Latein für Romanisten
Ein Lehr- und Arbeitsbuch
0919
2006
978-3-8233-7251-6
978-3-8233-6251-7
Gunter Narr Verlag
Johannes Müller-Lancé
Latein hat derzeit einen schweren Stand in der europäischen Bildungspolitik. In der Schule wird es zunehmend von modernen romanischen Sprachen verdrängt, und an den Universitäten verzichtet man wegen der Umstellung auf die kurzen BA-Studiengänge gezwungenermaßen immer häufiger auf das Latinum als Eingangsvoraussetzung. Dennoch herrscht im Bereich der Romanistik breiter Konsens darüber, dass die sprachwissenschaftliche Ausbildung ohne Lateinkenntnisse deutlich schwerer fällt, im sprachhistorischen Bereich sogar nahezu unmöglich ist. Benötigt wird daher ein Lateinlehrbuch, das es ermöglicht, sich ohne allzu großen Zeitverlust im Selbststudium genau diejenigen Lateinkenntnisse anzueignen, die für ein Studium romanistischer Fächer benötigt werden. Der Schwerpunkt liegt also, anders als in den gängigen Lateinkursen, nicht auf der Übersetzungskompetenz, sondern auf dem Einblick in das Funktionieren des lateinischen Sprachsystems und auf der Vermittlung der Zusammenhänge zwischen dem Lateinischen und den daraus entstandenen romanischen Sprachen. Das Lehrbuch behandelt Latein konsequent als Tertiärsprache, d.h. es baut auf den Kompetenzen in früher erworbenen Fremdsprachen auf und wendet zugleich die Begrifflichkeit der linguistischen Einführungen an. Es kann also auch gut als ergänzendes Lehrwerk in einführenden Proseminaren verwendet werden.
Zum Verfasser:Der Verfasser hat die komplette Gymnasiallehrerausbildung für Latein und Französisch absolviert, eine Dissertation im Bereich der lateinisch-französischen Morphosyntax angefertigt und sich auf dem Gebiet des Tertiärsprachenerwerbs habilitiert. Er ist heute Professor für romanische Sprach- und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim.
<?page no="0"?> narr studienbücher narr studienbücher Dieses Buch vermittelt in kompakter Form die Lateinkompetenzen, die für das Romanistikstudium gebraucht werden. Es geht also nicht um Übersetzungskompetenz, sondern um das Funktionieren des lateinischen Sprachsystems und die Zusammenhänge zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen. So können Studierende im Selbststudium die Wissenslücke schließen, die durch den Verzicht auf das Latinum als Eingangsvoraussetzung entstanden ist. Das Lehrbuch behandelt Latein konsequent als Tertiärsprache, d.h. es baut auf den Kompetenzen in früher erworbenen Fremdsprachen auf und wendet zugleich die Begrifflichkeit der linguistischen Einführungen an. Es eignet sich daher ebenso gut als Lehrwerk in einführenden Proseminaren. Johannes Müller-Lancé Latein für Romanisten Ein Lehr- und Arbeitsbuch Müller-Lancé Latein für Romanisten ISBN 13: 978-3-8233-6251-7 ISBN 10: 3-8233-6251-8 062106 Stud. - Müller-Lance 10.08.2006 7: 12 Uhr Seite 1 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% <?page no="1"?> narr studienbücher <?page no="2"?> Dieses Lehrbuch ist meinen liebsten Lehrern gewidmet: meinen Eltern sowie Edith und Hans-Martin: Der einen danke ich die Freude am Lateinischen, dem anderen die Chance, es als Romanist zu nutzen. <?page no="3"?> Johannes Müller-Lancé Latein für Romanisten Ein Lehr- und Arbeitsbuch Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Prof. Dr. Johannes Müller-Lancé lehrt romanische Sprach- und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © 2006 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Druck: Gulde, Tübingen Bindung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 13: 978-3-8233-6251-7 ISBN 10: 3-8233-6251-8 <?page no="5"?> Inhalt 1 Einleitung ......................................................................................... 9 1.1 Zeichenlegende ................................................................................... 16 1.2 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... 17 1.3 Verzeichnis der abgedruckten Originaltextauszüge ..................... 20 2 Varietäten des Lateinischen........................................................ 21 2.1 Diachronische Varietäten des Lateinischen .................................... 21 2.1.1 Archaisches oder vorliterarisches Latein (ca. 600-240 v.Chr.)....................... 22 2.1.2 Altlatein (ca. 240 v.Chr.-80 v.Chr.) .................................................................... 27 2.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein (ca. 80 v.Chr.-180 n.Chr.) ............. 29 2.1.4 Spätlatein (ca. 180-650 n.Chr.) ............................................................................ 34 2.1.5 Mittellatein (ca. 650 - 1400/ 1500) und die frühen romanischen Sprachen.. 40 2.1.6 Neulatein (ca. 1400/ 1500 - heute) ...................................................................... 42 2.2 Diatopische Varietäten ....................................................................... 45 2.3 Diastratische Varietäten ..................................................................... 52 2.4 Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein ...... 55 2.4.1 Probleme der Abgrenzung „diaphasisch - diamesisch“ ................................ 55 2.4.2 Das sogenannte „Vulgärlatein“ .......................................................................... 58 2.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen ........................... 68 2.6 Aufgaben.............................................................................................. 70 3 Phonetik, Phonologie und Graphie .......................................... 71 3.1 (Altund) Klassisches Latein ............................................................ 71 3.1.1 Das lateinische Alphabet ..................................................................................... 71 3.1.2 Phoneminventar.................................................................................................... 73 3.1.2.1 Einfache Vokale ............................................................................73 3.1.2.2 Diphthonge ...................................................................................75 3.1.2.3 Konsonanten .................................................................................76 3.1.3 Lautliche Phänomene auf der Wortebene......................................................... 78 3.1.3.1 Nicht verschriftete Laute.............................................................78 3.1.3.2 Betonungsregeln...........................................................................79 3.1.3.3 Veränderungen in Lautgruppen................................................80 3.2 Vulgär- und Spätlatein ....................................................................... 82 3.2.1 Vokale ..................................................................................................................... 82 3.2.2 Konsonanten.......................................................................................................... 85 3.3 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen ........................... 92 3.4 Übungen............................................................................................... 93 <?page no="6"?> Inhalt 6 4 Morphologie und Wortbildung ................................................. 94 4.1 Vorbemerkungen zur Bedeutung der Morphologie für das Lateinische ........................................................................................... 94 4.2 Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung .... 96 4.2.1 Wurzelwörter .......................................................................................................98 4.2.2 Derivationen .........................................................................................................98 4.2.3 Kompositionen ...................................................................................................102 4.3 Nominalmorphologie des Klassischen Lateins ............................ 106 4.3.1 Genus, Kasus, Numerus ...................................................................................106 4.3.2 Die Deklinationen (Substantive und Adjektive)............................................108 4.3.3 Steigerung (Komparation) von Adjektiven und Adverbien ........................117 4.3.4 Pronomina...........................................................................................................120 4.3.5 Numeralia ...........................................................................................................129 4.3.6 Übungen..............................................................................................................135 4.3.7 Weiterführende Aufgaben ................................................................................136 4.4 Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein ......................... 137 4.4.1 Deklination von Substantiven und Adjektiven .............................................138 4.4.2 Analytische Steigerung .....................................................................................142 4.4.3 Form und Verwendung der Pronomina .........................................................142 4.4.4 Zusammenfassung.............................................................................................145 4.4.5 Übungen..............................................................................................................146 4.4.6 Weiterführende Aufgaben ................................................................................147 4.5 Verbalmorphologie des Klassischen Lateins ................................ 147 4.5.1 Grundbegriffe der Verbalkonjugation ............................................................147 4.5.2 Verbstämme und Konjugationsklassen ..........................................................150 4.5.3 Personen-, Tempus- und Moduszeichen ........................................................151 4.5.4 Bildung und Übersetzung der einzelnen Verbformen .................................152 4.5.4.1 Finite Verbformen (Systematik nach Stock 2005)................. 153 4.5.4.2 Infinite Verbformen.................................................................. 155 4.5.5 Konjugationstabellen zu den regelmäßigen Verben .....................................156 4.5.6 Deponentien und unregelmäßige Verben ......................................................160 4.5.6.1 Deponentien und Semideponentien ...................................... 160 4.5.6.2 Unvollständige Verben (verba defectiva)................................. 161 4.5.6.3 Unpersönliche Verben (verba impersonalia)............................ 162 4.5.6.4 Unregelmäßige Verben ............................................................ 162 4.5.7 Weiterleben klassischer Verbformen in den romanischen Sprachen .........164 4.5.8 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen ..........................................167 4.5.9 Übungen..............................................................................................................167 4.5.10 Weiterführende Aufgaben ................................................................................168 4.6 Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein............................. 168 4.6.1 Reduktion der Konjugationsklassen ...............................................................169 4.6.2 Beseitigung von Unregelmäßigkeiten .............................................................169 <?page no="7"?> Inhalt 7 4.6.3 Veränderungen beim Passiv: von der Synthese zur Analyse ......................170 4.6.4 Neubildung analytischer Tempusformen im Aktiv......................................171 4.6.5 Veränderungen bei habēre und esse ..................................................................174 4.6.6 Verlust von Verbalkategorien ..........................................................................177 4.6.7 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen ..........................................177 4.6.8 Übungen..............................................................................................................178 4.6.9 Weiterführende Aufgaben. ...............................................................................179 5 Syntax ............................................................................................ 180 5.1 Der einfache Satz............................................................................... 180 5.1.1 Wortstellung .......................................................................................................180 5.1.2 Satzglieder/ syntaktische Funktionen .............................................................182 5.1.3 Verwendung der Kasus ....................................................................................188 5.1.4 Verwendung von Tempora und Modi............................................................192 5.1.5 Der einfache Satz: Besonderheiten in Vulgär- und Spätlatein.....................192 5.2 Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz................................ 195 5.2.1 Satzwertige Konstruktionen.............................................................................195 5.2.1.1 accusativus cum infinitivo (AcI)............................................. 196 5.2.1.2 nominativus cum infinitivo (NcI)........................................... 197 5.2.1.3 participium coniunctum (PC) ................................................. 198 5.2.1.4 ablativus absolutus (Abl.Abs.)................................................ 200 5.2.2 Grundsätzliches zu Koordination und Subordination .................................202 5.2.3 Arten von Hauptsätzen und die darin verwendeten Modi .........................206 5.2.3.1 Aussagesätze ............................................................................. 206 5.2.3.2 Ausrufesätze.............................................................................. 206 5.2.3.3 Aufforderungssätze.................................................................. 207 5.2.3.4 Fragesätze .................................................................................. 207 5.2.4 Arten von Gliedsätzen - Verwendung von Tempora und Modi ................208 5.2.4.1 Relativsätze................................................................................ 210 5.2.4.2 Indirekte Fragesätze ................................................................. 211 5.2.4.3 Konjunktionalsätze................................................................... 211 5.2.5 Der zusammengesetzte Satz: Besonderheiten im Vulgär- und Spätlatein.215 5.2.5.1 Tempus- und Modusgebrauch ............................................... 215 5.2.5.2 Satzwertige Konstruktionen ................................................... 216 5.2.5.3 Satzverknüpfung ...................................................................... 218 5.3 Textsyntax .......................................................................................... 220 5.3.1 Klassisches Latein ..............................................................................................220 5.3.2 Vulgär- und Spätlatein ......................................................................................222 5.4 Zusammenfassung und Literaturangaben.................................... 224 5.5 Übungen............................................................................................. 224 5.6 Weiterführende Aufgaben............................................................... 225 <?page no="8"?> Inhalt 8 6 Wortschatz .................................................................................... 226 6.1 Gemeinlateinischer Ausbau des Wortschatzes............................. 226 6.1.1 Fremdsprachliche Entlehnungen.....................................................................226 6.1.2 Wortbildung .......................................................................................................227 6.2 Tendenzen im Vulgär- und Spätlatein........................................... 227 6.2.1 Bevorzugung bestimmter Wortbildungsmuster............................................227 6.2.2 Tendenz zu „Lautstärke“ und Regelmäßigkeit .............................................229 6.2.3 Tendenz zu Eindeutigkeit und Konkretheit...................................................230 6.2.4 Innerlateinische Variation im Wortmaterial ..................................................231 6.3 Erklärungen für den lexikalischen Wandel .................................. 232 6.3.1 Metapher und Metonymie ................................................................................232 6.3.2 Durchsichtigkeit und Volksetymologie ..........................................................235 6.4 Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen ............................................................................................. 237 6.4.1 Wochentage, Monatsnamen und ihre Götter .................................................237 6.4.2 Fremd- und Lehnwörter im akademischen Bereich......................................240 6.4.3 Lateinisches in Rechtssprache und Politik .....................................................243 6.4.4 Antibarbarus.......................................................................................................244 6.4.5 Zitate ....................................................................................................................245 6.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen ......................... 247 6.6 Aufgaben............................................................................................ 247 6.6.1 Übungen..............................................................................................................247 6.6.2 Weiterführende Aufgaben ................................................................................248 7 Metrik und Stilmittel ................................................................. 249 7.1 Metrik ................................................................................................. 249 7.2 Stilmittel ............................................................................................. 250 8 Zeittafel......................................................................................... 252 8.1 Phase der Ausdehnung des Römischen Imperiums.................... 252 8.2 Zerfall des Röm. Reiches/ Entwicklung der Romania................. 254 8.3 Erste romanische Sprachdenkmäler............................................... 256 9 Lösungen zu den Übungen ....................................................... 257 10 Literaturverzeichnis ................................................................... 263 <?page no="9"?> 1 Einleitung Warum sollen Romanisten überhaupt Latein lernen? Studierende der Romanistik wären auch ohne Latein zeitlich ausgelastet: Von ihnen wird in den meisten Studiengängen erwartet, dass sie sich nicht nur mit einer einzigen, sondern mit mindestens zwei romanischen Sprachen befassen. Sie heißen also nicht umsonst „Romanisten“ (man möge mir nachsehen, dass ich in diesem Buch aus stilistischen Gründen das generische Maskulinum verwende faktisch weiß jeder Romanist, dass Romanisten in erster Linie Romanistinnen sind). Da obendrein die zielsprachliche Kompetenz der Romanistikstudierenden am Beginn des Studiums aus schulcurricularen Gründen meist geringer ausfällt als z.B. die von Anglisten, hätten sie bereits genug damit zu tun, sich die nötigen Kenntnisse in den verlangten romanischen Sprachen anzueignen. Dennoch gibt es gute Gründe für Romanisten (und andere Neuphilologen), zusätzlich zu den eigentlichen Zielsprachen auch das Lateinische in Grundzügen kennenzulernen: • Als „Mutter“ aller romanischen Sprachen bietet das Lateinische den Zugang zur frühen Sprachgeschichte der romanischen Sprachen. Diese frühe Sprachgeschichte - also die lateinische Periode - ist außerordentlich gut dokumentiert und gibt damit der Romanistik sprachhistorische Forschungsmöglichkeiten, die anderen Neuphilologien verwehrt sind. • Auch als das Lateinische schon längst nicht mehr im Alltag gesprochen wurde, hat es in schriftlicher Form noch viele Jahrhunderte lang (bis tief ins 19. Jh.) große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den romanischen und anderen Ländern geprägt (Verwaltung, Justiz, Kirche, Wissenschaft). Der direkte Zugang zu diesen Dokumenten bleibt dem Lateinunkundigen verwehrt. • Lateinkenntnisse sind der Schlüssel zum Verständnis der Eigenheiten der modernen romanischen Orthographien - ganz besonders gilt dies für das Französische. • Kenntnisse der römischen Literatur, Rhetorik, Philosophie und Mythologie sind unumgänglich für das Verständnis eines Großteils der europäischen Literatur. • Bis heute ist das Lateinische eine der produktivsten Quellen für die Neuschöpfung von Wortschatz in den romanischen Sprachen (und auch im Deutschen und Englischen). • Kenntnisse des Lateinischen bieten ein verbessertes Verständnis von Fremdwörtern im Deutschen 1 sowie von unbekanntem romanischem Vokabular. 1 und damit auch einen gewissen Schutz vor peinlichen Situationen nach falschem Gebrauch von lateinbasierten Fremdwörtern, vgl. den Antibarbarus in Kap.6.4.4. <?page no="10"?> Einleitung 10 • Lateinkenntnisse erleichtern das Zurechtfinden im deutschen Universitätswesen, das trotz in den letzten Jahren einreißender Anglomanie (z.B. Ranking, Workshop, Staff-Meeting…) nach wie vor ganz wesentlich von lateinischer Terminologie geprägt ist (vgl. Kap.6.4.2). • Über die Kenntnis lateinischer Vokabeln kann neu gelernter verwandter Wortschatz verschiedener romanischer Sprachen miteinander verknüpft und damit leichter memoriert werden. Der zusätzlich erworbene lateinische Wortschatz ist also eine kognitive Investition und zahlt sich umso stärker aus, je mehr romanischer Wortschatz hinzugelernt wird. • Aus der Perspektive der indogermanischen Sprachen kann das Lateinische als eine Art default-Sprache angesehen werden: Es bietet nahezu alle für deren Beschreibung notwendigen grammatischen Kategorien und wird daher gerne als tertium comparationis genutzt (also als ‚Vergleichsparameter’), wenn es darum geht, moderne Sprachen zu vergleichen. Aus diesem Grund ist die Grammatikterminologie aller modernen Schulsprachen (und sogar des Altgriechischen! ) von den lateinischen Fachausdrücken geprägt, und aus diesem Grund wird auch Anglisten und Germanisten häufig das Latinum abverlangt, vor allem dann, wenn sie das Berufsziel „Lehramt“ verfolgen und später einmal Grammatik erklären sollen. 2 • Bei der Übersetzung aus dem Lateinischen ist man - anders als bei der Übersetzung aus kasusarmen Idiomen wie dem Englischen oder den romanischen Sprachen - gezwungen, sich der Kasusvielfalt des Deutschen bewusst zu werden. Speziell im Bereich der Pronomina neigt hier unsere Umgangssprache zur Verarmung, vgl. neuerdings toleriertes wegen ihm mit den korrekteren genitivischen Formen seinetwegen oder gar um seiner willen. • Die bei der lateinischen Übersetzung geübte morphosyntaktische Analyse ist die Basis jeder linguistischen Analyse. Wenn Anhänger unterschiedlicher Schulen der modernen Syntaxtheorie miteinander diskutieren und das gegenseitige Verstehen gefährdet ist, dann kommen sie gerne auf die Kategorien der lateinischen Schulgrammatik als kleinsten gemeinsamen Nenner zurück. Jedes Latinum ist damit zugleich ein linguistisches Propädeutikum, und jeder Linguist ohne Lateinkenntnisse trägt schwer an diesem Handicap. Zusammenfassend kann man sagen, dass Lateinkenntnisse für romanistische Literaturwissenschaftler sehr hilfreich sind; für romanistische Sprachwissenschaftler sind sie schlichtweg unverzichtbar. Warum ein spezielles Buch „Latein für Romanisten“? Noch vor 50 Jahren hätte ein Programm mit dem Titel „Latein für Romanisten“ nichts anderes bedeutet, als Eulen nach Athen zu tragen. Schließlich waren es in Deutschland vor allem Romanisten, die sich für das Lateinische aus sprachwissenschaftlicher Sicht interessierten, während die Klassische Philologie selbst 2 Aus diesem Grund werden in Niedersachsen angehende Deutschlehrer neuerdings von Linguisten in Latein unterrichtet (Krischke 2005). <?page no="11"?> Einleitung 11 sich überwiegend als Literaturwissenschaft verstand. Studierende der Romanistik aber brachten damals ihre Lateinkenntnisse bereits aus dem Gymnasium mit in die Universität, hätten also kein solches „Nachhilfe-Programm“ gebraucht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging der Anteil der Abiturienten mit Lateinkenntnissen stark zurück. Entsprechend forderten viele universitäre Fachdisziplinen, dass ihre Studierenden das sog. „Latinum“ während der ersten Studiensemester an der Universität nachholen. Diese Latinumskurse gehören bis heute zu den unbeliebtesten universitären Veranstaltungen überhaupt. Hierfür gibt es mehrere Gründe: • Um möglichst wenig Zeit von den eigentlichen Studieninhalten abzuziehen, beschränken sich diese Kurse auf das rein Sprachliche, d.h. vor allem auf Formenlehre und Syntax. Die römische Geisteswelt bleibt weitgehend ausgeklammert. Einziges Ziel ist das Bestehen der Latinumsprüfung, die fast ausschließlich Übersetzungskompetenz voraussetzt. • Wegen der Heterogenität der Lerngruppen (Theologen, Juristen, Historiker, Philologen…) kann nicht auf die speziellen Bedürfnisse der Fächer eingegangen werden. Verweise auf Zusammenhänge mit der Entwicklung der romanischen Sprachen bleiben z.B. außen vor. • Die Größe der Lerngruppen legt meist eine vorlesungsähnliche Unterrichtsform nahe. • Um zeitliche Kompatibilität mit den übrigen Lehrveranstaltungen zu gewährleisten, finden die Latinumskurse meist in unattraktiven Randlagen des Stundenplans statt, also am frühen Morgen oder am späten Abend. • Die Motivation der Lehrenden hält sich oft in Grenzen, weil sich das Programm ständig wiederholt und als Pflichtübung zum Broterwerb angesehen wird, die nicht zum wissenschaftlichen Renommé beiträgt. • Die Motivation der Lernenden ist gleichfalls gering, weil sie zur Teilnahme am Kurs gezwungen sind und sehen, wie ihre mit einem gymnasialen Latinum ausgestatteten Kommilitonen studientechnisch davonziehen. All diese Faktoren haben NICHTS mit der Sprache Latein an sich zu tun. Sie führen aber zu dem bekannten Effekt, dass die Halbwertszeit des in Latinumskursen angepaukten Wissens extrem kurz ist. Schon nach wenigen Semestern stehen die Kenntnisse nur noch in sehr eingeschränktem Maße zur Verfügung - ganz anders als bei den KommilitonInnen mit gymnasialem Latinum (vgl. hierzu Müller-Lancé 2003: 467ff). Was bei den AbsolventInnen von universitären (oder kommerziellen) Latinumskursen hingegen deutlich länger anhält, ist eine ebenso unbegründete wie abgrundtiefe Abneigung gegen die Sprache Latein. Diese unglückliche Situation ist in den Fächern schon lange bekannt. Dass man nichts daran geändert hat, liegt an interdisziplinären Koalitionen und Traditionen: Die Romanischen Seminare waren froh, dass sie die Latinumskurse nicht selbst halten mussten, die Seminare für Klassische Philologie konnten ihren wissenschaftlichen Nachwuchs mit Latinumskursen ernähren oder ihren <?page no="12"?> Einleitung 12 Lehrkörper in einer Größe erhalten, die von den eigenen Studierendenzahlen her nicht zu rechtfertigen gewesen wäre. Der sog. „Bologna-Prozess“, also die europaweite Umstellung auf gestufte BA- und MA-Studiengänge, hat nun die Situation schlagartig geändert: In einem auf sechs Semester verkürzten Studiengang ist nicht mehr viel Platz für das Nachlernen von Sprachen. Entsprechend verzichten jetzt Fächer, die in ihren alten Langstudiengängen noch das Latinum zur Eingangsvoraussetzung gemacht hatten, im BA auf diese Hürde. Dies gilt auch für romanistische Studiengänge. Hieraus ergibt sich ein neues Problem: Fachlich werden Lateinkenntnisse in der Romanistik nach wie vor gebraucht (s.o.), nur eben jetzt nicht mehr obligatorisch abverlangt. Es wird also künftig Romanisten zweiter Klasse geben, die bei jeder historischen Fragestellung aus Mangel an Lateinkenntnissen passen müssen. Um das zu verhindern, muss man diesen Studierenden einen knappen Lateinlehrgang bieten, den sie zur Not auch im Selbststudium durchlaufen können, und der genau die Lateinkenntnisse vermittelt, die sie als Romanisten benötigen. Ähnlich wie Mediziner ihren latein-griechischen Terminologie-Schein machen, benötigen Romanisten also ein lateinisches Propädeutikum, das weniger auf Übersetzungskompetenz abzielt, sondern viel mehr auf Sprachreflexion, auf Einblick in den Ablauf von Sprachwandelprozessen und in die Zusammenhänge mit der Entwicklung der romanischen Sprachen. Dabei muss Latein als Tertiärsprache unterrichtet werden, d.h. die Vorkenntnisse der Romanisten in anderen Sprachen müssen gezielt für die Bewusstmachung und Memorierung lateinischer Formen eingesetzt werden (vgl. Müller-Lancé 2001a). Genau dies ist die Zielsetzung dieses Buches. Was bietet das vorliegende Buch? Dieses Buch hat drei Zielgruppen: zunächst einmal Romanisten, dann Neuphilologen, die mindestens eine romanische Sprache beherrschen, und schließlich auch Klassische Philologen, die Romanisten Latein beibringen. Erstere erhalten Informationen, die es ihnen erlauben, ohne zu erröten an sprachwissenschaftlichen Veranstaltungen teilzunehmen, und letztere erfahren, was ihre Kundschaft eigentlich für einen Bedarf hat. Das Buch ist also auch für Lateinlehrer interessant, die an Lehrplänen und Lehrbüchern mitarbeiten und so als Multiplikatoren dienen können. Was die Berücksichtigung der romanischen Sprachen angeht, so habe ich mich auf die drei in Deutschland meiststudierten Sprachen konzentriert, also auf das Französische, das Spanische und das Italienische. An einzelnen Stellen wird auch auf das Katalanische und das Portugiesische eingegangen, aber eben nicht systematisch. In diesem Buch steht aus wissenschaftlicher Sicht wenig wirklich Neues. Neu ist vor allem die komprimierte Zusammenstellung von Standardwissen der Klassischen Philologie und der Romanischen Philologie in einem einzigen Buch. 3 3 Der letzte Versuch in diese Richtung dürfte die Historische Lateinisch-Altromanische Grammatik von Reichenkron (1965) gewesen sein, die sich an Fachwissenschaftler richtete und leider über den ganz hervorragenden Einleitungsband nicht hinauskam. Das vorliegende Buch geht im Vergleich dazu deutlich weniger ins Detail. Eine lateinisch-romanische <?page no="13"?> Einleitung 13 Neu sind aber auch einige Anwendungen aktueller sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse auf das Latein als Objektsprache. Schließlich stammen die wichtigsten Darstellungen zur lateinischen Sprach- und Varietätengeschichte bereits aus der Mitte des letzten Jahrhunderts - immer wieder neu aufgelegt. Sie haben aber in den letzten Jahren Gesellschaft durch vier aus romanistischer Sicht gewichtige Neuerscheinungen bekommen: Müller 2001, Adams 2003, Poccetti et al. 2005 und Kiesler 2006. Sie alle sind in diese Einführung eingearbeitet. Ich hoffe, dass diesem Buch kein tragisches Schicksal beschieden ist, und zwar tragisch im antiken Sinne: Es könnte nämlich passieren, dass ein Buch, das geschrieben wurde, um die Position des Lateinischen im Wissenschaftsbetrieb zu stärken, genau das Gegenteil erreicht (vgl. das abschreckende Beispiel der sog. „Karolingischen Renaissance“ (vgl. Kap.2.1.5). Würde nämlich das Beispiel vieler BA-Studiengänge Schule machen und überließe man die Aneignung von Lateinkenntnissen grundsätzlich der freiwilligen Eigeninitiative der Studierenden (z.B. auf der Basis des vorliegenden Buches), dann bedeutete dies das Ende universitärer Latinumskurse und damit eine erhebliche Schwächung der Seminare für Klassische Philologie, ganz zu schweigen von den möglichen Auswirkungen für den gymnasialen Lateinunterricht. Daher möchte ich betonen: Dieses Lehrwerk ist ein Notprogramm. Wer es durchgearbeitet hat, weiß in etwa, wie die Sprache Latein entstanden ist, wo sie typologisch anzusiedeln ist, wie sie funktioniert, wie sie sich romanisch weiterentwickelt und welche Präsenz sie bis heute hat. Er ist aber weit von echter Übersetzungskompetenz entfernt (dazu fehlt es v.a. an Wortschatzkenntnissen und an der Memorierung unregelmäßiger Formen) und hat schon gar nichts von der ästhetischen Seite des Lateinischen mitbekommen. Von den üblicherweise im gymnasialen Oberstufenunterricht vermittelten Kenntnissen der lateinischen Literatur und Philosophie will ich gar nicht erst reden. 4 Da diese Dimensionen nicht in ein Lehrwerk von 270 Seiten zu pressen sind, hoffe ich, dass dieses Buch zur Initialzündung für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Idiom wird, das sich von der Sprache Roms zu einer kulturellen Weltsprache entwickelt hat. In anderen Bereichen aber - und hier wird die Not zur Tugend - enthält dieses Buch viel mehr Informationen, als in einem üblichen Latinumskurs an der Hochschule vermittelt werden, und zwar genau die Informationen, die Linguisten in Bezug auf das Lateinische benötigen. Vor allem werden diese Informationen in Vernetzung mit bekannten Elementen der romanischen Sprachen präsentiert und berücksichtigen auf diese Weise die berechtigten Forderungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik (vgl. Müller-Lancé 2004). Materialsammlung mit sehr schönen Übersichten bieten Nagel u.a. (1997: Latein - Brücke zu den romanischen Sprachen). Zielgruppe dieses Buches sind allerdings Gymnasiallehrer und Oberstufenschüler, weshalb hier der Übungsaspekt überwiegt und wissenschaftliche Theorien fehlen. Außerdem ist die Darstellung einzelsprachlich und nicht gesamtromanisch ausgerichtet, d.h. es gibt separate Kapitel zu Latein > Italienisch, Latein > Spanisch etc. 4 Leider spielen diese Inhalte auch in universitären Latinumskursen zwangsläufig nur eine Nebenrolle. Die Masse der angesetzten Zeit wird dafür benötigt, die recht komplexe lateinische Morphologie und das geforderte Maß an Übersetzungskompetenz zu vermitteln. <?page no="14"?> Einleitung 14 Der deutlichen Abgrenzung dessen, was dieses Buch im Vergleich zu einem traditionellen Lateinkurs leisten kann und will, dient die folgende Abbildung: Abb. 1: Im vorliegenden Buch berührte Aspekte des Lateinischen Wie soll dieses Buch genutzt werden? Dieses Buch ist als Lehrbuch gedacht, und zwar sowohl für das Selbststudium als auch für den akademischen Unterricht. Es soll zum einen konkrete Lateinkenntnisse vermitteln, zum anderen aber Einblicke in das Funktionieren von Sprache allgemein und in den Zusammenhang zwischen Lateinisch und Romanisch im Besonderen. Lehrbücher für Fremdsprachenlerner gehen üblicherweise in Lektionen vor und servieren Wortschatz, Morphologie und Syntax gemischt, aber häppchenweise. Dies ist sinnvoll, wenn in einem Lehrgang, der sich über längere Zeit hinzieht, die Motivation hochgehalten werden soll. Vor allem ist dieses Vorgehen bei der ersten Fremdsprache eines Lerners von Vorteil. Wenn es sich hingegen um die zweite, dritte oder gar vierte Fremdsprache eines Individuums handelt, diese vorherigen Sprachen mit der neuen Zielsprache typologisch verwandt sind und obendrein keine zielsprachliche Übersetzungskompetenz, sondern lediglich ein struktureller Einblick angestrebt wird, dann ist es deutlich ökonomischer, nach Art einer Grammatik vorzugehen. Entsprechend wurde dieses Vorgehen für die vorliegende Einführung gewählt. Gleichzeitig hat diese Art der Darstellung den Vorteil, dass sie über das kleinschrittige Inhaltsverzeichnis gezielte Informationssuche erlaubt und damit sogar als Nachschlagewerk taugt. Nach einem ausführlichen Kapitel zu den Varietäten des Lateinischen wird in den einzelnen systembezogenen Kapiteln jeweils separat der Bestand des Klassischen Lateins und des Vulgär- und Spätlateins dargestellt. Wo immer möglich und sinnvoll, wird dabei auf den Erhalt der entsprechenden Elemente in Im Lateinkurs vermittelte Kenntnisse Inhalte von Latein für Romanisten - Phonetik/ Graphie - Phonologie - Morphologie (Basis) - Syntax (Basis) - Wortschatz - Musterautoren des Klass. Lateins histor. Überblick - Vertiefung von Morphologie u. Syntax - Übersetzungskompetenz - Kenntnis von KL- Auswahltexten - Realia (Politik, Gesellschaft) - Mythen, Philosophie vor- und nachklassische Sprachepochen - Sprachwandel - Sprachregister - Dialekte - Vulgärlatein - Bezüge zu den roman. Sprachen ling. Theorie <?page no="15"?> Einleitung 15 den romanischen Sprachen verwiesen. Die romanischen Sprachen sind also bewusst in die Darstellung des lateinischen Systems integriert. An jedes größere Kapitel schließen sich Aufgaben an. Diese Aufgaben gliedern sich einerseits in reine Übungs- und Wiederholungsaufgaben und andererseits in weiterführende Aufgaben, die zur wissenschaftlichen Vertiefung anregen sollen. Nach Möglichkeit sind die Anwendungsübungen nach ihrem Schwierigkeitsgrad gestaffelt (vom Leichten zum Schweren). Zu allen Übungen finden sich Lösungsvorschläge in Kap.9. Man kann dieses Buch in unterschiedlicher Intensität rezipieren. Wer einfach nur einen Überblick über das lateinische Sprachsystem benötigt, kann die relativ ausführlichen Kapitel zu Morphologie und Syntax kursorisch lesen. Dann werden allerdings die entsprechenden Übungen deutlich schwerer fallen. Falls aber echte Lateinkompetenz das Ziel sein sollte, dann sind auch diese Kapitel zur intensiven Durcharbeitung empfohlen. Wer zielsprachliche Übersetzungskompetenz anstrebt, der kommt um systematische Wortschatzarbeit nicht herum. In diesem Falle sollte eine der gängigen Wortkunden hinzugezogen werden, z.B. die auf Studierende der Romanistik und Anglistik abgestimmte Lateinische Wortkunde von Mader (2005) oder die für die gymnasiale Oberstufe konzipierte und ebenfalls die Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch berücksichtigende adeo-Wörterliste von Utz (2001). Tendenziell orientiert sich Mader eher an den romanistischen Bedürfnissen (hier sind also v.a. lateinische Wörter aufgeführt, die sich in allen romanischen Sprachen erhalten haben), Utz hingegen eher an den latinistischen Bedürfnissen (hier sind die wichtigsten lateinischen Wörter aufgeführt und gegebenenfalls durch romanische Entsprechungen ergänzt). Seltenere linguistische Fachbegriffe werden bei ihrem Erstauftreten in den Fußnoten erklärt. Es wird allerdings vorausgesetzt, dass die LeserInnen entweder eine linguistische Einführung besucht haben oder gerade an einer solchen teilnehmen. Ein dem Lateinischen gewidmetes Buch kommt selten ohne captatio benevolentiae 5 aus - aber hier ist sie besonders angebracht: Natürlich kann das vorliegende Buch nicht die komplette lateinische Grammatik darstellen. Es geht hier also ausschließlich um Grundsätzliches, Regelmäßiges und Beispielhaftes. Die Unregelmäßigkeiten der lateinischen Formenlehre und die Feinheiten der lateinischen Syntax können lediglich angedeutet werden. Ebenfalls unvollständig sind die Verweise auf die romanischen Sprachen. Aufgrund der sinnvollen räumlichen Beschränkung dieses Buches stand der Verfasser bei jeder Tabelle, bei jedem morphologischen oder lexikalischen Phänomen vor der Frage, ob er nach Möglichkeit alle romanischen Entsprechungen mit 5 Wörtlich: ‚Ergreifung von Wohlwollen’. So nennt man in der antiken Rhetorik Redeteile, die eingefügt werden, um das Wohlwollen der Zuhörer zu gewinnen. Meist geht es um prophylaktische Entschuldigungen, die darauf abzielen, dass das Auditorium nicht mehr erwartet, als man zu leisten in der Lage ist. <?page no="16"?> Einleitung 16 einbeziehen solle, oder sich eher für eine möglichst genaue Darstellung der lateinischen Verhältnisse entscheiden solle. Hier wurde in dubio pro lingua latina (‚im Zweifel für das Lateinische’) entschieden. Eine Auflistung der Entsprechungen in jeweils 10 bis 13 (je nach Zählung) romanischen Idiomen hätte das Buch zu unübersichtlich gemacht. Außerdem eint alle Leser dieses Buches das Interesse am Lateinischen - welche romanische Sprache jedoch dieses Interesse ausgelöst hat, wird von Leser zu Leser sehr unterschiedlich sein. Ein Buch, das zugleich das lateinische Sprachsystem darstellen, einen Einblick in die romanische Sprachgeschichte geben und auch noch Erkenntnisse unterschiedlicher Richtungen der modernen Sprachwissenschaft anwenden will, wird zwangsläufig eine „eierlegende Wollmilchsau“: Den einen wird die Wolle kratzen, dem anderen die Milch sauer und das Schnitzel zäh erscheinen, und von den Eiern wollen wir im Jahr der Vogelgrippe gar nicht erst reden. Wenn das Buch trotz dieser Zielkonflikte erfolgreich sein sollte, dann verdanke ich das auch folgenden Personen: den Teilnehmern meines Mannheimer Proseminars „Lateinisch-Romanisch“ aus dem Sommersemester 2006, die mit ihrer kritischen Testlektüre und als „Beta- Tester“ der Aufgaben viel zur Verständlichkeit des Buches beigetragen haben: Melanie Dalforno, Melanie Frank, Beate Friesen, Christine Fuchs, Iris Glasstetter, Carolin Graßmuck, Seven Gürpüz, Heiko Luithardt, Tetyana Muchnikova, Ulrike Mühlhäuser, Stefan Pfadt, Julia Poh, Sandra Pohland, Vanessa Rademacher, Bianca Rötzel, Miriana Schanz, Florian Schirmer, Carola Tulke, Nora Zencke; den KollegInnen und Freunden, die mir historischen und sprachpraktischen Beistand geleistet haben: Kai Brodersen, Marilene Gueli Alletti, Francisco García, Caroline Mary, Pedro Molina Campos, Alessandra Volpe; denjenigen, die hilfreich an der Endredaktion des Buches mitgewirkt haben: Jürgen Freudl vom Gunter Narr Verlag und unseren Hilfskräften vom Lehrstuhl Romanistik II: Nadine Bradt, Iris Glasstetter, Andreas G. Jacob, Vanessa Rademacher, Dominique Scharping, Natalie Suchan, Eva Volkwein, Hannah Weiß. 1.1 Zeichenlegende [ a] phonetische Umschrift / a/ phonologische Umschrift <a> graphemische Umschrift ‚a’ Bedeutung „a“ Zitat, direkte Rede oder feststehender Ausdruck […] Auslassung in einem zitierten Text a>A ‚wird zu’ (aus dem frühen Stadium einer Form entsteht ein späteres Stadium) a=>b ‚wird ersetzt durch’ (eine Form wird durch eine andere ersetzt) *a rekonstruierte (und nicht belegte) Form a, 3 dreiendiges Adjektiv (Endungen -us, -a, -um) <?page no="17"?> Einleitung 17 1.2 Abkürzungsverzeichnis Abkürzung Auflösung Abb. abgek. Abl(.) Abl.Abs. AcI adv. (Best.) afrz./ afr. Akk(.) Akt. AL altlat. asp. Aufl. BA-Studiengang Bd./ Bde. bearb. Bsp. bspw. BWL bzw. C. ca. CIL Cn. c.t. Dat. d.Ä. Dekl. Det. d.Gr. d.h. dir. (Obj.) d.J. dt. dtv engl. Ep. ep. ersch. et al. etc. evtl. f / fem. f (nach Ziffer) FEW ff Abbildung abgekürzt Ablativ ablativus absolutus accusativus cum infinitivo adverbiale (Bestimmung) altfranzösisch Akkusativ Aktiv Altlatein altlateinisch altspanisch Auflage Bachelor of Arts-Studiengang Band/ Bände bearbeitet Beispiel beispielsweise Betriebswirtschaftslehre beziehungsweise Gaius circa Corpus Inscriptionum Latinarum Gnaeus cum tempore Dativ der Ältere Deklination Determinante der Große das heißt direktes (Objekt) der Jüngere deutsch Deutscher Taschenbuchverlag englisch Epigramm Epistel (‚Brief’) erschienen et alii (‚und andere’) et cetera eventuell femininum folgende Französisches Etymologisches Wörterbuch (fort) folgende <?page no="18"?> Einleitung 18 FN fränk. frz./ fr. Fut. Gen(.) ggf. gr./ griech. histor. Hor. hrsg./ Hrsg. i.Allg. Iber. IC(-Analyse) idg. Impf./ Imperf. incl. Ind./ Indikat. indir. (Obj.) Inf. it./ ital. IR J.C. Jh. JML Kap. karoling. kat. KL Klass./ klass. klat. / klass. lat. km km² KNG(-Kongruenz) Konj./ Konjunkt. Konjug. kons. korr. kurzvokal. lat. ling. LRL masc./ Mask./ m MA-Studiengang Mittelfrz./ Mfrz. Mk Mod. Mt N n(.)/ neutr. Nachdr. Fußnote fränkisch französisch Futur Genitiv gegebenenfalls griechisch historisch Horaz herausgegeben/ Herausgeber im allgemeinen Iberisch immediate constituents (‚unmittelbare Konstituenten) indogermanisch Imperfekt inclusive (‚einschliesslich’) Indikativ indirektes (Objekt) Infinitiv italienisch Imperium Romanum (Römisches Reich) Jesus Christus Jahrhundert (ausgeschrieben UND als Abk. im Text Johannes Müller-Lancé Kapitel karolingisch katalanisch Klassisches Latein Klassisch klassisch lateinisch Kilometer Quadratkilometer Kasus-, Numerus- und Genus- (Übereinstimmung) Konjunktiv Konjugation konsonantisch korrigiert(e) kurzvokalisch lateinisch linguistisch Lexikon der Romanistischen Linguistik masculinum/ Maskulinum Master of Arts-Studiengang Mittelfranzösisch Markus-Evangelium Modifikator(en) Matthäus-Evangelium Nomen neutrum Nachdruck <?page no="19"?> Einleitung 19 n.Chr. NcI Nom(.) NP Nr. nsp. Obj. okz. ostgerm. Part. Pass. PC Pf./ Perf. PFA Plpf(.) Pl(.)/ Plur. port. PPA PPP praef. Prs. Pers. PUF Repr. röm. roman. RS Rum./ rum. S. S s. sard. Sat./ sat. sc. Sg./ Sing. sic! SL s.o. sog. SOV sp./ span. spätlat./ slat. SPQR s.t. s.u. SVO u. u.a. u.ä. Übersetzg. nach Christi Geburt nominativus cum infinitivo Nominativ Nominalphrase Nummer neuspanisch Objekt okzitanisch ostgermanisch Partizip Passiv participium coniunctum Perfekt Partizip Futur Aktiv Plusquamperfekt Plural portugiesisch Partizip Präsens Aktiv Partizip Perfekt Passiv praefatio (‚Vorrede, Einleitung’) Präsens Person Presses Universitaires de France Reprint (Nachdruck) römisch romanisch romanische Sprache rumänisch Seite(n) Satz siehe sardisch Satire; bei Petron: Satyrica scilicet (‚ergänze’) Singular wirklich so! (lateinisch) keine Abkürzung! Spätlatein siehe oben sogenannte(r/ s/ n) Subjekt - Objekt - Verb spanisch spätlateinisch Senatus Populusque Romanus (‚der Senat und das römische Volk’) sine tempore siehe unten Subjekt - Verb - Objekt und unter anderem und ähnliches Übersetzung <?page no="20"?> Einleitung 20 Übers. ugs. undekl. uridg. ursprüngl. u.U. usw. UTB v. V V. v.a. v.Chr. verb. vgl. VL vlat./ vulg.lat. Vok. VP vs. WB westgerm. wörtl. z.B. zit. z.T. zw. übersetzt umgangssprachlich undekliniert urindogermanisch ursprünglich unter Umständen und so weiter Uni-Taschenbücher von Verb Vers vor allem vor Christi Geburt verbessert vergleiche Vulgärlatein vulgärlateinisch Vokativ Verbalphrase versus Wissenschaftliche Buchgesellschaft westgermanisch wörtlich zum Beispiel zitiert zum Teil zwischen 1.3 Verzeichnis der abgedruckten Originaltextauszüge Textauszug Seite Appendix Probi 84 Bembo: Rerum Venetarum Historiae VI 1 4f Caesar: Commentarii Belli Gallici I,1 20 Cicero: Catilinarische Reden I,1 2 1 Glosas Emilianenses 248 Graffiti aus Pompeji 146 Itinerarium Egeriae II,1 147 Konzil v. Tours: Artikel 17 41 Martial: Epigramm ,4 1 6 Petronius: Satyrica 46, -7 2 Plautus: Miles Gloriosus, V.1-4 82 Straßburger Eide 179 Plinius: Epistel VI,20,1 167 Vergil: Aeneis I,1ff 181f Vulgata: Mt 4,1- 222 Vulgata: Genesis 11,1-4 22 <?page no="21"?> 2 Varietäten des Lateinischen DAS Lateinische gibt es nicht. Wie bei allen uns bekannten Sprachen müssen wir auch beim Lateinischen von einem Bündel verschiedener Varietäten ausgehen. 1 Dies leuchtet schon theoretisch ein: Eine Sprache, die über einen Zeitraum von ca. 2600 Jahren in einem Gebiet verwendet wurde, das phasenweise den gesamten Mittelmeerraum einschließlich Nordafrikas umschloss, kann nicht homogen und stabil gewesen sein. Aber auch handfeste sprachliche Belege dokumentieren uns die Vielförmigkeit des Lateinischen. In der Tradition italienischer Linguisten ist es sogar üblich, selbst die heutigen romanischen Sprachen noch als „lingue neolatine“ zu bezeichnen, also ebenfalls dem Lateinischen zuzurechnen. Umgekehrt könnte man mit dem gleichen Recht das Lateinische als ein bloßes Übergangsstadium zwischen dem Indogermanischen und dem Romanischen bezeichnen, wie dies Väänänen (1981: 4) getan hat: „En effet, le latin, sous tous ses aspects, n’est qu’une transition entre deux états de langue, l’indo-européen et le roman“. Das Lateinische, das im (hoch-) schulüblichen Latinum abgeprüft wird, ist dagegen beschränkt auf die römische Literatursprache zu Lebzeiten von Cicero, Caesar und Augustus. Dieses sogenannte „Klassische Latein“ ist zwar von allen Varietäten am besten dokumentiert, umfasst aber nur einen winzigen Ausschnitt von etwa 100 Jahren und ist sowohl geographisch als auch pragmatisch, d.h. im Hinblick auf seine Verwendung, stark eingegrenzt. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Varietäten des Lateinischen anhand der von Coseriu (z.B. 1980) bekannt gemachten Diasystematik kurz außersprachlich charakterisiert werden. Coseriu unterscheidet diachronische (zeitliche), diatopische (räumliche), diastratische (gesellschaftliche) und diaphasische (stilistische) Varietäten. 2 Die innersprachliche Perspektive folgt in den Kapiteln 3-6. 2.1 Diachronische Varietäten des Lateinischen Im Abschnitt über die diachronischen Varietäten des Lateinischen wird auch auf die jeweilige Ausbreitung des Römischen Reiches eingegangen, vor allem dann, wenn sie für die Romania von Belang ist. Weitere historische Informationen finden sich in der Zeittafel am Ende des Buches. Sodann ist vorauszuschicken, 1 Zur Vielzahl der lat. Varietäten vgl. v.a. Müller (2001). 2 Die Unterscheidung „diatopisch vs. diastratisch“ geht bereits auf Leif Flydal zurück, ebenso wie der Begriff „architecture de la langue“: Remarques sur certains rapports entre le style et l’état de langue. In: Norsk Tidsskrift for Sprogvidenksap 16 (1951) 240-257. Architekturbegriff und Diasystematik wurden aber erst allgemein bekannt, nachdem Coseriu die diaphasische Varietät hinzu gefügt hatte (Sistema, norma y habla; Montevideo 1952). Hierzu näher Müller (2001: 262f). Einen aktuellen Überblick über die Variation im Lateinischen bietet Seidl (2003). <?page no="22"?> Varietäten des Lateinischen 22 dass die üblichen Periodisierungen des Lateinischen aus dem 19. Jh. stammen (zu antiken Periodisierungsmodellen vgl. Müller 2005) und sich ausschließlich an der Literatursprache orientieren - einer Literatursprache übrigens, die uns fast nie in Originalmanuskripten des Autors (sog. „Autographen“), sondern in häufig deutlich später entstandenen Abschriften vorliegt. 3 Die hier vorliegende Periodisierung berücksichtigt auch die Relevanz der jeweiligen Latein-Epoche für die Herausbildung der romanischen Sprachen. Analog zur Periodisierung des Italienischen durch Krefeld (1988) und des Spanischen durch Bollée/ Neumann-Holzschuh (2003: 8) möchte ich bei meiner Periodisierung die auf Kloss (1978) zurückgehende Terminologie von „Sprachausbau“, „-abstand“ und „-überdachung“ auf die Epochen der lateinischen Sprache anwenden. Mit „Ausbau“ ist dabei die Entwicklung einer Schriftsprache und der Ausbau von Wortschatz, Morphologie und Syntax zu einem konsistenten System gemeint. „Abstand“ spricht den typologischen Unterschied zwischen parallel existierenden Idiomen an, und „Überdachung“ bezeichnet das Phänomen, dass ein im Ausbau befindlicher Dialekt andere Dialekte überlagert und selbst zur Hoch- oder Standardsprache wird. Auf das Lateinische bezogen entspricht das Archaische Latein der Phase des Vorausbaus, die Ausbauphase beginnt mit dem Altlatein, und spätestens mit der Klassischen Epoche haben wir eine Sprache vorliegen, die wegen ihres Prestiges und wegen der dahinter stehenden politischen Macht, aber auch wegen der kommunikativen Vorteile, die in der Existenz einer gemeinsamen Verkehrssprache bestehen, die anderen zeitgenössischen Dialekte überdacht. Dass mit Überdachung keinesfalls völlige Verdrängung gemeint ist, sieht man an der bis heute für romanische Verhältnisse extrem lebendigen Dialektvielfalt Italiens. In den folgenden Abschnitten wird bewusst darauf verzichtet, exemplarische Textauszüge zur Veranschaulichung der Epochen zu präsentieren. Dieser Verzicht basiert auf der Überlegung, dass ein Lateinanfänger in diesem frühen Lernstadium die Besonderheiten der entsprechenden Texte noch nicht erkennen kann. Solche Textauszüge werden daher erst in den sprachsystematischen Kapiteln angeführt und dort, entsprechend der Thematik des jeweiligen Kapitels, analysiert. Am Ende der folgenden diachronischen Abschnitte wird aber jeweils ein Verweis zu der Seite dieses Lehrwerks gegeben, an der sich ein passender Textauszug befindet. 2.1.1 Archaisches oder vorliterarisches Latein (ca. 600 - 240 v.Chr.) 4 Schon relativ kurz nach der sagenhaften Gründung Roms (753 v.Chr.), die durch die Ausgrabung eisenzeitlicher Hütten auf dem Palatinshügel (9.-6. Jh. v.Chr.) 3 Devoto (1968) unterscheidet beispielsweise nach der archaischen Epoche die Epoche des Plautus, die Epoche Ciceros, die Epoche von Augustus zu Quintilian, dann das Silberne Latein und schließlich das Lateinische des Mittelalters und der Neuzeit. 4 Meiser (1998: 2) bezeichnet diese Epoche als „Frühlatein“ (mit derselben Zeitspanne) und fasst Frühlatein und das darauffolgende Altlatein unter „archaischem Latein“ zusammen. Devoto hingegen lässt das Archaische Latein schon mit dem Jahr 300 v.Chr. enden (1968: 71). <?page no="23"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 23 zumindest zeitlich nachgewiesen werden kann (Coarelli 1989: 137-140), sind die ersten sprachlichen Belege des Lateinischen dokumentiert. 5 Der üblicherweise angeführte älteste Beleg ist eventuell eine Fälschung aus dem 19. Jh. 6 Es handelt sich dabei um eine Inschrift auf einer Kleiderspange (fibula) aus dem 6. Jh. v.Chr., die nach ihrem Fundort Praeneste (heutiges Palestrina, 30km süd-östlich von Rom) als Fibula Praenestina bekannt wurde. Die Inschrift ist von rechts nach links geschrieben und enthält in griechischen Buchstaben folgende Widmung: MANIOS MED VHEVHAKED NOUMASIOI. Im Klassischen Latein entspräche dies Manius me fecit Numerio (‚Manius hat mich für Numerius gemacht’). 7 An dieser Inschrift lassen sich mehrere Dinge zeigen: Zunächst einmal die Tatsache, dass das lateinische Alphabet auf das griechische Alphabet zurückgeht (vgl. Kap.3.1.1). Dann finden sich auch noch morphologische Parallelen zum Altgriechischen: Wie die Form Manios zeigt, lautete der Vorläufer der klassischlateinischen Nominativendung -us noch auf -os, hatte also dieselbe Form wie im Griechischen (vgl. die griechisch Matthaios und Markos genannten Evangelisten mit ihren lateinischen Entsprechungen Matthaeus und Marcus). Auch das archaische Reduplikationsperfekt vhevhaked, bei dem zur Perfektmarkierung eine Silbe vorangestellt wird, die schon im Präsensstamm enthalten ist (daher „Reduplikation“), ist im Griechischen häufiger als im Latein. So heißt es eben im Klassischen Latein nur noch fecit und nicht mehr *fefacit. 8 Die Schreibungen <vh> für / f/ erinnern an die im Urindogermanischen verbreitete Aspiration (‚Behauchung’) der anlautenden Konsonanten, die sich im Griechischen länger erhalten hat als im Lateinischen (vgl. die deutsche Schreibung des Gräzismus Theologie). 9 Im Lateinischen ist diese Aspiration bei den Verschlusslauten schon früh weggefallen, weshalb sie auch in den romanischen Sprachen fehlt. Im Deutschen und Englischen hingegen ist die Aspiration lautlich noch spürbar: vgl. die phonetische Realisierung des / t/ in dt. Tisch, engl. table und auf der anderen Seite frz. table. Das aspirierte / t/ ist daher typisch für einen deutschen oder englischen Akzent beim Sprechen romanischer Fremdsprachen. An den oben genannten und weiteren Phänomenen lässt sich fest machen, dass das Lateinische und das Altgriechische nicht nur einander benachbart (ab 5 Zu den Sprachen, die vor dem archaischen Latein auf der italienischen Halbinsel existierten, vgl. besonders Devoto (1968: 9-70). 6 Baldi (1999: 125, FN 2) und Kramer (als Anmerkung des Übersetzers in Palmer 2000: 63f) votieren für die Fälschungsthese, Steinbauer (2003: 504) hält sie für widerlegt. 7 Vgl. zur Spange und ihrer sprachlichen Einordnung auch Meiser (1998: 3f) und Kieckers (1960: 7ff). In den Transkriptionen wird der Reibelaut mal als <VH> (Meiser), mal als <FH> und mal als <F> wiedergegeben. 8 Einige alte Formen blieben jedoch dem Klassischen Latein erhalten, z.B. pellere/ pepuli (,treiben/ ich habe getrieben’) und fallere/ fefelli (‚täuschen/ ich habe getäuscht’). 9 Der griechische Laut / / , der mit der lateinischen Buchstabenkombination <th> wiedergegeben wird, ist also eigentlich ein Reibelaut und kein Verschlusslaut (die Aussprache erinnert an span. Zaragoza oder engl. thing). Daher wird er graphematisch im Griechischen mit <θ> („Theta“) dargestellt, der Verschlusslaut / t/ hingegen mit <τ> („Tau“). Zur Datierung der lautlichen Innovationen in vorliterarischer Zeit vgl. Seidl (2003: 516ff). <?page no="24"?> Varietäten des Lateinischen 24 800 v.Chr. siedeln Griechen in Süditalien und auf Sizilien), sondern auch miteinander verwandt sind. Beide gehören zu den indogermanischen Sprachen, wobei dem Griechischen üblicherweise ein eigener Ast im Stammbaum zugewiesen wird, während das Lateinische (bzw. die Dialektgruppe Latino- Faliskisch) nur einen Unterast am Zweig der italischen Sprachen darstellt; einen weiteren Unterast bilden die zeitgleich existierenden osko-umbrischen Sprachen. Die wichtigste nicht-indogermanische Sprache auf italienischem Boden war das Etruskische, das nördlich von Rom, vor allem im Gebiet der heutigen Toscana (Etrusker = lat. Tusci) gesprochen wurde. In der folgenden Abbildung sind die wichtigsten indogermanischen Sprachengruppen von West nach Ost sortiert (nur die italische Gruppe ist in der Darstellung komplett ausgeführt). Einige Sprachen sind wohl isolierte Entwicklungen und daher keiner der Gruppen zugeordnet. 10 Unsere heutigen romanischen Sprachen entstanden erst durch die spätere Vermischung des Lateinischen mit keltischen, germanischen und slavischen Sprachen: Abb. 2: Stammbaum der indogermanischen Sprachen (modifiziert nach Geckeler/ Kattenbusch 1992: 1 und Steinbauer 2003: 504f) 11 10 Ob man eine im 3. Jahrtausend stattgefundene Aufspaltung in einen westlichen und einen östlichen Zweig der indogermanischen Sprachen annehmen soll, ist umstritten (vgl. Steinbauer 2003: 504). Befürworter dieser These bezeichnen nach dem jeweiligen Ausdruck für die Zahl ‚Hundert’ den west-idg. Zweig als Kentum-Sprachen, den ost-idg. Zweig als Satem-Sprachen (Baldi 1999: 38). 11 Ein deutlich detaillierterer Stammbaum findet sich in Baldi (1999: 22). Indogermanische Sprachenfamilie keltische Gruppe germanische Gruppe indische Gruppe italische Gruppe baltische Gruppe slavische Gruppe iranische Gruppe Albanisch Griechisch Armenisch Latino- Faliskisch (west-ital.) Osko- Umbrisch (ost-italisch) Faliskisch Lateinisch --------------- Vulgärlatein Romanische Sprachen † † <?page no="25"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 25 Aus der frühen Periode des Lateinischen sind bis ca. 250 v.Chr. nur längere und kürzere Inschriften erhalten, so z.B. aus dem frühen 6. Jh. die sog. Duenos- Inschrift auf einem Drillingsgefäß, gefunden auf dem Quirinal in Rom, oder aus dem späten 6. Jh. v.Chr. die Inschrift auf einem Steinpfeiler - lat. cippus - neben dem sog. lapis niger - ‚schwarzer Stein’ -, gefunden auf dem Forum Romanum. 12 Literarische Texte sind jedoch nicht erhalten, weshalb diese Periode auch als „vorliterarisches Latein“ bezeichnet wird. Viele Inschriften aus dieser Zeit sind noch nicht vollständig entziffert oder verstanden. Dies gilt auch für die Duenos- Inschrift, die folgendermaßen beginnt: IOVE/ SATDEIVOSQOIMEDMITAT […], was üblicherweise wie folgt segmentiert wird: iovesat deiuos qoi med mitat. Ins Klassische Latein transformiert ergäbe dies iurat deos qui me mittit, also: ‚bei den Göttern schwört der, der mich übergibt’. Das Gefäß spricht also, genau wie die Fibula, in der 1. Person. Genannt ist auch der Hersteller, Duenos (> klat. Bonus), beim Rest der Inschrift bleibt aber vieles im Dunkeln (Baldi 1999: 197ff). Abb. 3: Duenos-Inschrift, 6. Jh.v.Chr. (aus Baldi 1999: 198) Was die Ausdehnung des lateinischen Sprachraums angeht, so deckt sich diese frühe Phase in etwa mit der Eroberung der italienischen Halbinsel (außer dem von Kelten besiedelten Oberitalien) sowie der Inseln Sizilien, Sardinien und Korsika durch die Römer. Verdrängt wurde in dieser Phase das Etruskische im Norden sowie das Griechische im Süden (Übergabe Tarents 272 v.Chr.). 12 Die wichtigsten Inschriften finden sich transkribiert, übersetzt und kommentiert in Meiser (1998: 3ff). Die Duenos-Inschrift ist in Baldi 1999: 198f als Foto und Skizze abgebildet, in Devoto (1968: 79) als Skizze; weitere Inschriften und Abbildungen in Baldi (1999: 125f, 196ff) und Diehl (1964). Die meisten lateinischen Inschriften sind gesammelt im Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL), das 1853 von Theodor Mommsen gegründet wurde und heute von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften betreut wird. <?page no="26"?> Varietäten des Lateinischen 26 Die folgende Karte gibt einen Überblick über die Sprachensituation Italiens im 5. Jh. v.Chr.: Abb. 4: Sprachen Italiens im 5. Jh. v.Chr. (aus Baldi 1999: 119) <?page no="27"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 27 Nachzutragen bleibt, dass die Etrusker der Legende nach bis 510 v.Chr. (Entmachtung von Tarquinius Superbus und Gründung der Röm. Republik) den römischen König stellten, also sprachlich, kulturell und politisch mächtiger waren als die Latiner. Entsprechendes hatte für die Griechen im Süden gegolten. Nun aber war das Lateinische die Sprache Italiens geworden und hatte Etruskisch und Griechisch zu Substratsprachen 13 degradiert. Der einzig verbliebene Rivale war die nordafrikanische Seemacht Karthago. 2.1.2 Altlatein (ca. 240 v.Chr. - 80 v.Chr.) Das früheste literarische Schaffen lässt sich ab 240 v.Chr. nachweisen: Für dieses Jahr ist die erste Aufführung eines Dramas in lateinischer Sprache (es handelt sich um eine lat. Bearbeitung einer griechischen Vorlage) durch Livius Andronicus belegt. 14 Livius war ein griechischer Kriegsgefangener, der nach der Übergabe Tarents nach Rom kam. Der früheste italische Dichter war Cn. Naevius, ein Veteran aus den sog. „Punischen Kriegen“, 15 die das junge Rom mit dem nordafrikanischen Stadtstaat Karthago 16 führte. Seine ersten Aufführungen sind auf 235 datiert. Die Werke beider Dichter sind aber nur sehr fragmentarisch oder in Aussagen von Zeitzeugen belegt. Deutlich besser erhalten ist das Werk der beiden größten römischen Komödiendichter: Titus Maccius Plautus (ca. 250-184 v.Chr) werden etwa 130 Komödien zugeschrieben, von denen 21 fast vollständig erhalten sind (z.B. Miles gloriosus, Pseudolus, Stichus). Auf den in Karthago geborenen Publius Terentius Afer (‚der Afrikaner’; ca. 190-159 v.Chr.) gehen 6 Komödien zurück (z.B. Andria, Eunuchus, Adelphoe). Beide Autoren geben in ihren Komödien Einblick in das umgangssprachliche Latein jener Zeit: Plautus etwas derber, Terenz etwas feiner. Als weitere wichtige Autoren sind zu nennen: der Historiker und Satiriker Quintus Ennius (239-169) sowie der Historiker und Landwirtschaftsautor M. Porcius Cato (234-149), dem der berühmte Spruch „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ (‚im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Karthago zerstört werden sollte’) zugeschrieben wird. Diese frühe Phase ist charakterisiert durch eine sprachlich sehr ursprüngliche, stark zweckgebundene Literatur (z.B. Aufführungen zu religiösen Festen), die häufig nur in Fragmenten erhalten ist. Da die lateinische Standardsprache noch 13 Ich verwende wegen ihrer Verbreitung in der Fachliteratur kritiklos die Begriffe Substrat, Adstrat und Superstrat. Die sprachliche Realität ist aber deutlich komplexer, als dies die Strata-Theorie vermuten lässt (vgl. hierzu S.51 und vor allem Krefeld 2003). 14 Poccetti et al. (2005: 256) gehen nach Sekundärquellen davon aus, dass das szenischliterarische Schaffen in Rom schon um die Mitte des 4. Jh.v.Chr. begonnen hat. 15 Die Bürger Karthagos wurden entweder nach ihrer Stadt Carthaginienses oder aber nach den phönizischen (Phoenices) Stadtgründern Poeni (‚Punier’) genannt. Hiervon leitet sich das Adjektiv punicus ab. 16 Der Stadtstaat Karthago (heute Tunis) wurde um 800 v.Chr. von phönizischen Kolonisten, die ihrerseits aus dem heutigen Libanon stammten, an der nordafrikanischen Mittelmeerküste gegründet. Karthago entwickelte sich schnell zur größten Seemacht seiner Zeit und dehnte sich entsprechend nach Norden und Westen aus. <?page no="28"?> Varietäten des Lateinischen 28 nicht vollständig ausgebaut ist, finden sich relativ häufig Niederschläge der primären Nachbardialekte (vgl. Kap.2.2). Phonetische Innovationen, die wohl bereits auf diese frühe Zeit zurückgehen, sind das Verstummen von / n/ vor / s/ (daher die Abkürzung „COS“ für consul) und das Verstummen von Auslaut-/ m/ (lat. illustrem ,berühmt’ > frz. illustre, it. illustre, sp. ilustre). Nur in einsilbigen Wörtern bleibt es erhalten und macht erst beim Übergang zu den romanischen Sprachen einen lautlichen Wandel zu / n/ durch, z.B. lat. rem ‚Sache’ > frz. rien; lat. quem ‚wen’ > sp. quién (Seidl 2003: 520). Syntaktisch gesehen zeigt sich bereits eine Hinwendung zur Hypotaxe, während die Satzperioden 17 des archaischen Lateins eher von parataktischen Verknüpfungen gekennzeichnet waren (Devoto 1968: 92ff und 110ff). Politisch ist diese Zeit gekennzeichnet durch die Hochphase der römischen Republik mit einem mächtigen Senat und regelmäßig wechselnden Consuln (besonders berühmt die verschiedenen Träger des Namens Scipio und der sie umgebende Philosophenkreis), durch die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Erzrivalen Karthago (die bereits angesprochenen Punischen Kriege) und durch die Expansion des Römischen Reiches in alle Himmelsrichtungen: nach Norden bis an die Alpen und Südfrankreich, nach Westen bis Spanien und Portugal, nach Süden bis Nordafrika und nach Osten bis Kleinasien (zu den einzelnen Eroberungsdaten und Provinzgründungen vgl. die Zeittafel S.252). Aus romanistischer Sicht werden hier also die süd-westlichen Grenzen der Randromania festgelegt, die ältere lateinische Sprachstufen konserviert als die Zentralromania. In diese Phase fällt auch das Zusammentreffen des Lateinischen mit weiteren Substratsprachen: dem Keltischen in Oberitalien, dem Ligurischen in Südfrankreich, dem Keltiberischen in Spanien und dem Lusitanischen in Portugal. Zu beachten ist weiterhin, dass es sich bei der Ausdehnung nach Osten um ein vorwiegend politisches und weniger um ein sprachliches Phänomen handelte. Das Lateinische wurde nur bis an die Grenzen Griechenlands getragen (z.B. bei der Eroberung der Küste Dalmatiens 168 v.Chr.), der übrige Osten sprach weiterhin als Verkehrssprache Griechisch. Auch in Rom waren Griechischkenntnisse für gebildete Römer ein Muss, da man das militärisch unterlegene Griechenland als überlegene Kultur anerkannte. Lüdtke (2005: 26) geht sogar so weit, für das spätrepublikanische Italien eine Diglossie-Situation im Sinne von Fishman anzunehmen, in dem das Griechische den Status des Akrolekts (bzw. high variety) und das Lateinische lediglich den Status des Basilekts (low variety) innehatte. [Textbeispiel: Plautus: Miles Gloriosus I,1, s. S.82] 17 Mit „Periode“ bezeichnen Klassische Philologen auch komplexe, aus mehreren Haupt- oder Nebensätzen bestehende Satzgebilde. <?page no="29"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 29 2.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein (ca. 80 v.Chr. - 180 n.Chr.) Klassisches Latein (ca. 80 v.Chr.-117 n.Chr.): Der Beginn des Klassischen Lateins wird üblicherweise mit den ersten öffentlichen Auftritten des berühmtesten römischen Redners, Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), angesetzt. Seine ersten großen Gerichtsreden, die uns weitgehend erhalten sind, finden gegen 80 v.Chr. statt. Dass die Rhetorik in dieser Epoche entscheidende Bedeutung erlangt, ist kein Zufall: Die Zeit ist charakterisiert durch Bürgerkriege, Triumvirate, 18 Sklavenaufstände, Amtsmissbräuche hoher Staatsbeamter, den Verfall des Senatswesens und ständige Diskussionen um die ideale Staatsform - ideale Karrierevoraussetzungen für einen gewieften Rhetoriker. Die Republik, deren Verfechter Cicero (auch als Consul) stets gewesen ist, endet 49 v.Chr. mit der Machtübernahme des Diktators C. Julius Caesar (100- 44 v.Chr.), dessen Kriegsberichte aus Gallien (Commentarii Belli Gallici) im Latinumskanon üblicherweise vor Ciceros Reden gelesen werden. Auf Caesars Ermordung folgte ein zweites Triumvirat (das erste hatten Caesar, Pompeius und Crassus gebildet), aus dem dann, nach erneutem Bürgerkrieg, 31 v.Chr. Caesars Großneffe Octavianus als Alleinherrscher mit dem Ehrentitel Augustus (‚der Erhabene’) hervorging. Sein sogenannter „Prinzipat“ (v. princeps - ‚der Erste’), der bis zu seinem natürlichen (! ) Tode 14 n.Chr. andauerte, markierte einen zweiten Höhepunkt der römischen Geschichte und läutete die Phase der Kaiserzeit ein. Die (innenpolitische) Friedenszeit unter Augustus führte zu einer solchen literarischen Blüte, dass man für die Zeitspanne von der späten Republik bis zum ausgehenden Prinzipat (also 80 v.Chr. bis 14 n.Chr.) auch von der „Goldenen Latinität“ spricht. Während die erste Phase durch Ciceros Reden 19 und philosophische Schriften (z.B. De re publica: ‚über den Staat’, De officiis: ‚über die Pflichten’, De natura deorum: ‚über das Wesen der Götter’), durch die Geschichtsschreibung Caesars und Sallusts (86-35 v.Chr.) sowie die Lehrgedichte von Lukrez (97-55 v.Chr.) und z.T. von Catull (84-54 v.Chr., bekannt auch für Schimpf- und Liebesgedichte) geprägt ist, erblüht unter Augustus die unterhaltende Dichtung, häufig gefördert durch den sprichwörtlich gewordenen Maecenas. Politische Intentionen rücken in den Hintergrund, die sprachliche Ästhetik und private Moral in den Vordergrund. Zu nennen sind Autoren wie Vergil (70-19 v.Chr.; verfasste das röm. Nationalepos Aeneis sowie die Landgedichtsammlungen Georgica und Bucolica) und Horaz (65-8 v.Chr.: Satiren, Oden und Epoden) sowie die Liebeselegiker Tibull († 19 v.Chr.), Properz († nach 16 v.Chr.) und Ovid (43 v.Chr. nach 16 n.Chr.), die bis heute - vor allem in den 18 Politische Dreierspitze - tres viri für ‚3 Männer’ (Genitiv: trium virorum) - anstelle des zuvor üblichen Kollegialitätsprinzips mit zwei Consuln. 19 Gelegentlich wird Cicero auch ein Rhetorik-Lehrbuch zugeschrieben, von dem wir den Autor nicht kennen, wohl aber den Adressaten Herennius. Diese in romanistischen Kontexten häufig zitierte sog. Rhetorica ad Herennium ist wohl zwischen 87 und 82 v.Chr. entstanden, passt aber sprachlich überhaupt nicht zu Cicero (Bieler 1980: 95). <?page no="30"?> Varietäten des Lateinischen 30 romanischen Literaturen - vorbildhaft wirken. Als herausragender Prosaschriftsteller der augusteischen Epoche ist lediglich der Historiker Titus Livius (59 v. - 17 n.Chr.) zu nennen. Die literarische Epoche von Augustus’ Tod (14 n.Chr.) bis zum Regierungsantritt Hadrians (117 n.Chr.) wird in der Literaturwissenschaft als „Silberne Latinität“ bezeichnet und gelegentlich bereits dem nachklassischen Latein zugerechnet. 20 Die Form der Dichtung rückt jetzt mehr und mehr in den Vordergrund, und die literarische Produktion geht eher in die Breite als in die Spitze. Entsprechend kommen berühmte Autoren zunehmend aus den eroberten Provinzen: so z.B. der Philosoph Seneca († 65 n.Chr.), der Rhetoriker Quintilian (ca. 35-95 n.Chr.) und der für seine Epigramme bekannte Martial († um 102) aus Spanien. Als Historiker sind der jüngere Plinius, dem wir Berichte über den Vesuv-Ausbruch von 79 n.Chr. verdanken, und vor allem Tacitus († nach 115) zu nennen. Aus linguistischer Sicht aber handelt es sich bei der Sprache dieser Autoren zweifelsohne noch um Klassisches Latein. Eine Ausnahme bildet das Petronius († 66) zugeschriebene Satyricon (auch: Satyrica), von dem noch die Rede sein wird, weil hier die Volkssprache Eingang in die Literatur findet. Mit dem Übergang von dem aus Spanien stammenden und damit ersten provinzialrömischen Kaiser Trajan zum gleichfalls in Spanien geborenen Hadrian (117 n.Chr.) wird üblicherweise das Ende der klassischen Epoche angesetzt. Der Grund für die Grenzziehung ist außersprachlicher Natur und liegt in der maximalen Ausdehnung, die das römische Weltreich in diesem Jahr erreicht hat. Die folgende Karte zeigt die Dimensionen dieser Ausdehnung im Vergleich zur heutigen Ausdehnung der europäischen Romania. Eingezeichnet sind außerdem die wichtigsten Verbindungsstraßen des Imperiums. 20 Z.B. in Dangel (1995: 36ff). <?page no="31"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 31 Abb. 5: Ausdehnung des Römischen Reiches unter Augustus und Trajan verglichen mit der europäischen Romania (aus Bertram et al.1995: Umschlag) <?page no="32"?