 182, 195, 200 ‒ (Hg.) Literarische Analecten 36, 46 ‒ Prolegomena ad Homerum 21, 175, 182, 194 Zelter, Karl Friedrich 38, 41, 46-48, 50, 52, 184, 199f., 202, 204 <?page no="218"?> Leipziger Studien zur klassischen Philologie Neubegründet von Ekkehard Stärk (†) und Kurt Sier Herausgegeben von Marcus Deufert, Ursula Gärtner und Kurt Sier Bisher sind erschienen: 1 Rainer Kößling, Günther Wartenberg (Hrsg.) Joachim Camerarius 2003, 351 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-5981-4 2 Ursula Gärtner, Eckard Lefèvre, Kurt Sier (Hrsg.) Kleine Schriften zur römischen Literatur 2002, 362 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-5982-1 3 Ute Tischer Die zeitgeschichtliche Anspielung in der antiken Literaturerklärung 2006, 332 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6207-4 4 Christoph Michel Johann Wolfgang Goethe - Johann Gottfried Jacob Hermann Briefwechsel 1820-1831 2019, 218 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-6249-4 5 Fritz Felgentreu, Felix Mundt, Nils Rücker (Hrsg.) Per attentam Caesaris aurem: Satire - die unpolitische Gattung? Eine internationale Tagung an der Freien Universität Berlin vom 7. bis 8. März 2008 2009, 227 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6501-3 6 Kurt Sier, Eva Wöckener-Gade (Hrsg.) Gottfried Hermann (1772-1848) Internationales Symposium in Leipzig, 11-13. Oktober 2007 2010, 307 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6546-4 7 Charlotte Schubert Anacharsis der Weise Nomade, Skythe, Grieche 2010, 227 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6607-2 8 Franz Schorsch Das commentum Monacense zu den Komödien des Terenz Eine Erstedition des Kommentars zu ‚Andria‘, ‚Heautontimorumenos‘ und ‚Phormio‘ 2011, 198 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6663-8 9 Peter Grossardt Stesichoros zwischen kultischer Praxis, mythischer Tradition und eigenem Kunstanspruch Zur Behandlung des Helenamythos im Werk des Dichters aus Himera 2012, 194 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6767-3 10 Peter Grossardt Praeconia Maeonidae magni Studien zur Entwicklung der Homer-Vita in archaischer und klassischer Zeit 2016, 314 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8060-3