> Varietäten des Lateinischen 32 Nachklassisches Latein (117-180): Die 117 n.Chr. einsetzende Periode der sog. „Adoptivkaiser“ 21 Hadrian († 138), Antoninus Pius († 161) und Marc Aurel († 180) gilt zwar als eine der glücklichsten Epochen im Inneren des Römischen Reiches, aber es mehren sich doch die Grenzkonflikte, und man führt zunehmend Rückzugsgefechte. Die genannten Kaiser beschäftigen sich mit Philosophie und Menschenrechten, und zunehmende Kreise der Bevölkerung erhalten Zugang zur Bildung, aber die literarische Spitzenproduktion bleibt aus. Das Kunstideal ist bereits rückwärts zur augusteischen Epoche hin gewandt (man spricht daher auch von der „archaisierenden Periode“), die damalige sprachlich-formale Perfektion wird jedoch nicht mehr erreicht. Entsprechend gilt die Literatursprache aus der Zeit der Adoptivkaiser heute als „Nachklassisches Latein“. Wichtigste Autoren sind der Kaiserbiograph Sueton († zw. 130-140) und der um 170 gestorbene Romancier Apuleius (Metamorphoses, bekannter unter dem Titel „der goldene Esel“), beide aus Afrika stammend. Zur romanistischen Sicht auf die Epoche des klassischen und nachklassischen Lateins: Zunächst einmal ist wieder zu betonen, dass es sich beim Klassischen Latein um eine geschriebene Literatursprache handelt (zum gesprochenen Latein vgl. Kap.2.4). Es verwundert daher nicht, dass sich nur wenige Besonderheiten des Klassischen Lateins direkt bis in die romanischen Volkssprachen erhalten haben. Dennoch ist die Epoche des Klassischen Lateins von entscheidender Bedeutung für die romanische Philologie: Spätestens seit der Renaissance sind die klassisch lateinischen Autoren Vorbild für die literarische Produktion der romanischen Kulturen. Auch der lateinische Lehnwortschatz in den romanischen Sprachen geht in erster Linie auf das klassische Latein zurück (vgl. Stefenelli 1991, 1992 und 2003) - allerdings vermittelt über das Neulatein. Was den romanischen Erbwortschatz angeht, so existiert er zu großen Teilen ebenfalls schon in der klassischen Epoche, aber nicht speziell in der Literatursprache, sondern eher in anderen zeitgenössischen Varietäten (vgl. die Abschnitte zur Diastratik und Diaphasik: 2.3 und 2.4). Auch die heute übliche Einteilung der romanischen Sprachen ist geprägt von der klassischen Epoche: Nachdem Augustus die Asturer und Kantabrer im Norden der Iberischen Halbinsel besiegt hatte, ordnete er 15 v.Chr. die iberischen Provinzen neu: Aus der Hispania citerior im Nordosten wurde die Provincia Tarraconensis (Hauptstadt Tarraco > Tarragona), aus der Hispania Ulterior im Süden wurde die nach dem Fluß Baetis (später arab. Guadalquivir) benannte Provincia Baetica (Hauptstadt Corduba > Cordoba) und im Südwesten wurde die Lusitania als neue Provinz geschaffen (Hauptstadt Emerita Augusta > Mérida). Erstmalig wurde also eine eigenständige Verwaltungseinheit auf dem Gebiet des späteren Portugal begründet. Es kristallisierte sich auch bereits heraus, dass die Baetica und der Küstenbereich der Tarraconensis wegen ihrer geographi- 21 Hadrian hatte nach Trajans Vorbild durch geschicktes Adoptieren geeigneter Kandidaten die Kaiserfolge bis hin zu Mark Aurel im voraus festgelegt. <?page no="33"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 33 schen Lage besonders guten Kontakt zu Rom hatten. Dies betraf nicht nur den Seeweg, sondern auch die Lage an der Via Herculea, die von den Säulen des Hercules bei Gibraltar über Carthago Nova (> Cartagena), Tarraco, Emporiae (>Ampurias) und Narbo (Narbonne) bis zur Mündung der Rhône führte (vgl. Abb. 5, sowie Dietrich/ Geckeler 2004: 125 und Lüdtke 1978). Entsprechend werden diese Gebiete besonders intensiv romanisiert, während die keltiberischen Dialekte im Norden und Nordwesten weniger häufig von neuen lateinischen Formen überlagert werden. Eine ähnliche Zweiteilung ergibt sich in Gallien: Caesar hatte von 58-51 v.Chr. den westlichen und nördlichen Rest des Landes erobert und dadurch, dass er die damals unter Ariovist bereits in Gallien eingefallenen Germanenstämme wieder aus Gallien vertrieben hatte, bewirkt, dass Frankreich heute zum romanischen und nicht zum germanischen Sprachgebiet gehört (Lauffer 1983: 185). Augustus ordnete dann von 27-22 v.Chr. die Provinzen neu und benannte sie teilweise um: Die ehemalige Gallia transalpina wurde zur Provincia Narbonensis. Von hier bezieht die heutige Provence ihren Namen, wenngleich ihr Gebiet deutlich kleiner geworden ist. Diese Provinz war schon in vorklassischer Zeit romanisiert worden und erfuhr jetzt noch einen intensiveren Kontakt mit Rom: Die römischen Bauwerke in Orange, Nîmes, Arles und Vaison la Romaine machen dies bis heute deutlich. Die von Caesar eroberten tres Galliae, nämlich die Provinzen Aquitania im Westen (Hauptstadt Burdigala > Bordeaux), Lugdunensis in der Mitte (Hauptstadt: Lugdunum > Lyon) und Belgica im Norden Galliens (Hauptstadt Durocortorum in Remis > Reims) hingegen blieben für römische Siedler unattraktiv. Diese unterschiedlichen Romanisierungszeitpunkte und -intensitäten führten in der Folge (in Kombination mit den schon angesprochenen Substratsprachen) zu unterschiedlichen Varietäten des Lateinischen im Norden und Süden des Landes und damit zur Grundlage der heutigen Trennung zwischen okzitanischem und französischem Stammgebiet, eventuell auch schon zu einer Sondervarietät, die dem späteren Frankoprovenzalisch vorausging. Selbst das Gebiet Italiens wurde noch in dieser Epoche erweitert: Unter Augustus wurde von 25-15 v.Chr. die römische Herrschaft auf das Alpengebiet sowie auf das nördliche Alpenvorland, also die heutige Schweiz, ausgedehnt (Provinzen Noricum und Raetia). Hier sind also die Ursprünge der unter dem Sammelbegriff „Rätoromanisch“ zusammengefassten Varietäten Bündnerromanisch, Ladinisch und Friaulisch zu suchen. Mehr als 100 Jahre später, nämlich 107 n.Chr., wird Dakien, das heutige Rumänien, unter Trajan erobert und als Provinz Dacia dem Römischen Reich einverleibt. Damit ist die heutige Romania (von der „neuen Romania“ einmal abgesehen) komplett. Die Eroberungen in Britannien und Germanien, von denen u.a. Tacitus berichtet, waren nur von kurzer Dauer und werden daher, wie die anderen eingebüßten Territorien (z.B. auf dem Balkan), als „verlorene Romania“ bezeichnet. Eine sprachliche Eroberung dauert eben deutlich länger als ihr militärisches Pendant. Dass eine sprachliche Eroberung ohnehin nicht das Ziel der Römer war, sieht man daran, dass der Osten des römischen Weltreichs auch in klassischer und nachklassischer Zeit weiterhin Griechisch sprach. <?page no="34"?> Varietäten des Lateinischen 34 Bei all dem Gesagten muss betont werden, dass die römischen Truppen seit der Heeresreform des Marius (104-100v.Chr.) nicht mehr aus Wehrpflichtigen, sondern aus Söldnern bestanden, die nach dem Feldzug nicht in ihre alten Berufe zurückkehrten, sondern Berufssoldaten blieben (Lauffer 1983: 180). Dieses Söldnerdasein war wegen der finanziellen Versorgung (Veteranenentschädigungen in Form von Landschenkungen) vor allem für Verbündete Roms interessant. So wurden beispielsweise von Trajan Römer aus allen Gebieten des Römischen Reiches in Dakien angesiedelt, die das Lateinische als einzige gemeinsame Verkehrssprache hatten (Marouzeau 1970: 109). Das Lateinische wurde also zunehmend von Personengruppen exportiert, die es selbst nur als Zweitsprache gelernt hatten. Damit war es in weiten Teilen des Römischen Reiches eher eine Verkehrs- (lingua franca) als eine Muttersprache. [Textbeispiele: Cicero: Oratio prima in Catilinam habita I,1 s. S.251 Caesar: Commentarii Belli Gallici I,1 s. S.205 Vergil: Aeneis I,1 ff s. S.181f. Petron: Satyrica 46,5-7 s. S.235 Martial: Epigramm 5,43 s. S.136 Plinius: Epistel VI,20,13 s. S.167] 2.1.4 Spätlatein (ca. 180 - 650 n.Chr.) Mit dem Spätlatein enden die klaren zeitlichen Grenzen, weil es keine großen literarischen Eckpunkte mehr gibt, an denen man sich orientieren könnte. 22 Wir haben es also mit einer typischen Übergangsepoche zu tun. Der wesentliche Unterschied zum klassischen und nachklassischen Latein besteht im Aufkommen christlicher Literatur. Da das Christentum aus Osten, also aus dem griechischen Sprachraum, nach Rom drang, häufen sich in dieser Literatur die Gräzismen. Wir können damit insgesamt drei Wellen griechischen Einflusses auf das Latein festhalten (nicht umsonst werden von Lateinstudierenden üblicherweise auch Altgriechischkenntnisse verlangt): • im archaischen und im Altlatein, wo Gräzismen über Kontakte zu griechischen Kolonien in Süditalien vermittelt wurden; • im klassischen Latein, wo gehobenes Griechisch als Prestigesprache der gebildeten römischen Schichten wirkte; • und im Spätlatein, wo christliches Gedankengut über ein sehr volksnahes Griechisch ins Lateinische transportiert wurde. Aber auch das Latein an sich ändert sich in der spätlateinischen Phase: Schwierigere Regeln des Klassischen Lateins, vor allem im Bereich der Morphosyntax (z.B. Kasus- und Modusgebrauch), werden nicht mehr durchweg beherrscht. Die Literatursprache wird dadurch volksnäher, und zwar sowohl im sprachlichen wie auch im inhaltlichen Sinn (Heiligenerzählungen, moralische 22 Die Grenzziehung mit dem Tode Mark Aurels (180) ist also etwas willkürlich. Genausogut hätte man einfach das Jahr 200 ansetzen können, um eine runde Zahl zu haben, oder aber 212, das Jahr der Constitutio Antoniniana. <?page no="35"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 35 Unterweisung z.B. in Form von Predigten). Die Bevölkerung des Römischen Reiches spricht nach wie vor überwiegend Latein oder Griechisch, allerdings in einer einfacheren Form (vgl. Kap.2.4 zur Diaphasik - hier v.a. Vulgärlatein). Wichtige Autoren der spätlateinischen Epoche sind die Historiker Ammianus Marcellinus (ca. 330-395; eifert Tacitus nach) und Jordanes († wohl 552, aus Ostrom stammend; bekannt für seine Getica, eine Geschichte der Goten), die durchweg in Afrika geborenen Kirchenväter Tertullian (ca. 150-230), Minucius Felix (um 200), Cyprian († 258) und Augustinus (354-430; z.B. De civitate dei/ Vom Gottesstaat und Confessiones/ Bekenntnisse) und der aus dem heutigen Kroatien stammende Bibelübersetzer Hieronymus († 420). Seine aus dem Griechischen und Hebräischen ins Lateinische übersetzte Vulgata ist vielleicht der einflussreichste lateinische Text überhaupt. Eine Brücke von griechisch-römischer Bildung zum christlichen Glauben schlägt vor allem Boethius (ca.480-ca.525), der deswegen häufig als „der letzte römische Philosoph“ bezeichnet wird. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht hervorzuheben sind die Grammatiker Donat (um 350, ein Lehrer des Hieronymus) und Priscian (um 500), deren Werke bis weit ins Mittelalter hinein den Lateinunterricht dominierten. Nebenbei wird auch deutlich, dass die großen lateinischen Autoren zunehmend aus den Provinzen kommen. Die folgende Karte veranschaulicht dieses Faktum (nach Poccetti et al. 2005: 498): 23 23 Poccetti et al. haben die Karte entnommen aus Grant, Michael: Ancient History Atlas (Cartography by Arthur Banks), London: Weidenfeld and Nicolson, 4 1989. <?page no="36"?> Varietäten des Lateinischen 36 Abb. 6: Herkunft lateinischer Autoren (nach Poccetti et al. 2005: 498) ? Ambrosius - Theologe Sidonius Apollinaris - Dichter Ausonius; Paulinus - Dichter ? Tacitus - Historiker u. Redner Quintilian - Rhetoriklehrer Martial - Dichter Columella - Fachschriftsteller über Landwirtschaft Mela - Geograph ? Prudentius - Dichter Seneca der Ältere - Rhetoriklehrer Seneca der Jüngere - Philosoph u. Verfasser von Tragödien Lucan - Dichter Augustinus - Theologe Apuleius - Romanschriftsteller und Redner Terenz - Verfasser von Komödien Minucius Felix; Cyprian; Lactanz - Theologen H I S P A N I A G A L L I A Plinius der Ältere - Gelehrter Plinius der Jüngere - Verfasser von Briefen, Redner Roma SICILIA Carthago Hadrumetum Salvius Julianus - Jurist Hieronymus - Theologe Caecilius Statius - Verfasser von Komödien Vergil - Dichter Catull - Dichter Livius - Historiker Plautus - Verfasser von Komödien Accius - Tragiker Properz - Dichter Sallust - Historiker Pacuvius - Tragiker Ennius - Dichter Livius Andronicus - Dichter Persius - Dichter Varro - Gelehrter ? Tibull - Dichter Cato der Ältere - Redner u. Historiker Cicero - Redner u. philosophischer Schriftsteller Lucilius - Dichter Statius - Dichter Horaz - Dichter Ammianus Marcellinus - Historiker Ulpian - Jurist Adriatisches Meer Claudian - Dichter Caesar - Historiker u. Redner ? Sueton - Biograph Symmachus - Redner Boethius - Philosoph Tyros Antiochia Donau GALLIA CISALPINA Rhein Roma DIE HERKUNFT LATEINISCHER AUTOREN <?page no="37"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 37 Das größte Datierungsproblem der gesamten lateinischen Sprachgeschichte stellt der Übergang vom Spätlatein zum Mittellatein dar. Orientiert man sich an der Zeitgeschichte, dann kommen die Jahre 476 n.Chr. (Ende des Weströmischen Reiches), 751 (Sturz von Childerich III und damit Ende der 450 begonnenen Merowingerdynastie) oder sogar erst das Jahr 800 (Kaiserkrönung Karls des Großen) für eine Grenzziehung in Frage. Orientiert man sich hingegen an der sprachlich-kulturellen Situation, so ist das sog. „Merowingerlatein“ mit Autoren wie Gregor von Tours (538/ 594), dem Dichter Venantius Fortunatus († nach 600 in Poitiers) und dem westgotischen Philologen und Kirchenvater Isidor von Sevilla († 636) sicher noch dem Spätlatein zuzurechnen. 24 Das Interesse galt hier fast ausschließlich christlichen Texten, die „heidnischen“ Dokumente der Antike wurden mit Vorsicht behandelt. Die schon recht deutlichen Abweichungen von der klassischen Morphologie und Syntax sind ein Indiz dafür, dass die Texte dieser Autoren als Zeugnisse für das allmählich aussterbende gesprochene Latein gelten können. 25 Aus streng innersprachlicher Sicht tritt erst ab etwa 750 n.Chr. mit der sog. „karolingischen Renaissance“ eine deutliche Veränderung des Lateinischen ein (s.u.) - man hätte also auch hier die Grenze zum Mittellatein ziehen können. Betrachtet man die sprachliche Situation aber gesamtheitlich, dann ändert sich spätestens im 6./ 7. Jh. Entscheidendes: Die gesprochene Sprache hat sich so stark weiter- und auseinanderentwickelt, dass wir neben dem Lateinischen von der Existenz romanischer Volkssprachen ausgehen können, auch wenn dafür noch keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen. Ab jetzt liegt demnach die Diglossiesituation aus romanischem Basilekt und lateinischem Akrolekt vor, die charakteristisch für das Mittellatein ist (s.u.). In der Zeitspanne zwischen 550 und 750 geht es also mit der Beherrschung des Lateinischen steil bergab und mit der Entwicklung des Romanischen bergauf - beide Prozesse verlaufen parallel. Man kann die Situation mit dem Unterschied zwischen Staffelschwimmen und einem Staffellauf vergleichen: Beim Staffelschwimmen startet der nächste Starter erst, wenn der vorige Starter angekommen ist. Diese Situation kommt im Sprachwandel so gut wie nie vor - viel besser passt das Bild des Staffellaufs: Hier läuft der nächste Starter schon los, um Tempo aufzunehmen, ehe der vorige Starter ankommt. Dann laufen beide eine Weile mit gleichem Tempo nebeneinander her, bis das Staffelholz übergeben ist. Der neue Starter beschleunigt anschließend, der vorige Starter läuft langsam aus. 24 Zu den sprachlichen Eigenheiten des Merowingerlateins vgl. Calboli (1987). 25 Banniard (2003: 551) spricht deshalb für die Merowingerphase in Frankreich noch von einem „monolinguisme complexe“(gesprochenes vs. geschriebenes Latein) und setzt die Diglossiesituation zwischen Latein und Protofranzösisch erst mit Ende des 8.Jh. an. <?page no="38"?> Varietäten des Lateinischen 38 Abb. 7: Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen 26 Jede Grenzziehung zwischen Spät- und Mittellatein, die in diese Phase fällt, ist damit ohne weiteres zu rechtfertigen, und entsprechend heterogen fallen die Datierungen aus. 27 Ich selbst plädiere für 650, nicht nur, weil es in der Mitte des genannten Zeitraums liegt, sondern auch, weil dadurch die wichtigsten Autoren des Merowingerlateins (s.o.) noch in die Phase des Spätlateins fallen, wo sie von den meisten Latinisten ohnehin verortet werden. Ein bis heute strittiger Punkt ist die Frage, inwieweit das christliche Latein repräsentativ für das geschriebene Spätlatein ist, oder ob man nicht eher von einer sog. „altchristlichen“ oder „altkirchlichen Sondersprache“ ausgehen muss, wie es die sog. „Schrijnen/ Mohrmann-Schule“ annimmt 28 . In jedem Falle wird deutlich, dass die wesentlichen geistigen Anstöße nicht mehr aus Rom selbst, sondern aus den Provinzen kommen. Einher mit dieser Entwicklung geht die sog. Constitutio Antoniniana, ein Erlass des Kaisers Caracalla (212), in dem dieser verfügte, dass von nun an alle freien Provinzbewohner des Imperium Romanum automatisch das römische Bürgerrecht bekommen. 26 Die Werte für den Ausbaugrad sind rein symbolisch, weshalb auch keine Einheiten aufgetragen wurden. Zudem ist zu beachten, dass der Ausbaugrad bzw. die Kompetenz für das Lateinische nach der karolingischen Reform zwar wieder ansteigt, dass dieses Ansteigen aber nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung betrifft. Ein ähnliches Schema findet sich in Raible (1996: 121). 27 Krefeld (1988: 749) führt einige Linguisten auf, die wie er davon ausgehen, dass ab dem 6.Jh. eine Diglossiesituation Latein vs. romanische Volkssprachen vorliegt. Steinbauer wählt als Grenze zwischen Spät- und Mittellatein das Jahr 600 n.Chr. (2003: 513), Meiser (1998: 2) setzt 700 an, Lehmann 650 (Web-Materialien). 28 Vgl. z.B. Schrijnen (1932), Schrijnen/ Mohrmann (1936/ 37) und Mohrmann (1961). Ausbaugrad/ Kompetenz 0 250 n.Chr. 500 650 750 1000 Latein der karoling. Reform t Romanische Volkssprachen Latein als Volkssprache <?page no="39"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 39 Ein für die Romania wichtiger Verwaltungsakt ist auch die Reichsreform unter Diokletian (305), im Rahmen derer die Iberische Halbinsel neu aufgeteilt wird. Als neue Provinzen kommen die Carthaginiensis im Südosten und die Gallaecia im Nordwesten hinzu, so dass von nun an insgesamt 5 Provinzen vorliegen, die heute in etwa regionale Entsprechungen haben: Lusitania (Portugal), Gallaecia (Galizien), Baetica (Andalusien), Carthaginiensis (Katalonien), Tarraconensis (Rest-Spanien, v.a. Kastilien). Insgesamt wurde durch die Neueinteilung des Reiches die Zahl der Provinzen von 47 auf 87 erhöht, was zwar die einzelnen Provinzen abwertete, aber die Bedeutung überregionaler Zwischenzentren erhöhte und damit die Ausstrahlungskraft von Rom als Zentrum des Reiches reduzierte. Die zentrifugalen wurden damit stärker als die zentripetalen Kräfte, das Reich begann sich aufzulösen (Devoto 1968: 251ff/ 291). Beschleunigt wird dieser Prozess durch das wichtigste historische Phänomen der spätlateinischen Epoche: die Völkerwanderung. Im Verlauf dieser um 250 n.Chr. einsetzenden Bewegung gelangten germanische Stämme schon lange vor den ersten Touristenströmen in die Gebiete der Romania (zu den genauen Daten vgl. die Zeittafel S.254): die Franken nach Nord-, die Burgunder nach Südostfrankreich, die Vandalen nach Andalusien (daher der Name), die Sueben nach Galizien und die Ostgoten nach Mittel- und Süditalien. Die größte nichtgermanische Gruppe waren die Alanen, ein ehemals nordiranisches Reitervolk, das bis ins heutige Portugal vorstieß. Den größten Umweg machten die Westgoten, die zunächst nach Italien zogen und dort zweimal Rom eroberten. Die erste Einnahme (410) führte zu einem Bündnis mit Rom und vorübergehendem Abzug, die zweite Einnahme (476), bei der Odoaker den römischen Kaiser Romulus Augustulus absetzte, bedeutete das Ende des römischen Westreichs. Die Westgoten wurden aber nun ihrerseits von den nachrückenden Ostgoten aus Italien vertrieben und ließen sich, nach einer Zwischenstation in Südwestfrankreich, dauerhaft in Spanien nieder. Hinzu kommen nur noch die Langobarden, die ab 568 in Oberitalien (=> „Lombardei“) und später auch im Süden des Landes siedeln - damit ist das Panorama der germanischen Superstratsprachen in der Romania komplett. Diese germanischen Sprachen kommen nun in intensiven Kontakt mit provinzlateinischen Varietäten, die bereits deutlich stärker regional diversifiziert sind, als uns dies die schriftlichen Zeugnisse des Spätlateins dokumentieren. [Textbeispiele: Itinerarium Egeriae II,1 s. S.147 Vulgata Mt 4,1-3 s. S.222 Vulgata Gen 11,1-4 s. S.225] <?page no="40"?> Varietäten des Lateinischen 40 2.1.5 Mittellatein (ca. 650 - 1400/ 1500) 29 und die frühen romanischen Sprachen Gelegentlich wird das Mittellatein zeitlich einfach mit der Epoche des Mittelalters verknüpft; die angesetzte Zeitspanne erstreckt sich dann zumeist von 500-1500 n.Chr. Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, beginnt aus linguistischer Sicht aber erst im 6. und 7. Jh. entscheidend Neues. Dies ist nämlich der wesentliche Zeitraum der Ausbildung und Diversifizierung der romanischen Volkssprachen, die durch die Auflösung des Römischen Reiches beschleunigt wurde. Gleichzeitig nimmt die Lateinkompetenz in der Bevölkerung stark ab. Die ersten schriftlichen Zeugnisse der Volkssprachen tauchen zwar erst ab 800 auf (Ital.: Indovinello Veronese: ca. 800; Frz.: serments de Strasbourg: 842; Span.: nodicia de kesos: ca. 980), sie dokumentieren aber damit, dass die Anfänge dieser Volkssprachen deutlich früher liegen müssen. Eine schreibfähige Sprache entsteht ja nicht von heute auf morgen. Die sprachliche Wende, in der das Romanische als Volkssprache die Überhand über das Lateinische gewonnen hat, dürfte etwa im 7. Jh. anzusiedeln sein. Von nun an können wir von einer Diglossie-Situation 30 zwischen Latein als High-Variety und den romanischen Volkssprachen als Low-Variety ausgehen, die das wesentliche Kriterium für das Mittellatein als neue diachronische Varietät darstellt. Dabei kann man zwei Phasen unterscheiden: das frühe Mittellatein (bis etwa 1000 n.Chr.) 31 war als Schriftsprache fast konkurrenzlos - wenn man also schrieb, was nur wenigen vorbehalten war, dann tat man das selbstverständlich lateinisch. Gesprochen wurde aber bereits Romanisch. Im Hoch- und Spätmittelalter hingegen stehen die romanischen Volkssprachen auch in verschrifteter Form zur Verfügung. Damit ist Latein jetzt nur noch eine Sprache für ganz bestimmte Anlässe (z.B. Verwaltung, Justiz, Kirche, Bildung und Wissenschaft), der Alltag jedoch ist von der Volkssprache dominiert. Auch das Lateinische wird noch gesprochen, aber eben vorwiegend in den genannten Kontexten. 32 Typisches Produkt dieser Diglossie-Situation ist die Textsorte der Glossen. Es handelt sich hierbei um Notizen am Seitenrand oder in der Zeile, in denen nicht mehr verstandene lateinische Wörter in die Volkssprache übersetzt werden - ganz genau so, wie Schüler bis heute gerne ihre fremdsprachlichen Lektüren präparieren. Hier wird deutlich, dass die Bevölkerung ein Diglossiebewusstsein entwickelt hat und weiß, dass sie inzwischen eine andere Sprache spricht als die schriftlich vorliegende. In Spanien ist dies spätestens ab dem 10. oder 11. Jh. der 29 Zu den Varianten der Enddatierung s. das Kapitel zum Neulatein. 30 Im Unterschied zu „Bilinguismus/ Bilingualismus“ (beide Ausdrücke sind üblich), der sich auf die Zweisprachigkeit eines Individuums bezieht, charakterisiert der Begriff „Diglossie“ eine Zweisprachigkeit von Sprechergruppen bzw. Regionen, in der den beiden dort auftretenden Sprachen unterschiedliche Funktionen zukommen. Häufig sind die Kompetenzen in den beiden Diglossie-Sprachen auch sehr unterschiedlich in der Bevölkerung verteilt. 31 Die Grenze 1000 ist natürlich symbolisch - wir wissen ja, dass die volkssprachliche Verschriftung in den romanischen Gebieten unterschiedlich schnell voranging (Lehmann - Webmaterialien - setzt z.B. 1050 als Grenze an). 32 Zur mündlichen Kommunikation im Mittelalter vgl. Haye 2005. <?page no="41"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 41 Fall, je nachdem, welcher Datierung für die Glosas Emilianenses man folgt (vgl. Bollée/ Neumann-Holzschuh 2003: 57). Die Tatsache, dass die ersten schriftlichen Zeugnisse der Volkssprachen ab 800 auftauchen, ist kein Zufall. Im ausgehenden 8. und beginnenden 9. Jahrhundert hatte Karl der Große an seinem Hof in Aachen, aber auch in anderen Pfalzen, herausragende Gelehrte seiner Zeit versammelt. Diese v.a. aus Irland (z.B. Alcuin v. York, 735-804) und Oberitalien (z.B. der Langobarde Paulus Diaconus aus dem Kloster Monte Cassino, † 797/ 799) stammenden Mönche verfügten über hervorragende Lateinkenntnisse und wirkten schulbildend auf das Latein ihrer Epoche. Das Latein näherte sich damit wieder dem Niveau des Klassischen Lateins an (daher: „Karolingische Renaissance“), was aber dazu führte, dass es von der Bevölkerung nicht mehr verstanden und als Fremdsprache aufgefasst wurde. Prominentestes Zeugnis dieser Entwicklung ist das Konzil v. Tours (813), in dem unter anderem in Absatz 17 festgelegt wurde: Visum est unanimitati nostrae, ut […] easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur. - ‚Wir sind uns darin einig, dass […] jeder [erg. Geistliche] eben diese Predigten offen in die romanische oder die deutsche Volkssprache übersetzen soll, damit alle leichter verstehen können, was gesagt wird.’ 33 Diese „Vorschrift“ war wahrscheinlich eine enorme Erleichterung für viele einfache Geistliche, die nach Zeitzeugnissen nicht einmal mehr in der Lage waren, bei Begräbnissen die schriftlich vorliegenden lateinischen Messformeln an das Geschlecht (masc./ fem.) oder die Anzahl (Singular/ Plural) der Verstorbenen anzupassen (Berschin et al. 1978: 182). Entsprechend bestand nun ein Bedarf, erstmals auch die Volkssprachen zu verschriften. Zunächst sind dies vor allem Listen 34 und Glossen, ab dem 10. Jh. beginnt die literarische Produktion im Altfranzösischen, ab dem 12./ 13. Jh. auch im Altspanischen und Altitalienischen. Die Vorreiterrolle des Französischen ist kein Zufall: Diese Sprache hat den stärksten germanischen (d.h. hier: fränkischen) Superstrateinfluss „erlitten“ und sich daher am schnellsten und weitesten vom Lateinischen entfernt. Die Interkomprehension (‚Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens’) zwischen lateinischer Hochsprache und romanischer Volkssprache endete hier also etwa 200 Jahre früher als im Spanischen und Italienischen. Was die lateinische Literatur- und Wissenschaftsproduktion betrifft, so haben wir von den Protagonisten der karolingischen Renaissance bereits gesprochen. Auch die übrigen lateinischen Autoren haben meist einen klerikalen Hintergrund. Die Klöster wurden sowohl zu Stätten der Bewahrung (durch Abschreiben alter Manuskripte) wie auch der Verbreitung (durch Unterricht) des Lateinischen. Ohne diese mittelalterlichen Abschriften wären uns so gut wie keine Texte der antiken Literatur erhalten. Das zweite große Standbein der lateinischen Schriftlichkeit sind Justiz und Verwaltung mit ihren Unmengen an erhaltenen lateinischen Urkunden und Gerichtsakten. Berücksichtigt man, dass die Phase 33 Text nach Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 183, Übersetzung JML. 34 Zur Bedeutung der Listen vgl. Koch 1995. <?page no="42"?> Varietäten des Lateinischen 42 des Mittellateins alleine genau so lang dauerte wie die drei Phasen des dokumentierten antiken Lateins zusammen (d.h. Altlatein bis Spätlatein) und sich überdies auf einen größeren Sprachraum bezog (z.B. auch auf Germanien und Britannien), so wird leicht deutlich, dass die erhaltene mittellateinische Sprachproduktion die erhaltene antike Produktion in der Quantität erheblich übertrifft. Ab der karolingischen Renaissance verbesserte sich vorübergehend die Lateinkompetenz der (durchweg klerikalen) Bildungselite, man interessierte sich in der Folge auch für die aristotelische Antike und verband Christentum mit antiker Philosophie und Wissenschaft. Prominent wurden der frühscholastische französische Philosoph Petrus Abaelardus (Pierre Abélard, 1079-1142), der deutsche Naturwissenschaftler und Philosoph Albertus Magnus (ca. 1200-1280) und vor allem dessen italienischer Schüler Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), der Hauptvertreter der mittelalterlichen Hochscholastik. Was aber die Masse der Geistlichen angeht, so häufen sich die zeitgenössischen Klagen über deren fehlende Lateinkompetenz. 35 [Textbeispiele: Straßburger Eide s. S.179 Glosas Emilianenses s. S.248]. 2.1.6 Neulatein (ca. 1400/ 1500 heute) Das Ende des Mittellateins wurde durch die im 14. Jh. in Italien ausgelöste Renaissance eingeläutet. Gelehrte Dichter wie Dante Alighieri (um 1265-1321), Petrarca (1304-1374) und Boccaccio (1313-1375) entdeckten die antiken Autoren, deren Denken und deren Sprache neu und begründeten damit den Humanismus, der den Menschen ins Zentrum des Denkens stellte. Wenn sie Latein schrieben (wie z.B. Dante in seiner De vulgari eloquentia/ ’Über das Dichten in der Volkssprache’ oder Petrarca in seinem Traktat Secretum meum/ ’Mein Geheimnis’), dann nahmen sie sich die Sprache Ciceros zum Vorbild, andererseits lieferten sie aber auch die ersten Spitzenprodukte volkssprachlicher Literatur. Im 15. und 16. Jh. eiferte man diesen Frühhumanisten auch nördlich der Alpen nach. Deshalb wird das Ende des Mittellateins hier üblicherweise auf 1500 festgesetzt, in Italien auf 1400. Das Latein entwickelte sich in dieser Zeit von einer pragmatischen Verwaltungs- und Kirchensprache zu einer klassizistischen Kunstsprache, dem Neulatein, das vor allem in der Philosophie ihre Anwendung fand und nur von entsprechend wenigen Gebildeten geschrieben und verstanden wurde. Protagonisten sind vor allem die großen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469-1536), Thomas Morus aus London (1478-1535), der Elsässer Sebastian Brant (1457/ 1458-1521) und der Deutsche Philipp Melanchthon (1497- 1560). Die mündliche lateinische Kommunikation trat zunehmend in den Hintergrund. 35 Haye (2005: 9ff) weist allerdings darauf hin, dass gerade bei den Dokumentierungen prominenter Fälle lateinischer Inkompetenz (z.B. im 10. Jh. bei Papst Johannes XII) häufig verunglimpfende Manipulationen der Historiographen vorliegen. <?page no="43"?> Diachronische Varietäten des Lateinischen 43 Das humanistische Neulatein verdrängte aber nicht nur das Mittellatein, sondern stärkte zugleich die Volkssprachen. Da die Masse der Bevölkerung dieses neue Latein nicht mehr verstand, wurde in Verwaltung und Justiz auf die Volkssprache umgestellt (vgl. z.B. in Frankreich die Ordonnance von Villers- Cotterêts 1539). Auch im Schulwesen und in den Naturwissenschaften ließ der Gebrauch des Lateinischen nach: Mit ciceronianischem Wortschatz ließen sich die zeitgenössischen Entwicklungen eben nicht mehr darstellen. Sogar in der Theologie vollzog man den sprachlichen Schwenk, allerdings nicht ganz freiwillig, sondern auf Druck der Reformatoren, die ihre Kirchenkritik und auch Bibeltexte publikumswirksam in der Volkssprache publizierten (z.B. Martin Luther, 1483-1546, und Jean Calvin, 1509-1564) und dadurch volkssprachliche Reaktionen von der katholischen Gegenseite herausforderten. Bis ins 17. Jh. hielt sich das Lateinische noch als internationale Diplomatensprache, wurde dann aber vom Französischen und dieses im 20. Jh. wiederum vom Englischen abgelöst. An den Universitäten hielt sich das Lateinische als optionale Dissertationssprache bis ins 20. Jh., der tatsächliche Gebrauch war aber gegen Ende die Ausnahme. Letztes Rückzugsgebiet für das Neulatein blieb entsprechend der Vatikan, wo es heute noch offiziell als Amtssprache fungiert, wenngleich es in der mündlichen Kommunikation längst vom Italienischen abgelöst ist. Auch den lateinisch publizierten päpstlichen Rundschreiben gehen inzwischen volkssprachliche Originalfassungen voraus, und beim Versenden werden die lateinischen immer von volkssprachlichen Fassungen begleitet. Um ethische Problemfragen der Gegenwart angemessen auf Latein behandeln zu können, wurde im Vatikan eine Stiftung Latinitas gegründet, die sich damit beschäftigt, lateinische Bezeichnungen für neue gesellschaftliche und technische Entwicklungen zu kreieren (z.B. segregatio nigritarum für ‚Apartheid’ oder instrumentum computatorium für ‚Computer’). Sie gibt zusammen mit der Libraria Editoria Vaticana das Lexicon Recentis Latinitatis (‚Wörterbuch der neuen Latinität’) 36 heraus, das in einer italienisch-lateinischen und einer deutsch-lateinischen Version publiziert wird. Die hier vorgeschlagenen Termini werden z.B. auch für die lateinisch gesendeten Monatsnachrichten nuntii latini von Radio Bremen verwendet. 37 Es liegt also beim modernen Neulatein ein von der Morphosyntax und Aussprache her an Cicero orientiertes Latein vor, das aber im lexikalischen Bereich auf den neuesten Stand gebracht worden ist. Damit unterscheidet es sich vom Klassischen Latein, das z.B. an Gymnasien und den Seminaren für Klassische Philologie unterrichtet wird und wo darauf geachtet wird, dass auch der Wortschatz sich auf die klassische Epoche beschränkt. Betrachtet man das Neulatein durch die romanistische Brille, so spielt es vor allem eine Rolle als Quelle der lexikalischen Entlehnung. Solche Lehnwortschöpfungen aus dem Lateinischen gab es zu allen Zeiten in allen romanischen 36 Letzte Auflage: 2004. Eine Kurzfassung des ital.-latein. Wörterbuchs findet sich unter www.vatican.va/ roman_curia/ institutions_connected/ latinitas/ documents/ rc_latinitas_20 040601_lexicon_it.html. 37 www.radiobremen.de/ nachrichten/ latein/ index.php3 (zuletzt aufgesucht am 17.7.06). <?page no="44"?> Varietäten des Lateinischen 44 Sprachen, und sie dauern bis heute an, aber im 16. Jh. hatten sie ihren Höhepunkt: Um die sich vom Lateinischen emanzipierenden Volkssprachen lexikalisch konkurrenzfähig zu machen, entlehnte man massenhaft Lexeme aus dem Neulatein, das zur damaligen Zeit dem Klassischen Latein sehr nahe kam. Nach Wolf (vgl. Wolf 1991: 102) fallen beispielsweise die Erstbelege von etwa 30% der französischen mots savants bzw. Kultismen 38 in dieses Jahrhundert. An Latinismen wären z.B. zu nennen: 39 classique (Erstbeleg 1548, < lat. classicus), érosion (1541 < erosio), semestre (1596 < semester), véhicule (1551 < vehiculum). Typisch für diese Epoche ist auch das Phänomen der Dubletten. Von „Dubletten“ spricht man, wenn volkssprachlichen Erbwörtern, die sich nach Durchlaufen aller Sprachwandelprozesse in Form und Bedeutung recht weit vom Ursprungswort entfernt haben, zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen der Wortschatzerweiterung neue Lehnwörter an die Seite gestellt werden, die unmittelbar auf demselben Etymon basieren und daher dessen Form und Bedeutung weitgehend beibehalten, also Kultismen darstellen. Einige romanische Dubletten entstehen schon in der Phase des ausgehenden Mittellateins und werden dann in der Phase des Neulateins Allgemeingut: So sind beispielsweise aus lat. causa (‚Grund/ Ursache/ Rechtssache’) die Erbwörter frz. chose, sp. cosa, it. cosa und port. coisa entstanden, deren Bedeutung sich durchweg zu ‚Sache/ Gegenstand’ verallgemeinert hat. Im 13. Jh. kreierten Lateinkundige dann durch Entlehnung frz. cause, span. causa, it. causa und port. causa mit der Originalbedeutung ‚Ursache/ Grund’. Als Dublette im weiteren Sinne könnte man auch die zahlreichen Fälle bezeichnen, in denen einem erbwörtlichen Substantiv ein aus dem Neulatein oder späten Mittellatein entlehntes stammverwandtes Adjektiv oder Substantiv an die Seite gestellt wird. 40 Diese Formen sind vor allem im Französischen auffällig, weil durch die starke historische Wortverkürzung beim Erbwort die Verwandtschaft des substantivischen Lexems mit dem neuen adjektivischen Lexem kaum noch sichtbar ist: vgl. œil (< oculum) vs. oculaire (Erstbeleg 1483; < ocularius) und oculiste (1534; < oculus), chien (< lat. canem) vs. canin (14. Jh.; < caninus), eau (< lat. aqua) vs. aquatique (13. Jh.; < aquaticus). 41 Wegen dieser Koexistenz alter und junger Formen spricht man im Französischen von einem „lexique à deux étages“. 42 Ergänzend sei hier noch angefügt, dass es zwischen den Erbwörtern und den Kultismen auch noch das Phänomen von Erbwörtern gibt, die durch bremsende Einflüsse entsprechender schriftsprachlicher Formen (z.B. in Verwaltung oder Kirche) nicht den kompletten Lautwandel durchschritten haben. Diese Wörter bezeichnet man als Semikultismen (‚halbgelehrte Wörter’), z.B. sp. ángel ‚Engel’ statt *año (< lat. angelus) oder sp. siglo ‚Jahrhundert’ statt *sejo (< saeculum). 43 38 Nur die Entstehung dieser Wörter ist „gelehrt“, nicht etwa ihr heutiger Gebrauch. 39 Belege nach Geckeler/ Dietrich (2003: 206f). 40 Man spricht auch von „Dissoziierung der Wortfamilien“ (Geckeler/ Dietrich 2003: 123). 41 Datierungen nach Bloch/ Wartburg (1986). 42 Hierzu sehr übersichtlich Walter (1988: 242ff). 43 Hierzu ausführlich Bollée/ Neumann-Holzschuh (2003: 65f). <?page no="45"?> Diatopische Varietäten 45 Typisch für die neulateinische Epoche ist auch das Phänomen der sog. „Relatinisierung“ 44 der romanischen Sprachen: Um diese Volkssprachen aufzuwerten, ersetzte man erbwörtliche oder halblehnwörtliche Formen graphisch durch Entsprechungen, die dem neulateinischen und damit klassischen Ideal näher kamen: So ersetzte man z.B. das altspanische Graphem <v> häufig durch seinen lateinischen Vorgänger <b> und restituierte auch das im Altspanischen weggefallene initiale Graphem <h->, ohne dass sich phonetisch etwas änderte (z.B. altspan. <aver> > nsp. <haber> analog zu lat. habere). Die wenigen Inkonsistenzen, die im an sich recht konsequent phonographischen spanischen Orthographiesystem bis heute bestehen, beruhen also meist auf Entwicklungen dieser Zeit. Besonders stark von der etymologischen Schreibung ist das Französische betroffen: Viele der bis heute existierenden „stummen Buchstaben“ wurden in der Epoche des Neulateins eingeführt (z.B. <heure> statt afrz. <eure> zur Erinnerung an lat. <hora>, <poids> statt afrz. <pois> (‚Gewicht’) zur Erinnerung an lat. <pondus> (obwohl es eigentlich auf lat. pensum zurückgeht) und zur Unterscheidung von pois ‚Erbse’. Manche dieser Grapheme wurden ab dem 17. Jh. wieder fallen gelassen, so z.B. die im Folgenden unterstrichenen Grapheme in <doubter>, <debvoir>, <estre> und <sçavoir>, die zur Erinnerung an <dubitare>, <debere>, <esse(re)> und fälschlicherweise <scire> (das eigentliche Etymon ist lat. sapĕre) eingefügt worden waren. [Textbeispiel: Pietro Bembo: Rerum Venetarum Historiae VI, s. S.134f] 2.2 Diatopische Varietäten Die lingua latina war zunächst einmal - wie die Bezeichnung schon andeutet - die Sprache Latiums (heute Lazio - vgl. den Fußballverein Lazio Roma), also der Region, in der die Stadt Rom beheimatet ist. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich im 7. Jh. v.Chr. um mehrere Dialekte handelte, von denen wir nur den der Umgebung Roms näher kennen, allerdings erst aus späteren Zeugnissen. Man kann bei diesen Dialekten Latiums von „primären“ Dialekten 45 sprechen, da sie mindestens genauso alt sind wie der Dialekt Roms, der später zur Standardsprache wurde. Latium reichte vom späteren Hafen Ostia am Tyrrhenischen Meer im Westen etwa 100 km nach Osten bis Trevi; die Nordgrenze bildete ungefähr der nördliche Stadtrand des heutigen Rom, im Süden grenzte Latium an die Albaner Berge (bekannt ist hier v.a. der päpstliche Sommersitz Castel Gandolfo), also eine Nord-Süd-Ausdehnung von etwa 50 km. 44 Zur gegenseitigen Beeinflussung von romanischer Nähesprache und lateinischer Distanzsprache im Rahmen der Relatinisierung vgl. Raible (1996). 45 Die terminologische Unterscheidung „primäre vs. sekundäre vs. tertiäre Dialekte“ geht auf Coseriu (1980: 51f) zurück. <?page no="46"?> Varietäten des Lateinischen 46 Abb. 8: Das antike Latium (Alföldi 1977 Faltblatt; aus Poccetti 2005: 496) <?page no="47"?> Diatopische Varietäten 47 Bei den Latinern (bzw. Latino-Faliskern, denn der Sprachbezirk umfasste mit der 55 km nördlich von Rom gelegenen antiken Stadt Falerii - heute Civita Castellana -, deren Einwohner sich selbst alisci nannten, auch eine latinische Sprachinsel auf etruskischem Gebiet) dürfte es sich um Reste einer früher größeren italischen Einwanderergruppe (wohl um 1200 v.Chr. von nördlich der Alpen eingewandert) handeln, die von Norden her von den Etruskern (um 900 v.Chr. wahrscheinlich aus Osten eingewandert) und von Süden und Osten her von anderen Italikern, nämlich den auch um 1200 von Nordosten eingewanderten osko-umbrischen Sprechergruppen, zusammengedrängt worden waren. An den Küsten der Adria verzeichnen wir als Folge nach-italischer Einwanderungen im Norden noch das Venetische, eine indogermanische Sprache, die eventuell auch der italischen Familie zuzurechnen ist, sowie im Süden das Messapische, einen illyrischen Dialekt. An den Küsten des äußersten Südens und auf Sizilien finden wir weiterhin ab 750 v.Chr. griechische Kolonien (die Griechen nannten die Halbinsel erstmals „Italia“); ganz im Norden, d.h. im Piemont, am Golf v. Genua (daher die Bezeichnung „Ligurien“) und sogar im heutigen Tessin und um die oberitalienischen Seen siedelten die Ligurer und schließlich in der Poebene die um 400 v.Chr. aus Frankreich eingewanderten Kelten (vgl. Meillet 1977: 74ff und Bengtson 1982: 8ff). Wie stark der Dialekt der Stadt Rom von den umliegenden lateinischen Dialekten abwich, sollen einige Beispiele zeigen (alle nach Palmer 2000: 62f; zu anderen Dialekten und Sprachen vgl. Adams 2003: 111ff und Baldi 1999: 121ff): Eine archaische Inschrift aus Falerii lautet folgendermaßen: foied uino pipafo cra carefo - im späteren Dialekt der Stadt Rom entspricht dies hodie vinum bibam, cras carebo (‚heute will ich Wein trinken, morgen werde ich es mir versagen’). Typisch ist dabei der Verlust der Auslautkonsonanten in Falerii (vino vs. vinum, cra vs. cras), der durch Parallelbelege wie sta für stat (‚er steht’) oder mate für mater (‚Mutter’) bestätigt wird; also eine Entwicklung, die ein wenig an die der ostromanischen Sprachen erinnert. Für Hispanisten ist der Wechsel / f/ vs. / h/ (fodie vs. hodie) interessant, der an den späteren Lautwandel / f/ > / h/ vom Lateinischen zum Altspanischen erinnert (z.B. formosum > hermoso, filium > hijo). In Praeneste, 30 km südöstlich von Rom, finden wir noch andere dialektale Varianten: Hier erinnert das schon anlässlich der Fibula Praenestina (s.o.) erwähnte Reduplikationsperfekt fhefhaked (statt römisch fecit - ‚er hat gemacht’) an die oskische Form fefakid. In beiden genannten Regionen ist weiterhin in der zweiten, also der o-Deklination ein Nominativ Plural auf -es belegt, z.B. magistere(s) statt römisch magistri (‚Lehrer’). Auch Plautus lässt Sprecher aus Praeneste zu Wort kommen, die z.B. conea statt ciconia (‚Storch’) sagen (Truculentus, 690f). Sogar Witze basieren bei Plautus auf dialektalen Varianten. In der Komödie Truculentus (262ff) lässt er beispielsweise die pränestinische Sklavin Astaphium comprime eiram sagen. Gemeint ist comprime iram (‚unterdrücke den Zorn’), wegen der typisch pränestinischen Diphthongierung versteht der Dialogpartner Truculentus aber eram (‚Herrin’), was wegen der im Folgetext auch thematisierten sexuellen Konnotation der Metapher sicherlich ein Lacherfolg im Publikum war (zu den Plautusstellen ausführlicher Müller 2001: 265). <?page no="48"?> Varietäten des Lateinischen 48 Wir finden also in der weiteren Umgebung von Rom frühe Inschriften aus der Zeit vor dem 3. Jh.v.Chr., die sich deutlich vom erst später belegten Stadtdialekt unterscheiden. Ob der frühe stadtrömische Dialekt sich auch schon stark von den latinischen Dialekten seiner Umgebung abgehoben hat, können wir aufgrund fehlender Quellen nicht beurteilen. In jedem Falle hat sich in Rom irgendwann ein Dialekt herausgebildet, der ab dem 3. Jh.v.Chr. aus politischen Gründen (Ausdehnung des römischen Territoriums) die Nachbardialekte als Schriftform „überdacht“ hat (s. Kap.2.1), während die anderen primären Dialekte im Wesentlichen auf den mündlichen Gebrauch beschränkt blieben. Ob es von Anfang an einen römischen Dialekt gab, der stark dem späteren klassischen Latein ähnelte, oder ob es eine Mischform aus den Dialekten der Umgebung war, 46 wissen wir nicht. Das Problem erinnert also an die Diskussion zur Herausbildung des Franzischen, des mittelalterlichen Dialekts der Ile de France um Paris, der später zur französischen Hochsprache wurde. Auch dieser Dialekt ist deutlich später belegt als seine Nachbardialekte, nämlich erst ab der 2.Hälfte des 13. Jahrhunderts. 47 Seit der Phase des Altlateins breitet sich das Lateinische Roms in und außerhalb Italien aus und überlagert bzw. überdacht dabei Idiome, die aufgrund ihres typologischen Abstands nicht mehr als Dialekte des Lateinischen, sondern als eigenständige Sprachen aufzufassen sind. Auf diese Weise, also durch Migration, entstehen neue Dialekte des Lateinischen, sog. „sekundäre“ Dialekte. Ein solcher sekundärer Dialekt ist beispielsweise das bei Horaz 48 und Petronius häufig bezeugte Latein Süditaliens mit seinen zahlreichen Gräzismen, hervorgerufen durch die Verbreitung des Griechischen in Süditalien in vorrömischer Zeit. So finden wir z.B. bei Horaz das „Luxuslehnwort“ moechus statt adulter für ‚Ehebrecher’ (Hor. Sat.II 7,13 und 7,72) und bei Petron das „Bedarfslehnwort“ pyxis (Petron Sat. 39,8), das über seine latinisierte Form puxis zur deutschen Büchse geführt hat. 49 Allerdings ist zu den Gräzismen zu sagen, dass sie nur in ihrer Häufung typisch für Süditalien waren. Das Phänomen des Gräzismus als solches war auch in Rom verbreitet, einfach weil während der gesamten klassischen Epoche das Griechische die Vorzeigefremdsprache und im 46 Poccetti et al. (2005: 64f) betonen beispielsweise die sabinischen und etruskischen Elemente im archaischen Latein und bezeichnen Rom als „pluriethnischen Schmelztiegel“. 47 Hierzu Berschin/ Felixberger/ Goebl (1978: 204). Cerquiglini (1991: 116f) vertritt aufgrund der Datenlage die Extremthese, dass das frühe Franzische eine Erfindung der Sprachwissenschaftler sei. 48 Zur Funktion der bewusst eingesetzten volkssprachlichen Elemente bei Horaz vgl. Müller- Lancé (1992). Lüdtke (2005: 60ff) stellt in Frage, ob man zu diesem frühen Zeitpunkt überhaupt schon von „Vulgarismen“ im Gegensatz zum Standardlatein sprechen kann - immerhin haben sich die „klassischen“ Autoren ja selbst noch nicht als klassisch empfunden. 49 Ich unterscheide zwischen „Bedarfslehnwörtern“, die keine muttersprachliche Entsprechung haben und üblicherweise zusammen mit der entsprechenden technischkulturellen Neuerung importiert werden, und „Luxuslehnwörtern“ die strenggenommen überflüssig sind, da es bereits eine muttersprachliche Entsprechung gibt. Dessert für Nachtisch ist im Deutschen also ein Luxuslehnwort, Walkman hingegen ein Bedarfslehnwort. <?page no="49"?> Diatopische Varietäten 49 östlichen Teil des Römischen Reiches 50 auch die wichtigste Verkehrssprache war; 51 also durchaus vergleichbar mit der heutigen Rolle des Englischen. Kommen wir zu den sekundären Dialekten außerhalb Italiens: Einige Beispiele für keltische Lehnwörter im sekundären Lateindialekt Galliens kennt jeder Romanist aus seiner linguistischen Einführung: bracae (‚Hosen’), cervisia (‚Bier’), camisia (‚Hemd’). 52 Im hispanischen Latein, und nur dort, ist das keltiberische Lehnwort paramus (‚Hochebene’) belegt, das sich als páramo bis ins Neuspanische erhalten hat (Adams 2003: 450). Obwohl sich die Römer nur relativ kurz in Germanien aufgehalten haben, gab es auch hier Entlehnungen wie bspw. burgus (‚Burg’; Väänänen 1988: 83). Die phonetischen Abstände dieser sekundären Dialekte gehen so weit, dass man für die Entstehung der unterschiedlichen romanischen Sprachen regional verschiedene Vokalsysteme des gesprochenen Lateins annimmt (vgl. Kap.3.2). Leider haben wir für die sekundären Dialekte relativ wenig Belege. Dies spricht aber nicht gegen ihre Existenz, sondern vielmehr dafür, dass der Ausbau des Lateinischen bereits so weit vorangeschritten ist, dass die Schriftsprache weitgehend immun gegen die unterschiedlichsten regionalen Einflüsse aus der gesprochenen Sprache ist. Immerhin hat sich die Fläche des Römischen Reiches von etwa 2500 km 2 am Beginn des 5. Jh.v.Chr. auf etwa 3 Millionen km 2 ausgedehnt (Seidl 2003: 521). Wir müssen also von einer relativ homogenen Schriftsprache ausgehen, die zahlreiche höchst heterogene gesprochene Dialekte überdacht hat. 53 Ein einfaches Beispiel mag dies veranschaulichen: Liest man einen Prospekt eines bekannten Stuttgarter Automobilherstellers, so merkt man nichts von der regionalen Sprechweise seiner Verfasser. Unterhält man sich aber mit ihnen, so wundert man sich, zu welchem Standarddeutsch sie schriftlich in der Lage sind. Die wichtigste Informationsquelle für die Kenntnis der sekundären lateinischen Dialekte ist daher die Rekonstruktion aus den romanischen Sprachen. Versucht nun ein muttersprachlicher Sprecher eines sekundären lateinischen Dialekts, Standardlatein zu sprechen (beispielsweise vor Gericht oder bei einem ähnlich offiziellen Anlass), dann wird man ihm seine dialektale Herkunft zumeist an seinem „Akzent“ anmerken. Diese regionale Färbung der Standardsprache bezeichnet man auch als „tertiären“ Dialekt. Bekannt sind vor allem die Akzente im Latein der Griechen, der Afrikaner und der Kelten Galliens (Adams 2003: 432ff). Aber auch den gebürtigen Hispaniern Seneca, Martial, Trajan und 50 Die Grenze zwischen dem lateinischsprachigen und dem griechischsprachigen Teil des Römischen Reiches verlief nördlich des Mittelmeeres entlang der auf der Grundlage von Inschriften erstellten sog. Jireček-Linie (benannt nach ihrem Entdecker, einem tschechischen Historiker) auf dem Balkan. Im südlichen Mittelmeerraum begann der lateinischsprachige Bereich westlich von Ägypten (Tagliavini 1998: 132f und Seidl 2003: 522). 51 Zum Einfluss des Griechischen auf das Klassische Latein vgl. Rosén (1999: 21ff). 52 Zu keltisch-lateinischem Bilingualismus und Dokumenten der Sprachmischung vgl. Adams (2003: 184ff). 53 Begünstigt wird dies durch das antike Stilprinzip der „imitatio“ - d.h. des Nachahmens als vorbildhaft empfundener Autoren (Seidl 2003: 527). <?page no="50"?> Varietäten des Lateinischen 50 Hadrian wird man in Rom ihre Herkunft angehört haben. 54 Vielleicht hat man sogar ähnlich über deren Akzent gewitzelt wie heute in Deutschland über das Deutsch schwäbischer und bayerischer Politiker. Immerhin äußert sich Cicero abwertend zu den phonetischen Eigenheiten des gallischen und hispanischen Lateins (Müller 2001: 269). In jedem Falle waren die Akzente zahlreich und ständig miteinander in Kontakt: Trajan war z.B. mit Plotina, einer römischen Kolonistentochter aus Nemausus, also dem französischen Nîmes, verheiratet (Gottschalk 1984: 107). Hohes Prestige genoss allein der griechische Akzent, der sich im Lateinischen beispielsweise so äußerte, dass anlautendes / f/ im Eigennamen undanius als / h/ realisiert wurde (Adams 2003: 108/ 432). Bis heute existieren übrigens solche regionalen Aussprachekonventionen des Lateinischen, die auch zu den offiziellsten Anlässen nicht abgelegt werden. Jüngstes Beispiel war die am 19.4.2005 von der Loggia des Petersdoms in alle Welt übertragene Ankündigung des chilenischen Kardinals Medina Estévez „habemus papam“ (‚wir haben einen Papst’) 55 anläßlich der Papstwahl von Benedikt XVI. Ganz selbstverständlich verzichtete der Chilene, wie in romanischen Ländern üblich, auf die phonetische Realisierung des <h> in habemus. Weitere Beispiele: Unsere französischen Nachbarn sind nicht nur bekannt für ihre englischen, sondern auch für ihre lateinischen Aussprachekonventionen: Das Wortspiel, das in den französischen Asterix-Comics (d.h. im Original) 56 zur Bezeichnung des fiktiven römischen Lagers „Petibonum“ (sic! unzulänglich ins Deutsche übersetzt durch „Kleinbonum“) geführt hat, versteht man nur, wenn man weiß, dass in Frankreich die lateinische Endung <-um> phonetisch grundsätzlich als [ m ] realisiert wird und Petibonum dadurch lautlich dem französischen Ausdruck petit bonhomme (‚kleiner Kerl’) entspricht. In Italien wiederum wird jegliches lateinisches <c> vor <e> oder <i> als [ t ] realisiert. Die Aussprache von lat. cena (‚Essen’) unterscheidet sich heute also phonetisch nicht von it. cena, obwohl auch italienische Philologen wissen, dass in klassischer Zeit jedes lateinische <c> als [k] realisiert wurde. In Deutschland war es bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts üblich, die lateinischen <c> vor <ae>, <e> und <i> im Lateinunterricht als [ts] auszusprechen. Bis heute hat sich diese aus dem Mittellatein stammende Aussprachekonvention bei den Eigennamen Caesar [ ’ts za ] und Cicero [ ’tsitse o ] erhalten, obwohl man im gymnasialen und universitären Lateinunterricht längst zur zeitgenössischeren Aussprache [ ’ka e sar ] 54 So berichtet z.B. Aulus Gellius in Noctes Atticae 19, 9, 2 über den span. Rhetor Antonius Iulianus, daß er Hispano ore (‚mit spanischem Mund’) gesprochen habe und dafür von den Gebildeten verspottet wird; in der Historia Augusta heißt es zu Hadrian (3,1) er sei agrestius pronuntians und bei Seneca d.Ä. (controversiae 1 praef. 16) wird die Aussprache eines Spaniers gleichfalls als agrestem (,ländlich, bäuerlich’) bezeichnet (diese Hinweise danke ich meinem Kollegen Kai Brodersen). 55 Der komplette Text der Ansage: Annuntio vobis gaudium magnum; habemus Papam: Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Josephum Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Ratzinger qui sibi nomen imposuit Benedictum XVI (nach www.vatican.va/ holy_father/ benedict_xvi/ elezione/ index_ge.htm, aufgesucht am 24.1.06). 56 Z.B. Goscinny/ Uderzo (1965): Astérix et Cléopâtre. Paris: Dargaud. <?page no="51"?> Diatopische Varietäten 51 und [ ’kikero ] übergegangen ist. Am Beispiel Caesar werden noch drei Phänomene des in Deutschland üblicherweise gesprochenen tertiären Lateindialekts deutlich: Die Monophthongierung von [ a e] zu [ ], die Sonorisierung von intervokalischem [s] zu [ z ] und die Reduktion der Vibration beim ursprünglich wohl gerollten lateinischen [r]. Zur Entstehung der sekundären Dialekte des Lateinischen, aus denen ja die romanischen Sprachen hervorgegangen sind, ist noch etwas Wesentliches nachzutragen (zum Folgenden Krefeld 2003): In der Sprachgeschichtsschreibung hatte man in Anwendung der auf Ascoli (1864) zurückgehenden Strata-Theorie 57 lange Zeit die Tendenz, von folgender Gleichung auszugehen: Substratsprache X + Einwanderersprache Y + Superstratsprache Z = neue Sprache (also z.B. Keltiberisch + Latein + Westgotisch/ Arabisch = Spanisch). Hier wurde vielfach übersehen, dass sich nicht Sprachen wie Schichten überlagern, sondern dass Sprecher miteinander in Kontakt treten. Es muss also zum einen die Art und Häufigkeit dieser menschlichen Kontakte untersucht werden (führen sie z.B. zu Bilingualismus oder Diglossie, zu Überdachung oder zu einer gemeinsamen Verkehrssprache? ), und zum anderen der linguistische Typ (z.B. SOV- oder SVO- Sprache? flektierend oder agglutinierend? 58 Abstand? ) und schließlich der Status der betroffenen Idiome (Ausbaustufe, Prestige? ). Die Grundfrage ist also: Ist es überhaupt wahrscheinlich, dass der angenommene sprachliche Einfluss (z.B. eine konkrete Entlehnung) tatsächlich stattgefunden hat, oder handelt es sich vielleicht doch um eine unabhängige Eigenentwicklung? Antworten hierzu könnten junge Disziplinen wie die Sprachkontaktforschung (vgl. allgemein Riehl 2004 und speziell zum Lateinischen Adams 2003) oder die Migrationslinguistik (vgl. Krefeld 2004) geben - in jedem Falle ist die sprachliche Realität deutlich komplexer, als es Schichtmodelle vermuten lassen. Nur ein kleines Beispiel: Das Vulgärlatein Spaniens hatte es mit einem baskischen Subbzw. Adstrat (denn das Baskische existiert ja bis heute) sowie mit einem arabischen Superbzw. Adstrat zu tun. Beide Sprachen sind typologisch weit weg vom Lateinischen, Interkomprehension ist also ausgeschlossen. Da das Arabische aber eine hochgradig ausgebaute Kultursprache war und entsprechendes Renommé genoss, und darüberhinaus zahlreiche geistige und technische Neuerungen aus der arabischen Kultur nach Spanien drangen, sind die vielen Arabismen im Spanischen nicht überraschend (man spricht in solchen Fällen auch von einem „Kulturadstrat“). Das Baskische dagegen hätte viel länger Zeit gehabt, das Spanische zu beeinflussen, was aber faktisch kaum geschah, weil im Falle des Baskischen 57 Eine Substratsprache existiert vor der zum Standard werdenden Einwanderersprache (eigentliches „Stratum“ - dieser Terminus taucht aber bei Ascoli nicht auf) im Sprachgebiet, eine Superstratsprache kommt nach dieser Einwanderersprache ins Land. In der Phase der Koexistenz spricht man in beiden Fällen von „Adstratsprachen“. Erst wenn die Sprachen untergegangen sind, bezeichnet man sie als „Sub-„ und „Superstratsprachen“. Bleiben die fraglichen Sprachen neben der Standardsprache im Gebiet erhalten, dann spricht man von dauerhaften „Adstratsprachen“. 58 Vgl. Kap. 4.2. <?page no="52"?> Varietäten des Lateinischen 52 weder ein besonderer sprachlicher Ausbau noch ein im Vergleich zum Spanischen höherer Status der Sprache vorlag. Ein zweiter Nachtrag betrifft die Unterscheidung diatopisch vs. diastratisch vs. diaphasisch: Im Sprachbewußtsein der römischen Stadtbevölkerung ist die ursprünglich diatopische Unterscheidung sermo rusticus bzw. agrestis (Sprache der Landbevölkerung; von rusticus, 3 bzw. agrestis, e - ‚ländlich’) vs. sermo urbanus (Sprache der Stadt Rom; von urbanus, 3 - ‚städtisch’) schon in klassischer Zeit mehrfach bezeugt. Man merkte also offensichtlich an der Sprache, ob der Sprecher aus der Stadt selbst oder aus dem Umland kam. Dabei war die ländliche Sprache z.B. im Bereich der Phonetik eher progressiv: So wurde beispielsweise in klassischer Zeit der Diphthong [ a e] bzw. [ a i] (geschrieben <ae>) auf dem Land schon als [e] oder [ ] realisiert (z.B. haedus ‚Bock’ > [h]edus) (Müller 2001: 32). Entsprechendes gilt für das Verstummen von anlautendem / h-/ (Seidl 2003: 522). Später nahm die Unterscheidung urbanus vs. rusticus eher diastratischen Charakter an: Urban war die Sprache der gebildeten Schicht, rustik die Sprache der breiten Bevölkerungsschichten, und zwar auch derer aus Rom. Der nächste Schritt ist dann die Verwendung des sermo rusticus durch Sprecher der Oberschicht in formlosem Kontexten. Wir haben also mit den Varietäten des Lateinischen bereits ein Beispiel für die von Koch/ Oesterreicher als „Varietätenkette“ bezeichnete unidirektionale Abfolge diatopisch > diastratisch > diaphasisch (1990: 14; hierzu auch Müller 2001: 263f). 59 Von dem Moment an, wo sich eine ausgebaute Standardsprache endgültig etabliert hatte, können die von ihr abweichenden Formen daher nicht mehr eindeutig den diachronischen, diatopischen, diastratischen oder diaphasischen Varietäten zugeordnet werden (Seidl 2003: 519). 2.3 Diastratische Varietäten In unserer modernen Gesellschaft haben diastratische Varietäten an Bedeutung verloren, zumindest, wenn man sie als „Sprachen bestimmter Gesellschaftsschichten“ oder „Sprachniveaus“ definiert. Das Schulsystem und die Medien sorgen nämlich dafür, dass zumindest sprachlich die vertikale Mobilität gewährleistet ist. Sprecher des elaborierten Codes können sich diastratisch niedrig markierte Varietäten in Talk-Shows des Privatfernsehens zu Gemüte führen, die niedrigeren Schichten haben über die „Tagesschau“ Zugang zum sprachlichen Standard. Politiker geben sich, vor allem im Wahlkampf, gerne mal volksnah und verwenden dann auch das entsprechende umgangssprachliche Vokabular. Wichtiger sind diastratische Varietäten heute in der Form von Gruppensprachen: BWL-Studierende sprechen anders als Romanistik-Studieren- 59 Koch/ Oesterreicher stützen sich dabei auf Coseriu (1980: 50), der von einem orientierten Verhältnis „Dialekt => Sprachniveau => Sprachstil“ ausging. <?page no="53"?> Diastratische Varietäten 53 de (zumindest, wenn sie über ihr Studium sprechen), Jugendliche mit türkischem Einwanderungshintergrund sprechen anders als Gleichaltrige aus dem Schwarzwald. Entscheidend ist aber, dass jedes Individuum mehreren Gruppen angehört, weshalb sich Gruppensprachen über verschiedene gesellschaftliche Schichten erstrecken können. Zudem können Gruppensprachen auch von anderen Gruppen stilistisch imitiert und so als diaphasische Varietät eingesetzt werden: derzeit populärstes Beispiel in Deutschland ist die Deutsch-Varietät türkischer Migrantenkinder, kommerzialisiert durch das Komikerduo Erkan & Stefan. Die größten gesellschaftlichen Gruppen sind üblicherweise die der Männer und Frauen. Schon hierfür sind sprachliche Differenzierungen im Lateinischen überliefert: Bei Plautus berufen sich Frauen in Eidesformeln oder Bekräftigungen grundsätzlich auf den Gott Castor (ecastor! ‚beim Castor! ’), Männer hingegen auf Hercules (hercle! ‚beim Hercules! ’) (Seidl 2003: 525). Als Beispiel für eine typische Gruppensprache im Römischen Reich kann auch der sermo castrensis oder sermo militaris (beide synonym für ‚Soldatensprache’) herangezogen werden: Im römischen Heer, das vor allem zur Kaiserzeit zunehmend aus Provinzialen, also Provinzbürgern nicht-italienischer Herkunft, bestand, hat sich eine Fach- und Gruppensprache herausgebildet, die vom obersten Heerführer bis zum untersten Legionär verstanden wurde, also nicht schichtspezifisch war. Charakteristisch für diese Gruppensprache waren zunächst einmal Ausdrücke für Waffen und Formationen (die Metapher ‚Schildkröte’ - testudo - für das aus den Schilden der Soldaten über ihren Köpfen gebildete Schutzdach ist jedem Caesar- oder Asterix-Leser ein Begriff) sowie Kommandos (z.B. die aus dem Imperativ ambulate ‚marschiert los! ’ verkürzte Schnellsprechform *allate, die wohl zum frz. Verb aller geführt hat) und Soldatenlieder. Diese sprachlichen Elemente einten alle römischen Legionen, egal, wo sie stationiert waren. Hinzu kam jedoch ein Lehnwortschatz aus den jeweils besetzten Regionen oder aus den Muttersprachen der Söldner. 60 Dieser Lehnwortschatz war v.a. germanischer oder keltischer Natur (Reichenkron 1965: 161) und beschränkte sich auf die entsprechenden Legionen. Ebenfalls als Gruppensprache kann man das Latein der frühen Christen bezeichnen. Gekennzeichnet ist es vor allem durch einen Fachwortschatz aus bibelbasierten Hebraismen (z.B. messias ‚der Gesalbte’) und Gräzismen (z.B. baptizare ,taufen’) und eine sehr schlichte Syntax (Seidl 2003: 526). Auch diese Gruppensprache überspannte mehrere soziale Schichten. Abgesehen vom Heerwesen und dem Christentum mit der angesprochenen vertikalen sprachlichen Durchlässigkeit waren aber im Römischen Reich die Gesellschaftsschichten recht deutlich voneinander abgegrenzt: Es gab Sklaven, Freigelassene (also ehemalige Sklaven) und freie Bürger. Letztere teilten sich nach ihrer Abstammung nochmals in zwei Stände auf: die Masse der Plebejer (von plebs ‚Volksmenge’) und die wenigen Patrizier, die sich wohl schon in der 60 Legt man die bis heute üblichen Ernährungsgewohnheiten von Soldaten zugrunde, so ist die These sicher nicht allzu gewagt, dass das keltische Wort cerevesia (‚Bier’) auch über den sermo castrensis ins Spanische (cerveza) gelangt ist. <?page no="54"?> Varietäten des Lateinischen 54 Königszeit aus einer Schicht bäuerlicher Grundbesitzer erhoben hatten. 61 Häufig bildeten Plebejer in Gruppen die sog. clientela (,Klientel’) einer patrizischen gens (‚Familie, Geschlecht’, daher der „Gentilname“), insgesamt ein typisches do ut des- Verhältnis (‚ich gebe, damit du gibst’): In Abstimmungen gaben die Klienten ihrem patronus, also dem Oberhaupt der Patrizierfamilie, ihre Stimme, umgekehrt erhielten sie dafür Schutz von ihm, z.B. bei Gerichtsverhandlungen. 62 Die Sprache dieser Plebejer hat sich offenbar so stark von der Sprache der Patrizier unterschieden, dass sie schon früh als sermo plebeius (z.B. bei Cicero und Petronius) bezeichnet wurde. Gemeint war damit wohl vor allem der alltägliche Wortschatz im Unterschied zum literarischen Wortschatz (Müller 2001: 85ff). Im Spätlatein wird der Terminus sermo plebeius durch den Ausdruck sermo vulgaris verdrängt. Die Verdrängung erklärt sich dadurch, dass in der Kaiserzeit die Ständeunterscheidung Plebejer vs. Patrizier nicht mehr von entscheidender politischer Bedeutung war. Als Begriff für die Volksmasse in Abgrenzung zur Oberschicht wurde daher ein anderes Wort üblich: vulgus, i, n (Müller 2001: 91f). Der hiervon abgeleitete Ausdruck sermo vulgaris führte später in der historischen Sprachwissenschaft zur Schöpfung des umstrittenen Begriffs „Vulgärlatein“. Die Ausdrücke plebeius und vulgaris haben zwar einen gesellschaftlichen Ursprung, aber dennoch blieben die entsprechenden Varietäten nicht auf die diastratische Dimension beschränkt. Schon der bereits angesprochene Erstbeleg liefert möglicherweise ein Indiz dafür: Cicero (Epistulae ad familiares 9,21) hat nämlich Formulierungen in seinem eigenen Briefstil als sermo plebeius bezeichnet. Die Frage ist nun, ob dies Understatement war, ob er sich für einen sprachlichen Lapsus entschuldigen wollte (Müller 2001: 85ff), oder ob er sich vielleicht dessen bewusst war, dass man als Sprecher immer unterschiedliche Register zur Verfügung hat. In jedem Falle wird deutlich, dass die Grenzen zwischen der diastratischen und der diaphasischen Dimension schon hier verwischen. Es ist beispielsweise überliefert, dass der Patrizier Publius Claudius Pulcher sich aus politischen Gründen - er wollte Volkstribun werden - von einem Plebejer adoptieren ließ und sich fortan Clodius nannte. Die Monophthongierung von [au] zu [o] war also zunächst diastratisch markiert (Seidl 2003: 525). In der Kaiserzeit aber wird die Tendenz zur Aufhebung der Grenzen zwischen Standardsprache und Substandard noch stärker: Ähnlich wie moderne Politiker mussten sich auch viele Caesaren volksnah geben, um ihre Popularität zu sichern: Der Kaiser Claudius soll sich selbst Clodius genannt haben, und von Nero ist sogar bekannt, dass er sich nächtens verkleidet in Kneipen und Bordellen unters Volk mischte 61 Solche punktuelle Informationen zur Antike findet man am schnellsten und zuverlässigsten in Ziegler, Konrat; Sontheimer, Walter (1979): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München: dtv. 62 Patrizier und Plebejer bildeten gemeinsam das wahlberechtigte ‚Staatsvolk’ populus, das noch heute auf den Kanaldeckeln der Stadt Rom in Form des 2500 Jahre alten Akronyms SPQR auftaucht (Senatus Populusque Romanus - ‚der Senat und das römische Volk’). Ab der späten Republik hatten auch Plebejer Zugang zu den Staatsämtern. <?page no="55"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 55 (Gottschalk 1984: 59). Der ursprüngliche sozial markierte Substandard wird also zu einem Stilmittel. Dabei gab es selbstverständlich auch im Lateinischen eine „Vulgärsprache“ im heutigen Sinne, mit dem üblichen Wortschatz, zusammengesetzt aus Tiermetaphern und sexuellen (z.B. cauda für penis, cunnus für vagina) oder exkrementellen Ausdrücken (z.B. merda für excrementum) 63 - die romanischen Fortsetzer sind bekannt genug. Diese Vulgärsprache ist jedoch in keinem Fall mit dem Phänomen gleichzusetzen, das sich in der romanischen Sprachwissenschaft unter dem Begriff „Vulgärlatein“ eingebürgert hat. Letzteres Phänomen, auf das man die Entstehung der romanischen Sprachen zurückführt, wird in der Sprachwissenschaft zunehmend als diaphasische oder diamesische Varietät aufgefasst und daher im folgenden Unterkapitel behandelt. 2.4 Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 2.4.1 Probleme der Abgrenzung „diaphasisch - diamesisch“ Es wurde bereits gesagt, dass diatopische Varietäten auch in die diastratische Dimension (Sprachniveaus) übergehen können und diastratische Varietäten wiederum in die diaphasische Dimension (Sprachstile oder -register). Hinzu kommt das Problem, dass die Form von Äußerungen auch danach variiert, ob sie graphisch oder phonisch vorliegt (Medium) bzw. ob sie als gesprochen oder geschrieben (Konzeption) entworfen wurde. Diese von Ludwig Söll (1985) erdachte Unterscheidung wurde von Wulf Oesterreicher und Peter Koch (1990) ausgebaut. Sie unterscheiden zwischen der Opposition von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit (es gibt hier ja keine Zwischenphänomene) sowie dem Kontinuum zwischen konzeptioneller Mündlichkeit (= „Nähesprache“) und Schriftlichkeit (= „Distanzsprache“). Kennzeichnend für die sprachliche Konzeption sind bestimmte Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien (verkürzt nach Koch/ Oesterreicher 1990: 12): 63 Alle Beispiele aus Horaz Satiren, Buch I. <?page no="56"?> Varietäten des Lateinischen 56 Nähesprache Distanzsprache Kommunikationsbedingungen: Kommunikationsbedingungen: - Privatheit - Öffentlichkeit - Vertrautheit - Fremdheit - Emotionalität - keine Emotionalität - Spontaneität - Reflektiertheit - physische Nähe - physische Distanz usw. usw. Versprachlichungsstrategien: Versprachlichungsstrategien: - Präferenz für Gestik/ Mimik - Präferenz für sprachl. Kontexte - geringer Planungsaufwand - hoher Planungsaufwand - Vorläufigkeit - Endgültigkeit - Aggregation 64 - Integration usw. usw. Je öffentlicher eine Kommunikationssituation ist, desto mehr achten wir auf die Art, wie wir sprechen; planen also unseren Diskurs so durch, dass er auch dauerhaft Bestand haben kann. Das Ergebnis ist dann eine mehr oder weniger distanzsprachliche Äußerung. Werden diese kommunikativen Regeln verletzt, so kann dies ernsthafte Folgen haben - zahlreiche halbfreiwillige Ministerrücktritte wegen verbaler Entgleisungen sprechen eine deutliche Sprache. Nach allem, was wir über das gesprochene Lateinische wissen (vgl. hierzu die sprachinternen Kapitel), ergäbe sich für die späte Kaiserzeit folgendes Vierfelderschema, wenn die Bedeutung ‚man sagt, Claudius habe einen Sohn’ zum Ausdruck gebracht werden soll (analog zur Darstellung in Koch/ Oesterreicher 1990: 5): KONZEPTION gesprochen geschrieben graphischer Kode Dicunt quod Clodius filium habet Claudius filium habere dicitur MEDIUM phonischer Kode [ ’ dikuntkwod ’ klodjus ’ filju m abet] [ ’ klaudius ’ filiumhabere ’ dikitur] 65 Abb. 9: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Lateinischen 64 Die Unterscheidung zwischen Aggregation und Integration geht auf die von Wolfgang Raible (1992) eingeführte Dimension „Junktion“ zurück. Kurz gesagt meint „Aggregation“ das spontane Aneinanderhängen sprachlicher Elemente, während bei der „Integration“ eine Sachverhaltsdarstellung in eine andere integriert bzw. von ihr abhängig gemacht wird. Eine Kurzbeschreibung von Raibles Dimension findet sich in Kap.5.2.2 sowie in Müller-Lancé (1994: 83ff). 65 Nach unserem heutigen Wissensstand wurde die phonologische Unterscheidung der Vokalquantitäten schon im 1.Jh. n.Chr. aufgegeben (Seidl 2003: 520), weshalb sie in diesem Beispiel auch nicht mehr markiert ist. <?page no="57"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 57 Es stellt sich nun ein theoretisches Problem: Gehören die hier abgebildeten Varianten noch in die Dimension der Diaphasik, also zu den Sprachstilen? Diese Ansicht vertrat z.B. Coseriu selbst. Oder soll man eine eigene Dimension einführen, die dann „diamesisch“ zu nennen wäre (bzw. mit einer griechischlateinischen Kunstschöpfung: „diamedial“), 66 analog zu den Gräzismen „diatopisch“, „diastratisch“ und „diaphasisch“? Knackpunkt ist die Frage, ob sich eine sprachliche Äußerung auch in der Konzeption allein dadurch ändert, dass sie das Medium wechselt, ohne dass dies Auswirkungen auf die diaphasische Markierung hätte. Dies gilt sicher für das Französische, für das Lateinische hingegen können wir das aus unserer heutigen Sicht nicht mit Sicherheit sagen. Im oben aufgeführten Beispiel sind die Monopthongierung au>o, der Ausfall des Auslaut-m und des Anlaut-h aus diaphasischer Sicht wohl unmarkiert. Die syntaktische Umstellung vom NCI (Nominativus cum Infinitivo) zum abhängigen quod-Satz hingegen dürfte als Abstieg im stilistischen Niveau empfunden worden sein. Da die Grenzen fließend sind, werden die diamesischen Varietäten in dieser Darstellung in das diaphasische Kapitel integriert. Bei einer anderen zeitgenössisch belegten Varietät liegen die Dinge klarer: Der sermo cotidianus (‚Alltagssprache’) wird in der Rhetorica ad Herennium als unterstes Register der rhetorischen Stile angesehen, bei Quintilian steht er unmittelbar unterhalb dieser Stufe (Müller 2001: 167-170), nimmt also immerhin die höchste Stufe der nicht-rhetorisch geformten Rede ein. Also eine ziemlich eindeutig diaphasische Variante. Nicht ganz so einfach ist die Einordnung des sermo familiaris (‚vertrauliche Sprache’), einer eher selten verwendeten Bezeichnung nähesprachlichen Stils, die später von sermo cotidianus oder sermo vulgaris verdrängt wurde (Müller 2001: 179ff). Poccetti et al. (2005: 298) nämlich beschränken diesen sermo familiaris auf die gebildeten Klassen Roms und bezeichnen damit beispielsweise den Stil der gesprochenen Sprache der Plautus- Komödien; also ein echtes Übergangsphänomen zwischen Diastratik, Diaphasik und Diamesik. Auf welche Weise konkrete sprachliche Elemente von Epoche zu Epoche das Register wechseln können, zeigt das Beispiel laevus: Zu Zeiten des Plautus war es das Standardlexem für die Bedeutung ‚links’; daneben existierte das recht seltene sinister. Im Klassischen Latein wurde das inzwischen archaisch konnotierte laevus nur noch in epischer Sprache gebraucht und in der sonstigen Prosa von sinister als Standardwort verdrängt (Seidl 2003: 526f), das sich in it./ sp. sinistro mit zwei Bedeutungsvarianten erhalten hat (‚links’ + ‚unheilvoll’), in frz. sinistre nur noch mit letzterer. Ähnlich schwierig zu fassen ist der Begriff sermo humilis (‚niedrig’), der bei Cicero erstbelegt ist. Hier bezeichnet der Ausdruck humilis ganz wertneutral die unterste Stilebene in der antiken Rhetorik, ist also synonym zum genus subtile (‚schlichter Stil’). 67 Bei Quintilian hingegen wird humilis abwertend für eine 66 Einige linguistische Einführungen tun dies bereits, so z.B. Blasco Ferrer (1994: 208ff) oder E. Remberger in seiner nützlichen Altfranzösisch-Materialiensammlung: www.lingrom.fuberlin.de/ ~eremberg/ afrz/ Folien/ AfrzFolienGesamt.ppt (zuletzt aufgesucht 7.2.2006). 67 Im Unterschied zum erhabenen (genus grande/ sublime) und mittleren Stil (genus medium). <?page no="58"?> Varietäten des Lateinischen 58 Sprechweise gebraucht, die gegen den sprachlichen Standard verstößt. Bei Augustinus erfährt humilis eine Aufwertung: hiermit ist der bescheidene christliche Sprachstil gemeint, der im Gegensatz zu rhetorischer Effekthascherei steht (Müller 2001: 93-116). In jedem Falle ist humilis eher eine diaphasische als eine diastratische Markierung. 2.4.2 Das sogenannte „Vulgärlatein“ Definitionen Schon im 18. Jh. taucht eine erste wissenschaftliche Variante des Begriffs „Vulgärlatein“ beim französischen Sprachgelehrten Bonamy auf. Er versteht unter latin vulgaire das gesprochene Register, das neben der geschriebenen Hochsprache existierte, und er betont, dass dieses Register von allen sozialen Schichten verwendet wurde (Bonamy 1736/ 1975: 26f). Er fasst den Begriff also diamesisch (Dimension gesprochen/ geschrieben) auf und beschränkt ihn auf das gesprochene Medium. Aber erst der Romanist Schuchardt (1866-1868) verankert das Vulgärlatein fest als Begriff in der historischen Sprachwissenschaft, allerdings mit einer eher diastratischen Auffassung. Auch der Latinist Wölfflin versteht den Begriff 1876 in einem epochemachenden Aufsatz diastratisch, fasst ihn allerdings aus rein pragmatischen Gründen sehr weit: Wir fassen im folgenden den begriff vulgärlatein oder volkssprache im weitesten sinn und berücksichtigen sämmtliche stufen, welche der sermo cotidianus, usualis, vulgaris, plebeius, proletarius, rusticus, inconditus einnehmen, um so mehr als eine scheidung im einzelnen doch nicht durchzuführen wäre (Wölfflin 1876: 138). In der Folge gab es unterschiedlichste Definitionen des Begriffs „Vulgärlatein“. 68 Die Tendenz ging dahin, den Begriff rein diastratisch zu fassen und dabei zeitlich oder gesellschaftlich so einzuengen, dass die betreffende Varietät homogen und dadurch leichter beschreibbar wurde (z.B. schon bei Grandgent 1907 und Bourciez 1927). Hofmann (1951: 5) unterteilte in dieser Absicht die „Lateinische Umgangssprache“ in drei Ebenen: „Gebildete Umgangssprache - Vulgärsprache - Sprache des Pöbels“. Erst von den Romanisten Vossler (1954) und Rohlfs (1969) wurde das Vulgärlatein wieder aus der diastratischen Dimension herausgeholt und als sprechsprachliches Register ohne soziale Markierung betrachtet. Dennoch blieb rudimentär die aus dem romantischen Geist des 19.Jahrhunderts herrührende Grundauffassung bestehen, es habe eine vom Klassischen Latein weitgehend abgekoppelte Sprache gegeben, die als Volkssprache die Mutter aller romanischen Sprachen gewesen sei. Erst mit Sofer (1963), Reichenkron (1965) und Väänänen (1981) setzte sich die Auffassung durch, das Vulgärlatein sei ein Bündel von heterogenen sprechsprachlichen Varietäten, die, ihrerseits nochmals in Zeit und Raum variierend, vom kodifizierten Klassischen Latein zu unterscheiden seien. Das Vulgärlatein umfasst demnach sämtliche bisher aufgeführten vom klassischen Standard abweichenden sermones (familiaris, cotidianus, plebeius, rusticus, humilis, castrensis, vulgaris). Die Zeitspanne, in der 68 Hierzu Sofer (1963), Lloyd (1979) und zuletzt Kiesler (2006: 7ff). <?page no="59"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 59 man das Vulgärlatein ansetzt, erstreckt sich bei dieser Auffassung üblicherweise vom Aufkommen der ersten literarischen Zeugnisse im Lateinischen bis hin zur vermuteten Entstehungsphase der romanischen Volkssprachen, also von etwa 200 v.Chr. bis 600 n.Chr. (Reichenkron 1965: 77). Diesen weiten Vulgärlateinbegriff vertritt auch Kiesler (2006: 13) in seiner Überblicksdarstellung, die man derzeit sicherlich als die aktuellste bezeichnen kann. Das Vulgärlatein geht also direkt in das sog. „Protoromanisch“ über, einen Sammelbegriff zur Bezeichnung der Frühstadien der noch nicht verschrifteten und nicht weit ausdifferenzierten romanischen Sprachen. Gelegentlich wird „Protoromanisch“ auch synonym zu „Vulgärlatein“ verwendet (vgl. Seidl 2003: 528), oder aber man bezeichnet diejenige lateinische Teilmenge, die sich in den romanischen Sprachen fortgesetzt hat, als „protoromanisches Vulgärlatein“ (Stefenelli 2003: 531). Dass das Vulgärlatein überhaupt so sehr in das Zentrum des Interesses rückte, verdankt es also der Romanischen Philologie. Die Klassische und die Mittellateinische Philologie fühlen sich nämlich - zumindest in Deutschland - überwiegend für die lateinische Literatur(sprache) verantwortlich. Belege für gesprochenes oder gar Substandardlatein sind eher eine Domäne der Archäologen, der Historiker, der Indogermanisten und eben der Romanisten. 69 Das Interesse der Romanischen Philologie am Vulgärlatein ist allerdings egoistisch: Die Möglichkeit, mit dem Lateinischen auf eine recht gut dokumentierte Sprache als Ursprung ihrer eigenen Objektsprachen zurückzugreifen, erhob sie über die anderen Neuphilologien. Vor allem aber war man dank der Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten des Sprachwandels in der Lage, lateinische Etyma von ihren romanischen Reflexen her zu rekonstruieren und anschließend die Ergebnisse der Rekonstruktion mit lateinischen Belegen zu vergleichen. Frz. oreille, sp. oreja, port. orelha und it. orecchio gehen eben offensichtlich nicht auf das klassische auris (‚Ohr’) zurück, sondern auf dessen Variante oricla (‚Außenohr, Öhrchen, Ohrläppchen’), die uns in der Appendix Probi (s.u.) überliefert ist („auris non oricla“). Weil diese nicht auf das Klassische Latein zurückgehenden Rekonstruktionen aber in der Summe kein konkretes Sprachsystem ergaben, hat Coseriu das „romanistische“ Vulgärlatein als „Abstraktion“ bezeichnet (1978: 261). Nachdem in den letzten Jahrzehnten immer mehr vermeintliche Quellen des Vulgärlateins (s.u.) ausgewertet worden sind, kristallisierten sich drei Phänomene heraus, die für die moderne Auffassung des Begriffs ganz wesentlich sind und vor allem die Abgrenzung zum Klassischen Latein betreffen (Poccetti et al. 2005: 23): 69 International hat sich in den letzten 20 Jahren eine größere Gruppe von Linguisten zusammengefunden, die sich vorrangig mit Fragen des Vulgär- und Spätlateinischen befassen. Die Kongressakten dieser Tagungen unter dem Motto „latin vulgaire - latin tardif“ geben den besten Überblick über die aktuelle Vulgärlateinforschung. Bisher erschienen sind Tagungsbände mit folgenden Herausgebern: J. Herman (Bd.1, 1987), G. Calboli (Bd.2, 1990), M. Iliescu u. W. Marxgut (Bd.3, 1992), L. Callebat (Bd.4, 1995), H. Petersmann u. R. Kettemann (Bd.5, 1999), H. Solin et al. (Bd.6, 2003). <?page no="60"?> Varietäten des Lateinischen 60 • Die üblicherweise als Quellen des Vulgärlateins aufgefassten Texte zeigen sprachlich eine so stark zentripetale (also auf den Sprachgebrauch Roms hin orientierte) und vereinheitlichende Tendenz, dass sie nicht als Aufzeichnungen der gesprochenen Sprache angesehen werden können. • Texte mit Merkmalen, die als „volkssprachlich“ angesehen werden, zeigen immer auch Spuren literarischer Formen. Sie können also nicht niedrigsten diastratischen Varietäten angehören. • Selbst das literarische Latein (v.a. in späteren Epochen) enthält immer wieder Merkmale, die üblicherweise dem „Vulgärlatein“ zugeschrieben werden. Wenn man also an dem zugegebenermaßen sehr praktischen Vulgärlateinbegriff festhalten will, dann muss man Überschneidungen mit dem Klassischen Latein akzeptieren. Hier sind sicherlich die Möglichkeiten des Vulgärlateins deutlich breiter anzusetzen als die des Klassischen Lateins, das ja gerade durch seine zeitliche, thematische und räumliche Eingrenzung definiert ist. Abb. 10: Klassisches Latein (KL) und Vulgärlatein (VL) Man kann alternativ aber auch die ehrlichere Perspektive der sprachlichen Einzelformen annehmen (phonetische Varianten, Wortschatz und syntaktische Techniken inbegriffen). Ehrlicher ist diese Perspektive deshalb, da uns ja faktisch nur diese Formen vorliegen, und zwar auch durchaus in metasprachlicher Kommentierung, aber eben nicht zeitgenössische Abgrenzungen von Klassischem Latein und Vulgärlatein als Ganzem. Es ergäbe sich dann folgendes Schema, das die Teilmengen aus Abb. 10 wieder aufgreift: KL VL 1 3 2 <?page no="61"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 61 Abb. 11: Das Formenspektrum zwischen Klassischem Latein und Vulgärlatein und die Fortsetzungen in den romanischen Sprachen Die Menge der Formen, 70 die ausschließlich in klassischen Texten auftritt, ist also im Verhältnis am kleinsten. Deutlich größer ist bereits die Menge der Formen, die sowohl in klassischen Texten als auch in den üblicherweise als „volkssprachlich“ angesehenen Texten auftreten und daher unmarkiert sind. Am größten ist aber sicherlich die Menge der Formen, die in den verschiedensten Winkeln des Römischen Reiches zu unterschiedlichsten Zeiten und Anlässen verwendet wurden. Diese Formen sind uns jedoch kaum dokumentiert, weshalb die Linie der Ellipse gestrichelt dargestellt ist. Wer also beispielsweise nach Belegen für ein zusammengesetztes Perfekt Aktiv oder ein periphrastisches Futur (vgl. Kap.4.6.4) im Lateinischen sucht, der sucht die berühmte Nadel im Heuhaufen und muss entsprechend viel Geduld mitbringen. 71 In jedem Falle werden Elemente aus allen drei Teilmengen in den romanischen Sprachen fortgesetzt, wenn auch in unterschiedlicher Weise: Die rein klassischen Formen tauchen nur als Ergebnis späterer Entlehnungen wieder auf, also im Rahmen der Relatinisierung (vgl. Kap. 2.1.6). Aus dem Bereich der unmarkierten Formen gibt es sowohl gebildete Entlehnungen (also geringer Lautwandel, z.B. femininus > frz. féminin) als auch erbwörtliche Formen (also kompletter Lautwandel, z.B. femina > frz. femme; mulier > sp. mujer; domina > it. 70 Es geht bei diesen Formen um die Menge der types (Formtypen), nicht um die Menge der tokens (Belege für einen type). 71 Dem Verfasser ist dies am eigenen Leibe widerfahren, als er für sein Dissertationsprojekt „volkssprachliche“ Varianten absoluter Konstruktionen im Lateinischen suchte, also beispielsweise Accusativi oder Nominativi Absoluti (vgl. Müller-Lancé 1994). reine KL- Formen reine VL- Formen unmarkierte Formen lehnwörtliche Fortsetzungen in den romanischen Sprachen erbwörtliche Fortsetzungen in den romanischen Sprachen 3 2 1 <?page no="62"?> Varietäten des Lateinischen 62 donna). Die ausschließlich dem „Vulgärlatein“ zugeschriebenen Formen (z.B. oricla, s.o.) hingegen tauchen nur als erbwörtliche Fortsetzer auf. Dieses Faktum ist von größter Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht. Es zeigt nämlich, dass der klassische Wortschatz (einschließlich des darin enthaltenen unmarkierten Wortschatzes) im Lateinunterricht keinesfalls umsonst gelernt wird: Nach Stefenellis (1991, 1992) Auszählungen werden von den 1000 häufigsten Wörtern des Klassischen Lateins 290 als Erbwörter im Französischen fortgesetzt (in der hier vorgestellten Klassifikation wären das also die „unmarkierten“ lateinischen Formen). Hinzu kommen weitere 200 Wörter, die als Entlehnungen im Französischen wieder auftauchen und dort hochfrequent sind. Fast die Hälfte des im Lateinunterricht gelernten Wortschatzes kann also gewinnbringend für den Erwerb des Französischen eingesetzt werden. Im Spanischen und Italienischen liegen die Verhältnisse noch günstiger. Entscheidend ist letztendlich, dass diese Transfermöglichkeiten im alt- und neusprachlichen Unterricht auch entsprechend propagiert werden (hierzu Müller-Lancé 2003). Ein letzter Aspekt des Vulgärlateins ist bisher in der Forschung kaum beachtet worden: Viele der als „volkssprachlich“ bezeichneten Formen stellen offensichtlich Vereinfachungen der klassischen Formen dar. 72 Diese Vereinfachungen könnten auch dadurch erklärt werden, dass viele der Bewohner des Römischen Reiches ihr Latein als Zweitsprache von den Besatzern gelernt haben - entsprechendes gilt für die römischen Söldner, die als sprachliche Multiplikatoren dienten. Seit Selinker (1972) 73 gilt es aber als übliches Phänomen einer Lernervarietät bzw. interlanguage, dass z.B. unregelmäßige Formen der Zielsprache im Erwerbsprozess zunächst einmal vereinfacht, d.h. regelmäßig gemacht werden. Jeder Sprachenlerner kann dieses Phänomen an sich selbst beobachten. Auch das sog. „Indianerspanisch“ in Lateinamerika, das aus dem Erwerb des Kolonisatorenspanisch durch die indigene Bevölkerung entstand, zeigt solche Phänomene (Genusabweichungen, abweichender Gebrauch von Präpositonen und Modi). 74 Da das Römische Reich durchgehend von Bilingualismus und Diglossie geprägt war, liegt es nahe, in den Begleiterscheinungen des Zweitspracherwerbs einen ganz wesentlichen Faktor für die Entstehung der Charakteristika des Vulgärlateins zu sehen (vgl. Adams 2003: 425ff, 725ff). Dies gilt umso mehr, als ein wirklich gesteuerter Fremdsprachenunterricht (engl. foreign language learning) des Lateinischen erst im 4. Jh. n.Chr. seine Anfänge hatte (vgl. Lüdtke 2005: 81f). Fast die gesamte Antike hindurch wird das Lateinische als Zweitsprache also ungesteuert erworben (engl. second language acquisition), was die lernerseitigen Vereinfachungstendenzen verstärkt. 72 Ein klein wenig hat sich also die Vulgärlateinforschung auf die Position ihres umstrittenen enfant terrible, Witold Mańczak, zubewegt, der seit Jahrzehnten beharrlich die These vertritt, das Vulgärlatein stamme direkt vom Klassischen Latein ab (z.B. in Mańczak 1987 und 1995). 73 Nach Selinker steht die individuelle Lernervarietät (interlanguage) einer Sprache X am Anfang des Erwerbs noch recht nahe an der Muttersprache des Lerners, nähert sich aber im Laufe des Spracherwerbsprozesses immer mehr der Zielsprache an. Vgl. Selinker (1972). 74 Vgl. hierzu Zimmermann (2004, 1992). <?page no="63"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 63 In jedem Falle muss man sich nach unserem heutigen Kenntnisstand von der romantischen Vorstellung verabschieden, es habe im antiken Rom eine Zweisprachigkeit, bezogen auf getrennte Sprachsysteme des Klassischen und des Vulgärlateins gegeben vgl. Lüdtke 2005: 31ff). Zweisprachigkeit gab es zwar, aber die betraf Latein und Griechisch s.o.). Das Verhältnis zwischen Klassischem und Vulgärlatein entspricht am ehesten dem zwischen den Varietäten Distanz- und Nähesprache, die wir aus unseren modernen Sprachen kennen. Quellen Fasst man das Vulgärlatein als gesprochenes Latein auf, so ist klar, dass es hierfür strenggenommen keine direkten Quellen geben kann. In der romanistischen Sprachgeschichtsschreibung hat sich daher die Umschreibung „Quellen zur Kenntnis des Vulgärlateins“ eingebürgert. Hilfreich ist nun die oben erläuterte Unterscheidung von Koch/ Oesterreicher: Natürlich gibt es kaum Quellen zur medialen Mündlichkeit Transkriptionen in anderen Schriftsystemen, z.B. dem griechischen, bilden eine gewisse Ausnahme), aber sehr wohl für die konzeptionelle Mündlichkeit. Es geht also darum, das Gesprochene in der graphischen Realisierung zu identifizieren Oesterreicher 1995). Legt man diese Zielsetzung zugrunde, dann finden sich doch so viele Quellen, dass sie hier nicht annähernd aufgelistet werden können. Abhilfe leisten einige Textsammlungen zum Vulgärlatein, in denen jeweils repräsentative Originalauszüge mit linguistischen Kommentaren versehen sind: Iliescu/ Slusanski 1991), Rohlfs 1969), Díaz y Díaz 1962), Slotty 1960). Auch Anthologien der romanischen Sprachdenkmäler vermitteln einen Eindruck vom Vulgärlatein, da die frühesten romanischen Belege i.Allg. in lateinischem Kontext konserviert sind. Hier wären zu nennen: Moreno 1979), Sampson 1980) sowie die konsequent nach Manuskriptdatierungen und Textsorten geordnete Übersicht von Frank/ Hartmann 1997). Nun aber zu den wichtigsten Quellen zur Kenntnis des Vulgärlateins, also zu Texten, in denen sich Elemente der konzeptionellen Mündlichkeit sowie Elemente von Substandardregistern auffällig häufen pro Kategorie sind jeweils nur die bekanntesten Vertreter genannt): 75 1) Autoren (vor-) klassischer Zeit vgl. 2.1.3): • Plautus, Terenz: Komödien (ca. 200 v.Chr.) - hier legt das Genre schon eine nähesprachliche Darstellung nahe (Textbeispiel S.82) • Cicero: Briefe, v.a. die Epistulae ad Atticum, also an seinen Freund und Verleger Atticus (ca. 60 v.Chr.); wegen der persönlichen Vertrautheit gibt sich Cicero hier sprachlich deutlich lockerer als in seinen anderen Schriften. • Horaz: Satiren (ca. 30 v.Chr.) - Satiren im antiken Sinne sind zwar nicht so stark auf Lacherfolg ausgerichtet wie ihre heutigen Pendants, stellen aber Alltagsgeschichten dar und sind von daher tendenziell nähesprachlich. 75 Die Informationen basieren im Wesentlichen auf Iliescu/ Slusanski 1991), Väänänen 1981). Rohlfs 1969) und Tagliavini 1998: 158ff). <?page no="64"?> Varietäten des Lateinischen 64 • Petron: Satyrica (60 n.Chr.), darin v.a. die Cena Trimalchionis, das ‘Gastmahl des Trimalchio’, wo sich u.a. betrunkene Freigelassene unterhalten (Text S. 35) 2) metasprachliche Aussagen antiker Grammatiker (hier wird also beispielsweise erwähnt, ob eine bestimmte Formulierung dem sermo familiaris zuzuordnen ist) • Quintilian (1. Jh.n.Chr.) • Donat (ca. 350 n.Chr.) • Priscian (ca. 500 n.Chr.) 3) Fachbücher (themenabhängig findet sich hier v.a. Fachvokabular, das keinen Eintritt in die Literatur fand) • Cato ( . Jh.v.Chr.) und Columella (1. Jh.n.Chr.) zur Landwirtschaft (De agricultura) • Mulomedicina Chironis (4. Jh.n.Chr.): medizinische Abhandlung zur Behandlung von Pferden und Großvieh, verfasst von einem anonymen Veterinär, der sich selbst das mythologische Pseudonym “Chiron” 76 zulegte. • Apicius, De re coquinaria (4. Jh.n.Chr.), ein bis heute immer wieder neu aufgelegtes Kochbuch 4) Christliche Autoren • Bibelübersetzungen ins Lateinische: Hier ist zunächst eine Sammlung von Teilübersetzungen aus dem .Jh.n.Chr. auf der Basis griechischer Vorlagen zu nennen, die unter zwei verschiedenen Namen bekannt geworden ist: Vetus latina und Itala. Erst Hieronymus übersetzte dann zwischen 3 0 und 405 n.Chr. die komplette Bibel, die sog. „Vulgata“, und zwar unter Hinzuziehung des hebräischen Textes für das Alte Testament und der Vetus latina für das Neue Testament (Textbeispiele S. und 5). • Itinerarium Egeriae ad loca sancta (ca. 390 n.Chr.): Es handelt sich um den Reisebericht (itinerarium) der wohl aus den Pyrenäen oder aus der Gegend von Lyon (Seidl 003: 5 4) stammenden Nonne Egeria von ihrer Pilgerfahrt (peregrinatio) nach Palästina, wo sie verschiedene biblische Stätten besucht. Teilweise ist als Name der Nonne fälschlicherweise Aetheria überliefert, weshalb sich der Text in älteren Sammlungen unter dem Namen Peregrinatio Aetheria findet (Textbeispiel S.147). • Gregor v. Tours: Der Bischof von Tours schrieb als Hauptwerk eine Geschichte der Franken (Historia Francorum), war aber auch bekannt für seine Sammlung von Heiligenviten (Vitae Patrum). Beide Werke sind in der zweiten Hälfte des 6. Jh.n.Chr. entstanden und gelten als typische Beispiele des Merowingerlateins. 5) Volkstümliche Inschriften (es geht also um Inschriften von Privatpersonen; z.B. gesammelt im CIL: Corpus Inscriptionum Latinarum): • Graffiti von Pompeji (79 n.Chr.); diese sind besonders wichtig, da sie wegen des Vesuvausbruchs räumlich und zeitlich (zumindest in Bezug auf den 76 Es erinnert an den Zentauren Chiron, der der Legende nach Begründer der Tiermedizin war. <?page no="65"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 65 terminus ante quem, d.h. den Zeitpunkt, vor dem sie verfasst sein müssen) klar bestimmbar sind (Beispiele: S.146) • Votivtafeln (defixionum tabellae): Es handelt sich hierbei um Verwünschungen unliebsamer Personen, die in Blei eingeritzt und anschließend den dafür zuständigen übeltätigen Göttern geweiht wurden (erhalten v.a. aus dem . u. 3. Jh. n.Chr.). 6) Transkriptionen • Transkriptionen von lateinischen Eigennamen in griechischen Buchstaben, wo z.B. die Aussprache des lateinischen <c> durch die Festlegung auf griechische Grapheme (den Lautwerten / k/ oder / ts/ entsprechend) offensichtlich wird (vgl. Adams 003: 41ff). • sog. „Tironische Noten“: Tiro, der Schreibsklave von Cicero, hat wegen dessen Diktierfreudigkeit bzw. um Reden mitzuschreiben ein Kurzschriftsystem entwickelt. Dieses System wurde in der Kaiserzeit weiter ausgebaut, so dass einige, auch nähesprachliche Texte in dieser Form erhalten sind. 7) Antibarbari und Glossen • Der bekannteste Antibarbarus, also eine Handreichung zur Vermeidung barbarischen Sprechens, ist die sog. Appendix Probi (ca. 300 n.Chr.). Sie trägt den Namen, weil sie als einer von mehreren Anhängen (appendix) an ein Manuskript einer Grammatik von Probus überliefert ist, nicht etwa, weil sie von Probus verfasst worden wäre! Sie besteht aus 7 durch non (‚nicht’) getrennten Wortpaaren, von denen jeweils das erste Wort die klassische und das zweite die zu vermeidende volkssprachliche Form darstellt (z.B. masculus non masclus - ‚[sc. du sollst] masculus [sagen], nicht masclus’). Formal erinnert die Appendix also an eine Glossensammlung, inhaltlich hätte man sie auch unter den Grammatiken einordnen können (Beispiele S. 4 f ). • Reichenauer Glossen (spätes .Jh.n.Chr.): Diese Glossensammlung ist in Frankreich entstanden, wurde aber auf der Klosterinsel Reichenau (Bodensee) entdeckt. Sie besteht aus zwei Teilen: einer Liste von 315 Vokabelpaaren zur Vulgata, die nach dem Auftreten der Wörter im Text sortiert ist (es werden also dem Klassischen Latein nahestehende Ausdrücke der Vulgata durch volkssprachliche Periphrasen erklärt, z.B. optimum : valde bonum) sowie aus einem alphabetischen Glossar von 17 5 Wortpaaren zu verschiedenen Texten. Die Schreibung folgt noch der merowingischen Tradition, die phonetische Realisierung dürfte aber dem Altfranzösischen schon sehr nahe gekommen sein (Geckeler/ Dietrich 003: 17 ). • Glossen von San Millán (span. Glosas Emilianenses) und Silos (span. Glosas Silenses): Diese um 1000 entstandenen Glossen sind nicht als Glossar überliefert, sondern als Glossen im engeren Sinne; d.h. es handelt sich um volkssprachliche Ausdrücke, die nachträglich über unverstandene Wörter oder an den Rand eines lateinischen Textes geschrieben wurden, um diesen besser verständlich zu machen. Viele dieser Glossen gelten schon als romanische Sprachdenkmäler (z.B. hii: estos = Silos Nr. 13), andere sind eher dem Vulgärlatein zuzuschreiben (z.B. ferre: leuare = Silos Nr.351). 77 (Textbeispiel S. 4 ) 77 Nach Iliescu/ Slusanski (1991: 298f). <?page no="66"?> Varietäten des Lateinischen 66 Abb. 12: Glosas Emilianenses (Foto J.D. Dallet aus Escolar 2002: 72; ebenfalls abgedruckt in Frank 1994: Anhang, Abb.5) 8) Schreibfehler und Korrekturen in Handschriften Handschriftliche Schreibfehler sind selten Zufallsprodukte. Sehr häufig geben sie Aufschluss darüber, wie eine graphische Form im Volksmund phonetisch realisiert wurde. Korrekturen sind vor allem dann interessant, wenn sie eine eigentlich dem Standard entsprechende Form verschlimmbessern, also Hyperkorrekturen darstellen. Damit zeigen sie, dass es eine Tendenz zu einer bestimmten Veränderung des Standards gab, die hier (an falscher Stelle) rückgängig gemacht werden sollte. So findet sich in der Appendix Probi z.B. das Wortpaar labsus non lapsus. Der Verfasser ging davon aus, dass hier ein Beispiel typisch volkssprachlicher Silbenauslautverhärtung (b > p) vorläge, und korrigierte es entsprechend. Ihm war also nicht klar, dass lapsus die korrekte Form war. 9) Spätlateinische Urkunden (variabler Teil) Juristische Urkunden enthalten bis heute zumeist jeweils eine streng vorgegebene Einleitungs- und Schlussformel. Diese Formeln wurden immer wieder abgeschrieben und weisen daher selten Substandard-Elemente auf. Der variable Teil in der Mitte, der vom Gerichtsschreiber spontan nach der jeweiligen Rechtslage verfasst werden musste, weicht dagegen sprachlich häufig vom Register der Standardformeln ab. 10) Rekonstruktion aus den romanischen Sprachen Häufig können in unterschiedlichen romanischen Sprachen Parallelformen konstatiert werden, die offensichtlich auf ein gemeinsames Etymon zurückgehen. Mit der Anzahl der Parallelformen steigt die Wahrscheinlichkeit, <?page no="67"?> Diaphasische und diamesische Varietäten; das Vulgärlatein 67 aufgrund von Lautgesetzen die ursprüngliche lateinische Form rekonstruieren zu können. Wenn das rekonstruierte Ergebnis nicht belegt ist, spricht man von einer rekonstruierten volkssprachlichen Form, die dann mit einem Stern („Asterisk“) markiert wird - so z.B. die volkssprachliche Parallelform *essere (statt klassisch esse), die von frz. être her rekonstruiert wurde. Charakteristika In dieser Kurzübersicht sollen nur einige grundlegende Tendenzen des sog. Vulgärlateins angesprochen werden. Konkrete Details werden in den jeweiligen innersprachlichen Kapiteln dieses Buches nachgereicht. Das Vulgärlatein ist durch die folgenden Züge charakterisiert, die es vom klassischen Latein abheben und die sich überwiegend in den romanischen Sprachen fortsetzten: • Universalien der gesprochenen Sprache (vgl. Koch 1995 und Stefenelli 2003: 533) wie turn-taking-Signale, Zögerungsphänomene, Interjektionen (z.B. ecce, heus, ohe, eia), Schnellsprechformen (z.B. *allate statt ambulate, s.o.), aggregative Syntax; • archaische Züge: also Charakteristika des archaischen Lateins und seiner Nachbardialekte oder aber altlateinische Elemente. So hat man beispielsweise viele Parallelen zwischen der Sprache der plautinischen Komödien und späteren Vulgärlatein-Quellen entdeckt (z.B. die Ersetzung des Verbs audire - ‚zuhören’ durch das ältere Verb auscultare in Horaz Sat. II,7,1, das sich in den romanischen Sprachen erhalten hat: frz. écouter, sp. escuchar, it. ascoltare, port. escutar); • innovative Züge: Auch das Klassische Latein verzeichnet bereits Innovationen gegenüber dem Altlatein (z.B. die Assimilation von ad+capere über adcipere zu accipere). Das Vulgärlatein geht aber in der Innovation noch weiter. Solche Phänomene sind das Verstummen von / n/ vor / s/ wie in mensa > mesa ‚Tisch’ (vgl. span. mesa), die Bevorzugung von Komposita gegenüber Simplizes (z.B. comedere statt edere für ‚essen’; vgl. span. comer) oder das Ersetzen von Kasusformen durch Präpositionen; • Lehnwörter aus anderen Idiomen stellen einen typischen Zug von Sprachen dar, die außerhalb des Mutterlandes gebraucht werden. Zu nennen wäre z.B. das keltische cervesia (s.o.); • Handwerkliche Fachwörter: Sie waren weder in der Literatur, noch in der Philosophie, noch in der politischen und juristischen Rhetorik üblich. Z.B. das in der Küche übliche ficatum (‚Leber’) anstelle des literarischen iecur (vgl. frz. foie, sp. hígado, port. fígado, it. fegato, kat. fetge); • affektiver Wortschatz: die Wortwahl ist bildhaft und konkret, z.B. manducare ‚kauen’ für das abstraktere edĕre ‚essen’ (vgl. frz. manger, it. mangiare); Verbalperiphrasen dienen der besseren Verdeutlichung, z.B. die Futurperiphrase cantare habeo (vgl. frz. chanter-ai, sp. cantar-é, it. canter-ò) statt des synthetischen cantabo (‚ich werde singen’); • Vereinfachung unregelmäßiger Formen: Solche Vereinfachungen sind im Erst- und Zweitspracherwerb an der Tagesordnung und bieten auch dem <?page no="68"?> Varietäten des Lateinischen 68 geübten Sprecher Erleichterung (z.B. loquĕre statt des Deponens 78 loqui ‚sprechen’). Entsprechend werden bei alternativen Ausdrucksmöglichkeiten häufig die regelmäßigen Formen, bevorzugt z.B. portare statt ferre 79 (‚tragen’) - vgl. frz. porter, sp./ port. portar(se), it. portare. 2.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen Zusammenfassung: Das zurückliegende Kapitel versteht sich bereits als Zusammenfassung. Daher soll an dieser Stelle lediglich eine graphische Übersicht über die wichtigsten bisher behandelten Punkte gegeben werden. Da die diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten zu zahlreich und zu wenig klar abgegrenzt sind, um sie in einer Grafik sinnvoll darzustellen, werde ich mich auf die diachronischen Varietäten, also die an der Literatur orientierten Sprachepochen, beschränken (vertikal in chronologischer Folge). Die nichtliterarischen Varietäten werden unter dem Begriff „Vulgärlatein“ zusammengenommen - die horizontale Dimension repräsentiert dabei symbolisch das Kontinuum zwischen Nähesprache und Distanzsprache. Zur Darstellung ist zu sagen, dass eigentlich alle Grenzlinien gestrichelt werden müssten, denn es gibt keinerlei scharfe Grenzen zwischen den Epochen und Varietäten. Charakteristisch für Sprachwandel ist vielmehr das Nebeneinander von Phänomenen, die aus der Retrospektive in verschiedene Epochen gehören. 80 Die Darstellung mit durchgezogenen Linien ist aber nicht nur optisch einprägsamer, sondern macht zugleich deutlicher, dass es sich, wie bei jedem Modell, um eine starke Vereinfachung handelt. 78 „Deponens“ = passivisches Verb mit aktivischer Bedeutung. 79 ferre hat unregelmäßige Präsensformen und außerdem einen stark abweichenden Perfekt- (tuli) und Supinstamm (latum) - vgl. Kap.4.5. 80 Raible hat hierfür den Begriff „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ geprägt und verdeutlicht dies am Beispiel des Übergangs vom Merowingerlatein zu den romanischen Sprachen (Raible 1996: 120ff). <?page no="69"?> Zusammenfassung und Literaturempfehlungen 69 Abb. 13: Lateinische Sprachepochen und ihre Affinitäten zu Nähe- und Distanzsprache Literaturempfehlungen: • Geschichte der lateinischen Sprache: Poccetti et al. (2005), Meillet (1997), Dangel (1995), Devoto (1968), Palmer (2000/ 1954), Lehmann (Website zur roman. Sprachgeschichte). • Volkssprachliche Varietäten bzw. Vulgärlatein: Kiesler (2006 - v.a. maßgeblich für den aktuellen Forschungsstand), Müller (2001), Adams (2003), Seidl (2003), Stefenelli (2003), Wright (1996), Herman (1987), Väänänen (1981; nach wie vor das Referenzwerk für Charakteristika des Vulgärlateins), Herman (1975), Reichenkron (1965), Vossler (1954), Hofmann (1951). • Anthologien (‚Textsammlungen’) zum Vulgärlatein: Rohlfs (1969), Iliescu/ Slusanski (1991). • Geschichte der römischen Literatur: Büchner (1994), Bieler (1980). • Zeitgeschichte: Kinder/ Hilgemann (2000), Wells (1994), Lauffer (1983), Bengtson (1982). 600 v.C. 2000 n.C. 0 240 v.C. 80 v.C. 180 n.C. 1400 n.C. 500 n.C. 800 n.C. Nähe Distanz Archaisches Latein Altlatein Klassisches Latein Nachklassisches Latein Spätlatein Mittellatein Vulgärlatein Romanische Sprachen Neulatein <?page no="70"?> Varietäten des Lateinischen 70 2.6 Aufgaben Verständnis- und Wiederholungsaufgaben a) Welche Sprachen existierten zur Entstehungszeit des Lateinischen auf italienischem Boden? b) Welche sprachlichen, literarischen oder historischen Ereignisse markieren die Grenzpunkte der verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte? c) Weshalb spricht man in der Romanistik üblicherweise vom „sogenannten“ Vulgärlatein? Weiterführende Aufgaben a) Konsultieren Sie eine der gängigen Einführungen ins Vulgärlatein. Welche der darin aufgeführten innersprachlichen Charakteristika des Vulgärlateins können den von Koch/ Oesterreicher (1990) genannten sprechsprachlichen Universalien zugeordnet werden, welche Charakteristika sind eher einzelsprachlicher Natur? b) Informieren Sie sich im Kleinen Pauly über das System der antiken Rhetorik. Welche Stile werden hier unterschieden und unter welchen pragmatischen Bedingungen werden sie jeweils eingesetzt? c) Informieren Sie sich im Internet über das Leben und Werk Ciceros. Welche sind seine bekanntesten Schriften? Was wissen wir über Entstehung und Überlieferung seiner Briefe? <?page no="71"?> 3 Phonetik, Phonologie und Graphie In den nun folgenden, rein innersprachlichen Kapiteln wird das Material aus pragmatischen Gründen in jeweils zwei voneinander getrennten Unterkapiteln präsentiert. Das erste Unterkapitel bietet immer den Stand des Klassischen Lateins, also die Information, die beispielsweise in Latinumskursen vermittelt wird. Gelegentlich wird dabei auch auf das Altlatein zurückgeblickt. Das zweite Unterkapitel geht auf die Variationen in Vulgärlatein, Spät- und Mittellatein ein. In beiden Unterkapiteln aber werden Bezüge zu den entsprechenden Elementen in den romanischen Sprachen hergestellt - gerade hierin besteht ja eines der Hauptanliegen dieses Buchs. Natürlich entspricht diese strikte Zweiteilung nicht der sprachlichen Realität. Es wurde ja schon mehrfach auf die Verflechtung von Vulgärlatein und Klassischem Latein hingewiesen. Durch die Trennung in der Darstellung wird es aber möglich, sich schnell einen Überblick über das relativ klare System des Klassischen Lateins zu verschaffen, so wie es im Latinum gefordert ist. Das darauf folgende Unterkapitel zu den Varianten ist zwangsläufig weniger übersichtlich - hier wird beim Leser ein tieferes Interesse an der Entstehung der romanischen Sprachen vorausgesetzt. 3.1 (Altund) Klassisches Latein 3.1.1 Das lateinische Alphabet Wie die Bezeichung schon vermuten lässt, geht das lateinische Alphabet auf den entsprechenden griechischen Zeichensatz (benannt nach dessen ersten beiden Buchstaben alpha + beta) zurück. Vermittelt wurde er allerdings über das Etruskische, wodurch sich einige Veränderungen zum Original ergaben. Bis zur späten Republik wies das lateinische Alphabet die folgenden 21 Zeichen auf: A B C D E F G H I K L M N O P Q R S T V X Geschrieben wurde zunächst in den hier vorgestellten Majuskeln (‚Großbuchstaben’; man spricht auch von „Monumental-“ oder „Quadratschrift“), die ihren griechischen Pendants 1 sehr ähnlich sehen. Die lateinischen Minuskeln 1 Griechische Majuskeln und Minuskeln mit ihren Bezeichnungen: Α α (Alpha), Β β (Beta), Γ γ (Gamma), ∆ δ (Delta), Ε ε (Epsilon), Ζ ζ (Zeta), Η η (Eta), Θ θ (Theta), Ι ι (Iota), Κ κ (Kappa), Λ λ (Lambda), Μ µ (My), Ν ν (Ny), Ξ ξ (Xi), Ο ο (Omikron), Π (Pi), Ρ ρ (Rho), Σ σ ς (Sigma; das dritte Zeichen wird nur im Auslaut verwendet), Τ τ (Tau), Υ υ (Ypsilon), Φ φ (Phi), Χ χ (Chi), Ψ ψ (Psi), Ω ω (Omega). Das Phonem / h/ wird durch ein hochgestelltes diakritisches Zeichen, den sog. spiritus asper, über bzw. vor dem Anlautvokalzeichen markiert (z.B. <′Ελλάς> für Hellas ‚Griechenland’). Zur Entwicklung der lat. Buchstaben aus den <?page no="72"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 72 (‚Kleinbuchstaben’) wurden erst in republikanischer Zeit entwickelt, um auf Papyrus oder Pergament schneller schreiben zu können. Sie haben sich formal deutlich weiter von ihren griechischen Vorbildern wegbewegt. Für steinerne Inschriften und auch auf Wachstafeln bevorzugte man aber wegen ihrer geraden und damit gut ritzbaren Kanten weiterhin die Großschreibung. Entscheidend für unser Wissen um lateinische Schreibungen sind übrigens Inschriften auf dauerhaftem Material. Die inhaltlich interessanteren Papyrus- oder Pergamenttexte sind uns zumeist nur über mittelalterliche Abschriften erhalten, in denen häufig die Schreibungen der Vorlagen verändert wurden (Steinbauer 2003: 509). Die heutige Form der in der gesamten westlichen Welt verbreiteten lateinischen Buchstaben geht sogar erst auf das 9.Jh. n.Chr. zurück, d.h. auf die sog. „karolingische Minuskel“. Aufgrund der zahlreichen griechischen Lehnwörter erweiterte man zur Zeit des Augustus das Alphabet um die griechischen Grapheme <y> und <z>; zuvor waren die entsprechenden griechischen Laute durch die formal ähnlichen Buchstaben <v> und <s> wiedergegeben worden (z.B. AEGVPTO). Das Graphem <u> wurde erst im Mittelalter für den Vokal / u/ eingeführt. Davor diente das Graphem <v> sowohl für den Vollvokal / u/ als auch für den Halbkonsonanten / w/ , der jeweils dann realisiert wurde, wenn ein Vokal folgte: z.B. <VARIVS> für / ′warius/ ‚verschieden’. Die lautliche Umgebung gab also vor, wie das Graphem <v> jeweils auszusprechen war. Entsprechendes gilt für das ebenfalls erst im Mittelalter aufgekommene Graphem <j>, das den Halbkonsonanten / j/ vom Vollvokal / i/ unterschied, was in der Antike noch nicht möglich war: vgl. <IVVENIS> für / ′juwenis/ ‚Jüngling’ (Rubenbauer et al. 1995: 4, Kieckers 1960: 12). Die späte Einführung dieser Graphem-Unterscheidung hatte übrigens zur Folge, dass es auch in den romanischen Sprachen lange dauerte, bis die Graphempaare <i>/ <j> und <u>/ <v>konsequent unterschieden wurden. Im Französischen beispielsweise beginnen einzelne Verleger und Buchdrucker damit erst in der zweiten Hälfte des 16.Jh. (z.B. <suivant>, <vous>). 2 Auch die bis heute international erhaltene Tradition, an den lateinischen Buchstaben <q> zur Repräsentation des damals folgenden Halbkonsonanten / w/ ein <u> anzufügen (phonetisch noch gerechtfertigt z.B. in dt. Kolloquium, aber nicht mehr in frz. colloque oder sp. coloquio), stammt aus der Zeit, als das Zeichen <v> noch für zwei verschiedene Laute stand (vgl. lat. <seqvvntur> bzw. später <sequuntur> ‚sie folgen’). phönizischen über die griechischen Buchstaben vgl. die Übersicht in Baldi (1999: 120). Zu beachten ist, dass die Formen der lateinischen und griechischen Majuskeln sich zwar oft ähneln, dass sie aber u.U. unterschiedliche Phoneme repräsentieren. So steht z.B. griech. <P> für / r/ und griechisches <H> für / / . Hier kommt lästigerweise noch hinzu, dass ausgerechnet das Zeichen, das im Griechischen für das geschlossene E steht, also Epsilon („ “), von der International Phonetic Association als Transkriptionszeichen für das offene E ausgewählt wurde. 2 Zur Orthographieentwicklung der romanischen Sprachen auf der Basis des lateinischen Alphabets vgl. Meisenburg 1996, Weißkopf 1994, Schmid 1992, Beinke/ Rogge 1990 und Carnagliotti 1988. <?page no="73"?> (Altund) Klassisches Latein 73 Das Graphem <C> wurde ursprünglich sowohl für den stimmhaften Laut / g/ als auch für den stimmlosen Laut / k/ gebraucht. Erhalten hat sich dies in den Abkürzungen C. für Gaius und Cn. für Gnaeus. Ab dem 3.Jh.v.Chr. entwickelte man durch Hinzufügung eines Querstrichs an das <C> ein neues Graphem <G> für die stimmhafte Variante des velaren Verschlusslauts. Das Zeichen <K> wurde in der Folge völlig von <C> zurückgedrängt und blieb nur noch in wenigen Wörtern vor <a> erhalten, z.B. in der Abkürzung K. oder Kal. für das Pluralwort kalendae (‚der Monatserste’) (Rubenbauer et al. 1995: 4). Entsprechend findet sich in der Schreibung romanischer Erbwörter in der Regel kein <k>. Im Vergleich zum Deutschen oder zu den romanischen Sprachen tritt das Phänomen der Vokal- und Konsonantengemination (‚Doppelung’) im Lateinischen nur recht selten auf (z.B. patruus ‚Onkel’, velle ‚wollen’, oppidum ‚befestigter Platz’). Was die Bezeichnung der lateinischen Buchstaben angeht, ist aus romanistischer Perspektive ein Dokument aus dem 4./ 5.Jh. erwähnenswert, in dem das lateinische Alphabet in griechischer Schrift buchstabiert wird. Hispanisten kennen solche Konstellationen von den sog. „Jarchas“, einer mozarabischen, also romanischen Textsorte in arabischer oder hebräischer Schrift (vgl. Bollée/ Neumann-Holzschuh 2003: 51f). Das gefundene Alphabet diente offensichtlich dazu, Griechen Latein beizubringen. In dieser Liste wird <F> bereits als ιφφε, <L> als ιλλε, <M> als ιµµε, <N> als ιννε, <R> als ιρρε und <S> als ισσε bezeichnet. Wir finden hier also schon Vorläufer der späteren italienischen und spanischen Ausdrücke: it. effe, elle, emme, enne, erre, esse und sp. efe, ele, eme, ene, erre, ese (Adams 2003: 41f). 3.1.2 Phoneminventar 3.1.2.1 Einfache Vokale Das Klassische Latein verfügte über 5 Grundvokale, die etwa wie im Deutschen ausgesprochen wurden (zur Aussprache des Lateinischen vgl. Meiser 1998: 50ff). Die Vokale entsprechen im Übrigen auch dem spanischen Grundinventar: Artikulationsort (Zungenstellung) Öffnungsgrad vorn (palatal) Mitte (zentral) hinten (velar) geschlossen i u mittel e o offen a Abb. 14: Vokaldreieck des klassischen Lateins Anders als im Spanischen existierten diese 5 Vokale aber jeweils in einer kurzen und einer langen Variante, die immer bedeutungsunterscheidend waren. Die Länge bzw. Quantität der Vokale ist damit phonologisch relevant. Es ergeben sich also insgesamt 10 lateinische Vokalphoneme (die langen Phoneme sind in der Tabelle mit einem Strich markiert): <?page no="74"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 74 Kurzer Vokal Langer Vokal Lateinisch Deutsch Lateinisch Deutsch lătus die Seite lātus weit vĕnit er kommt uēnit er kam lĭber das Buch līber frei ŏs der Knochen ōs der Mund fŭris du tobst fūris des Diebes Abb. 15: Phonologische Relevanz der Vokalquantität: Minimalpaare (ähnlich Lehmann Webmaterialien) Die graphische Markierung der Quantitätsunterschiede war in Antike und Mittelalter (leider) völlig unüblich. Entsprechend fehlen solche Markierungen in allen gängigen Texteditionen. Dies ist umso lästiger, als die Metrik der lateinischen Lyrik auf diesen Quantitäten basiert (vgl. Kap.7.1). Will man sich also über die Quantitäten informieren, dann bleibt nur ein Blick in Wörterbücher oder Grammatiken, wo die Quantitäten meist markiert sind. Einige dieser Quantitäts- Minimalpaare betreffen Kasusmorpheme (vgl. Kap.4.3.2), sind also besonders häufig und lohnen daher das Memorieren: So wird beispielsweise in der a- Deklination die Form des Nominativs von der des Ablativs durch die Länge des Auslautvokals / a/ unterschieden: amicitiă (Nominativ) ‚die Freundschaft’ amicitiā (Ablativ) ‚durch die Freundschaft’ In der u-Deklination wird die Kasusendung des Nominativ Singular von der des Genitiv-Singular und auch von der des Nominativs und Akkusativs Plural durch die Quantität des / u/ unterschieden: domŭs (Nominativ Sg.) ‚das Haus’ domūs (Genitiv Sg.) ‚des Hauses’ domūs (Nom./ Akk.Pl.) ‚die Häuser’ Wichtig ist die Quantitätsunterscheidung auch für die Bestimmung der Konjugationsklasse von Verben (vgl. Kap.4.5). Hier ist vor allem die langvokalische e- Konjugation (z.B. respondēre ‚antworten’, 1.Pers.Sg. responde-o) von der konsonantischen Konjugation (z.B. regĕre ‚lenken’, reg-o) und der kurzvokalischen bzw. „gemischten“ Konjugation (z.B. capĕre ‚greifen’, cap-i-o) zu unterscheiden. Diese Unterschiede, die auch die Position des Akzents betreffen, werden in Deutschland (anders z.B. als in Frankreich) 3 auch in der lateinischen Aussprache berücksichtigt. Man spricht also respondēre und regĕre. Aus diesem Grunde werden von nun an alle Infinitive auf -ere graphisch mit dem Kürzen- oder Längensymbol gekennzeichnet. 3 Französische Latinisten übertragen in der Regel die Endbetonung ihrer Muttersprache auf die lateinischen Wörter und betonen entsprechend *regere und *respondere. <?page no="75"?> (Altund) Klassisches Latein 75 3.1.2.2 Diphthonge Im archaischen und im Altlatein waren Diphthonge noch häufiger als im Klassischen Latein. Drei von ihnen, / oi/ , / ou/ und / ei/ wurden aber schon in der altlateinischen Periode monophthongiert. Dabei werden / oi/ und / ou/ zu / ū/ (z.B. altlat. oinos > klat. ūnus ‚ein’, altlat. loucos > klat. lūcus ‚Hain, Wald’ und altlat. doucĕre > klat. dūcĕre ‚führen’). 4 Altlat. / ei/ hingegen wird zu klat. / ī/ , z.B. deicĕre > dīcĕre ‚sagen’ (Väänänen 1981: 38). Monophthongierung ist also kein Phänomen, das erst im Vulgärlatein einsetzt. Ansonsten bleiben jedoch die altlateinischen Diphthonge im Klassischen Latein erhalten. Von der Graphie her scheinen uns diese Diphthonge vertraut, die Aussprache unterscheidet sich allerdings geringfügig von der im Deutschen: Diphthonggraphem Aussprache Beispiel <au> wie im Deutschen causa ‚Ursache’ wie dt. Auge <ae> einsilbig a + e, also gebunden 5 Caesar ähnlich dt. Kaiser <ei> wie e + i in zwei Silben Opus Dei ‚Werk Gottes’ <eu> wie e + u in zwei Silben neutrum vgl. ital. neutro ‚Neutrum’ <iu> wie der Halbkonsonant / j/ Iuno vgl. dt. Juni <io> wie i + o in zwei Silben Iovem, nationem <oe> einsilbig o + e, also gebunden poena ‚Strafe’ ähnlich dt. heute <ui> wie u + i in zwei Silben frui ‚genießen’; außer: lat. cui ‚wem? ’, cuius ‚wessen? ’ =>gebundene Aussprache Abb. 16: Diphthonge im Klassischen Latein (vgl. Meiser 1998: 57ff, Rubenbauer et al. 1995: 8ff, Kieckers 1960: 17) Strenggenommen handelt es sich also gar nicht bei allen hier aufgeführten Vokalkombinationen um Diphthonge (‚Zweitöner’). 6 Das wesentliche Kriterium zur Bestimmung von Diphthongen besteht ja darin, dass zwei Vokale in einer einzigen Silbe gebunden ausgesprochen werden. Man geht aber in der lateinischen Metrik sehr flexibel mit diesen Lautgruppen um und wertet sie mal als Diphthong, mal als zwei getrennte Silben, je nachdem, wie die Anforderungen des jeweiligen Versfußes sind. 4 Vgl. auch den Eigennamen Noumasioi (> Numerio) auf der Fibula Praenestina (Kap.2.1.1). 5 Bis ins 3.Jh. v.Chr. überwog noch die Schreibung <ai> und wohl auch die entsprechende Lautung [ai] (Meiser 1998: 58). 6 Unbedingt beachten: Im Deutschen schreibt sich der Diphthong mit zweimal <h>, im Französischen la diphtongue nur mit einem <h> und im Spanischen el diptongo ganz ohne <h>, ebenso wie im Italienischen il dittòngo. <?page no="76"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 76 3.1.2.3 Konsonanten Das Klassische Latein kennt 13 Konsonantenphoneme und zwei Halbkonsonanten. Sie lassen sich folgendermaßen einteilen: Artikulationsstelle Artikulationsart labial dental/ aveolar palatal velar glottal p t k okklusiv: stimmlos stimmhaft b d g frikativ: stimmlos f s h nasal m n liquid l, r Halbkonsonant w j Abb. 17: Konsonantenphoneme im Klassischen Latein (modifiziert in Anlehnung an Lehmann Webmaterialien, Meiser 1998: 52 und Rubenbauer et al. 1995: 8) 7 Anmerkungen: Der Hauchlaut / h/ ist wohl schon im gesprochenen Latein der Klassischen Epoche auf ein Minimum reduziert worden. Er wird daher meist als hochgestelltes / h / transkribiert. In der gehobenen Sprechweise wurde er allerdings noch eine Weile beibehalten - entsprechend gab es Hyperkorrekturen wie das von Catull verspottete hinsidiae statt korrekt insidiae ‚Hinterhalt’ (Meiser 1998: 52, Seidl 2003: 522). Die Halbkonsonanten sind deshalb separat aufgeführt, weil sie zwar den Reibelauten nahestehen, aber nicht als echte Reibelaute realisiert werden, sondern einen kleinen Rest an vokalischem Wert behalten (Kieckers 1960: 18; s.u.). Den Konsonantenphonemen werden folgende Grapheme zugeordnet (die letzten beiden aufgeführten Grapheme sind aus dem Griechischen entlehnt. Ihre lautlichen Entsprechungen haben daher im Lateinischen keinen Phonemstatus): 7 Meiser (1998: 52) führt auch / k w / und / g w / als Phoneme auf, räumt aber ein, dass deren phonologischer Status umstritten ist. Bei Rubenbauer et al. (1995: 7f) werden als phonetische Varianten zusätzlich die aspirierten Versionen der Verschlusslaute aufgeführt, also [p h ], [t h ] und [k h ]. Diese drangen aber erst unter griechischem Einfluss ins Latein ein (z.B. über Lehnwörter wie theatrum [t h e′atru m ] ‚Theater’ und schola [′sk h ola] ‚Schule’), färbten dann auf urlateinische Wörter ab (z.B. das auf altlat. polcer zurückgehende pulcher [′pulk h er] ‚schön’ und das vom altlateinischen Ruf „triumpe! “ abgeleitete triumphus [tri′ump h us] ‚Triumphzug’), konnten aber keinen Phonemstatus mehr erlangen. <?page no="77"?> (Altund) Klassisches Latein 77 Graphem Phonem lat. Beispiel Aussprache wie in <p> / p/ pater ‚Vater’ span. Pedro <t> / t/ testis ‚Zeuge’ span. testimonio ‚Zeugnis’ <c> <q> 8 <k> / k/ circum ‚um … herum’ quinque ‚fünf’ kalendae ‚Monatserster’ span. casa ‚Haus’ <b> / b/ barba ‚Bart’ dt. Bahnhof <d> / d/ durus ‚hart’ dt. Dortmund <g> / g/ genus ‚Geschlecht’; aber: <g> vor <n> wie in agnus ‚Lamm’: / n/ dt. Genus dt. Engnaht <f> / f/ fortuna ‚Glück’ dt. aden <s> / s/ solus ‚allein’ frz. soupe ‚Suppe’, dt. hassen <h> / h / habere ‚haben’ (schwächer aspiriert als im Dt.) <m> im Auslaut: / m/ [ m ] mater ‚Mutter’ velum ‚Segel’ dt. Mutter (im Auslaut kaum hörbar, dafür aber Nasalierung des vorangehenden Vokals) <n> vor <c,g,q, x> / n/ [ ] nomen ‚Name’ anxius ‚ängstlich’ dt. Name dt. danke <l> / l/ labium ‚Lippe’ dt. Lippe <r> / r/ ridiculus ‚lächerlich’ span. ridículo ‚lächerlich’ <v>/ <u> vor Vokal / w/ vastare ‚verwüsten’ quam ‚wie’ lingua ‚Zunge, Sprache’ engl. water ‚Wasser’ <i> vor Vokal / j/ iustitia ‚Gerechtigkeit’ dt. Lilie <x> [ks] rex ‚König’ dt. Xaver <z> [dz] [z] zona ‚Gürtel’ zmaragdus ‚Smaragd’ it. zona ‚Zone’, zero ‚Null’ frz. zone Abb. 18: Konsonantengrapheme und -phoneme im Klassischen Latein (modifiziert in Anlehnung an Kühner et al. 1966: 38ff, Leumann et al. 1963: 52, Kieckers 1960: 18, Rubenbauer et al. 1995: 8) Fazit: Das Lateinische hat, ähnlich wie das Deutsche und das Spanische, ein recht „flaches“ bzw. phonographisches Schriftsystem. Im Großen und Ganzen wird also 1 Phonem durch 1 bestimmtes Graphem abgebildet. 9 Natürlich entsprechen 8 Häufig wird altlateinisches <qu> im klassischer Schreibung durch <k> ersetzt; z.B. quottidianus > cotidianus (‚täglich’). Die französische Graphie orientiert sich häufig an der ursprünglicheren Form (z.B. quotidien), ist also auch in Bezug auf das Lateinische archaisierend (vgl. Müller 2001: 167 FN). 9 „Tiefe“ Schriftsysteme besitzen hingegen das Englische und das Französische. Hier spielen Etymologie und, vor allem beim Französischen, Grammatik eine wichtige Rolle für die Schreibung (vgl. hierzu Meisenburg 1996). <?page no="78"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 78 die lateinischen Phonem-Graphem-Korrespondenzen nicht den deutschen. Sie sind sich aber nach unserem heutigen Kenntnisstand recht ähnlich. Deutsche Muttersprachler können daher einen lateinischen Text einigermaßen korrekt laut lesen, wenn sie, zusammengefasst, die folgenden Abweichungen von den deutschen Lesekonventionen beachten: • <ae, oe> sind als Diphthonge zu lesen, nicht als deutsche Umlaute. • <ei, ui, eu, io> sind als auf zwei Silben verteilte Vokale zu lesen. • <p, t, k> sind nicht aspieriert und entsprechen daher eher den romanischen Verschlusslauten. • <c> entspricht immer / k/ . • <t> ist auch vor <i> ein Verschlusslaut (z.B. ratio, natio), also nicht palatalisiert wie in dt. Nation. • <ch, ph, th, rh> werden gesprochen wie / k h , p h , t h , r h / , also mit angehängtem Hauchlaut und nicht etwa als Reibelaut / χ/ , / f/ , oder / / . • <sch> wird / sk/ gelesen: schola. • <r> wird als Zungenspitzen-r realisiert (also / r/ ) und ist stärker gerollt als das deutsche / / . • <h> wird schwächer aspiriert als im Deutschen (vielleicht vergleichbar mit dem [ h ], das viele Franzosen realisieren, wenn sie versuchen, ein deutsches / h/ zu sprechen). • <s> wird immer stimmlos realisiert, also / s/ , genau wie im Neuspanischen. 10 • <v> ist als Halbkonsonant / w/ zu lesen. 3.1.3 Lautliche Phänomene auf der Wortebene 3.1.3.1 Nicht verschriftete Laute Wir glauben zwar ungefähr zu wissen, wie man die lateinischen Buchstaben in klassischer Zeit „auszusprechen“ hatte, die sprachliche Realität ist mit dieser Formulierung aber auf den Kopf gestellt. Schließlich hat man in der Sprachentwicklung Laute verschriftet und nicht Buchstaben ausgesprochen. Entsprechend kann man annehmen, dass es vielleicht auch Laute gegeben hat, die im graphischen Medium nicht repräsentiert wurden. Lüdtke (2005: 459ff) versucht beispielsweise auf der Basis des sardischen Lautsystems nachzuweisen, dass es im Lateinischen nach bestimmten Verbformen eine Art Murmellaut, vergleichbar dem Schwa im Französischen (z.B. frz. cidre), gegeben habe, der aber nicht verschriftet worden sei. Lat. <cantas> (‚du singst’) wäre demnach phonetisch als / ’kantasa/ , <cantat> (‚er singt’) als / ’kantata/ und <cantant> (‚sie singen’) als / ’kantanta/ realisiert worden. 10 Das stimmlose Realisierung des intervokalischen <s> des Neuspanischen ist aber nicht etwa eine direkte Fortsetzung der Verhältnisse des Klassischen Lateins. Im Altspanischen wurde nämlich intervokalisches <s> stimmhaft realisiert, also z.B. in casa: / ’kaza / (vgl. Cano Aguilar 2002: 103). <?page no="79"?> (Altund) Klassisches Latein 79 3.1.3.2 Betonungsregeln Es wurde bereits gesagt, dass im Klassischen Latein (wie im Deutschen) zwischen langen und kurzen Vokalen unterschieden wird. Die Art der Betonung unterscheidet sich hingegen ganz wesentlich von der im Deutschen oder in den romanischen Sprachen. Während wir hier (wohl unter germanischem Einfluss) durchgehend einen Druckakzent 11 verzeichnen, ist das Lateinische durch einen melodischen Akzent gekennzeichnet. Betonung wird also durch die Tonhöhe markiert (Väänänen 1981: 32). 12 Im vorliterarischen Latein herrschte vermutlich Anfangsbetonung. Spätestens seit der altlateinischen Periode aber folgt die Betonung dem „Dreisilbengesetz“. Da nach diesem Gesetz die Betonung immer auf einer der drei letzten Silben liegt, ist es sinnvoll, sich auch die lateinischen Bezeichnungen für die letzten drei Silben einzuprägen, die da sind: Ultima (‚die letzte’ erg. syllaba - ‚Silbe’), Paenultima (‚die vorletzte’) 13 und Antepaenultima (‚die vorvorletzte’). Das Gesetz lautet folgendermaßen: • Zweisilbige Wörter werden immer auf der vorletzten Silbe, also der Paenultima betont, egal, ob diese kurz oder lang ist: z.B. nēmo (‚niemand’, ĕgo (‚ich’). • Drei- und mehrsilbige Wörter werden auf der vorletzten Silbe betont, wenn sie lang ist: Germāni (Nom.Pl. ‚die Germanen’), Germānōrum (Gen.Pl.), ĭncīdo (‚ich schneide ein’: von in + caedĕre ‚schneiden’ - vgl. dt. Zäsur). 14 Ist die vorletzte Silbe kurz, wird die drittletzte Silbe betont, z.B. vs. ĭncĭdo (von in + cădĕre ‚fallen’ - vgl. dt. Kasus). Ganz entscheidend ist also die Silbenlänge. Eine Silbe gilt immer dann als lang, wenn sie einen langen Vokal oder einen Diphthong enthält. Man spricht hier von „Naturlänge“ (z.B. amoenus ‚angenehm’). Sie ist aber auch lang, wenn auf einen kurzen Vokal zwei oder mehr Konsonanten bzw. die Konsonantenverbindungen / ks/ (geschrieben <x>) und / dz/ (geschrieben <z>) folgen. In diesem Fall spricht man von „Positionslänge“: conténtus (‚zufrieden’), fenéstra (‚Fenster’). Die Länge erklärt sich dadurch, dass diese Silben geschlossen sind, d.h. auf einen Konsonanten auslauten (der zweite Konsonant gehört jeweils schon zur nächsten Silbe). Der Konsonantennexus „muta cum liquida“ (‚Verschlusslaut mit folgendem Fließlaut’) bewirkt allerdings keine Längung der Silbe, weil die Silbe offen bleibt, d.h. auf Vokal auslautet. Beide Konsonanten gehören hier nämlich zur nächsten Silbe. Bis vor wenigen Jahren war diese Unterscheidung auch im Deutschen von Bedeutung, denn man trennte grundsätzlich an der Silbengrenze, also z.B. <Tanten> und, wegen Muta cum Liquida, <sa-kral> (nach neuer Rechtschreibung 11 Bei der Artikulation der betonten Silbe wird der Luftdruck erhöht. 12 Zum Zusammenhang von Akzent, Rhythmus und Wortfolge vgl. Devoto (1968: 184ff). 13 Das Adverb paene ‚beinahe, fast’ taucht auch in anderen Zusammensetzungen auf, die sich bis in die romanischen Sprachen erhalten haben, z.B. paene + insula (‚Insel’) > lat. paeninsula (‚Halbinsel’) > frz. péninsule, sp. península, it. penisola. 14 In caedĕre ist die erste Silbe wegen des Diphthongs naturlang. Diese Naturlänge behält sie auch in der Ableitung -cidĕre. <?page no="80"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 80 hingegen <sak-ral>). In den folgenden lateinischen Beispielen bleibt die Paenultima-Silbe (jeweils unterstrichen) wegen Muta cum Liquida kurz, weshalb die Betonung auf die Antepaenultima fällt: célebro (‚ich feiere’), óbsecro (‚ich beschwöre’). Wird eines der Enklitika 15 -que (‚und’), -ve (‚oder’) oder -ne (Interrogationsmarker) an ein Wort angehängt, dann liegt die Betonung auf der dem Enklitikon vorangehenden Silbe: z.B. ărmă (‚Waffen’) vs. ărmăque (vgl. Rubenbauer et al. 1995: 7, Kieckers 1960: 18f). 3.1.3.3 Veränderungen in Lautgruppen Eine typische Eigenschaft der indogermanischen Sprachen besteht darin, dass sich unter dem Einfluss der Akzentposition einzelne Vokale verändern können. Man spricht hier von „Ablautphänomenen“ (vgl. dt. binden vs. gebunden, frz. tenir vs. je tiens, span. soler vs. suelo). Weitere Veränderungen von Vokalen oder Konsonanten können auch durch deren lautliche Umgebung ausgelöst werden. Meist handelt es sich dabei um Assimilationsphänomene, also Erscheinungen formaler Angleichung. Beide Phänomene treten besonders häufig auf, wenn ein Präfix (vgl. die Übersicht in Kap.4.2.3) zu einem einfachen Wort („Simplex“) tritt und sich im daraus resultierenden Kompositum die Betonungsverhältnisse bzw. die Nachbarlaute ändern. Dasselbe kann geschehen, wenn eine Personalendung oder ein Kasusmorphem an ein Wort angehängt wird. Diese lautlichen Umgestaltungen vollzogen sich z.T. schon im Altlatein, sind also fester Bestandteil des Klassischen Lateins und nicht mit den lautlichen Veränderungen des Vulgärlateins zu verwechseln, die im Folgekapitel behandelt werden. Die Systematik dieser Lautveränderungen ist zu komplex, um sie hier ausführlich zu schildern. Daher seien nur einige markante Beispiele aufgeführt, die ausreichen, um die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Diese Gesetzmäßigkeiten sind äußerst wichtig, wenn es z.B. darum geht, die Zugehörigkeit eines unbekannten Wortes zu einer bestimmten Wortfamilie zu erkennen, um sich so seinen Inhalt zu erschließen. Für Romanisten ist dies umso wichtiger, als sich häufig eher die lateinischen Komposita als die Simplices erhalten haben: So ist z.B. lat. capĕre ‚nehmen’ weitgehend verloren gegangen, während sich sein Kompositum recipĕre ‚aufnehmen’ in zahlreichen Sprachen erhalten hat: vgl. sp. recibir, it. ricevere, frz. recevoir, engl. to receive. Es geht also darum, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, mit welchen Veränderungsphänomenen man zu rechnen hat, wenn z.B. ein Präfix vor ein Simplex tritt. Da lateinischer Lautwandel zumeist auch einen graphischen Wandel nach sich zieht und das Lateinische i.Allg. nur in schriftlicher Form vorliegt, orientiert sich die folgende Tabelle an der Graphie - die Spaltenbezeichnung „graphischer Wandel“ ist also so zu verstehen, dass ein phonischer Wandel eine Veränderung der graphischen Zeichen ausgelöst hat: 15 Ein „Enklitikon“ (von griech. enklínein - sich anlehnen) ist ein Wort, das sich an ein vorangehendes Wort anhängt und mit diesem eine Betonungseinheit bildet. <?page no="81"?> (Altund) Klassisches Latein 81 Beispiel graphischer Wandel Einzelkomponenten Zusammensetzung/ Ableitung Vokale: a > i re + capĕre ‚nehmen’ recipĕre ‚aufnehmen’ ae > i re + quaerĕre ‚suchen’ requirĕre ‚verlangen’ au > u ob + claudĕre ‚schließen’ occludĕre ‚verschließen’ a > e in + aptus ‚fähig’ ineptus ‚unfähig’ e > i cum + legĕre ‚lesen’ colligĕre ‚sammeln’ u > i caput (Nom./ Akk.Sg.: ‚Kopf’) capitis (Gen.Sg.: ‚des Kopfes’) u > o cum + venire ‚kommen’ convenire ‚zusammenkommen’ Konsonanten: s > r mos (Nom. Sg.: ‚Sitte’) moris (Gen.Sg.) m > n cum + ducĕre ‚führen’ conducĕre ‚zusammenführen’ n > m in + pius ‚fromm’ impius ‚gottlos’ b > p scribĕre (Inf.: ‚schreiben’) scripsi (‚ich habe geschrieben’) g > c regĕre (Inf.: ‚regieren’) rectum (Part.Pf.Pass. ‚regiert’) dc > cc ad + capĕre ‚nehmen’ accipĕre ‚annehmen’ bc > cc ob + caedĕre ‚schlagen’ occidĕre ‚erschlagen, töten’ bf > ff ob + ferre ‚tragen’ offerre ‚anbieten’ df > ff ad + facĕre ‚machen’ afficĕre ‚jdm. etw. antun’ xf > ff ex + ferre ‚tragen’ efferre ‚heraustragen’ sf > ff dis + ferre ‚tragen’ differre ‚auseinandertragen’ dg > gg ad + gradi ‚schreiten’ aggredi ‚sich nähern, angreifen’ bp > pp ob + pugnare ‚kämpfen’ oppugnare ‚bekämpfen’ dp > pp ad + pellĕre ‚treiben’ appellĕre ‚herantreiben’ dt > tt ad + trahĕre ‚ziehen’ attrahĕre ‚anziehen’ dl > ll ad + loqui ‚sprechen’ alloqui ‚ansprechen’ nl > ll in + lustrare ‚beleuchten’ illustrare‚erklären, verherrlichen’ ml > ll cum + loqui ‚sprechen’ colloqui ‚sich unterhalten’ nm > mm in + mittĕre ‚schicken’ immittĕre ‚hineinschicken’ mr > rr cum + regĕre ‚regieren’ corrigĕre ‚korrigieren’ nr > rr in + ridēre ‚lachen’ irridēre ‚auslachen’ br > rr sub + rapĕre ‚greifen’ surripĕre ‚stehlen’ Abb. 19: Laut- und Graphiewandel in Lautgruppen (eigene Darstellung auf Grundlage von Rubenbauer et al. 1995: 9ff) Eine Übersicht über die verschiedenen Präpositionen, die als Präfixe in solchen Kompositionen auftreten können, bietet Abb. 24 (S.105). Um zu veranschaulichen, dass der Lautstand des Klassischen Lateins bereits eine Weiterentwicklung darstellt, sei hier eine kurze Passage aus einer altlateinischen Komödie, dem Miles Gloriosus 16 von Plautus (1.Akt, 1.Szene), zitiert. Es handelt sich um das früheste datierbare (und erhaltene) Stück der 16 ‚Der großsprecherische Soldat’. <?page no="82"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 82 römischen Literaturgeschichte. Die Uraufführung wird auf das Jahr 205 v.Chr. angesetzt (Stroh: Internetquelle). Der Titelheld und Hauptmann Pyrgopolinices 17 ermahnt in diesen Versen einige Sklaven, seinen Schild ordentlich zu putzen: Curate ut splendor meo sit clupeo clarior quam solis radii esse olim quom sudumst solent, ut, ubi usus ueniat, contra conserta manu praestringat oculorum aciem in acie hostibus. (V.1-4, ed. Lindsay) ‚Bemüht euch, dass der Glanz meines Schildes heller wird als es die Strahlen der Sonne zu sein pflegen, wenn einst ein Sommertag ist, damit er, wenn er zum Einsatz kommt, in fest geschlossener Hand den Feinden in der Schlachtreihe die Schärfe der Augen blendet.’ In dieser Passage wird zum einen deutlich, dass in der Antike graphisch nicht zwischen <u> und <v> unterschieden wird (z.B. <ueniat> anstelle von <veniat>). Des weiteren zeigen sich altlateinische Lautstadien in clupeo für klass. clipeo (Abl. ‚Schild’) und quom für die klassische Konjunktion cum (‚als; wenn’). Man sieht auch, dass der Vokal in der Verbform est (‚er/ sie/ es ist’) schon in altlateinischer Zeit unterdrückt werden konnte (sudumst anstelle von klass. sudum est ‚es ist ein Sommertag’) - wahrscheinlich in Form einer Nasalierung. Das folgende Kapitel ist späteren lautlichen Veränderungen gewidmet, die Linguisten dazu geführt haben, eine vom Klassischen Latein deutlich verschiedene Varietät anzunehmen, die dann Grundlage der Entstehung der romanischen Sprachen war. 3.2 Vulgär- und Spätlatein 3.2.1 Vokale Die bedeutendste Neuerung im vulgärlateinischen Vokalsystem ist zweifelsohne die Aufgabe der aus dem Alt- und Klassischen Latein bekannten Quantitätenunterscheidung (sog. „Quantitätenkollaps“). Natürlich kommt es weiterhin vor, dass Vokale unterschiedlich lang gesprochen werden, aber ihre Länge ist phonologisch nicht mehr distinktiv. Die systematische Unterscheidung von mālum (‚Apfel’) vs. mălum (‚Übel’) bzw. mālus (fem.: ‚Apfelbaum’; masc.: ‚Mast’) vs. mălus (‚schlecht’) oder femină (Nom.Sg.: ‚Frau’) vs. feminā (Abl.Sg.) ist also nicht mehr möglich. Entsprechend legte man im Lateinunterricht der Renaissance besonders viel Gewicht auf die Unterscheidung dieser Wörter und ersann zum Auswendiglernen tiefgründige Merksätze wie den folgenden, der nautische Essgewohnheiten mit paradiesischer Sünde in Beziehung setzt: 17 Der Name ist ein Gräzismus und, wie oft bei Plautus, sprechend: Er setzt sich zusammen aus gr. pýrgos ‚Turm’, pólis ‚Stadt’ und níke ‚Sieg’. Der Held heißt also gewissermaßen ‚Turm- und Stadtbezwinger’. <?page no="83"?> Vulgär- und Spätlatein 83 dum malum comedis iuxta malum navis, während Apfel-Akk essen-2.Sg.Prs. bei Mast-Akk Schiff-Gen de malo comisso sub malo vetita meditare! über Übel-Akk begehen-PPP unter Apfelbaum-Abl verbieten-PPP denken-ImperativSg. ‚Während du den Apfel beim Mast des Schiffes isst, denke an das unter dem verbotenen Apfelbaum begangene Übel! ’ (William Bath alias Bateus, 1611, Janua Linguarum, zitiert nach Titone 1968: 11) Natürlich vollzieht sich ein so tiefgreifender Lautwandel nicht über Nacht - und er vollzieht sich auch nicht, ohne dass neue Möglichkeiten geschaffen würden, um den Informationsverlust zu kompensieren. Man nimmt drei Entwicklungsphasen an: Schon ab dem 2.Jh. v.Chr. gab es eine Tendenz, lange Vokale eher geschlossen zu artikulieren, kurze Vokale hingegen eher offen (vgl. dt. der Weg vs. er geht weg). In einer zweiten Phase wurde dann der Öffnungsgrad der Vokale wichtiger als deren Länge. Die Quantitäten wurden also entphonologisiert und der Öffnungsgrad bzw. die Lautqualität phonologisiert. Die Opposition sōlum (‚allein’) vs. sŏlum (‚Boden’) beispielsweise wird abgelöst von der Opposition / ’ solu/ vs. / ’ s lu/ (nach dem parallelen Verstummen von Auslaut-m; vgl. hierzu Abschnitt 3.2.2). Entsprechend haben wir auch in den romanischen Sprachen qualitative Unterscheidungen: frz. seul vs. sol, sp. solo vs. suelo, it. solo vs. suolo. Die Umstellung im Lateinischen betraf zunächst die unbetonten Vokale (ab dem 1. Jh.n.Chr.), erst einige Zeit später in einer dritten Phase auch die betonten Vokale (ab 4. Jh.n.Chr.). Die Entwicklung vollzog sich in allen gesprochenen lateinischen Varietäten, ist also ein diachronisches Phänomen (Seidl 2003: 520). Bei dieser Umstellung ergaben sich aber zusätzlich regionale Verschiebungen im Vokalsystem, eventuell beeinflusst durch Substratsprachen in den jeweils eroberten Gebieten. Der Quantitätenkollaps ist daher auch für die Herausbildung diatopischer Varietäten relevant. Das folgende Schema präsentiert die galloiberisch-italienische Entwicklung: Abb. 20: Wandel der betonten Vokale im Latein der italienischen und iberischen Halbinsel sowie Galliens (modifiziert in Anlehnung an Stefenelli 2003: 534) Für das Latein Nordafrikas, Sardiniens, Siziliens und des Balkans sowie für Teile Kalabriens gelten einige Verschiebungen (hierzu Lausberg 1969: 144ff, Väänänen AL/ KL ī ĭ ē ĕ ă ā ŏ ō ŭ ū VL i e a o u <?page no="84"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 84 1981: 30). Die dialektale Vielfalt Italiens geht also bereits auf die lateinischen Verhältnisse zurück. All diese lautlichen Veränderungen im gesprochenen Latein finden sich nur selten in den schriftlichen Texten wieder; wenn ja, dann am ehesten in „Schreibfehlern“. Die wichtigsten Anhaltspunkte für die Rekonstruktion dieser Neuerungen bieten die romanischen Sprachen. Betrachten wir nur die beiden Fälle, in denen sich ein echter Vokalwandel ergibt, also von / ĭ/ zu / e/ und von / ŭ/ zu / o/ : Das ursprünglich lange / ī/ aus lat. vīvo (‚ich lebe’) bleibt beispielsweise in it./ sp. vivo als / i/ erhalten. Das kurze / ĭ/ in bĭbo (‚ich trinke’) hingegen wird zu it. bevo und sp. bebo, also offensichtlich über lateinisches / e/ . Entsprechend bleibt / ū/ von lūce(m) (‚Licht’) in it. luce und sp. luz als / u/ erhalten, während sich / ŭ/ in lat. gŭla (‚Kehle’) zu / o/ öffnet, vgl. it./ sp. gola (Väänänen 1981: 30). Der nächstwichtige Wandel betrifft die Monophthongierung von Diphthongen. Schon in klassischer Zeit war / au/ zu / o/ (z.B. Claudius > Clodius) monophthongiert worden (s.o.). Nun verbreitet sich in allen Registern auch die Monophthongierung von / ae/ zu / / , die ursprünglich wohl einmal ländlichen Beigeschmack gehabt hatte (Seidl 2003: 522). Meist wird dabei die Graphie <ae> beibehalten, weil sie hilft, das neue Phonem / / vom geschlossenen / e/ zu unterscheiden. Gelegentlich finden sich aber auch Schreibungen wie <que> für <quae> (‚die’) oder <preceptum> für <praeceptum> (‚Vorschrift’). Entsprechend sind Hyperkorrekturen wie baene für korrektes bene (‚gut’) oder braevis für brevis (‚kurz’) zu beobachten. Im Kirchenlatein deutscher Tradition wird / ae/ auch zu / ø/ monophthongiert. Entsprechend wurde aus dem klassischen Adjektiv caelebs (‚ehelos’) und seiner nachklassischen Ableitung caelibatus (‚Ehelosigkeit’) im Deutschen „der Zölibat“, während sich im Französischen das Adjektiv célibataire und im Spanischen celibatario (vgl. auch it. celibato, eingebürgert hat. Die späteste Monophthongierung ist wahrscheinlich die von / oe/ zu / e/ , auch sie ist aber schon in einzelnen pompejanischen Inschriften belegt, scheint also bereits im 1. Jh. n.Chr. ihren Anfang genommen zu haben: z.B. amoenus (‚angenehm’) > amenus; Phoebus (Kultname Apollos als Sonnengott, entspricht griech. ‚der Leuchtende’) > Phebus (Väänänen 1981: 38). Parallel zur Entphonologisierung der Quantitäten vollzog sich die Umstellung vom melodischen Akzent zum Intensitätsbzw. Druckakzent. Die starke Akzentuierung der betonten Vokale führte in der Folge dazu, dass bei der Artikulation die unbetonten Zwischenvokale (d.h. Vokale, die zwischen zwei Konsonanten stehen) vernachlässigt wurden und teilweise verstummten: sog. „Synkopierung“ (vgl. Väänänen 1981: 32ff). Die lateinischen Wörter werden also immer kürzer, und es sind oft diese verkürzten Formen, die sich in den romanischen Sprachen fortsetzen. Zahlreiche Beispiele hierfür sind in der Appendix Probi (Rohlfs 1969: 17) belegt: z.B. speculum (‚Spiegel’) non speclum (> it. specchio, span. espejo); tabula (‚Brett’) non tabla (> frz. table, span. tabla; aber: it. tavola auf die klassische Form zurückgehend), calida (‚warmes’ erg. ‚Wasser’) non <?page no="85"?> Vulgär- und Spätlatein 85 calda (it. calda, frz. chaude), frigida (‚kaltes’ erg. ‚Wasser’) non fricda (> sp. fría, it. fredda, frz. froide). Auch am Ende von Wörtern verstummen häufig unbetonte Vokale oder Konsonanten. Man spricht hier von „Apokopierung“, vgl. klat. quomodo > vlat. quomo/ como > sp. como, it. come, fr. comme (Väänänen 1981: 48). Dieses Phänomen wird vor allem bei der Entwicklung vom Vulgärlatein hin zu den romanischen Sprachen wirksam, vgl. z.B. vocem ‚Stimme’ > sp. voz, fr. voix. Trotz dieser Wortverkürzung bleibt die Position des Akzents üblicherweise stabil, d.h. in den romanischen Sprachen ist zumeist derselbe Vokal betont wie im Lateinischen. Da die Wörter aber in der Sprachentwicklung häufig von hinten her verkürzt werden, fällt die Betonung möglicherweise dann von der Zählung her auf eine andere Silbe, also z.B. statt auf die drittletzte auf die vorletzte Silbe: vgl. z.B. lat. duodecim (‚zwölf’) > it. dodici (drittletzte Silbe), sp. doze (vorletzte Silbe), frz. douze (letzte Silbe) oder lat. civitate(m) (‚Bürgerschaft’) > it. cittá, sp. ciudad, frz. cité. Ein lateinisches Proparoxytonon (Wort mit Betonung auf der drittletzten Silbe) kann also zu einem romanischen Paroxytonon (Betonung auf der zweitletzten Silbe) oder einem Oxytonon (Betonung auf der letzten Silbe) werden, ohne dass der betonte Vokal wechselt. Der letzte wichtige vokalische Lautwandel ist eigentlich die Folge einer speziellen Konsonantenkonstellation und könnte daher auch im folgenden Abschnitt aufgeführt werden: Es geht um das sog. „prothetische / i-/ “ 18 , das später zu / e-/ geöffnet wurde. Es handelt sich um einen zusätzlich eingefügten Vokal, der die Aussprache der Lautfolge / s/ + Konsonant (genannt „s impurum“ - ‚unreines s’) erleichtern soll. Der früheste Beleg entstammt einer pompejanischen Inschrift und ist daher auf vor 79 n.Chr. datierbar: Ismurna für Smyrna (Väänänen 1981: 47f). Gut in den westromanischen Sprachen 19 dokumentiert sind die Beispiele statua > istatua (vgl. sp. estatua, port. estátua, kat. estàtua), schola > ischola (> sp. escuela, port. escola, kat. escola, frz. école). Im Französischen ist das prothetische enur in Erbwörtern erhalten, während Lehnwörter und Neologismen ohne diese Aussprachehilfe auskommen: vgl. frz. espace vs. spacieux (Wolf 1991: 102). Im Spanischen hingegen ist die Prothese als Phänomen heute noch aktiv, vgl. Lehnwörter oder Neologismen wie estándar, estabilizador, estagnación etc. Die Prothese wird von spanischen Muttersprachlern also ohne weiteres auf andere Sprachen übertragen - bitten Sie mal einen Spanier, dt. Sprechstunde zu artikulieren… 3.2.2 Konsonanten Beim Konsonantenwandel gibt es kein ähnlich herausragendes Phänomen wie den Quantitätenkollaps bei den Vokalen. Immerhin kann man aber sagen, dass alle konsonantischen Veränderungen irgendwie mit dem Prinzip der sprachlichen Ökonomie oder genauer, mit einer gewissen Bequemlichkeit der 18 Ebenfalls üblich ist der Terminus „prosthetisch“ bzw. „Prosthese“. Im Französischen kursiert auch die Bezeichnung „voyelle épenthétique“ (vgl. Seidl 2003: 520). 19 Im Ital. und Rum. fehlt die Prothese zumeist, vgl. it. statua/ scuola und rum. statuie/ şcoală. <?page no="86"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 86 Artikulation, zusammenhängen. Schon von daher ist es wahrscheinlich, dass die meisten dieser Neuerungen alle gesprochenen Register des Lateinischen betroffen haben - sie werden bei Seidl (2003: 520) daher als rein diachronische Phänomene aufgeführt. Entsprechend bedeutet im Folgenden der Pfeil „>“ nicht etwa, dass sich aus einer klassischen Form direkt eine vulgärlateinische Form entwickelt hat, sondern vielmehr, dass eine aus dem Altlateinischen bekannte Form sich im Klassischen Latein länger gehalten hat, parallel dazu im Vulgärlatein aber schon verändert wurde und sich diese Veränderungen in der Phase des Spätlateins dann flächendeckend über alle Register ausgebreitet haben. Der Wandel geht also von AL/ KL zu VL/ SL. Am deutlichsten wird die Wirkung des Ökonomieprinzips bei reinen Schwundphänomenen. Hier sind zunächst zu nennen: das Verstummen von Auslautkonsonanten (Väänänen 1981: 66-70), vor allem bei / -m/ (was sich sogar im Altlatein schon angedeutet hatte) und / -t/ , z.B.: vocem > voce (Akk. ‚Stimme’); durum > duru (Akk. ‚hart’); amat > ama (‚er/ sie/ es liebt’); fecerunt > fecerun (‚sie haben gemacht’). In der Graphie wird dieser Schwund zwar häufig ignoriert (immerhin korrigiert die Appendix Probi: olim non oli ‚einst’), die Fortsetzer in den romanischen Sprachen belegen ihn aber deutlich, vgl. it. duro, sp. duro, port. duro, frz. dur; it. voce, sp. voz, port. voz, fr. voix; it. ama, sp. ama, port. ama, frz. aime; it. fécero, sp. hicieron, port. fizeram, dagegen frz. firent mit relatinisierender Graphie. Man sieht bei dieser Gelegenheit deutlich, warum das Französische der Romania Discontinua zugerechnet wird: Es hat sich von den hier betrachteten Sprachen lautlich am weitesten vom Lateinischen wegentwickelt, auch wenn die etymologisierende Graphie des Französischen dies ein wenig kaschiert. Der Schwund der Auslautkonsonanten hat im Übrigen weitreichende morphologische Folgen, da er die Kasusendung des Akkusativs bei den Nomina und die Personalendung der 3. Person Singular bei den Verben betrifft (vgl. Kap.4.6). Dass dieser Schwund gerade die Auslautkonsonanten betrifft, ist kein Zufall. Der Auslaut von Wörtern wird in vielen Sprachen phonetisch schwächer oder auch in Varianten artikuliert - man denke nur an frz. tous (tous les jours [tu] vs. ils sont tous venus [tus]) oder plus (vgl. Väänänen 1981: 66). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die kognitive Wortverarbeitung von Sprechern indogermanischer Sprachen beim Worterkennen, Memorieren und auch bei den Wortfindungsprozessen stark die erste Silbe fokussiert (Müller-Lancé 2003: 445f). Im Lateinischen, wo wegen des Dreisilbengesetzes mehrsilbige Wörter nie auf der Endsilbe betont werden, sind die Wortenden natürlich besonders gefährdet. Ein diatopisch markiertes Phänomen scheint jedoch das Verstummen von Auslaut / -s/ zu sein. Es betrifft nämlich nur die Sprachen der Ostromania, während die westromanischen Sprachen Auslaut / -s/ beibehalten. So finden wir die Auslaute von lat. nos (‚wir’), minus (‚weniger’) und cantas (‚du singst’) wieder in sp. nos/ menos/ cantas; port. nos/ menos/ cantas, kat. nos/ menys/ cantes, okz. nos/ mens/ cantas und altfranzösisch nos/ moins/ chantes. In den ostromanischen Sprachen Italienisch und Rumänisch hingegen ist das lateinische Auslaut / -s/ vokalisiert oder verstummt: it. noi/ meno/ canti; rum. noi/ -/ cînţi. Das Sardische, bekannt für seine Zwischenstellung zwischen West- und Ostromania, würde von <?page no="87"?> Vulgär- und Spätlatein 87 diesem Kriterium her zur Westromania gehören: vgl. sard. nos/ minus/ cantas (Väänänen 1981: 68). Im Neufranzösischen ist das / -s/ zwar verstummt, es wird aber in der relatinisierenden Graphie weiterhin bewahrt: nous/ moins/ chantes. Für die Zuordnung des Französischen zur Westromania ist dies jedoch ohne Belang, denn: Diese Einteilung der Romania entspricht etwa der der ausgehenden Kaiserzeit […]: sie nimmt, wie die Zweiteilung Italiens […] zeigt, keine Rücksicht auf die heutige Einteilung in die durch die Geltung der Schriftsprachen […] geschaffenen nationalsprachlichen Groß-Räume (die ein Faktum der mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte sind), sondern stützt sich allein auf den Befund der Mundarten […] (Lausberg 1969: 39f). Ein gemeinromanisches Phänomen ist dagegen das Verstummen von Anlaut / h-/ . Dies spricht, gemeinsam mit zeitgenössischen metasprachlichen Aussagen, dafür, dass dieser Schwund schon recht früh einsetzte und schließlich alle lateinischen Varietäten betraf, auch wenn er wohl im republikanischen sermo rusticus seinen Anfang nahm (vgl. Kap.3.1.2). In der Appendix Probi ist er dokumentiert durch die Wortpaare hostiae non ostiae (‚Opfertiere, Hostien’) und adhuc non aduc (‚noch’) (Väänänen 1981: 55 und Seidl 2003: 522). In den modernen romanischen Sprachen ist das verstummte / h-/ allerdings in der Graphie häufig wieder eingesetzt worden, also ein typisches Relatinisierungsphänomen; vgl. homo > omo (‚Mensch, Mann’, Nom.) bzw. den Akkusativ (h-)ominem mit den daraus resultierenden romanischen Formen: Auf den Nominativ gehen zurück it. uomo, rum. om und frz. on (unpersönliches ‚man’), auf den Akk. frz. homme, sp. hombre, port. homem, kat. home. Es ist zu betonen, dass das sog. „haspirée“ im Französischen, das die Elision des vorangehenden Vokals verhindert, nichts mit dem lateinischen / h-/ zu tun hat, sondern auf ein germanisches / h-/ zurückgeht: z.B. la hache < fränk. *hâppja, vgl. dt. Hacke. Auch das Spanische hat ein besonderes Verhältnis zum phonetisch niemals realisierten Graphem <h>, und zwar v.a. am Wortanfang (also als „Initialgraphem“). Dieses Zeichen kann im Spanischen die unterschiedlichsten Ursprünge haben (vgl. Cano Aguilar 2002: 95/ 106/ 238): 1. kann es an ein schon in lateinischer Zeit (s.o.) verstummtes / h/ erinnern, z.B. in sp. humano < lat. humanum, oder in sp. haber < lat. habēre. Diese Schreibungen gehen auf eine spätere Relatinisierung zurück, denn im Altspanischen fehlte das <h> meistens, vgl. asp. umano und aver; 2. kann es auf ein lateinisches Anlaut-f zurückgehen, das sich möglicherweise unter Einfluss des baskischen Substrats zunächst zum Hauchlaut / h/ reduziert hat und dann ganz verstummt ist, z.B. sp. hijo < lat. filium oder sp. hoja < lat. folia. Dieses <h> steht auch im Altspanischen und wurde zu dieser Zeit in der gehobenen Aussprache auch tatsächlich als Hauchlaut realisiert; 3. kann <h> für ein ehemaliges Anlaut-/ g/ stehen, das in unbetonter Silbe stand. Während das Anlaut-/ g/ in betonter Silbe nämlich zu einem Halbvokal reduziert wurde (z.B. lat. géneru > sp. yerno), verstummte es in <?page no="88"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 88 unbetonter Silbe gänzlich und wurde in hyperkorrekter Schreibweise (man wusste, dass man bei manchen Wörtern ein <h> voranstellen muss, ohne dass es gesprochen wird, und tat dies in diesem Fall zu Unrecht) durch <h> ersetzt: z.B. lat. germánum > sp. hermano, lat. geláre > sp. helar. Gut merken kann man sich diese Besonderheit des Spanischen, wenn man sich auf kulinarisches Gebiet begibt und sich hier dem Speiseeis zuwendet, das die alten Römer in Europa eingeführt haben: Das lateinische Partizip Perfekt Passiv gelátum ‚gefroren’ wird spanisch zu helado, italienisch zu gelato (in der Eisdiele jeweils auch substantiviert) und französisch zu gelé. In der bekanntermaßen extravaganten französischen Küche macht das Partizip gelé allerdings einen semantischen Wandel durch, nämlich zu der auch im Deutschen gebräuchlichen Substantivierung Gelée (dann entsprechend feminin), das auch ‚Sülze’ bedeuten kann. ‚Eis’ hingegen wird im Französischen mit dem von lat. glacies bzw. vlat. glacia ‚Eis’ abgeleiteten Lexem glace bezeichnet; 4. kann <h> ein rein diakritisches Zeichen ohne jeglichen etymologischen Ursprung sein. „Diakritisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es dazu beiträgt, zu entscheiden, wie ein Buchstabe auszusprechen ist; es geht also um eine Hilfsfunktion wie z.B. bei den Akzenten. Das <h> in dieser Funktion wurde eingeführt, als in der altspanischen Graphie noch nicht zwischen <u> und <v> unterschieden wurde (s.o.): Ein Wort wie lat. ovum ‚Ei’ entwickelte sich durch die im Altspanischen übliche Diphthongierung des Vokals der betonten Silbe zu uevo. Geschrieben aber wurde ursprünglich lat. <ovvm> und asp. <vevo>. Durch den bis heute erhaltenen lautlichen Zusammenfall von / b/ und / v/ im Altspanischen hätte man nun die Graphie <vevo> lautlich in der gleichen Weise realisieren können wie <bebo> ‚ich trinke’ (von beber), denn <v> vor Vokal wurde üblicherweise als Konsonant / v/ und nicht als Vokal / u/ gelesen. Aus diesem Grunde setzte man ein <h> vor das <v> in <vevo> => <hvevo> und machte so deutlich, dass es als / u/ bzw. als Halbkonsonant / w/ zu lesen sei, denn die Lautkombination / hv/ gab es nicht. Das beschriebene Phänomen ist kein Einzelfall, es trifft z.B. auch für sp. hueso < lat. ossum (‚Knochen) zu, das ansonsten wegen seiner Ähnlichkeit mit sp. beso ‚Kuss’ zu peinlichen Verwechslungen hätte führen können. Gemeinromanisch ist der Schwund von / -n-/ vor / -s-/ , der bereits ab dem 3.Jh. v.Chr. einsetzt. So wird aus lat. pensum (‚abgewogenes Tagewerk’) zunächst pesu und dann it. peso, sp. peso, port. peso, okz. pes, kat. pes, altfrz. pois, rum. păs. Die neufranzösische Schreibung <poids> ist fälschlich etymologisierend (sie verweist auf lat. pondus - ‚Gewicht’, das lexikalisch aber weder mit lat. pensum noch mit fr. pois verwandt ist) und dient v.a. der Differenzierung vom Homonym pois (‚Erbse’ < lat. pisum). In der Appendix Probi sind als Belege aufgeführt mensa non mesa (‚Tisch’) und ansa non asa (‚Henkel’). Das Phänomen war so verbreitet, dass es immer wieder zu Hyperkorrekturen (auch: „Hyperurbanismen“) kam, die gleich- <?page no="89"?> Vulgär- und Spätlatein 89 falls in der Appendix korrigiert werden: Hercules non Herculens; formosus non formunsus (Väänänen 1981: 64). Ein Schwund in gewissem Sinne ist auch die Reduktion von Doppelkonsonanten. Diese sog. „Geminaten“ (von lat. geminus ‚Zwilling’) waren im Lateinischen nicht sehr häufig und wurden auch erst recht spät, nämlich kurz vor Entstehung der romanischen Sprachen, reduziert. So erklärt sich, dass gerade im Italienischen viele Geminaten konserviert wurden, wie die Beispiele lat. bella (‚schön’), flamma (‚Flamme’), vacca (‚Kuh’), cappa (‚Kapuzenmantel’) zeigen, die sich in ital. bella, fiamma, vacca und cappa nahezu konserviert haben, während sie im Spanischen zu llama, vaca, capa, im Okzitanischen zu bele, flama, vaca, capa und im Altfranzösischen zu bele, flame, vache und chape reduziert wurden. Die neufranzösischen Schreibungen <belle> und <flamme> sind abermals Relatinisierungen. Die späteste Geminatenreduktion betraf wohl / -rr-/ , weshalb es in vielen Fällen erhalten ist, z.B. lat. terra > it., okz., port., kat. terra, sp. tierra, frz. terre, aber rum. ţară (Väänänen 1981: 58f). Die zweite große Gruppe der durch sprachliche Ökonomie ausgelösten Konsonantenwandel sind die Assimilationsphänomene. Sie treten v.a. dann auf, wenn zwei Laute mit sehr unterschiedlichen Artikulationsarten und -orten unmittelbar aufeinander folgen müssten. Meist gleicht sich dann der erste Laut dem zweiten zumindest teilweise an. Die meisten dieser Phänomene haben sich so früh ausgebreitet, dass sie schon im Klassischen Latein zum Standard wurden (s.S.81: Abb. 19). Einige von ihnen treten aber erst im Vulgär- und Spätlatein auf. Hierzu gehört die Assimilation von / -ps-/ zu / -ss/ , die in der Form isse statt klassisch ipse (‚selbst’) in einer pompejanischen Inschrift belegt ist und sich in span. ese fortgesetzt hat. Noch besser dokumentiert ist die Assimilation von / -rs-/ zu / -ss-/ , und zwar anhand eines Appendix Probi-Belegs: persica non pessica (‚Pfirsich’). Beide Formen haben Fortsetzer in den romanischen Sprachen gefunden, auf der einen Seite rum. piérsică und okz. persega und auf der anderen Seite ital. pesca und frz. pêche. Auch die Assimilation von / -pt-/ zu / -tt-/ oder / -t-/ hat sich nicht in der ganzen Romania durchgesetzt, vgl. z.B. lat. septem (‚sieben’) > it. sette, sp. siete, port. sete, afrz./ okz./ kat. set gegenüber rum. şapte. Die neufranzösische Schreibung <sept> ist aber nur relatinisierend (vgl. Väänänen 1981: 62-64). Ein lautlicher Wandel, der für die Einteilung der romanischen Sprachen in Ost- und Westromania von Bedeutung ist, ist die Entwicklung des / kt/ -Nexus, z.B. in lat. factum (‚Tat’), lactem (Akk. ‚Milch’) oder octo (‚acht’). Dieser lateinische Konsonantencluster wird in der Ostromania assimiliert (it. fatto, latte, otto) oder zu / pt/ teilassimiliert (rum. fapt, lapte, opt), in der Westromania hingegen palatalisiert (okz. fach; sp. hecho, ocho, leche) und ggf. in der Folge noch weiter zu / i/ vokalisiert (vgl. port. feito, leite, oito, frz. huit), das in den neufranzösischen Formen fait und lait nur noch graphisch erhalten ist. Lateinische Belege für diese diatopischen Varianten gibt es allerdings nicht (Väänänen 1981: 65). <?page no="90"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 90 Zu den Teilassimilationen kann man die zwischen dem 2. und 5. Jh. n.Chr. (Stefenelli 2003: 535) datierbare Palatalisierung 20 von / k/ zu / ts/ vor / e/ oder / i/ (nicht im Sardischen) sowie die von / -ti-/ vor einem weiteren Vokal zählen. Der Verschlusslaut passt sich hier jeweils an den palatalen Folgevokal an, wodurch ein Sibilant (‚Zischlaut’) entsteht. Man spricht daher auch von „Assibilierung“. Im ersten Falle wird die Assibilierung in der lateinischen Schreibung nicht sichtbar: amicitia (‚Freundschaft’): / amikitia/ > / amitsitsja/ , vgl. it. amicizia. Im zweiten Falle hingegen wird in der lateinischen Graphie gelegentlich das <t> durch <c> ersetzt, vgl. nuntius > nuncius (‚Bote’), was sich auch in den romanischen Sprachen fortsetzt, vgl. it. nunzio, sp. nuncio (Väänänen 1981: 54f und Seidl 2003: 523). Deutlich seltener als die Assimilation ist die unsystematisch auftretende Dissimilation (also ‚Ungleichmachung’), die z.B. / l/ oder / r/ betrifft, wenn in der Umgebung ein weiteres / l/ oder / r/ vorkommt: z.B. klass. lat. peregrinus > spätlat. pelegrinus (‚Wanderer, Pilger’). Die Wiederholung des gleichen Lauts wird dadurch vermieden. Die neue Form hat sich fortgesetzt in it. pellegrino, kat. pelegri, frz. pèlerin sowie in engl. pilgrim und dt. Pilger (Väänänen 1981: 70). Diese Dissimilation ist im gesprochenen Spanisch bis heute wirksam, besonders beim Wechsel von / l/ zu dem vom Artikulationsort her benachbarten Laut / r/ (sog. „Rhotazismus“, weil dabei ein / r/ , -griech. rho, entsteht). Vgl. das folgende zeitgenössische Bilddokument, in dem niemand geringeres als die filología dem Rhotazismus zum Opfer fällt (vielsagend die schwer lesbare Korrekturglosse links am Ende des Pfeils „Ignorante, es una L“): Abb. 21: Dissimilation/ Rhotazismus im Neuspanischen (Toilettentür der Facultad de Filología, Universidad Complutense de Madrid, Foto JML 1999) 20 Als „Palatalisierung“ bezeichnet man die Verlagerung des Artikulationsorts eines Lautes vom Hintergaumen (Velum) zum Vordergaumen (Palatum). Ein solcher Fall liegt z.B. vor, wenn das velare / k/ sich zu einem palatalen / ts/ wandelt. <?page no="91"?> Vulgär- und Spätlatein 91 Die dritte große Gruppe konsonantischer Lautwandelphänomene enthält Veränderungen aufgrund von nachlässiger Sprechweise. Hier ist besonders die Sonorisierung 21 der intervokalischen Verschlusslaute -p-/ -t-/ -kzu nennen, die sich auf die Westromania beschränkt und somit eine diatopisch begrenzte Variante darstellt. Ob sie deswegen auf keltischen Einfluss zurückgeht, ist umstritten (Stefenelli 2003: 535). In jedem Falle scheint sie erst recht spät, etwa ab dem 5./ 6. Jh. n.Chr. einzutreten (Seidl 2003: 523). Für die Westromania müssen wir also zu lat. ripa (‚Ufer’), rota (‚Rad’) und securu(m) (‚sicher’) die stimmhaften Varianten *riba, *roda und *seguru annehmen, die sich in sp. riba/ rueda/ seguro, afr. rive/ roue/ seür, kat. riba/ roda/ segur und port. riba/ roda/ seguro fortgesetzt haben. Die Sonorisierung von z.B. / p/ zu / b/ ist übrigens in den indogermanischen Sprachen kein seltener Vorgang, wie süddeutsche Varianten von putzen zeigen: Abb. 22: Sonorisierung im süddeutschen Raum (Foto JML, Denzlingen 2003) In der Ostromania hingegen blieben diese Verschlusslaute stimmlos, vgl. it. ripa/ ruota/ sicuro und rum. rîpă/ roată (Väänänen 1981: 56f). Parallel zur Sonorisierung der stimmlosen Verschlusslaute werden auch die stimmhaften intervokalischen Verschlusslaute des Lateinischen in der Westromania „aufgeweicht“, oder besser gesagt: spirantisiert. Dabei werden / d/ und / g/ zunächst zu angehauchtem / δ/ und / γ/ und verstummen dann, wie die Fortsetzer von lat. vidēre (‚sehen’) und striga (‚Strich’) zeigen: sp. ver (asp. veer), kat. veure, port. vêr/ estria, afr. veoir/ estrie. In der Ostromania bleiben die beiden 21 Als „Sonorisierung“ bezeichnet man den Lautwandel, bei dem ein stimmloser Laut zu einem stimmhaften Laut (frz. sonore) wird, also z.B. / p/ > / b/ , / t/ > / d/ oder / k/ > / g/ . <?page no="92"?> Phonetik, Phonologie und Graphie 92 Konsonanten voll erhalten: it. vedere/ strega, rum. vedeá/ strigă, es sei denn, ein palataler Vokal folgt auf das / g/ , so z.B. bei lat. magister (‚Lehrer’) > it. maestro, rum. maestru (also vergleichbar mit afr. maistre, sp. mestro, port. mestre, kat. maestre). Das stimmhafte intervokalische / b/ hingegen entwickelt sich in der ganzen Romania über bilabial aspiriertes / β/ zum labiodentalen Reibelaut / v/ ; vgl. lat. habēre > rum. aveá, it. avere, sp. haber, kat. aver, port. haver, okz. aver, frz. avoir (Väänänen 1981: 57f und Seidl 2003: 520). Hier hat ausnahmsweise einmal das spanische (und beim Anlaut das portugiesische) Beispiel eine relatinisierte, also an die ursprünglichen lateinischen Zustände angenäherte, Graphie: Noch im Altspanischen wird - phonetisch konsequent - <aver> geschrieben. Wegen der lautlichen Ähnlichkeit wird der neue lateinische Reibelaut / v/ in der Folge häufig mit dem Halbkonsonanten / w/ verwechselt. Es finden sich also lat. Schreibungen wie <cuviculo> für cubiculum (‚Schlafzimmer’) oder umgekehrt als Hyperkorrektur <bixit> für vixit (‚er hat gelebt’). Hispanisten kommt dies sicherlich bekannt vor: Dieser Wandel ist der Ursprung der Verwechslungen von <b> und <v> im Anlaut, die phonetisch nicht zu unterscheiden sind - ein Problem, das seit dem Mittelspanischen ungelöst ist. Damals überwogen Schreibungen wie <bivir> (von lat. vivĕre), im Neuspanischen aber ist man dazu übergegangen, den Anlaut / β/ etymologisch zu verschriften, also je nach dem lateinischen Etymon entweder mit <b> oder mit <v>: vgl. nsp. beber von lat. bibĕre vs. vivir von lat. vivĕre (vgl. Cano Aguilar 2002: 93). Als letztes Phänomen dieser Gruppe sei noch ein sekundärer Wandel aufgeführt: Durch die bei den Vokalphänomenen (s.o.) aufgeführte Synkopierung unbetonter Zwischenvokale entstanden neue, ungewohnte Konsonantenfolgen. Sie wurden häufig durch gängigere Konsonantenfolgen ersetzt, so etwa die Konsonantenfolge / tl/ durch / kl/ in vetulus 22 (‚alt’) > vetlus > veclus, woraus dann die romanischen Formen it. vecchio, sp. viejo, frz. vieux, port. velho, kat. vell entstanden. 3.3 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen Zusammenfassung: Die Graphiesysteme aller romanischen Sprachen beruhen im Wesentlichen auf den Phonem-Graphem-Korrespondenzen des Klassischen Lateins. Lautlich hingegen ist das Vulgärlatein wichtiger für die Entwicklung der romanischen Sprachen. Zu nennen ist hier vor allem die Einführung des Druckakzents statt des melodischen Akzents, die Phonologisierung von Vokalqualitäten anstelle von Vokalquantitäten, die Monophthongierung von Diphthongen, das Verstummen unbetonter Vokale und Auslautkonsonanten sowie zahlreiche Assimilationsphänomene. Schon in der vulgärbzw. spätlateinischen Phase bilden sich die phonetischen Erscheinungen heraus (Umgang mit Auslaut-s, Umgang mit intervokalischen Verschlusslauten), die später zur Unterscheidung ost- und west- 22 vetulus ist ein deminutivisches Adjektiv. Die Standardform vetus war unregelmäßig, weshalb ihr im Vulgärlatein die regelmäßigere Deminutivform vorgezogen wurde (s. Kap.6.2). <?page no="93"?> Übungen 93 romanischer Sprachen mit Sonderstellung des Sardischen geführt haben. Des weiteren zeigt sich bei Betrachtung des phonetischen Übergangs vom Latein zu den romanischen Sprachen, dass Italienisch und Spanisch dem Lateinischen am nächsten sind, während sich Französisch und Rumänisch lautlich am weitesten weg entwickelt haben. Die Graphie des Neufranzösischen dagegen ist durch ihre relatinisierende Tendenz sehr nah an den lateinischen Originalzuständen. Literaturempfehlungen: Das Standardwerk zum Vulgärlatein ist nach wie vor Väänänen 1981 - ergänzend hierzu Kiesler 2006, Seidl 2003 und Stefenelli 2003. Die Vorgeschichte des Klass. Lateins behandelt Meiser 1998, Phonetik und Graphie des Klass. Lateins sind übersichtlich dargestellt in Rubenbauer et al. 1995 und Kieckers 1960. 3.4 Übungen Verständnis- und Wiederholungsaufgaben a) Bestimmen Sie die Quantität der unterstrichenen Laute und versuchen Sie, zu übersetzen (zum Kasus nach Präpositionen vgl. Abb. 24): aqua in piscina est. homines mali sub malo sedent. pecunia furis inventa est. b) Erläutern Sie die unterstrichenen Besonderheiten romanischer Orthographien aus historischer Sicht (Hilfe: etymologisches Wörterbuch): sp. cuando - it. quando - frz. quand sp. beso - sp. vaso c) Erläutern Sie: „Palatalisierung“, „Dissimilation“, „Synkopierung“. d) Beschreiben Sie den lautlichen Wandel, der vom jeweiligen lateinischen Etymon zu den aufgeführten romanischen Reflexen geführt hat: lat. pontem > it. ponte, sp. puente, frz. pont, port. ponte, kat. pont lat. defendĕre > it. difendere, sp. defender, frz. défendre, port. defender lat. edictum > it. editto, sp. edicto, frz. édit, port. edito lat. focum > it. fuoco, sp. fuego, frz. feu, port. fogo, kat. foc e) Suchen Sie zu den folgenden lateinischen Etyma Reflexe in „Ihrer“ romanischen Sprache und kommentieren sie die auftretenden Lautwandelphänomene: desiderare, centum, noctem. Weiterführende Aufgaben a) Belegen Sie auf Basis von Schmid 1992 u. Weißkopf 1994, dass die moderne spanische Orthographie gelegentlich vom phonographischen Prinzip abweicht und dem etymologischen Prinzip Vorrang einräumt. b) Recherchieren Sie (z.B. in Tagliavini 1998 oder Lausberg 1969) weitere lautliche Phänomene, die die Sonderstellung des Sardischen im Rahmen der Unterscheidung in Ost- und Westromania belegen. c) Informieren Sie sich darüber (z.B. in Meisenburg 1996 oder in Beinke/ Rogge 1990), wann und weshalb man sich in Frankreich für das etymologische Prinzip in der Orthographie entschieden hat. <?page no="94"?> 4 Morphologie und Wortbildung 4.1 Vorbemerkungen zur Bedeutung der Morphologie für das Lateinische Seinen Ruf als logische Sprache, die in besonderer Weise das Denken schule, 1 verdankt das Lateinische vor allem seiner Morphologie und Syntax. Mit solchen überlieferten Werturteilen muss man jedoch sehr vorsichtig sein - auch das Französische wurde schon für seine clarté gerühmt, bietet aber heute von allen romanischen Sprachen das extremste Auseinanderklaffen von gesprochener und geschriebener Sprache, was der angeblichen Klarheit sicher nicht zuträglich ist. Was ist also dran an der vielgerühmten Logik des Lateins? Im Unterschied zu den meisten modernen Fremdsprachen ist die Wortstellung in der lateinischen Syntax ziemlich frei (vgl. Kap.5.1.1). Dies führt dazu, dass der Morphologie eine überragende Rolle zukommt: Nicht die Position im Satz, sondern allein die Form eines Wortes gibt Auskunft über seine syntaktische Funktion. Obendrein steht das konjugierte Verb, also das Prädikat, meist am Satzende, trennt also nicht etwa Subjekt (erkennbar am Nominativ) und Objekt (Akkusativ oder Dativ) voneinander ab: • Claudium Aulus videt. ‚Aulus sieht Claudius.’ Akk. Nom. • Claudius Silviae pecuniam dat. ‚Claudius gibt Silvia Geld.’ Nom. Dat. Akk. Zusammengehörende Elemente können weit auseinanderstehen - nur aus ihrer formalen Kongruenz (z.B. Übereinstimmung von Kasus, Numerus und Genus bei den Nomina - sog. „KNG-Kongruenz“) wird die Beziehung ersichtlich. Es gibt auch keine Artikel, die dazu beitragen könnten, ein Substantiv von einem Adjektiv oder Partizip zu unterscheiden: Präpositionen sind deutlich seltener als im Deutschen oder in den romanischen Sprachen - vieles wird allein durch reine Kasus mit speziellen Bedeutungsnuancen ausgedrückt. • urbe proficisci ‚aus der Stadt aufbrechen’ (separativer Ablativ) 1 Im schwäbischen Volskmund sagt man nicht ganz zu Unrecht „Latein butzt de Kopf aus“, setzt den Lateinunterricht also mit einer Art pädagogischer Gehirnwäsche gleich. Minorem Claudius furore incitatus fratrem occidit. Akk. ‚jünger’ Nom. Abl. ‚Wut’ Nom. ‚getrieben’ Akk. ‚Bruder’ ‚Von Wut getrieben hat Claudius den jüngeren Bruder ermordet.’ <?page no="95"?> Vorbemerkungen zur Bedeutung der Morphologie für das Lateinische 95 • Romam vehi ‚nach Rom fahren’ (Richtungsakkusativ) • fraude vincĕre ‚durch Betrug gewinnen’ (instrumentaler Ablativ) All dies führt dazu, dass im traditionellen Lateinunterricht der an moderne Sprachen bzw. an die Abfolge Subjekt-Prädikat-Objekt gewöhnte Lateinlerner zunächst einmal Wort für Wort (und Buchstabe für Buchstabe) die Formen bestimmt, anschließend ihre Zugehörigkeiten und Funktionen ermittelt (das sog. „Konstruieren“) und erst dann mit der Übersetzung beginnt. Bei dieser Übersetzung bringt man die morphologisch analysierten lateinischen Bausteine bzw. deren Bedeutungen in die im Deutschen übliche Reihenfolge. Entsprechend nennt man diese Vorgehensweise in der deutschen Schultradition „Konstruieren“. Ein lineares Lesen von vorne nach hinten scheint schier unmöglich. Hinzu kommt, dass die lateinische Morphologie ausgesprochen vielfältig ist - Formen lernen gehört also zum Alltag. Dabei gibt es trotz aller angeblichen „Logik“ durchaus viele unregelmäßige Formen. Außerdem haben wir bereits gesehen, dass die strukturell enorm wichtige Vokalquantitätenunterscheidung in der Graphie nicht abgebildet wird - auch kein besonders logischer Zug. Vor allem auf zwei Säulen ruht also der Ruf des Lateinischen: Wegen der Formenvielfalt gilt es als schwer und lernintensiv, und wegen der übersetzungsvorbereitenden morphosyntaktischen Analyse als logisch. Man lernt zumindest, jeden einzelnen Buchstaben zu beachten. Auf der anderen Seite wird gesagt, dass Latein keine spezielle Sprachenbegabung, sondern eher eine mathematische Begabung erfordere. 2 Wenn man es so lernt, wie oben beschrieben, dann ist dies sicher nicht ganz falsch. Zumindest lassen sich mit einer mathematischen Begabung und etwas Fleiß beim Formen- und Vokabelnlernen ganz passable Leistungen im Schulfach Latein erzielen. Es hat sich aber gezeigt, dass sehr gute Lateiner, wie man sie beispielsweise im Lateinstudium antrifft, auch für moderne Fremdsprachen begabt sind (Müller-Lancé 2003: 204ff) und dank ihrer Erfahrung durchaus in der Lage sind, lateinische Texte nahezu linear zu lesen. In der modernen Lateindidaktik versucht man daher, die Sprachbegabung der Schüler gezielt anzusprechen. Dies geschieht vor allem im Rahmen von Wort- und linearen Texterschließungsstrategien, die der Übersetzung vorgeschaltet werden und bei denen auf Kenntnisse aus anderen Sprachen zurückgegriffen wird (vgl. Müller-Lancé 2001a und 2004). Ohne morphologische Kenntnisse des Lateinischen stoßen aber auch diese Strategien sehr schnell an ihre Grenzen. In diesem Kapitel soll daher ein grober Überblick über das Formenspektrum in den wichtigsten Wortklassen des Lateinischen gegeben werden. Außerdem werden die Grundbausteine der lateinischen Wortbildung beleuchtet. Wo möglich, wird auf romanische und im Einzelfall auch englische und deutsche Parallelformen verwiesen, die das Memorieren erleichtern sollen. Die zahlreichen englischen Entsprechungen beruhen auf dem starken lexikalischen Einfluss des Französischen auf das Englische im Zuge der normannischen Eroberung aus dem 2 Dies führt dazu, dass im deutschen Schulsystem häufig die falschen Schüler Latein lernen, nämlich gerade die weniger sprachbegabten, die das Lateinische später kaum noch brauchen, da sie ihr Berufsleben möglichst fremdsprachenfrei gestalten. <?page no="96"?> Morphologie und Wortbildung 96 Jahre 1066. Ausführliches Eingehen auf Sonderfälle und Ausnahmen ist angesichts der Zielsetzung dieses Buches weder möglich noch angestrebt. Die Verwendung der verschiedenen Formen (welche Form hat welche Funktion? ) wird, wie üblich, im Rahmen der Syntaxdarstellung behandelt, auch wenn bei dieser Fragestellung durchaus semantische Bereiche berührt werden. 4.2 Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung Typologisch gesehen gilt das Klassische Latein (gemeinsam mit dem Altgriechischen) als Prototyp einer flektierenden Sprache. 3 Dies bedeutet, dass die grammatische Information nicht in eigenen Wörtern enthalten ist, sondern in Form von Flexionsendungen an die Lexeme angehängt wird. Vor allem aber trägt jede Endung mehrere grammatische Informationen zugleich: Die Nominalendung -os markiert beispielsweise den Kasus „Akkusativ“, den Numerus „Plural“ und das Genus „Maskulinum“. Das ist der wesentliche Unterschied zu den agglutinierenden Sprachen (z.B. Türkisch), wo es für jede dieser Informationen jeweils eine eigene feste Endung gäbe, die dann alle hinter dem Lexem aneinandergeklebt (agglutiniert) würden. Die meisten modernen Sprachen aber sind Mischformen. So gelten die romanischen Sprachen zwar (noch) als flektierend, mit den Artikeln beispielsweise haben sie aber ein Element entwickelt, das nicht zu diesem Typ passt. Die grammatische Information wird ja jetzt gedoppelt und steht einmal isoliert vor dem Lexem und einmal als Flexionsendung dahinter; vgl. lat. amic-i (‚die Freunde’) vs. it. gli amic-i, sp. los amigo-s, frz. les ami-s. Auch im Lateinischen wird nicht jedes Wort flektiert. Man unterscheidet drei große Gruppen von Wortklassen, von denen eine die nicht-flektierten Klassen enthält: • Nomina: Substantive, Adjektive, Pronomina, Numeralia (‚Zahlwörter’) - die Flexion der Nomina wird als „Deklination“ bezeichnet • Verben: Vollverben, Hilfsverben - die Flexion der Verben heißt „Konjugation“ • Partikeln: 4 Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Interjektionen - keine dieser Wortarten wird flektiert (es handelt sich also durchweg um „freie Morpheme“), sie können aber teilweise auch als Affixe für die Wortbildung bedeutsam werden. Zwischen den Nomina und den Verben stehen die sog. „Nominalformen des Verbs“, also z.B. Partizipien, Verbalsubstantive (Gerundium) und Verbaladjektive (Gerundivum), die von ihrem Ursprung her Verbformen sind, aber allesamt 3 Im Unterschied zu den isolierenden Sprachen, wo es keine Endungen gibt, und den agglutinierenden Sprachen, wo jede Endung für genau eine bestimmte Information steht. 4 Korrekt heißt die Wortart „die Partikel“, ihr Plural ist „die Partikeln“. Also nicht zu verwechseln mit dem aus den Naturwissenschaften bekannten Neutrum „das Partikel“, dessen Plural „die Partikel“ lautet. <?page no="97"?> Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung 97 dekliniert werden können. Durch Derivation werden also beispielsweise von einem Verb aus Substantive oder Adjektive gebildet, ein typisches Verfahren der Wortbildung. Um die Verfahren der Flexion und der Wortbildung zu verstehen, ist es wichtig, die einzelnen Wortbestandteile zu kennen: Grundsätzlich enthalten alle veränderlichen Wörter mindestens zwei Bestandteile, eine Wurzel (man spricht auch vom „Wortstock“) und eine Endung. Durch die Wurzel wird deutlich, zu welcher Wortfamilie (genauer: zu welchem Lexemfeld) ein Wort gehört; vgl. z.B. die Wurzel amin am-are (‚lieben’), am-or (‚Liebe’), am-icus (‚Freund’), am-abilis (‚liebenswert’). Pro Wortfamilie gibt es also nur eine einzige Wurzel. Diese Wurzel stellt ein gebundenes lexikalisches Morphem dar, denn sie tritt i.Allg. nicht selbständig auf. Die Endung hingegen gibt die grammatischen Beziehungen eines Wortes an, ist also ein gebundenes grammatisches Morphem. Die meisten veränderlichen Wörter enthalten zwischen Wurzel und Endung noch ein Suffix (eigentlich müsste man korrekter von einem „Infix“ sprechen“), das die Bedeutung der Wurzel präzisiert. Dieses Stammsuffix bildet gemeinsam mit der Wurzel den sog. Wortstamm; Stammsuffix und Endung bilden miteinander den Wortausgang. Am deutlichsten werden die Verhältnisse in der Form des Genitiv Plural. Vergleichen Sie das Beispiel cura (‚Fürsorge’) bzw. seinen Gen.Pl. curarum: Abb. 23: Wortbestandteile (Darstellung nach Rubenbauer et al. 1995: 28) Dabei kann ein Wort verschiedene Stämme bzw. Stammsuffixe aufweisen. So sind z.B. bei Verben grundsätzlich Präsensstamm (z.B. lauda-re ‚loben’; hier ohne Stammsuffix) und Perfektstamm (z.B. laudav-isse ‚gelobt haben’; Stammsuffix -v-) voneinander zu unterscheiden. Die für die Wortbildung wichtigste Verbform ist das Partizip Perfekt Passiv bzw. „PPP“ (z.B. laudatum ‚gelobt’). Von ihm werden nämlich besonders häufig neue Wörter abgeleitet. Nach der Art der Wortbildung differenziert man für die veränderlichen Wörter drei Typen: Wurzelwörter, Derivationen und Kompositionen (vgl. zum Folgenden Rubenbauer et al. 1995: 19ff). Wortstock Wortausgang Stamm Endung cur- -arum <?page no="98"?> Morphologie und Wortbildung 98 4.2.1 Wurzelwörter Bei Wurzelwörtern tritt die Flexionsendung ohne ein Stammsuffix direkt an die Wurzel, z.B. dic-o (‚ich sage’ - Inf.: dicĕre ‚sagen’). 4.2.2 Derivationen Bei Derivationen (‚Ableitungen’) wird der Stamm durch ein Affix (= Überbegriff für Präfix, Infix und Suffix) erweitert - von einem bestehenden Wort wird also ein neues Wort abgeleitet. In der lateinischen Grammatiktradition bezeichnet man aber nur Wortbildungen mit Suffix oder Infix als Derivation, während Bildungen mit Präfix den Kompositionen (s.u.) zugerechnet werden. Ein Suffix kann sprachhistorisch auf zwei ältere Suffixe, die miteinander verschmolzen sind, zurückgehen. Substantive mit einem bestimmten Derivationssuffix haben immer dasselbe Genus. Deswegen lohnt es besonders, sich diese Suffixe einzuprägen. Die wichtigsten Wortbildungssuffixe sind 5 für Substantive: • -tor/ -sor für Maskulinum, -trix für Femininum. 6 Diese Suffixe treten an den Stamm des PPP von Verben und bezeichnen einen Täter bzw. eine Täterin. Z.B. vincĕre ‚siegen’ - PPP victum => victor ‚Sieger’, victrix ‚Siegerin’; laudare ‚loben’ - PPP laudatum => laudator ‚Lobredner’, laudatrix ‚Lobrednerin’; defendĕre ‚verteidigen’ - PPP defensum => defensor ‚Verteidiger’. Diese Suffixe sind in den romanischen Sprachen bis heute produktiv (vgl. frz. moniteur/ monitrice und acteur/ actrice, sp. emperador/ emperatriz, 7 actor/ actriz, it. attóre und attrice; vgl. auch dt. Traktor oder engl. terminator), die feminine Form wird aber teilweise durch sekundäre Ableitungen von der maskulinen romanischen Form ersetzt, z.B. sp. conquistador/ conquistadora, hablador/ habladora, frz. souffleur/ souffleuse, masseur/ masseuse, oder aber beide Genera werden von der maskulinen Form abgedeckt, z.B. frz. une (femme) auteur. • -io/ -tio/ -sio (immer fem.) und -tus (Gen. -tūs, immer mask.): Diese ebenfalls an das PPP von Verben angehängten Suffixe markieren Verbalhandlungen in ihrem Verlauf: vgl. narrare ‚erzählen’ - PPP narratum => narratio ‚Erzählung’; canĕre ‚singen’ - PPP cantum => cantus ‚Gesang’. Beide Muster sind in den romanischen Sprachen gut erhalten (frz. narration, sp. narración, it. narrazione; frz. chant, it./ sp. canto) wirklich produktiv ist aber nur noch das erste Muster, vgl. frz. circuler 5 Vgl. zusätzlich das sehr übersichtliche Wortbildungskapitel in Throm (1995: 102ff). 6 Man kann sich streiten, ob das / t/ bzw. / s/ schon zum Suffix gehört, oder noch zum Stamm des PPP. In letzterem Falle wäre das Suffix also nur -or/ -rix. In der Wirkung ist dies aber egal, weil alle PPP’s am Ende des Stammes ein / t/ oder / s/ aufweisen. 7 Bei der weiblichen Form ist das lateinische / t/ deshalb nicht sonorisiert worden, weil es nicht intervokalisch ist. <?page no="99"?> Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung 99 => circulation; natürlich auch im Englischen und Deutschen: vgl. dt. Blutzirkulation oder engl. circulation. • -or (immer mask.) und -ium (immer neutr.) angehängt an den Präsensstamm von Verben, markieren zumeist Verbalabstrakta: vgl. dolēre ‚schmerzen’ => dolor ‚Schmerz’, gaudēre ‚sich freuen’ => gaudium ‚Freude’. Beide Muster sind romanisch erhalten (frz. douleur, sp. dolor, it. dolore; frz. joie, sp. gozo, it. gaudio), heute ist aber nur noch das erste Muster produktiv. • -ia, -itia/ -ities, -tas, -tus (Gen. -tutis), -tudo (alle immer fem.), zumeist angehängt an den Stamm von Adjektiven oder anderen Substantiven, markieren Eigenschaften als Abstraktum (vgl. die deutschen Suffixe - heit, -keit, -schaft). Vgl. iustus ‚gerecht’ => iustitia ‚Gerechtigkeit’; liber ‚frei’ => libertas ‚Freiheit’; vir ‚Mann’ => virtus ‚Mannhaftigkeit, Tugend’, altus ‚hoch’ => altitudo ‚Höhe’; superbus ‚hochmütig’ => superbia ‚Hochmut’. Belege für alle Muster sind auch romanisch erhalten, heute produktiv sind vor allem die auf -itia, -tas und -tudo zurückgehenden Muster (vgl. frz. justice/ liberté/ altitude, sp. justicia/ libertad/ altitud, it. giustizia/ libertà/ altitudine und natürlich engl. justice/ liberty/ altitude). Im Deutschen haben sich besonders viele Fremdwörter erhalten, die auf das lat. Suffix -tas bzw. seinen Akkusativ -tatem zurückgehen: z.B. lat. qualis ‚wie beschaffen’ => qualitas, Akk. qualitatem ‚Eigenschaft’ > dt. Qualität; lat. universus ‚gesamt’ => universitas‚ Akk. universitatem ,Gesamtheit’ > dt. Universität. Grob kann man sich also die Formel merken: lat. -tas bzw. -tatem > it. -tà, sp. -tad, frz. -té, engl. -ty, dt. -tät. Die stark abweichende Form des Englischen erklärt sich dadurch, dass sie auf die bereits abweichende Form des Französischen zurückgeht. • -mentum, -trum, -culum, -bulum (alle immer neutr.), zumeist angehängt an den Präsensstamm von Verben, markieren ein Mittel oder Werkzeug, die beiden letztgenannten Suffixe können auch Orte bezeichnen. Vgl. ornare ‚schmücken’ => ornamentum ‚Schmuck’; arare ‚pflügen’ => aratrum ‚Pflug’; vehi ‚fahren’ => vehiculum ‚Gefährt’; vestire ‚ankleiden’ => vestibulum ‚Ankleideraum’; arguĕre ‚beschuldigen, erklären’ => argumentum ‚Darstellung, Beweis’. Für alle Suffixe haben sich Belege bis in die romanischen Sprachen erhalten, heute produktiv sind v.a. die auf -mentum zurückgehenden Suffixe, vgl. frz. logement, sp. alojamiento, it. alloggiaménto für ‚Unterkunft’. • -ulus/ -olus und -culus bezeichnen, angehängt an andere Substantive, die Verkleinerungsform, also den sog. „Deminutiv“ oder „Diminutiv“. Sie können je nach Ursprungswort in allen drei Genera auftreten: vgl. filius ‚Sohn’ => filiolus ‚Söhnchen’; filia ‚Tochter’ => filiola ‚Töchterchen’; oppidum ‚Stadt’ => oppidulum ‚Städtchen’. Häufig haben sich lateinische Deminutive aufgrund ihrer Frequenz im Vulgärlatein später in den romanischen Sprachen erhalten. Meist haben sie dabei aber ihre Deminutivbedeutung eingebüßt: vgl. auris ‚Ohr’ => auricula ‚Öhrchen’ > frz. oreille, sp. oreja, it. orecchio ‚Ohr’ (hierzu Kap. 6). Gelegentlich hat <?page no="100"?> Morphologie und Wortbildung 100 sich aus dem lateinischen Deminutiv auch eine neue Spezialbedeutung ergeben, z.B. in frz. filleul/ filleule ‚Patenkind’. Für romanische Deminutive hingegen haben sich neue Suffixe herausgebildet, vgl. z.B. frz. la fillette ‚kleines Mädchen’. Augmentativsuffixe, also Vergrößerungsformen, wie sie im Spanischen häufig auftreten (z.B. sp. hombr-azo ‚Riesenkerl’), spielen bei den lateinischen Derivaten keine Rolle. für Adjektive: • -ilis und -bilis, angehängt an den Präsensstamm von Verben, kennzeichnen eine passive Möglichkeit. Vgl. facere ‚machen’ => facilis ‚machbar’; amare ‚lieben’ => amabilis ‚liebenswert’. Beide Muster sind romanisch erhalten (vgl. frz. facile/ aimable, sp. fácil/ amable, it. facile/ amabile) und bis heute produktiv. • -osus und -(o/ u)lentus, angehängt an substantivische Wurzeln, bezeichnen eine Fülle von etwas: vgl. gloria ‚Ruhm’ => gloriosus ‚ruhmreich’; opes (Pl.) ‚Geldmittel’ => opulentus ‚reich’. Beide Muster haben sich in die romanischen Sprachen erhalten (vgl. frz. glorieux/ opulent, sp. glorioso/ opulento, it. glorioso/ opulento), aber nur die auf -osus zurückgehenden romanischen Suffixe sind noch nennenswert produktiv: vgl. z.B. die Neubildungen frz. scandaleux, sp. escandaloso, it. scandaloso. • -eus, angehängt an einen Substantivstamm, bezeichnet als Adjektiv ein Material oder eine Farbe: vgl. aurum ‚Gold’ => aureus ‚aus Gold, golden’; lignum ‚Holz’ => ligneus ‚hölzern’. Diese Bildungen sind nur selten romanisch erhalten (z.B. im Italienischen poetisches aureo neben dem gewöhnlichen d’oro) und auch nicht mehr produktiv. • -tus am Substantivstamm steht für ‚versehen mit’, vgl. robur ‚Kraft’ => robustus ‚kräftig’; barba ‚Bart’ => barbatus ‚bärtig’. Romanisch haben sich diese Bildungen teilweise erhalten (frz. robuste, it./ sp. robusto; frz. barbu, sp. barbudo und it. barbuto stammen aber von der vulgärlateinischen Variante barbutus ab). Das Bildungsmuster ist jedoch nicht mehr produktiv und keinesfalls zu verwechseln mit den sehr häufigen romanischen deverbalen Ableitungen vom PPP (z.B. sp. avanzado ‚fortgeschritten’ von avanzar). • -ax, angehängt an eine Verbalwurzel, markiert einen (meist fehlerhaften) Hang zu etwas: vgl. audere ‚wagen’ => audax ‚tollkühn’. Diese Bildungen sind meist in den romanischen Sprachen erhalten (vgl. sp. audaz, it. audace), 8 aber als Muster nicht mehr produktiv. 8 Das französische Substantiv audace stammt vom lat. Substantiv audacia (‚Kühnheit’), das entsprechende Adjektiv audacieux von der lat. Derivation audaciosus. <?page no="101"?> Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung 101 für Verben: • -(i)tare und -sare, angehängt an den PPP-Stamm von Verben, bezeichnen verstärkte oder wiederholte Handlungen; z.B. trahĕre ‚ziehen’, PPP tractum => tractare ‚schleppen’; currĕre ‚rennen’, PPP cursum => cursare ‚hin- und herrennen’. Diese Derivationen werden als „Verba intensiva“ oder „Verba iterativa“ (von iterare ‚wiederholen’) bezeichnet. Häufig sind die Verba Intensiva besser in den romanischen Sprachen erhalten als ihre Ursprungsverben, weil sie u.a. wegen ihrer regelmäßigen Formen im Vulgär- und Spätlatein bevorzugt wurden (vgl. z.B. canĕre ‚singen’, PPP cantum => cantare > it. cantare, sp. cantar, fr. chanter). Gelegentlich findet man auch beide Verbvarianten in den romanischen Sprachen erhalten: vgl. z.B. frz. traire ‚melken’ < trahĕre; frz. traiter ‚behandeln’ < tractare. • -scĕre, angehängt an den Präsensstamm von Verben, bezeichnet den Beginn einer Handlung. Daher werden diese Verben als „Verba incohativa“ (von incohare ‚beginnen’) bezeichnet. Vgl. florēre ‚blühen’ => florescĕre ‚erblühen’; valēre ‚gesund sein’ => convalescĕre ‚gesund werden’. • -urire, angehängt an den PPP-Stamm von Verben, bezeichnet ein Verlangen. Man spricht daher auch von „Verba desiderativa“ (von desiderare ‚wünschen’). Vgl. z.B. edĕre ‚essen’, PPP esum => esurire ‚essen wollen, hungern’; parĕre ‚gebären’, PPP partum => parturire ‚gebären wollen’. Zu allen o.g. verbalen Bildungsmustern ist zu sagen, dass es sich strenggenommen um Infix-Bildungen handelt, auch wenn sie in den Grammatiken meist unter den Suffix-Ableitungen aufgeführt werden. Dass es sich tatsächlich um Infixe handelt, sieht man daran, dass am Ende des Wortes jeweils die übliche Infinitivendung -re verbleibt. Wie bei Infixen üblich werden -ta-/ -sa-, -scĕ- und -urialso zwischen Stamm und Endung eingefügt. für Adverbien: • -ē wird zur Adverbbildung an den Stamm von Adjektiven der o-/ a- Deklination gehängt (zu den Deklinationsklassen vgl. S.138ff). Diese Form ist also dann nicht mehr weiter veränderlich. Vgl. vir doctus (‚ein gelehrter Mann’) und mulier docta (‚eine gelehrte Frau’) => doctē loqui (‚gelehrt sprechen’). Gelegentlich führt die Adverbendung auch zu Ablautphänomenen im Wortstamm, vgl. z.B. bonus ‚gut’ => bene (z.B. in der Komposition benedicere ‚segnen’, die uns im Eigennamen Benedikt erhalten ist). • -iter wird zur Adverbbildung an den Wortstock von Adjektiven der 3. Deklination gehängt: z.B. celer ‚schnell’ => celeriter ‚schnell’. Adjektive mit Stämmen auf -nthängen nur -er an: sapiens, sapientis (Gen.) ‚weise’ (vgl. Homo Sapiens) => sapienter (‚weise’). <?page no="102"?> Morphologie und Wortbildung 102 Die beiden Muster zur Bildung von Adverbien unterscheiden sich semantisch nicht. In den romanischen Sprachen haben sie sich bis auf Einzelfälle wie lat. bene (> it. bene, sp. bien, frz. bien, port. bem, kat. bé/ ben, rum. bine) allerdings kaum erhalten, weil sie im Vulgärlatein (s.u.) von einem anderen Adverbbildungsmuster abgelöst wurden. 4.2.3 Kompositionen Das Lateinische ist, anders als das Deutsche und Altgriechische, relativ arm an nominalen Komposita, aber reich an verbalen Komposita (man unterscheidet jeweils zwischen dem zusammengesetzten „Verbum Kompositum“ und seinem „Verbum simplex“, also dem einfachen Verb). Aufgrund dieses Mangels haben die romanischen Sprachen für Nominalkompositionen ein neues Muster entwickelt, bei dem eine Präposition zu Hilfe genommen wird, um die Bestandteile einer Zusammensetzung zu verknüpfen, vgl. dt. Schreibmaschine vs. frz. machine à écrire, sp. máquina de escribir, it. macchina da scrivere. In den genannten romanischen Kompositionen steht das bestimmte Grundwort (sog. „Determinatum“; PPP von determinare ‚bestimmen’), also das Wort, das den Ausschlag für die Wortklasse gibt, an erster Stelle, das Bestimmungswort („Determinans“, PPA ‚bestimmend’) an zweiter Stelle. Im Lateinischen ist es genau umgekehrt: Wie im Deutschen steht also das Determinans vor dem Determinatum: 9 vgl. aedes (‚Gebäude’) + facĕre (‚machen’) => aedificare ‚bauen’ ars (‚Kunst’, Akk. artem) + fex (‚Macher’) 10 => artifex ‚Künstler’ Man unterscheidet weiterhin zwischen „echter Zusammensetzung“, bei der die beiden Glieder an der Fuge durch phonetische Veränderung so stark miteinander verschmolzen sind, dass sie selbständig nicht mehr stehen könnten (s.o. aedificare und artifex), und „Zusammenrückung“, bei der häufig im Verbund auftretende Morpheme als zusammengehörig empfunden (z.B. res publica ‚öffentliche Sache’ > ‚Staat’) und teilweise auch zusammengeschrieben werden (z.B. satisfacĕre ‚befriedigen’ < satis + facĕre ‚genug machen’). Alle Arten von lateinischen Zusammensetzungen können grundsätzlich in den romanischen Sprachen erhalten sein, vgl. frz. édifier/ république/ satisfaire, sp. edificar/ república/ satisfacer, it. edificare/ repubblica/ soddisfare, auch wenn die Tendenz bei den Verbalkomposita in eine andere Richtung geht (s.o.) Im Folgenden wird aber auf die Auflistung romanischer Fortsetzer verzichtet, um die Liste nicht unübersichtlich werden zu lassen. 9 Vgl. dt. Schuhmacher, Häuslebauer. Bei den deutschen Verben ist durch einige Neuerungen der teilweise wieder zurückgenommenen Rechtschreibreform der Kompositionscharakter etwas weniger deutlich geworden: vgl. Eis laufen (statt eislaufen), Rad fahren (statt radfahren) etc. 10 Bei fex handelt es sich um ein gebundenes, vom Verbalstamm fac-ĕre hergeleitetes Nominalmorphem, das immer nachgestellt ist. Aufgrund seiner Herkunft und seines vollen eigenen Bedeutungsgehalts gilt es nicht als Suffix. <?page no="103"?> Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung 103 Die wichtigsten Zusammensetzungsmuster sind: für Nomina composita • Nomen + substantivierter Verbalstamm, z.B. agricola ‚Bauer’ (aus ager ‚Acker’ + colĕre ‚pflegen, bebauen’), iudex ‚Richter’ (aus ius ‚Recht’ + dicĕre ‚sprechen, sagen’), artifex (s.o.). • Nomen + Nomen, z.B. miseri-cors ‚barmherzig’ (aus miser ‚elend’ + cor ‚Herz’), magnanimus ‚hochherzig’ (aus magnus ‚groß’ + animus ‚Geist’) • Präposition/ Partikel 11 + Nomen, z.B. per ‚durch’ und prae ‚vor’ mit verstärkender Bedeutung: permagnus ‚sehr groß’, praeclarus ‚sehr berühmt’; sub ‚unter’ mit abschwächender Bedeutung, z.B. subobscurus ‚etwas dunkel’ (vgl. dt. suboptimal); a ‚von’, de ‚von’, dis- ‚auseinander’, ne ‚nicht’, in- 12 ‚un-’ und se- (von sed ‚aber’) mit verneinender Bedeutung, z.B. demens (mens = ‚Verstand’): ‚verrückt’, dissimilis (similis = ähnlich): ‚unähnlich’, impotens (potens = ‚mächtig’): ‚schwach’, securus (cura = ‚Sorge’): ‚sorglos’, nescius (Adjektivableitung von scire = ‚wissen’): ‚unwissend’ für Verba composita • Nomen + Verb, z.B. navigare ‚segeln, zur See fahren’ (aus navis ‚Schiff’ + agĕre ‚treiben’), aedificare ‚bauen’ (s.o.) • Verb + Verb (immer facĕre), z.B. patefacĕre ‚öffnen’ (aus patēre ‚offen stehen’ + facere ‚machen’), liquefacĕre ‚flüssig machen’ (aus liquēre ‚flüssig sein’ + facĕre) • Adverb + Verb, z.B. maledicĕre ‚lästern’ (male ‚schlecht’ + dicĕre ‚reden’), satisfacĕre ‚befriedigen’ (aus satis ‚genug’ + facĕre) • untrennbare Partikel (also gebundenes Morphem bzw. reines Präfix) + Verb; in all diesen Fällen müsste man linguistisch präziser von Derivationen sprechen - die lateinische Grammatiktradition tut dies aber nicht: amb-/ am-/ anmit der Bedeutung ‚herum-’ (vom Adj. ambo ‚beide’ > ‚auf beiden Seiten’): ambire ‚herumgehen’ (von ire ‚gehen’), amputare ‚ringsum beschneiden’ (von putare ‚beschneiden, ordnen, vermuten’) dis-/ dir-/ dimit der Bedeutung ‚auseinander-, miss-, zer-’, z.B. dirumpĕre ‚zerreißen’ (von rumpĕre ‚brechen’), displicēre ‚missfallen’ (von placēre ‚gefallen’) 11 Die meisten der hier aufgeführten Partikeln sind Präpositionen, können also auch frei stehen. Einige Partikeln treten aber nur in gebundener Form auf, sind also reine Affixe und daher durch Bindestrich markiert, z.B. dis- und se- (nicht zu verwechseln mit der Pronominalform se). Streng linguistisch gesehen handelt es sich hierbei also um Derivationen. 12 Man spricht hier auch vom „in privativum“. Es hat also nichts mit der Präposition in zu tun. <?page no="104"?> Morphologie und Wortbildung 104 i(n)-/ ne(c)mit der Bedeutung ‚nicht’, z.B. ignorare ‚nicht kennen’ (verwandt mit gnarus ‚kundig’ und narrare ‚erzählen’), nescire ‚nicht wissen’ (von scire ‚wissen’), neglegĕre ‚nicht achten’ (von legĕre ‚lesen’) re(d)mit der Bedeutung ‚zurück-, wieder-, wider-’, z.B. redire ‚zurückkehren’ (von ire ‚gehen’), repetĕre ‚wiederholen’ (von petĕre ‚erstreben’), repugnare ‚widerstreben’ (von pugnare ‚kämpfen’) se(d)mit der Bedeutung ‚beiseite, weg’, z.B. secedĕre ‚sich entfernen’ (von cedere ‚gehen’) - vgl. dt. Sezessionskrieg -, separare ‚absondern’ (von parare ‚bereiten’) • Präposition (also freies Morphem) + Verb: Dieses Muster ist bei weitem am häufigsten. Es lohnt daher die Mühe, sich die entsprechenden Präpositionen einzuprägen, zumal sie durchweg Fortsetzer in den romanischen Sprachen aufweisen. Wie produktiv dieses Bildungsmuster ist, zeigt exemplarisch die Wortfamilie esse ‚sein’: ab-esse ‚abwesend sein’, ad-esse ‚anwesend sein, helfen’, de-esse ‚weg sein, fehlen’, inter-esse ‚dazwischen sein, teilnehmen’, ob-esse ‚schaden’, prae-esse ‚an der Spitze stehen’, pro-d-esse ‚nützen’, superesse ‚übrig sein’. Die in der folgenden Tabelle aufgeführten Präpositionen sind für die Verbalkomposition wichtig. Gelegentlich machen sie bei der Komposition, bei der sie ja zum Präfix werden, eine kleine phonetische Veränderung durch, meist im Sinne einer Assimilation (s.o.). Manchmal führt die Komposition auch zu semantischen Veränderungen, v.a. im Sinne einer Verstärkung (Gliederung nach Throm 1995: 106f). Wie im Deutschen werden bestimmte Präpositionen mit bestimmten Kasus verknüpft. Diejenigen Präpositionen, die mit dem Kasus Ablativ stehen, sind unterstrichen (aus dieser Gruppe fehlt lediglich sine ‚ohne’ - vgl. sp. sin, da es keine Komposita mit Verben bildet). Gestrichelt markiert sind Präpositionen, die mit Ablativ (zur Angabe des Orts, z.B. in silvā ‚im Wald’) oder mit Akkusativ (zur Angabe der Richtung, z.B. in silvam ‚in den Wald’) konstruiert werden können. Alle anderen Präpositionen stehen nur mit Akkusativ: <?page no="105"?> Wortklassen, Flexionsprinzipien, Bausteine der Wortbildung 105 Präpos. Bedeutung als Präpos. Bedeutung als Präfix Bsp.kompositum mit Bedeutung Bsp.simplex mit Bed. roman. Fortsetzer/ dt.Fremdwort a, ab, abs von ab-, wegabscedĕre ‚weggehen’ cedĕre ‚gehen’ dt. Abszess ad an, zu, bei heran-, hinzuaccedĕre ‚hinzutreten’ cedĕre ‚gehen’ frz. accéder sp. acceder ante vor vor(an)-, vorausantecedĕre ‚vorausgehen, übertreffen’ cedĕre ‚gehen’ sp. anteceder it. antecedere frz. antécédé circum um…herum um(her)circumstare ‚um …herum stehen’ stare ‚stehen’ frz. circonstance cum mit zusammencomponĕre ‚zusammenstellen’ ponĕre ‚stellen’ dt. komponieren de herab, über herab-, wegdescendĕre ‚herabsteigen’ demonstrare ‚deutlich zeigen’ scandĕre ‚steigen’ monstrare ‚zeigen’ it. discendere sp. descender frz. démontrer e, ex aus, heraus herausexire ‚herausgehen’ ire ‚gehen’ sp. éxito engl. exit in in, auf, nach hinein-, aufimponĕre ‚auferlegen’ ponĕre ‚stellen, legen’ it. imporre frz. imposer inter unter, zwischen (da)zwischen unter intercedĕre ‚dazwischentreten’ cedĕre ‚gehen’ sp. interceder it. intercedere ob entgegen, wegen entgegen-, gegenüberobstare ‚entgegenstehen’ stare ‚stehen’ sp. obstar frz. obstacle per (hin)durch durch-, völligpervenire ‚ans Ziel gelangen’ venire ‚kommen’ it. pervenire post nach nach-, hintanpostponĕre ‚hintanstellen’ ponĕre ‚stellen’ frz. postposition prae vor vor(an)-, voraus praedicĕre ‚voraussagen’ dicĕre ‚sagen’ frz. prédire it. predire praeter vorbei an, außer vorbei-, vorüberpraeterire ‚vorbeigehen’ ire ‚gehen’ sp. pretérito it. preterito pro vor, für hervor-, fort-, fürproducĕre ‚vorführen’ ducĕre ‚führen’ sp. producir dt. Produkt sub unter (da)runter-, zu Hilfesublevare ‚von unten hochheben’ levare ‚heben’ sp. sublevar frz. soulever super über über-, übrigsuperfluĕre ‚überfließen’ fluĕre ‚fließen’ it. superfluo frz. superflu trans jenseits, hinüber (hin)übertransferre ‚übertragen’ ferre ‚tragen’ dt. Transfer, sp. transferir Abb. 24: Lateinische Präpositionen und hiervon gebildete Verba composita 13 13 Aus Platzgründen können in der Spalte „roman. Fortsetzer/ Fremdwort“ immer nur ein oder zwei exemplarische Belege aufgeführt werden. Diese Fortsetzungen sind z.T. nur indirekter Natur, setzen also noch Zwischenschritte voraus. <?page no="106"?> Morphologie und Wortbildung 106 4.3 Nominalmorphologie des Klassischen Lateins Jedes lateinische Nomen lässt sich nach Genus, Kasus und Numerus bestimmen. Welche Form diese Bestimmungsstücke im Einzelfall haben, ist in den verschiedenen Deklinationsklassen festgelegt. 4.3.1 Genus, Kasus, Numerus Genus: Das Lateinische unterscheidet wie das Deutsche drei Genera: Maskulinum (‚männlich’, abgekürzt „m“), Femininum (‚weiblich’, abgek. „f“) und Neutrum (‚keines von beiden’, abgek. „n“). Die Substantive haben ein festes Geschlecht, das entweder natürlich oder grammatisch bestimmt ist. Die Adjektive, Pronomina und ein Teil der Numeralia richten sich im Geschlecht (und auch in Kasus und Numerus) nach dem Substantiv, auf das sie sich beziehen. Dem natürlichen Geschlecht nach sind männliche Personen (z.B. pater ‚Vater’), Flüsse (z.B. Rhenus ‚Rhein’) und Winde (z.B. Auster ‚Ostwind’) Maskulina. Weibliche Personen (z.B. mater ‚Mutter’) und Bäume (z.B. pinus ‚Kiefer’) sind Feminina. Das grammatische Geschlecht richtet sich nach der Deklinationsklasse. Substantive auf -us (o-Deklination) sind zumeist Maskulina, Substantive auf -a (a-Deklination) Feminina. Undeklinierbare Substantive gelten als Neutra (z.B. nefas ‚Unrecht’). Natürliches und grammatisches Geschlecht fallen immer zusammen bei bestimmten Wortbildungsmustern wie z.B. -tor (für eine tätige männliche Person) und -trix (für eine tätige weibliche Person): victor (‚Sieger) vs. victrix (‚Siegerin’), jeweils abgeleitet vom Partizip Perfekt victum (von vincĕre - ‚siegen’). Wenn natürliches und grammatisches Geschlecht einander entgegenstehen, dann ist das natürliche Geschlecht maßgebend. Nach ihm richten sich auch evtl. hinzukommende Attribute, vgl. z.B. poeta clarus (‚der berühmte Dichter’), mālus fructuosa (‚der fruchtbare Apfelbaum’). Wenn sich ein Attribut auf feminine und maskuline Substantive zugleich bezieht, dann richtet es sich nach dem Maskulinum (z.B. pueri puellaeque laeti ‚fröhliche Jungen und Mädchen’) - eine politische Unkorrektheit, die sich in den romanischen Sprachen erhalten hat. Kasus: Im Lateinischen werden 6 verschiedene Kasus (‚Fälle’) unterschieden: <?page no="107"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 107 Kasus steht auf die Frage lat. Bspl. dt. Übersetzg. 1. Nominativ wer? was? pater der Vater 2. Genitiv wessen? patris des Vaters 3. Dativ wem? patri dem Vater 4. Akkusativ wen? was? patrem den Vater 5. Vokativ (Anredefall) pater 14 Vater 6. Ablativ womit? wodurch? wovon? wann? verglichen mit wem? patre mit dem Vater 15 vom Vater im Vergleich zum Vater Abb. 25: Übersicht Kasus Die genaue Verwendung der verschiedenen Kasus wird im Syntax-Kapitel abgehandelt. Die nicht-nominativischen Kasus werden auch als „oblique“ Kasus bezeichnet (von obliquus ‚schief’). Die Unterscheidung zwischen Nominativ und den obliquen Kasus ist zum einen wichtig, weil nur der Nominativ Subjektsfunktion haben kann, und zum anderen, weil sich später für die obliquen Kasus eine gemeinsame Kasusform herausgebildet hat (vgl. Kap.4.4.1). Im Wörterbuch wird neben der Nominativform und dem Genus immer auch die Genitivform (bzw. die entsprechende Endung) mit angegeben, damit man weiß, nach welcher Deklinationsklasse das jeweilige Substantiv flektiert wird. Man spricht hierbei auch von den „Stammformen“. Numerus: Wie das Deutsche unterscheidet das Lateinische Singular (numerus singularis = ‚Einzahl’) und Plural (numerus pluralis = ‚Mehrzahl’). Einige Substantive kommen allerdings nur im Plural vor und werden entsprechend als pluralia tantum (‚nur Plural’) bezeichnet: z.B. arma, armorum, n. (,Waffen’); divitiae, divitiarum, f (‚Reichtum’). Gelegentlich erhält der Plural Sonderbedeutungen, die sich von der Bedeutung der Mehrzahl des Singularwortes deutlich unterscheiden: z.B. littera, -ae, f (‚Buchstabe’) vs. litterae, -rum, f (‚Buchstaben’/ ‚Brief’/ ‚Literatur’/ ‚Wissenschaft’). Diese Sonderbedeutungen haben sich teilweise bis in die romanischen Sprachen erhalten, vgl. it. lettere, frz. lettres, sp. letras (‚Geisteswissenschaften’). In der Deklination der Zahlwörter duo (‚zwei’) und ambo (‚beide) sind auch noch Reste eines alten indogermanischen Duals, also einer eigenen Numeruskategorie für Substantive in der Zweizahl, zu finden. 14 Eine eigene Form für den Vokativ gibt es nur im Singular der o-Deklination (z.B. Marce für Marcus. Nomina auf -eius, -eus,-ius lauten im Vokativ auf -ī aus, z.B. Horatī für Horatius. Vgl. die angeblich letzten Worte Caesars bei seiner Ermordung: „Tu quoque Brute, mi fili? “ ‚Auch du, mein Sohn Brutus? ’). 15 Bei Personen steht für diesen Bedeutungsgehalt in der Regel nicht der reine Ablativ, sondern der Ablativ mit der Präposition cum (‚mit’). <?page no="108"?> Morphologie und Wortbildung 108 4.3.2 Die Deklinationen (Substantive und Adjektive) Da die Deklination der Substantive und Adjektive weitgehend in den gleichen Deklinationsklassen stattfindet, kann sie zusammengefasst behandelt werden. Pronomina und Numeralia folgen in den nächsten Unterkapiteln. Zuordnung der Deklinationsklassen Welcher Deklination ein Substantiv oder Adjektiv angehört, erkennt man am Stammauslaut (auch „Kennlaut“ genannt) - nach diesen Auslauten sind die Deklinationen benannt. Am zuverlässigsten lässt sich der Stammauslaut über die Form des Gen.Pl. bestimmen. Streicht man die Genitiv-Endung -(r)um ab, dann bleibt der Stamm übrig, der auf den Stammauslaut endet: z.B. femina-rum (Gen.Pl.: ‚der Frauen’) => Stamm femina-, Stammauslaut -a-; viro-rum (Gen.Pl.: ‚der Männer’) => Stamm: viro-, Stammauslaut -o-. Zur Bildung der verschiedenen Kasusformen benötigt man auch den Wortstock, da einige Endungen direkt an den Stock gehängt werden, ohne dass der Stammauslaut dazwischentritt. Dieser Wortstock kann sehr leicht über den Gen.Sg. durch Abzug der entsprechenden Endung ermittelt werden, weshalb diese Form zusammen mit dem Genus in Wörterbüchern als Lernform zusätzlich zum Nom.Sg. mit angegeben ist; z.B. Gen.Sg. femin-ae => Wortstock femin-; vir-i => Wortstock: vir-. Erst durch die Kenntnis der Form von Gen.Sg. und Gen.Pl. kann man beispielsweise feststellen, dass in der e-Dekl. und in der konsonantischen Dekl. der Stammauslaut mit dem Auslaut des Wortstocks zusammenfällt (z.B. für die e-Dekl. res ‚Sache’: Gen.Sg. re-i, Gen.Pl. re-rum; für die kons.Dekl. homo ‚Mensch’: Gen.Sg. homin-is, Gen.Pl. homin-um). In der folgenden Tabelle ist aufgeführt, welche Stammauslaute (fett gedruckt) bzw. Deklinationsklassen unterschieden werden können. Lange Vokale sind nur dort markiert, wo sie bedeutungsdifferenzierend sind. Auf diese Weise sieht man, welche Quantitäten man sich einprägen muss und welche zweitrangig sind. Nom.Sg. und Lernform Bedeutung Gen.Sg. u. Wortstock Gen.Pl. u. Wortstamm Kennlaut Deklinationsklasse flamma, ae, f Flamme flamm-ae flamma-rum a a-Dekl. (1.) lupus, i, m Wolf lup-i lupo-rum o o-Dekl. (2.) passus, ūs, m Schritt pass-ūs passu-um u u-Dekl. (4.) dies, ei, m Tag die-i die-rum e e-Dekl. (5.) turris, is, m Turm turr-is turri-um i i-Dekl. (3.) rex, regis, m König reg-is reg-um (g) 16 kons. Dekl. (3.) classis, is, f Flotte class-is classi-um i gemischte D. (3.) Abb. 26: Übersicht Deklinationsklassen Zur Bezeichnung der Deklinationsklassen ist zu sagen, dass die alte Durchnummerierung (1., 2., 3. Dekl. etc.) mehr und mehr aus der Mode kommt. Es ist 16 Der Kennlaut ist hier eingeklammert, weil auch andere Konsonanten als Kennlaut dieser Deklinationsklasse auftreten können - entscheidend ist, dass es sich um Konsonanten und nicht um Vokale handelt. <?page no="109"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 109 sicher hilfreicher, sich die Deklinationen über den Stammauslaut einzuprägen als über eine willkürliche Nummerierung. In der Darstellung der Deklinationsklassen (Formenparadigmen) ist es zudem am sinnvollsten, die u-Deklination gleich nach der o-Deklination (also die 4. nach der 2.) zu präsentieren, da es zwischen beiden Klassen zahlreiche Überschneidungen gibt und die wenigen Unterschiede in räumlicher Nachbarschaft besser deutlich werden. Ähnliches gilt für die e-Dekl. und die 3. Deklination. Lediglich bei letztgenannter Sammelklasse, die wegen zahlreicher formaler Übereinstimmungen die i-Dekl., die kons.Dekl. und die sog. „gemischte Dekl.“ zusammenfasst, hat sich die Nummerierung in der Namensgebung mangels Alternative nennenswert halten können. Die a-Deklination (oder 1. Dekl.) (Systematik nach Stock 2005) Beispiel: flamma, ae, f ‚Flamme’ (Wortstock flamm-, Stamm flamma-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. flamm-a die/ eine Flamme flamm-ae die Flammen a ae Gen. flamm-ae der Flamme flamm-ārum der Flammen ae ārum Dat. flamm-ae der Flamme flamm-īs den Flammen ae īs Akk. flamm-am die Flamme flamm-ās die Flammen am ās Abl. flamm-ā durch die Flamme flamm-īs durch die Flammen ā īs Vok. flamm-a (o) Flamme flamm-ae (ihr) Flammen Zu allen Deklinationstabellen ist anzumerken, dass man bei jedem lateinischen Substantiv aus dem Kontext heraus entscheiden muss, ob man es deutsch mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel wiedergibt. Der Vokativ ist in allen Deklinationsklassen außer der o-Dekl. (und diese Abweichung gilt auch dort nur für die Maskulina auf -us) formal identisch mit dem Nominativ. Deshalb wird er in den rechten beiden Spalten, die eine Art Lernübersicht darstellen sollen, nicht eigens aufgeführt. Für alle Deklinationen gilt weiterhin, dass Dat.Pl. und Abl.Pl. immer formgleich sind. Zur Graphie der Formen: Die Längen werden in den Tabellen nur bei den Endungen eigens markiert, nicht aber bei den Diphthongen, weil die ohnehin immer als lang gelten. In lateinischen Texten wird auf die Darstellung der Quantitäten i.Allg. verzichtet. Substantive der a-Dekl. sind üblicherweise Feminina. Natürliches Geschlecht haben aber z.B. die Maskulina agricola, ae, m ‚Bauer’, incola, ae, m ‚Einwohner’, poeta, ae, m ‚Dichter’ und nauta, ae, m ‚Seefahrer’. Neutra gibt es in dieser Deklinationsklasse nicht. Zu beachten ist in der a-Dekl. weiterhin die Formgleichheit von Gen.Sg., Dat.Sg. und Nom./ Vok.Pl. sowie die Tatsache, dass sich Nom.Sg. und Abl.Sg. nur durch die Quantität des Auslauts unterscheiden. Die o-Deklination (oder 2. Dekl.) Anders als bei der a-Dekl. sind in der o-Dekl. Maskulina und Neutra in ihrem Formenparadigma zu unterscheiden. Diese Unterschiede betreffen aber nur den Nominativ und Akkusativ. So sind beim Neutrum der Nominativ und Akkusativ immer formgleich, im Neutrum Plural lauten Nom. und Akk. in allen Deklinationsklassen auf -a. Bei den Nominativen der o-Dekl. sind außerdem unterschied- <?page no="110"?> Morphologie und Wortbildung 110 liche Wortausgänge zu beachten. Allen Paradigmen ist gemeinsam, daß der Dat.Sg. mit dem Abl.Sg. formgleich ist (-ō), ebenso wie der Dat.Pl. mit dem Abl.Pl. (-īs). Maskulina auf -us: Beispiel: lupus, i, m ‚Wolf’ (Wortstock lup-, Stamm lupo-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. lup-us der/ ein Wolf lup-ī die Wölfe us ī Gen. lup-ī des Wolfs lup-ōrum der Wölfe ī ōrum Dat. lup-ō dem Wolf lup-īs den Wölfen ō īs Akk. lup-um den Wolf lup-ōs die Wölfe um ōs Abl. lup-ō durch den Wolf lup-īs durch die Wölfe ō īs Vok. lup-e (o) Wolf lup-ī (ihr) Wölfe Nur bei diesen Wörtern gibt es im Singular eine eigene Vokativform, nämlich -e. Bei Substantiven auf -ius lautet der Vokativ abweichend auf - ī, also z.B. Lucius => Lucī. Neutra auf -um: Beispiel: donum, i, n ‚Geschenk’ (Wortstock don-, Stamm dono-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. don-um das/ ein Geschenk don-a die Geschenke um a Gen. don-ī des Geschenks don-ōrum der Geschenke ī ōrum Dat. don-ō dem Geschenk don-īs den Geschenken ō īs Akk. don-um das Geschenk don-a die Geschenke um a Abl. don-ō durch das Geschenk don-īs durch die Geschenke ō īs Vok. don-um (o) Geschenk don-a (ihr) Geschenke Es gibt einige wenige Neutra auf -us, die nach der o-Dekl. flektiert werden: z.B. vulgus, i, n ‚Volk’ und virus, i, n ‚Schleim, Gift’ (deshalb heißt es im Deutschen korrekt „das Virus“). Hier lautet dann auch der Akk.Sg. auf -us. Alle anderen Formen entsprechen denen der Neutra auf -um. Achtung: Daneben existieren Neutra auf -us, die nach der kons.Dekl. dekliniert werden - erkennbar ist dies an der Lernform, d.h. am Gen.Sg. (z.B. corpus, oris, n ‚Körper’; tempus, oris, n ‚Zeit’). Maskulina auf -er: Beispiel: puer, i, m ‚Junge’ (Wortstock puer-, Stamm puero-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. puer der/ ein Junge puer-ī die Jungen ī Gen. puer-ī des Jungen puer-ōrum der Jungen ī ōrum Dat. puer-ō dem Jungen puer-īs den Jungen ō īs Akk. puer-um den Jungen puer-ōs die Jungen um ōs Abl. a puer-ō von dem Jungen a puer-īs von den Jungen ō īs Vok. puer (o) Junge puer-ī (ihr) Jungen Bei einigen Maskulina auf -er ist das e nur im Nom./ Vok.Sg. vorhanden, gehört also nicht zum Wortstock, z.B. ager, agri, m ‚Acker’ (Stock agr-, Stamm agro-). Die Endungen sind aber identisch. Auch das gesellschaftsbedingt sehr häufige Substantiv vir, viri, m ‚Mann’ wird nach der o-Dekl. flektiert. <?page no="111"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 111 Zur Form des Ablativs ist generell zu sagen, dass Personen im Lateinischen selten mit dem reinen Ablativ stehen, sondern eher mit Präposition + Ablativ. Der bisher für die Darstellung gewählten instrumentalen Version des Ablativs (z.B. donō - ‚durch ein Geschenk’) entspricht bei Personen die Präposition a (‚von, durch’). Grundsätzlich sind Substantive der o-Dekl. auf -us und -er Maskulina, die auf -um Neutra. Ausnahmen sind Länder (z.B. Aegyptus, i, f ‚Ägypten’), Inseln (z.B. Rhodus, i, f ‚Rhodos’), Städte (Corinthus, i, f ‚Korinth’) und Bäume (z.B. fagus, i, f ‚Buche’) sowie das Wort humus, i, f ‚Erdboden’, die durchweg feminin sind, sowie die bereits angesprochenen Neutra vulgus und virus (s.o.). Adjektive der -o/ -a-Deklination Lateinische Adjektive werden in Kasus, Numerus und Genus grundsätzlich an ihre Bezugswörter angepasst. Eine große Gruppe von Adjektiven richtet sich dabei im Maskulinum und Neutrum nach der o-Dekl., im Femininum jedoch nach der a-Dekl. Diese Adjektive werden im Wörterbuch mit den drei Endungen -us, -a, -um (für Mask., Fem., Neutrum, immer in dieser Reihenfolge) angegeben. Häufig findet man zur Markierung dieser sog. „dreiendigen“ Adjektive im Wörterbuch auch einfach die Zahl „3“ (z.B. bonus, 3). Ihre Deklination folgt dem Muster der entsprechenden Substantive. Vgl. die Tabelle zum Beispiel bonus, -a, um (Wortstock bon-): Singular Plural mask. fem. neutr. mask. fem. neutr. Nom. bonus bona bonum Nom. bonī bonae bona Gen. bonī bonae bonī Gen. bonōrum bonārum bonōrum Dat. bonō bonae bonō Dat. bonīs bonīs bonīs Akk. bonum bonam bonum Akk. bonos bonas bona Abl. bonō bonā bonō Abl. bonīs bonīs bonīs Vok. bone bona bonum Vok. bonī bonae bona Analog zu den Substantiven gibt es auch bei den Adjektiven eine deutlich kleinere Gruppe, die im Nom.Sg.Mask. auf -er auslautet. Nur diese eine Form unterscheidet sich von der Deklination der Adjektive auf -us/ -a/ -um. Zu beachten ist wieder, dass es dabei Adjektive gibt, bei denen das -e- Teil des Wortstocks ist, also bei der Deklination erhalten bleibt (z.B. liber, libera, liberum ‚frei’ und miser, misera, miserum ‚elend’), und Adjektive, bei denen dieses -enur im Nom.Sg.Mask. auftritt: z.B. pulcher, pulchra, pulchrum ‚schön’. Die u-Deklination Die u-Deklination betrifft ausschließlich Substantive, und zwar in deutlich geringerer Anzahl als die formal sehr ähnliche o-Deklination. Ob ein Wort zur o- oder zur u-Dekl. gehört, erkennt man an der im Wörterbuch angegebenen Genitiv-Endung. Zu unterscheiden sind zum einen Substantive auf -us (mask. oder fem.), zum anderen Substantive auf -u (immer neutrum). <?page no="112"?> Morphologie und Wortbildung 112 Beispiel: passus, ūs, m ‚Schritt’ (Wortstock pass-, Stamm passu-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. pass-us der/ ein Schritt pass-ūs die Schritte us ūs Gen. pass-ūs des Schrittes pass-uum der Schritte ūs uum Dat. pass-ui dem Schritt pass-ibus den Schritten ūi ibus Akk. pass-um den Schritt pass-ūs die Schritte um ūs Abl. pass-ū durch den Schritt pass-ibus durch die Schritte ū ibus Vok. pass-us (o) Schritt pass-ūs (ihr) Schritte Die Mehrzahl der Substantive auf -us sind auch bei der u-Deklination Maskulina. Die wenigen Feminina auf -us kann man sich merken, und das lohnt sich auch, denn sie sind hochfrequent oder zumindest kulturell bedeutsam: domus, ūs, f 17 ‚Haus’ vgl. frz. le domicile, sp. el domicilio, it. il domicilio manus, ūs, f ‚Hand, Schar’ > frz. la main, sp. la mano, it. la mano tribus, ūs, f ‚Bezirk’ > frz. la tribu, sp. la tribu, it. la tribù (‚Volksstamm’) porticus, ūs, f ‚Säulenhalle’ > frz. le portique, sp. el pórtico, it. il portico quercus, ūs, f ‚Eiche’ > it. la quercia acus, ūs, f ‚Nadel’ > it. l’ago (m), vgl. auch verwandtes frz. aiguille und sp. aguja (beide vom vulg.lat. Deminutiv acucula) Idūs, -uum, f Pl ‚die Iden’ vgl. Idūs Martiae: ‚die Iden des März’ (= 15.März, Tag der Ermordung Caesars) Bei manus und tribus hat sich also das ungewöhnliche Femininum bis in die romanischen Sprachen erhalten. Domus wurde durch das Neutrumwort domicilium verdrängt, von dem sich die romanischen Entsprechungen herleiten. Ähnlich selten wie die Feminina sind die Neutra der u-Dekl: Beispiel: cornu, ūs, n ‚Horn’ (Wortstock corn-, Stamm cornu-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. corn-ū das/ ein Horn corn-ua die Hörner ū ua Gen. corn-ūs des Horns corn-uum der Hörner ūs uum Dat. corn-ui (ū) dem Horn corn-ibus den Hörnern ūi/ ū ibus Akk. cornū das Horn corn-ūa die Hörner um ua Abl. corn-ū durch das Horn corn-ibus durch die Hörner ū ibus Vok. corn-ū (o) Horn corn-ua (ihr) Hörner Die altlateinische Dat.Sg.-Endung -ui wird seit klassischer Zeit zunehmend durch ū ersetzt. Die e-Deklination Auch die e-Deklination betrifft nur Substantive. Diese sind in der Regel Feminina, die einzigen Maskulina sind dies, diei, m ‚Tag’ (sp. día stammt von der vulgärlateinischen Variante *dia, ae, m ab) und das damit verwandte Kompositum meridies (‚Mittag’ und metonymisch: ‚Süden’). 18 17 Zu domus gibt es einige Sonderformen: z.B. domī ‚zu Hause’; domum ‚nach Hause’, domō ‚von Hause’. Der Ablativ Singular (domō )und der Akk.Pl. (domōs) gehen meist nach der o-Dekl. 18 Es liegt auf der Hand, eine Verwandtschaft zu frz. midi, sp. mediodía und it. mezzogiorno zu vermuten. Diese ist aber nur entfernt und eher semantischer als phonetischer Natur: Grundsätzlich ist nicht einmal klar, ob meridies sich aus den Komponenten merus (‚rein’) und <?page no="113"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 113 Beispiel: rēs, rēī, f ‚Sache’ (Wortstock r-, Stamm rē-) Ausgänge Kasus Singular Plural Sing. Plur. Nom. r-ēs die/ eine Sache r-ēs die Sachen ēs ēs Gen. r-ēī der Sache r-ērum der Sachen ēī ērum Dat. r-ēī der Sache r-ēbus den Sachen ēī ēbus Akk. r-em die Sache r-ēs die Sachen em ēs Abl. r-ē durch die Sache r-ēbus durch die Sachen ē ēbus Vok. r-ēs (o) Sache r-ēs (ihr) Sachen Die Sammelgruppe der 3. Deklination: Wie schon angedeutet, werden in der Kategorie „3. Deklination“ drei Deklinationsklassen zusammengefasst, die untereinander relativ große Überschneidungen aufweisen: die konsonantische, die i- und die gemischte Deklination. Bei diesen Deklinationsklassen gibt es die meisten Unregelmäßigkeiten, weshalb hier nur die wichtigsten Deklinationsmuster herausgegriffen werden. Die konsonantische Deklination Zur konsonantischen Deklination gehören alle Substantive, deren Stamm auf einen Konsonanten endet. Wortstock und Stamm sind hier identisch. Der Nominativ hat keine Endung, die man sich eigens merken müsste, 19 und unterscheidet sich zumeist relativ deutlich von den anderen Kasus, die allesamt vom Wortstock abgeleitet werden. Am Nominativ erkennt man den Wortstock also nicht immer. Daher wird im Wörterbuch zumeist auch ein Stück vom Stock zusammen mit dem Genitivausgang angegeben. Vergleichen Sie die Beispiele labor, -oris, m (‚Arbeit’, Stock/ Stamm: labor-), natio, -onis, f (‚Volk’, Stock/ Stamm: nation-), flumen, -inis, n (‚Fluss’, Stock/ Stamm/ : flumin-) und corpus, -oris, n (‚Körper’, Stock/ Stamm: corpor-) - Systematik nach Throm (1995: 24). Bitte beachten - im Neutrum sind Nom. und Akk. wie immer identisch: dies zusammensetzt oder ob es auf eine dem Urindogermanischen nahestehende Form *mediei-die zurückgeht, die mit lat. medius verwandt ist und ‚mitten am Tag’ bedeutet. Nur im letzteren Falle könnte man die it. und die sp. Form als eine Art Lehnübersetzung mit eigenen Mitteln bezeichnen, die teils aus dem klassischen Latein (medius, 3 ‚mittel’ > sp. medio, it. mezzo; diurnus, 3 > it. giorno), teils aus dem Vulgärlatein (*dia > sp. día) hergeleitet sind. Die engste Verwandtschaft bestände dann ausnahmsweise einmal zur französischen Variante, also zu midi, das sich aus afrz. mi (‚halb’, von lat. medius) und di (‚Tag’, von lat. dies) zusammensetzt. 19 Strenggenommen haben Wörter wie virtus, virtutis, f (‚Tugend’; Stamm: virtut-) und miles, militis, m (‚Soldat’, Stamm: milit-) ein -s als Nominativausgang. Dieses -s hängt jedoch nicht am Stamm, weshalb man sich am besten den Nominativ als ganze Form merkt. Dieser Kasus steht ohnehin in den Wörterbüchern, weshalb durch diese Unregelmäßigkeit in der Praxis keinerlei Probleme entstehen. Ein ähnlicher Fall sind Substantive auf -x wie rex, regis, m (‚König’, Stamm: reg-) oder lex, legis, f (‚Gesetz’, Stamm: leg-): Hier wurde die Nominativendung -s an den Stammauslaut -g angehängt und dieser Cluster mit dem Graphem <x> verschriftet. <?page no="114"?> Morphologie und Wortbildung 114 Singular Ausgänge m f n m,f / n Nom/ Vok labor nātio flūmen corpus - Gen. labōr-is nātiōn-is flūmin-is corpor-is is Dat. labōr-ī nātiōn-ī flūmin-ī corpor-ī ī Akk. labōr-em nātiōn-em flūmen corpus em / - Abl. labōr-e nātiōn-e flūmin-e corpor-e e Plural Nom/ Vok labōr-ēs nātiōn-ēs flūmin-a corpor-a ēs / a Gen. labōr-um nātiōn-um flūmin-um corpor-um um Dat. labōr-ibus nātiōn-ibus flūmin-ibus corpor-ibus ibus Akk. labōr-ēs nātiōn-ēs flūmin-a corpor-a ēs / a Abl. labōr-ibus nātiōn-ibus flūmin-ibus corpor-ibus ibus Da die Form des Nom.Sg. (und des Akk.Sg.n) weniger Silben aufweist als die übrigen Formen, verändert sich in der Deklination häufig die Lage des Hauptakzents. Es lohnt sich also, die Quantitäten zu beachten: Vgl. labor vs. labōris, nātio vs nātiōnis, aber ohne Akzentverschiebung flūmen/ flūminis und corpus/ corporis. Interessanterweise haben sich in der Romania von der ersten Gruppe eher die Akkusative erhalten, also die Formen mit Akzentverschiebung (sp. labor/ nación, it. lavoro/ nazione, fr. labeur/ nation), von der zweiten Gruppe eher die Nominative (it. fiume/ corpo; sp. cuerpo, fr. corps). Dies hängt sicher damit zusammen, dass es sich bei letzteren Formen - zumindest im Klassischen Latein - um Neutra handelte, bei denen Nom. und Akk. eben formal identisch waren. Es gibt zur kons.Dekl. auch einige recht komplizierte Genusregeln, aber die Ausnahmen sind so zahlreich, dass darauf nicht explizit eingegangen werden muss. Als Faustregel kann man sich immerhin merken, dass Substantive auf -io/ -ionis Feminina sind, Substantive auf -or/ -oris Maskulina und Substantive auf -us/ -oris bzw. eris und -men/ -minis Neutra. Immerhin kann man sich so merken, dass das im Deutschen übliche Fremdwort Korpus neutrum ist, ebenso wie das Genus (genus, generis, n: ‚Geschlecht’). Eine Zusammenstellung linguistischer Belege heißt also „das Korpus“. „Der Korpus“ bezeichnet im Deutschen üblicherweise den Hauptteil eines Schranks oder den Leib des Gekreuzigten. Kommen wir zu den Adjektiven der kons.Dekl.: Hierzu gehören alle einendigen Adjektive, also solche, die im Nom.Sg. für Mask., Fem. und Neutrum dieselbe Form haben. Dies sind dives Gen. divitis ‚reich’ vetus Gen. veteris ‚alt’ vgl. frz. vieux, sp. viejo, it. vecchio 20 pauper Gen. pauperis ‚arm’ vgl. frz. pauvre, sp. pobre, it. povero 21 particeps Gen. participis ‚teilhaftig’ vgl. dt. Partizip, partizipieren princeps Gen. principis ‚der erste’ > it. principe 20 All diese Formen stammen von dem im Vulgärlatein häufigeren adjektivischen Deminutiv vetulus, 3 ab. 21 Strenggenommen stammen die romanischen Formen von der vulgärläteinischen dreiendigen Variante pauper, paupera, pauperum ab. <?page no="115"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 115 Singular Plural mask. fem. neutr. mask. fem. neutr. Nom/ Vok vetus Nom/ Vok veter-ēs veter-ēs veter-a Gen. veter-is Gen. veter-um Dat. veter-ī Dat. veter-ibus Akk. veter-em veter-em vetus Akk. veter-ēs veter-ēs veter-a Abl. veter-e Abl. veter-ibus Die i-Deklination Substantive der i-Deklination sind insgesamt recht selten. Maskulin sind die Flüsse Tiberis (‚Tiber’) und Albis (Elbe), feminin Substantive wie turris (‚Turm’, vgl. it. torre), febris (‚Fieber’, vgl. sp. fiebre), puppis (‚Heck’, vgl. frz. poupe) und sitis (‚Durst’, vgl. sp. sed). Die größte Gruppe bilden die Neutra auf -ar, -e, -al wie exemplar (‚Muster’, vgl. frz. exemplaire), mare (‚Meer’, vgl. sp. mar) und animal (‚Tier’, vgl. it. animale). Der Stamm endet immer auf -i. Vgl. die Beispiele Tiberis (Stock Tiber-, Stamm Tiberi-), turris (Stock turr-, Stamm turri-), mare (Stock mar-, Stamm mari-) und animal (Stock animal-, Stamm animali-): Singular Ausgänge m f n m,f / n Nom/ Vok Tiber-is turr-is mar-e animal is / e, - Gen. Tiber-is turr-is mar-is animāl-is is Dat. Tiber-ī turr-ī mar-ī animāl-ī ī Akk. Tiber-im turr-im mar-e animal im / - Abl. Tiber-ī turr-ī mar-ī animāl-ī ī Plural Nom/ Vok Tiber-ēs 22 turr-ēs mar-ia animāl-ia ēs / ia Gen. Tiber-ium turr-ium mar-ium animāl-ium ium Dat. Tiber-ibus turr-ibus mar-ibus animāl-ibus ibus Akk. Tiber-īs (ēs) turr-īs (ēs) mar-ia animāl-ia īs (ēs) / ia Abl. Tiber-ibus turr-ibus mar-ibus animāl-ibus ibus Die wichtigsten Unterschiede zur kons.Dekl. bestehen also in der Endung des Akk. (-im) und Abl.Sg. (-ī) sowie im Gen.Pl. (-ium). Für den Akk.Pl. in Mask. und Fem. haben sich zwei Formen eingebürgert. Die ältere Endung ist -īs, in klassischer Zeit hat sich dann, analog zur kons.Dekl., die Form -ēs verbreitet. Zu beachten ist als Ausnahme vis f (‚Kraft, Gewalt, Macht’), das im Singular die unregelmäßigen Formen vim (Akk.) und vi (Abl.) bildet. Diese beiden Sonderformen wären an sich mnemotechnisch zu verkraften. Das Wort hat aber schon Generationen von Gymnasiasten zur Verzweiflung gebracht, weil sein an sich ganz regelmäßiger Plural (vires, virium, viribus) für den Laien gewisse Ähnlichkeiten mit dem Plural des nach der o-Dekl. flektierten vir, viri, m (Mann’) aufweist: viri, virorum, viris, viros. Objektiv betrachtet gibt es bei diesen Formen keinerlei Überschneidung. Sie treten aber zum einen sehr häufig und zum 22 Dieser Plural dient ausschließlich dem akademischen Systemgedanken - faktisch ist dem Verfasser nur ein Fluss dieses Namens bekannt. <?page no="116"?> Morphologie und Wortbildung 116 anderen gerne in Kombination auf, denn es geht in antiken Texten relativ oft um Männer und ihre Kräfte… Bei den Adjektiven der i-Deklination kann man nach Stock (2005) drei Gruppen unterscheiden: Adjektive • auf -er mit drei Endungen im Nom.Sg.: z.B. acer (m), acris (f), acre (n) ‚scharf’ => Stock acr-, Stamm acri- (> it. acre, sp. acre, frz. aigre) • auf -is mit zwei Endungen im Nom.Sg.: z.B. fortis (m/ f), forte (n) ‚stark, tapfer’ => Stock fort-, Stamm forti- (> it. forte, sp. fuerte, frz. fort) • auf -x und -ns mit einer Endung im Nom.Sg.: z.B. felix (‚glücklich’), prudens (‚klug’) => Stock felic-, Stamm felicibzw. Stock prudent-, Stamm prudenti- (> it. felice, sp. feliz; vgl. frz. féliciter) Im Akk.Sg. haben die Adjektive -em statt -im, ansonsten folgen sie genau dem Muster der Substantive. Vgl. das Beispiel acer: Singular Plural mask. fem. neutr. mask. fem. neutr. Nom/ Vok ācer ācr-is ācr-e Nom/ Vok ācr-ēs ācr-ēs ācr-ia Gen. ācr-is Gen. ācr-ium Dat. ācr-ī Dat. ācr-ibus Akk. ācr-em ācr-em ācr-e Akk. ācr-īs(ēs) ācr-īs(ēs) ācr-ia Abl. ācr-ī Abl. ācr-ibus Die gemischte Deklination Die gemischte Deklination hat im Singular die Ausgänge der konsonantischen Deklination, im Plural die der i-Deklination (z.T. aber -a beim Nom./ Akk. Neutrum). Diese Deklinationsklasse ist auch deshalb wichtig, weil das Partizip Präsens Aktiv (PPA) aller Konjugationen nach diesem Muster dekliniert wird (z.B. von laudare ‚loben’: laudans, Gen.Sg. laudantis, Nom./ Akk.Pl.Neutrum laudantia). Vgl. die Formen der Beispiele • civis, is, m: ‚Bürger’; Stock: civ-, Stamm civi-; vgl. das vom entsprechenden Adj. civilis abstammende dt. zivil) • clades, is, f: ‚Niederlage’ • urbs, urbis, f: ‚Stadt’; Stock urb-, Stamm urbi-; vgl. den päpstlichen Segen urbi et orbi oder das vom Adj. urbanus herstammende frz. urbain • os, ossis, n: ‚Knochen’; Stock oss-, Stamm ossi-; vgl. frz. os, sp. hueso 23 : 23 Das <h> in hueso hat keinerlei etymologische Basis, sondern ist ein diakritisches Zeichen, das zu einer Zeit, als zwischen <u> und <v> noch nicht unterschieden wurde, deutlich machte, dass das auf <h> folgende Graphem als / u/ bzw. als Halbvokal / w/ und nicht etwa als / v/ bzw. / β/ zu lesen sei (also [ weso] statt [ βeso]. Dasselbe Phänomen zeigt sp. huevo (< lat. ovum ‚Ei’). <?page no="117"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 117 Singular Ausgänge m f n m,f / n Nom/ Vok cīv-is clād-ēs urb-s os is, es ,s / - Gen. cīv-is clād-is urb-is oss-is is Dat. cīv-ī clādī urb-ī oss-ī ī Akk. cīv-em clād-em urb-em os em / - Abl. cīv-e clāde-e urb-e oss-e e Plural Nom/ Vok cīv-ēs clād-ēs urb-ēs oss-a ēs / a, ia Gen. cīv-ium clād-ium urb-ium oss-ium ium Dat. cīv-ibus clād-ibus urb-ibus oss-ibus ibus Akk. cīv-īs (ēs) clād-īs (ēs) urb-īs (ēs) oss-a īs (ēs)/ a, ia Abl. cīv-ibus clād-ibus urb-ibus oss-ibus ibus 4.3.3 Steigerung (Komparation) von Adjektiven und Adverbien Im Lateinischen gibt es, wie im Deutschen und in den romanischen Sprachen, drei Steigerungsstufen: den Positiv 24 (Grundstufe), den Komparativ 25 (Vergleichsstufe) und den Superlativ 26 (Höchststufe). Die Form des Superlativs kann auch den Elativ 27 ausdrücken, der einen sehr hohen Grad repräsentiert, ohne ihn mit konkreten Vergleichsgrößen in Beziehung zu setzen. Ähnlich wie bei der Frage, ob lateinische Substantive mit unbestimmtem oder bestimmtem Artikel zu übersetzen sind, muss also auch hier der Kontext hinzugezogen werden, um zu entscheiden, ob eine Form eher superlativisch oder elativisch zu übersetzen ist: Positiv: hora est longa. Eine Stunde ist lang. Komparativ: dies est longior. Ein Tag ist länger. Superlativ/ Elativ: annus est longissimus. Ein Jahr ist am längsten/ sehr lang. Die Bildung der Steigerungsformen im Klassischen Latein funktioniert nach dem synthetischen Prinzip (griech. sýnthesis ‚Zusammensetzung’), d.h. die Marker für die unterschiedlichen Steigerungsgrade werden wie eine Kasusendung an den Wortstock angehängt und flektiert. Das Komparativsuffix ist -ior (m/ f) bzw. -ius (n), das Superlativsuffix -issimus, -a, -um. Adjektive auf -er hängen bei der Superlativbildung das Suffix -rimus, -a, um an den Ausgang des Nom.Sg. - vgl. die folgenden Beispiele (Systematik nach Stock 2005 und Throm 1995): 24 Abgeleitet von ponĕre, -o, posui, positum ‚setzen, stellen, legen’ - also ‚Grundlage’ oder ‚Basis.’ 25 Von comparare, -o, -avi, -atum ‚vergleichen’. 26 Von superferre, -o, supertuli, superlatum ‚über andere drüber tragen’. 27 Von eferre, -o, etuli, elatum ‚hinaustragen, herausheben’. <?page no="118"?> Morphologie und Wortbildung 118 Positiv (m, f, n) Wortstock Komparativ (m/ f, n) Superlativ (m, f, n) longus, -a, -um ‚lang’ longlong-ior, -ius ‚länger’ long-issimus, -a, -um ‚der längste, sehr lang’ brevis, -is, -e ‚kurz’ brevbrev-ior, -ius ‚kürzer’ brev-issimus, -a, -um ‚der kürzeste, sehr kurz’ prūdēns, =, = ‚klug’ prūdentprūdent-ior, -ius ‚klüger’ prūdentissimus, -a, -um ‚der klügste, sehr klug’ fēlix, =, = ‚glücklich’ fēlicfēlicior, -ius ‚glücklicher’ fēlicissimus, -a, -um ‚der glücklichste, sehr glücklich’ pulcher, -chra, -chrum ‚schön’ pulchrpulchr-ior, -ius ‚schöner’ pulcher-rimus, -a, um ‚der schönste, sehr schön’ miser, -era, -erum ‚elend’ misermiser-ior, -ius ‚elender’ miser-rimus, -a, -um ‚der eldendeste, sehr elend’ ācer, ācris, ācre ‚scharf’ ācrācr-ior, -ius ‚schärfer’ ācer-rimus, -a, -um ‚der schärfste, sehr scharf’ Eine Ausnahme bilden fünf Adjektive auf -ilis, die den Superlativ auf -illimus bilden. Da sie sehr häufig auftreten und ihre Grundformen durchweg in den romanischen Sprachen konserviert sind, lohnt sich die Memorierung: facilis ‚leicht’ (Stock facil-, => facillimus, -a, -um), difficilis ‚schwer’, similis ‚ähnlich’, dissimilis ‚unähnlich’ und humilis ‚niedrig’ (vgl. im Frz. direkt bewahrtes facile, difficile, humble sowie die Ableitungen similitude/ dissimilitude; sp. fácil, dificil, símil, disímil, humilde; it. facile, difficile, simile, dissimile, umile). Die übrigen Adjektive auf -ilis steigern regelmäßig: z.B. nobilis ‚edel’ => nobilior, -ius => nobilissimus, -a, -um. Eine weitere Besonderheit bilden einige hochfrequente Adjektive, die bei der Steigerung den Stamm wechseln, also im Komparativ und z.T. auch im Superlativ einen anderen Stamm zu Grunde legen als im Positiv. Da sich diese Adjektive mitsamt ihren Steigerungsstufen (allerdings meist in Ableitungen oder mit Bedeutungsveränderungen) romanisch fortgesetzt haben (hierzu die klein geschriebenen Entsprechungen in der Tabelle), sollte man sie sich besonders einprägen: Positiv Komparativ Superlativ bonus ‚gut’ it. buono, sp. bueno fr. bon melior, melius ‚besser’ it. migliore, sp. mejor, fr. meilleur optimus ‚der beste, sehr gut’ it. ottimo malus ‚schlecht’ it. malo, sp. malo, fr. mal pēior, pēius ‚schlechter’ it. peggiore, sp. peor, fr. pire pessimus ‚der schlechteste, sehr schlecht’ it. pessimo māgnus ‚groß’ māior, māius ‚größer’ it. maggiore, sp. mayor, fr. majeur (v.a. ‚älter’) māximus ‚der größte, sehr groß’ it. massimo, sp. máximo parvus ‚klein’ minor ‚kleiner’ it. minore, sp. menor, fr. mineur (v.a. ‚jünger’) minimus ‚der kleinste, sehr klein’ it. minimo, sp. mínimo, fr. minime multum ‚viel’; multi ‚viele’ it. molto/ -i/ -e, sp. mucho-s, afr. molt-s plūs ‚mehr’ plūres, plūra ‚mehr’ it. più, fr. plus plūrimum ‚das meiste, sehr viel’ plūrimi ‚die meisten, sehr viele’ <?page no="119"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 119 Eine Ergänzung zu multum/ multi: Die Singularform wird nur als substantiviertes Neutrum gebraucht. Der Bedeutungsunterschied zwischen multum und multi entspricht in etwa dem zwischen engl. much und many. Ersteres bezeichnet viel von einer Sache, letzteres viele zählbare Dinge. Man kann sich den Unterschied auch gut mit dem Arbeitsmotto multum non multa einprägen: Man soll nach diesem Ideal viel und intensiv an einer einzigen Sache arbeiten und nicht etwa an vielen Dingen (daher Neutrum Plural) gleichzeitig Nur in Ausnahmefällen gibt es im Klassischen Latein auch die analytische Komparation (griech. análysis ‚Auflösung’), bei der eine unveränderliche Steigerungspartikel als freies Morphem dem zu steigernden Adjektiv oder Adverb vorangestellt wird. Dies betrifft Adjektive auf -us, die vor dem -us noch einen weiteren Vokal haben: Positiv Komparativ Superlativ arduus ‚steil’ magis arduus ‚steiler’ māximē arduus ‚der steilste, sehr steil’ dubius ‚zweifelhaft’ magis dubius ‚zweifelhafter’ māximē dubius ‚der zweifelhafteste, sehr zweifelhaft’ pius ‚fromm’ magis pius ‚frommer’ māximē pius ‚der frommste, sehr fromm’ Wie wir noch sehen werden, sind ausgerechnet diese Ausnahmen - verbreitet durch das Vulgärlatein - in den romanischen Sprachen zur Regel geworden (vgl. sp. más arduo, más pío). Dies gilt auch für die Komparation mit Stammwechsel, die sich im Italienischen fast komplett (vgl. buono/ migliore/ ottimo, cattivo/ peggiore/ pessimo, grande/ maggiore/ massimo, piccolo/ minore/ minimo etc.) 28 und in weiteren romanischen Sprachen zumindest teilweise erhalten hat (vgl. sp. bueno/ mejor/ el mejor und frz. bon/ meilleur/ le meilleur). Die regelmäßigen klassischen Bildungsmuster hingegen sind in den romanischen Sprachen zur Ausnahme geworden oder haben einen speziellen stilistischen Anstrich, also eine diaphasische Markierung bekommen, vgl. z.B. den frz. Standardsuperlativ le plus grand mit der viel selteneren Variante grandissime. Dekliniert werden die Komparative nach der konsonantischen Deklination: Singular Plural mask. fem. neutr. mask. fem. neutr. Nom/ Vok longior longior longius longiōrēs longiōrēs longiōra Gen. longiōris longiōrum Dat. longiōrī longiōribus Akk. longiōrem longiōrem longius longiōres longiōrēs longiōra Abl. longiōre longiōribus Adverbien tragen im Komparativ wie das Neutrum das Suffix -ius (aber natürlich unveränderlich), im Superlativ wird ganz regelmäßig vom Superlativsuffix -issimus die Adverbform -issimē abgeleitet. Auch bei den Adverbien gibt es einige unregelmäßige Steigerungsformen, die man wegen ihrer Bedeutung für die romanischen Sprachen kennen sollte: 28 Daneben existieren allerdings Konkurrenzformen wie più buono/ buonissimo, più cattivo/ cattivissimo, più grande/ grandissimo und più piccolo/ piccolissimo. <?page no="120"?> Morphologie und Wortbildung 120 Positiv Komparativ Superlativ māgnopere ‚sehr’ valdē magis ‚mehr’ (Grad) māximē ‚am meisten’ multum ‚viel’ plūs ‚mehr’ (Menge) plūrimum ‚am meisten’ nōn multum ‚wenig’ minus ‚weniger’ minimē ‚am wenigsten’ prope ‚nahe’ propius ‚näher’ proximē ‚am nächsten’ bene ‚gut’ melius ‚besser’ optimē ‚am besten, sehr gut’ male ‚schlecht’ pēius ‚schlechter’ pessimē ‚am schlechtesten, sehr schlecht’ Direkt als Adverb fortgesetzt haben sich von den Positiva: 29 • multum > it. molto, afrz. molt, asp. muito > sp. muy • bene > it. bene, sp. bien, frz. bien • male > it. male, sp. mal, frz. mal von den Komparativa: • magis > sp. más, port. mais, kat. més • plus > it. più, frz. plus • minus > it. meno, sp. menos, frz. moins • melius > afrz. miels > frz. mieux, it. meglio • peius > it. peggio von den Superlativa: • maxime > it. màssime Die meisten Superlative haben sich nur als Ableitungen in anderen Wortklassen erhalten (vgl. z.B. frz. la proximité, l’optimiste). Auch einige unregelmäßig gesteigerte romanische Adverbien gehen eher auf den Komparativ des entsprechenden lateinischen Adjektivs als des Adverbs zurück (z.B. frz. pire < lat. pēior; sp. peor < Akk. pēiōrem; daher die Betonung auf dem / o/ ). Das Element, mit dem etwas verglichen wird, steht im Klassischen Latein entweder im sog. „Ablativus comparationis“ (‚Ablativ des Vergleichs’), oder aber es wird mit der vergleichenden Partikel quam (‚als’) angeschlossen: Nihil est bellō cīvīlī miserius. / Nihil est miserius quam bellum cīvīle. ‚Nichts ist schlimmer als Bürgerkrieg’ 4.3.4 Pronomina Das Klassische Latein kannte deutlich mehr Pronomina, als wir es aus den romanischen Sprachen gewohnt sind - schon deshalb lohnt es sich, den korrekten Neutrum Plural „Pronomina“, und natürlich analog dazu auch „Nomina“ (von nomen, nominis, n ‚Name’), „für“ welche die Pro-nomina ganz wörtlich stehen, auch im Deutschen zu realisieren und nicht in den grundschulüblichen Plural „die Nomen“ zu verfallen. Wenn ein Pronomen für ein Substantiv steht, dann spricht man von „substantivischer Verwendung“: z.B. quis venit? ‚Wer kommt? ’ Pronomina kön- 29 Die Auflistung der romanischen Fortsetzer ist natürlich unvollständig, der Fokus liegt auf den lateinischen Formen, die sich fortgesetzt haben. <?page no="121"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 121 nen aber auch wie Adjektive oder Artikel zu einem Substantiv hinzu treten und werden an dieses angepasst. Man spricht dann von „adjektivischer Verwendung“: z.B. qui amicus venit? ‚Welcher Freund kommt? ’ Strenggenommen handelt es sich im zweiten Falle also nicht mehr um ein Pronomen, da es nicht mehr „für“ (pro) ein Nomen steht. A propos „pro“: Das Lateinische ist aus typologischer Sicht, wie die meisten romanischen Sprachen, eine sog. pro-drop-Sprache. Das heißt, dass konjugierte Verben auch ohne Subjekt (PRO steht in dieser generativen Terminologie für das logische Subjekt) stehen können, es kann also ausfallen (engl. to drop) bzw. „steckt im Verb“. 30 Entsprechend sind nominativische Personalpronomina im Lateinischen seltener als in Nicht-pro-drop-Sprachen, da sie nur in betonender Absicht gesetzt werden. Solche Nicht-pro-drop-Sprachen sind beispielsweise das Englische, das Deutsche und, unter germanischem Einfluss, das Französische - ein weiterer Grund dafür, dass das Französische der Romania Discontinua zugerechnet wird. Vgl. pro drop + pro drop dt. ich gehe lat. vado engl. I walk it. vado frz. je vais sp. voy port. vou kat. vaig Die Deklination der Pronomina folgt zwar keiner der bereits genannten Deklinationsklassen, vereint aber doch zahlreiche Elemente von ihnen. Lediglich die bei den Pronomina sehr häufige Gen.Sg.-Endung -ius ist gewöhnungsbedürftig. Die folgenden Klassen von Pronomina sind zu unterscheiden: Personalpronomina (persönliche Fürwörter): Wie im Deutschen und in den romanischen Sprachen gibt es bei den lateinischen Personalpronomina der ersten und zweiten Person nur eine gemeinsame Form für Maskulinum und Femininum. Anders als in den romanischen Sprachen wird aber nicht zwischen betonten und unbetonten Objektformen unterschieden: 30 Die Terminologie entstammt der sog. „Revidierten Erweiterten Standardtheorie“ der Transformationsgrammatik. <?page no="122"?> Morphologie und Wortbildung 122 1. Person 2.Person Nom.Sg. ego ‚ich’ tū ‚du’ Gen. meī ‚meiner’ 31 tuī ‚deiner’ Dat. mihi ‚mir’ tibi ‚dir’ Akk. mē ‚mich’ tē ‚dich’ Abl. 32 ā mē ‚von mir’ mēcum ‚mit mir’ ā tē ‚von dir’ tēcum ‚mit dir’ Nom.Pl. nōs ‚wir’ vōs ‚ihr’ Gen. nostrī ‚unser’ (Gen. obiectivus) 33 nostrum ‚von/ unter uns’ (Gen. partitivus) 34 vestrī ‚euer’ (Gen. obiectivus) vestrum ‚von/ unter euch’ (Gen. partitivus) Dat. nōbīs ‚uns’ vōbīs ‚euch’ Akk. nōs ‚uns’ vōs ‚euch’ Abl. a nōbīs ‚von uns’ nōbīscum ‚mit uns’ a vōbīs ‚von euch’ vōbīscum ‚mit euch’ Die klassischen Nominativ- und Akkusativformen haben sich in den romanischen Sprachen weitgehend erhalten: it. io/ me, tu/ te, noi/ noi, voi/ voi sp. yo/ me, tú/ te, nosotros/ nos, vosotros/ os frz. je/ me, tu/ te, nous/ nous, vous/ vous) Der Dativ hingegen ist mit dem Akkusativ zusammengefallen, und auch Genitiv und Ablativ wurden aufgegeben (vgl. Vulgärlatein-Kapitel). Erwähnenswert sind noch die Sonderformen mecum, tecum, nobiscum und vobiscum. Es handelt sich um ablativische Pronomina mit nachgestellter Präposition (eigentlich ein Widerspruch in sich, denn „Präposition“ bedeutet ja ‚Voranstellung’). Hispanisten kennen als Fortsetzer die Zusammensetzungen sp. conmigo, contigo (‚mit mir’, ‚mit dir’): Diese Formen sind eigentlich tautologisch, denn in -migo (< mecum) und -tigo (< tecum) steckt etymologisch gesehen das ‚mit’ (lat. cum) schon drin. Die Konstruktion entspricht in ihrer Doppelung also der von Fußballreportern geprägten deutsch-spanischen Kollokation „die La-Ola-Welle“ (Doppelartikel: 31 Dieses „meiner“ ist im Deutschen nicht zu verwechseln mit dem substantivierten Possessivpronomen „meiner“ (z.B. „Ist das Peters Kuli? - Nein, meiner.“). Es steht vielmehr in Konstruktionen, die den Genitiv verlangen, z.B. um meiner selbst willen. 32 Der Ablativ von Personen tritt, wie bereits gesagt, zumeist nach Präpositionen auf. Da es bei Personalpronomina nur um Personen geht, wird in den üblichen Grammatiken die Ablativform stets in Kombination mit Präposition angegeben. Denkbar wäre aber auch ein reiner Ablativ, z.B. als Abl. comparationis: Claudis me maior est - ‚Claudius ist größer als ich.’ 33 Der Genitivus obiectivus gibt das Objekt der Handlung von Verbalsubstantiven an, z.B. amor nostri ‚die Liebe unser/ uns gegenüber’. 34 Der Genitivus partitivus steht für den Teil (lat. pars, partis, f) eines Ganzen: z.B. quis vestrum? ‚wer von euch? ’ <?page no="123"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 123 einmal deutsch, einmal spanisch). 35 Bekannt als Komposition aus Pronomen und nachgestellter Präposition dürfte außerdem der in Fußballstadien eher seltene christliche Gruß „pax vobiscum“ sein ‚Friede [erg. sei] mit euch’). Im Lateinischen gibt es strenggenommen kein Personalpronomen der dritten Person und damit auch keines für Sachen). Hier muss man unterscheiden zwischen reflexivem und nicht-reflexivem Gebrauch. Beim nicht-reflexiven Gebrauch, d.h. wenn das Pronomen sich auf jemand anderen als das Subjekt bezieht, wird das fehlende Personalpronomen durch das Demonstrativpronomen is/ ea/ id ‚er/ sie/ es’) und dessen oblique Kasus ersetzt. Entsprechend gibt es unterschiedliche Formen für die drei Genera. Für den reflexiven Gebrauch gibt es eigene Formen, aber nur in den obliquen Kasus, da das Subjekt sich ja nur in obliquen Kasus auf sich selbst rückbeziehen kann und nicht etwa im Nominativ. Außerdem gibt es hier nur eine einzige gemeinsame Formenreihe für Maskulinum und Femininum sowie für Singular und Plural: 3. Person (Sache) nicht reflexiv reflexiv m f n Nom.Sg. is ea id ‚er, sie, es’) - - Gen. eius ‚seiner, ihrer, seiner’ suī ‚seiner, ihr’ Dat. eī ‚ihm, ihr, ihm’ sibi ‚sich’ Akk. eum eam id ‚ihn, sie, es’ sē ‚sich’ Abl. cum eō eā eō ‚mit ihm, ihr, ihm’ ā sē ‚von sich’ sēcum ‚mit sich’ Nom.Pl. iī/ eī eae ea) ‚sie’ - - Gen. eōrum eārum eōrum ‚ihrer’ suī ‚ihrer’ Dat. eīs/ iīs ‚ihnen’ sibi ‚sich’ Akk. eōs eās ea ‚sie’ sē ‚sich’ Abl. cum eīs/ iīs ‚mit ihnen’ ā sē ‚von sich’ sēcum ‚mit sich’ Romanisch hat sich hier praktisch nur das reflexive akkusativische se erhalten, das die Funktionen des Dativs mit übernommen hat vgl. sp. se, frz. se, it. si). Immerhin erklärt die reflexive Formenreihe, warum es in den verschiedenen romanischen Sprachen immer nur ein einziges Reflexivpronomen für Sg./ Pl. sowie Mask./ Fem. gibt - vgl. frz. il se lave vs. elles se lavent. 35 Ein analoger Fall liegt mit den spanischen Arabismen vor, in denen der arabische Artikel al später mit dem Substantiv agglutinierte, also eine Einheit bildete, zu der dann erneut ein Artikel hinzutrat, diesmal aber ein spanischer: z.B. ar. al + súkkar ‚Zucker’ > sp. azúcar => nach erneuter Artikelhinzufügung: el azúcar - im Unterschied zu it. zucchero, das ohne Artikel aus dem Arabischen entlehnt wurde entsprechend auch z.B. sp. algodón vs. it. cotone ‚Baumwolle’). <?page no="124"?> Morphologie und Wortbildung 124 Possessivpronomina: Die lateinischen Possessivpronomina (‚besitzanzeigende Fürwörter’ von possidēre ‚besitzen’) sind von den Formen her regelmäßiger (alle gehen nach der o/ a-Dekl.) und erinnern lexikalisch an ihre romanischen Nachkommen: 36 1. Person 2. Person 3. Person (reflexiv) Singular meus, -a, -um (‚mein’) tuus, -a, -um (‚dein’) suus, -a, -um (‚sein/ ihr’) Plural noster,tra, -trum (‚unser’) vester, -tra, -trum (‚euer’) suī, suae, sua (‚ihre’) Die Verwendung der Formen geschieht nach denselben Prinzipien wie in den romanischen Sprachen: Die Person des Besitzers ist maßgeblich für die Wahl des Lexems (Pronomen der 1., 2. oder 3. Person, Singular oder Plural? ), das Objekt des Besitzes hingegen maßgeblich für das an das Lexem angehängte Suffix (Kasus, Genus, Numerus). Das Genus des Besitzers spielt keine Rolle: • Petrus fratrem suum/ sororem suam convenit. Pierre rencontre son frère/ sa sœur. • Paula fratrem suum/ sororem suam convenit. Paula rencontre son frère/ sa sœur. Diese Regelung weicht bei der dritten Person vom Gebrauch in den germanischen Sprachen ab, wo es in Abhängigkeit vom Genus des Besitzers unterschiedliche Lexeme gibt: • Peter trifft seinen Bruder/ seine Schwester. Peter meets his brother/ his sister. • Paula trifft ihren Bruder/ ihre Schwester. Paula meets her brother/ her sister. Dieser Systemunterschied erklärt einige Schwierigkeiten deutschsprachiger Lerner romanischer Sprachen oder des Lateinischen beim Umgang mit den Possessiva. Demonstrativpronomina: Das Lateinische hat zwar keine Artikel, verfügt aber über ein breites Spektrum von Demonstrativpronomina (von demonstrare ‚zeigen’), die fein abgestuft sind und deutlich häufiger verwendet werden als ihre Entsprechungen in den romanischen Sprachen. Drei von ihnen decken verschiedene Positionen im sog. 36 Die stärksten Vereinfachungen hat das spanische System durchgemacht, wo die Genera nur noch in der 1. und 2. Pl. unterschieden werden: vgl. sp. mi, tu, su; nuestro/ nuestra, vuestro/ vuestra, sus. Bei den italienischen Possessiva ist dagegen - sieht man einmal vom fehlenden Neutrum ab - fast die gesamte lateinische Formenvielfalt erhalten: vgl. it. mio/ mia, tuo/ tua, suo/ sua; nostro/ nostra, vostro/ vostra, loro. Das Französische steht, was die Nähe zum Latein angeht, hier zwischen dem Italienischen und dem Spanischen. Vgl. frz. mon/ ma, ton/ ta, son/ sa; notre, votre, ses. Zu erwähnen ist noch, dass in manchen romanischen Sprachen eigene, aber ebenfalls aus lat. meus/ tuus/ suus hervorgegangene Formen für die substantivische Verwendung der Possessiva auftreten (sp. mío/ tuyo/ suyo; fr. le mien/ tien/ sien), während im Lateinischen und Italienischen dieselben Formen substantivisch und adjektivisch gebraucht werden können. <?page no="125"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 125 „deiktischen Feld“ 37 , also einem vom Sprecher aus gesehenen virtuellen Zeigekreis an: • hic, haec, hoc (‚dieser hier, diese hier, dieses hier’) bezeichnen alles, was sich in unmittelbarer Nähe des Sprechers befindet, also z.B. in seiner Hand befindliche Gegenstände. Z.B. videsne hanc epistulam? (‚Siehst du diesen Brief hier [in meiner Hand]? ’). Man spricht wegen dieser Affinität auch vom „Demonstrativum der 1. Person“, obwohl es durchaus auch mit anderen Personen kombiniert sein kann. • iste, ista, istud (‚dieser da, diese da, dieses da’) bezeichnen alles, was sich in unmittelbarer Nähe des Angesprochenen befindet. Z.B. istam epistulam peto! (‚ich will diesen Brief da [in deiner Hand]! ’). Man spricht auch vom „Demonstrativum der 2. Person“. • ille, illa, illud (‚jener, jene, jenes’) bezeichnen alles, was sich weit weg vom Ort des Sprechers bzw. bei einer dritten Person befindet, die nicht direkt angesprochen wird. Z.B. de illa epistula audivi. (‚von jenem Brief habe ich gehört’). Die bestimmten romanischen Artikel (it. il/ la, sp. el/ la, frz. le/ la…) und einige Pronomina (frz. il/ elle, sp. él/ ella, it. egli/ ella, lui/ lei ) gehen auf dieses lateinische Pronomen zurück. In kat. aquell/ aquella (‚jener/ jene’ bzw. ‚dieser dort/ diese dort’ < lat. hac ille/ hac illa) liegt eine Zusammensetzung vor, die in der Opposition zu kat. aquest/ aquesta (< lat. hac iste/ hac ista) die deiktische Abstufung des lateinischen Systems weitgehend bewahrt. Die Formen dieser Pronomina werden nach folgendem Muster gebildet (iste analog zu ille) - wie bei allen Pronomina sind einige Formen für alle Genera identisch: m f n m f n Nom.Sg. hic haec hoc ille illa illud Gen. huius illīus Dat. huic illī Akk. hunc hanc hoc illum illam illud Abl. hōc hāc hōc illō illā illō Nom.Pl. hī hae haec illī illae illa Gen. hōrum hārum hōrum illōrum illārum illōrum Dat. hīs illīs Akk. hōs hās haec illōs illās illa Abl. hīs illīs Ein viertes Demonstrativum ist aus personaldeiktischer 38 Sicht neutral. Es handelt sich um das bereits angesprochene is, ea, id (‚dieser, diese, dieses’), das die fehlende 3. Person der Personalpronomina vertritt (Formentabelle s. dort). Dieses 37 von griech. deíknymi ‚zeigen’ bzw. deiktikós ‚zum Zeigen gehörig’. 38 Man unterscheidet im Konzept der Deixis weiterhin lokale Deixis und temporale Deixis. <?page no="126"?> Morphologie und Wortbildung 126 Pronomen hat eine weitere Besonderheit: Es kann aus textlinguistischer Sicht kataphorisch sein, d.h. es verweist dann im Text nach vorne, während die anderen drei Demonstrativa eher anaphorisch sind, also im Text nach hinten verweisen auf einen Gegenstand oder eine Person, von der bereits die Rede war. is/ ea/ id dagegen kann z.B. auf darauf folgende Relativsätze hinweisen: is, qui venit, vincit (‚derjenige, der kommt, gewinnt’). In dieser Verwendung zählt man dieses Pronomen dann allerdings zu den Determinativpronomina: Diese sog. „bestimmenden Fürwörter“ (von determinare ‚bestimmen’) sind semantisch eng verwandt mit den Demonstrativpronomina. Zu nennen sind neben dem bereits mehrfach angesprochenen is/ ea/ id • das von diesem Pronomen abgeleitete Pronomen idem/ eadem/ idem (‚derselbe, dieselbe, dasselbe’). Die Formen werden analog zu is/ ea/ id gebildet, allerdings mit kleinen Modifikationen im Akk.Sg. (eundem, eandem, idem) und Gen.Pl. (eorundem, earundem, eorundem). Dieses Pronomen ist beim Übergang zu den romanischen Sprachen untergegangen. • ipse, ipsa, ipsum (‚selbst’). Dieses Pronomen wird sowohl zur Steigerung (Caesar ipse venit - ‚Caesar kam persönlich’) als auch zur Begrenzung eingesetzt (ipso aspectu - ‚beim bloßen Anblick’), also ganz ähnlich wie im Deutschen. Dekliniert wird ipse wie ille (s.o.), im Neutrum Singular enden Nominativ und Akkusativ allerdings auf -m (ipsum). Interrogativpronomina: Bei den Fragefürwörtern (vgl. interrogare ‚fragen’) sind zwei Verwendungen zu unterscheiden: • substantivisch: Das Fragewort steht hier selbst als Substantiv und benötigt nicht unbedingt eine Ergänzung. Maskulinum und Femininum haben hier identische Formen, das Neutrum weicht nur in Nom. und Akk. davon ab. Die Formen im Einzelnen: quis? (‚wer? ’), quid? (‚was? ’ - Nom.), cuius? (‚wessen? ’), cui? (‚wem? ’), quem? (‚wen? ’), quid? (‚was? ’ - Akk.), ā quō? (‚von wem? ’) / cum quō (‚mit wem? ’); vgl. cum quo venisti? ‚mit wem bist du gekommen? ’ • adjektivisch: Das Fragewort wird hier als Adjektiv verwendet, bezieht sich also auf ein Substantiv. Erfragt wird hier eine Determination (‚welcher x? ’) oder eine Eigenschaft (‚was für ein x? ’). Die Formen des adjektivischen Fragepronomens sind identisch mit dem Relativpronomen (s.u.), haben aber veränderte Bedeutung: qui? (‚welcher? ’), quae? (‚welche? ’), quod? (‚welches? ’). Vgl. cum quo amico venisti? ‚mit welchem Freund bist du gekommen? ’ <?page no="127"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 127 Relativpronomina: Die bezüglichen Fürwörter (von referre, retuli, relatum - ‚beziehen auf’; vgl. Referenz) leiten Relativsätze ein. Genus und Numerus stimmen mit dem Bezugswort im übergeordneten Satz überein, der Kasus hängt von der syntaktischen Funktion des Relativpronomens im Relativsatz ab. Folgende Formen sind zu unterscheiden (die Angabe der deutschen Bedeutungen beziehen sich auf das Relativpronomen. Bei interrogativischer Verwendung - s.o. - wären an ihre Stelle ‚welcher/ welche/ welches’ etc. zu setzen): m f n m f n Nom.Sg. qui quae quod der die das Gen. cuius dessen deren dessen Dat. cui dem der dem Akk. quem quam quod den die das Abl. (ā) quō (ā) quā quō quōcum quācum durch den durch die durch das mit ihm mit ihr Nom.Pl. quī quae quae die Gen. quōrum quārum quōrum deren Dat. quibus denen Akk. quōs quās quae die Abl. (ā) quibus quibuscum durch die/ von denen mit denen Die romanischen Relativ- und Interrogativpronomina gehen v.a. auf den lat. Nominativ qui (vgl. frz. qui, it. chi) und den Akkusativ quem zurück (vgl. die Pronomina frz. que, it. che, und sp. que - die gleichlautenden Konjunktionen leiten sich übrigens ab von lat. quia - ‚weil’, spätlat. ‚dass’). Im Spanischen hat sich mit quien noch eine zweite Form vom lat. Akkusativ quem abgeleitet. Nahezu völlig aufgegeben bzw. durch Umschreibungen ersetzt wurden in den romanischen Sprachen die lat. verallgemeinernden Relativa, nämlich das substantivisch und adjektivisch gebrauchte quicumque/ quaecumque/ quodcumque (‚wer/ was auch immer; jeder, der’) und das rein substantivische quisquis/ quidquid (‚jeder, der/ alles, was’). Eine wenig verwendete Ausnahme stellt frz. quiconque dar, das zwar eigentlich auf afrz. qui … qu’onques (‚wer … jemals’) und damit strenggenommen auf die Koppelung des lat. Relativums qui mit dem Temporaladverb umquam (‚jemals’) zurückgeht, aber von frühen Etymologen auf quicumque zurückgeführt und in der Schreibung entsprechend angepasst wurde. Indefinitpronomina: Indefinitpronomina sind semantisch das Gegenstück zu den Demonstrativ- und Determinativpronomina. Sie bringen also zum Ausdruck, dass man nicht genau weiß, um wen oder was es sich bei einer Sachverhaltsdarstellung handelt (vgl. indefinitus ‚unbestimmt’). Da es im Lateinischen keinen unbestimmten Artikel gibt, werden diese Pronomina zum einen häufiger verwendet als in den modernen romanischen oder germanischen Sprachen, und es gibt auch eine <?page no="128"?> Morphologie und Wortbildung 128 deutlich größere Artenvielfalt, was diese Pronomina betrifft. Da die meisten von ihnen in irgendeiner Form auf die Fragepronomina quis/ quid bzw. qui/ quae/ quod (s.o.) zurückgehen, sind sich die Pronomina in ihren Formen sehr ähnlich, aber durchaus unterschiedlich in Bedeutung und Verwendung. Dieser Umstand hat schon Generationen von Lateinlernern zur Verzweiflung geführt, und zwar offensichtlich bereits in der Spätantike, denn es haben sich fast keine dieser Formen in die romanischen Sprachen hinübergerettet. Deshalb soll hier nur ein kurzer Überblick über den Lexembestand im Nominativ gegeben werden, ohne auf die weitere Deklination einzugehen - die Tabellenzeilen repräsentieren also keine unterschiedlichen Kasus (Systematik modifiziert nach Stock 2005: 26): substantivisch adjektivisch m f n m f n aliquis aliquid aliquī aliqua aliquod ‚irgendein(er)’ quisquam quicquam ūllus ūlla ūllum ‚irgendein(er)’ quīdam quaedam quiddam quīdam quaedam quoddam ‚ein gewisser’ quisque quaeque quidque quisque quaeque quodque ‚jeder einzelne’ quīvīs quaevīs quidvīs quīvīs quaevīs quodvīs ‚jeder beliebige’ quīlibet quaelibet quidlibet quīlibet quaelibet quodlibet ‚jeder beliebige’ nemo nihil nūllus nūlla nūllum ‚niemand/ nichts, kein’ Die meisten Fortsetzer dieser Pronomina finden wir im Spanischen: Dort hat sich mit alguién vom lat. Akk. aliquem nicht nur ein lateinisches Indefinitpronomen direkt fortgesetzt, sondern es findet sich mit sp. quienquiera (‚wer auch immer’ bzw. wörtlich ‚wer will’) auch eine Lehnübertragung von quivis (wörtl. ‚wer du willst’; vis = 2. Sg. von velle ‚wollen’) bzw. quilibet (wörtl. ‚wer beliebt’; libet = unpersönl. ‚es beliebt’). Darüberhinaus hat sich das adjektivische nullus im Französischen als Pronomen erhalten (nul, nulle ‚keiner, kein’), während es im Italienischen nur noch als Substantiv nulla ‚nichts’ oder Adjektiv nullo ‚nichtig’ verwendet wird. Pronominaladjektive: Die Grenze zwischen den adjektivisch gebrauchten Indefinitpronomina und den eigentlichen Pronominaladjektiven ist fließend. So vertreten z.B. die Pronominaladjektive ullus und nullus fehlende Formen im Paradigma der Pronomina (s.o.). Die Pronominaladjektive sind in der Rezeption unproblematisch, in der Produktion ist aber darauf zu achten, dass sie im Nominativ aussehen, als würden sie nach der o/ a-Dekl. dekliniert, faktisch aber wie die Pronomina im Genitiv auf -īus und im Dativ auf langes -ī enden. Da diese Adjektive hochfrequent und bis auf ullus und uter(-que) durchweg in den romanischen Sprachen bzw. als weltweite Internationalismen erhalten sind, lohnt sich das Memorieren: ūnus, a, um einer, ein einziger uter, utra, utrum welcher von beiden sōlus, a, um allein alter, era, erum der eine/ der andere tōtus, a, um ganz (von beiden) ūllus, a, um irgendeiner neuter, tra, trum keiner von beiden nūllus, a, um keiner uterque, utraque jeder von beiden alius, alia, aliud ein anderer utrumque <?page no="129"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 129 Aus kulturgeschichtlicher Sicht ist zu den sog. „Dualpronomina“ uter(-que), alter und neuter (das sich aus der Negation ne + uter zusammensetzt) zu sagen, dass sie auch deshalb so häufig verwendet wurden, weil in der römischen Republik alle wichtigen Beamtenposten nach dem Kollegialitätsprinzip besetzt wurden, d.h., es gab jeweils zwei dieser Beamten. Wollte man also über deren Tätigkeiten berichten, dann war man ständig gezwungen, diese Pronomina der Zweizahl zu benutzen. Korrelativpronomina: Die letzte Gruppe der Pronomina hat ihre Besonderheit darin, dass sie häufig miteinander in Beziehung treten, also korrelieren. Es gibt jeweils eine demonstrative Reihe, deren Elemente mit <t> beginnen, und eine relativische bzw. interrogative Reihe, deren Vertreter mit <qu> beginnen. Daneben existiert eine indefinite Reihe, die man an dem Indefinitpräfix alierkennt, das wir schon von den Indefinitpronomina her kennen (Systematik modifiziert nach Throm 1995: 52): Demonstrativ Relativ und interrogativ Indefinit tantus, a, um so groß quantus, a, um wie groß (? ) aliquantus, a, um ziemlich groß tantum (subst.) so viel quantum wie viel (? ) aliquantum ziemlich viel tālis, e so beschaffen quālis, e wie beschaffen (? ) - tot (undekl.) so viele quot (undekl.) wie viele (? ) aliquot einige Was die Korrelation angeht, so gibt es zwei mögliche Richtungen: • Man beginnt eine Aussage mit dem Demonstrativum und vergleicht dieses mit dem Relativum: z.B. Tantum scimus, quantum memoria tenemus. ‚Wir wissen so viel, wie wir im Gedächtnis behalten’ (Throm 1995: 277). • Man fragt mit dem Interrogativum, und der Gefragte antwortet mangels präziseren Wissens mit dem Indefinitum oder dem Demonstrativum: z.B. Quot puellas vidisti? - Aliquot. ‚Wieviele Mädchen hast du gesehen? - Einige.’ In den romanischen Sprachen sind v.a. die Paare tantus/ quantus (vgl. it. tanto/ quanto, sp. tanto/ cuanto, frz. tant) und talis/ qualis gut erhalten (vgl. it. tale/ quale, sp. tal/ cual, frz. tel/ quel). Die Verwendungen entsprechen in etwa denjenigen im Lateinischen. 4.3.5 Numeralia Im Lateinischen werden, wie auch in den romanischen Sprachen, zwei Arten von Zahlwörtern unterschieden: die Grundzahlen und die Ordnungszahlen (Systematik nach Rubenbauer et al. 1995: 60ff). Die Grundzahlen werden nur von 1-3 und ab 200 dekliniert. Wie so oft haben sich bei diesen deklinierten Zahlwörtern im Italienischen eher die nominativischen, im Spanischen und Französischen eher die akkusativischen Formen fortgesetzt. Die lateinischen Ordnungszahlen hingegen werden durchweg dekliniert, und zwar nach dem Muster der Adjektive der o/ a-Deklination. <?page no="130"?> Morphologie und Wortbildung 130 Daneben existieren noch die Distributivzahlen („wie viele jedesmal? “) singulī, ae, a, ‚je einer’; bīnī, ae, a ‚je zwei’; ternī, quaternī, quīni, sēnī, septēnī, octōnī, novēnī, dēnī sowie die auf die Frage „wie oft“ antwortenden Zahladverbien semel ‚einmal’, bis ‚zweimal’, ter ‚dreimal’ quater ‚viermal’ (Merkspruch: „in die Semmel biss der Kater“), quīnquiēs, sexiēs, septiēs, octiēs, noviēs, deciēs etc. - diese Zahlwörter haben sich nur in Einzelfällen (z.B. it. singolo) oder Ableitungen (z.B. fr. binational) in den romanischen Sprachen erhalten. Im Lateinischen liegt, wie im Deutschen, ein Dezimalsystem vor, das sich in den meisten romanischen Sprachen weitgehend erhalten hat. Die folgende Tabelle zeigt die wichtigsten lateinischen Kardinal- und Ordinalzahlwörter (grau unterlegt) und zum schnellen Vergleich in der jeweils folgenden Zeile, etwas kleiner gedruckt, die Entsprechungen aus dem Italienischen, Spanischen und Französischen. Diejenigen romanischen Zahlwörter, die nicht direkt auf die darüber stehenden lateinischen Formen, sondern auf Ableitungen von diesen oder aber auf eigenromanische Ableitungen zurückgehen, stehen zwischen runden Klammern. Zahlzeichen arab. röm. Cardinalia („wie viele? “) Ordinalia („der wievielte? “) 1 I ūnus, -a, -um ‚ein’ prīmus, -a, -um ‚der/ die/ das erste’ it./ sp. uno,-a, fr. un,-e it. primo (sp. primero, fr. premier) 39 2 II duo, duae, duo secundus, -a, -um it. due [< duae]; sp. dos, fr. deux [< duos] it. secondo, sp. segundo, fr. second 3 III trēs, tria tertius, -a, -um it. tre, sp. tres, fr. trois it. terzo (sp. tercero, fr. troisième) 40 4 IV quattuor quārtus, -a, -um it. quattro, sp. cuatro, fr. quatre it. quarto, sp. cuarto (fr. quatrième) 5 V quīnque quīntus, -a, -um it. cinque, sp. cinco, fr. cinq it. quinto, sp. quinto (fr. cinquième) 6 VI sex sextus, -a, -um it. sei, sp. seis, fr. six it. sesto, sp. sexto (fr. sixième) 7 VII septem septimus, -a, -um it. sette, sp. siete, fr. sept 41 it. settimo, sp. séptimo (fr. septième) 8 VIII octō octāvus, -a, -um it. otto, sp. ocho, fr. huit it. ottavo, sp. octavo (fr. huitième) 9 IX novem nōnus, -a, -um it. nove, sp. nueve, fr. neuf it. nono (sp. noveno, fr. neuvième) 10 X decem decimus, -a, -um it. dieci, sp. diez, fr. dix it. decimo, sp. décimo (fr. dixième) 39 Die spanische und die frz. Form gehen auf lat. primarius ‚erstklassig, vorzüglich’ zurück. Im Französischen taucht gelegentlich auch noch die ältere, direkt auf lat. primus zurückgehende Form prime auf, z.B. in prime actant (‚Erstaktant’). 40 Im Französischen wird in festen Wendungen gelegentlich auch noch das ältere, auf tertius zurückgehende Adjektiv tiers verwendet (z.B. le Tiers Monde ‚die Dritte Welt’ oder le tiers état ‚der Dritte Stand’). 41 Das -pin fr. sept wurde erst im Mittelfranzösischen relatinisierend eingefügt (vgl. afr. set). <?page no="131"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 131 11 XI ūndecim undecimus, -a, -um it. undici, sp. once, fr. onze (it. undicesimo) sp. undécimo (fr. onzième) 12 XII duodecim duodecimus, -a, -um it. dodici, sp. doce, fr. douze (it. dodicesimo) sp. duodécimo (fr. douzième) 13 XIII trēdecim tertius decimus, -a, -um it. tredici, sp. treze, fr. treize (it. tredicesimo, sp. decimotercero, 42 fr. treizième) 14 XIV quattuordecim quārtus decimus, -a, -um it. quattordici, sp. catorce, fr. quatorze (it. quattordicesimo, sp. decimocuarto, fr. quatorzième) 15 XV quīndecim quīntus decimus, -a, -um it. quindici, sp. quince, fr. quinze (it. quindicesimo, sp. decimoquinto, fr. quinzième) 16 XVI sēdecim sextus decimus, -a, -um it. sedici (sp. dieciséis) fr. seize (it. sedicesimo, sp. decimosexto, fr. seizième) 17 XVII septendecim septimus decimus, -a, -um (it. diciassette, sp. diecisiete, fr. dix-sept) (it. diciasettesimo, sp. decimoséptimo, fr. dix-septième) 18 XVIII duodēvīgintī duodēvīcēsimus, -a, -um (it. diciotto, sp. dieciocho, fr. dix-huit) (it. diciottesimo, sp. decimooctavo, fr. dix-huitième) 19 XIX ūndēvīgintī undēvīcēsimus, -a, -um (it. diciannove, sp. diecinueve, fr. dix-neuf) (it. diciannovesimo, sp. decimonoveno, fr. dix-neuvième) 20 XX vīgintī vīcēsimus, -a, -um it. venti, sp. veinte, fr. vingt 43 (it.ventesimo) sp. vigésimo (fr. vingtième) 21 XXI vīgintī ūnus / ūnus et vīgintī vīcēsimus primus, -a, -um it. ventuno, sp. veintiuno, fr. vingt-et-un (it. ventunesimo, sp. vigésimo primero, fr. vingt et unième) 30 XXX trīgintā trīcēsimus, -a, -um it. trenta, sp. treinta, fr. trente (it. trentesimo) sp. trigésimo (fr. trentième) 40 XL quadrāgintā quadrāgēsimus, -a, -um it. quaranta, sp. cuarenta, fr. quarante (it. quarantesimo) sp. cuadragésimo (fr. quarantième) 50 L quīnquāgintā quīnquāgēsimus, -a, -um it. cinquanta, sp. cincuenta, fr. cinquante (it. cinquantesimo) sp. cuincuagésimo (fr. cinquantième) 60 LX sexāgintā sexāgēsimus, -a, -um it. sessanta, sp. sesenta, fr. soixante (it. sessantesimo) sp. sexagésimo (fr. soixantième) 70 LXX septuāgintā septuāgēsimus, -a, -um 42 Bei den Ordnungszahlen von ‚13.’ - ‚19.’ existieren im Spanischen zwei autorisierte Schreibweisen. Neben der in der Tabelle gewählten Form existiert auch die Auseinanderschreibung, also z.B. décimo tercero, décimo cuarto etc., wo dann décimo einen Akzent trägt, weil es als eigenständige Betonungseinheit angesehen wird. 43 Auch das -gin fr. vingt wurde erst im Mittelfrz. relatinisierend eingefügt (vgl. afr. vint). <?page no="132"?> Morphologie und Wortbildung 132 it. settanta, sp. setenta (fr. soixante-dix) (it. settantesimo) sp. septuagésimo (fr. soixante-dixième) 80 LXXX octōgintā octōgēsimus, -a, -um it. ottanta, sp. ochenta (fr. quatre-vingts) (it. ottantesimo) sp. octagésimo (fr. quatrevingtième) 90 XC nōnāgintā nōnāgēsimus, -a, -um it. novanta, sp. noventa (fr. quatre-vingt-dix) (it. novantesimo) sp. nonagésimo (fr. quatre-vingt-dixième) 100 C centum centēsimus, -a, -um it. cento, sp. cien/ ciento, fr. cent it. centesimo, sp. centésimo, fr. centième 200 CC ducentī, -ae, -a ducentēsimus, -a, -um (it. duecento, sp. doscientos, fr. deux cents) (it. duecentesimo) sp. ducentésimo (fr. deux centième) 300 CCC trecentī, -ae, -a trecentēsimus, -a, -um it. trecento (sp. trescientos, fr. trois cents) it. trecentesimo, sp. tricentésimo (fr. trois centième) 400 CCCC quadringentī, -ae, -a quadringentēsimus, -a, -um (it. quattrocento, sp. cuatrocientos, fr. quatre cents) (it. quattrocentesimo) sp. quadringentésimo (fr. quatre centième) 500 D quīngentī, -ae, -a quīngentēsimus, -a, -um (it. cinquecento) sp. quinientos (fr. cinq cents) (it. cinquecentesimo) sp. quingentésimo (fr. cinq centième) 600 DC sescentī, -ae, -a sescentēsimus, -a, -um it. seicento, sp. seiscientos (fr. six cents) it. seicentesimo, sp. sexcentésimo (fr. six centième) 700 DCC septingentī, -ae, -a septingentēsimus, -a, -um (it. settecento, sp. setecientos, fr. sept cents) (it. settecentesimo) sp. septingentésimo (fr. sept centième) 800 DCCC octingentī, -ae, -a octingentēsimus, -a, -um (it. ottocento, sp. ochocientos, fr. huit cents) (it. ottocentesimo) sp. octingentésimo (fr. huit centième) 900 CM nōngentī, -ae, -a nōngentēsimus, -a, -um (it. novecento, sp. novecientos, fr. neuf cents) (it. novecentesimo, sp. noningentésimo, fr. neuf centième) 1000 M mīlle mīllēsimus, -a, -um it. mille, sp. mil, fr. mille it. millesimo, sp. milésimo, fr. millième 44 2000 MM duo mīlia bis mīllēsimus, -a, -um (it. duemila, sp. dos mil, fr. deux mille) (it. duemilesimo, sp. dosmilésimo, fr. deux millième) Zunächst einige Bemerkungen zu den römischen Zahlzeichen: Das Zeichen V für ‚5’ ergibt sich aus der Halbierung des Zeichens X für ‚10’. Das Zeichen X wiederum entstammt einem älteren westgriechischen Alphabet, aus dem einige Zeichen als Zahlzeichen entnommen wurden. Dies galt z.B. auch für die ursprünglichen Zeichen Θ für ‚1000’ und ein in heutigen Zeichensätzen nicht mehr auftauchendes Zeichen für ‚100’, deren graphische Teilung die römischen 44 Daneben existiert der Kultismus fr. millésime, also eine gelehrte Form, die auf dasselbe Etymon zurückgeht wie das Erbwort millième und mit diesem eine Dublette bildet. <?page no="133"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 133 Zahlzeichen D (‚500’) und L (‚50’) ergab. Die ursprünglichen Ausgangszeichen wurden dann unter dem Einfluss der Zahlwörter mille und centum durch M und C ersetzt. Die sog. „arabischen“ Zahlzeichen, die wir heute anstelle der römischen Zahlzeichen verwenden, stammten ursprünglich aus Indien und gelangten im Mittelalter durch Vermittlung der Araber über Spanien nach Mitteleuropa. Was die Zählweise angeht, so weicht das Lateinische (und mit ihm die romanischen Sprachen) in dem Punkt von den germanischen Sprachen ab, dass schon unmittelbar nach 10 auf die 10+Zählung, also die Additionszählung, umgestellt wird. Es gibt daher kein eigenes Morphem für ‚11’, sondern eine Zusammensetzung aus 1+10 (unus + decem > undecim). Wörtlich übersetzt zählt man also „einzehn, zweizehn, dreizehn“ etc. Auf der anderen Seite wird im Lateinischen zwei Schritte vor dem folgenden Zehner auf Subtraktionszählung umgestellt: ‚18’ wird also nicht als ‚10+8’ verbalisiert, sondern als ‚2 weniger als 20’. In den romanischen Zahlen hat man diese Subtraktion nicht übernommen, sondern zählt addierend weiter. Auch bei den römischen Zahlzeichen wird bekanntlich mit dem Additions- und Subtraktionsprinzip gearbeitet, allerdings taucht hier als Bezugsgröße zusätzlich die ‚5’ auf (V), um die Zahl der zu addierenden bzw. zu subtrahierenden Striche zu reduzieren. ‚6’ wird also nicht als <IIIIII> notiert, sondern als <VI>. Betrachtet man die romanischen Entsprechungen des lateinischen Zahlensystems, so erkennt man schnell, dass sich die romanischen Kardinalzahlen formal in der gewählten Reihenfolge Ital. - Span. - Frz. zunehmend vom lateinischen Original entfernen. Am größten sind die Abweichungen generell im Bereich zwischen 17 und 20 bzw. 27 und 30 etc., wo im Lateinischen jeweils vom nächsten Zehner herabgezählt wird (z.B. 18: duo-de-viginti ‚zwei weniger als zwanzig’), während in den romanischen Sprachen weiter auf den vorigen Zehner addiert wird (z.B. sp. dieciocho - vgl. diez y ocho: ‚zehn und acht’). Die zusammengesetzten Kardinalzahlen über 20 (21, 22 etc.) sind im Romanischen zumeist Ableitungen mit Hilfe der romanischen Grundzahlen von 1-9. Die vollen Zehner (20, 30, 40 etc.) setzen dagegen meist die entsprechenden lateinischen Zahlwörter direkt fort. Zu den vollen Hundertern ist zu sagen, dass viele lateinische Formen schon in vorklassischer Zeit einen internen Lautwandel durchgemacht haben, der dazu führt, dass der in der Zahl enthaltene Einer sowie die Einheit „Hundert“ nicht mehr klar erkennbar sind: z.B. 5 (quinque) x 100 (centum) => 500 (quingenti statt *quinquecenti). Manche romanische Formen bewahren nun direkt diese klassische Form und sind daher in der Tabelle nicht eingeklammert (z.B. sp. quinientos), andere machen die zugrundeliegenden Zahlen wieder durchsichtig 45 - aber mit romanischem Formenmaterial - und entfernen sich dadurch von der klassischen Form (z.B. it. cinquecento, fr. cinq cents). Diese Formen sind in der Tabelle eingeklammert. Die romanischen Ordnungszahlen bis einschließlich 10 gehen meist auf die lateinische Ordnungszahl zurück, während die romanischen Ordnungszahlen über 10 vornehmlich Ableitungen von der entsprechenden romanischen Kar- 45 Zur Theorie der „durchsichtigen Wörter“ vgl. Gauger (1971) und Kap.6.3.2. <?page no="134"?> Morphologie und Wortbildung 134 dinalzahl darstellen, und zwar im Italienischen mit der Endung -esimo und im frz. mit -ième (jeweils zurückgehend auf das lateinische Suffix -esimus, das die Ordnungszahlen der vollen Zehner markiert). Im Französischen liegen bereits ab troisième solche Ableitungen von der jeweiligen Kardinalzahl vor. Auffallend konservativ ist das Spanische, das bei den Ordnungszahlen 20., 30., 40. etc. sowie bei den vollen Hundertern 200., 300., 400. nahezu unverändert die lateinischen Formen beibehält, während im Italienischen und Französischen bereits innerromanische Ableitungen zum Einsatz kommen. Das in der Tabelle aus Platzgründen nicht aufgeführte Portugiesische bewahrt die runden lateinischen Ordinalzahlen ähnlich gut (mit leichten Abstrichen in der Phonetik) wie das Spanische: vgl. ‚20.’: port. vigésimo, ‚30.’: trigésimo, ‚40.’: quadragésimo etc.; ‚200.’: ducentésimo, ‚300.’: tricentésimo, 400.’: quadringentésimo etc. - also ein typisches Phänomen der konservativen Randromania. Bei ‚900.’ ist das portugiesische nongentésimo sogar noch näher am lateinischen Vorläufer als sp. noningentésimo, welches mit dem eingeschobenen -ineine jüngere Analogiebildung zu sp. octingentésimo darstellt. Die etwas aus der Art schlagende Zählweise des Französischen, in der Reste einer Vigesimalzählung (‚Zwanzigerzählung’) erhalten sind (vgl. soixante-dix für ‚70’, quatre-vingts für ‚80’, quatre-vingt-dix für ‚90’), wird auf das keltische Substrat zurückgeführt. So finden wir z.B. im zur keltischen Sprachgruppe gehörigen Bretonischen daou ugent (‚2 x 20’) für ‚40’, tri-ugent (‚3 x 20’) für ‚60’ etc. Im Altfranzösischen waren die Vigesimalzahlen auch noch jenseits des Hunderterraumes präsent (vgl. Formen wie seize vint für ‚320’), im Mittelfranzösischen wurden sie dann auf die genannten Ausnahmen reduziert. Außerhalb Frankreichs, z.B. in der Schweiz und in Belgien, hat man auch diese Ausnahmen inzwischen häufig zu den Dezimalentsprechungen septante, octante, nonante etc. relatinisiert. Der Gebrauch der Zahlwörter soll am folgenden neulateinischen Text deutlich gemacht werden, der für die Romanistik aus mehrfacher Sicht interessant ist: In seiner auf Latein veröffentlichten „Geschichte Venedigs“ geht der Italiener Pietro Bembo (1470-1547) auf die Entdeckung amerikanischer Inseln durch den unter spanischer Flagge segelnden Genueser Kolumbus ein - um die Trias 46 vollzumachen, ist dem Auszug hier eine französische Übersetzung beigefügt: Anno ab urbe condita millesimo septuagesimo primo, 47 tribus cum navibus Columbus ad insulas ortunatas, quas Canarias appellant, profectus, atque ab iis tres et triginta totos dies occidentem secutus solem, sex numero insulas repperit, quarum sunt duae ingentis magnitudinis. Illis in insulis lusciniae Novembri mense canebant. Homines nudi, ingenio 46 „Trias“ (rhetorisches Stilmittel): ‚Gruppe von drei zusammengehörigen Elementen’, also hier italienisch, spanisch, französisch. 47 Die Jahresangabe ist eine Anspielung auf römische Historiographen: Diese zählten seit Titus Livius und seinem epochalen Geschichtswerk Ab urbe condita (‚ab der Stadtgründung’) die Jahre von der Gründung Roms ab, die nach unserer Zeitrechnung auf das Jahr 753 v. Chr. fiel (Merkspruch: „753 - Rom kroch aus dem Ei“). Bembo aber zählt die Jahre ab der Gründung der Stadt Venedig. Welches Jahr er für diese Gründung ansetzt, findet man heraus, wenn man die hier genannte Jahreszahl vom Jahr der Entdeckung Amerikas, 1492, abzieht. <?page no="135"?> Nominalmorphologie des Klassischen Lateins 135 miti, lintribus ex uno ligno factis utebantur. (Bembo: Rerum Venetarum Historiae VI, zit. nach Gason/ Lambert 1997: 128) La mille soixante et onzième année après la fondation de la ville, avec trois navires, Colomb partit pour les îles ortunées, que l’on appelle Canaries, et de la ayant suivi la direction du soleil couchant pendant trente-trois jous entiers, il découvrit des îles au nombre de six, dont deux sont d’une grandeur importante ; dans ces îles, les rossignols chantaient au mois de novembre. Les hommes nus, d’un naturel doux, utilisaient des embarcations faites d’un seul tronc d’arbre. (Übersetzung nach Gason/ Lambert 1997a: 59). 4.3.6 Übungen a) Bestimmen Sie die Art und ggf. Form der Zahlwörter im Text und übersetzen Sie sie. b) Auf welche lateinischen Präpositionen bzw. Derivationssufixe gehen die in den folgenden romanischen Ableitungen auftretenden Präfixe und Suffixe zurück? Versuchen Sie, jeweils das komplette lateinische Etymon zu rekonstruieren. frz. impossible, antécedent, contredire sp. desigual, preclásico, sobreponer it. incidere, riparlare, sostituire fr. animation, béatitude, moniteur sp. actriz, igualdad, verdoso it. sottoalimentazione, riduttore c) Ermitteln Sie (auch mit Hilfe eines Wörterbuchs) den Nominativ Singular zu den folgenden Formen bzw. Syntagmen: qualitatis passu longiores his pueris panem nostrum d) Verbinden Sie die zueinander passenden Formen mit Linien: lupis miseris passum magnos muros nostrum materiae duodecimum hominum acribus mare optimae civibus illorum e) Bestimmen Sie (u.U. mit Hilfe eines Wörterbuchs) die Form der folgenden lateinischen Substantive (Kasus, Numerus, Genus) und passen Sie die daneben stehenden Adjektive formal an sie an. Übersetzen Sie anschließend den gesamten Ausdruck. <?page no="136"?> Morphologie und Wortbildung 136 dona bonus, 3 qualitatis maximus, 3 senatu honestus, 3 oratorum eloquens, -ntis principiis vetus, veteris auditorium grandis, -e cervisiam tertius, 3 f) Übersetzen Sie die folgenden Syntagmen mit Hilfe eines Wörterbuchs und setzen Sie die Adjektivformen in die entsprechenden Formen des Komparativs und des Superlativs: urbs magna bellum crudele magistros superbos regis potentis vinis bonis g) Das folgende Epigramm 48 des aus Spanien stammenden Dichters Martial (um 40 ca. 104 n.Chr.) thematisiert die Zahnpflege in der römischen Gesellschaft, hier am Beispiel der Damen Thais und Laecania. Bestimmen und übersetzen Sie mit Hilfe eines Wörterbuchs die unterstrichenen Nomina und versuchen Sie auf diesem Wege den Inhalt des Epigramms zu erschließen (ratio entspricht hier ‚Ursache’, emptos ist Akk.Pl.Masc. des Partizips Perfekt Passiv von emĕre ‚kaufen’). Thais habet nigros, niveos Laecania dentes. Quae ratio est? Emptos haec habet, illa suos. (Ep. 5,43) 4.3.7 Weiterführende Aufgaben a) Informieren Sie sich anhand eines linguistischen Wörterbuchs über den Begriff “Synkretismus” und recherchieren Sie, inwiefern der lateinische Ablativ einen Synkretismus darstellt (z.B. anhand der Grammatik von Rubenbauer et al. 1995) b) Ermitteln Sie anhand eines linguistischen Wörterbuchs, auf wen die typologische Unterscheidung von isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Sprachen zurückgeht, und suchen Sie moderne Sprachenbeispiele für die drei genannten Typen. 48 „Epigramme“ waren, dem ursprünglichen griechischen Wortsinn nach, ‚Aufschriften’ oder ‚Inschriften’, z.B. auf Gefäßen oder Grabsteine (die Inschriftenkunde heißt daher „Epigraphik“). Später entwickelte sich daraus eine Gattung von Kurzgedichten. Die Epigramme von Martial zeichnen sich durch ihren Spottcharakter aus und erlangten besondere Verbreitung. <?page no="137"?> Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein 137 4.4 Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein Sprachwandel ist kein Phänomen, das sich auf alte Sprachzustände beschränkt. Auch in unseren „lebenden“ Sprachen werden wir ständig Zeugen von Neuerungen. Diese Neuerungen können versehentlich passieren bzw. durch Inkongruenzen im Sprachsystem provoziert werden oder aber gezielt von Individuen erdacht werden - letzteres gilt vor allem für Neuerungen im lexikalischen Bereich, man denke nur an die Arbeit von Werbefachleuten. In solchen Fällen kann man von Prozessen der „unsichtbaren Hand“ sprechen (Keller 1982, 1994): Ein Individuum will sich aus irgendeinem Grund sprachlich von seiner Umgebung absetzen (z.B. um als Werbetreibender aufzufallen; um gebildet zu wirken; um beim anderen Geschlecht Eindruck zu schinden) und löst damit eine Nachahmungswelle und schließlich einen allgemeinen sprachlichen Wandel aus, der von ihm gar nicht intendiert war. Die meisten Neuerungen werden in einem frühen Stadium noch als ungewöhnlich oder gar fehlerhaft beurteilt, später fallen sie bei entsprechender Verbreitung gar nicht mehr auf und können schließlich sogar Eingang in sprachnormierende Werke wie Wörterbücher und Grammatiken finden. Über lautlichen und graphischen Wandel im Lateinischen hatten wir bereits gesprochen. Was graphischen Wandel angeht, so sind offizielle Rechtschreibreformen eher selten der Auslöser einer neuen Schreibung. Typischer ist ein schleichender Veränderungsprozess, der irgendwann so stark verbreitet ist, dass die neue Schreibvariante gezwungenermaßen auch von den normbildenden Instanzen akzeptiert wird. Im Deutschen lag ein solcher Fall zuletzt bei der Expansion des apostrophierten Genitivs vor, der uns allen von „Uwe’s Würstchenbude“, „Rosi’s Friseurladen“ und ähnlichen graphischen Ausrutschern bekannt ist und in eben dieser Verwendung mittlerweile auch vom Duden akzeptiert wird. Veränderungen gibt es aber auch in der Morphosyntax, im Deutschen vor allem beim Kasussystem. So hat beispielsweise das Syntagma „wegen + Dativ“ anstelle des Genitivs in den letzten 30 Jahren Karriere gemacht (vgl. „wegen dem schlechten Wetter“ anstatt „wegen des schlechten Wetters“). Ganz selten kommt es auch zu rein syntaktischen Veränderungen, im Deutschen zuletzt in Form der zunehmenden Verbreitung der Konjunktion „weil“ mit Hauptsatz (vgl. eine Anzeigenkampagne der dm-Märkte von 1996 zum Ladenschluss: „Ich bin für spät, weil früh ist Schnee von gestern“). Für das Lateinische ist vermutlich ein höheres Sprachwandeltempo anzunehmen als für unsere modernen Sprachen. Dafür sprechen vor allem vier Faktoren: • Die Schulbildung, die heute dafür sorgt, dass mehr oder weniger alle Kinder eines Jahrgangs ihren muttersprachlichen Standard erwerben, blieb sowohl im Römischen Reich als auch im Mittelalter nur einer kleinen Elite vorbehalten. Außerdem gab es keine einheitlichen Lehrpläne oder Lehrbücher, die für die Festschreibung eines bestimmten Sprachstandards gesorgt hätten. <?page no="138"?> Morphologie und Wortbildung 138 • Weder im Römischen Reich noch im Mittelalter gab es Massenmedien, die wie heute für die Verbreitung und den Erhalt des sprachlichen Standards sorgten. • Das Lateinische wurde zum Teil von Nicht-Muttersprachlern exportiert und von einem großen Teil der Bevölkerung des Römischen Reiches als Fremdsprache erworben, und zwar im ungesteuerten Erwerb, also ohne Korrektur durch ausgebildete Lehrer. • Das Klassische Latein ist zwar aus unserer heutigen Sicht eine Standardsprache mit entsprechendem Ausbau - für Zeitgenossen war es aber keineswegs „klassisch“. Es ist also durchaus fraglich, ob man in der Sprecherschaft überhaupt von einem verbreiteten Bewusstsein für das, was sprachlich „korrekt“ ist, ausgehen kann - ein solches Bewusstsein setzt ja kodifizierte Sprachnormen voraus. Das vorhandene Sprachbewusstsein dürfte eher zwischen Größen wie „gewöhnliches“ vs. „ungewöhnliches“ Sprechen differenziert haben. Sicherheitshalber sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass man zwar von DEM Klassischen Latein sprechen kann - einfach deshalb, weil sich Generationen von Altphilologen hier auf einen sehr engen Kanon von Autoren und Texten geeinigt haben -, dass aber keineswegs von einem einheitlichen Vulgär- oder Spätlatein ausgegangen werden kann. Die sprachlichen Besonderheiten, die im Folgenden aufgeführt werden, sind also sehr unterschiedlich über die verschiedenen Texte und Autoren verteilt, die keinen klassischen Status (s.o.) besitzen. In all diesen unklassischen Texten koexistieren „klassische“ bzw. genauer: „unmarkierte“ Formen neben volkssprachlich markierten und jüngeren Formen. Bei der folgenden Lektüre zu beachten ist auch, dass der Pfeil „>“ von einer klassisch lateinischen zu einer vulgärlateinischen Form nicht unbedingt bedeutet, dass sich die eine Form direkt von der anderen ableitet. Wir hatten ja bereits gesehen, dass es durchaus vulgärlateinische Formen gibt, die älter als ihre klassischen Entsprechungen sind. Wir müssen außerdem von der Existenz von Parallelformen ausgehen. 4.4.1 Deklination von Substantiven und Adjektiven Die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Klassischen Latein und den unklassischen Varietäten bezüglich der Deklination laufen auf eine Vereinfachung des Formenparadigmas hinaus. Hier haben offensichtlich zahllose Sprechergenerationen, die das Lateinische als Zweitsprache erwarben, ihre Spuren hinterlassen: Unregelmäßige und damit schwer memorierbare Formen wurden durch regelmäßige Analogiebildungen ersetzt, seltene Formen ganz aufgegeben. Im folgenden eine Auswahl der wichtigsten Phänomene: Verlust des Neutrums (vgl. Väänänen 1981: 101ff): Das Neutrum, das ohnehin immer schon eine Art Zwitterstellung innehatte (daher auch die Bezeichnung: neutrum ‚keines von beiden’), wurde allmählich als eigene Kategorie aufgegeben und spielt auch in den romanischen Sprachen keine große Rolle mehr. Die <?page no="139"?> Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein 139 meisten Neutra wurden dabei zu Maskulina, vgl. klat. vinum, i, n ‚Wein’ > vlat. vinus, i, m 49 (> sp. el vino, fr. le vin, it. il vino, port. o vinho, kat. el vi) oder balneum, i, n ‚Bad’ > vlat. balneus, i, m (> sp. el baño, fr. le bain, it. il bagno, port. o banho, kat. el bany). Eine kleinere Gruppe von Neutra, die häufig im Plural auftraten, wurden wegen der Pluralendung -a in Nom./ Akk. und deren Ähnlichkeit mit dem Femininum Singular der a-Dekl. wohl als Femininum und damit als Singular interpretiert; vgl. klat. folium, ii, n (Pl. folia, -orum) ‚Blatt’ > vlat. folia, ae, f (> sp. la hoja, fr. la feuille, it. la foglia) oder klat. gaudium, ii, n (Pl. gaudia, -orum) ‚Freude’ > vlat. gaudia, ae, f (> it. la gioia, fr. la joie, kat. la joia). Dieses Phänomen der Interpretation eines Plurals als Singular ist auch im Gegenwartsdeutschen bei Lehnwörtern häufig zu beobachten: Man hört z.B. immer wieder Fehlgriffe wie „das Antibiotika“ und kann sogar in seriösen Tageszeitungen Stilblüten des Typs „der Mafiosi“ oder „der Paparazzi“ finden (korrekt: der Mafioso bzw. der Paparazzo). Setzt nun ein Lateinlerner in der Antike das feminin interpretierte folia in den entsprechenden Plural (also foliae, arum), dann tut er nichts anderes als Sprecher des Deutschen, die weder vor „Praktikas“ und „Internas“, noch vor „Mafiosis“ zurückschrecken. Erhalten hat sich das Neutrum in den romanischen Sprachen nur im Bereich der Pronomina. Zu nennen wären hier z.B. das italienische Demonstrativum ciò, die französische Demonstrativreihe ce, ceci, cela bzw. ça (im Unterschied zur maskulinen Reihe mit celui und der femininen Reihe mit celle), oder die spanischen Formen esto (z.B. ¿qué es esto? ‚Was ist das? ’) im Unterschied zu mask. este und fem. esta sowie entsprechend eso und aquello. Schwanken zwischen Maskulinum und Femininum (vgl. Väänänen 1981: 105): Die Baumnamen, die im Klassischen Latein noch grundsätzlich feminin waren, wurden im Vulgärlatein zunehmend ihrer Form nach als Maskulina aufgefasst, vgl. z.B. klat. pinus, us/ i, f ‚Kiefer’> vlat. pinus, i, m (> fr. le pin, sp. el pino, it. il pino). Bei einigen Substantiven, vor allem Abstrakta, existierten im Vulgär- und Spätlatein maskuline und feminine Formen nebeneinander. Dies erklärt, warum in manchen Fällen die verschiedenen romanischen Sprachen uneinheitliche Genera verwenden. Vgl. z.B. klat. finis, is, m ‚Grenze’> vlat. finis, is, f (> fr. la fin, aber sp. el fin; im Italienischen beide Genera: il fine ‚Zweck’, la fine ‚Ende’); klat. dolor, oris, m ‚Schmerz’ > vlat. dolor, oris, f (> fr. la douleur, aber sp. el dolor und it. il dolore); klat. frons, frontis, f ‚Stirn’ > vlat. frons, frontis, m (> fr. le front, aber sp. la frente und it. la fronte ‚Stirn’ neben il fronte ‚Front’). 49 Als mnemotechnische Stütze ist der folgende Witz geeignet: Einem Bischof wird beim Besuch in einem Weinort Wein kredenzt. Er probiert und lobt: „Vinus bonus! “ Niemand getraut sich, zu diesem Fehler etwas zu sagen. Später, beim Mittagessen, wird ihm wieder Wein vorgesetzt. Diesmal erklärt er mit emporgezogenen Brauen. „Vinum bonum! “ Da wagt einer, ihn zu fragen: „Weshalb, hochwürdiger Herr Bischof, haben Sie denn vorher ‚vinus bonus’ gesagt? “ Darauf der Bischof: „Je besser der Wein, desto besser das Latein! “ (nach Gauger 2006: 133). <?page no="140"?> Morphologie und Wortbildung 140 Reduktion der Deklinationsklassen (vgl. Väänänen 1981: 106ff): Substantive aus selten verwendeten Deklinationsklassen wurden zunehmend nach gängigeren Deklinationen flektiert, die ähnliche Endungen aufwiesen. So wurde die u- Deklination hin zur o-Deklination aufgelöst (aus exercitus, -ūs, m ‚Heer’ wird also z.B. exercitus, -i, m; entsprechend bei senatus, ūs, m ‚Senat’ und domus, ūs, m ‚Haus’). Gelegentlich gab es schon im Klassischen Latein Doppelformen mit verschiedenen Stämmen, vor allem bei Substantiven auf -ies (e-Dekl.) und -ia (a- Dekl.), z.B. luxuries/ luxuria ‚Prunksucht’ oder mundities/ munditia ‚Sauberkeit’. Von diesen Dubletten setzten sich im Vulgär- und Spätlatein die Formen der a- Dekl. durch. Vgl. z.B. materies, ei, f / materia, ae, f ‚Baustoff’ > sp. madera, port. madeira ‚Holz’, it. materia ‚Stoff’; der später entlehnte französische Kultismus matière ‚Substanz’ dagegen wird auf materies zurückgeführt. Zweiendige Adjektive der sehr unregelmäßigen dritten Deklination wurden zunehmend nach der regelmäßigeren o-Deklination flektiert, die darüberhinaus den Vorteil hatte, dass man durch ihre dreiendigen Formen das Genus besser erkennen kann. z.B. tristis, -is ‚traurig’ > tristus, -a, -um; pauper, -is ‚arm’ > pauper, -a, -um. Die Ersetzung kann aber nicht vollständig gewesen sein, da wir in den romanischen Sprachen Spuren beider Deklinationen finden: vgl. die nach Wegfall des Neutrums einendigen Formen fr. triste u. pauvre, sp. triste u. pobre sowie it. triste und dagegen die zweiendigen, also auf die lat. o-Dekl. zurückgehenden Formen it. tristo, a ‚schlecht’ (nach Bedeutungsveränderung) und poverò, -a. Im Fall von it. triste ‚traurig’ vs. tristo ‚schlecht’ haben wir also den seltenen Fall einer romanischen Dublette, die direkt auf eine lateinische Dublette zurückgeht. Zusammenbruch des Kasus-Systems (vgl. Väänänen 1981: 110ff): Dies ist sicherlich die markanteste und folgenreichste Veränderung in der vulgär- und spätlateinischen Nominalmorphologie. Sie steht hier aber deshalb nicht an erster Stelle, weil sie zum einen in den überlieferten Texten nur an einzelnen Stellen durchschimmert, und weil sie zum anderen nicht nur die Morphologie, sondern auch die Syntax ganz wesentlich betrifft (vgl. 4.1). Die Funktion der Kasusendungen wird nämlich jetzt teilweise von Präpositionen übernommen, und zwar der Genitiv durch de + Ablativ und der Dativ durch ad + Akkusativ. Hiermit herrschen ganz ähnliche Verhältnisse, wie wir es von den romanischen Sprachen kennen, wo der Dativ beispielsweise durch a/ à und der Genitiv durch de ausgedrückt wird (allerdings hier nur mit einem einzigen Universalkasus). Außerdem entfällt der Vokativ bzw. wird durch den Nominativ ersetzt. In einer letzten Phase fallen dann Akkusativ und Ablativ, die sich wegen des Verstummens des Auslaut-m und der Öffnung des kurzen [u] zu [o] immer ähnlicher wurden, zu einem obliquen Universalkasus zusammen. Damit liegt dann ein Zweikasussystem vor, das dem des Alfranzösischen entspricht. Es wird morphologisch nur noch zwischen einem Casus Rectus (Nominativ) und einem Casus Obliquus (ehemaliger Akk./ Abl.) unterschieden, die Funktion des Genitivs übernimmt das Syntagma de + Obliquus, des Dativs ad bzw. a + Obliquus: <?page no="141"?> Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein 141 Latein./ afr. Zweikasussystem am Beispiel von lat. murus, i, m bzw. afr. murs ‚Mauer’ Singular Plural Rectus lat. murus > afr. murs lat. muri > afr. mur Obliquus lat. muru(m) > afr. mur lat. muros > afr. murs Was den Auslöser dieser Entwicklung angeht, so scheiden sich die Geister: Manche machen den phonetischen Verfall der Wortendungen dafür verantwortlich, der die Kasusunterscheidung schwierig macht und damit die zusätzliche Verwendung von Präpositionen nahelegt (s. 3.2.1). Umgekehrt kann man aber auch argumentieren, dass zuerst die zusätzliche Verwendung von Präpositionen wegen derer kommunikativer Vorteile aufkam (man weiß schon vor dem Hören oder Lesen des zugehörigen Substantivs, welche Funktion es innerhalb des Satzes hat) und erst danach die funktionslos gewordenen Kasusendungen zusammenfielen. Im Grunde ist dies die bekannte Henne/ Ei-Problematik und muss als solche nicht aufgelöst werden. Im Folgenden soll das Prinzip der Kasusauflösung an drei Beispielen gezeigt werden: homo ‚Mensch, Mann’ (Akk. hominem, Abl. homine), amicus ‚Freund’ (Akk. amicum, Abl. amico) und amica ‚Freundin’ (Akk. amicam, Abl. amica). Kasus klassisch lat. Form vulgärlat. Form romanische Entsprechungen (fr., sp., it.) Gen. hominis amici amicae de homine de amico de amica de l'homme, del hombre, dell'uomo de l'ami, del amigo, dell'amico de l'amie, de la amiga, della amica Dat. homini amico amicae ad homine(m) ad amicu(m) ad amica(m) à l'homme, al hombre, all'uomo à l'ami, al amigo, all'amico à l'amie, a la amiga, alla amica Der Ablativ homine fällt schließlich mit dem Akk. homine(m) zusammen und entsprechend amico mit amicu(m) und amica mit amica(m). Der Akkusativ steht also jetzt auch nach Präpositionen, die zuvor mit dem Ablativ konstruiert wurden, d.h. nach a/ ab (‚von, durch’), e/ ex (‚aus’), de (‚von’), cum (‚mit’), sine (‚ohne’), pro (‚für’), prae (‚vor’). So heißt es in der Appendix Probi beispielsweise korrigierend „vobiscum non voscum”. Der aus diesem letztgenannten Zusammenfall resultierende oblique Kasus setzt sich als Universalkasusform der Westromania durch (z.B. homine > port. homem, sp. hombre, kat. home, frz. homme), während in der Ostromania häufig auch der lateinische Nominativ als Universalkasus erhalten wird (z.B. homo > it. uomo, rum. om; daneben aber auch z.B. it. morte vom lat. Akk. mortem im Unterschied zum Nom. mors). Eine Ausnahmestellung bezüglich der Kasus nimmt das Rumänische ein: Nur hier sind, wohl unter slavischem Einfluss, Reste des maskulinen Vokativs auf -e (z.B. zu lat. dominus, i, m ‚Herr’: domine > rum. Doamne) sowie Reste des Dativs bei den Feminina der a-Dekl. und der dritten Dekl. erhalten (z.B. zu lat. casa, ae, f ‚Hütte’: casae > rum. case; zu lat. mors, mortis, f ‚Tod’: morti > rum. morţi). Diese Dative dienen im Rumänischen zugleich als Genitive (Tagliavini 1998: 297). Aus der gesamtromanischen Perspektive betrachtet verzeichnen wir aber typologisch dadurch, dass die Kasusunterscheidung am Wortende wegfällt und <?page no="142"?> Morphologie und Wortbildung 142 durch eine Kasusbestimmung mit Präposition ersetzt wird, einen Übergang von der Postzur Prädetermination und von der Synthese zur Analyse. Dieser Übergang wird durch das folgende Phänomen noch verstärkt: 4.4.2 Analytische Steigerung Wie wir bereits gesehen haben, wurde im Klassischen Latein der Komparativ synthetisch durch Anhängen der Endung -ior (mask./ fem.) oder -ius (neutr. und Adverb) gebildet (s.o. Kap.4.3.3). Im Zusammenhang mit der schleichenden Entwertung der Wortausgänge wurde nun ein Verfahren, das im Klassischen Latein nur in Ausnahmefällen angewandt worden war, zur Regel: Vor das zu steigernde Adjektiv wird zunächst das komparativische Adverb magis (‚mehr’) gesetzt, aus clarior (‚berühmter’) wird also magis clarus. In einer späteren Phase wird dann das Adverb magis von plus verdrängt. Die Sprachen der Zentralromania, die über längere Zeit intensiven Kontakt zum Zentrum Rom aufwiesen, haben diesen Wandel noch mitgemacht (lat. plus clarus > fr. plus clair, it. più chiaro). Die Sprachen der Randromania hingegen, deren Kontakt nach Rom deutlich früher abgebrochen war, haben die ältere Steigerungstechnik bewahrt: lat. magis clarus > sp. más claro, port. mais claro. Was das Element angeht, mit dem etwas verglichen wird, so wurde dieses im Vulgär- und Spätlatein nur noch mit der Vergleichspartikel quam (als) angeschlossen, während im Klassischen Latein an entsprechender Stelle auch noch der Ablativ des Vergleichs („Ablativus comparationis“) stehen konnte: vgl. z.B. alius alio magis erravit vs alius magis quam alius erravit (‚einer irrte noch mehr als der andere’). Infolgedessen finden wir in den romanischen Sprachen durchweg Vergleichsanschlüsse mit que/ che. 4.4.3 Form und Verwendung der Pronomina 50 Die Pronomina sind, wenn es um die Zuordnung zu sprachlichen Ebenen wie Morphologie oder Syntax geht, ein besonders heikles Phänomen. Fast immer bringt ein formaler Wandel hier auch einen Wandel in der Verwendung mit sich, weshalb man gerade bei den Pronomina gerne von der „Morphosyntax“ spricht. Pronomina aber spielen wegen ihrer schon angesprochenen deiktischen Funktion auch eine wichtige Rolle auf der Textebene und überschreiten damit sogar noch die Ebene der Satzsyntax. Was die reine Morphologie angeht, so ist zu sagen, dass sich im Vulgär- und Spätlatein das klassische Kasussystem offensichtlich am besten bei den Pronomina bewahrt hat. Entsprechend hat sich in den Pronomina der modernen romanischen Sprachen nicht nur das Genus Neutrum erhalten (s.o.), sondern auch eine morphologische Unterscheidung von Nominativ, Akkusativ und Dativ. So finden wir z.B. bei den Personalpronomina eine Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ vor: 50 Hierzu v.a. Tagliavini 1998: 204ff und Väänänen 1981: 120ff. <?page no="143"?> Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein 143 • Nom.: lat. ego > frz. je, sp. yo, it. io • Akk.: lat. me > frz. me, sp. me, it. mi Bei den romanischen Objektpronomina hat sich eine Unterscheidung von akkusativischen und dativischen Formen erhalten: • Akk.: lat. illum/ illam > frz. le 51 / la, sp. lo/ la, it. lo/ la (der lat. Akk.Pl. illos/ illas hat sich besonders gut in sp. los/ las erhalten). • Dat.: lat. illi bzw. *illui 52 > frz. lui, sp. le, it. gli (masc.)/ le (fem.). Der lat. Dat.Pl. illis hat sich z.B. in sp. les erhalten. Selbst der Genitiv Plural von ille, also illorum, hat seine Spuren in den romanischen Sprachen hinterlassen, vgl. frz. leur und it. loro. Die folgenden morphologischen Phänomene betreffen auch die (Text-) Syntax: Aus dem gerade genannten und besonders häufig gebrauchten Demonstrativpronomen ille haben sich auch die meisten der bestimmten romanischen Artikel 53 entwickelt: lat. ille/ illa > it. il, la; sp. el, la; fr. le, la, kat. el, la, port. o, a. Das Pronomen ille hat also seine deiktische Bedeutung (Demonstrativum der 3.Person bzw. der Ferne) eingebüßt und wird auf die determinative Bedeutung eingeschränkt. Trotzdem kann man im Vulgärlatein bei ille sicher noch nicht von einem Artikel sprechen, aber immerhin tritt schon häufiger das Zahlwort unus (‚eins’) in artikelähnlicher Verwendung auf. Hieraus haben sich entsprechend die unbestimmten Artikel in den romanischen Sprachen entwickelt: lat. unus/ una > it. uno/ una, sp. uno/ una, frz. un/ une. Interessant ist die Frage, warum sich ille und nicht das in spätlateinischen Texten deutlich häufigere ipse zum dominierenden romanischen Artikel entwickelt hat. Selig (1992: 177ff) erklärt dieses Phänomen aus der textlinguistischen Perspektive: Während die Funktionen von ille recht vielfältig waren, beschränkte sich ipse auf die anaphorische Funktion, also auf den Rückverweis auf Bekanntes, und hatte dabei stark kontrastierende Bedeutung. Mit ille hat sich also das merkmallosere und damit vielseitigere Element als Artikel durchgesetzt. Die Herleitung der Pluralform dieser bestimmten Artikel ist übrigens ein häufig genanntes Kriterium für die Aufteilung in Ost- und Westromania: 51 Wohl unter Einfluss des Nominativs ille bzw. eines dazu analog gebildeten Akkusativs illem. 52 Diese Nebenform, die wie illi gleichfalls für masc. und fem. steht, wurde wohl analog zur Dativform cui des Relativ- und Interrogativpronomens gebildet. 53 Aus der Art schlägt v.a. der enklitische, also angehängte Artikel -ul im Rumänischen, dessen Nachstellung auf slavisches Substrat zurückgeführt wird, vgl. homo illu > rum. omul, sowie das auf ipse bzw. dessen Akkusativ ipsu(m) zurückgehende Artikelsystem im Sardischen (vgl. Tagliavini 1998: 289, 204). <?page no="144"?> Morphologie und Wortbildung 144 Westromania: Ostromania: Plural Artikel vom lat. Akk. aus gebildet Artikel vom Nom. aus gebildet lat. illos > frz. les, span. los, port. os lat. illi > it. i/ gli, rum. -i 54 lat. illas > frz. les, span. las, port. as lat illae > it. le, rum. -le Entsprechendes gilt, wie bereits erwähnt, auch für die meisten Substantive: So wird z.B. der lateinische Akk.Pl. amicos zu fr. les amis, sp. los amigos und der Nom.Pl. amici > it. gli amici. Die Veränderungen bei den Pronomina hatten auch textsyntaktische Konsequenzen: Nach dem wohl phonetisch (wegen der extremen Kürze der Formen) bedingten Ausfall von is, ea, id wurden dessen Funktionen (also z.B. die kataphorische Funktion in is … qui: ‚derjenige … welcher’) teils von hic, teils von ille übernommen (aus diesen Verwendungen von ille entwickelte sich dann der bestimmte Artikel, s.o.), und teilweise auch von ipse. An die Stelle von hic als Pronomen der ersten Person rückte dann iste, das Pronomen der zweiten Person, nach. Als eigenständiges Pronomen hat sich hic nicht in den romanischen Sprachen erhalten können, wohl aber in vereinzelten Zusammensetzungen wie z.B. hoc ille, das im Altfranzösischen zur Bejahungspartikel oïl wurde und bis heute als frz. oui verwendet wird (daher wird das Nordfranzösische als langue d’oïl im Unterschied zur langue d’oc in Südfrankreich bezeichnet, wo die Bejahung auf hoc alleine zurückging), oder in hac hora (‚zu dieser Stunde, jetzt’) > asp. agora > sp. ahora. Auch it. però (‚aber’) geht auf eine solche Zusammensetzung, nämlich per hoc, zurück. Iste als neues Demonstrativum der ersten Person hat sich beispielsweise in sp. este (‚dieser hier’) erhalten, aber auch in der katalanischen Zusammensetzung aquest/ aquesta (‚dieser/ diese hier’ < lat. hac iste/ hac ista). Recht unterschiedlich geartet sind die Fortsetzer von lat. ipse: Im Spanischen hat es sich im Demonstrativum ese/ esa fortgesetzt, im Italienischen in esso/ essa. Offensichtlich hat es also teilweise als Demonstrativum der 2. Person das Pronomen iste verdrängt. Daneben tauchen im Altkatalanischen Nachfolger von ipse vorübergehend als bestimmte Artikel es/ sa auf. Und schließlich verdrängt ipse auch noch idem als Determinativum. Wie weit das Bedeutungsspektrum von ipse gehen konnte, zeigt das christliche Spätlatein, wo ipse sogar morphologisch gesteigert wird. So bezeichnet man z.B. in der Theologie bis heute die überlieferten Worte Jesu als ipsissima verba, seine Taten als ipsissima facta. Nachdem bloßes ille wegen seiner Umfunktionierung zum Determinativum als Demonstrativum der 3. Person ausgedient hatte, rückten an diese Position verschiedene Zusammensetzungen. Sie bestanden zumeist aus einem verstärkenden Präsentativum (z.B. ecce oder eccum ‚siehe’, etwa vergleichbar zu fr. voilà) und einer Form von ille. Auf diese Weise entstanden z.B. it. quello und sp. aquel oder afr. cil (‚jener’) aus lat. eccum illu. Später wurden diese Präsentativ- 54 Die rumänischen Artikel sind enklitisch, werden also an das Bezugswort angehängt (vgl. vorige Fußnote). <?page no="145"?> Nominalmorphologie „Vulgär“- und Spätlatein 145 kompositionen dann auch auf andere Pronomina, wie z.B. iste übertragen, vgl. eccum istu > it. questo, afr. cist (‚dieser’); ecce hoc > it. ciò. Zusammengefasst ergeben sich also die folgenden Verschiebungen vom klassisch lateinischen zum spätlateinischen Pronominalgebrauch (die durchgezogenen Rahmen repräsentieren das klassische System, die gestrichelten Rahmen symbolisieren spätlateinische Neuschöpfungen. Die Pfeile stehen für Verschiebungen im Pronomengebrauch zur Zeit des Spätlateins): Abb. 27: Verschiebungen in der Verwendung der Pronomina vom Klassischen Latein zum Spätlatein (modifiziert in Anlehnung an Väänänen 1981: 121) 4.4.4 Zusammenfassung Die wesentlichen Unterschiede zwischen der Nominalmorphologie des Klassischen Lateins und des Vulgär- und Spätlateins bestehen in der Angleichung unregelmäßiger oder seltener Formparadigmen an regelmäßigere Entsprechungen, in der Reduktion von Kasusformen und in einer Verlegung der grammatischen Information vom Wortende (Endungen) nach vorne (z.B. als Präpositionen). Man kann dies typologisch als einen Trend von der Synthese zur Analyse und von der Postzur Prädetermination bezeichnen. Insgesamt ist aber weder das Klassische Latein rein synthetisch-postdeterminierend (es gibt ja z.B. unter bestimmten Umständen auch die analytische Steigerung mit magis), noch ist das Vulgärlatein rein analytisch-prädeterminierend (der Numerus wird ja z.B. selbst nach dem Kasuszerfall weiterhin am Ende der Wörter angezeigt). Insgesamt ist die Entwicklung der im Gegenwartsdeutschen vergleichbar, wo synthetisch-postdeterminierende Informationen (v.a. die Kasus-Endungen) gleichfalls im Schwund begriffen sind. Der Balkanologe Hinrichs prognostiziert beispielsweise Sätze wie „Die Sprache von meine Vorfahr war mehr kompliziert wie heut.“ für das Hochdeutsch in einigen Jahrzehnten (nach Krischke 2006). Dies ist keinesfalls allein auf den Faktor „Deutsch als Zweitsprache“ zurückzuführen - auch in Zeitungsartikeln studierter deutscher Muttersprachler sind Genitiv, Dativ und Akkusativ auf dem Rückzug vgl. Formulierungen wie „keiner kann ihnen Herr werden“ (Der Sonntag im Breisgau 30.11.2003), „Während eines Streiks gibt’s is † hic † iste ille ipse idem † Demonstrativa der 1. 2. 3. Person Determinativa „Universalpronomen“ eccum ille <?page no="146"?> Morphologie und Wortbildung 146 kein Urlaub“ (Badische Zeitung, 10/ 1996), „An alle Romanistik-Studierende! “ (Flugblatt Uni Freiburg, 30.10.1996), „Lebten Huftiere mit Dinosaurier? “ (Badische Zeitung, 29.5.96), „nun droht dem Zweitligist Äger“ (Der Sonntag, 23.7.2006). 4.4.5 Übungen a) Konstruieren Sie zu den unterstrichenen Elementen in den folgenden pompejanischen Graffiti die entsprechende klassische Form: Originalform klassische Form dt. Übersetzung Marcus Spedusa amat ..................................... Marcus liebt Spedusa Serena Isidoru fastidit ..................................... Serena verschmäht Isidorus Viator Pompeis pane gustes ..................................... Wanderer, probier das Brot in Pompeji b) Wie lautet die entsprechende klassisch lateinische Form zu den folgenden spätlateinischen Varianten? de homine ad Paulum magis beatus plus felix c) Bestimmen und übersetzen Sie die folgenden klassisch lateinischen Formen. Wie müssten die entsprechenden spätlateinischen Varianten lauten (z.T. mehrere Möglichkeiten)? exercitibus puellarum nationi senatoris clariorem d) Bestimmen Sie Form und Funktion der folgenden klassisch gebrauchten Pronomina und geben Sie an, wodurch die jeweilige Form im Spätlatein ersetzt wird (es gibt oft mehrere Möglichkeiten, z.B. mit und ohne Präposition): eiusdem huic eam illos e) Von welchen lateinischen Kasusformen stammen die folgenden italienischen Substantivformen ab, vom Nominativ oder vom Akkusativ? fonte cavalli figlie codice <?page no="147"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 147 f) Der Bericht, den die wohl aus den Pyrenäen stammende Nonne Egeria über ihre Pilgerreise nach Palästina (zwischen 381 und 384 n.Chr.) angefertigt hat, gilt als Dokument des Vulgärlateins. Begründen Sie diese Einstufung aus dem Gebrauch der unterstrichenen Nominalformen im folgenden Textauszug (Itinerarium Egeriae II,1): Vallis autem ipsa ingens est valde, iacens subter latus montis Dei, quae habet forsitan, quantum potuimus videntes estimare aut ipsi dicebant, in longo milia passos forsitan sedecim, in lato autem quattuor milia esse appellabant. Ipsam ergo vallem nos transversare habebamus, ut possimus montem ingredi. (nach Iliescu/ Slusanski 1991: 134f). Textnahe Übersetzung: ‚Dieses Tal aber ist sehr groß, unterhalb der Seite des Berges Gottes gelegen, und es hat vielleicht, soweit wir das mit dem Auge abschätzen konnten oder wie die Leute dort sagten, 16.000 Schritte in der Länge, in der Breite aber sagten sie, es seien 4.000. Genau dieses Tal mussten wir durchqueren, um den Berg besteigen zu können.’ 4.4.6 Weiterführende Aufgaben a) Auf welcher Textgrundlage und mit welcher Methode entwickelt Selig (1992) ihre Hypothese, dass wegen seiner Merkmallosigkeit das spätlateinische ille, und nicht ipse, zum Vorläufer der meisten romanischen Artikel geworden ist? Wie unterscheiden sich diese beiden Pronomina in ihrer textsyntaktischen Verwendung? b) Recherchieren Sie (z.B. in Tagliavini 1998) weitere Argumente dafür, dass das Rumänische der Romania Discontinua zugerechnet wird. Welche historischen Ursachen sind für diese starken Abweichungen von den anderen romanischen Sprachen ausschlaggebend? 4.5 Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 4.5.1 Grundbegriffe der Verbalkonjugation Genau wie in den romanischen Sprachen werden bei der lateinischen Verbalkonjugation die folgenden Parameter unterschieden (man spricht auch von „Bestimmungsstücken des Verbs“): • Person: 1., 2., 3. Person • Numerus: Singular oder Plural • Modus: Indikativ, Konjunktiv, Imperativ (das Konditional ist eine romanische Entwicklung und existiert noch nicht im Lateinischen) • Tempus: Präsens, Imperfekt, Futur I, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur II <?page no="148"?> Morphologie und Wortbildung 148 • Genus Verbi/ Diathese/ Vox: 55 Aktiv oder Passiv. Das Passiv kann semantisch auch ein Medium, also eine Verbalhandlung zwischen Aktiv und Passiv repräsentieren: z.B. lavor - ‚ich wasche mich’. Man spricht hier auch vom „Mediopassiv“. In den romanischen Sprachen wird dieses Mediopassiv i.Allg. durch Reflexivkonstruktionen 56 ausgedrückt (vgl. frz. je me lave). Verbformen, die ein Personenzeichen, also eine Personalendung, enthalten, sind immer auch nach den übrigen Parametern bestimmt. Eine solche Verbform bezeichnet man als „finites“ Verb (lat. verbum finitum). Verbformen, die keine Personalendung enthalten, werden als „infinite“ Verbformen bezeichnet. Diese Bezeichnung ist etwas unpräzise. Infinite Verbformen sind nämlich durchaus bestimmt, z.B. in Bezug auf das Zeitverhältnis, auf den Kasus und den Numerus, aber eben nicht in Bezug auf die Person (in der Sprachtypologie und Universalienforschung fasst man daher Finitheit als skalaren Begriff auf, es gibt also finitere und weniger finite Formen). Verglichen mit den romanischen Sprachen ist das Lateinische besonders reich an infiniten Verbformen. Drei Typen infiniter Formen werden substantivisch gebraucht, man spricht hier auch von „Verbalsubstantiven“: • Infinitiv: hier sind sechs Formen zu unterscheiden, nämlich der Inf. Präsens Aktiv, der Inf. Präsens Passiv, der Inf. Perfekt Aktiv und der Inf. Perfekt Passiv., der Inf. Futur Aktiv und der Inf. Futur Passiv. Die Tempora drücken hier, anders als bei den finiten Verben, keine reine Zeitstufe aus, sondern ein Zeitverhältnis. Sie geben also an, ob die durch den Infinitiv wiedergegebene Verbalhandlung gleichzeitig (Inf. Prs.), vorzeitig (Inf. Perf.) oder nachzeitig (Inf. Fut.) zur Handlung des übergeordneten Satzes ist. • Gerundium: Das Gerundium wird dann gebraucht, wenn ein substantivisch verwendeter Infinitiv dekliniert werden muss. Der Infinitiv an sich gilt als Nominativ, also als Subjektskasus (z.B. cantare delectat. 55 All diese Termini werden synonym gebraucht. In der Lateindidaktik ist am ehesten „Genus Verbi“ gebräuchlich, in der Linguistik eher „Diathese“. Die romanischen Sprachen verwenden Entsprechungen von „Vox“ (vgl. frz. la voix passive, sp. la voz pasiva, it. la voce passiva). 56 Der Terminus „reflexives Verb“ wird in der Grammatikbeschreibung der romanischen Sprachen leider häufig überstrapaziert: „Reflexiv“ im eigentlichen Sinne sind nur diejenigen Pronominalverben, die eine Handlung beschreiben, die das Subjekt an sich selbst verrichtet. Das vorangestellte Pronomen ist also direktes oder indirektes Objekt der Verbalhandlung, wie z.B. in frz. il se lave (‚er wäscht sich’). Davon sind zwei andere Typen der Pronominalverben zu unterscheiden, nämlich zum einen die reziproken Verben, in denen die Verbalhandlung von mehreren Subjekten gegenseitig vorgenommen wird (z.B. frz. ils se battent: ‚sie schlagen sich’) - auch hier ist das vorangestellte Pronomen ein Objekt, aber eben nicht identisch mit dem Subjekt - und zum anderen die „subjektiven“ oder „nicht-reflexiven“ Verben. Bei letzteren ist das vorangestellte Pronomen quasi mit dem Verb zusammengeklebt („agglutiniert“) und hat keinerlei Objektbedeutung mehr. Es dient eher dazu, das Subjekt zu betonen; daher rührt die Bezeichnung für diese Art von Verben. Entsprechende Beispiele aus dem Französischen wären: se mourir (‚sterben’), s’apercevoir de qc. (‚etwas bemerken’), se moquer de qc. (‚sich über etwas lustig machen’) (vgl. Grevisse 1993: 1132ff). <?page no="149"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 149 ‚Singen macht Freude’). Da der Infinitiv als Neutrum behandelt wird, entspricht der Akkusativ formal wie bei allen Neutra dem Nominativ, also dem schon genannten Infinitiv (z.B. bibere volo ‚ich will trinken’). Die übrigen obliquen Kasus (Gen., Dat., Abl.) werden vom Gerundium vertreten. Es wird gebildet, indem man an den Präsensstamm das Infix -nd- (bei der ā- und ē-Konjug.) oder -end- (bei der ī-, ĭ- und der kons. Konjug.) hängt und daran die Kasusendungen der o-Deklination anschließt, und zwar nur die Formen des Neutrums. Zum Infinitiv laudare kann man so z.B. den Ablativ laudando (z.B. in laudando ‚beim Loben’) oder den Genitiv laudandi bilden (z.B. ars laudandi ‚die Kunst des Lobens’). Das Gerundium existiert aber nur im Singular, da man im Lateinischen wie im Deutschen eine infinitivische Verbalhandlung nicht in den Plural setzen kann (vgl. dt. das Gehen, aber nicht *die Gehen). Neben den genannten Formen gibt es eine weitere Akkusativform auf -um, die aber nur in präpositionalen Verbindungen auftritt, z.B. ad scribendum (‚zum Schreiben’). • Supinum: Es gibt zwei Typen von Supina, das Supinum I (auf -um) und das Supinum II (auf -ū). Beide sind erstarrte Kasus von Verbalsubstantiven auf -u und werden recht selten gebraucht. Das Supinum I steht als Akkusativ des Ziels nach Verben der Bewegung, z.B. cenatum eo: ‚ich gehe essen’ (von cenare ‚essen’), das Supinum II als Dativ des Zwecks oder als Ablativ der Beziehung (ablativus respectūs), z.B. in hoc est facile dictu ‚das ist leicht zu sagen’ von dicere ‚sagen’). Zwei weitere Formen werden adjektivisch gebraucht, es handelt sich also um „Verbaladjektive“: • Participium: Das Partizip hat seinen Namen daher, dass es sowohl an der Wortklasse der Verben wie auch der Adjektive partizipiert. Es kann dekliniert werden wie ein Adjektiv, kann aber auch Zeitverhältnisse ausdrücken wie ein Verb. Ähnlich wie beim Infinitiv existieren aktivische und passivische Formen, aber insgesamt nur drei: Partizip Präsens Aktiv (PPA, z.B. laudans, laudantis), Partizip Perfekt Passiv (PPP, z.B. laudatus, 3) und Partizip Futur Aktiv (PFA, z.B. laudaturus, 3). • Gerundivum: Das Gerundivum wird zumeist als passivisches Verbaladjektiv verwendet, das eine Verpflichtung oder Empfehlung zum Ausdruck bringt, z.B. filia laudanda ‚eine lobenswerte Tochter’. Das Gerundivum kann also alle Genera, Kasus und Numeri annehmen. Unter bestimmten Bedingungen kann das Gerundivum auch das Gerundium vertreten. Gerundium und Gerundivum sind sich formal sehr ähnlich und werden wegen ihres charakteristischen Infixes als „-nd-Formen“ bezeichnet. Supinum, Gerundium und Gerundivum existieren nicht im Deutschen und müssen entsprechend umschrieben werden, also z.B. mit Infinitiv oder Partizip. In vielen romanischen Sprachen hat sich immerhin das Gerundium fortgesetzt (z.B. sp./ ital. cantando), nicht jedoch das Gerundivum (die Bezeichnung gérondif im Französischen ist irreführend: Sie bezeichnet ein Gerundium, das formal mit dem lateinischen PPA zusammengefallen ist: z.B. en chantant). <?page no="150"?> Morphologie und Wortbildung 150 4.5.2 Verbstämme und Konjugationsklassen Diejenigen Formen des Verbs, von denen weitere Formen abgeleitet werden, bezeichnet man als „Stammformen“. Um alle Formen eines Verbs bilden oder identifizieren zu können, muss man drei Verbstämme kennen (ganz ähnlich, wie man sich im Englischen unregelmäßige Verben einzuprägen hat, z.B. to go, went, gone) - die Beispiele beziehen sich auf die a-Konjugation (laudare ‚loben’): • den Präsensstamm (z.B. lauda-): Von ihm aus werden alle Formen des Präsens (einschließlich der Infinitive), Imperfekt und Futur I, und zwar jeweils Aktiv und Passiv, sowie das Partizip Präsens Aktiv und das Gerundium und Gerundivum gebildet. • den Perfektstamm (oder auch Perfektaktivstamm; z.B. laudāv-): Von ihm aus werden die aktivischen Formen des Perfekts, Plusquamperfekts und des Futur II sowie der Infinitiv Perfekt Aktiv gebildet. • den Supinstamm (oder auch Perfektpassivstamm; z.B. laudāt-): Von ihm aus werden die passivischen Formen des Perfekts, Plusquamperfekts und des Futur II sowie das Partizip Perfekt Passiv, das Partizip Futur Aktiv, der Inf.Fut.Akt., der Inf.Perf.Pass., der Inf.Fut.Pass. und die Supina gebildet. Außerdem ist dieser Stamm die Basis der meisten Wortbildungen durch Derivation (z.B. laudator ‚Lobredner’, laudatio ‚Lobrede’; vgl. S.96ff). Hervorzuheben ist auch noch, dass die hier aufgeführten Passivformen durchweg aus den Bestandteilen PPP + Hilfsverb esse (‚sein’) zusammengesetzt, d.h. mit einem analytischen Verfahren gebildet werden. Das Klassische Latein ist also keineswegs eine rein synthetische Sprache. Nach dem Ausgang des Präsensstammes werden fünf Konjugationsklassen unterschieden. Die ersten drei Klassen werden wegen des langen Vokals im Stammausgang als „langvokalische Konjugationen“ bezeichnet und bilden ihre Formen recht regelmäßig: • ā-Konjugation: z.B. laudāre ‚loben’; Stamm laudā-; 1.Sg.Prs.Ind.Akt. laudō • ē-Konjugation: z.B. monēre ‚ermahnen’; Stamm monē-; 1.Sg. moneō • ī-Konjugation: z.B.audīre ‚hören’; Stamm audī-; 1.Sg. audiō Entsprechend haben sich diese Konjugationsklassen in den romanischen Sprachen auch recht gut erhalten. Vgl. z.B. lat. amāre ‚lieben’> it. amare, sp. amar, port. amar; lat. tenēre ‚halten’ > ital. tenere, sp. tener, port. ter; lat. venīre > it. venire, sp. venir, frz. venir, port. vir. Die anderen beiden Konjugationsklassen sind deutlich komplexer und vereinen zahlreiche unregelmäßige Formen in sich: • konsonantische Konjugation: z.B. regĕre ‚lenken’; Stamm reg-; 1.Sg. regō • kurzvokalische ĭ- oder gemischte Konjugation: z.B. capĕre ‚nehmen’; Stamm capĭ-; 1.Sg. capiō Zur konsonantischen Konjugation werden auch Verben mit kurzvokalischem ŭ- Stamm (z.B. statuĕre ‚festsetzen’, Stamm: statŭ-) gerechnet, weil diese genauso konjugiert werden wie die Verben mit konsonantischem Stammausgang. Die kurzvokalische ĭ-Konjugation wird deshalb auch als „gemischte“ Konjugation <?page no="151"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 151 bezeichnet, weil sie Formen der langvokalischen ī-Konjugation mit Formen der konsonantischen Konjugation kombiniert. Als Lernformen sollte man sich zu jedem Verb jeweils vier Formen einprägen, nämlich z.B. 1. amare, 2. amo, 3. amavi, 4. amatum: Den Infinitiv Präsens Aktiv (= 1.) und die 1.Person Sing. Präsens Indikativ Aktiv (= 2.) benötigt man, um die Konjugationsklasse zweifelsfrei zu bestimmen. Da die Vokalquantitäten üblicherweise graphisch nicht markiert sind, kann man nämlich bei Infinitiven auf <-ere> nicht unterscheiden, ob es sich um die ē-, die konsonantische oder die kurzvokalische ĭ-Konjugation handelt, wenn man nicht die Form der ersten Person kennt (-eo vs. -o vs. -io). Außerdem sind die Verben im Wörterbuch üblicherweise unter der 1.Person verzeichnet. Zur Bildung der aktivischen Formen des Perfektstamms merkt man sich die 1.Sg.Pf.Aktiv (= 3.) und schließlich für die passivischen Formen des Perfekts den Supinstamm (= 4.). Form 4 entspricht dem Supinum I und bei transitiven Verben zugleich dem Partizip Perfekt Passiv. Da es von intransitiven Verben naturgemäß kein passivisches Partizip gibt, 57 wird das formgleiche Supinum angegeben (z.B. venīre, venio, vēni, ventum ‚kommen’). 4.5.3 Personen-, Tempus- und Moduszeichen Was die Personenzeichen angeht, so kann man tatsächlich von „Endungen“ sprechen, da sie das Ende der Verbform markieren. Tempus und Modus hingegen werden durch ein einziges gemeinsames Zeichen markiert, das zwischen Stamm und Personalendung tritt. Lediglich beim Indikativ Perfekt Aktiv sind das Tempus-/ Moduszeichen und die Personalendung zu einem gemeinsamen Morphem verschmolzen, weshalb man hier nicht von „Endung“, sondern von „Ausgang“ spricht. Die folgenden Personalendungen können unterschieden werden (Systematik modifiziert nach Rubenbauer et al. (1995: 70): Personalendungen Aktiv Passiv Person Indikativ u. Konjunktiv Ind. Perfekt (Ausgänge) Imperativ Indikativ u. Konjunktiv Imperativ (Deponentien) Sg. 1. 2. 3. Pl. 1. 2. 3. -ō oder -m -s -t -mus -tis -nt -ī -istī -it -imus -istis -erunt -, -e, (-tō) (-tō) -te (-tōte) (-ntō) -(o)r -ris -tur -mur -minī -ntur -re (-tor) (-tor) -minī (-ntor) Zum Imperativ ist zu sagen, dass die Formen auf -(n)to sehr selten auftreten und einem altlateinischen Imperativ Futur entsprechen, der v.a. in Gesetzestexten angewandt wurde. Deshalb sind diese Formen in der Tabelle eingeklammert. Dann ist zu ergänzen, dass ein Imperativ Passiv aus pragmatischer Sicht sinnlos 57 Diese Verben heißen ja deshalb „intransitiv“, weil man sie nicht ins Passiv setzen kann. <?page no="152"?> Morphologie und Wortbildung 152 ist. Dass dennoch entsprechende Formen existieren, liegt daran, dass es im Lateinischen eine Gruppe von Verben gibt, die ausschließlich passivische Formen bilden, dabei aber aktivische Bedeutung haben. Diese Verben bezeichnet man als „Deponentien“ (s.S.160f). Semantisch sind diese passivischen Imperativformen also durchaus aktivisch. Im Übrigen betreffen die aufgeführten Passivendungen nur das synthetisch gebildete Passiv, also die Formen der Präsensstammgruppe. In allen synthetisch gebildeten Formen, also in der Präsensstammgruppe Aktiv und Passiv sowie in der Perfektstammgruppe Aktiv, treten die folgenden Tempus-/ Moduszeichen vor die Personalendungen (Systematik modifiziert nach Throm (1995: 56): Tempus- und Moduszeichen Modus Präsensstamm Perfektstamm Aktiv Präsens Imperfekt Futur I Perfekt Plusquamp. Futur II Indikativ / -(e)ba- -b-/ -a-/ -e- (s.o.) -era- -eri- Konjunktiv -e-/ -a- -rē- / -eri- -isse- / An den Stellen der Tabelle, wo mehrere Möglichkeiten aufgeführt sind, entscheidet die Konjugationsklasse über die entsprechende Option. Futur II und Konjunktiv Perfekt haben das gleiche Tempus-/ Moduszeichen, was häufig zu Verwechslungen führt. Der Indikativ Perfekt hat, wie bereits angesprochen, einen eigenen Ausgang, in dem die Personalendungen mit eingeschlossen sind. Ein letzter Baustein der Verbalkonjugation, der aber nur wenige Formen betrifft, sind die sogenannten „Aussprechbzw. Bildevokale“. Sie treten immer dann auf, wenn ein konsonantisch auslautender Verbalstamm (a) oder ein konsonantisch auslautendes Tempus-/ Moduszeichen (b) auf eine konsonantische Personalendung trifft. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Konsonanten wird also durch das Einschieben des Vokals vermieden. • Beispiele für (a): leg-ĭ-t (2.Sg.Ind.Prs.Akt.), leg-ŭ-nt (3.Pl.Ind.Prs.Akt.), leg-ĕris (2.Sg.Ind.Prs.Pass.); jeweils zu legĕre, lego, lēgi, lectum ‚lesen’ • Beispiele für (b): amab-ĭ-t (3.Sg.Fut.I Akt.), amab-ŭ-nt (3.Pl.Fut.I Akt.), amabĕ-ris (2.Sg.Fut.I Pass.); jeweils zu amāre, amo, amavi, amatum ‚lieben’ 4.5.4 Bildung und Übersetzung der einzelnen Verbformen Im Folgenden werden die wichtigsten regelmäßigen Bildungsmuster vorgestellt. Auf die unregelmäßigen Bildungen kann im Rahmen einer solchen Überblicksdarstellung nicht eingegangen werden (in der Kons. Konjug. und den i-Konjugationen muss man z.B. immer mit zusätzlichen Bildevokalen rechnen). Für das Romanistikstudium genügt es aber i.Allg., lateinische Verbformen identifizieren zu können - man muss sie nicht unbedingt aktiv bilden können. Zu den Übersetzungsvorschlägen (jeweils unterstrichen) ist zu sagen, dass sie je nach Kontext sehr unterschiedlich ausfallen können und müssen, z.B. je nachdem, ob ein bestimmter Modus im Hauptsatz oder im Nebensatz steht. Die vorliegenden Übersetzungen orientieren sich am Gebrauch der jeweiligen Form im Hauptsatz. <?page no="153"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 153 4.5.4.1 Finite Verbformen (Systematik nach Stock 2005) Präsensstammgruppe Indikativ Präsens Aktiv und Passiv: Präsensstamm + Personalendung (z.B. laudat, tenetur: ‚er lobt’, ‚er wird gehalten’). Gelegentlich tritt zwischen Stamm und Endung der Aussprechvokal -ĭ- (z.B. regit), in der 3.Pl. -ŭ- (z.B. regunt). Indikativ Imperfekt Aktiv und Passiv: Präsensstamm + Tempuszeichen -bā- + Personalendung (z.B. laudabat, tenebatur: ‚er lobte’, ‚er wurde gehalten’). U.U. tritt vor das Tempuszeichen der Bildevokal -ē- (z.B. audiebat ‚er hörte’). Futur I Aktiv und Passiv: je nach Konjugation zwei verschiedene Verfahren: • ā- und ē-Konjugation: Prs.-Stamm + Tempuszeichen -b- + Bildevokal -ĭ- (bzw.-ŭin der 3.Pl.) + Pers.-Endung (z.B. laudabit, tenebitur, tenebunt: ‚er wird loben’, ‚er wird gehalten werden’, ‚sie werden halten’). • Kons.Konjug. und i-Konjugationen: Prs.-Stamm + Tempuszeichen -ē- (-ain der 1.Sg.) + Pers.-Endung (z.B. regam, reges, regetur, audiet, capietur). Konjunktiv Präsens Aktiv und Passiv: je nach Konjugation zwei verschiedene Verfahren (die sich z.B. im Spanischen und Italienischen erhalten haben): • ā-Konjug: Wortstock + Moduszeichen -ē- + Pers.-Endung (laudet, laudetur: ‚er soll loben’, er soll gelobt werden’). Erklärung: der Prs.-Stamm lautet hier bereits auf -aaus, weshalb der übliche Konjunktivmarker -ānicht mehr also solcher wahrgenommen worden wäre. • alle anderen Konjugationen: Präsensstamm + Moduszeichen -ā- + Personalendung (z.B. teneat, regat, audiat, capiat). Konjunktiv Imperfekt Aktiv und Passiv: Präsensstamm + Moduszeichen -rē- + Personalendung (z.B. laudaret, teneret, audiretur: ‚er würde loben’, ‚er würde halten’, ‚er würde gehört werden’). Faustregel: Inf.Präsens + Personalendung (laudare-m, tenere-m, audire-m, capere-m). Imperativ Präsens: 2.Sg.: bei den langvokal. Konjugationen der bloße Prs.- Stamm (laudā! ‚lobe! ’), in der kons. und der kurzvokal. ĭ-Konjug. wird ein -e angehängt (rege! ‚lenke! ’; cape’ ‚nimm! ’). 2.Plural: Prs.-Stamm + -te (laudā-te! ‚lobt! ’), in Kons.Konjug. mit Bildevokal -i- (reg-i-te! ‚lenkt! ’). Imperativ Futur: Präsensstamm + Endung -tō (für 2. u. 3.Sg: laudā-tō! ‚du sollst lieben! / er soll lieben! ’) bzw. -tōte (2.Pl.) und -ntō (3.Pl.). Perfektstammgruppe Aktiv Weder in der Perfektstammgruppe Aktiv noch in der Perfektstammgruppe Passiv gibt es bei der Formenbildung Unterschiede bezüglich der Konjugationsklassen. Kennt man also die beiden Perfektstämme (laudāre: laudavi/ laudatum; tenēre: tenui/ tentum; audīre: audivi/ auditum; regĕre: rexi/ rectum; capĕre: cepi/ ceptum), dann lässt sich jede Form problemlos bilden. Indikativ Perfekt Aktiv: Pf.Akt.-Stamm + Pf.-Ausgänge (z.B. laudav-i, tenu-i, rex-i, audiv-i, cep-i: ‚ich habe gelobt/ gehalten/ gelenkt/ gehört/ genommen’). Indikativ Plusquamperfekt Aktiv: Pf.Akt.-Stamm + Ind.Impf. von esse (eram, eras, erat, eramus, eratis, erant) als Endung; laudaveram, tenueram, rexeram, audiveram, ceperam: ‚ich hatte gelobt/ gehalten/ gelenkt/ gehört/ genommen’) . <?page no="154"?> Morphologie und Wortbildung 154 Futur II Aktiv: Pf.Akt.-Stamm + Futur I von esse (ero, eris, erit, erimus, eritis, erunt); aber in der 3.Pl. als Endung -erint statt -erunt; z.B. laudavero, tenueris, rexerit, audiverimus, ceperint: ‚ich werde gelobt haben’, ‚du wirst gehalten haben’ etc. Konjunktiv Perfekt Aktiv: Pf.Akt.Stamm + Moduszeichen -eri- + Pers.- Endung; z.B. laudaverim, tenueris, rexerit, audiverimus, ceperint: ‚ich habe gelobt’, du habest gehalten’, ‚er habe gelenkt’, ‚wir haben gehört’, ‚sie haben genommen’. Beachte: Futur II Aktiv und Konjunktiv Perfekt Aktiv unterscheiden sich nur in der 1.Sg.: laudavero vs. laudaverim. Im Deutschen ist der Konjunktiv I teilweise formal identisch mit dem Indikativ. In der Umgangssprache werden diese Formen daher häufig durch den Konjunktiv II (z.B. ‚ich hätte gelobt’) ersetzt. Konjunktiv Plusquamperfekt Aktiv: Pf.Akt.-Stamm + Konj. Impf. von esse (essem, esses, esset, essemus, essetis, essent) wobei dessen Stammvokal -ezu -iabgeschwächt wird: laudavissem, tenuisses, rexisset, audivissemus, cepissent: ‚ich hätte gelobt’, ‚du hättest gehalten’, ‚er hätte gelenkt’, ‚wir hätten gehört’, ‚sie hätten genommen’. Faustregel: Inf.Pf.Akt. + Personalendung, z.B. laudavisse-m. Die häufige Verwendung der Formen von esse zeigt, dass auch im Klassischen Latein Hilfsverben bereits eine Rolle spielten. In der Perfektaktivgruppe sind die Hilfsverbformen allerdings noch als gebundene Flexionsmorpheme angehängt, das Bildungsmuster ist also synthetisch. Perfektstammgruppe Passiv (Supinstammgruppe) Alle Formen der Supinstammgruppe, also Perfekt Passiv, Plusquamperfekt Passiv und Futur II Passiv, jeweils in Indikativ und Konjunktiv, werden nach dem gleichen Muster gebildet: Partizip Perfekt Passiv + Formen des Präsensstamms von esse. Anders als bei der Perfektaktivstammgruppe werden aber hier die Hilfsverbformen nicht als gebundene Endungsmorpheme angehängt, sondern als freie grammatische Morpheme. Dies erkennt man schon daran, dass die Hilfsverbformen auch gelegentlich vor das Partizip treten können. Wir haben es also mit analytischen Verbformen zu tun. In den Pluralformen wird auch das Partizip in den Plural gesetzt (genau wie im romanischen Passiv): Indikativ Perfekt Passiv: PPP + Ind.Prs. von esse (sum, es, est, sumus, estis, sunt); z.B. laudatus sum, tentus es, capti sumus: ‚ich bin gelobt worden’, ‚du bist gehalten worden’, ‚wir sind ergriffen worden’. Konjunktiv Perfekt Passiv: PPP + Konj.Prs. von esse (sim, sis, sit, simus, sitis, sint); z.B. laudatus sim, tentus sis, capti simus: ‚ich sei gelobt worden’, du seist gehalten worden’, ‚wir seien ergriffen worden’. Indikativ Plusquamperfekt Passiv: PPP + Ind.Imperf. von esse (eram, eras, erat, eramus, eratis, erant); z.B. laudatus eram, tentus eras, capti eramus: ‚ich war gelobt worden’, ‚du warst gehalten worden’, ‚wir waren ergriffen worden’. Konjunktiv Plusquamperfekt Passiv: PPP + Konj.Imperf. von esse (essem, esses, esset, essemus, essetis, essent); z.B. laudatus essem, tentus esses, capti essemus: ‚ich wäre gelobt worden’, ‚du wärst gehalten worden’, ‚wir wären ergriffen worden’. Futur II Passiv: PPP + Futur I von esse (ero, eris, erit, erimus, eritis, erunt); z.B. laudatus ero, tentus eris, capti erunt: ‚ich werde gelobt worden sein’, ‚du wirst gehalten worden sein’, ‚sie werden ergriffen worden sein’. <?page no="155"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 155 4.5.4.2 Infinite Verbformen Infinitive Inf. Präsens Aktiv: Präsensstamm + Endung -re, z.B. laudare ‚loben’. Bei der kons.Konjug. wird ein Bildevokal -ĕeingefügt (reg-ĕ-re), bei der kurzvokalischen ĭ-Konjug. wird das -ĭdes Stammes nach der schon angesprochenen Regel (s. Ind.Prs.) zu -ĕabgeschwächt (cap-ĕ-re). Inf. Präsens Passiv: Präsensstamm + Endung -ri bei den langvokalischen Konjugationen (z.B. laudari, teneri, audiri: ‚gelobt/ gehalten/ gehört werden’), Endung -i bei der kons. und der kurzvokal. ĭ-Konjug. (z.B. regi, capi). Inf. Perfekt Aktiv: Perfektaktivstamm + Endung -isse (zurückgehend auf den Inf. des Hilfsverbs esse); z.B. laudavisse, tenuisse, cepisse: ‚gelobt/ gehalten/ ergriffen haben’. Inf. Perfekt Passiv: PPP (veränderlich) + esse; z.B. laudatus esse, captus esse: ‚gelobt/ ergriffen worden sein’. Inf. Futur Aktiv: Part.Futur Aktiv (PFA, veränderlich, s.u.) + esse; z.B. laudaturus esse, capturus esse: ‚im Begriff sein zu loben/ ergreifen’ Inf. Futur Passiv: Supinum I (unveränderlich) + īrī (= Inf.Prs.Passiv von īre ‚gehen’); z.B. laudatum iri, captum iri: ‚im Begriff sein gelobt/ ergriffen zu werden’. Partizipien Part. Präsens Aktiv (PPA): Präsensstamm + Endung -ns (Gen : -ntis) bei der ā- und ē-Konjugation (z.B. laudans, tenens : ‚lobend’, ‚haltend’), Endung -ens bei den übrigen Konjugationen (z.B. audiens, regens, capiens). Part. Perfekt Passiv (PPP): Supinstamm + Endung -us, -a, -um (laudatus,3; tentus,3 ; auditus,3 ; rectus,3 ; captus,3 : ‚gelobt’, ‚gehalten’, ‚gehört’, ‚gelenkt’, ‚ergriffen’). Part. Futur Aktiv (PFA): Supinstamm + Endung -urus, -a, -um (laudaturus,3 : ‚einer, der gelobt werden wird’ ; tenturus,3 ; auditurus,3 ; recturus,3 ; capturus,3). „nd-Formen“ Gerundium: Präsensstamm + Endung -ndi bei der ā- und ē-Konjugation (z.B. laudandi, tenendi) (=Gen.: ‚des Lobens/ des Haltens’; Dat./ Abl.: -ndo ; Akk. -ndum ; nur Formen des Neutrum Singular), Endung -endi etc. bei den übrigen Konjugationen (z.B. audiendi, regendi, capiendi). Gerundivum: Bildung wie bei Gerundium, aber mit den vollständigen Endungen der -o/ -a-Dekl. (incl. masc./ fem. und Plural); z.B. laudandus,3: ‚einer, der gelobt werden wird’/ ‚lobenswert’; tenendus,3; audiendus,3; regendus,3; capiendus,3. Supina Supinum I: Supinstamm + Endung -um (unveränderlich) ; z.B. laudatum, tentum, auditum, rectum, captum: ‚um zu loben/ halten/ hören/ lenken/ ergreifen’. Supinum II: Supinstamm + Endung -ū (unveränderlich) ; z.B. laudatu, tentu, auditu, rectu, captu: ‚zu loben/ halten/ hören/ lenken/ ergreifen’. <?page no="156"?> Morphologie und Wortbildung 156 4.5.5 Konjugationstabellen zu den regelmäßigen Verben 1. Präsensstammgruppe AKTIV Tempus/ Modus ā-Konjug. amāre ‚lieben’ Stamm amāē-Konjug. tenēre ‚halten’ Stamm tenēī-Konjug. audīre ‚hören’ Stamm audīkons. Konjug. regĕre ‚lenken’ Stamm regĭ-Konjug. capĕre ,ergreifen’ Stamm capi- 1. amō 2. amā-s 3. amā-t 1. amā-mus 2. amā-tis 3. amā-nt tenē-ō tenē-s tenē-t tenē-mus tenē-tis tenē-nt audi-ō audī-s audi-t audī-mus audī-tis audi-u-nt reg-ō reg-i-s reg-i-t reg-i-mus reg-i-tis reg-u-nt capi-ō cap-i-s cap-i-t cap-i-mus cap-i-tis capi-u-nt Präsens Indikat. Konjunkt. 1. am-e-m 2. am-ē-s 3. am-e-t 1. am-ē-mus 2. am-ē-tis 3. am-e-nt tene-a-m tene-ā-s tene-a-t tene-ā-mus tene-ā-tis tene-a-nt audi-a-m audi-ā-s audi-a-t audi-ā-mus audi-ā-tis audi-a-nt reg-a-m reg-ā-s reg-a-t reg-ā-mus reg-ā-tis reg-a-nt capi-a-m capi-ā-s capi-a-t capi-ā-mus capi-ā-tis capi-a-nt 1. amā-ba-m 2. amā-bā-s 3. amā-ba-t 1. amā-bā-mus 2. amā-bā-tis 3. amā-ba-nt tenē-ba-m tenē-bā-s tenē-ba-t tenē-bā-mus tenē-bā-tis tenē-ba-nt audi-ēba-m audi-ēbā-s audi-ēba-t audi-ēbā-mus audi-ēbā-tis audi-ēba-nt reg-ēba-m reg-ēbā-s reg-ēba-t reg-ēbā-mus reg-ēbā-tis reg-ēba-nt capi-ēba-m capi-ēbā-s capi-ēba-t capi-ēbā-mus capi-ēbā-tis capi-ēba-nt Imperf. Indikat. Konjunkt. 1. amā-re-m 2. amā-rē-s 3. amā-re-t 1. amā-rē-mus 2. amā-rē-tis 3. amā-re-nt tenē-re-m tenē-rē-s tenē-re-t tenē-rē-mus tenē-rē-tis tenē-re-nt audī-re-m audī-rē-s audī-re-t audī-rē-mus audī-rē-tis audī-re-nt reg-e-re-m reg-e-rē-s reg-e-re-t reg-e-rē-mus reg-e-rē-tis reg-e-re-nt cap-e-re-m cap-e-rē-s cap-e-re-t cap-e-rē-mus cap-e-rē-tis cap-e-re-nt Futur I 1. amā-b-ō 2. amā-bi-s 3. amā-bi-t 1. amā-bi-mus 2. amā-bi-tis 3. amā-bu-nt tenē-b-ō tenē-bi-s tenē-bi-t tenē-bi-mus tenē-bi-tis tenē-bu-nt audi-a-m audi-ē-s audi-e-t audi-ē-mus audi-ē-tis audi-e-nt reg-a-m reg-ē-s reg-e-t reg-ē-mus reg-ē-tis reg-e-nt capi-a-m capi-ē-s capi-e-t capi-ē-mus capi-ē-tis capi-e-nt Imperat. Präsens 2.Sg. amā! 2.Pl. amā-te! tenē! tenē-te! audī! audī-te! reg-e! reg-i-te! cap-e! cap-i-te! Imperat. Futur 2. amā-tō! 3. amā-tō! 2. amā-tōte! 3. amā-ntō! tenē-tō! tenē-tō! tenē-tōte! tenē-ntō! audī-tō! audī-tō! audī-tōte! audi-u-ntō! reg-i-tō! reg-i-tō! reg-i-tōte! reg-u-ntō! cap-i-tō! cap-i-tō! capi-tōte! capi-u-ntō! PPA amāns, -ntis tenēns, -ntis audiēns, -ntis regēns, -ntis capiēns, -ntis Gerundium ama-ndī ama-ndō ad ama-ndum tene-ndī tene-ndō ad tene-ndum audi-e-ndī audi-e-ndō ad audi-e-ndum reg-e-ndī reg-e-ndō ad reg-e-ndum capi-e-ndō capi-e-ndō ad capi-e-ndum <?page no="157"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 157 2. Präsensstammgruppe PASSIV Modus/ Tempus ā-Konjug. amārī ‚geliebt werden’ Stamm amāē-Konjug. tenērī ‚gehalten werden’ Stamm tenēī-Konjug. audīrī ‚gehört werden’ Stamm audīkons. Konjug. regī ‚gelenkt werden’ Stamm regĭ-Konjug. capī ,ergriffen werden’ Stamm capi- 1. amōr 2. amā-ris 3. amā-tur 1. amā-mur 2. amā-minī 3. amā-ntur tene-or tenē-ris tenē-tur tenē-mur tenē-minī tenē-ntur audi-or audī-ris audī-tur audī-mur audī-minī audi-u-ntur reg-or reg-e-ris reg-i-tur reg-i-mur reg-i-minī reg-u-ntur capi-or cap-e-ris cap-i-tur cap-i-mur cap-i-minī capi-u-ntur Präsens Indikat. Konjunkt. 1. am-e-r 2. am-ē-ris 3. am-ē-tur 1. am-ē-mur 2. am-ē-minī 3. am-e-ntur tene-a-r tene-ā-ris tene-ā-tur tene-ā-mur tene-ā-minī tene-a-ntur audi-a-r audi-ā-ris audi-ā-tur audi-ā-mur audi-ā-minī audi-a-ntur reg-a-r reg-ā-ris reg-ā-tur reg-ā-mur reg-ā-minī reg-a-ntur capi-a-r capi-ā-ris capi-ā-tur capi-ā-mur capi-ā-minī capi-a-ntur 1. amā-ba-r 2. amā-bā-ris 3. amā-bā-tur 1. amā-bā-mur 2. amā-bā-minī 3. amā-ba-ntur tenē-ba-r tenē-bā-ris tenē-bā-tur tenē-bā-mur tenē-bā-minī tenē-ba-ntur audi-ēba-r audi-ēbā-ris audi-ēbā-tur audi-ēbā-mur audi-ēbā-minī audi-ēba-ntur reg-ēba-r reg-ēbā-ris reg-ēbā-tur reg-ēbā-mur reg-ēbā-minī reg-ēba-ntur capi-ēba-r capi-ēbā-ris capi-ēbā-tur capi-ēbā-mur capi-ēbā-minī capi-ēba-ntur Imperf. Indikat. Konjunkt. 1. amā-re-r 2. amā-rē-ris 3. amā-rē-tur 1. amā-rē-mur 2. amā-rē-minī 3. amā-re-ntur tenē-re-r tenē-rē-ris tenē-rē-tur tenē-rē-mur tenē-rē-minī tenē-re-ntur audī-re-r audī-rē-ris audī-rē-tur audī-rē-mur audī-rē-minī audī-re-ntur reg-e-re-r reg-e-rē-ris reg-e-rē-tur reg-e-rē-mur reg-e-rē-minī reg-e-re-ntur cap-e-re-r cap-e-rē-ris cap-e-rē-tur cap-e-rē-mur cap-e-rē-minī cap-e-re-ntur Futur I 1. amā-b-or 2. amā-be-ris 3. amā-bi-tur 1. amā-bi-mur 2. amā-bi-minī 3. amā-bu-ntur tenē-b-or tenē-be-ris tenē-bi-tur tenē-bi-mur tenē-bi-minī tenē-bu-ntur audi-a-r audi-ē-ris audi-ē-tur audi-ē-mur audi-ē-minī audi-e-ntur reg-a-r reg-ē-ris reg-ē-tur reg-ē-mur reg-ē-minī reg-e-ntur capi-a-r capi-ē-ris capi-ē-tur capi-ē-mur capi-ē-minī capi-e-ntur Gerundivum ama-ndus, 3 tene-ndus, 3 audi-e-ndus, 3 reg-e-ndus, 3 capi-e-ndus, 3 <?page no="158"?> Morphologie und Wortbildung 158 3. Perfektstammgruppe AKTIV Tempus/ Modus ā-Konjug. amāvisse ‚geliebt haben’ Stamm amāvē-Konjug. tenuisse ‚gehalten haben’ Stamm tenuī-Konjug. audīvisse ‚gehört haben’ Stamm audīvkons. Konjug. rēxisse ‚gelenkt haben’ Stamm rēxĭ-Konjug. cēpisse ,ergriffen haben’ Stamm cēp- 1. amāv-ī 2. amāv-istī 3. amāv-it 1. amāv-imus 2. amāv-istis 3. amāv-ērunt tenu-ī tenu-istī tenu-it tenu-imus tenu-istis tenuērunt audīv-ī audīv-istī audīv-it audīv-imus audīv-istis audīv-erunt rēx-ī rēx-istī rēx-it rēx-imus rēx-istis rēx-ērunt cēp-ī cēp-istī cēp-it cēp-imus cēp-istis cēpērunt Perfekt Indikat. Konjunkt. 1. amāv-eri-m 2. amāv-eri-s 3. amāv-eri-t 1. amāv-eri-mus 2. amāv-eri-tis 3. amāv-eri-nt tenu-eri-m tenu-eri-s tenu-eri-t tenu-eri-mus tenu-eri-tis tenu-eri-nt audīv-eri-m audīv-eri-s audīv-eri-t audīv-eri-mus audīv-eri-tis audīv-eri-nt rēx-eri-m rēx-eri-s rēx-eri-t rēx-eri-mus rēx-eri-tis rēx-eri-nt cēp-eri-m cēp-eri-s cēp-eri-t cēp-eri-mus cēp-eri-tis cēp-eri-nt 1. amāv-era-m 2. amāv-erā-s 3. amāv-era-t 1. amāv-erā-mus 2. amāv-erā-tis 3. amāv-era-nt tenu-era-m tenu-erā-s tenu-era-t tenu-erā-mus tenu-erā-tis tenu-era-nt audīv-era-m audīv-erā-s audīv-era-t audīv-erā-mus audīv-erā-tis audīv-era-nt rēx-era-m rēx-erā-s rēx-era-t rēx-erā-mus rēx-erā-tis rēx-era-nt cēp-era-m cēp-erā-s cēp-era-t cēp-erā-mus cēp-erā-tis cēp-era-nt Plusquamperfekt Indikat. Konjunkt. 1. amāv-isse-m 2. amāv-issē-s 3. amāv-isse-t 1. amāv-issē-mus 2. amāv-issē-tis 3. amāv-isse-nt tenu-isse-m tenu-issē-s tenu-isse-t tenu-issē-mus tenu-issē-tis tenu-isse-nt audīv-isse-m audīv-issē-s audīv-isse-t audīv-issē-mus audīv-issē-tis audīv-isse-nt rēx-isse-m rēx-issē-s rēx-isse-t rēx-issē-mus rēx-issē-tis rēx-isse-nt cēp-isse-m cēp-issē-s cēp-isse-t cēp-issē-mus cēp-issē-tis cēp-isse-nt Futur II 1. amāv-er-ō 2. amāv-eri-s 3. amāv-eri-t 1. amāv-eri-mus 2. amāv-eri-tis 3. amāv-eri-nt tenu-er-ō tenu-eri-s tenu-eri-t tenu-eri-mus tenu-eri-tis tenu-eri-nt audīv-er-ō audīv-eri-s audīv-eri-t audīv-eri-mus audīv-eri-tis audīv-eri-nt rēx-er-ō rēx-eri-s rēx-eri-t rēx-eri-mus rēx-eri-tis rēx-eri-nt cēp-er-ō cēp-eri-s cēp-eri-t cēp-eri-mus cēp-eri-tis cēp-eri-nt <?page no="159"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 159 4. Perfektstammgruppe PASSIV (Supinstammgruppe) Tempus/ Modus ā-Konjug. amātus esse ‚geliebt worden sein’ Supinstamm amāt-um ē-Konjug. tentus esse ‚gehalten worden sein’ Supinstamm tent-um ī-Konjug. audītus esse ‚gehört worden sein’ Supinstamm audīt-um kons. Konjug. rēctus esse ‚gelenkt worden sein’ Supinstamm rēct-um ĭ-Konjug. captus esse ,ergriffen worden sein’ Supinstamm capt-um PPP amātus, 3 tentus, 3 audītus, 3 rēctus, 3 captus, 3 amātus/ tentus, -a, -um sum ‚ich bin geliebt audītus/ rēctus, -a, -um es ‚du bist gehalten captus, -a, -um est ‚er ist gehört worden’ amātī/ tentī, -ae, -a sumus ‚wir sind gelenkt audītī/ rēctī, -ae, -a estis ‚ihr seid ergriffen captī, -ae, -a sunt ‚sie sind Perfekt Indikat. Konjunkt. amātus/ tentus, -a, -um sim ‚ich sei geliebt audītus/ rēctus, -a, -um sīs ‚du seist gehalten captus, -a, -um sit ‚er sei gehört worden’ amātī/ tentī, -ae, -a sīmus ‚wir seien gelenkt audītī/ rēctī, -ae, -a sītis ‚ihr seiet ergriffen captī, -ae, -a sint ‚sie seien amātus/ tentus, -a, -um eram ‚ich war geliebt audītus/ rēctus, -a, -um erās ‚du warst gehalten captus, -a, -um erat ‚er war gehört worden’ amātī/ tentī, -ae, -a erāmus ‚wir waren gelenkt audītī/ rēctī, -ae, -a erātis ‚ihr wart ergriffen captī, -ae, -a erant ‚sie waren Plusquamperfekt Indikat. Konjunkt. amātus/ tentus, -a, -um essem ‚ich wäre geliebt audītus/ rēctus, -a, -um essēs ‚du wärest gehalten captus, -a, -um esset ‚er wäre gehört worden’ amātī/ tentī, -ae, -a essēmus ‚wir wären gelenkt audītī/ rēctī, -ae, -a essētis ‚ihr wäret ergriffen captī, -ae, -a essent ‚sie wären Futur II amātus/ tentus, -a, -um erō ‚ich werde geliebt audītus/ rēctus, -a, -um eris ‚du wirst gehalten captus, -a, -um erit ‚er wird gehört worden sein’ amātī/ tentī, -ae, -a erimus ‚wir werden gelenkt audītī/ rēctī, -ae, -a eritis ‚ihr werdet ergriffen captī, -ae, -a erint ‚sie werden Infinite Verbformen, die zwar vom Supinstamm aus gebildet werden, aber von ihrer Bedeutung her der Präsensstammgruppe näher stehen: PFA amāt-ūrus, 3 tent-ūrus, 3 audīt-ūrus, 3 rēct-ūrus, 3 capt-ūrus, 3 Inf.Fut. Aktiv amātūrus, 3 esse tentūrus, 3 esse audītūrus, 3 esse rēctūrus, 3 esse captūrus, 3 esse Inf. Fut. Passiv amātum īrī tentum īrī audītum īrī rēctum īrī captum īrī <?page no="160"?> Morphologie und Wortbildung 160 Anmerkungen (vgl. Throm 1995: 57): • <v> zwischen Vokalen schwindet häufig. Diese sog. „Kontraktion“ dürfte auf Schnellsprechformen zurückzuführen sein, z.B. amāsti für amāvistī, dēlēram für dēlēveram (von dēlēre ‚zerstören’), cōgnōrunt für cōgnōvērunt, cōgnōsse für cōgnōvisse (beide von cōgnōscĕre ‚kennenlernen’). Bei diesen Kontraktionen schwindet eine Mittelsilbe, es handelt sich also um eine Synkopierung. • Gelegentlich, besonders in der Dichtung, werden auch die Ausgänge von Verbformen verkürzt (sog. „Apokopierung“). Hier steht dann im Indikativ Perfekt Aktiv -ēre für -ērunt (z.B. amāvēre, dēlēvēre, audīvēre, cōgnōvēre) und in der Präsensstammgruppe Passiv -re statt -ris (z.B. amēre statt amēris). Im Indikativ Präsens treten diese Apokopen nicht auf, da ansonsten eine Verwechslung mit dem Infinitiv Präsens möglich wäre. 4.5.6 Deponentien und unregelmäßige Verben 4.5.6.1 Deponentien und Semideponentien Wie bereits oben angedeutet, gibt es im Klassischen Latein Verben, die nur in passivischer Form existieren, aber aktivische (oder auch reflexive) Bedeutung tragen. Die Konjugationen dieser sog. „Deponentien“ (weil sie die aktivische Form ‚abgelegt’ haben, lat. deponĕre) ist meist ganz regelmäßig und folgt den in den Tabellen aufgeführten Konjugationsklassen, nur muss man bei der Übersetzung jeder Form geistig die Umwandlung ins Aktiv vornehmen. Im Wörterbuch erkennt man diese Verben an den passivischen Stammformen (die Angabe des PPP fehlt jeweils, weil es ja schon in der Lernform des Indikativ Perfekt enthalten ist). Ins Passiv setzen kann man die Deponentien nicht. Zur Illustration einige hochfrequente Beispiele, die sich zumindest indirekt (d.h. nachdem sie zuvor im Vulgärlatein zu aktivischen Verben umgeformt worden waren) oder in Ableitungen in den romanischen Sprachen erhalten haben: ā-Konjugation: cōnārī, cōnor, cōnātus sum ‚versuchen’ vgl. it. conato ‚Bemühen’ cōnsōlārī, cōnsōlor, cōnsōlātus sum ‚trösten’ vgl. sp. consolar grātulāri, grātulor, grātulātus sum ‚Glück wünschen’ vgl. fr. congratuler hortārī, hortor, hortātus sum ‚ermahnen’ vgl. dt. Hortativ imitārī, imitor, imitātus sum ‚nachahmen’ vgl. fr. imiter ē-Konjugation: merērī, mereor, meritus sum ‚verdienen’ vgl. fr. mériter miserērī, misereor, miseritus sum ‚sich erbarmen’ vgl. it. miserabile profitērī, profiteor, professus sum ‚offen bekennen’ vgl. it. professare rērī, reor, ratus sum ‚glauben, meinen’ vgl. sp. razón verērī, vereor, veritus sum ‚sich fürchten’ vgl. sp. verecundia ī-Konjugation: mentīrī, mentior, mentitus sum ‚lügen’ vgl. it. mentire partīrī, partior, partitus sum ‚teilen’ vgl. fr. partager experīrī, experior, expertus sum ‚versuchen, erproben’ vgl. fr. expert <?page no="161"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 161 konsonantische Konjugation: lābī, lābor, lāpsus sum ‚fallen’ vgl. it. lapsus loquī, loquor, locūtus sum ‚sprechen, reden’ vgl. fr. colloque sequī, sequor, secūtus sum ‚folgen’ vgl. sp. seguir ūtī, ūtor, ūsus sum ‚gebrauchen’ vgl. it. usare oblīviscī, oblīviscor, oblītus sum ‚vergessen’ vgl. sp. olvidar gemischte bzw. kurzvokalische ĭ-Konjugation: aggredī, aggredior, aggressus sum ‚herangehen, angreifen’ vgl. fr. agresser morī, morior, mortuus 58 sum ‚sterben’ vgl. sp. morir patī, patior, passus sum ‚leiden, erdulden’ vgl. fr. patient Zu beachten: Aktive Formen haben auch beim Deponens das Partizip Präsens (z.B. conans: ‚versuchend’), das Partizip Futur (locuturus: ‚einer der sprechen wird’) und der Infinitiv Futur (obliturus esse: ‚im Begriff sein etwas zu vergessen’). Das Supinum und das Gerundium werden wie von aktiven Verben gebildet (also z.B. hortatum ‚zum Ermahnen’ oder partiendi ‚des Teilens’). Das Gerundivum hat als einzige Form der Deponentien passivische Bedeutung (z.B. consolandus ‚einer der getröstet werden muss’). Die Deponentien bilden auch Imperative. Im Singular sehen sie aus wie ein aktivischer Infinitiv (z.B. miserere! ‚erbarme dich! ’), im Plural entsprechen sie der 2.Pl.Ind.Prs. (hortamini! ‚ermahnt! ’). Neben den Deponentien gibt es auch eine kleine Zahl von Verben, die in der Präsensstammgruppe aktivische Formen haben, in der Perfektstammgruppe aber passivische Formen mit aktivischer Bedeutung, oder auch umgekehrt. Diese Verben nennt man „Semideponentien“ (‚Halb-Deponentien’). Ihre wichtigsten Vertreter sind (die passivischen Formen sind jeweils unterstrichen): audēre, audeo, ausus sum (ē-Konjug.) ‚wagen’, vgl. sp. audacia gaudēre, gaudeo, gavisus sum (ē-Konjug.) ‚sich freuen’, vgl. it. gaudio solēre, soleo, solitus sum (ē-Konjug.) ‚gewohnt sein’, vgl. sp. soler revertī, revertor, revertī (kons.Konjug.) ‚zurückkehren’, vgl. fr. revers 4.5.6.2 Unvollständige Verben (verba defectiva) Unter „Verba defectiva“ versteht man Verben, die zwar regelmäßigen Konjugationen folgen, aber nicht für alle Tempora und Modi eigene Formen aufweisen. Man kann zwei Gruppen von Verba defectiva unterscheiden: • Verben, die nur Formen des Perfektstammes aufweisen, dabei aber präsentische Bedeutung haben: z.B. meminisse ‚sich erinnern’ (meminī ‚ich erinnere mich’), nōvisse ‚kennen’ (nōvī ‚ich kenne’), ōdisse ‚hassen’ (ōdī ‚ich hasse’). • Verben, von denen nur einzelne Formen existieren, typischerweise im Bereich von Kommunikationsformeln z.B. aio/ ais/ ait/ aiunt (‚ich sage/ …/ sie sagen’), eingeschobenes inquam bzw. inquit (‚sage ich’; ‚sagte er’), quaeso 58 Das PFA hierzu ist zwar unregelmäßig, aber über zahlreiche Gladiatorenfilme gut im kollektiven Gedächtnis verankert: moritūrus, 3 (vgl. „Ave Caesar, morituri te salutant“ - ‚Sei gegrüßt Caesar, die Todgeweihten grüßen dich’). <?page no="162"?> Morphologie und Wortbildung 162 (‚bitte’) sowie die Grußformeln avē/ avēte und salvē/ salvēte (sei/ seid gegrüßt) bzw. valē/ valēte (‚lebt wohl’). 4.5.6.3 Unpersönliche Verben (verba impersonalia) Es gibt im Lateinischen einige Verben, die nur im Infinitiv oder in der 3.Person Singular verschiedener Zeiten auftreten und jeweils unpersönlich gebraucht werden. Da diese Ausdrücke auch für die Syntax von großer Bedeutung sind (sie können z.B. mit einer speziellen Infinitivkonstruktion, dem sog. „AcI“ - Accusativus cum Infinitivo - stehen; vgl. Kap.5.2.1.1), lohnt es sich, einige davon zu kennen: pudet (pudēre) ‚es erfüllt mit Scham’ paenitet (paenitēre) ‚es reut’ decet (decēre) ‚es ziemt sich’ libet (libēre) ‚es beliebt, es gefällt’ licet (licēre) ‚es ist erlaubt’ oportet (oportēre) ‚es ist nötig’ 4.5.6.4 Unregelmäßige Verben Die in 4.5.5 aufgeführten Verbtabellen vermitteln den Eindruck großer Regelmäßigkeit der klassischen Verbalmorphologie. Faktisch gilt jedoch diese Regelmäßigkeit in erster Linie für die ā-Konjugation. Hier gibt es kaum Ausnahmen vom Stammformenmuster -are/ -o/ -avi/ atum. 59 In den anderen Konjugationen ist zwar die Bildung der einzelnen Formen regelmäßig, es gibt aber zahllose Verben, deren Stämme eigens gelernt werden müssen. Diese Stämme findet man nicht nur in Wörterbüchern verzeichnet, sondern auch in allen gängigen Grammatiken und Wortkunden. Hiervon zu unterscheiden sind die unregelmäßigen Verben im engeren Sinne, also Verben, deren Formen so unregelmäßig sind, dass sie sich keiner der regelmäßigen Konjugationsklassen mehr zuordnen lassen. Leider sind es - genau wie im Deutschen, Englischen und den romanischen Sprachen - ausgerechnet die häufigst gebrauchten Verben, die zu großer Unregelmäßigkeit neigen, nämlich die Hilfsverben des Seins, Geschehens, Könnens und Wollens sowie einige Bewegungsverben. Am unregelmäßigsten sind jeweils die Formen des Indikativ Präsens, in den anderen Tempora und Modi lassen sich die restlichen Formen eines Paradigmas leicht erschließen, wenn man die ersten zwei Formen kennt. Entsprechend stellt die folgende Tabelle die Formenparadigmen selektiv dar. Beherrscht man die Formen von esse, die man ja ohnehin für die Supinstammgruppe benötigt, dann lassen sich auch die Formen von posse ‚können’ leicht bilden, da es lediglich ein kontrahiertes Kompositum von esse ist (potesse > posse), was man einigen Formen noch ansieht: 59 Zwei dieser Ausnahmen seien genannt, und zwar zum einen wegen ihrer Frequenz, zum anderen, weil sie sich in den romanischen Sprachen zumindest in Ableitungen gut erhalten haben: (ad-)iuvare, -o, (ad-)iuvi, ad(iutum) ‚helfen’ und lavare, -o, lavi, lautum ‚waschen’. Die Silbe -avwurde hier jeweils getilgt, um den Doppelklang v - v zu vermeiden. <?page no="163"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 163 Konjugation der wichtigsten unregelmäßigen Verben (aktivische Formen) Tempus/ Modus esse ‚sein’ posse ‚können’ velle ‚wollen’ ferre ‚tragen’ ire ‚gehen’ fierī ‚geschehen’ 1. s-u-m 2. es 3. es-t 1. s-u-mus 2. es-tis 3. s-u-nt pos-sum pot-es pot-est pos-sumus pot-estis pos-sunt vol-ō vī-s vul-t volu-mus vul-tis vol-u-nt fer-ō fer-s fer-t fer-i-mus fer-tis fer-u-nt e-ō ī-s i-t ī-mus ī-tis e-u-nt fī-ō fī-s fī-t fī-mus fī-tis fī-u-nt Präsens Indikat. Konjunkt. 1. s-i-m 2. s-ī-s 3. s-i-t … 3. s-i-nt pos-sim pos-sīs pos-sit … pos-sint vel-i-m vel-ī-s vel-i-t … vel-i-nt fer-a-m fer-ā-s fer-a-t … fer-a-nt e-a-m e-ā-s e-a-t … e-a-nt fī-a-m fī-ā-s fī-a-t … fī-a-nt 1. er-a-m 2. er-ā-s 3. er-a-t … 3. er-a-nt pot-eram pot-erās pot-erat … pot-erant vol-ēba-m vol-ēbā-s vol-ēba-t … vol-ēba-nt fer-ēba-m fer-ēbā-s fer-ēba-t … fer-ēba-nt ība-m ībā-s ība-t … ība-nt fī-ēba-m fī-ēbā-s fī-ēba-t … fī-ēba-nt Imperf. Indikat. Konjunkt. 1. ess-e-m 2. ess-ē-s 3. ess-e-t ... 3. ess-e-nt poss-e-m poss-ē-s poss-e-t … poss-e-nt vel-le-m vel-lē-s vel-le-t … vel-le-nt fer-re-m fer-rē-s fer-re-t … fer-re-nt ī-re-m ī-rē-s ī-re-t ... ī-re-nt fī-e-re-m fī-e-rē-s fī-e-re-t … fī-e-re-nt Futur I 1. er-ō 2. eri-s 3. eri-t … 3. eru-nt pot-erō pot-eris pot-erit … pot-erunt vol-a-m vol-ē-s vol-e-t … vol-e-nt fer-a-m fer-ē-s fer-e-t … fer-e-nt ī-bō ī-bi-s ī-bi-t … ī-bu-nt fī-a-m fī-ē-s fī-e-t … fī-e-nt 1. fu-ī 2. fu-istī 3. fu-it … 3. fu-ērunt potu-ī potu-istī potu-it … potu-ērunt volu-ī volu-istī volu-it … volu-ērunt tul-ī tul-istī tul-it … tul-ērunt i-ī īstī i-it … i-ērunt factus sum factus es factus est … facti sunt Perfekt Indikat. Konjunkt. 1. fu-eri-m 2. fu-eri-s 3. fu-eri-t... 3. fu-eri-nt potu-eri-m potu-eri-s potu-eri-t … potu-erint volu-eri-m volu-eri-s volu-eri-t … volu-erint tul-eri-m tul-eri-s tul-eri-t … tul-erint i-eri-m i-eri-s i-eri-t … i-erint factus sim factus sis factus sit … facti sint 1. fu-era-m 2. fu-erā-s 3. fu-era-t... 3. fu-era-nt potu-era-m potu-erā-s potu-era-t … potu-erant volu-era-m volu-erā-s volu-era-t … volu-erant tul-era-m tul-erā-s tul-era-t … tul-erant i-era-m i-erā-s i-era-t … i-erant factus eram factus erās factus erat… facti erant Plusquamperfekt Indikat. Konjunkt. 1. fu-isse-m 2. fu-issē-s 3. fu-isse-t... 3. fu-isse-nt potu-isse-m potu-issē-s potu-isse-t… potu-isse-nt volu-isse-m volu-issē-s volu-isse-t… volu-isse-nt tul-isse-m tul-issē-s tul-isse-t… tul-isse-nt īsse-m īssē-s īsse-t… īsse-nt factus essem factus essēs factus esset… facti essent Futur II 1. fu-er-ō 2. fu-eri-s 3. fu-eri-t… 3. fu-eri-nt potu-er-ō potu-eri-s potu-eri-t … potu-erint volu-er-ō volu-eri-s volu-eri-t … volu-erint tul-er-ō tul-eri-s tul-eri-t … tul-erint i-er-ō i-eri-s i-eri-t … i-erint factus erō factus eris factus erit … facti erunt <?page no="164"?> Morphologie und Wortbildung 164 Ergänzungen: Die zahlreichen Komposita von esse (vgl. S.104) werden im Prinzip nach dem gleichen Muster wie das Simplex konjugiert. Bei prodesse ‚nützen’ fällt allerdings vor Konsonant das / d/ aus (z.B. prosum, prodes, prodest, prosumus etc.). Analog zu velle werden die verwandten Kontraktionsverben nolle (‚nicht wollen’ < non velle) und malle (‚lieber wollen’ < magis velle) konjugiert. Zu beachten sind hier lediglich kleine Abweichungen im Indikativ Präsens (nolle: nolo, non vis, non vult, nolumus, non vultis, nolunt; malle: malo, mavis, mavult, malumus, mavultis, malunt). Ein echtes Passiv ist von den genannten Verben eigentlich nur bei ferre ‚tragen’ gebräuchlich. Es wird ganz regelmäßig gebildet, zu beachten ist lediglich der unregelmäßige Supinstamm lat-um (=> Ind.Pf. latus sum ‚ich bin getragen worden’ etc.). Das Verb fieri dient als Passiv zu facere ‚machen’. Die Bedeutung ‚geschehen’ hat es nur in der 3. Person Singular und Plural, ansonsten wird es mit „gemacht werden“ übersetzt. Die Formen des Präsensstamms sind aber durchweg aktivisch. Hier liegt also quasi ein „Anti-Deponens“ vor: aktivische Formen mit passivischer Bedeutung. 4.5.7 Weiterleben klassischer Verbformen in den romanischen Sprachen Aus romanistischer Sicht kann man konstatieren, dass das System der klassischen Verbalmorphologie deutlich besser erhalten wurde als das der Nominalmorphologie. Zunächst einmal sind alle Tempora des Indikativ Aktiv und Passiv als solche erhalten geblieben, wenn auch - besonders im Passiv - mit veränderten Formen. Reduziert hat sich dagegen das Spektrum der konjunktivischen und imperativischen Tempora. Von den infiniten Formen haben sich der klassische Infinitiv Präsens Aktiv (z.B. lat. cantare > it. cantare, sp./ port. cantar, frz. chanter), das Partizip Perfekt Passiv (lat. cantatum > it. cantato, sp./ port. cantado, frz. chanté) und das Gerundium (lat. cantandum/ cantando > it./ sp./ port. cantando, frz. chantant - letzteres durch Zusammenfall mit dem akkusativischen lat. PPA cantantem -) am besten erhalten. Die übrigen infiniten Formen sind weitgehend verschwunden. Hervorzuheben ist besonders der Erhalt zahlreicher unregelmäßiger Formen des Partizip Perfekts in den romanischen Sprachen, die sich nur aus dem lateinischen Ursprung heraus erklären lassen. Vgl. z. B. lat. aperire/ apertum => it. aprire/ aperto, sp. abrir/ abierto; lat. currĕre/ cursum => it. correre/ corso; lat. facĕre/ factum => it. fare/ fatto, sp. hacer/ hecho, fr. faire/ fait; lat. movēre/ motum => it. muovere/ mosso, fr. mouvoir/ mû; lat. ponĕre/ positum => sp. poner/ puesto; lat. ridēre/ risum => it. ridere/ riso; lat. scribĕre/ scriptum => it. scrivere/ scritto, sp. escribir/ escrito, fr. écrire/ écrit. Recht gut erhalten sind auch die lateinischen Personalendungen, natürlich mit gewissen Einschränkungen durch den üblichen Lautwandel (v.a. b > v). Dies gilt sowohl für die Universalformen von Indikativ und Konjunktiv wie auch für die Sonderformen des Indikativ Perfekt (hier muss zum Vergleich natürlich das <?page no="165"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 165 synthetische Perfekt der romanischen Sprachen herangezogen werden, nicht das zusammengesetzte Perfekt). Lediglich die Personalendungen des synthetisch gebildeten Passivs sind gemeinsam mit diesem untergegangen. Besonders nah am Lateinischen sind die iberoromanischen Entsprechungen, sehr weit entfernt hat sich das Französische. Dabei ist zu beachten, dass in der Grammatiktradition der romanischen Sprachen zumeist die Wurzel als Stamm angenommen wird. Das / a/ , das im Lateinischen als Stammauslaut die a-Konjugation markiert, wird also in den entsprechenden romanischen Sprachen bereits als Teil der Endung oder des Tempuszeichens aufgefasst. Hier steht es also nach dem Strich, der in Formentabellen die Personalendung abtrennt. Es handelt sich aber historisch um dasselbe / a/ . Vgl. z.B. die romanischen Formen entsprechend zu lat. cantare ‚singen’: Tempus/ Modus lat. cantare sp. cantar port. cantar it. cantare fr. chanter Indikativ Präsens 1. cantō 2. cantā-s 3. cantā-t 1. cantā-mus 2. cantā-tis 3. cantā-nt cant-o cant-as cant-a cant-amos cant-áis cant-an cant-o cant-as cant-a cant-amos cant-ais cant-am cant-o cant-i cant-a cant-iamo cant-iate cant-ano je chant-e tu chant-es il chant-e nous chant-ons vous chant-ez ils chant-ent Indikativ Imperfekt 1. cantā-ba-m 2. cantā-bā-s 3. cantā-ba-t 1. cantā-bā-mus 2. cantā-bā-tis 3. cantā-ba-nt cant-aba cant-abas cant-aba cant-ábamos cant-abais cant-aban cant-ava cant-avas cant-ava cant-ávamos cant-áveis cant-avam cant-avo cant-avi cant-ava cant-avamo cant-avate cant-avano je chant-ais tu chant-ais il chant-ait nous chant-ions vous chant-iez ils chant-aient Indikativ Perfekt 1. cantāv-ī 2. cantāv-istī* 3. cantāv-it 1. cantāv-imus 2. cantāv-istis* 3. cantāv-ērunt cant-é cant-aste cant-ó cant-amos cant-asteis cant-aron cant-ei cant-aste cant-ou cant-ámos cant-astes cant-aram cant-ai cant-asti cant-ò cant-ammo cant-aste cant-arono je chant-ai tu chant-as il chant-a nous chant-âmes vous chant-âtes ils chant-érent Die Tabelle zeigt, dass sich auch einige Tempuszeichen in einzelnen romanischen Sprachen erhalten haben, wie z.B. das Imperfektzeichen -bain der spanischen a- Konjugation oder seine lautlich weiter entwickelten Entsprechungen -vaim Portugiesischen und Italienischen. Diese Tempustreue gilt in gleicher Weise für die unregelmäßigen Verben. So hat sich z.B. das Imperfekt von lat. esse nahezu unbeschadet in das Spanische und Portugiesische gerettet : lat. eram, eras, erat… > sp./ port. era, eras, era (vgl. ital. ero, eri, era…). Im Französischen wurden diese Formen ersetzt durch entsprechende Formen von lat. stare ‚stehen’: stabam, stabas, stabat… > frz. j’étais, tu étais, il était… ). Berücksichtigt man für den Indikativ Perfekt, dass es schon im Klassischen Latein Kontraktionsformen gab, nämlich z.B. cantāstī und cantāstis anstelle der in der Tabelle mit Stern markierten Formen, dann wird deutlich, dass hier wiederum die Formen der romanischen Sprachen direkt auf klassische Vorgänger <?page no="166"?> Morphologie und Wortbildung 166 zurückgreifen. Auch hier gilt das Gesagte für einige Hilfsverben, z.B. für das Perfekt von esse: Die lateinische Formenreihe fui, fuisti, fuit, fuimus, fuistis, fuerunt setzt sich im spanischen Indefinido von ser nahezu unverändert fort: fui, fuiste, fue, fuimos, fuisteis, fueron und scheint auch bei port. ser noch stark durch: fui, foste, foi, fomos, fostes, foram. Eine Besonderheit des Spanischen besteht allerdings darin, dass die Perfektformen von lat. esse hier mit denen von lat. ire (‚gehen’ > sp. ir) zusammengefallen sind. Ein besonderes Schmankerl bietet das Portugiesische: Nur hier ist das Plusquamperfekt wie im Klassischen Latein als synthetische Form in der Originalfunktion, d.h. als Vorvergangenheit, erhalten: vgl. lat. cantaveram, cantaveras, cantaverat, cantaveramus, cantaveratis, cantaverant > port. cantara, cantaras, cantara, cantáramos, cantáreis, cantaram (‚ich hatte gesungen’ etc.). Von den klassischen Moduszeichen hat sich das überkreuzte System mit dem Konjunktivmarker -efür den Konjunktiv Präsens der ā-Konjugation und dem entsprechenden Marker -afür die übrigen Konjugationsklassen z.B. im Spanischen, Portugiesischen und Italienischen erhalten. Im Italienischen wurde allerdings -e- > -i-: Erhalt der lateinischen Modusmarker im Konjunktiv Präsens lat. cantare sp. cantar port. cantar it. cantare -a-Konjug. 1. cant-e-m 2. cant-ē-s 3. cant-e-t 1. cant-ē-mus 2. cant-ē-tis 3. cant-e-nt cant-e cant-es cant-e cant-emos cant-éis cant-en cant-e cant-es cant-e cant-emos cant-eis cant-em cant-i cant-i cant-i cant-iamo cant-iate cant-ino lat. vivĕre sp. vivir port. viver it. vivere übrige Konjugationen 1. viv-a-m 2. viv-ā-s 3. viv-a-t 1. viv-ā-mus 2. viv-ā-tis 3. viv-a-nt viv-a viv-as viv-a viv-amos viv-áis viv-an viv-a viv-as viv-a viv-amos viv-ais viv-am viv-a viv-a viv-a viv-iamo viv-iate viv-ano Auch das Spanische hat, wie das Portugiesische, einige klassische Elemente bewahrt, die sein Verbalsystem als besonders konservativ kennzeichnen. Hierzu gehört das Erhalten der synthetischen Formen des lateinischen Konjunktiv Plusquamperfekt Aktiv, aber nicht in derselben Funktion, sondern als Alternativformenreihe im spanischen Konjunktiv Imperfekt (Pretérito Imperfecto de subjuntivo). Hier gibt es bekanntlich ohne Bedeutungsunterschied zwei parallele Formenreihen, von denen die eine auf den genannten Konjunktiv Plpf. zurückgeht: lat. cantavissem, cantavisses, cantavisset… > sp. cantase, cantases, cantase.. und die andere auf den lateinischen Indikativ Plpf.: lat. cantaveram, cantaveras, cantaverat… > sp. cantara, cantaras, cantara. Anders als im Portugiesischen haben sich also hier nur die Formen erhalten, die Funktion bzw. Bedeutung hingegen hat sich verändert: Das Plusquamperfekt wurde zum Imperfekt und - nur in der zweiten Formenreihe - der Indikativ zum Konjunktiv. <?page no="167"?> Verbalmorphologie des Klassischen Lateins 167 4.5.8 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen Zusammenfassung: Das klassische Latein hat ein sehr komplexes Verbalsystem, das überwiegend, aber nicht aussschließlich, auf synthetischen Formen beruht. Auffallend ist der Reichtum an infiniten Formen. Generell sind zahlreiche Unregelmäßigkeiten zu verzeichnen, v.a. im Bereich der Konjugation von Hilfsverben. Im Indikativ Aktiv hat sich das System recht gut in den romanischen Sprachen konserviert, im Konjunktiv und im Passiv hingegen kam es zu größeren Veränderungen (s.u.). Am besten hat sich das klassisch lateinische Verbalsystem im Spanischen und Portugiesischen erhalten. Literaturempfehlungen: Die beste Kombination aus lernerfreundlichem Zugang und wissenschaftlichem Hintergrund bieten Rubenbauer et al. (1995) und Throm (1995, v.a. zur Wortbildung). Als reine Lernübersichten zur günstigen Anschaffung empfehlen sich Stock (2005) und die Verbentabelle von Schareika (2003). Die Übergänge vom Lateinischen zu den einzelnen romanischen Sprachen mit exemplarischen Übungen sind dargestellt in Nagel u.a. (1997), der sich v.a. an Gymnasiallehrer wendet. 4.5.9 Übungen a) Im folgenden Auszug aus einem Brief Plinius des Jüngeren an Tacitus (ep. VI,20: 13) beschreibt Plinius, wie er mit seiner Mutter vor dem Ascheregen anlässlich des Vesuv-Ausbruchs (79 n.Chr.) flieht, in dem sein Onkel, der berühmte Naturforscher Plinius der Ältere, umkommt. Im Text sind alle unveränderlichen und einige seltenere Formen interlinear übersetzt, zu den unterstrichenen Formen gibt es Hilfen unter dem Text. Bestimmen Sie mit Hilfe eines Wörterbuchs die übrigen Formen (Nomina und Verben) und versuchen Sie, den Inhalt des Textes zu erschließen: Iam cinis [sc. cadit], adhuc tamen rarus. respicio: densa caligo Schon . . . . . . . . . . . . . . . . . , noch aber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . tergis imminebat, quae nos torrentis modo infusa terrae sequebatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nach Art eines Sturzbachs ergossen auf die Erde . . . . . . .. „deflectamus“, inquam, „dum videmus, ne in via . . . . . . . . . . . .,“ sage ich, „solange noch . . . . . . . . . , damit nicht auf . . . . . . . . strati comitantium turba in tenebris obteramur“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . im Dunkeln . . . . . . . . . . . .“. (Hilfen: caligo: Nom.Sg.fem. ‚Rauch’; torrentis: Gen.Sg. von torrens ‚Sturzbach’; modo + vorangestellter Genitiv: ‚nach Art von’; infusa: PPP von infundĕre ‚aufgießen’- bezieht sich auf caligo; terrae Dat.Sg.f ‚zur Erde, auf die Erde’; deflectamus von deflectĕre ‚abbiegen’; strati: PPP Nom.Pl.m von sternĕre <?page no="168"?> Morphologie und Wortbildung 168 ‚niederstrecken’; comitantium: PPA Gen.Pl. von comitare ‚begleiten’; obteramur 1.Pl.Konj.Prs. von obterĕre ‚zertreten’) b) Bestimmen und übersetzen Sie die folgenden Verbformen (u.U. mit Hilfe eines Wörterbuchs), und setzen Sie sie dann in den entsprechenden lateinischen Konjunktiv: relinquitur amati eramus deleverunt tegebam cuperis venisti c) Bestimmen und übersetzen Sie die folgenden Verbformen (u.U. mit Hilfe eines Wörterbuchs), und setzen Sie sie dann in die entsprechende lateinische Passivform clamarem intellexisti abit duxeratis respondebit 4.5.10 Weiterführende Aufgaben a) Informieren Sie sich in der Grammatik von Rubenbauer et al. (1995), § 73 und § 211 über die Entstehung des lateinischen Perfekts. Wie erklären sich die unterschiedlichen Bildungs- und Verwendungsweisen? b) Stellen Sie auf der Basis von Raible (1992, S. 78-103 und 236-239) einige Beispiele aus typologisch ganz unterschiedlichen Sprachen zusammen, die zeigen, was für syntaktischen Möglichkeiten sich aus der Reduktion von Finitheit bieten. 4.6 Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein Es wurde bereits gesagt, dass die romanischen Sprachen aus funktioneller Sicht die Tempora und Modi des Klassischen Lateins weitgehend erhalten haben. Entsprechend gilt das auch für das Verbalsystem im Vulgärbzw. Spätlatein. Aus formaler Sicht gibt es aber doch einige Unterschiede zwischen dem Klassischen Latein und den romanischen Sprachen, und diese haben ihren Ursprung überwiegend in eben diesem Vulgär- und Spätlatein (zum Folgenden vgl. v.a. Väänänen 1981: 127ff). <?page no="169"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 169 4.6.1 Reduktion der Konjugationsklassen Zunächst einmal konstatieren wir im Vulgär- und Spätlatein eine Reduktion der Konjugationsklassen. Von den 5 Klassen bleiben nur 3 weitgehend unbeschadet, nämlich die ehemals langvokalischen Konjugationen (ā, ē, ī), die aber nun, nach Entphonologisierung der Vokalquantitäten, nicht mehr zwingend langvokalisch sind (vgl. klat. cantāre > vlat. cantare > sp. cantar; klat. tenēre > vlat. tenere > sp. tener, lat. venīre > vlat. venire > sp. venir). Entsprechend fällt die e-Konjugation mit der konsonantischen und der kurzvokalischen i-Konjugation zusammen, deren Vertreter ja im Infinitiv gleichfalls auf -ere auslauten. Durch den lautlichen Zusammenfall von kurzem bzw. offenem / i/ mit langem bzw. geschlossenen / e/ gibt es auch Verwechslungen in den Endungen (z.B. florere ‚blühen’ > florire). Dies erklärt, warum z.B. im Spanischen viele Verben, die im Lateinischen der konsonantischen Konjugation angehörten, jetzt in die i-Klasse gerutscht sind (z.B. lat. vivĕre > sp. vivir, aber lat. bibĕre > sp. beber). Besonders zwischen der ehemaligen konsonantischen, der gemischten und der ehemaligen ē-Konjugation gibt es immer wieder Verwechslungen. So wird z.B. aus respondēre ‚antworten’ häufig respondĕre (vgl. konservatives am Klass.Latein orientiertes sp. responder vs. innovatives frz. répondre) und umgekehrt aus cadĕre ‚fallen’ cadēre (vgl. it. cadere) bzw. aus sapĕre (sapio)‚schmecken, verstehen’ sapēre (> it. sapere, sp. saber, fr. savoir). Einen Schritt weiter als die anderen romanischen Sprachen geht in diesem Punkt das Französische: Während die Verben der ehemaligen lateinischen a- Konjugation durch den französisch-spezifischen Lautwandel / a/ > / e/ eine neue -er-Klasse aufmachen (z.B. cantare > chanter; parabolare > parler), werden die Verben der ehemals langvokalischen e-Konjugation entweder in die i- Konjugation überführt (z.B. tenēre > frz. tenir) oder aber sie fallen mit den Verben der ehemals konsonantischen Konjugation zusammen, bei denen das -evor der Infinitivendung gänzlich schwindet: lat. vivĕre > frz. vivre. 4.6.2 Beseitigung von Unregelmäßigkeiten Für alle Konjugationsklassen gilt eine zunehmende Angleichung der Unregelmäßigkeiten an das regelmäßige Formensystem. In besonderem Maße gilt dies für die Verba Anomala: So wird z.B. zu esse ein regelmäßiger Infinitiv essere gebildet (> it. essere, sp. ser, afr. estre), und unregelmäßige Stammformen wie die von stare ‚stehen’ (1. Pf. steti) werden an das System der a-Konjugation angepasst (> 1.Pf. stavi) - weiteres vgl. Kap. 4.6.5. Auch zu posse und velle werden regelmäßigere Infinitive gebildet, die sich an der Perfektform (potui, volui) bzw. am PPA (potens, volens) orientieren: potēre (vgl. it. potere, sp. poder) und volēre (vgl. it. volere, frz. vouloir). Die einzelnen finiten Formen werden ganz regelmäßig gebildet; in Texten belegt sind beispielsweise für das Präsens poteo und für das Imperfekt potebas und potebat (Väänänen 1981: 136). Schon im Altlatein gab es vereinzelte Tendenzen, die Deponentien in aktivische Verben umzuwandeln. So findet man z.B. bei Plautus hortare für hortari (‚ermahnen’) und partire für partiri (‚teilen’). Diese Tendenz breitet sich im <?page no="170"?> Morphologie und Wortbildung 170 Spätlatein so sehr aus, dass auch die gängigsten Deponentien aktivische Form annehmen z.B. loqui (‚sprechen’) > loquere, sequi (‚folgen’) > sequere (vgl. sp. seguir, it. seguire, fr. suivre). 4.6.3 Veränderungen beim Passiv: von der Synthese zur Analyse Das Mediopassiv wird im Vulgär- und Spätlatein zunehmend durch reflexive Konstruktionen ersetzt, z.B. verti (‚sich drehen’) > se vertere; exercēri (‚sich üben’) > se exercere (vgl. frz. s’exercer). Es wird also die Technik eingeführt, die sich später in den romanischen Sprachen nahezu flächendeckend ausbreitet: clamatur > se clamat > it. si chiama, sp. se llama; appellatur > se appellat > fr. il s’appelle. Die neue Technik ist zugleich analytisch und prädeterminierend. Auch das eigentliche Passiv macht einen tiefgreifenden Formenwandel durch: Das synthetische Passiv der Präsensstammgruppe verschwindet vollständig - offensichtlich bot das analytische Passiv der Supinstammgruppe kommunikative Vorteile. Entsprechend ergibt sich nun eine Verschiebung aus der Supinstammgruppe in die präsentischen Tempora: Das Passivmuster des Indikativ Perfekt (PPP + Präsens von esse) wird zunehmend als Präsens Passiv verstanden. Semantisch bieten sich für diese Tempusverschiebung zwei Erklärungen an: Zum einen suggeriert die Präsensform des Hilfsverbs esse eine präsentische Bedeutung, zum anderen hat das Perfekt im Klassischen Latein häufig resultative Bedeutung, d.h. eine zurückliegende Handlung wird in ihrer Bedeutung für die Gegenwart geschildert (z.B. novi ‚ich habe kennengelernt’ = ‚ich weiß’ - Inf. noscĕre). Man spricht hier auch von einem „präsentischen Perfekt“. Durch die Verschiebung der Form des Perfekts Passiv kommt nun das ganze System in Bewegung, ähnlich, wie wenn man im Supermarkt die unterste Dose aus einem Stapel zieht. Die entstehenden Lücken werden aufgefüllt mit neugebildeten analytischen Formen auf der Grundlage des PPP in Kombination mit anderen Tempora des Hilfsverbs esse. Diese neu hinzu kommenden Formen sind in der Tabelle durch das Zeichen „+“ markiert. Verschiebungen im Formenparadigma des Passivs (Indikativ) 60 Klassisches Latein Spätlatein Präsens laudor laudatus sum Perfekt laudātus sum + laudatus fui Imperfekt laudābar laudatus eram Plusquamperfekt laudātus eram + laudatus fueram Die aus der Verschiebung resultierenden Formen bzw. Verwendungen haben sich in den romanischen Sprachen im Wesentlichen erhalten, vgl. z.B. klat. am-or => slat. amatus sum > it. sono amato, sp. soy amado, fr. je suis aimé klat. ama-bar => slat. amatus eram > it. era amato, sp. era amado, fr. j’étais aimé 61 60 Darstellung modifiziert nach Väänänen (1981: 130). 61 Im Französischen wurde das Imperfekt von esse durch das Imperfekt von stare ‚stehen’ ersetzt (vgl. hierzu Kap. 4.6.5). <?page no="171"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 171 4.6.4 Neubildung analytischer Tempusformen im Aktiv Nachdem sich das analytische Formenbildungsverfahren über das Passiv schleichend ausgebreitet hat, greift es zunehmend auf die Konjugation der aktivischen Tempusformen über. Auch hier werden nun analytische, oder anders formuliert, „periphrastische Tempora“ gebildet. Ganz neu ist dieses Verfahren auch im Aktiv nicht, gab es doch schon im Klassischen Latein in ganz bestimmten Verwendungen eine futurische „coniugatio periphrastica“ (‚umschreibende Konjugation’), zusammengesetzt aus dem PFA und einer Form von esse (z.B. laudaturus sum - ‚ich bin einer, der gleich loben wird’ > ‚ich werde loben’) oder aber auch Zusammensetzungen mit dem Gerundivum (z.B. laudandi sunt ‚sie sollen/ werden gelobt werden’. Entsprechend breiten sich neue analytische Formen zuerst im Futur und im Perfekt, in dem das Passiv mit seiner analytischen Formenreihe gewisse Vorarbeit geleistet hat (s.o.), aus. Dass der Übergang von der Synthese zur Analyse gerade diese beiden Tempora betrifft, hat aber mehrere Gründe: • Sowohl im Futur als auch im Perfekt (allerdings Passiv) bestehen bereits Formen der periphrastischen Konjugation (s.o.). • Die Formen von Futur und Perfekt waren sich schon im Klassischen Latein phonetisch relativ ähnlich (z.B. laudabit, laudabimus vs. laudavit, laudavimus). Nach dem recht verbreiteten Lautwandel von / b/ > / v/ waren diese Formen nicht mehr auseinander zu halten. Es bestand also dringender Bedarf an eindeutigen Formen. • Die 1.Person Singular des Futur I überschnitt sich in manchen Konjugationen mit dem Konjunktiv Präsens (z.B. regam, capiam). Auch hier bestand also Klärungsbedarf. • Das lateinische Perfekt vereint die Funktionen des urindogermanischen Aorists (Standard-Erzählzeit der Vergangenheit; sog. „historisches Perfekt“) und des uridg. Perfekts (Abgeschlossenheit einer Verbalhandlung aus Sicht des Präsens oder anders ausgedrückt: perfektiver Aspekt 62 ). Es muss also gelegentlich als Präsens übersetzt werden (sog. „präsentisches 62 Neben Tempus, Modus und Diathese unterscheidet man bei Verben zwei weitere Kenngrößen, die den Ablauf der Verbalhandlung fokussieren. Dies ist zum einen der Aspekt, der die Abgeschlossenheit oder Nicht-Abgeschlossenheit einer Handlung zum Ausdruck bringt (perfektiv vs. imperfektiv) und z.B. im Französischen herangezogen werden muss, um die Gebrauchsunterschiede zwischen Imparfait und Passé simple zu erklären. Zum anderen ist es die Aktionsart (z.B. inchoativ - kennzeichnet den Anfang einer Verbalhandlung; iterativ - wiederholte Handlung; punktuell - einmalige und zeitlich kurze Handlung; durativ - lang andauernde Handlung; telisch - auf ein Ziel/ Ende hin ausgerichtete Handlung). Da der Aspekt immer an ein bestimmtes Tempus geknüpft ist, handelt es sich um eine grammatische Kategorie. Die Aktionsart hingegen wird entweder durch ein eigenes Affix ausgedrückt (z.B. duratives florēre ‚blühen’ vs. inchoatives florescĕre ‚erblühen’) oder steckt gewissermaßen in der Lexembedeutung (z.B. lat. dormire ‚schlafen’ ist nie punktuell). Es handelt sich also hierbei um eine semantische Kategorie. Im Deutschen wird die Aktionsart häufig durch ein Präfix zum Ausdruck gebracht: vgl. duratives blühen vs. inchoatives erblühen vs. telisches verblühen. <?page no="172"?> Morphologie und Wortbildung 172 Perfekt“, vgl. novi - ‚ich kenne’) und ist demnach als Tempus wenig eindeutig. • Das Futur wird im Klassischen Latein, wenn es um zukünftige Handlungen geht, konsequenter verwendet als im Deutschen, wo auch für die Zukunft häufig das Präsens steht (z.B. dt. ich schicke dir morgen ein Buch vs. cras librum tibi mittam). Sobald die Zukunft berührt wird, verwendet man also im Lateinischen tatsächlich das Futur 63 - eine Verwendung, die sich in den romanischen Sprachen bewahrt hat, die in diesem Punkt strenger sind als das Deutsche. Umgekehrt kann aber das lateinische Futur gelegentlich in die Gegenwart hineinreichen. Das Beispiel des alten futurischen Imperativs auf -to/ -tote haben wir bereits kennengelernt (s.o.). Berühmt geworden ist die Formel memento mori! (wörtlich: ,denke daran zu sterben’; sinngemäß: ,bedenke, dass du sterblich bist’), die während der Triumphzüge dem auf dem Triumphwagen stehenden siegreichen Feldherrn ins Ohr geflüstert wurde, damit dieser angesichts der Ehrungen die Bodenhaftung nicht verlor (der Feldherr, nicht der Wagen…). Daneben kann auch das Futur I stehen, um einen drohenden Befehl oder eine Verpflichtung auszudrücken (z.B. statim tacebitis! ,Ihr werdet sofort den Mund halten! ’ vgl. Throm 1995: 207). Man spricht hier vom „deontischen Futur“, also einem Futur des Sollens oder Müssens, das sich z.B. im Französischen in Gesetzestexten erhalten hat (vgl. das 5. Gebot: tu ne tueras point). Die aufgeführten Faktoren führten dazu, dass Futur und Perfekt im Lateinischen sowohl als Form wie auch als funktionelle Kategorie unscharf wurden. Es lag also nahe, neue Formen zu entwickeln und damit die Tempusfunktionen wieder zu stärken bzw. eindeutiger zu machen. Welche Motivation dabei letztlich den Ausschlag für das Kreieren bestimmter Formen bzw. die Durchsetzung einer bestimmten Variante gab, ist durchaus umstritten. Über den formalen Ablauf des Ersetzungsprozesses bei Futur I und Perfekt ist man sich aber weitgehend einig. Schlüsselbegriffe sind, wie bei den meisten morphologischen Sprachwandelphänomenen, die Prinzipien der Lexikalisierung und der Grammatikalisierung: Das synthetische Perfekt wird in der spätlateinischen Epoche, zumindest in der gesprochenen Sprache, allmählich durch ein analytisches Perfekt verdrängt, das aus dem Hilfsverb habēre oder tenēre und dem PPP gebildet wird. Die Entwicklung dieser neuen Form kann man in drei Stufen darstellen (vgl. Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 139): In der ersten Stufe (Klassisches Latein) sind habēre und tenēre noch Vollverb (‚besitzen’). Ein Satz wie magister habet scriptum librum bedeutet also: ‚der Lehrer besitzt ein Buch, das geschrieben ist’. Wer das Buch geschrieben hat, spielt keine Rolle, wichtig ist nur, dass es geschrieben und nicht z.B. bebildert ist. Auf einer zweiten Stufe wird die Verbindung des finiten Verbs habēre bzw. tenēre mit dem jeweiligen PPP lexikalisiert, d.h. sie verfestigt sich zu einer Kollokation mit einer bestimmten Bedeutungsnuance. Diese Nuance besteht darin, dass das Subjekt des finiten 63 Hierzu, sowie auch zum präsentischen Perfekt, vgl. Rubenbauer et al. (1995: 240ff). <?page no="173"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 173 Verbs mit dem Agens 64 des Partizips zusammenfällt. Der Lehrer besitzt also ein Buch, das er selbst geschrieben hat (ähnlich wie es im spanischen El profesor tiene escrito un libro unterschwellig verstanden wird). Auf diese Weise wird neben dem Besitz auch die Abgeschlossenheit der Schreibhandlung betont. Eine solche Umschreibung kann alternativ zum präsentischen Perfekt stehen (vgl. Rubenbauer 1995: 242: te cognitum habeo ‚ich habe dich als erkannten’, d.h. ‚ich habe dich kennengelernt und kenne dich nun durch und durch’). In der dritten Stufe erhält die gesamte Periphrase temporalen Wert, entspricht also dem französischen Le professeur a écrit un livre oder dem spanischen El profesor ha escrito un libro (‚der Lehrer hat ein Buch geschrieben’). Das Verb habēre verliert dabei seinen Vollverbstatus (der Lehrer besitzt das Buch also nicht mehr unbedingt, sondern es könnte auch jemand anderem gehören) und wird zum Hilfsverb, oder anders ausgedrückt: Aus einem lexikalischen Morphem wird ein grammatisches Morphem - eine sogenannte „Grammatikalisierung“. Entsprechendes gilt im Portugiesischen für das aus tenēre hervorgegangene Hilfsverb ter, das hier für die Perfektbildung verwendet wird (port. O professor tem escrito um livro). Dass es sich bei der Form von habere 65 bzw. tenere nun tatsächlich um ein grammatisches Morphem handelt, erkennt man daran, dass es mit allen Vollverben kombinierbar ist. Entsprechend bildet man nun z.B. auch an Stelle von cantavi analytisch cantatum habeo bzw. teneo (> sp. he cantado, it. ho cantato, fr. j’ai chanté; port. tenho cantado). Nachdem die Technik des analytischen Perfekts sich durchgesetzt hatte, bildete man analog dazu auch ein analytisches Plusquamperfekt. Synthetisches cantaveram (‚ich hatte gesungen’) wurde also von einer Periphrase mit PPP abgelöst, in der das Hilfsverb habere bzw. tenere ins Imperfekt oder Perfekt trat: cantatum habebam/ habui bzw. tenebam/ tenui. In den romanischen Sprachen setzte sich überwiegend die Imperfektform des Hilfsverbs durch, wie wir sie aus den Plusquamperfektformen sp. había cantado, it. avevo cantato, fr. j’avais chanté und port. tinha cantado kennen. Bei der Entwicklung des analytischen Futur I wirkten ganz ähnliche Prozesse: Zunächst verbreitete sich im Spätlatein eine bestimmte Technik zum Ausdruck des deontischen Futurs, nämlich eine Periphrase aus Infinitiv + Präsens von habere. Die Wahl des Infinitivs fiel deshalb nahe, weil er die Nicht- Abgeschlossenheit der Verbalhandlung zum Ausdruck bringt. Eine Form wie cantare habeo bedeutete also ‚ich soll singen’, im Unterschied zum rein futurischen cantabo (‚ich werde singen’). Wie schon beim Perfekt liegt auch hier eine Lexikalisierung der Periphrase vor. Diese Periphrase war so gängig, dass sie sogar in die Vergangenheit gesetzt werden konnte. Einen Beleg hierfür kennen Sie bereits aus der Übung zum Itinerarium Egeriae II,1: „transversare habebamus“ ‚wir mussten durchqueren’ (vgl. Textauszug S.147). 64 Beim Passiv ist es präziser, vom Agens (PPA von agĕre ,tun’), also der tätigen Person zu sprechen, da das Subjekt in passivischen Ausdrücken ja gerade nicht die Person ist, die etwas tut, sondern die, mit der etwas getan wird. 65 Hier erübrigt sich die Quantitätenmarkierung, da sie zu dieser Zeit nicht mehr phonologisch distinktiv ist. <?page no="174"?> Morphologie und Wortbildung 174 Der Auslöser der darauf folgenden Grammatikalisierung ist umstritten. Manche Linguisten erklärten den Wechsel vom synthetischen zum analytischen Futur rein morphologisch (z.B. wegen der Verwechslungsmöglichkeit von Perfekt und Futur, s.o.); Coseriu (1979) macht aber beispielsweise das Christentum mit seiner auf das Leben nach dem Tode ausgerichteten Denkweise dafür verantwortlich, dass das deontische Futur in periphrastischer Form das synthetische Futur allmählich verdrängte. In jedem Falle wird auch hier die Periphrase grammatikalisiert, d.h. habere wird wiederum zum Hilfsverb bzw. grammatischen Morphem: cantare habeo ‚ich werde singen’. Das neue Muster aus infinitivischem Stamm kombiniert mit dem Präsens von habere als Futur-Endung hat sich dann in den romanischen Sprachen fortgesetzt: sp. cantaré (entspricht cantar + he), port. cantarei (cantar + hei), fr. chanterai (chanter + ai), it. canterò (cantare + ho). Analog zu diesem Futur bildete sich in den romanischen Sprachen anschließend ein Konditional heraus, das zumeist auf den Elementen Infinitiv + Imperfektendung von habere beruhte (vgl. sp. cantaría <= cantar + había; port. cantaria <= cantar + havia; frz. chanterais <= chanter + avais). Eine entsprechende Kollokation existierte zwar bereits im Spätlatein (s. Egeria-Beispiel transversare habebamus), hatte aber damals noch nicht die Funktion eines Konditionals. Die eigentliche Grammatikalisierung fand also erst im Frühstadium der romanischen Sprachen statt. Ein wenig aus der Reihe schert das Italienische, das seine Konditionalformen auf der Grundlage von Infinitiv + Perfektendung von habere bildet: canterei (aus cantare + ebbi < lat. habui), canteresti (aus cantare +avesti < lat. habuisti), canterebbe (aus cantare + ebbe < lat. habuit) etc. 4.6.5 Veränderungen bei habēre und esse Neben den bereits angesprochenen Verwendungen von habēre als Hilfsverb (s.o.) kommt es im Spätlatein auch zu einer unpersönlichen Verwendung von habēre als Ausdruck des Vorhandenseins. Es ersetzt damit eine bestimmte, im Klassischen Latein übliche, Verwendung von esse, nämlich die als Vollverb (z.B. est modus in rebus - ‚es gibt ein Maß in den Dingen’ oder sunt homines qui ‚es gibt Leute, die…’). Stattdessen steht nun unpersönliches habet (‚es hat/ es gibt), und zwar unabhängig davon, ob das logische Subjekt im Singular oder Plural steht (vgl. z.B. im Itinerarium Egeriae 1,2: „habebat autem de eo loco ad montem Dei forsitan quattuor milia“ ‚von diesem Ort bis zum Berg Gottes waren es vier Meilen’) - also genau dieselbe Verwendungsweise wie in einigen romanischen Sprachen (vgl. z.B. sp. hay, frz. il y a). Eher am klassischen esse-Modus orientiert ist das Italienische mit seinen numerusmäßig angepassten Ausdrücken c’è und ci sono. Das vielleicht unregelmäßigste und meistgebrauchte Verb des Klassischen Lateins ist esse. Es hat nicht nur sehr unterschiedliche Tempusstämme (z.B. Präsens: sum, es, est…; Perfekt: fui, fuisti, fuit …; Imperfekt: eram, eras, erat…), sondern auch noch sehr kurze Formen, die dem Lautwandel wenig entgegenzusetzen hatten. Schon minimale lautliche Veränderungen gefährdeten das Verständnis. Darüber hinaus hatte esse sehr unterschiedliche Funktionen: Es konnte 1. als Vollverb gebraucht werden - in dieser Funktion wurde es schon früh von <?page no="175"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 175 unpersönlichem habet abgelöst (s.o.). 2. diente esse als Kopula 66 und 3. als Hilfsverb in der Konjugation der Perfektstammgruppe Passiv. Es verwundert daher nicht, dass esse im Vulgär- und Spätlatein zum einen formal an andere Verben angeglichen wurde (z.B. bildete man einen Infinitiv essĕre, der in it. essere erhalten ist), zum anderen aber auch Konkurrenz durch andere Verben bekam, nämlich durch sedēre (‚sitzen’) und stare (‚stehen’). Beide Verben entsprechen der Tendenz des Vulgärlateins, konkretere Ausdrücke abstrakten Ausdrücken vorzuziehen (in horto sedet ‚er sitzt im Garten’ ist ja konkreter als in horto est ‚er ist im Garten’). Alle drei Verben haben sich mit ihren Formen in den romanischen Sprachen gut erhalten können, bei stare meist die Variante mit prothetischem e- (estare). Besonders deutlich ist dies im Spanischen und Portugiesischen, wo es für das Verb ‚sein’ gleich zwei lateinbasierte Entsprechungen gibt, nämlich jeweils ser (< lat. sedēre) und estar (< lat. stare), die zwei völlig unabhängige Formenreihen bilden und auch semantisch mehr oder weniger klar zu unterscheiden sind (ein Dauerbrenner in allen Spanisch- und Portugiesischkursen…). Als Eselsbrücke für die Unterscheidung könnte man sich merken, dass ser als Kopula deshalb bei wesenhaften Eigenschaften verwendet wird (z.B. sp. ser inteligente), weil Sitzen eine Tätigkeit ist, die man lange ausüben kann. Stehen hingegen ist meist kürzer befristet, was es nahelegt, estar als Kopula bei vorübergehenden Eigenschaften zu verwenden (z.B. sp. estar contento). Die Konservierung zweier separater Formenreihen ist allerdings die Ausnahme. Verbreiteter ist das Phänomen des Synkretismus, d.h. des Zusammenfalls der Formenparadigmen verschiedener Verben zu einem einzigen Paradigma. So gehen in die Formenreihe von span. und port. ser sowohl Formen von lat. sedēre wie auch von esse ein. Aus diesem Grunde ist ser deutlich unregelmäßiger als estar. Im Folgenden wird dies für das spanische ser ausgeführt (nach Cano Aguilar 2002: 158), das portugiesische ser verhält sich weitgehend analog: Von esse leiten sich ab: • Präsens Indikativ: sp. soy (< lat. sum), eres (< lat. eris Fut.I! ), es (< lat. est), somos (< lat. sumus), son (< lat. sunt) - zur 2.Pl. vgl. sedēre (s.u.) • Imperfekt Indikativ: sp. era, eras ... < lat. eram, eras ... • Perfekt Indikativ: sp. fui, fuiste, fue ... < lat. fui, fuisti, fuit ... Von sedēre leiten sich ab: • Infinitiv: sp. ser < asp. seer < lat. sedēre (evtl. mitbeeinflusst von essere) • 2.Pl.Indikativ Präsens: sp. sois < asp. sodes < lat. sedetis (das -owurde analog zu den anderen Pluralformen somos und son eingesetzt) • Konjunktiv Präsens: sp. sea, seas ... < lat. sedeam, sedeas... • Futur I: sp. seré, serás ... < sedere habeo, sedere habes ... • Konditional I: sp. sería, serías ... < sedere habebam, sedere habebas ... 66 „Kopula“ (< lat. copula ‚Band’) nennt man ein Verb, dessen semantische Rolle allein darin besteht, ein Subjekt mit einem Prädikatsnomen, also einer Aussage über dieses Subjekt, zu verbinden, z.B. in Der Bahnhof ist groß. <?page no="176"?> Morphologie und Wortbildung 176 • Indikativ Perfekt (und alle weiteren analytischen Tempora mit Partizip Perfekt): sp. he sido, has sido ... < sedetum habeo, sedetum habes ... Einen ähnlichen Synkretismus bietet frz. être: Von esse(re) leiten sich ab: • Infinitiv Präsens: être < afr. estre < vlat. essĕre (das -tist ein eingeschobener Gleitkonsonant, um die Aussprache des als Resultat einer Synkopierung entstandenen *essre zu erleichtern) • Ind.Präsens: fr. je suis (< lat. sum) 67 , tu es (< lat. es), il est (<lat. est), nous sommes (< lat. sumus), vous êtes (< lat. estis), ils sont (< lat. sunt) • Passé Simple: fr. je fus, tu fus, il fut … < lat. fui, fuisti, fuit … • Konjunktiv Imperfekt: fr. je fusse, tu fusses, il fusse… < lat. fuissem, fuisses, fuisset … (jeweils Konj. Plusquamperfekt! ) Einige weitere Formen sehen zwar so aus, als könnten sie sich von sedēre herleiten (ganz ausgeschlossen ist zumindest ein gewisser Einfluss sicher nicht), die Mehrheit der Fachleute geht aber von spezielleren vulgärlateinischen Neubildungen auf der Basis von esse aus, von denen sich die entsprechenden französischen Formen ableiten (vgl. Sergijewskij 1997: 77,84f, Große 1986: 113ff, Ineichen 1985: 95ff): • Konjunktiv Präsens: fr. je sois, tu sois, il soit ... < vlat. *siam, sias, siat ... bzw. *seam, seas, seat ... anstelle des klass. sim, sis, sit... • Futur I: 68 fr. je serai, tu seras ... < *esseraio, esseras, essera ... • Konditional I: fr. je serais, tu serais, il serait ... < *essereie, essereies, essereit ... Von klat. stare bzw. vlat. estare leiten sich ab: • Partizip Perfekt Passiv: été < afr. estet < lat. (e)statum • Partizip Präsens Aktiv/ Gerundium: étant < afr. estant < lat. (e)stantem/ (e)stando • Indikativ Imperfekt: 69 fr. j’étais, tu étais, il était ... < afr. estoie, estoies, estoit ... < lat. (e)stabam, (e)stabas, (e)stabat ... Auch im Italienischen gibt es Ansätze zum Synkretismus: esse(re) ist zwar mit seinen Formen klar dominierend, stare ersetzt aber das fehlende Partizip Perfekt von esse durch sein Partizip stato (vgl. Passato Prossimo: sono stato ‚ich bin gewesen’). Bemerkenswert ist auch, dass beide Infinitive ihre (im Falle von essere: spät-)lateinische Form erhalten haben. Der Konjunktiv Präsens mit seinem Stamm 67 Die Zwischenstufe zwischen dem lat. sum und dem altfranzösischen sui (das graphische <s> wird erst im Mfrz. angehängt) ist wohl eine rekonstrierte Form *sóio, die durch Analogie zur lat. Perfektform fui entstanden ist (Ineichen 1985: 95). 68 Daneben existiert im Afrz. eine Futurreihe ier, iers, iert …, die direkt auf klat. ero, eris, erit … zurückgeht, aber wohl schon wegen ihrer Ähnlichkeit zur zweiten Imperfektreihe (s.u.) nicht erhalten blieb (Große 1986: 114, Sergijewskij 1997: 84). 69 Daneben gibt es im Altfranzösischen eine zweite Imperfektreihe (i)ere, (i)eres, (i)ere/ ert … die direkt auf das klassische eram, eras, erat… zurückgeht. Diese Reihe wird aber später aufgegeben (Große 1986: 113). <?page no="177"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 177 si- (sia, sia, sia …) scheint auf dieselbe lateinische Nebenform von esse zurückzugehen wie sein französisches Pendant (*siam, sias, siat … - vgl. Pianigiani 1988: Stichwort „èssere“). Auch für die Formen des sar-Stammes (z.B. Futur I: sarò, sarai, sarà…; Konditional I: sarei, saresti, sarebbe…) ist wohl die gleiche Entstehung anzunehmen wie im Französischen. 4.6.6 Verlust von Verbalkategorien Durch den Übergang von den synthetischen zu den analytischen Verbformen gehen zwar viele synthetische Formen verloren, die Kategorien bleiben aber zumeist erhalten, da die Formen ja ersetzt werden (z.B. der Infinitiv Präsens Passiv laudari durch die Periphrase laudatus esse, oder der Infinitiv Perfekt Aktiv laudavisse durch die Periphrase laudatum habere). Es gibt aber auch einige Verbalkategorien, die noch im Klassischen Latein ganz geläufig waren, im Vulgär- und Spätlatein hingegen immer seltener gebraucht wurden und schließlich beim Übergang zu den romanischen Sprachen verloren gingen. Hierzu gehören: • das Partizip Futur Aktiv (laudaturus, 3) • das Gerundivum (laudandus, 3) Des weiteren fallen das Partizip Präsens Aktiv (PPA: laudans, laudantis ‚lobend’) und das instrumental verwendete Gerundium (laudando ‚durch Loben’) formal und teilweise auch funktional zusammen (Väänänen 1981: 140). Hieraus resultiert die Form auf -ndo, die in den romanischen Sprachen je nach Verwendung als Partizip Präsens oder als Gerundium bezeichnet wird (z.B. lat. cantando > sp./ it. cantando). Im Französischen hingegen setzt sich die Form des lat. PPA durch, weshalb die Universalform für Partizip Präsens und Gerundium im Französischen auf -ant auslautet (z.B. lat. cantantem > frz. chantant). Die frz. Bezeichnung „gérondif“ ist hier irreführend: sowohl etymologisch als auch funktional handelt es sich um ein Gerundium. 4.6.7 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen Zusammenfassung: Die wichtigsten Neuerungen im Verbalsystem von Vulgär- und Spätlatein sind auf der einen Seite das Angleichen unregelmäßiger Formen und auf der anderen Seite die Entwicklung analytischer Formen anstelle von synthetischen Formen. In gewissem Sinne vollzieht sich hier - genau wie bei der Nominalmorphologie - ein Schub von der Postdetermination zur Prädetermination. Ein Hilfsverb als Tempusmarker kann ja auch vorangestellt werden, ein Tempussuffix dagegen nicht. Zu all diesen Neuerungen ist allerdings zu sagen, dass sie im geschriebenen Spätlatein nur relativ selten zu finden sind. Erklären lässt sich dieses Phänomen dadurch, dass es nur recht wenige Schreibkundige gab, und die waren offensichtlich in einer konservativen Schreibtradition ausgebildet worden. Da sich die beschriebenen Neuerungen aber durchweg in den romanischen Sprachen verbreitet haben, müssen wir annehmen, <?page no="178"?> Morphologie und Wortbildung 178 dass sie im gesprochenen Spätlatein deutlich häufiger verwendet wurden als im geschriebenen Spätlatein. Literaturempfehlungen: zum Vulgärlatein wie immer grundlegend Väänänen (1981), Kiesler (2006) und mit Abstrichen Herman (1975) und Hofmann (1951). Zu den frühen Stadien der romanischen Sprachen - Französisch: Sergijewskij (1997), Große (1986), Raynaud de Lage (1984), Wolf/ Hupka (1981), Rheinfelder (1967); Spanisch: Cano Aguilar (2002); Italienisch: Rohlfs (1966-69). 4.6.8 Übungen a) Verbinden Sie die bedeutungsgleichen Formen aus Klassischem Latein, Spätlatein und romanischen Sprachen (klass. Stammformen: legĕre, -o, lēgi, lectum ‚lesen’; liber, libri, m ‚Buch’) und übersetzen Sie sie: KL SL RS 1 librum legemus 1 liber lectus est 1 fr. tu as lu le livre 2 librum legisti 2 librum legere habemus 2 sp. habían leído el libro 3 liber legitur 3 librum lectum habes 3 it. il libro è letto 4 liber lectus erat 4 librum lectum habebant 4 fr. nous lirons le livre 5 librum legerant 5 liber lectus fuit 5 it. il libro era stato letto 6 liber lectus est 6 liber lectus fuerat 6 sp. el libro fue leído b) Einige Verbformen haben beim Übergang zum Spätlatein ihre Bedeutung geändert. Übersetzen Sie die folgenden Formen einmal als klassische Variante und einmal als spätlateinische Variante: liber laudatus est casa constructa erat c) Auf welche lateinischen Formen gehen die folgenden romanischen Formen unmittelbar zurück? fr. nous appellerons sp. vinieron it. aveva mandato fr. j'ai construit d) Das älteste Sprachzeugnis des Französischen sind die sog. „Straßburger Eide“ (842 n.Chr.). Hier verbünden sich Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, die beiden Söhne Ludwigs des Frommen, gegen ihren Bruder Lothar (alle drei sind Enkel Karls des Großen). Der Rechtsakt vollzieht sich am 14.2.842 nach der Schlacht von Fontanet, im Beisein beider Heere. Dabei spricht Ludwig die Eidesformel auf Altfranzösisch, damit er von dem frankophonen Heer Karls verstanden wird, und Karl spricht umgekehrt die Formel auf Althochdeutsch. Im Folgenden ein Auszug aus der altfranzösischen Formel mit einer neufranzösischen Übersetzung: 70 70 Zur sprachlichen Analyse vgl. auch Klare (1998: 52). <?page no="179"?> Verbalmorphologie in Vulgär- und Spätlatein 179 „Pro Deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, d’ist di in avant, in quant Deus savir et podir me dunat, si salvarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi altresi fazet et ab Ludher nul plaid nunquam prindrai, qui, meon vol, cist meon fradre Karle in damno sit.” (nach Berschin/ Felixberger/ Goebl 1978: 184) ‚Pour l’amour de Dieu et pour le peuple chrétien et notre salut commun à partir de ce jour en tant que Dieu me donne le savoir et le pouvoir je soutiendrai mon frère Charles que voici par mon aide et en toute chose comme on doit soutenir son frère selon l’équité à condition qu’il m’en fasse autant et avec Lothaire je ne prendrai jamais aucun arrangement qui de ma volonté soit au détriment de mon frère Charles que voici.’ (nach Geckeler/ Dietrich 2003: 180) Charakterisieren Sie die Sprache des Textes zwischen Lateinisch und Romanisch: 1 Welche Wörter sind von der Graphie her rein lateinisch 2 Welche Wörter entsprechen von der Graphie her bereits dem neufranzösischen Stand 3 Wie ist die Morphologie der Nomina einzustufen Sind noch Reste lateinischer Kasus erkennbar 4 Wie ist die Morphologie der Verben einzustufen (jeweils unterstrichen): Welche Formen erinnern an das Lateinische welche an das Romanische 5 Zeigen Sie an ausgewählten Wortformen aus dem Text dass das Altfranzösische dem Spanischen bzw. dem Italienischen näher ist als das Neufranzösische. 4.6.9 Weiterführende Aufgaben a) Suchen Sie aus der lateinischen Wortkunde von Mader (2005) für jede der fünf Konjugationsklassen jeweils zwei Beispielverben heraus die sich in allen bei Mader aufgeführten romanischen Sprachen erhalten haben. Beschreiben Sie den phonologischen und morphologischen Wandel der jeweils stattgefunden hat. b) Informieren Sie sich über die Sprachwandeltheorie von Rudi Keller (z.B. 1982 oder 1994). Welche der im vorliegenden Buch aufgeführten Sprachwandelphänomene aus der lateinisch-romanischen Verbalmorphologie lassen sich mit der „unsichtbaren and“ erklären welche nicht c) Fassen Sie die Erklärungsansätze für die Entstehung des periphrastischen Futurs zusammen die Coseriu (1979) auflistet. Was kritisiert er an diesen Ansätzen und wie begründet er seine eigene ypothese <?page no="180"?> 5 Syntax Von der Antike bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Syntax so etwas wie die „hohe Schule“ des Lateinunterrichts. Zunächst einmal lernte man Wörter und Formen auswendig, und erst nach Jahren hielt man die Schüler für reif genug, um ihnen komplexere Sätze oder gar authentische Texte vorzulegen. 1 Erst in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann man in der Lateindidaktik unter dem Konkurrenzdruck der neuphilologischen Schulfächer umzudenken. Sprachreflexion rückte als Lernziel neben der Übersetzungskompetenz in den Vordergrund. Gerade für Sprachreflexion aber bietet die Syntax ein ideales Betätigungsfeld. Entsprechend ist es heute durchaus üblich, im Lateinunterricht mit zweisprachigen Textausgaben zu arbeiten, um die Schüler möglichst frühzeitig mit der komplexen Syntax (und natürlich auch den interessanteren Inhalten) authentischer Texte konfrontieren zu können. Verbrachte man früher häufig einmal eine ganze Schulstunde mit der Übersetzung eines einzigen Caesar- oder Cicero-Satzes, so lassen sich heute längere Texte im Unterricht bearbeiten. Dies räumt die Möglichkeit ein, auch textlinguistische Fragestellungen in die Syntaxbehandlung einfließen zu lassen, während man sich früher aus ganz pragmatischen Gründen - nämlich wegen der geringen Übersetzungsgeschwindigkeit - auf die Satzsyntax konzentriert hatte. Da in der Syntax die Unterschiede zwischen dem Klassischen und dem Vulgär- und Spätlatein weniger markant sind als in der Phonetik und Morphologie, ist dieses Kapitel nicht primär nach Sprachepochen bzw. -registern eingeteilt, sondern nach Syntaxkategorien. Die jeweiligen Besonderheiten des Vulgär- und Spätlateins werden erst innerhalb der einzelnen Unterkapitel thematisiert. Anzumerken ist noch, dass üblicherweise die Behandlung der Syntax mengenmäßig mindestens die Hälfte einer Latein-Grammatik ausmacht. In diesem Bereich musste also für das vorliegende Buch am meisten gerafft werden. 5.1 Der einfache Satz 5.1.1 Wortstellung Im Klassischen Latein gibt es relativ klare Tendenzen, das finite Verb an die letzte Position des Satzes zu setzen. Besonders betont ist außerdem die Anfangsposition des Satzes, deshalb steht hier zumeist das Subjekt. Die häufigste Reihenfolge der zentralen Elemente ist also Subjekt - Objekt - Prädikat. Dennoch muss man bei der Wortstellung grundsätzlich mit allem rechnen, denn bei besonderer Betonung 1 Zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, die größtenteils eine Geschichte des Lateinunterrichts darstellt, vgl. Germain 1993 und Hüllen 2005. <?page no="181"?> Der einfache Satz 181 anderer Elemente können auch diese an die Anfangs- oder Endposition rücken. Adjektive können vor oder nach ihren Bezugswörtern stehen, und selbst Konjunktionen und Relativpronomina stehen nicht unbedingt am Anfang des Nebensatzes. Es galt zudem als stilistisch elegant, zusammengehörige Elemente möglichst weit auseinander zu stellen. Für diese rhetorische Figur wurde der (griechische) Terminus „Hyperbaton“ geprägt (‚das Versetzte’): z.B. haec poena apud eos est gravissima - ‚diese Strafe ist bei ihnen die schwerste’. Gelegentlich können wir im Deutschen, so wie beim vorigen Beispiel, diese Wortstellung nachahmen. Zumeist aber zieht die Übersetzung vom Lateinischen in eine moderne Sprache mit fester Wortstellung eine Umstellung der Elemente nach sich - es kann nicht einfach linear herübersetzt 2 werden. Am extremsten wird die Freiheit der Wortstellung in der metrischen Dichtung ausgenutzt. Der Veranschaulichung dieser Freiheit soll im Folgenden die vielleicht berühmteste Passage lateinischer Dichtung dienen: der Anfang von Vergils Aeneis, die dieser dem Princeps Augustus zum Dank für die Beendigung der Bürgerkriege gewidmet hatte. Im Zentrum des Epos steht der trojanische Held Aeneas, der nach dem Untergang Trojas und einigen Irrfahrten von den Göttern nach Italien gelenkt wurde, wo seine Nachfahren schließlich die Stadt Rom gründeten (das Epos behandelt in gewisser Weise also auch den Urmythos der Romanistik). Der Text, der sich literarisch an die Ilias und Odyssee Homers anlehnt, wurde sehr schnell zum römischen Nationalepos - seine Wortstellung scheint also niemanden gestört zu haben. Der Textauszug (Buch I, Vers 1-7) wird mit einer Interlinearversion und einer freieren Übersetzung präsentiert. Hyperbata innerhalb einer Zeile sind durch Bögen von einem zum anderen zusammengehörigen Glied gekennzeichnet. Hyperbata, die Zeilen bzw. Verse überspringen, sind so unterstrichen, dass die wechselseitige Beziehung ihrer Glieder deutlich wird. Der Text folgt der sog. „Oxford-Ausgabe“ (ed. Mynors 1969), in der nach klassischem Vorbild grundsätzlich nicht zwischen <u> und <v> unterschieden wird - es steht durchweg <u>. In den ersten beiden Versen sind die metrischen Hebungen (vgl. Kap.7.1) als Akzente eingetragen: Árma uirúmque canó, Troiaé qui prímus ab óris Waffen den Mann-und besinge ich, Trojas der als erster von den Gestaden Ítaliám fató profugús Lauíniaque uénit nach Italien vom Schicksal verbannt Lavinischen-und 3 kam 2 Bei der Übersetzung (frz. „traduction“) werden üblicherweise zwei Richtungen unterschieden: Die Übersetzung aus der Fremdsprache in die Muttersprache wird als „Herübersetzung“ (frz. „version“) bezeichnet, die Übersetzung aus der Muttersprache in die Fremdsprache als „Hinübersetzung“ (frz. „thème“). 3 „Lavinium“ war der Name der ersten Siedlung, die Aeneas auf italischem Boden gründete. <?page no="182"?> Syntax 182 litora, multum ille et terris iactatus et alto an die Küsten, viel jener sowohl auf Erden herumgetrieben wie auch auf dem Meer vi superum, saeuae memorem Iunonis ob iram, durch die Gewalt der Götter, der grimmigen unversöhnlichen Iuno wegen des Zorns multa quoque et bello passus, dum conderet urbem vieles auch und im Kriege erlitten habend, bis er gründete die Stadt inferretque deos Latio; genus unde Latinum er brachte-und Götter nach Latium; das Geschlecht woher latinisch Albanique patres atque altae moenia Romae. albanische-und 4 die Väter und des hohen Mauern Roms. ‚Singen will ich von Kämpfen und von dem Mann, der zuerst von Trojas Gestade, vom Schicksal verbannt, zu Laviniums Küste, nach Italien kam; über Wasser und Lande verschlug ihn Göttergewalt, aus unversöhnlichem Grolle der grimmen Juno; der viel auch im Kriege erlitt, bis die Stadt er gegründet, Götter nach Latium brachte, woher das Latinergeschlecht ward, Albas Urväter auch und du, hochragende Roma’ (Übers. Plankl 1980) Stilistisch auffallend und durchaus repräsentativ für klassisch lateinische Dichtung ist, dass kaum einmal ein Substantiv ohne attributive oder andere Ergänzung verwendet wird: Die Küsten sind lavinisch, die Väter albanisch, Iuno ist grimmig, der Zorn unversöhnlich und Rom hoch. Dieser Wortfluss erinnert fast ein wenig an moderne Discounter-Prospekte, in denen keine Ware ohne Attribut oder Apposition angepriesen wird: „ultimatives Profi-Werkzeug, superschneller High-Tech-Computer, robuste Trecking-Sandale, gigantischer Arbeitsspeicher, ultraflaches Display, Multifunktionsmesser“ etc. Was die lateinischen Konstruktionen allerdings von diesen Werbeformeln unterscheidet, ist die Varianz in der Wortwahl - selbst sehr gute Lateiner, die Caesar und Cicero ganz ohne Hilfsmittel übersetzen, brauchen für Vergil ein Wörterbuch. Zudem werden die Möglichkeiten, die solche Doppelkonstruktionen für eine kunstvolle Wortstellung bieten, von den klassischen Dichtern in voller Breite genutzt. 5.1.2 Satzglieder/ syntaktische Funktionen Wegen der Freiheit der lateinischen Wortstellung ist es bei der Übersetzung unerlässlich, zunächst die Funktion jedes Elements zu bestimmen und so fest- 4 „Albanisch“ bezieht sich nicht etwa auf das heutige Albanien, sondern auf die Stadt Alba Longa, die Aeneas’ Sohn Ascanius in Latium gründete und wohin er den Hauptsitz seines Volkes verlegte. Erst etwa 300 Jahre später gründete der Sage nach Romulus die Stadt Rom. <?page no="183"?> Der einfache Satz 183 zustellen, an welche Position im deutschen Satz ein bestimmtes Element des lateinischen Satzes gehört. Aus diesem Grund hat man in der Geschichte des Lateinunterrichts schon frühzeitig damit begonnen, zusätzlich zu den Wortklassen (lat. partes orationis ‚Teile der Rede’ - entsprechend sp. partes de la oración, frz. les parties du discours) auch syntaktische Funktionen bzw. Satzglieder zu unterscheiden. Während die unterschiedlichen Wortklassen mitsamt ihren lateinischen Bezeichnungen sich in den meisten sprachwissenschaftlichen Schulen erhalten haben (vgl. Kap. 4.2), gibt es für die syntaktischen Funktionen je nach Syntaxtheorie inzwischen recht unterschiedliche Begrifflichkeiten. Im Folgenden wird zunächst die Terminologie der sog. „Schulgrammatik“ verwendet: Die wichtigsten syntaktischen Funktionen sind Prädikat (praedicatum ‚das Ausgesagte’ bzw. ‚Satzaussage’) und Subjekt (subiectum ‚das [der Satzaussage] Unterworfene’ bzw. ‚Satzgegenstand’ - erfragt wird es mit „wer oder was? “). Schon in der Terminologie wird also deutlich, dass nach dieser Vorstellung das Subjekt dem Prädikat unterworfen ist und nicht umgekehrt. Entsprechend gibt es vollständige Sätze ohne explizites Subjekt (z.B. pluit ‚es regnet’), aber keine ohne Prädikat. Das Prädikat kann von einem Vollverb gebildet werden (z.B. agricola laborat - ‚der Landmann arbeitet’) oder aber aus einem Nomen, dem sog. „Prädikatsnomen“ (fr. „attribut“! ) und einem Hilfsverb bestehen, das dieses Nomen mit dem Subjekt in Beziehung setzt (sog. „Kopulaverb“): z.B. agricola severus est ‚der Landmann ist ernst’. Das Subjekt kann ein Substantiv sein (also auch ein substantiviertes Adjektiv oder ein substantiviertes Verb, z.B. errare humanum est ‚Irren ist menschlich’), ein Pronomen (z.B. aliquis venit ‚jemand kommt’) oder auch ein Nebensatz (sog. „Subjektsatz“: z.B. quae nocent, docent ‚was schadet, lehrt’ entsprechend „aus Schaden wird man klug“). Das Subjekt muss aber, anders als im Französischen, nicht explizit ausgedrückt sein. Es kann sich auch in einer Personalendung „verstecken“, vgl. z.B. den berühmten Ausspruch Caesars „veni, vidi, vici“ ‚ich kam, sah, siegte’. Entscheidend für das Identifizieren von Prädikat und Subjekt ist die formale Übereinstimmung, die sog. Kongruenz, zwischen diesen beiden Satzteilen. Person und Numerus (z.B. 3. Pers. Sg. agricola laborat vs. Pl. agricolae laborant) müssen also grundsätzlich übereinstimmen. Bei Verbformen, die ein Partizip enthalten, wird auch darauf geachtet, dass dieses im Genus dem Subjekt angepasst ist (z.B. puellae laudatae sunt: ‚die Mädchen wurden gelobt’). Wenn das Subjekt aus Personen unterschiedlichen Geschlechts besteht, dann steht dieses Partizip oder ein entsprechendes Prädikatsnomen grundsätzlich im Maskulinum (z.B. pater et mater laudati sunt: ‚Mutter und Vater wurden gelobt’; pater et mater sani sunt: ‚Mutter und Vater sind gesund’). Hier liegt also eine der Wurzeln des von der feministischen Linguistik viel kritisierten abendländischen Genus- Gebrauchs. Für Romanisten ist in Sachen lateinischer Kongruenz eine weitere Eigenheit von Interesse: Wenn das Prädikat aus einer Kopula mit substantivischem Prädikatsnomen besteht, dann richtet sich ein pronominales Subjekt in Genus und Numerus nach diesem Prädikatsnomen, während im Deutschen in solchen Fällen das Pronomen im Neutrum steht: z.B. haec est mea filia: ‚das ist meine <?page no="184"?> Syntax 184 Tochter’. Das Romanische hingegen hat die lateinische Genuskongruenz bewahrt - eine typische Fehlerquelle bei der Übersetzung aus dem Deutschen in die romanischen Sprachen. So heißt es beispielsweise im Französischen celle-ci est ma fille (und nicht etwa *cela), im Spanischen esta es mi hija. Entsprechendes gilt für die Numeruskongruenz, die im Deutschen ebenfalls häufig vernachlässigt wird, vgl. hi sunt amici mei - it. questi sono i miei amici vs. dt. ‚das sind meine Freunde’. Jedes Substantiv kann von einem Adjektiv oder weiteren Substantiv näher bestimmt werden. Diese Funktion nennt man „Attribut“ (fr. „epithète“! ). Ein adjektivisches Attribut richtet sich in Kasus, Genus und Numerus immer nach seinem Beziehungswort (KNG-Kongruenz): z.B. pastor bonus ‚der gute Hirte’; filia ambitiosa ‚die ehrgeizige Tochter’. Ein substantivisches Attribut steht meistens im Genitiv (man spricht auch vom „Genitiv-Attribut“): domus agricolae ‚das Haus des Landmanns’; historia Romanorum ‚die Geschichte der Römer’. Beide Arten von Attributen haben sich in den romanischen Sprachen erhalten (vgl. fr. le bon pasteur, l’histoire des Romains). Steht ein substantivisches Attribut im gleichen Kasus wie sein Beziehungswort, was deutlich seltener vorkommt, spricht man von einer „Apposition“, z.B. Ovidius poeta mortuus est ‚der Dichter Ovid ist gestorben’. Wegen der Wortstellungsfreiheit ist es hier häufig schwierig zu unterscheiden, welches der beiden Substantive das Subjekt und welches die Apposition ist. Eine Besonderheit des Lateinischen ist die syntaktische Funktion des Prädikativums. Damit ist ein Substantiv oder Adjektiv gemeint, das ein anderes Substantiv näher bestimmt und mit diesem nach Möglichkeit in Kasus, Genus und Numerus übereinstimmt. Bis hierher also alles wie beim Attribut. Das Prädikativum aber bezieht sich gleichzeitig auf das Vollverb, ist also strenggenommen ein Prädikatsteil. Diese Beziehung besteht darin, dass die im Prädikativum enthaltene Aussage in erster Linie für den Moment der Verbalhandlung gilt, z.B. Caesar victor revertit ‚Caesar ist als Sieger zurückgekehrt’; Claudia felix revertit ‚Claudia ist glücklich zurückgekehrt’. Oft ist es also Interpretationssache, ob eine solche Ergänzung als Apposition bzw. Attribut (‚der Sieger Caesar’; ‚die glückliche Claudia’) oder als Prädikativum anzusehen ist. Prinzipiell gibt es Prädikativa auch in anderen Sprachen. Im Deutschen und in den romanischen Sprachen wird ein substantivisches Prädikativum allerdings meist als präpositionaler Ausdruck wiedergegeben (‚als Sieger’, vgl. fr. en tant que vainqueur, sp. como vencedor), weshalb es in der Grammatikbeschreibung üblicherweise als adverbiale Bestimmung klassifiziert wird. Ein adjektivisches Prädikativum ist nach der Übersetzung ins Deutsche nicht mehr von einem Adverb zu unterscheiden (glücklich kann ja sowohl Adjektiv als auch Adverb sein) - auch hier ist daher meist von einer adverbialen Bestimmung die Rede. Im Lateinischen und Romanischen hingegen wird hier strenger unterschieden: Wird das Adverb verwendet (Claudia feliciter revertit; Claudine est revenue heureusement), dann bezieht sich die Fröhlichkeit primär auf die Verbalhandlung, also die Art und Weise der Rückkehr - entsprechend handelt es sich um eine adverbiale Bestimmung. Dies wäre z.B. der Fall, wenn Claudia überraschend eine Mitfahrgelegenheit auf der Via Appia bekommen hätte oder wenn man gar nicht mehr <?page no="185"?> Der einfache Satz 185 damit gerechnet hatte, dass sie erfolgreich zurückkehrt und dies nun doch, zum Glück, geschehen ist. Steht hingegen das Adjektiv als Prädikativum, dann ist Claudia im Moment der Rückkehr glücklich (vgl. fr. Claudine est revenue heureuse). Die Art und Weise der Rückkehr ist aber davon nicht betroffen. Zum erweiterten einfachen Satz gehören zusätzlich die bereits genannte adverbiale Bestimmung und die Objekte, also Funktionen, die sich primär auf das Prädikat beziehen: Eine adverbiale Bestimmung ergänzt das Prädikat, indem es das Mittel, die Ursache, den Zweck, die Art und Weise, den Ort oder die Zeit der Verbalhandlung angibt. Sie beantwortet also die Fragen: „womit? wodurch? warum? wozu? wie? wann? wo? “ bzw. „wohin/ woher? “ Meist steht hierzu der reine Ablativ (z.B. nocte proficisci ‚bei Nacht aufbrechen’), ein präpositionaler Ausdruck (z.B. in horto ambulare ‚im Garten spazieren gehen’) oder ein Adverb (z.B. frequenter celebrare ‚häufig feiern’). Die Objekte werden nach ihren Kasus unterschieden. Das Akkusativobjekt gibt an, auf wen oder was sich die Verbalhandlung bezieht (dt. direktes Objekt, fr. complément d’objet direct), z.B. fratrem video ‚ich sehe den Bruder’. Das Dativobjekt (dt. indirektes Objekt, fr. complément d’objet indirect) beantwortet die Frage „wem? “ bzw. gibt an, zu wessen Gunsten oder Ungunsten etwas geschieht, z.B. amicae librum do ‚ich gebe der Freundin ein Buch’. Deutlich seltener gibt es auch ein Genitivobjekt - hier sind die Verwendungen aber zu speziell, als dass es sich lohnen würde, eine bestimmte Fragestellung in den Vordergrund zu rücken. Das Genitivobjekt steht beispielsweise, ähnlich wie im Deutschen (und ansatzweise in den romanischen Sprachen, wo allerdings kein Genitiv als Kasus mehr existiert), nach Verben des Erinnerns und Vergessens: reminiscor patris ‚ich gedenke des Vaters’ (vgl. fr. je me souviens de mon père, sp. me acuerdo de mi padre). Schließlich ist noch das Ablativobjekt zu erwähnen, das allerdings nur nach ganz bestimmten Deponentien steht (z.B. nach utī ‚benutzen’) und wie ein direktes Objekt übersetzt wird, z.B. gladio utor ‚ich benutze das Schwert’. Alle Objekte können wie die Subjekte von Substantiven, substantivierten Adjektiven und Infinitiven, Pronomina und Zahlwörtern gebildet werden. Auch satzwertige Konstruktionen oder Nebensätze können Objektfunktion haben, so z.B. indirekte Fragesätze: scio quid feceris ‚ich weiß, was du getan hast’. Zur Satzanalyse ist es in jedem Falle sinnvoll, sich ein einfaches Satzmodell einzuprägen, das dann auch als tertium comparationis (wörtlich: ‚das Dritte des Vergleichs’) beim Vergleich mehrerer Sprachen dienen kann, also als eine Art Vergleichsraster, mit dessen Hilfe sich die einander entsprechenden Elemente in verschiedenen Sprachen ermitteln lassen. Solche Modelle gehören inzwischen zum Standardinventar lateinischer Schulgrammatiken, während man es in neuphilologischen Grammatiken zumeist vergeblich sucht: 5 5 Zu weiteren Defiziten neuphilologischer Schulgrammatiken vgl. Müller-Lancé (2001b). <?page no="186"?> Syntax 186 Attribute Abb. 28: Vereinfachtes Satzmodell (entnommen aus dem Cursus grammaticus zum Lehrbuch Ostia Altera 1, S.5 = Siewert et al. 1995) Der entscheidende Vorteil des syntaktischen Ansatzes der lateinischen Schulgrammatik besteht darin, dass zwischen Form (Wortklassen) und Funktion (Satzglieder) unterschieden wird. Ein Substantiv kann also z.B. Subjekt, Objekt oder auch Teil einer adverbialen Bestimmung sein. Linguistischen Niederschlag hat diese schulgrammatische Trennung von Form und Funktion in der Dependenzgrammatik von Lucien Tesnière gefunden (1976, erstveröffentlicht 1959) 6 , die sich stark an der Syntaxbehandlung im deutschen Lateinunterricht orientierte, 7 wo man immer zunächst einmal das Prädikat suchte und formal analysierte und erst dann die übrigen Satzglieder identifizierte. Entsprechend hängen in der Syntaxtheorie Tesnières alle Elemente eines Satzes vom Prädikat ab (lat. dependēre ‚von etw. abhängen’) - oder anders formuliert: Alle Fäden laufen beim Verbalknoten (frz. nœud verbal) zusammen. Ganz analog zur lateinischen Schulgrammatik unterscheidet Tesnière drei Kategorien von Ergänzungen des Prädikats: Die erste Kategorie unterscheidet die unmittelbar an der Verbalhandlung beteiligten Instanzen, nämlich einen Erst- 6 Ein handlicher Überblick über Tesnières Ansatz findet sich in Gauger/ Oesterreicher/ Windisch (1981: 224ff), ausführlicher ist Weber (1992). 7 Zur Zeit ist es in Mode, Dinge zusammen zu stellen, auf die man als Deutscher stolz sein könne. Die Lateindidaktik deutscher Tradition gehört sicherlich dazu. Dies betrifft zum einen die von Schülern erreichte Übersetzungskompetenz: In Deutschland ist es erklärtes (und erreichtes) Lernziel, die Lerner zu selbständigem Übersetzen klassischer Texte zu bringen. In Frankreich hingegen sind häufig die ohnehin schon mit Hilfen versehenen Lehrbuchtexte zusätzlich noch auf Französisch abgedruckt (z.B. Deléani/ Verlander 2003, Gason et al. 1997), und noch im Lateinstudium übersetzen die Professoren vor, und die Studierenden schreiben mit - dies alles, obwohl die im Studium verwendeten lateinischen Textausgaben (Collection Budé) durchweg zweisprachig sind. Besonders die Wiedergabe lateinischer Metrik ist eine Fähigkeit, die man im Lateinunterricht romanischer Länder - und zwar einschließlich der Universitäten - längst aufgegeben hat und deren Erhalt in Deutschland man bewundert. Umgekehrt hat die Klassische Philologie in Deutschland sich weitgehend auf die Literaturwissenschaft konzentriert und weist in sprachwissenschaftlicher Hinsicht enorme Rückstände zu ihren Pendants im Ausland auf. Subjekt Prädikat Objekt adverbiale Bestimmung <?page no="187"?> Der einfache Satz 187 aktanten (Subjekt), einen Zweitaktanten (dir. Obj.), und einen Drittaktanten (indir. Obj.). Eine zweite Kategorie erfasst die Umstände der Verbalhandlung, die sog. „Zirkumstanten“ (adv. Best.). Die dritte, deutlich weniger wichtige, Kategorie beinhaltet Ergänzungen zu den Aktanten oder Zirkumstanten, die sog. „Indizes“ (z.B. Attribute, Artikel u.ä.). Die typische Darstellungsweise von Tesnière ist das sog. „Stemma“, das z.B. für den Satz hic liber mihi valde placet ‚dieses Buch gefällt mir sehr’ folgendermaßen aussähe: Abb. 29: Satz-Stemma nach Muster von Tesnière (eigene Darstellung) So wie sich Tesnière von Lateindidaktikern inspirieren ließ, hat man umgekehrt in der deutschen Lateindidaktik am ehesten Tesnières Anregungen aufgegriffen (z.B. Happ 1976) und Lehrbücher konzipiert, die sich bis heute an der Dependenzgrammatik orientieren. Auch das Modell in Abb. 28 ist eine solche Anwendung von Tesnière. Von diesen prädikatszentrierten Modellen unterscheiden sich Syntaxmodelle, die sich eher an den Wortklassen orientieren, wie man es von der Konstituenten- oder Phrasenstrukturgrammatik kennt, die in ihrer sog. IC-Analyse (immediate constituents) den Satz (S) an die Spitze der Hierarchie stellt und seine unmittelbaren Konstituenten schrittweise (meist in binärer Form) auflöst, bis man am Ende die Wortklassen oder den konkreten Satz einsetzen kann. Primäre Konstituenten sind dabei die Nominalphrase (NP) und die Verbalphrase (VP), die jeweils mindestens ein Nomen (N) oder Verb (V) enthalten. Weitere mögliche Konstituenten sind z.B. Determinanten (Det) oder Modifikatoren (Mod), gelegentlich findet man hier in der Terminologie auch die traditionellen Wortklassen wieder, also z.B. „Adjektiv“ oder „Adverb“. Das Grundprinzip der Phrasenstrukturgrammatik hat später die Generative Grammatik geprägt, die allerdings bisher wenig Anwendung in der lateinischen Linguistik oder Didaktik gefunden hat. 8 8 Eine gute Einführung in die Phrasenstruktur- und die generative Grammatik bietet Linke/ Nussbaumer/ Portmann (2004). Zur generativen Syntax speziell der romanischen Sprachen vgl. Müller/ Riemer (1998). Zentral für die Anwendung moderner Syntaxmodelle auf das Lateinische ist nach wie vor Pinkster (1988). placet liber mihi hic Verbalknoten: Aktanten/ Zirkumstanten: Indizes: valde <?page no="188"?> Syntax 188 Abb. 30: Satz-Stemma nach Vorbild der Phrasenstrukturgrammatik Als hilfreich für die Analyse lateinischer Syntax hat sich auch die sog. „Kasusgrammatik“ erwiesen, die auf Fillmore (1968) zurückgeht. Hier werden universale, d.h. für alle Sprachen geltende, Tiefenkasus oder Handlungsrollen wie AGENS (tätige Person), PATIENS (Person/ Sache, an der eine Handlung verrichtet wird), BENEFAKTIV (Nutznießer einer Handlung) und INSTRUMEN- TAL (Mittel) unterschieden. 9 Diese Tiefenkasus sind im Unterschied zu den traditionellen Oberflächenkasus (Nom., Gen., Akk. etc.) semantisch charakterisiert. Damit liefern sie eine komplementäre Ergänzung zur traditionellen Unterscheidung der syntaktischen Funktionen. So erfüllt z.B. der Oberflächenkasus Nominativ aus syntaktischer Sicht üblicherweise die Funktion Subjekt. Semantisch gesehen zeigt er aber nicht unbedingt das Agens an, wie man beispielsweise am Passiv sieht, wo ja die Verbalhandlung am Subjekt vollzogen wird, das Subjekt also Patiens ist: z.B. discipuli docentur a magistro ‚die Schüler werden vom Lehrer unterrichtet’. Das Agens wird in diesem Beispiel durch die adverbiale Bestimmung a magistro angegeben, also durch eine ablativische Präpositionalphrase. Auch der Dativ kann im Lateinischen gelegentlich das Agens angeben, so z.B., wenn ein Gerundivum mit esse konstruiert wird: hic liber tibi legendus est (wörtlich: ‚dieses Buch ist für dich ein zu lesendes’) ‚dieses Buch muss von dir gelesen werden’. Man spricht hier vom „Dativus auctoris“, also dem Dativ des Urhebers. 5.1.3 Verwendung der Kasus In diesem Abschnitt soll ein knapper Überblick darüber gegeben werden, wie die traditionellen Oberflächenkasus syntaktisch verwendet werden können und welche semantischen Varianten sich dabei ergeben. Auch die traditionelle 9 Diese Handlungsrollen leben als „Theta-Rollen“ (von „thematisch“) in der Generativen Grammatik weiter. Seit Fillmore hat sich die Terminologie ein wenig verändert: So war bei Fillmore z.B. das Agens noch Teil einer Kategorie „Agentiv“, das Patiens hieß „Objektiv“. S NP VP Det N VP Mod hic liber mihi valde placet N V <?page no="189"?> Der einfache Satz 189 Schulgrammatik hat nämlich bereits erkannt, dass ein morphologisch definierter Kasus semantisch ganz unterschiedliche Funktionen haben kann. Für detailliertere Informationen vgl. Throm (1995: 117ff) und Rubenbauer et al. (1995: 126ff). Nominativ: Der Nominativ dient ausschließlich als Subjektskasus (oder zur Kennzeichnung von Satzgliedern, die sich auf das Subjekt beziehen, wie Attribut oder Prädikatsnomen), und zwar sowohl im Aktiv (z.B. magister laudat ‚der Lehrer lobt’) wie auch im Passiv (z.B. discipulus laudatur ‚der Schüler wird gelobt’). Akkusativ: Der Akkusativ bezeichnet üblicherweise das direkte Objekt von transitiven Verben, also von Verben, die sich auch ins Passiv setzen lassen (z.B. magister laudat discipulos ‚der Lehrer lobt die Schüler’). Bei bestimmten Verben kann der Akkusativ auch als doppeltes Objekt stehen, so z.B. bei docēre ‚lehren’: magister me grammaticam docet ‚der Lehrer lehrt mich die Grammatik’. 10 Von den Tiefenkasus her hat hier grammaticam die Patiens-Rolle, me hingegen ist Benefaktiv. Hiervon zu unterscheiden ist der „doppelte Akkusativ“, in dem der Akkusativ einmal als Objekt (im folgenden Beispiel einfach unterstrichen) und einmal als Prädikatsnomen (doppelt unterstrichen) steht. Dieser doppelte Akkusativ steht nach Verben des Be- und Ernennens, des Einschätzens oder des Wählens, z.B. populus Ciceronem consulem creavit ‚das Volk wählte Cicero zum Consul’. Zum Akkusativ als direktes Objekt ist zu ergänzen, dass einige lateinische Verben mit Akkusativ stehen, wo die deutschen Entsprechungen einen Dativ verlangen. Hierzu gehören v.a. sequi aliquem (jdm. folgen) und (ad-)iuvare aliquem (‚jdm. helfen’). Die romanischen Fortsetzer dieser Verben behalten zumeist den Akkusativ bei, und zwar auch dann, wenn ihre Form auf eine vulgärlateinische Zwischenstufe (z.B. sequĕre) zurückgeht, vgl. z.B. fr. suivre qn. und aider qn., it. aiutare qualcuno, seguire qualcuno. 11 Die Syntax (die Verwendung von Kasus ist ja ein syntaktisches Phänomen) ist also konservativer als die Morphologie. Der Akkusativ kann aber auch als adverbiale Bestimmung stehen. Typischerweise gibt er dabei die Richtung bzw. das Ziel eines Bewegungsverbs an. Er steht zumeist mit Präposition (z.B. ad ‚nach’; in ‚in … hinein’; per ‚durch’; trans ‚über’), vgl. in silvam fugĕre ‚in den Wald fliehen’, bei Städtenamen und kleineren Inseln aber auch ohne Präposition, also als „reiner“ Akkusativ: z.B. Romam proficisci ‚nach Rom aufbrechen’. Mit der Präposition per kann der Akkusativ auch das Mittel oder die Art und Weise einer Handlung anzeigen, z.B. per pedes peregrinari (zu Fuß reisen - hier Akk. Pl. von pes, pedis, m. ‚Fuß’). Daneben kann der Akkusativ ohne Präposition auch eine Ausdehnung in Raum 10 In der modernen deutschen Umgangssprache haben wir die Tendenz, den personalen Akkusativ in dieser Konstruktion durch den Dativ zu ersetzen (mir statt mich). Korrekt ist aber nach wie vor der Akkusativ, wie man sich an geläufigen Kollokationen des Typs „ich lehre dich das Fürchten“ merken kann. 11 Dies gilt auch für das Spanische - nur merkt man dies nicht so offensichtlich, da der im Spanischen übliche persönliche Akkusativ mit a (seguir/ ayudar a alguién) sich formal nicht vom Dativ unterscheidet. <?page no="190"?> Syntax 190 und Zeit angeben, z.B. Graeci Troiam decem annos obsederunt ‚Die Griechen belagerten Troja zehn Jahre lang’. Dativ: Der Dativ steht als einziges Objekt bei vielen intransitiven Verben, z.B. invidēre alicui ‚jemanden beneiden’. Diese Verben mit Dativobjekt müssen eigens gelernt werden, da ihre deutschen Entsprechungen u.U. transitiv sind (z.B. medēri ‚heilen’, favēre ‚begünstigen’, persuadēre ‚überzeugen’, parcĕre ‚verschonen’). Es ist also ähnlich, wie wenn man sich z.B. einprägen muss, dass dt. jemanden anrufen im Französischen u.U. mit Dativ wiedergegeben wird: téléphoner à quelqu’un. Die semantische Rolle ist bei solchen Objektsdativen die eines Patiens - entsprechend wird bei der deutschen Übersetzung meist ein Akkusativ verwendet. Daneben steht der Dativ als indirektes Objekt (Frage: „wem? “) bei transitiven Verben (z.B. librum tibi do ‚ich gebe dir das Buch’), erfüllt hier also die Rolle des Benefaktivs und tritt u.U. zu einem Akkusativobjekt hinzu. Hiermit eng verwandt ist der sog. Dativus commodi/ incommodi (‚des Vorteils bzw. des Nachteils’), der angibt, zu wessen Nutzen die Verbalhandlung geschieht (vgl. den Seneca zugeschriebenen Ausspruch non scholae sed vitae discimus ‚nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir’ - hierzu auch S.246). Ob es sich hierbei syntaktisch um ein Objekt oder eine adverbiale Bestimmung handelt, ist strittig. Eindeutig als adverbiale Bestimmung fungiert der Dativus finalis (‚des Zwecks’), der auf die Frage „wozu? “ steht: z.B. auxilio venire ‚zu Hilfe kommen’. In Kombination mit dem Dativus commodi für die nutznießende Person tritt er auch als doppelter Dativ auf: z.B. cui bono est? ‚Wem gereicht das zum Vorteil? ’ Auch der schon angesprochene Dativus auctoris, der das Agens in der Konstruktion Gerundivum + esse anzeigt (z.B. hic liber tibi legendus est ‚dieses Buch musst du lesen’) gehört eindeutig zu den adverbialen Bestimmungen. Genitiv: Der Genitiv steht zumeist als Attribut, das den Besitzer einer Sache anzeigt (Genitivus possessivus), z.B. domus matris ‚das Haus der Mutter’. Wenn das Bezugswort ein Verbalsubstantiv im weiteren Sinne darstellt, dann drückt der attributivische Genitiv entweder das Subjekt (besser: Agens) dieser Handlung aus (Gen. subiectivus, z.B. amor patris ‚die Liebe des Vaters’) oder auch - und zwar ohne jeglichen formalen Unterschied - das Objekt (besser Patiens) (Gen. obiectivus, z.B. amor patris ‚die Liebe zum Vater’). Ebenfalls attributivisch ist der Gen. partitivus (‚Gen. des Anteils’), der die Gesamtmenge angibt, aus der das Beziehungswort eine Teilmenge herausgreift (z.B. multitudo hominum ‚eine Menge von Menschen’; tres milia passuum ‚3.000 Schritte’ bzw. ‚drei Meilen’). Dieser Genitiv ist die Grundlage der romanischen Tendenz, Mengenangaben über eine Präposition wie de oder di mit der fraglichen Materie zu verknüpfen; vgl. dt. ein Liter Wein gegenüber fr. un litre de vin, sp. un litro de vino, it. un litro di vino. Daneben kann der Genitiv als Objekt stehen, und zwar entweder nach Verben des Erinnerns und Vergessens (z.B. patris oblivisci ‚den Vater vergessen’; <?page no="191"?> Der einfache Satz 191 matris reminisci ‚sich an die Mutter erinnern’) oder nach Verben der Gerichtssprache zur Bezeichnung des Vergehens (Gen. criminis), z.B. fraudis accusare ‚des Betrugs anklagen’, oder aber nach einigen gefühlsbetonten unpersönlichen Verben zur Angabe der Ursache der Empfindung: z.B. me paenitet facti (wörtlich: ‚es reut mich der Tat’): ‚ich bereue die Tat’. Ablativ: Der Ablativ tritt zwar fast nur in adverbialen Bestimmungen auf, ist aber aus semantischer Sicht der vielseitigste lateinische Kasus. Diese Vielseitigkeit erklärt sich daher, dass im lateinischen Ablativ drei ur-indogermanische Kasus zusammengefallen sind. Die Kasus, die an diesem Synkretismus beteiligt waren, sind der Separativ (oder „Ablativ im engeren Sinne“; antwortet auf die Frage „woher? “ „wovon? “), der Instrumental (auf die Frage „womit? “, „wodurch? “) und der zeitlich und räumlich zu verstehende Lokativ (auf die Frage „wo? “, „wann? “). 12 Entsprechend werden die unterschiedlichen semantischen Funktionen nach diesen drei Gruppen sortiert: Der Ablativus separativus umfasst als Bedeutungsnuancen die Trennung von Gegenständen oder Abstracta (z.B. liber curis esse ‚frei von Sorgen sein’) wie auch die räumliche Trennung (z.B. urbe proficisci ‚aus der Stadt aufbrechen’). Zur räumlichen Trennung gehört auch die Verwendung des Ablativs mit den Präpositionen a/ ab (‚von … weg’), e/ ex (‚aus … heraus’) und de (‚von’ bzw. ‚von … herab’). Ebenfalls in den separativen Bereich gehört die Angabe des Ausgangspunkts bei Vergleichen, der sog. „Ablativus comparationis“: terra sole minor est ‚die Erde ist kleiner als die Sonne’ - der Ablativ steht hier gleichbedeutend mit der Konstruktion quam + Nominativ (terra minor est quam sol). Auch die Angabe des Ausgangspunkts der Herkunft (Ablativus originis) gehört noch zu den separativen Nuancen: Cicero equestri ordine natus erat ‚Cicero stammte aus dem Ritterstand’. Der Ablativus locativus steht als Ortsangabe zum einen nach den Präpositionen in (‚in, auf’; z.B. in monte ‚auf dem Berg’) und sub (‚unter’), zum anderen ohne Präposition bei Städtenamen und kleineren Inseln (z.B. Athenis ambulare ‚in Athen spazieren gehen’). Auch der Ablativus temporis zur Angabe eines Zeitpunktes wird zum Lokativ gerechnet: aves vere revertuntur ‚die Vögel kehren im Frühling zurück’. Der Ablativ als Vertreter des alten Instrumentals hat zwei Untergruppen: Die eine wird unter dem Ablativ der Gemeinschaft (Ablativus sociativus) zusammengefasst, die andere unter dem Ablativ des Mittels (Abl. instrumenti). Der häufigste Fall eines Ablativus sociativus ist der Abl. modi (Abl. der Art und Weise), der mit oder ohne die Präposition cum (‚mit’) stehen kann, je nachdem, ob zum Ablativ noch ein Attribut tritt: z.B. cum diligentia librum perfeci ‚ich habe das Buch mit Sorgfalt fertig gestellt’ oder maxima diligentia librum perfeci ‚ich habe das Buch mit größter Sorgfalt fertig gestellt’. Immer mit cum steht der Ablativus comitativus (Abl. der Begleitung): pater cum filio ambulat ‚der Vater 12 Zu den Details dieses Kasussynkretismus vgl. Meiser (1998: 128f) und Rubenbauer et al. (1995: 159ff). <?page no="192"?> Syntax 192 geht mit dem Sohn spazieren’. Auch der Ablativus qualitatis (Abl. der Eigenschaft) wird zum Sociativus gerechnet: mulier insigni prudentia (‚eine Frau von herausragender Klugheit’). Den Ablativus instrumenti gibt es zum einen im engeren Sinne, wo er das Mittel bzw. Werkzeug einer Handlung anzeigt, z.B. oculis videmus ‚wir sehen mit den Augen’. Auch der Ablativus causae zur Angabe eines Grundes (z.B. victoria laetari ‚sich über den Sieg freuen’) wird hierzu gerechnet. Der Ablativus mensurae (Abl. des Maßunterschiedes) gibt bei komparativischen Begriffen das Maß des Unterschiedes an („um wieviel? “): z.B. paulo post ‚wenig später’; multo melior ‚viel besser’. Der Ablativus limitationis oder respectūs (Abl. der Einschränkung) gibt an, in welcher Hinsicht eine Aussage gilt, z.B. maior natu sum quam frater meus (wörtlich: ‚ich bin größer in Bezug auf die Geburt als mein Bruder’) ‚ich bin älter als mein Bruder’. Schließlich steht der Abl. als Vertreter des Instrumentals auch bei Verben des Kaufens und Verkaufens zur Angabe des Preises (Abl. pretii): hunc librum parvo emi ‚dieses Buch habe ich für einen geringen [erg. Preis] gekauft’. Neben dem Gebrauch in adverbialen Bestimmungen tritt der Ablativ als Vertreter des Instrumentals auch gelegentlich als Objekt auf, und zwar nur nach den Deponentien uti ‚benutzen’ (z.B. stilo utor ‚ich benutze einen Griffel’), frui ‚genießen’, fungi ‚verwalten’, potiri ‚sich bemächtigen’, vesci ‚sich ernähren’, niti ‚sich stützen auf’ sowie beim unpersönlichen opus est ‚es ist nötig’ (z.B. mihi equo opus est ‚ich brauche ein Pferd’). Die lateinischen Kasus sind zwar als morphologische Kategorie fast komplett aus den romanischen Sprachen verschwunden, einige Spuren ihrer Verwendungsmodi finden sich aber doch: So stehen z.B. viele Verben des Erinnerns im Romanischen mit der Präposition de bzw. di, die funktional dem lateinischen Genitiv entspricht (z.B. fr. se souvenir de qc., sp. acordarse de algo, it. ricordarsi di qual cosa ‚sich erinnern an etwas’), und der Sonderstatus der Namen von Städten und kleineren Inseln hat bis ins Italienische durchgeschlagen: Hier stehen nämlich Ortsnamen und kleinere Inseln gewöhnlich ohne Artikel (z.B. Capri è famosa ‚Capri ist berühmt’), Länder, Regionen und größere Inseln hingegen mit Artikel (z.B. la Corsica appartiene alla rancia ‚Korsika gehört zu Frankreich’). 5.1.4 Verwendung von Tempora und Modi Da auch die Tempora und Modi in einfachen Sätzen meistens in Beziehung zu Tempora und Modi des Kontextes stehen, wird ihre Verwendung im Kapitel zu den komplexen Sätzen behandelt (5.2.5.1). 5.1.5 Der einfache Satz: Besonderheiten in Vulgär- und Spätlatein Es leuchtet sofort ein, dass die Wortstellung in der gesprochenen Sprache nicht so frei gewesen sein kann, wie dies im Klassischen Latein der Fall war. Durch Schnellsprechformen und den phonetischen Verfall der Wortendungen war es ja <?page no="193"?> Der einfache Satz 193 hier viel schwieriger, die zusammengehörigen Elemente zu identifizieren. Außerdem bietet eine Lautkette nicht annähernd die Möglichkeiten, im Text noch einmal zurückzugehen, wie dies bei einer geschriebenen Zeichenkette der Fall ist. Entsprechend verfestigte sich die Wortstellung im Vulgär- und Spätlatein, wobei das Prädikat häufiger vor das Objekt rückte. Die häufigste, aber noch keinesfalls obligatorische, Reihenfolge ist nun Subjekt - Prädikat - Objekt, also die Wortstellung, die auch für die romanischen Sprachen charakteristisch ist. Ebenfalls aus Gründen der kommunikativen Deutlichkeit werden Pronomina zunehmend häufiger gebraucht und ändern dabei teilweise ihre ursprünglichen Bedeutungsnuancen. So verlieren, wie wir bereits gesehen haben (Kap. 4.4.3), bestimmte Demonstrativpronomina ihren demonstrativen Charakter zugunsten einer determinativen Verwendung. Sie werden also ähnlich wie Artikel gebraucht. Gelegentlich treten auch Personalpronomina als Subjektpronomina ohne spezielle Betonungsabsicht auf. Auch in diesen Punkten nähern wir uns also den romanischen Sprachen an. So heißt es beispielsweise in einer wegen ihres Wortwitzes 13 berühmten Stelle der Vulgata-Version des Matthäus-Evangeliums: Et ego dico tibi, quia tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam (Mt 16,18: ‚und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen’). Ganz abgesehen vom Pronominalgebrauch lässt sich in diesem Beispiel auch eine konsequente Setzung des Prädikats zwischen Subjekt und Objekt beobachten. Die einzelnen obliquen Kasus werden zunehmend durch Präpositionalphrasen ersetzt: der Genitiv durch de + Abl. (z.B. hominis => de homine ‚des Menschen’), der Dativ durch ad + Akk. (z.B. homini => ad hominem ‚dem Menschen’) und der reine Ablativ durch ex/ ab/ de + Ablativ beim Separativ (z.B. liber curis => liber de curis ‚frei von Sorgen’), durch cum + Abl. beim Instrumental (z.B. stilo acuto scribere > cum stilo acuto scribere ‚mit einem spitzen Griffel schreiben’) und durch in + Abl. beim Lokativ (Mediolano => in Mediolano ‚in Mailand’). Der Präpositionalgebrauch entspricht also weitgehend dem der romanischen Sprachen (vgl. fr. de l’homme, à l’homme; sp. libre de cuidados, escribir con un estilo agudo; it. in Milano), vgl. Kap.4.4.1. Die allmähliche Auflösung des Kasussystems zeigt sich auch darin, dass die Regeln der Kongruenz weniger streng befolgt werden. So heißt es beispielsweise in einer Inschrift O. Valerio tribunus militum (‚für O. Valerius, den Militärtribun’; CIL III 6612), die Apposition tribunus wird also im Kasus nicht an den Dativ des Bezugsworts Valerio angepasst (klassisch hieße es tribuno militum). Mit der bereits genannten Matthäus-Stelle steht eine Passage des Marcus-Evangeliums in Beziehung (Mk 3,16), in der Jesus die Apostel einsetzt und dabei seinem wichtigsten Apostel den oben thematisierten Beinamen verleiht: inposuit Simoni nomen Petrus (‚er gab Simon den Beinamen „Petrus“‘). Hier hätte klassisch der Name „Petrus“ entweder als Apposition an das Akkusativ-Objekt nomen angepasst werden müssen, also Petrum, oder aber als Prädikatsnomen an das 13 Das Wortspiel als solches funktioniert im Griechischen wie im Lateinischen, denn griech. pétros bedeutet ebenso ‚Stein’ wie lat. petra. <?page no="194"?> Syntax 194 Dativ-Objekt Simoni, also Petro. Gelegentlich werden Fragepronomina nicht mehr streng angepasst, wie das Beispiel quid est veritas statt klassischem quae est veritas (‚Was ist Wahrheit? ’) zeigt. Verzichtet wird zunehmend auch auf die Anpassung des Partizips in Verbalperiphrasen, vgl. haec omnia probatum habemus (‚wir haben alles gebilligt’- statt klassisch probata). 14 Gerade mit diesem letzten Punkt nähern wir uns den hier erfassten romanischen Sprachen an; lediglich das Französische ist bei vorangestelltem Objekt präziser und achtet auf die Kongruenz von Objekt und Partizip (vgl. fr. nous les avons approuvés). Was die Verwendung infiniter Verbformen angeht, so geht zunächst das Partizip Futur Aktiv und später auch das Gerundivum unter. Das Partizip Perfekt Passiv hingegen erweitert sogar sein Verwendungsspektrum, weil es zur Bildung zusätzlicher Tempora herangezogen wird (vgl. Kap.4.6.3 und 4.6.4). Das Partizip Präsens fällt funktional weitgehend mit dem Gerundium zusammen und wird formal zunehmend von diesem verdrängt; vgl. im Itinerarium Egeriae (15,5): redirent mature ad candelas cum clericis et monachis dicendo psalmos vel antiphonas ‚sie kehrten in der Frühe zusammen mit Klerikern und Mönchen zu den Kerzen zurück und sangen dabei (wörtlich: sagend/ singend) Psalmen und Wechselgesänge’ (zit. nach Väänänen 1981: 140). Klassisch hätte das Partizip dicentes gestanden, in den romanischen Sprachen wird überwiegend die spätlateinische Tradition des Gerundiums fortgesetzt (an dieser Stelle stände im Span. bzw. Ital. z.B. cantando). 15 Bejahung und Verneinung nach Fragen: Im Klassischen Latein wurde Bejahung durch die positive Wiederholung der Frage zum Ausdruck gebracht (z.B. venis? - venio. ‚kommst du? - ich komme’) oder aber durch adverbiale Ausdrücke des Typs ita est oder sic est (‚so ist es’). Schon im alten Vulgärlatein, wie wir es beispielsweise in den Komödien von Plautus und Terenz ansatzweise überliefert finden, treten dagegen verkürzte Bejahungen auf, in denen das Adverb zur alleinigen Bejahungspartikel wird: ita oder sic für ‚ja’ (z.B. Terenz Phormio 813: illa maneat? - sic. ‚Soll diese bleiben? - Ja’). Letztere hat sich beispielsweise im Spanischen und Italienischen als Bejahungspartikel sí bzw. sì erhalten. Bei der Verneinung verläuft die Entwicklung analog: Klassisch wurde als Antwort die Frage mitsamt der Negationspartikel non wiederholt (non venio ‚ich komme nicht’), non bedeutet also lediglich ‚nicht’. Im Vulgärlatein reicht die Partikel non als verneinende Antwort aus: z.B. Terenz Eunuchus 713: vidistine fratrem Chaeream? - non. ‚Hast du den Bruder Chaerea gesehen? - Nein’ (Beispiele zit. nach Väänänen 1981: 151). non entspricht also auch ‚nein’ und hat sich entsprechend in den romanischen Sprachen erhalten. Verneinung im Satz: Im Klassischen Latein gab es zwei Negationspartikeln, ne und non, mit klar definiertem Aufgabenbereich (z.B. ne in konjunktivischen 14 Alle vier Beispiele nach Väänänen (1981: 149f). 15 Fr. chantant setzt zwar formal das lateinische PPA fort, funktional aber überwiegend das Gerundium. Lediglich als kongruierendes Verbaladjektiv schimmert die Verwandtschaft zum lateinischen Partizip durch (vgl. den international üblichen Terminus der Augenheilkunde „mouches volantes“ ‚herumfliegende Fliegen’ für das scheinbare Wahrnehmen sich bewegender Punkte bei geschlossenen Augen). <?page no="195"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 195 Wunschsätzen). Im Vulgär- und Spätlatein übernimmt non die Funktionen von ne, das untergeht. Erhalten hat sich hingegen die verneinende Konjunktion neque (vor Konsonant) bzw. ihre Verkürzung nec (vor Vokal) ‚und nicht’. Im Vulgär- und Spätlatein verdrängt die Kurzform nun die Langform und wird außerdem häufig als betonte Verneinung anstelle des unmarkierten non oder anderer negativer Ausdrücke eingesetzt. So sagt man beispielsweise nec unus (‚kein einziger’) anstelle von nullus (‚keiner’). Diese zweiteiligen Verneinungen scheinen sich vor allem im Vulgärlatein Galliens ausgebreitet zu haben, denn hier sind bis heute entsprechende zweiteilige Negationen üblich (vgl. fr. ne … pas, ne … point, ne … mie), die allesamt auf lateinische Vorläufer zurückgehen und jeweils zur Betonung der Verneinung ein als wertlos eingeschätztes Vergleichselement enthalten (nec passum ‚kein Schritt’; nec punctum ‚kein Punkt’; nec mica ‚kein Krümel’ 16 ). 5.2 Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 5.2.1 Satzwertige Konstruktionen Das Klassische Latein zeichnet sich durch eine große Vielfalt sog. „satzwertiger Konstruktionen“ aus. Darunter versteht man Konstruktionen, die syntaktisch zwar in einen übergeordneten Satz („Matrixsatz“) 17 integriert bzw. eingebettet werden, also ein Satzglied des Matrixsatzes darstellen, semantisch aber so selbständig sind, dass sie zumeist mit einem Nebensatz übersetzt werden. Sie verfügen immer über ein verbales Element, das unabhängig vom Prädikat des Matrixsatzes ist, und häufig auch über eine Art eigenes Subjekt. Von Nebensätzen unterscheiden sich die satzwertigen Konstruktionen dadurch, dass sie nicht durch ein nebensatzeinleitendes Element („Subjunktor“) wie z.B. eine Konjunktion oder ein Relativpronomen eingeleitet werden und dass ihr „Prädikat“ aus einer infiniten Verbform (z.B. Infinitiv, Partizip oder Gerundium) besteht. Der syntaktische Status der Unterordnung ist also durch reduzierte Finitheit des Prädikats markiert - ein ganz übliches Verfahren in den unterschiedlichsten Sprachen der Welt. 18 Der Reichtum an infiniten Formen im Lateinischen eröffnet für die Syntax eine Fülle von Möglichkeiten, Sachverhaltsdarstellungen in abhängiger, infiniter und doch satzwertiger Form in übergeordnete Sätze zu integrieren und auf diese Weise die Information zu verdichten. 19 Bei der Übersetzung aus dem Lateinischen in das Deutsche oder in die romanischen Sprachen müssen die entsprechenden Konstruktionen meist in Nebensätze aufgelöst werden. Die Sätze schwellen dadurch deutlich an, als würde man am Computer eine Zip-Datei entpacken. 16 Leicht zu merken über das spanische Tapas-Gericht migas (geröstete Weißbrotwürfel). 17 Die Bezeichnung „Matrixsatz“ ist der Bezeichnung „Hauptsatz“ gegenüber vorzuziehen, weil satzwertige Konstruktionen auch von Nebensätzen abhängen können. 18 Zu den Möglichkeiten der Finitheitsreduktion in verschiedenen Sprachen vgl. Raible (1992: 59ff und 78ff). 19 Vgl. zum Begriff „Integration“ die Junktionsdimension von Raible (1992). <?page no="196"?> Syntax 196 5.2.1.1 accusativus cum infinitivo (AcI) Der AcI (‚Akkusativ mit Infinitiv’) ist eine besonders auffällige satzwertige Konstruktion im Lateinischen. Er besteht, wie der Name schon sagt, aus einem nominalen Element im Akkusativ und einem Infinitiv. Innerhalb der satzwertigen Konstruktion hat der Akkusativ immer Subjektsfunktion. Damit unterscheidet er sich wesentlich von einem abhängigen Infinitiv mit Akkusativobjekt, wie wir ihn aus vielen Sprachen kennen: a) Inf.+Akk.Obj.: Paulus librum legere vult. ‚Paul will das Buch lesen.’ b) AcI: Paulus librum legi vult. ‚Paul will, dass das Buch gelesen wird.’ c) AcI: Paulus filiam legere vult. ‚Paul will, dass die Tochter liest’ In a) ist das Subjekt des Matrixsatzes (Paulus) identisch mit dem Subjekt des Infinitivs, in b) und c) hingegen hat der Infinitiv ein eigenes Subjekt (librum bzw. filiam). Man spricht hier auch von „Subjektswechsel.“ Der AcI kann innerhalb des Matrixsatzes die Subjekts- oder die Objektsfunktion erfüllen: Der AcI als Objekt steht vor allem nach Verben der geistigen und sinnlichen Wahrnehmung (verba sentiendi) 20 , nach Verben der Behauptung (verba dicendi), nach Verben des Glaubens und Meinens, des Affekts, sowie nach velle/ nolle/ malle (‚wollen/ nicht wollen/ lieber wollen’) und cupere (‚wünschen’), wenn der Infinitiv ein eigenes Subjekt hat (s.o.). Er beantwortet also z.B. die Frage „wen oder was nehme ich wahr? “. In manchen Fällen, besonders nach Verben der Wahrnehmung, verfügen wir über eine entsprechende Konstruktion im Deutschen oder in den romanischen Sprachen: video eum venire. ‚Ich sehe ihn kommen.’ vgl. fr. Je le vois venir; sp. lo veo venir; it. lo vedo venire Meist aber empfiehlt es sich, den AcI mit einem Objektsatz wiederzugeben, also einem mit „dass“ bzw. romanisch que/ che eingeleiteten Nebensatz. In diesem Nebensatz übernimmt dann der Akkusativ die Subjektsfunktion (sog. „Subjektsakkusativ“) und der Infinitiv die Prädikatsfunktion: ‚Ich höre, dass er kommt’; fr. J’entends qu’il vient. Nötig ist dies beispielsweise, wenn der AcI nicht von einem Wahrnehmungsverb abhängt: scio/ dico eum venire. ‚Ich weiß/ sage, dass der Freund kommt.’ Gelegentlich ist das Subjekt des AcI semantisch identisch mit dem Subjekt des Matrixsatzes. In diesen Fällen steht als Subjektsakkusativ ein Reflexivpronomen, der AcI hat also dennoch ein eigenes Subjekt. Prädikatsnomina, die sich auf den Subjektsakkusativ beziehen, stehen gleichfalls im Akkusativ (im Beispiel: innocentem): Paulus credit se innocentem esse. ‚Paul glaubt, dass er unschuldig ist.’ Der Infinitiv drückt in allen infinitivischen Konstruktionen ein Zeitverhältnis zum Prädikat des Matrixsatzes aus. Dabei gilt grundsätzlich die Regel: Infinitiv Präsens: Gleichzeitigkeit Infinitiv Perfekt: Vorzeitigkeit zum Prädikat des Matrixsatzes Infinitiv Futur: Nachzeitigkeit 20 Ein typischer Fall für die Verwendung des Gerundiums - wörtlich: ‚Verben des Fühlens’. <?page no="197"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 197 Ergänzend zum ersten Beispiel wären also noch zwei Varianten zu nennen: audio eum venisse. ‚Ich höre, dass er gekommen ist.’ audio eum venturum esse. ‚Ich höre, dass er kommen wird.’ Der AcI als Subjekt steht bei unpersönlichen Ausdrücken, wenn der Infinitiv ein eigenes Subjekt hat, z.B.: necesse est te verum dicere. ‚Es ist nötig, dass du die Wahrheit sagst.’ legem brevem esse oportet. ‚Ein Gesetz muss kurz sein.’ Der AcI steht hier also z.B. auf die Frage „Wer oder was ist nötig? “. Neben den oben verwendeten Ausdrücken necesse est und oportet existiert auch noch opus est in der Bedeutung ‚es ist nötig’. Häufiger gebraucht sind weiterhin apparet (‚es ist offenbar’), constat (‚es ist bekannt’) und praestat (‚es ist besser’). Infinitivkonstruktionen gibt es auch in den romanischen Sprachen. Üblicherweise aber stehen sie nur dann, wenn das Subjekt des Infinitivs mit dem Subjekt des Matrixsatzes übereinstimmt: fr. Je suis très content d’être venu dans cette maison. ‚Ich freue mich sehr, in dieses Haus gekommen zu sein.’ Bei Subjektswechsel, also dort, wo im Lateinischen der AcI steht, verwenden die romanischen Sprachen hingegen eher einen Nebensatz: fr. Je suis très content que nous soyons venus dans cette maison. ‚Ich freue mich sehr, dass wir in dieses Haus gekommen sind.’ Eine Sonderstellung nimmt das Portugiesische ein. Hier gibt es den sog. „persönlichen Infinitiv“, der bei Subjektswechsel immer an Stelle eines solchen Nebensatzes stehen kann (Beispiele nach Raible 1992: 89): port. Eu estou contentíssimo de virmos para esta casa. ‚Ich freue mich sehr, dass wir in dieses Haus gekommen sind. Diese Konstruktion ist also dem lateinischen AcI sehr ähnlich, entspricht ihm aber nicht gänzlich, da der portugiesische persönliche Infinitiv eine Endung anhängt, die die grammatische Person angibt (1.Sg.: vir ‚sehen’, 2. Sg. vir-es, 3. Sg. vir, 1.Pl. vir-mos, 2.Pl. vir-des, 3.Pl. vir-em). Die Form bleibt damit zwar infinit, da die Endung keine Angabe zu Tempus oder Modus enthält, ist aber doch finiter als der lateinische Infinitiv. Funktional entspricht die Endung in etwa einem akkusativischen Subjektspronomen im lat. AcI. 5.2.1.2 nominativus cum infinitivo (NcI) Der NcI steht immer dann an Stelle des AcI, wenn Verben, nach denen der AcI als Objekt steht, ins Passiv gesetzt und dabei persönlich (also nicht unpersönlich) gebraucht werden. Bei der Übersetzung ins Deutsche kann das Matrixverb jedoch persönlich oder unpersönlich übersetzt oder auch durch ein Adverb wiedergegeben werden. Das Subjekt des NcI ist anders als beim AcI identisch mit dem Subjekt des Matrixsatzes: rei videntur verum non dicere. ‚Die Angeklagten scheinen nicht die Wahrheit zu sagen.’ ‚Es scheint, dass die Angeklagten nicht die Wahrheit sagen.’ ‚Anscheinend sagen die Angeklagten nicht die Wahrheit.’ Da im Lateinischen das Subjekt auch in der Verbalendung enthalten sein kann, gibt es NcI-Konstruktionen, in denen überhaupt kein Nominativ auftaucht: videris verum non dicere. ‚Du scheinst nicht die Wahrheit zu sagen.’ <?page no="198"?> Syntax 198 Wenn die Verben, nach denen der NcI steht, im Deutschen als persönlich gebrauchte Verben übersetzt werden, muss man häufig das Lexem variieren, z.B. videri (wörtlich: ‚gesehen werden’): ‚scheinen’ (s.o.) dici (wörtlich: ‚gesagt werden’): ‚sollen’ putari/ existimari (wörtlich: ‚geglaubt werden’): ‚sollen’ Entsprechend wird der Satz dicor/ putor hoc fecisse im Deutschen unpersönlich als ‚Man sagt/ man glaubt, dass ich das getan habe.’ wiedergegeben, persönlich hingegen als ‚Ich soll das getan haben.’ Es geht hier also um modales, nicht um deontisches ‚sollen’ (das z.B. synonym zu ‚müssen’ wäre). In den romanischen Sprachen ist der NcI weitgehend von unpersönlichen Konstruktionen verdrängt worden, die an die Stelle des persönlich konstruierten videri, dici, putari etc. treten und einen Gliedsatz nach sich ziehen: Im Französischen dient hierzu v.a. das verallgemeinernde Pronomen on (on croit que ‚man glaubt, dass’; on dit que ‚man sagt, dass’). Im Spanischen und Italienischen verwendet man eher unpersönliche Reflexivkonstruktionen (it. si crede che; si dice che; sp. se cree que, se dice que). Ein besonderer Fall ist offensichtlich die romanische Entsprechung zu videri ‚gesehen werden/ scheinen’: Im Französischen wird hier nicht das verallgemeinernde Pronomen on gebraucht, sondern ein echter unpersönlicher Ausdruck: il semble que oder il paraît que (‚es scheint, dass’), und im Spanischen und Französischen verzichtet man auf das Reflexivpronomen: vgl. sp. parece que, it. pare che; sembra che. Diese Verben des Scheinens können aber auch in den romanischen Sprachen persönlich konstruiert werden und einen Infinitiv nach sich ziehen, dessen „Subjekt“ mit dem Subjekt des übergeordneten Verbs identisch ist. In diesen Fällen liegt - wenn man einmal davon absieht, dass es keine morphologische Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ mehr gibt - ein echter NcI vor: fr. tu sembles/ parais avoir fait cela sp. pareces haber hecho eso ‚Du scheinst das getan zu haben.’ it. sembri/ pari aver fatto questo 5.2.1.3 participium coniunctum (PC) Das Lateinische verzeichnet im Wesentlichen zwei Möglichkeiten der Verwendung von Partizipien: das Participium Coniunctum (‚verbundenes Partizip’) und den Ablativus Absolutus. Das PC bezieht sich auf ein Satzglied des Matrixsatzes und kann selbst durch ein Objekt oder eine adverbiale Bestimmung erweitert sein. Je nach Grad der Erweiterung empfiehlt es sich, das PC im Deutschen zum Nebensatz aufzulösen. Bezieht sich das PC auf das Subjekt des Matrixsatzes, dann besteht Subjektsgleichheit zwischen Matrixsatz und PC (unterstrichen): Caesar milites suos cohortatus proelium commisit. ‚Caesar begann den Kampf, nachdem er seine Soldaten ermutigt hatte.’ (Im Beispiel ist zu beachten, dass das Partizip Perfekt cohortatus aktivische Bedeutung hat, da es auf das Deponens cohortari ‚ermutigen, ermahnen’ zurück geht.) <?page no="199"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 199 Bezieht sich das PC auf ein anderes Satzglied des Matrixsatzes, dann besteht zwangsläufig Subjektsverschiedenheit zwischen Matrixsatz und PC: Caesar proelium a Gallis provisum commisit. ‚Caesar begann den Kampf, der von den Galliern vorhergesehen worden war.’ Beide Arten von Participia Coniuncta haben sich als Konstruktion in den romanischen Sprachen erhalten, sowohl mit Subjektsgleichheit (üblicher ist hier allerdings eine präpositionale Infinitivkonstruktion des Typs après avoir encouragé; después de haber arengado; dopo avere incoraggiato …): vgl. fr. Ayant encouragé ses soldats, César commença la bataille. sp. Habiendo arengado a sus soldados, Cesar empezó la batalla. it. Avendo incoraggiato i suoi soldati, Cesare iniziò la battaglia. als auch mit Subjektsverschiedenheit: fr. César commença la bataille prévue par les Gaulois. sp. Cesar empezó la batalla prevista por los Galos. it. Cesare iniziò la battaglia prevista dai Galli. Im Deutschen kann das PC durch einen Nebensatz (Konjunktionalsatz oder Relativsatz - vgl. die Übersetzung unter den obigen Beispielen), einen beigeordneten Hauptsatz (z.B. ‚Caesar ermutigte seine Soldaten und begann den Kampf’) oder einen präpositionalen Ausdruck (z.B. ‚Nach Ermutigung seiner Soldaten begann Caesar den Kampf’) wiedergegeben werden. Je nach Vorhandensein entsprechender Partizipialformen kann das PC auch im Deutschen nachgeahmt werden: z.B. ‚Caesar begann den von den Galliern vorhergesehenen Kampf.’ Für die Übersetzung als Konjunktionalsatz oder präpositionaler Ausdruck muss zunächst entschieden werden, in welcher semantischen Relation das PC zum Matrixsatz steht: temporal - wie im ersten Beispiel -, kausal, konditional, konzessiv oder modal. Bei dieser Entscheidung ist häufig der Kontext heranzuziehen: kausal: consul senatum timens concessit. ‚Aus Furcht vor dem Senat gab der Konsul nach./ Weil er den Senat fürchtete …’ modal: senesco multa addiscens. ‚Ich altere, wobei ich vieles dazu lerne.’ konditional: Naturam ducem sequentes numquam aberrabimus. ‚Wenn wir der Natur als Führerin folgen, werden wir niemals in die Irre gehen.’ [sequi ‚folgen’ steht wie frz. suivre mit Akk. - im Dt. dagegen mit Dativ] konzessiv: collega invitatus non venit. ‚Der Kollege kam nicht, obwohl er eingeladen worden war.’ Genau wie die Infinitive drücken auch die Partizipien kein selbständiges Tempus aus, sondern lediglich ein Zeitverhältnis zum Tempus des Matrixprädikats. Dabei gelten folgende Zeitverhältnisse: Partizip Präsens: Gleichzeitigkeit Partizip Perfekt: Vorzeitigkeit zum Prädikat des Matrixsatzes Partizip Futur: Nachzeitigkeit Beispiele zur Gleich- und Vorzeitigkeit sind oben ausreichend aufgeführt. Die nachzeitige Verwendung zeigt folgendes Beispiel: <?page no="200"?> Syntax 200 gladiatores in arena morituri Caesarem salutaverunt. ‚Die Gladiatoren, die in der Arena sterben sollten, begrüßten den Kaiser./ Vor ihrem Tod in der Arena begrüßten die Gladiatoren den Kaiser.’ 5.2.1.4 ablativus absolutus (Abl.Abs.) Als „Ablativus Absolutus“ (‚losgelöster Ablativ’) bezeichnet man eine in den Matrixsatz eingebettete satzwertige Konstruktion, die mindestens aus zwei Elementen besteht: einem nominalen Element im Ablativ, das im Abl.Abs. die Subjektsfunktion inne hat, und einem weiteren ebenfalls ablativischen Element, das die Prädikatsfunktion übernimmt. Dieses Prädikatselement ist zumeist ein Partizip, gelegentlich aber auch ein Substantiv oder Adjektiv mit stark verbalem Charakter, nie jedoch ein finites Verb. Im Unterschied zum Participium Coniunctum besteht beim Abl.Abs. grundsätzlich Subjektsverschiedenheit zwischen Matrixsatz und satzwertiger Konstruktion (zur Def. vgl. Müller-Lancé 1994: 22f). Das Partizip im Abl.Abs. bezieht sich also nicht auf ein Satzglied des Matrixsatzes sondern lediglich auf das „Subjekt“ der eingebetteten Konstruktion. Aus diesem Grund nennt man die Konstruktion „absolut“, also ‚losgelöst’ vom Matrixsatz. Die Konstruktion als Ganze (unterstrichen) fungiert aber durchaus als Satzglied des Matrixsatzes, und zwar als adverbiale Bestimmung: Carthagine deleta Romani mare mediterraneum dominabant. ‚Nachdem Karthago zerstört worden war, beherrschten die Römer das Mittelmeer.’ ‚Nach der Zerstörung Karthagos beherrschten die Römer das Mittelmeer.’ Was die semantischen Relationen und die Zeitverhältnisse bei der Übersetzung angeht, so gelten grundsätzlich dieselben Möglichkeiten wie beim Participium Coniunctum: nullo resistente hostes urbem ceperunt. ‚Die Feinde nahmen die Stadt ein, ohne dass jemand Widerstand leistete.’ (modal) ‚Weil niemand Widerstand leistete, nahmen die Feinde die Stadt ein.’ (kausal) Nominale Prädikate gelten grundsätzlich als gleichzeitig: me invito bellum declaraverunt. <= invitus, 3 ‚unwillig, ungern’ ‚Gegen meinen Willen haben sie den Krieg erklärt.’ Caesare duce ad Galliam perveniunt. <= dux, ducis, m ‚Führer’ ‚Unter Caesars Führung erreichen sie Gallien.’ Gerade bei absoluten Konstruktionen wird deutlich, dass Satzwertigkeit kein Plus-/ Minus-Kriterium ist, sondern vielmehr eine skalare Größe darstellt: Das eine Extrem bilden Minimalkonstruktionen wie aperto capite (Plautus Captivi V,75: ‚mit unbedecktem Haupt’), die leicht durch ein Adverb ersetzt werden können, das andere Extrem bilden hochkomplexe Konstruktionen, von denen sogar Nebensätze abhängen können, z.B. delegato triumviris ministerio, ut monumenta […] urerentur (Tacitus Historiae 2,86,3: ‚nachdem die Triumvirn beauftragt worden waren, die Denkmäler verbrennen zu lassen’). Dazwischen gibt es die unterschiedlichsten Ausprägungen von Satzwertigkeit (Müller-Lancé 1994: 75f). Absolute Konstruktionen gibt es auch in den romanischen Sprachen, wobei sie natürlich nicht durch einen bestimmten Kasus markiert sind, sondern allein durch das Faktum eines vom Matrixsatz unabhängigen Subjekts- und Prädikats- <?page no="201"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 201 glieds. Man findet sie in den unterschiedlichsten Arten von Texten, z.B. in Texten wissenschaftlicher Art: it. Non sarà inopportuno, data l’autorità dello scrittore, esaminare la nuova trattazione con qualche larghezza e con la dovuta cura. ‚Es wird von Vorteil sein, angesichts der fachlichen Autorität des Verfassers, die neue Abhandlung recht ausführlich und mit der nötigen Sorgfalt zu untersuchen.’ 21 literarischer Art: sp. fue de mal en peor hasta que un día, teniendo la muchacha catorce años, 22 arrambló con lo poco de valor que en nuestra choza había, y se marchó a Trujillo, a casa de la Elvira. ‚es wurde immer schlimmer, bis sie eines Tages, als das Mädchen vierzehn Jahre alt war, die wenigen Wertsachen in unserer Hütte an sich riss und nach Trujillo, zum Haus von Elvira ging’ (Cela: La familia de Pascal Duarte ; ed. Destino S.42). aber auch in der gesprochenen Sprache: fr. „Autrement les ONCE, c’est vrai qu’ils jouent aussi de maillot vert pour Jalabert, donc euh - Museuw étant distancé derrière euh ils avaient tout intérêt à rouler aussi pour que Jalabert reprenne le maillot.“ ‚Was die Fahrer des ONCE-Rennstalls angeht, so stimmt es natürlich, dass sie auch um das grüne Trikot für Jalabert fahren; folglich war es, da Museuw ja zurückgefallen war, ganz in ihrem Interesse, Tempo zu machen, schon auch, damit Jalabert das Trikot wieder übernimmt.’ 23 Auch in Sachen formaler Vielfalt und Satzwertigkeit absoluter Konstruktionen bieten die romanischen Sprachen ein breites Spektrum von Möglichkeiten, das von knappen nominalen Ausdrücken wie fr. Les forces spéciales antiterroristes étaient partout, l'arme prête ‚Die Anti-Terror- Spezialeinheiten waren überall, die Waffe schußbereit’ (Le Monde, 22.4.1992, S. 22) bis hin zu äußerst komplexen partizipialen bzw. gerundialen Konstruktionen reicht (alle Beispiele nach Müller-Lancé 1994: 60f, 76, 338): fr. Les hommes vivant en moyenne moins longtemps que les femmes (huit ans de différence), ces situations sont très nombreuses. ‚Da Männer im Durchschnitt weniger lang leben als Frauen (acht Jahre Unterschied), sind diese Situationen sehr häufig’ (Le Monde, 22.4.1992, S. 16). Daneben gibt es in den romanischen Sprachen zahlreiche Präpositionen und Konjunktionen, die auf ehemalige absolute Konstruktionen zurückgehen. Ihre Entstehung erklärt sich dadurch, dass besonders häufig vorangestellte partizipiale Prädikatsglieder erstarrten, also nicht mehr an ihr Bezugswort angepasst wurden, und entsprechend als Präposition aufgefasst werden konnten (vgl. la vitesse vue > vue la vitesse > vu la vitesse). Solche Präpositionen sind z.B. fr. vu, sp. visto ‚angesichts’; fr. nonobstant, it. nonostante, sp. nonobstante ‚trotz’; fr. durant, 21 Jacopini, Emma: Sulla dottrina grammaticale dell'ablativo assoluto. In: Atti della Accademia delle Scienze di Torino 53 (1917/ 1918), 185-189. Das Zitat befindet sich auf S.185. 22 Die vorliegende absolute Konstruktion ist besonders interessant: Hier ist nämlich, wie bei vielen Participia Coniuncta, das Agens des übergeordneten Satzes, das Mädchen Rosario, inhaltlich identisch mit dem Agens der absoluten Konstruktion, la muchacha. Dadurch, dass das Agens in der satzwertigen Konstruktion aber nochmals eigens genannt wird, ist die Konstruktion aus syntaktischer Sicht absolut. 23 Pascal Lino, der damalige Träger des gelben Trikots, in einem Life-Interview im ‚Vélo Club’ (Antenne 2) am 15.7.92 unmittelbar nach der Tour de France-Etappe von Strasbourg nach Mulhouse, auf der er unverhoffte Unterstützung von den ONCE-Fahrern erhielt, die für ihren Kapitän Jalabert und damit zugleich auch für Lino Tempo machten. <?page no="202"?> Syntax 202 it./ sp. durante ‚während’ und fr. moyennant, it./ sp. mediante ‚durch/ mittels’. Es liegt also eine Folge von Lexikalisierung und Grammatikalisierung vor. In Kombination mit der Universalkonjunktion que können aus diesen Präpositionen neue Konjunktionen entstehen, z.B. fr. vu que, sp. visto que ‚angesichts der Tatsache, dass’. Auf einen adjektivischen Ablativus Absolutus gehen die Präpositionen fr. sauf, sp./ it. salvo ‚außer’ zurück: vgl. lat. re salva ‚wobei die Sache unberührt blieb’. Einige präpositionale Fügungen sind sogar komplett erstarrte absolute Konstruktionen: z.B. fr. compte tenu de/ eu égard à ‚wenn man in Betracht zieht’; fr. exception faite de, sp. excepción hecha de, it. eccezione fatta per ‚wenn man ausnimmt’ (Müller-Lancé 1994: 93f). Im Übrigen sind absolute Konstruktionen nicht auf das Lateinische und seine Nachkommen beschränkt. Grundsätzlich können sie in allen Sprachen vorkommen, in denen es auch Participia Coniuncta gibt. So finden wir beispielsweise einen Genitivus Absolutus im Altgriechischen und im Deutschen: Erhobenen Hauptes verließen sie das Spielfeld. Unverrichteter Dinge kehrten sie heim. Noch häufiger aber ist im Deutschen der absolute Akkusativ: Er lag da, die Augen verdreht. Ihr spinnt alle, keinen ausgenommen. Arm in Arm gingen sie nach Hause. 5.2.2 Grundsätzliches zu Koordination und Subordination In der Schulgrammatik werden zwei Verfahren der Satzverknüpfung unterschieden: Koordination (‚Beiordnung’, griech. „Parataxe“) und Subordination (‚Unterordnung’, griech. „Hypotaxe“). Bei der Koordination stehen beide Propositionen 24 auf der gleichen Hierarchiestufe, man spricht auch von „Satzreihen“, bei der Subordination wird eine Proposition hierarchisch der anderen untergeordnet, man spricht hier von „Satzgefügen“. Beide Verfahren existieren in syndetischer (mit Konjunktion) oder asyndetischer Form (ohne Konjunktion). Es ergibt sich also folgendes Vierfelderschema: Koordination Subordination asyndetisch veni, vidi, vici. ‚Ich kam, sah, siegte’ oro vincas. ‚Ich bitte dich zu siegen.’ syndetisch veni et vici. ‚Ich kam und siegte’ postquam venisti, vicisti. ‚Nachdem du gekommen warst, hast du gesiegt.’ 25 Dieses Schema von Oppositionen ist sehr übersichtlich und bietet die Möglichkeit, auch satzwertige Konstruktionen zu erfassen: So fiele ein AcI wie te vicisse 24 Der Begriff „Proposition“ lässt offen, ob es sich bei einem Satz um einen Hauptsatz oder einen Nebensatz handelt. 25 Nach postquam in der Bedeutung ‚nachdem’ steht im Klassischen Latein stets der Indikativ Perfekt, und zwar auch dann, wenn Vorzeitigkeit zu einem Perfekt im übergeordneten Satz ausgedrückt werden soll. Im Deutschen ist also das Plusquamperfekt zu setzen. <?page no="203"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 203 video (‚ich sehe, dass du gesiegt hast’) in die Kategorie der asyndetischen Subordination. Dennoch reicht das Vierfelderschema nicht aus, um die Feinheiten der Satzverknüpfung zu erfassen. So ist beispielsweise ein Participium Coniunctum, das sein Subjekt mit dem des Matrixsatzes teilt, sicher in stärkerem Maße vom Matrixsatz abhängig als ein Ablativus Absolutus, also deutlicher subordiniert. Bei den Koordinationen wiederum kann man sich fragen, ob nicht eine konjunktionslose Reihe, in der der Zusammenhang der Glieder durch Adverbien markiert ist, doch schon so etwas wie eine syndetische Koordination darstellt: primum veni, deinde vidi, tum vici ‚erst kam ich, dann sah ich, schließlich siegte ich’. Des weiteren kennt man z.B. aus dem gesprochenen Französisch Konstruktionen wie „Tu sais qu’est-ce qui s’est passé? “ (‚weißt du, was passiert ist? ’), in der ein Verb des Wissens, das eigentlich als Objekt einen indirekten, also subordinierten Fragesatz verlangt hätte („ce qui s’est passé“), mit einem direkten, also selbständigen und koordinierten Fragesatz verknüpft wird (qu’est-ce qui s’est passé? ) - von entsprechenden vulgärlateinischen Konstruktionen wird noch die Rede sein. Es gibt also offensichtlich syntaktische Gebilde, die sich zwischen Koordination und Subordination bewegen. Auf diese Problematik ist die Linguistik schon länger aufmerksam geworden (vgl. Calboli 1994). So hat beispielsweise Luigi Sorrento (1950) den Begriff „Parahypotaxe“ geprägt, und Foley/ van Valin (1984) stellten den Begriff „Kosubordination“ daneben. 26 Christian Lehmann (1988: 189 und 1989: 157) hat zur Lösung des Problems im Lateinischen eine Skala des „hierarchical downgrading vorgeschlagen“, die von der Parataxe zum Nebensatz mit Aktantenstatus reicht. 27 Sehr hilfreich zur Lösung des Problems ist auch der Ansatz von Raible (1992), die verschiedenen Verfahren der Satzverknüpfung in einem Kontinuum darzustellen, das er die Dimension „Junktion“ nennt. Diese Dimension erstreckt sich zwischen dem Pol der Aggregation (unverbundenes Nebeneinander zweier Sachverhaltsdarstellungen) und dem Pol der Integration (Einbettung einer Sachverhaltsdarstellung als nominales Satzglied in einer anderen Sachverhaltsdarstellung). So ist beispielsweise eine Juxtaposition (‚Nebeineinanderstellung’) zweier Sätze wie Ariovistus venit. Caesar vicit. (‚Ariovist kam. Caesar siegte.’) aggregativer als das berühmte veni, vidi, vici-Beispiel. In letzterem wird der Zusammenhang der drei Sachverhaltsdarstellungen nämlich nicht nur durch lautliche Regelmäßigkeiten wie die Alliteration (v-v-v) und den Endreim (i-i-i) deutlich, sondern auch durch ein syntaktisches Phänomen, das Raible „Aktantenkoaleszenz“ nennt. Alle drei Sachverhaltsdarstellungen sind ja durch einen identischen Erstaktanten, nämlich den Selbstdarsteller Caesar in der 1. Person Singular, quasi zusammen gewachsen (= „Koaleszenz“). Aus diesem Grunde werden die drei Verben auch meist durch Kommata und nicht durch Punkte abgetrennt. 26 Vgl. hierzu ausführlich Raible (1992: 104, 181ff) und Kiesler (2006: 71). 27 Eine Zusammenfassung der Lehmann-Skala mit Anwendung auf absolute Konstruktionen findet sich in Müller-Lancé (1994: 80ff). <?page no="204"?> Syntax 204 Syntaktisch ist dies aber ohne Belang, da die Interpunktion ein rein graphisches Phänomen darstellt und ohnehin erst nachträglich eingefügt wurde. Explizite Verknüpfungen von Haupt- oder Nebensätzen durch Konjunktionen stehen etwa in der Mitte der Junktionsskala, infinite Konstruktionen zwischen diesen und dem Integrationspol. Die maximale Integration ist erreicht, wenn eine Sachverhaltsdarstellung als Aktant, z.B. in Form eines Verbalsubstantivs, in einer anderen Sachverhaltsdarstellung auftritt. Dies gilt z.B. für das Objekt im Satz victoriam tuam vidi. ‚Ich habe deinen Sieg gesehen’, das ja dem Sachverhalt ‚du hast gesiegt’ entspricht. Die aggregativste Version einer Verknüpfung - oder vielmehr Nicht-Verknüpfung - dieser beiden Sachverhalte wäre vidi. vicisti. (‚Ich habe gesehen. Du hast gesiegt.’). Innerhalb der Segmente auf der Junktionsskala lässt sich beliebig fein ausdifferenzieren: So verbindet beispielsweise die Konjunktion atque bzw. angehängtes -que (jeweils ‚und’) nur zusammengehörige Begriffe oder inhaltlich eng zusammenhängende Propositionen (vgl. unten im Caesar-Text die mit atque und minimeque eingeleiteten Gliedsätze. Eine Verbindung mit et hingegen koordiniert auch ganz unterschiedliche Propositionen, z.B. solche mit verschiedenen Subjekten. A priori ist also eine et-Verbindung weniger integrativ als eine atque-Verbindung. Da aber sowohl die mir bekannten Schulgrammatiken als auch die wissenschaftlichen Referenzgrammatiken in ihren Syntaxdarstellungen ausschließlich die traditionelle Typologie von Koordination und Subordination anwenden, soll hiervon im folgenden kurzen Überblick nicht abgewichen werden. Die Einheitlichkeit der Terminologie hat ja auch ihre Vorteile. Die Vorliebe des Klassischen Lateins für komplexe Perioden, also Satzgebilde mit zahlreichen unterschiedlichen Hierarchieebenen, ist legendär. Dass es bei deren Übersetzung aber in vielen Publikationen zu einer „geschraubten“ Sprache kommt, muss nicht sein und hat ganz pragmatische Gründe: Wichtigstes Lernziel des Lateinunterrichts bis in die 1960er Jahre bzw. des Lateinstudiums bis heute war die Fähigkeit zur Erstellung eines ciceronianischen lateinischen Texts. Man übersetzte also aus dem Deutschen in das Lateinische. Um die Korrektheit des Ergebnisses überprüfen zu können, war die deutsche Textvorlage immer schon eine textnahe Übersetzung eines lateinischen Originals, so dass die als „Stilübungen“ bezeichneten Übersetzungen ins Lateinische faktisch Rückübersetzungen darstellten. Das entsprechend künstliche Deutsch der „Vorlagen“ hat mit seiner lateinisch induzierten Syntax lange Zeit den Lateinunterricht geprägt und kuriose Blüten wie den folgenden Satz getrieben: „Die Alten betrachteten den Staat nicht als einen Strom, aus dem möglichst viel Wasser zu schöpfen sich jeder zum Verdienst anrechnete, sondern vielmehr als einen Bach, in den jeder sein eigenes Wasser hineinzuleiten bestrebt war“ (zitiert nach Snell 1962: 4). Man merkt es kaum, aber es geht um denselben Gedanken, den John F. Kennedy in pointierterer Form als „Ask not what your country can do for you; ask what you can do for your country.” bekannt gemacht hat und der neuerdings auch in der „Du bist Deutschland“-Kampagne bemüht wurde. Ein besonders beliebter Text zur Veranschaulichung syntaktischer Komplexität sind die Kriegsberichte Caesars aus Gallien, die Commentarii Belli Gallici. Wann <?page no="205"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 205 immer es darum geht, den klassischsten lateinischen Text zu küren, ist dieses Buch - oder genauer: diese 8 Bücher 28 - unter den Favoriten. Hier paart sich Ökonomie des Wortflusses mit syntaktischer Komplexität. Der Anfang des ersten Buches und damit die berühmteste Passage ist für Romanisten von elementarer Bedeutung, stellt sie doch eines der besten Zeugnisse für die vorromanische Besiedlung Galliens dar. Außerdem thematisiert sie bereits den gesellschaftlichen Unterschied zwischen der früh romanisierten Provincia Narbonensis im Süden bzw. Südosten Frankreichs (im Text: „provincia“) und dem wilden, erst 70 Jahre später romanisierten Norden und Westen (im Text: „Gallia“). In unserem Abdruck sind die Hauptsätze unmarkiert, die Gliedsätze ersten Grades einfach unterstrichen und die Gliedsätze zweiten Grades doppelt unterstrichen: (1) Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani, tertiam, qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur. (2) hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt. Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit. (3) horum omnium fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt minimeque ad eos mercatores saepe commeant atque ea, quae ad effeminandos animos pertinent, important proximique sunt Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum continenter bellum gerunt. (Commentarii I,1,1-3, ed. Hornig 1974) Bis auf den mehrteiligen, durch propterea quod (‚deswegen weil’) eingeleiteten Kausalsatz sind alle hier enthaltenen Gliedsätze Relativsätze. Das zeigt, dass die Sprache Caesars zumindest in der Auswahl der Gliedsatzarten durchaus schlicht und nicht allzuweit von der gesprochenen Sprache entfernt ist - auch im Sprachgebrauch französischer Jugendlicher sind Relativsätze bis heute die bei weitem häufigste Gliedsatzart (Brunet 1995). Übersetzt man einen solchen Text ins Deutsche, so muss man allerdings u.U. zusätzliche Pronomina, verdeutlichende Adverbien und Konjunktionen einfügen, die Caesar eingespart hat. In der folgenden, recht textnahen Übersetzung sind sie durch eckige Klammern markiert: ‚(1) Gallien als Ganzes ist in drei Teile aufgeteilt, deren einen die Belger bewohnen, den anderen die Aquitaner und den dritten [diejenigen], die in ihrer eigenen Sprache „Kelten“, in unserer [hingegen] „Gallier“ genannt werden. (2) Diese alle unterscheiden sich nach Sprache, Einrichtungen und Gesetzen voneinander. Von den Aquitanern trennt die Gallier der Fluss Garonne, von den Belgern [die Flüsse] Marne und Seine. (3) Die Tapfersten von allen diesen sind die Belger, [und zwar] deswegen, weil sie am weitesten entfernt von der Kultur und Lebensart der [römischen] Provinz wohnen und zu ihnen am wenigsten häufig die Händler kommen und das importieren, was der Verweichlichung der Gemüter dient, und 28 Längere römische Schriften sind meist in verschiedene Bücher (libri) eingeteilt. Diese Bücher können aber recht kurz sein und entsprechen nach heutigem Verständnis eher längeren Kapiteln. Die Bücher werden mit Ordnungszahlen durchnummeriert, wobei das zweite Buch aber nicht liber secundus, sondern liber alter (‚das andere Buch von zweien’) genannt wird. Hieraus resultiert der klassische deutsche Pennälerwitz, dass Caesar das zweite Buch der Commentarii - überschrieben mit „liber alter“ - seinem Vater gewidmet habe. <?page no="206"?> Syntax 206 [weil] sie [außerdem] am nächsten bei den Germanen leben, die jenseits des Rheines wohnen [und] mit denen sie dauernd Krieg führen.’ (Übers. JML) Auch für den Prosastil anderer klassischer Autoren ist es durchaus kennzeichnend, dass auf Wörter, die verzichtbar sind, auch tatsächlich verzichtet wird. Diese Kunst der Knappheit steht damit im Gegensatz zum Wortreichtum der Dichtung, den wir am Beispiel von Vergils Aeneis (vgl. S.181) bereits kennengelernt haben. 5.2.3 Arten von Hauptsätzen und die darin verwendeten Modi Genau wie in den romanischen Sprachen unterscheidet man im Lateinischen Aussagesätze, Ausrufesätze, Aufforderungssätze und Fragesätze. Generell gilt für Hauptsätze folgender Modusgebrauch: Wenn sie einen Sachverhalt als Tatsache darstellen, steht der Indikativ, wenn sie ihn als Begehren, als Möglichkeit oder Unwirklichkeit darstellen, steht der Konjunktiv, und wenn sie ihn als Befehl darstellen, der Imperativ. Im Konjunktiv können dabei Vergangenheitstempora auch für Darstellungen verwendet werden, die sich auf die Gegenwart beziehen. 5.2.3.1 Aussagesätze Aussagen können als wirklich (real), als möglich (potential) oder als unwirklich (irreal) dargestellt werden. Real dargestellte Aussagen stehen im Indikativ: Aliquis hoc dixit. ‚Jemand hat das gesagt.’ Potential dargestellte Aussagen (man spricht auch vom „Potentialis“) stehen ohne Bedeutungsunterschied entweder im Konj.Präsens oder im Konj. Perfekt: Aliquis hoc dicat/ dixerit. ‚Jemand könnte das sagen.’ Bei irrealen Aussagesätzen („Irrealis“) unterscheidet man danach, ob die Aussage für die Gegenwart oder die Vergangenheit gilt. Der Irrealis der Gegenwart wird durch den Konj. Imperfekt ausgedrückt, der Irrealis der Vergangenheit durch den Konj. Plusquamperfekt: Aliquis hoc diceret. ‚Jemand würde das sagen.’ (aber er ist z.B. nicht da) Aliquis hoc dixisset. ‚Jemand hätte das gesagt.’ (aber er ist schon lange tot) Insgesamt unterscheiden sich die Verhältnisse bei Potentialis und Irrealis also recht stark von den romanischen Sprachen, und zwar vor allem deshalb, weil diese das Konditional als neuen Modus der Unwirklichkeit nutzen. 5.2.3.2 Ausrufesätze Ausrufesätze können ohne Verb als bloßer Akkusativ des Ausrufs stehen (z.B. ‚me miserum! ‚Ich Unglücklicher! ’) oder auch eine Interjektion dabei haben (z.B. o/ heu me miserum! ‚Ach ich Unglücklicher! ’). Es kann aber auch ein Fragesatz zum Ausruf umgeformt werden: Quanta est tua pulchritudo! ‚Wie groß ist deine Schönheit! ’ - also genau wie im Romanischen, vgl. sp. ¡Cuánto lo siento! ‚Wie leid mir das tut! ’. Und schließlich können Ausrufe auch als Wunschbzw. Aufforderungssatz formuliert werden - hierzu der folgende Abschnitt. <?page no="207"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 207 5.2.3.3 Aufforderungssätze Bei den Aufforderungssätzen kann man Wunschsätze und Befehlssätze unterscheiden (gelegentlich finden sich auch andere Einteilungen). Erfüllbar gedachte Wunschsätze stehen im Konj. Präsens für die Gegenwart und im Konj. Perfekt für die Vergangenheit. Sie können ohne Einleitung stehen oder aber durch utinam ‚wenn doch; hoffentlich’ bzw. in der Negation durch (utinam) ne ‚wenn doch nicht; hoffentlich nicht’ eingeleitet werden: utinam nos salvent! ‚Hoffentlich retten sie uns! ’ utinam ne frustra dixerim! ‚Hoffentlich habe ich nicht umsonst gesprochen! ’ Unerfüllbar gedachte Wunschsätze stehen im Konj. Imperfekt für die Gegenwart und im Konj. Plusquamperfekt für die Vergangenheit. Sie stehen immer mit Einleitung, und zwar nur mit den Varianten utinam und utinam ne: utinam viveret! ‚Wenn er doch noch am Leben wäre! ’ utinam ne hoc dixisset! ‚Wenn er das doch nicht gesagt hätte! ’ Befehlsbzw. Aufforderungssätze im engeren Sinne stehen im Imperativ oder im Konjunktiv Präsens, verneint wird mit ne: ora et labora! ‚Bete und arbeite! ’ (Motto des Benediktinerordens) audiatur et altera pars! ‚Auch die andere Partei soll gehört werden! ’ ne desperemus! ‚Lasst uns nicht verzweifeln! ’ Ein Sonderfall ist das Verbot an die 2. Person Singular oder Plural: Hier steht entweder der zeitstufenlose Konj. Perfekt (sog. „Prohibitiv“) oder aber eine Umschreibung bestehend aus dem Imperativ noli/ nolite (von nolle ‚nicht wollen’) und einem Infinitiv: ne dubitaveris! ‚Zweifle nicht! ’ nolite timere! ‚Fürchtet euch nicht! ’ Insgesamt ist der Modusgebrauch in der Gruppe der Aufforderungssätze also recht nahe am Gebrauch in den romanischen Sprachen: Konjunktive und Imperative prägen das Bild. Verändert haben sich v.a. die Satzeinleitungen, weggefallen ist die Umschreibung mit noli(te) + Infinitiv. Übrig geblieben ist aus letzterer Konstruktion ein verneinter Infinitiv mit aufforderndem Charakter, den wir alle aus den unvermeidlichen mehrsprachigen Schildern in öffentlichen Verkehrsmitteln kennen, z.B. in Zügen fr. „Ne pas se pencher dehors“ (‚Nicht aus dem Fenster lehnen’) oder Bussen it. „non disturbare il conducente“ (‚nicht mit dem Fahrer sprechen’). Als positive Aufforderung wird dieser Infinitiv vor allem in Aufbauanleitungen und Kochrezepten verwendet: vgl. fr. remuer la sauce lentement (‚die Soße langsam umrühren’), sp. añadir 20 cl de leche (‚20 cl Milch hinzufügen’). An das Lateinische erinnert auch die spanische Regel, den Imperativ bei der Verneinung in einen Konjunktiv umzuwandeln. Vgl. sp. ve te! vs. no te vayas! (‚geh weg! ’ vs. ‚geh nicht weg! ’). 5.2.3.4 Fragesätze Im Lateinischen werden drei Arten von direkten Fragesätzen (also Fragesätzen mit Hauptsatzstatus) unterschieden: Wortfragen, Satzfragen und Doppelfragen. <?page no="208"?> Syntax 208 Wortfragen werden mit einem Fragewort eingeleitet und unterscheiden sich in der Struktur nicht von ihren Pendants in den romanischen Sprachen, wenn man einmal von den dort möglichen Inversionsstellungen absieht: quomodo venisti? - sp. ¿cómo has venido? fr. comment es-tu venu? quantum emetis? - sp. ¿cuánto compraréis? fr. combien vous allez acheter? Satzfragen beziehen sich auf den Inhalt eines ganzen Satzes und verlangen als Antwort ein „ja“ oder „nein“ (Entscheidungsfragen). Je nachdem, was für eine Antwort erwartet wird, verwendet man eine andere Partikel zur Frageeinleitung: Ist die Antwort offen, so steht ein enklitisches -ne, das an das betonte Wort angehängt wird und mit diesem die Anfangsposition des Satzes einnimmt. Es entspricht also in seiner Funktion als Interrogationsmarker exakt dem französischen est-ce que: laudatne magister discipulos? fr. Est-ce que le professeur loue les élèves ? ‚Lobt der Lehrer die Schüler? ’ Wird die Antwort „ja“ erwartet, so verwendet man als Einleitung die Partikel nonne (zusammengesetzt aus non + ne) - die Wortstellung bleibt ansonsten unverändert gegenüber einem Aussagesatz: nonne magister discipulos laudat? ‚Der Lehrer lobt doch wohl die Schüler, oder? Wird die Antwort „nein“ erwartet, dann steht entsprechend die Fragepartikel num (im Deutschen gut wiederzugeben mit ‚etwa’): num magister discipulos laudat? ‚Lobt der Lehrer etwa die Schüler? ’ Für nonne und num gibt es keine direkt abgeleiteten Entsprechungen in den romanischen Sprachen. Doppelfragen stellen dem Befragten zwei Antwortmöglichkeiten zur Wahl. Das zweite und jedes weitere Glied einer Doppelfrage wird immer durch an eingeleitet, das erste Glied kann durch utrum oder angehängtes -ne eingeleitet werden oder aber ganz ohne Fragepartikel stehen: utrum manemus an abimus? manemusne an abimus? ‚Bleiben wir oder gehen wir? ’ manemus an abimus? manemus an non? ‚Bleiben wir oder nicht? ’ In der Entwicklung zu den romanischen Sprachen sind die Partikeln, die das erste Glied von Doppelfragen einleiten, untergegangen. Auch die Fragepartikel an zur Einleitung des zweiten Gliedes hat sich nicht erhalten, ist aber immerhin ersetzt worden durch die jeweilige allgemeine Disjunktivpartikel (‚Trennungspartikel’) mit der Bedeutung ‚oder’, vgl. fr. restons ou non? ; sp. ¿nos quedamos o no? 5.2.4 Arten von Gliedsätzen - Verwendung von Tempora und Modi Zunächst eine Vorbemerkung: In der Schulgrammatik werden die Termini „Nebensatz“ und „Gliedsatz“ synonym verwendet. Passender ist aber sicherlich der Terminus „Gliedsatz“, weil er nicht suggeriert, dass er weniger Wichtiges enthielte. Es gibt ja durchaus Gliedsätze, deren Information wichtiger ist als die des sog. „Hauptsatzes“ (z.B. „ich glaube, dass gerade jemand dein Auto klaut“). Es gibt drei gängige Möglichkeiten, Gliedsätze zu kategorisieren: <?page no="209"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 209 • nach ihrer syntaktischen Funktion innerhalb des übergeordneten Satzes: Subjektsätze, Objektsätze, Attributssätze und Adverbialsätze • nach der Wortart ihres Einleitungsworts: Relativsätze, indirekte Fragesätze, Konjunktionalsätze • nach dem Grad ihrer Abhängigkeit: Gliedsätze ersten Grades hängen direkt vom Hauptsatz ab, Gliedsätze zweiten Grades von einem Gliedsatz ersten Grades, Gliedsätze dritten Grades von einem Gliedsatz zweiten Grades etc. In der Folge sollen die Gliedsätze primär nach der Form ihrer Einleitung aufgelistet werden, da dies auch in den Grammatiken moderner Sprachen üblich ist und sich auf diese Weise leichter Querverbindungen herstellen lassen. Vorab sei aber noch Allgemeines zum Gebrauch von Tempora und Modi in Gliedsätzen gesagt: Manche Gliedsatztypen können im Indikativ oder Konjunktiv stehen, andere haben immer den Konjunktiv. Grundsätzlich kann jeder Gliedsatz als Meinung eines anderen dargestellt werden und tritt dann in den Konjunktiv. Man spricht hier vom „obliquen Konjunktiv“ (wörtlich: ‚schiefer Konjunktiv’) oder dem „Konjunktiv der fremden Meinung“. Auch ein Nebensinn (z.B. final, kausal, konsekutiv etc.) kann dazu führen, dass ein eigentlich indikativischer Nebensatz konjunktivisch wird. In indikativischen Gliedsätzen werden die Tempora üblicherweise so gebraucht, wie wir das von den romanischen Sprachen her kennen: 29 Bei Gleichzeitigkeit zur übergeordneten Proposition steht dasselbe Tempus wie dort, wobei zum Perfekt auch das Imperfekt als gleichzeitig gilt. Bei Vorzeitigkeit zum Präsens steht das Perfekt, bei Vorzeitigkeit zu einem Vergangenheitstempus das Plusquamperfekt und bei Vorzeitigkeit zum Futur I das Futur II. Nachzeitigkeit zum Präsens wird durch das Futur I ausgedrückt. Daneben gibt es einige Sonderregeln (hierzu Throm 1995: 244f). In konjunktivischen Gliedsätzen gibt es eine eigene, recht streng eingehaltene Zeitenfolge, die sog. consecutio temporum (‚Zeitenfolge’). Entscheidendes Kriterium ist dabei das Zeitverhältnis zum Tempus der übergeordneten Proposition: Handelt es sich dabei um ein Präsens, Futur I oder Futur II (sog. „Haupttempora“), dann steht bei Vorzeitigkeit der Konj.Pf., bei Gleichzeitigkeit der Konj.Prs. und bei Nachzeitigkeit eine Verbalperiphrase auf -urus sim (bzw. sis, sit etc.). Steht das übergeordnete Verb in einem Vergangenheitstempus (Impf., Pf., Plpf. - sog. „Nebentempora“), dann steht im Gliedsatz bei Vorzeitigkeit der Konj.Plpf., bei Gleichzeitigkeit der Konj.Prs. und bei Nachzeitigkeit eine Periphrase auf -urus essem (esses, esset etc.). Die vom Präsensstamm abgeleiteten Konjunktive stehen also für Gleichzeitigkeit, die vom Perfektstamm für Vorzeitigkeit, und alle Periphrasen, die das Part.Fut.Aktiv enthalten, bringen Nachzeitigkeit zum Ausdruck. Auf ein Beispiel angewandt ergibt sich damit folgendes Schema: 29 Schönes Vergleichsmaterial bietet Stein (1997), der Livius-Übersetzungen in verschiedene romanische Sprachen miteinander vergleicht. <?page no="210"?> Syntax 210 Abb. 31: eitenfolge in konjunktivischen Gliedsätzen (in Anlehnung an Throm 1995: 236) Diese Unterteilung der Hauptsatz-Tempora in eine Gegenwartsgruppe und eine Vergangenheitsgruppe ist im Italienischen, Spanischen und Französischen bis heute für die Zeitenfolge in konjunktivischen Gliedsätzen von entscheidender Bedeutung. 5.2.4.1 Relativsätze Relativsätze sind typischerweise Attributsätze und erläutern in dieser Funktion ein Nomen des übergeordneten Satzes (=Beziehungswort). Eingeleitet werden sie durch ein Relativpronomen wie qui (‚der’), quicumque (‚wer auch immer’), quantus (‚wie groß’), qualis (‚wie beschaffen’) oder ein relativisch gebrauchtes Adverb wie ubi (‚wo’) oder quo (‚wohin’). Die Form des Relativpronomens richtet sich in Genus und Numerus nach dem Beziehungswort, im Kasus jedoch nach seiner syntaktischen Funktion innerhalb des Relativsatzes: Cicero, quem oratorem maximus putamus, et multum scripsit. ‚Cicero, den wir für den größten Redner halten, hat auch viel geschrieben.’ Gelegentlich kann ein Relativpronomen auch anstelle eines Demonstrativpronomens einen Hauptsatz oder einen Konjunktionalsatz einleiten. Man spricht dann vom „relativischen Satzanschluss“. Bei Caesar steht er besonders häufig in Kombination mit einem Ablativus Absolutus: quibus rebus cognitis ‚nachdem diese Dinge bekannt geworden waren’ Abhängig von Haupttempora Abhängig von Nebentempora Prs: dicit, Fut.I: dicet, Fut.II: dixerit ‚er sagt, er wird sagen, er wird gesagt haben’ Impf.: dicebat, Pf.: dixit, Plpf.: dixerat ‚er sagte, er hat gesagt, er hatte gesagt’ quis venerit (Kj.Pf.) ‚wer gekommen ist’ quis veniat (Kj.Prs.) ‚wer kommt’ quis venturus sit ‚wer kommt’ quis venisset (Kj.Plpf.) ‚wer gekommen ist’ (sei, war) quis veniret (Kj.Impf.) ‚wer komme’ (käme) quis venturus esset ‚wer kommen wird’ (werde, würde) vorzeitig vorzeitig gleichzeitig gleichzeitig nachzeitig nachzeitig Hauptsatz: Hauptsatz: Gliedsatz: Gliedsatz: <?page no="211"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 211 Einer dieser relativischen Anschlüsse ist durch häufige Verwendung lexikalisiert und schließlich sogar zu einem kausalen Adverb grammatikalisiert worden: quam ob rem ‚deshalb’ (wörtl.: ‚wegen dieser Sache’). Üblicherweise stehen lateinische Relativsätze im Indikativ. Sie können aber in den Konjunktiv treten, wenn sie eine fremde Meinung zum Ausdruck bringen oder wenn sie einen finalen (Zweck), konsekutiven (Folge), kausalen (Ursache) oder konzessiven (Einschränkung) Nebensinn haben: Caesar misit, qui specularentur. (final) ‚Caesar schickte [erg. Leute] 30 , die beobachten sollten.’ Non is sum, qui terrear. (konsekutiv) ‚Ich bin nicht der Mann, der sich erschrecken läßt.’ Besonders der Konjunktiv beim finalen bzw. konsekutiven Nebensinn hat sich bis in die romanischen Sprachen erhalten. Hier steht ja bekanntlich der Konjunktiv im Relativsatz, wenn dieser eine gewünschte Eigenschaft zum Ausdruck bringt: fr. Nous cherchons un hôtel qui soit moins cher. sp. Buscamos un hotel que sea menos caro. it. Cerco un hotel che sia meno caro. 5.2.4.2 Indirekte Fragesätze Indirekte, also abhängige Fragesätze werden meist als Objekt nach Verben des Fragens, Sagens, Wissens und Denkens gebraucht und stehen immer im Konjunktiv. Wie bei den direkten Fragen unterscheidet man Wortfragen, Satzfragen und Doppelfragen. Abhängige Wortfragen werden durch die gleichen Fragewörter eingeleitet wie direkte Fragen, also durch Fragepronomina (z.B. quid? ‚was? ’) oder Frageadverbien (z.B. quando? ‚wann? ’): nesciebam, quid fecisset. ‚Ich wusste nicht, was er getan hatte’ Abhängige Satzfragen werden durch angehängtes -ne oder num eingeleitet: interrogavi, num cervisiam mallent. - ‚Ich fragte, ob sie lieber Bier wollten’. Bei abhängigen Doppelfragen wird das zweite Glied immer mit an (‚oder’) eingeleitet, das erste mit utrum, -ne oder ohne Fragepartikel (im Deutschen steht jeweils ‚ob’): utrum maneamus an abeamus. ‚ ob wir bleiben Deliberamus, maneamusne an abeamus. oder weggehen sollen.’ (‚Wir überlegen’) maneamus an abeamus. maneamus necne. ‚ ob wir bleiben oder nicht.’ 5.2.4.3 Konjunktionalsätze Es gibt zu viele verschiedene Arten von Konjunktionalsätzen, als dass sie hier alle ausführlich dargestellt werden könnten. Das ist aber auch nicht nötig, da diese Gliedsätze von der Struktur her ihren romanischen Entsprechungen recht ähnlich sind. Die folgende Auflistung (basierend auf Throm 1195: 250ff und Rubenbauer et al. 1995: 275ff) stellt daher in erster Linie die jeweiligen gliedsatzeinleitenden 30 Wenn das Beziehungswort ein Pronomen oder ein ähnlich unbestimmtes Nomen ist, dann kann es auch wegfallen und wird auf Basis des Relativpronomens geistig ergänzt. <?page no="212"?> Syntax 212 Konjunktionen vor, damit deutlich wird, welche von ihnen sich romanisch fortgesetzt haben. Etwas ausführlicher werden lediglich die Konditionalsätze behandelt, da diese in ihrem Modusgebrauch etwas abweichen und auch in den romanischen Sprachen einen Sonderstatus in diesem Punkt aufweisen. Finalsätze Finalsätze stehen a) als Subjekt- oder Objektsatz nach Verben des Bemühens oder Verhinderns sowie des Begehrens und Fürchtens (deutsche Einleitung: ‚dass’) oder b) als Adverbialsatz nach ganz beliebigen Verben, um den Zweck oder die Absicht einer Handlung darzustellen (deutsch ‚damit, um zu’). In beiden Fällen werden sie mit ut eingeleitet, negiert werden sie mit ne (‚dass nicht, damit nicht’). Es steht grundsätzlich der Konjunktiv: a) Cura, ut valeas. ‚Sorge dafür, dass du gesund bleibst.’ b) Venio ad te, ne solus sis. ‚Ich komme zu dir, damit du nicht allein bist.’ Interessant aus romanistischer Sicht ist die Regel, dass nach Verben des Fürchtens und des Verhinderns ne für ‚dass’ steht (und ut bzw. ne non für ‚dass nicht’). Dies ist der Ursprung des sog. „ne-explétif’ im Französischen, das nach Verben des Fürchtens stehen kann, aber mittlerweile im Rückzug befindlich ist: timeo, ne venias. ‚Ich fürchte, dass du kommst’. vgl. fr. je crains que tu (ne) viennes. Konsekutivsätze Konsekutivsätze stehen immer im Konjunktiv und drücken eine tatsächliche oder mögliche Folge aus. Eingeleitet werden sie durch ut bzw. uti (‚so dass’), verneint durch ut non (‚so dass nicht’), ut nemo (‚so dass niemand’), ut nihil (‚so dass nichts’) oder ut numquam (‚so dass niemals’). Häufig steht schon im übergeordneten Satz ein Hinweis auf die konsekutive Relation, z.B. Pronomina wie talis (‚so beschaffen’), tantus (‚so groß’) oder Adverbien wie tam (‚so’ - vor Adjektiven) oder ita/ sic (‚so’ - vor Verben): tales sumus, ut iure laudemur. ‚Wir sind so, dass wir zu Recht gelobt werden.’ Die auf einen Konsekutivsatz hinweisenden Pronomina bzw. Pronominaladjektive tantus und talis sind in den romanischen Sprachen sehr gut erhalten, das ut ist allerdings durch die Universalkonjunktion que/ che ersetzt worden: vgl. fr. tant/ tel que, sp. tanto/ tal que, it. tanto/ tale che. Im Spanischen hat sich auch das tam vor Adjektiven in der Form tan erhalten: tan grande que. Meist sind Konsekutivsätze Adverbialsätze. Sie können aber auch als Subjektsätze nach unpersönlichen Ausdrücken des Geschehens stehen, z.B. fit, ut (‚es kommt vor, dass’), fieri potest, ut (‚es ist möglich, dass’). Temporalsätze Temporalsätze können den Zeitpunkt der Hauptsatzhandlung genauer bestimmen, aber auch ein Zeitverhältnis zum Hauptsatzverb zum Ausdruck bringen. Üblicherweise stehen sie im Indikativ, bei zusätzlichem adverbialem Nebensinn (final, kausal, konsekutiv, konzessiv) oder beim Ausdruck fremder Meinung im Konjunktiv. <?page no="213"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 213 Die mit Abstand häufigste temporale Konjunktion ist cum (Grundbedeutung ‚als’), also ein Homonym zur Präposition cum (‚mit’). Entsprechend haben sich einige Bedeutungsvarianten entwickelt: ‚als’; ‚wenn’; ‚jedesmal wenn’; ‚indem’: cum tacent, clamant. ‚Indem sie schweigen, schreien sie.’ Weitere häufig gebrauchte temporale Konjunktionen sind antequam und priusquam (beide: ‚bevor’), dum (‚während, solange’), donec, quoad, quamdiu (alle: ‚solange’) und postquam (‚nachdem’), dessen Wurzel post in sp. después que erhalten ist. Zu nennen ist schließlich ein weiteres Homonym: ubi kann nicht nur lokales Relativum und Fragewort (‚wo? ’) sein, sondern auch temporale Konjunktion (‚sobald’; ‚als’). Dieses Zusammenfallen von Zeit und Raum hat sich teilweise in fr. où (‚wo’) erhalten, das etymologisch auf ubi zurückgeht 31 und in bestimmten Kollokationen ebenfalls temporal gebraucht werden kann, z.B. in au moment où (‚als’). Bekannt ist dieser semantische Zusammenfall auch im Süddeutschen, wo „wo“ nicht nur Relativpronomina, sondern auch temporale Konjunktionen vertreten kann: vgl. „Wo du gekommen bist, bin ich gegangen“. Kausalsätze Kausalsätze liefern die Begründung für die Aussage des übergeordneten Satzes. Bei Angabe eines tatsächlichen Grundes stehen vor allem die Konjunktionen quod und quia (beide: ‚weil’) sowie quoniam (‚da ja’), und zwar jeweils mit Indikativ: non veni, quia aegrotus eram. ‚Ich bin nicht gekommen, weil ich krank war.’ Bei Angabe eines subjektiven Grundes steht vor allem kausales cum (‚weil’) mit Konjunktiv. Ein hervorzuhebendes Phänomen ist das sog. „faktische quod“. Es steht semantisch gewissermaßen zwischen dem Relativpronomen quod (‚das’) und dem kausalen quod (‚weil’) und gibt eine Tatsache an, die den übergeordneten Satz erklärt. Die übliche Übersetzung ist ‚dass’ oder ‚die Tatsache, dass’: pergratum mihi est, quod venisti. ‚Es ist mir sehr angenehm, dass du gekommen bist.’ Konditionalsätze Konditionalsätze geben die Bedingung an, unter der die Sachverhaltsdarstellung des übergeordneten Satzes zutrifft. Konditionalsatz und übergeordneten Satz bezeichnet man zusammengenommen als „Bedingungsgefüge“. Als Konjunktion steht im Konditionalsatz vor allem si (‚wenn’) oder nisi (‚wenn nicht’), in bestimmten Zusammensetzungen oder ohne Verb auch si non (‚wenn nicht’). Das Konjunktionsinventar ist Romanisten also sehr vertraut. Was den Tempus- und Modusgebrauch angeht, so stehen im Lateinischen, anders als in den romanischen Sprachen, grundsätzlich dieselben Tempora und Modi in si-Satz (griech.: „Protasis“: ‚Vordersatz’) und Hauptsatz (griech. „Apodosis“: ‚Nachsatz’). Dabei sind nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit drei Kategorien zu unterscheiden, die wir bereits von den Aussagesätzen her kennen: 31 Die gleich lautende französische Disjunktivkonjunktion ou (‚oder’) geht etymologisch auf ihre lat. Entsprechung aut (‚oder’) zurück. Nur zur besseren Unterscheidung wird das lokale où mit Akzent geschrieben. <?page no="214"?> Syntax 214 Im Realis oder Indefinitus (denn das Verhältnis zur Wirklichkeit ist hier eigentlich unbestimmt) steht der Indikativ: Si hoc dicis, erras. ‚Wenn du das sagst, irrst du dich.’ Si hoc dixisti, erravisti. ‚Wenn du das gesagt hast, hast du dich geirrt.’ Si hoc dices, errabis. ‚Wenn du das sagst, wirst du dich irren.’ Aus romanistischer Sicht ist zu beachten, dass im Lateinischen, anders als im Spanischen, Italienischen oder Französischen, auch im si-Satz das Futur stehen kann. Im Potentialis werden Bedingung und Folgerung als möglich dargestellt. Diese Kategorie fehlt in den romanischen Sprachen teilweise. Im Lateinischen steht hier sowohl im si-Satz als auch im Hauptsatz ohne Bedeutungsunterschied der Konjunktiv Präsens oder Perfekt: Si hoc dicas, erres. ‚Wenn du das sagen solltest, Si hoc dixeris, erraveris. dürftest du irren.’ Im Irrealis werden Bedingung und Folgerung als unwirklich oder unmöglich dargestellt. Dabei steht für den Irrealis der Gegenwart der Konjunktiv Imperfekt, für den Irrealis der Vergangenheit der Konjunktiv Plusquamperfekt: Si hoc diceres, errares. ‚Wenn du das sagen solltest, würdest du dich irren’ (aber du sagst es nicht). Si hoc dixisses, erravisses. ‚Wenn du das gesagt hättest, hättest du dich geirrt.’ Konzessivsätze Konzessivsätze drücken einen Gegengrund oder eine Einräumung in Bezug auf den übergeordneten Satz aus. Der verwendete Modus hängt von der einleitenden Konjunktion ab: Nach quamquam (‚obwohl’) steht der Indikativ, nach cum (‚obwohl’) oder ut (‚wenn auch’) der Konjunktiv: Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas. ‚Wenn auch die Kräfte fehlen, so ist doch der gute Wille zu loben.’ Keine dieser Konjunktionen hat sich im Spanischen, Italienischen oder Französischen erhalten. Komparativsätze Komparativ- oder Vergleichssätze erläutern Aussagen des übergeordneten Satzes durch Vergleiche des Grades oder der Art und Weise. Die Modi und Tempora werden genauso verwendet wie in Aussagesätzen, die Negation ist non. Wenn zwischen übergeordnetem und untergeordnetem Satz Subjektsgleichheit besteht und das Prädikat im Gliedsatz ergänzt werden kann, wird der Gliedsatz oft verkürzt (genau wie im Deutschen): Matrem non minus amo quam patrem. ‚Ich liebe die Mutter nicht weniger als den Vater.’ Indikativische Komparativsätze stehen nach Komparativ + quam (‚als’; s. Beispiel oben) und nach Ausdrücken der (Un-)Gleichheit + ac/ atque (‚als’): Non aliter scribo ac sentio. ‚Ich schreibe nicht anders, als ich denke.’ Ebenfalls mit Indikativ stehen Komparativsätze, die durch korrelierende Elemente mit dem Hauptsatz verbunden sind. Im Hauptsatz steht dann jeweils ein Demonstrativum, das im Gliedsatz durch eine passende vergleichende Konjunktion aufgegriffen wird. Im Deutschen steht hier im Gliedsatz durchweg ‚als’ oder ‚wie’, im Romanischen überwiegend que bzw. che oder das auf lat. quomodo (‚wie’) zurückgehende como/ come/ comme. <?page no="215"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 215 Tantum scimus, quantum memoria tenemus. ‚Wir wissen so viel, wie wir im Gedächtnis behalten.’ vgl. fr. Nous savons autant que nous gardons dans la mémoire. Die wichtigsten Korrelativa, die sich teilweise auch in den romanischen Sprachen erhalten haben, sind: ita/ sic … ut/ uti ‚so … wie’ (bei Verben) item … ut ‚ebenso … wie’ tam … quam ‚so … wie’ (vor Adjektiven und Adverbien) totiens … quotiens ‚so oft … wie’ quo … eo ‚je … desto’ talis … qualis ‚so (beschaffen) … wie’ tantus … quantus ‚so groß … wie’ tantum … quantum ‚so viel … wie’ tot … quot ‚so viele … wie’ Konjunktivische Komparativsätze stehen z.B. nach quasi, tamquam, tamquam si, ut si und velut si (alle: ‚wie wenn’; ‚als ob’), die jeweils eine Annahme zum Ausdruck bringen (lexikalisch meist markiert durch das Element si): Gloriatur, quasi ipse interfuerit. ‚Er rühmt sich, als ob er selbst dabei gewesen wäre.’ Von diesen Konjunktionen hat sich quasi im Italienischen (quasi), Spanischen (casi) und im Französischen (quasi/ quasiment) als Adverb erhalten, im Italienischen auch als vergleichende Konjunktion mit Konjunktiv: quasi (che) ‚als ob’. Alle drei Sprachen nutzen auch die auf lat. si zurückgehende Konjunktion si/ se für die Einleitung hypothetischer Komparativsätze (sp. como si; fr. comme si; it. come se ‚wie wenn’; ‚als ob’), vgl. sp. Le respeta como si fuera su padre. ‚Er respektiert ihn, als ob er sein Vater wäre.’ 5.2.5 Der zusammengesetzte Satz: Besonderheiten im Vulgär- und Spätlatein 5.2.5.1 Tempus- und Modusgebrauch 32 Ein verbreitetes Phänomen des Vulgär- und Spätlateins besteht darin, dass in Gliedsätzen häufig der Indikativ anstelle des Konjunktivs steht. Dies gilt für alle Arten von Gliedsätzen. So verwendet z.B. selbst Cicero in einem Brief an Atticus den Indikativ in einem indirekten Fragesatz: vides […] in quo cursu sumus. (Cic. ad Att. 1,1,4) ‚Du siehst, in was für einem Wettlauf wir uns befinden.’ Was die Tempora angeht, so werden sowohl im einfachen wie auch im zusammengesetzten Satz die Zeitverhältnisse weniger streng beachtet. So steht z.B. häufig das Präsens anstelle des Futurs oder in lebhaften Erzählungen anstelle des Perfekts, ganz wie wir das auch aus dem Deutschen kennen (z.B. cras venio - ‚ich komme morgen’). Daneben wurden neue Tempusformen entwickelt, die wir bereits im Morphologiekapitel behandelt haben (vgl. Kap. 4.6.4). Änderungen, die sowohl den Modus als auch das Tempus betreffen, gab es vor allem im komplexen System der Konditionalsätze. Recht verbreitet war hier 32 Alle Belege nach Väänänen (1981: 163ff). <?page no="216"?> Syntax 216 eine Variante des Potentialis, in der der si-Satz im Futur II anstelle des Konj.Pf. steht. Formal fielen die meisten Formen von Futur II und Konj.Pf. ohnehin zusammen. Im Gliedsatz stand also z.B. si fuerit, im Hauptsatz konnte wie im Realis est/ erit folgen. Dieser Gliedsatztyp hat sich im Spanischen erhalten, wo es eine Art Potentialis gibt („relación contingente“), in der der Konjunktiv Futur (fuere, fueres, fuere…, formal resultierend aus lat. Konj.Pf. fuerim, fueris, fuerit und Fut.II: fuero, fueris, fuerit…) in der Protasis steht: Si el tiempo fuere bueno, iremos a pasear. ‚Wenn das Wetter gut sein sollte, werden wir spazieren gehen.’ Potentialis und Realis waren damit im Spätlatein nicht mehr genau auseinanderzuhalten, was sich auf die romanischen Konditionalsätze entsprechend ausgewirkt hat, die diese drei Verhältnisse zur Wirklichkeit ja nicht mehr durchgehend anbieten (vgl. Kiesler 2006: 78ff). Auch im Irrealis geht der spätlateinische Trend dahin, im si-Satz den Indikativ (Imperfekt oder Plusquamperfekt) zu setzen - also ganz ähnlich wie im Französischen. So findet sich im Merowingerlatein bei Fredegar (80,11) die folgende Formulierung: Si iubebas, accederemus ad prilium. (prilium entspricht klass. proelium) ‚Wenn du es befehlen wüdest, würden wir in die Schlacht gehen.’ vgl. fr. Si tu ordonnais, nous irions à la bataille. 5.2.5.2 Satzwertige Konstruktionen Infinitivkonstruktionen: Der AcI wird im Vulgär-und Spätlatein meist durch einen Objektsatz (auch: „Kompletivsatz“ < fr. proposition complétive) mit quod oder quia (beide in der Bedeutung ‚dass’) ersetzt. Quia macht also einen Bedeutungswandel durch: scis enim quod epulum dedi (Petron, Sat. 71,9) statt scis enim me epulum dedisse ‚Du weißt ja, dass ich ein kleines Essen gegeben habe.’ Scimus quia hic est filius noster (Vulgata, Joh. 9,20) statt Scimus hunc esse filium nostrum ‚Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist.’ Die Bevorzugung des Kompletivsatzes im christlichen Latein wird auch darauf zurückgeführt, dass es im Griechischen an den betreffenden Stellen keinen AcI, sondern nur Kompletivsätze mit hotí (‚dass’) gab (vgl. Kiesler 2006: 73). Gelegentlich findet man anstelle des AcI aber auch einfache Beiordnung, so z.B. in folgender Petron-Stelle: scitis autem, in angustiis amici apparent. (Petron, Sat. 61,9) 33 statt klassisch: scitis autem in angustiis amicos apparere. ‚Ihr wisst doch, in Notlagen zeigen sich die [wahren] Freunde.’ Wie es vom Kompletivsatz mit quod/ quia zur romanischen Universalkonjunktion que (bzw. it. che) kommt, ist noch umstritten (hierzu ausführlich Kiesler 2006: 72ff). Man vermutet, dass auch das Relativpronomen, und zwar vor allem dessen Formen quae (Nom.Sg.Fem.) und quem (Akk.Sg.Masc.), sowie das Fragepronomen quid (‚was? ’) daran beteiligt sind. Nach dem üblichen Lautwandel verbleibt von beiden Formen graphisch nur ein <que>, das im Merowingerlatein belegt ist. Fest 33 Die Textüberlieferung ist bei scitis allerdings nicht gesichert; zu diesem und weiteren Beispielen Kiesler (2006: 71). <?page no="217"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 217 steht, dass die klassisch übliche Unterscheidung zwischen AcI, faktischem quod und dem konsekutiven ut-Satz nach unpersönlichen Ausdrücken (z.B. accidit, ut ‚es geschieht, dass’) im Spätlatein aufgehoben ist und dass an deren Stelle besagte quod/ quia-Konstruktion rückt. Kiesler sieht im ausgeweiteten Gebrauch des Fragepronomens quid das entscheidende Moment und rekonstruiert folgendes vulgärlateinisches Beispiel (2006: 73): *Sapio quid meu patre adventu est. ‚Ich weiss, dass mein Vater angekommen ist.’ vgl. sp. sé que mi padre ha llegado fr. je sais que mon père est arrivé it. so che mio padre è arrivato Partizipialkonstruktionen (alle Beispiele nach Müller-Lancé 1994: 41ff): Im Gebrauch der Partizipia Coniuncta besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Klassischen Latein und dem Vulgär- und Spätlatein, abgesehen davon, dass sich wegen des Kasusverfalls gelegentliche Inkongruenzen zwischen Partizip und Bezugswort ergeben können. Größer sind die Abweichungen bei den absoluten Konstruktionen: Zunächst einmal finden sich in den vulgär- und spätlateinischen Texten alle Typen von Ablativi Absoluti, die es auch schon im Klassischen Latein gab. Es fällt jedoch auf, dass die rein nominalen Konstruktionen generell seltener sind als im Klassischen Latein. Schon im frühen Vulgärlatein gab es bei bestimmten Partizipien formelhafte Mischkonstruktionen, in denen der Numerus von Subjekts- und Prädikatsglied nicht übereinstimmte, wodurch das Prädikatsglied des Abl.Abs. den Charakter einer Präposition bekam, also quasi grammatikalisiert wurde (vgl. die Entstehung romanischer Präpositionen aus absoluten Konstruktionen S.201). praesente nobis (Plautus, Amphitruo 400) ‚während unserer Anwesenheit/ vor uns’ absente nobis (Terenz, Eunuchus 649) ‚während unserer Abwesenheit/ ohne uns’ Solche Mischkonstruktionen gibt es im Spätlatein dann auch mit verschiedenen Kasus, also z.B. einem Nominativ oder Akkusativ als Subjektsglied und einem Ablativ als Prädikatsglied - hier ein Beispiel aus der Frankengeschichte Gregors von Tours: quae [= bella civilia] cessante, rursum quasi ex humo surrexit. (Hist.Franc. 190,19) ‚Als die Bürgerkriege zu Ende gingen, stand er sozusagen vom Boden wieder auf.’ Daneben entstehen absolute Konstruktionen mit anderen Kasus: Unter griechischem Einfluss zeigt sich vereinzelt, vor allem in christlichen Texten, ein Genitivus Absolutus: multiplicantium discipulorum (Acta apost. 6,1, Codex Laudianus) ‚als die Zahl der Jünger zunahm’ Häufiger finden sich Belege für einen Accusativus Absolutus, so z.B. beim Historiker Jordanes: Halaricus […] vastatam Italiam Romam ingressus est. 34 ‚Halaricus zog in Rom ein, nachdem er Italien verwüstet hatte.’ Daneben findet sich gelegentlich auch ein Nominativus Absolutus, so z.B. im Itinerarium Egeriae: 34 Jordanes, Rom. 323 (41,29), zitiert nach Helttula (1987: 6). <?page no="218"?> Syntax 218 benedicens nos episcopus profecti sumus (Itin.Eg. 16,7) ‚Während uns der Bischof segnete, brachen wir auf.’ Die Vielzahl der Formen zeigt, dass das Muster der absoluten Konstruktionen auch im Spätlatein produktiv blieb. Dabei überwiegen in den Texten nach wie vor deutlich die Ablativi Absoluti. Ihrer Beliebtheit entsprechend haben sich absolute Konstruktionen auch in den frühen Epochen der romanischen Sprachen erhalten und sind keineswegs erst im Zuge von Renaissance-Relatinisierungen in die romanischen Sprachen eingedrungen. Über die Verbreitung in den gegenwärtigen romanischen Sprachen wurde ja bereits gesprochen (vgl. Kap.5.2.1.4: S.200f). Im durch seine Zweikasus-Flexion geprägten Altfranzösischen zeigten sich diese Konstruktionen überwiegend als absoluter Obliquus: ses gens vers Lymors conduisoit, hiaumes laciez, haubers vestuz (Chrétien de Troyes, Erec et Enide 4929/ 4930) ‚er führte seine Leute nach Lymors, die Helme festgebunden, die Kettenhemden angelegt’. Im Altspanischen (und in den anderen romanischen Sprachen) hingegen stehen absolute Konstruktionen wie im Neuspanischen im Universalkasus: La oraçión fecha, luego cavalgava (Poema de mio Cid 54) ‚Nachdem die Rede gehalten worden war, ritt er sogleich davon’. 5.2.5.3 Satzverknüpfung Was die Satzverknüpfung angeht, so finden im Vulgär- und Spätlatein einige Vereinfachungen statt: Zunächst einmal wird die Anzahl der zur Verfügung stehenden koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen (für letztere findet man gelegentlich auch den Ausdruck „Subjunktionen“) reduziert. So wird für die aufzählende Beiordnung aus dem Spektrum et/ atque/ ac/ -que (‚und’) deutlich et bevorzugt, das sich entsprechend in den romanischen Sprachen erhalten hat (vgl. frz. et, it. e, sp. y/ e, kat. i, port. e). Von den unterordnenden Konjunktionen bzw. Relativ- und Frageadverbien bleiben nur quando, quomodo, si und quod im Spätlatein und in den romanischen Sprachen flächendeckend in der Originalfunktion erhalten. Vor allem die klassisch extrem häufig und vielfältig verwendeten Konjunktionen cum und ut gehen gänzlich unter. Des weiteren werden Konjunktionen umfunktioniert bzw. neu geschaffen: So gibt es schon im frühen Vulgärlatein bei Plautus Verwendungen der konditionalen Konjunktion si (‚wenn’) als Einleitung eines indirekten Fragesatzes (‚ob’), genau so, wie wir es aus den romanischen Sprachen kennen: expecto, si quid dicas ‚ich warte, ob du etwas sagst’ (Plautus Trinummus 98) vgl. fr. j’attends pour voir si tu dis quelque chose. Dieser Gebrauch weitet sich aus und verdrängt die klassisch üblichen Einleitungen num, -ne etc. (Väänänen 1981: 164). Zu den beiordnenden Konjunktionen kommt sic neu hinzu, das einen funktionalen Wandel (Adverb > Konjunktion) sowie einen semantischen Wandel durchgemacht hat (‚so’ > ‚und so’ > ‚und’) und z.B. als Konjunktion in rum. şi (‚und’) erhalten ist. <?page no="219"?> Der komplexe bzw. zusammengesetzte Satz 219 Bei den Temporalsätzen verdrängen die Frageadverbien quando (‚wann? ’) und quomodo (‚wie? ’) die Konjunktionen ut und cum in der Bedeutung ‚als’: quomodo audierunt verba ista (Itala Acta; nach Väänänen 1981: 163) ‚als sie diese Worte gehört hatten’. In den romanischen Sprachen hat sich vor allem quando fortgesetzt. Die prototypische Entwicklung war also klat. cum Romam venit (‚als er nach Rom kam’) > slat. *quando ad Roma(m) venit > sp. cuando vino a Roma; fr. quand il vint à Rome etc. (Kiesler 2006: 76). Nachdem die ehemaligen Kausalkonjunktionen quod/ quia zu Kompletivkonjunktionen umfunktioniert worden waren (‚weil’ > ‚dass’) - s.o. bei satzwertigen Konstruktionen -, benötigte man eindeutigere Kausalkonjunktionen. Hierzu verwendete man verschiedene Zusammensetzungen, z. B. pro eo quod, per id quod, per hoc quid und rekonstruiertes *por hoc quid (‚weil’; wörtlich jeweils: ‚wegen dem, dass’) 35 . Aus den beiden Letztgenannten entstehen afr. por ço que (> fr. parce que), ait. per cio che (it. perché) und sp. porque. Im Französischen kommt noch ein hauptsatzeinleitendes kausales Adverb hinzu, das funktional dem klassisch lateinischen nam (‚denn’) entspricht, aber formal auf das Frageadverb quare (‚warum’) zurückgeht: fr. car (Kiesler 2006: 76). Bei den Konsekutivsätzen wird die klassische Konjunktion ut durch quod oder quid ersetzt, die Funktion des Korrelativums im Hauptsatz übernehmen nur noch sic (‚so’), tantum (‚so sehr, so viel’) und talis (‚so beschaffen’). Hierauf gehen z.B. afr. si … que und it. talché zurück (Kiesler 2006: 77). Von den konzessiven Konjunktionen quamquam, quamvis, etsi und etiamsi (alle: ‚obwohl, auch wenn’) hat sich im Spätlatein am ehesten etiamsi erhalten. Im Romanischen treten an die Stelle dieser Konjunktionen analoge Zusammensetzungen mit eigenem Material: sp. aunque, fr. quoique, it. anche se (Kiesler 2006: 78). Im Vulgär- und Spätlatein wird auch die Anzahl der Relativpronomina reduziert: Vom klassischen Formenspektrum der Pronomina qui/ quae/ quod bleiben am Ende nur nominativisches qui und akkusativisches quem übrig. Qui in Subjektsfunktion ist im Neufranzösischen (qui) und Italienischen erhalten (chi), sowie im Altspanischen bis ins 14.Jh. (qui). Spanisch que und quien sowie fr. que leiten sich vom akkusativischen quem ab, it. che hingegen geht wohl auf quid (altit. ched) zurück (Kiesler 2006: 75). Die Komplexität der Satzgefüge wird im Vulgär- und Spätlatein gleichermaßen reduziert. Dies liegt zwar auch daran, dass die Sprachkompetenz in Folge späten Spracherwebs (Latein als Zweitsprache) nachlässt, vor allem aber ist es wohl dadurch begründet, dass das Vulgär- und Spätlatein, soweit es überhaupt geschrieben wurde, der gesprochenen Sprache deutlich näher ist als das Klassische Latein. Es gibt nach wie vor Hypotaxe, aber seltener Gliedsätze zweiter, dritter und vierter Ordnung. 35 Eigentlich steht im Standarddeutschen nach wegen der Dativ. An dieser Stelle würde aber wegen dessen höchst künstlich klingen. Außerdem ist es sicher legitim, eine vulgärlateinische Zusammensetzung auch im Deutschen umgangssprachlich wiederzugeben. <?page no="220"?> Syntax 220 Ein typisches Phänomen des Vulgär- und Spätlateins besteht darin, dass Hypotaxe und Parataxe öfters nicht mehr klar voneinander getrennt werden. Auf dieses Phänomen wurde in Kap. 5.2.3 schon hingewiesen. Es gibt hier zum einen die als „Parahypotaxe“ bezeichnete Erscheinung, bei der z.B. auf einen Nebensatz eine koordinierende Konjunktion mit einem Hauptsatz folgt: At ubi autem sexta hora se fecerit, sic itur ante Crucem (Itin. Egeriae 37,4) 36 ‚Wenn aber die sechste Stunde schlägt, und dann geht man zum Kreuz.’ Auf der anderen Seite gibt es Hauptsätze, an die sich eine Gliedsatzeinleitung anschließt, der aber dann ein weiterer Hauptsatz folgt. Auch hier könnte man von Parahypotaxe oder Kosubordination sprechen. So schreibt im 4.Jh. Flavius Vopiscus, einer der Autoren der Historia Augusta (Sammlung von Kaiserviten): Curiosum […] puto […] fabellam de Diocletiano Augusto ponere hoc convenientem loco quae illa data est ad omen imperii (zit. n. Touratier 1980: 486). ‚Ich halte es für interessant, die an dieser Stelle passende Anekdote vom Kaiser Diokletian einzuschieben, welche diese hat sich ereignet zur Ankündigung seiner Herrschaft.’ (statt einfachem quae) Dieses Verfahren ist auch im gesprochenen Französisch sehr häufig, und zwar vor allem bei Relativsätzen, der beliebtesten Art der Subordination: 37 c’est moi que je leur dis d’aller faire ça et ça (Blanche-Benveniste 1997 : 103) c’est une femme qu’elle a pas beaucoup de courage (Gadet 1995 : 143) Interessanterweise findet man dieselbe Technik in der frz. Kindersprache: j’ai un copain qu’il a des cheveux longs (Kielhöfer 1997: 100f). Auch an diesen Stellen vertritt eine „doppelt gemoppelte“ Formel das einfache Relativpronomen qui, das offensichtlich in seiner Anwendung gar nicht so einfach ist, sondern, genau wie im lateinischen Beispiel, zerlegt wird in seine relativische Funktion (Herstellung der Beziehung zum Bezugswort: realisiert durch das Relativpronomen) und seine syntaktische Funktion innerhalb des untergeordneten Satzes (hier jeweils Subjekt: realisiert durch das Demonstrativbzw. Personalpronomen). 5.3 Textsyntax 5.3.1 Klassisches Latein Die Textsyntax behandelt Fragestellungen, die die Verknüpfung von Sätzen über das Satzende hinaus behandeln und die Gesamtstruktur von Texten betreffen. Was die Gesamtstruktur bzw. den Aufbau literarischer Texte angeht, so sei hier nur vermerkt, dass das System der antiken Rhetorik starken Einfluss auf die verschiedensten Textsorten hatte. In diesem System werden Reden bzw. Texte in die folgenden grundlegenden Abschnitte eingeteilt (vgl. „Rhetorik“ in Der kleine Pauly): a) exordium (Einleitung) 36 Zitiert nach Väänänen (1981: 159). Auch Kiesler (2006: 72) weist auf diese Stelle hin. 37 Zu den Parallelen zwischen Spätlatein und gesprochenem Französisch, was die Relativsätze betrifft, vgl. Müller-Lancé (2004a: 214ff). <?page no="221"?> Textsyntax 221 b) narratio (Erzählung des Hergangs) c) divisio (Aufteilung bzw. Präzisierung des Sachverhalts) d) argumentatio (Beweisführung) e) peroratio bzw. conclusio (Schlussfolgerung) Auf dieser Strukturgrundlage - textlinguistisch könnte man auch von einer „Makrostruktur“ sprechen - basieren die meisten philosophischen, poetischen und sogar historischen Texte der klassischen Antike. Bis heute hat dieses Strukturprinzip im gesamten abendländischen Kulturraum nur wenig an Geltung eingebüßt. Nach wie vor gilt es als Formideal, dem es z.B. in französischen Schulaufsätzen nachzueifern gilt. Eher zur „Mikrostruktur“ gehört nun die Frage, wie diese Teile voneinander abgesetzt bzw. miteinander verknüpft sind - dies umso mehr, als lesefreundliche Layout-Techniken (Absätze, Zwischentitel, Hervorhebung von Initialen etc.) erst im Mittelalter aufkamen (hierzu Frank 1994). In der Antike hingegen herrschte Scriptio Continua vor, d.h. man schrieb Fließtext von links nach rechts (ursprünglich sogar von links nach rechts und in der nächsten Zeile von rechts nach links) und machte dabei nicht einmal Abstände („Spatien“ < von lat. spatium ‚Raum’; vgl. fr. espace) zwischen den Wörtern, von Interpunktion ganz zu schweigen. Da das Layout also nichts zur Sichtbarmachung der Textteile beitrug, musste alles über sprachlich segmentierbare Mittel abgedeckt werden. Hierzu diente ein hochgradig differenziertes System von Konnektoren, das den Text deiktisch 38 strukturierte: Die Transparenz der temporalen Deixis wurde durch gliedernde Adverbien (z.B. primum - deinde - tum ‚zuerst - anschließend - zuletzt’), einfaches Durchnummerieren (primum - iterum - tertium - quartum … ‚1. - 2. - 3. - 4.’) und durch das strenge Einhalten bestimmter Regeln der Tempusverwendung (z.B. zu Zeitverhältnissen) gewährleistet. Da es keinen vollständigen Satz ohne irgendeine Tempusmarkierung am Verb gibt, egal ob dieses finit oder infinit ist, weiß man immer, ob man sich im Verhältnis zum letztgenannten Verb in der Vor-, Nach- oder Gleichzeitigkeit befindet. Hinweise zur lokalen Deixis erfolgten über lokale Präpositionen und Adverbien (z.B. hic - ibi - alibi: 39 ‚hier - dort - anderswo’), aber auch durch Demonstrativpronomina, die klar zwischen verschiedenen Räumen differenzierten. Der Begriff „Raum“ bezieht sich dabei sowohl auf die Außenwelt als auch auf den Text als räumliche Größe. So kann z.B. ille mons ‚jener Berg da hinten am Horizont’ bedeuten oder auch ‚jener Berg, von dem ich in diesem Text schon in einer weiter zurückliegenden Passage gesprochen habe’. Pronomina können also anaphorisch (nach hinten verweisend) oder kataphorisch (nach vorne verweisend, z.B. is qui: ‚derjenige, der …’) verwendet werden. Aber nicht nur Demonstrativa, sondern auch Relativpronomina können bei ihren Verweisen 38 „Deixis“ (von gr. deíknymi - ‚zeigen’) wird zumeist als ‚Zeigfeld’ übersetzt. Es geht also darum, im Text nach vorne, nach hinten etc. zu verweisen. 39 Im Deutschen war also ein Tatverdächtiger mit „Alibi“ zur Tatzeit anderswo. <?page no="222"?> Syntax 222 die Satzgrenze überspringen, wie wir am Beispiel des relativischen Satzanschlusses gesehen haben (vgl. quam ob rem ‚wegen dieser Sache’). Auch die personale Deixis wird über ein hoch differenziertes System von Pronomina zum Ausdruck gebracht. Hierzu gehören neben den schon erwähnten Demonstrativa (hic - iste - ille: ‚dieser hier - dieser da - dieser dort’) und den üblichen Personalpronomina vor allem ein üppiges Angebot an Indefinitpronomina, die die Wirklichkeit genauer strukturieren, als dies unsere modernen Artikel können, die ja nur zwischen ‚bestimmt’ und ‚unbestimmt’ unterscheiden. Vgl. z.B. quisque ‚jeder einzelne’, quivis ‚jeder beliebige’, quidam ‚ein gewisser’, quis ‚irgendeiner’, aliquis ‚irgendeiner mit einem gewissen Gewicht’. Hinzu kommen Korrelativpronomina, die die Beziehungen innerhalb eines Textes hervorheben: z.B. talis - qualis (‚ein solcher - wie’), tantus - quantus (‚ein so großer - wie’), tot - quot (‚so viele - wie’). 5.3.2 Vulgär- und Spätlatein Wie wir bereits gesehen haben, wird das System der klassischen Konnektoren im Vulgär- und Spätlatein deutlich vereinfacht oder weniger streng eingehalten (z.B. bei den Tempora). Es bietet also weniger Differenzierungsmöglichkeiten. Dadurch, dass sich die Wortstellung innerhalb der Satzgrenzen zunehmend festigt, bleiben die Texte dennoch klar. Sie wirken allerdings von der Struktur her oft deutlich schlichter als im Klassischen Latein. Besonders deutlich wird das im Bibellatein, wo als Textgliederungspartikel überwiegend die beiordnenden Konjunktionen et und -que sowie das Adverb tunc (‚dann’) verwendet werden. Das Ganze erinnert von der Satzverknüpfung her ein wenig an Grundschulaufsätze: Tunc Jesus ductus est in desertum a Spiritu, ut tentaretur a diabolo. Et cum jejunasset quadraginta diebus, et quadraginta noctibus, postea esuriit. Et accedens tentator dixit ei : Si filius Dei es, dic ut lapides isti panes fiant (Mt. 4,1-3) Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er vom Teufel versucht würde. Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, danach hatte er Hunger. Und der hinzutretende Versucher sagte zu ihm: Wenn du der Sohn Gottes bist, sag, dass die Steine zu Brot werden sollen.’ (Übers. JML) Dieser Bibelstil wurde in zahlreichen christlichen Texten kopiert, u.a. auch in mittelalterlichen Heiligenviten und Legenden (hierzu Riehl 1993). Im Mittelalter entwickelte sich dann zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass man die Textgestalt für die pragmatischen Ziele eines Textes nutzen kann. Während alltägliche Gebrauchstexte (Notizen, Entwürfe) optisch meist anspruchslos gestaltet blieben, stattete man „wissenschaftliche“ Texte, die zur mehrmaligen Leserezeption vorgesehen waren, mit optischen Hilfen wie tabellarischen Inhaltsverzeichnissen oder unterschiedlichen Schriftarten aus. Diese Gestaltung ermöglichte ein gezieltes Springen im Text, unabhängig von der linearen Leserichtung. Texte, die für eine mündliche Rezeption (lautes Vorlesen oder Vorsingen) gedacht waren, orientierten sich an den Bedürfnissen des Vorlesers, offerierten also z.B. Lesezeichen oder eine Hervorhebung bestimmter <?page no="223"?> Textsyntax 223 Vorleseabschnitte durch kunstvoll verzierte Initialen (‚Anfangsbuchstaben’), (Frank 1994: 191f). Im Spätmittelalter glichen einzelne Lehrbücher von der Textgestaltung her durchaus schon unseren heutigen Lehrwerken, wie die folgende Seite der sog. „Seligenstädter Lateinpädagogik“ aus dem 15.Jh. zeigt, in der unter dem Kapitel „Verbum“ die Form und Verwendung der drei Tempora Präsens, Perfekt und Futur am Beispiel des Verbs portare erläutert werden: Abb. 32: Seligenstädter Lateinpädagogik (aus Bodemann 1997: 42) <?page no="224"?> Syntax 224 5.4 Zusammenfassung und Literaturangaben Zusammenfassung Die klassisch lateinische Syntax schöpft die Möglichkeiten des reichhaltigen morphologischen Angebots voll aus. Die Einhaltung strenger Regeln der Kongruenz zusammengehöriger Elemente, der Zeitenfolge und der räumlichen und personalen Deixis macht es trotz freier Wortfolge möglich, die mikrostrukturellen Beziehungen innerhalb eines Textes auch weit über die Satzgrenze hinaus zu erkennen. Im Vulgär- und Spätlatein werden diese - im Prinzip noch bestehenden - Möglichkeiten nur eingeschränkt genutzt. Bestimmte Konnektoren werden beispielsweise anderen deutlich vorgezogen. Außerdem werden die genannten Beziehungsregeln nicht mehr in aller Strenge verfolgt. Dieser Verlust an Eindeutigkeit wird durch eine weniger freie Wortstellung und tendenziell weniger komplexe Satzgefüge kompensiert. Literaturempfehlungen: Zur Syntax des Klassischen Lateins: Throm (1995) und Rubenbauer et al. (1995); als wissenschaftliche Referenzgrammatik: Kühner/ Stegmann (1982) und Hofmann/ Szantyr (1997). Zur Syntax des Vulgärlateins: Väänänen (1981: 149ff) und Kiesler (2006: 65ff). Zu absoluten Konstruktionen im Lateinischen und in den rom. Sprachen: Müller-Lancé (1994); zum Layout mittelalterlicher Texte: Frank (1994; mit vielen Abbildungen). 5.5 Übungen a) Analysieren Sie die ersten Verse von Vergils Aeneis aus syntaktischer Sicht (s. S.181): Bestimmen Sie den Hauptsatz, Gliedsätze, satzwertige Konstruktionen und die einzelnen Satzglieder. b) Identifizieren Sie die Art der satzwertigen Konstruktionen, die in die folgenden Sätze eingebettet sind, und versuchen Sie, jeweils den ganzen Satz zu übersetzen: 1 Marcus putabatur stilos cepisse. 2 proelio perfecto Galli se receperunt. 3 discipulos legere libros oportet. 4 equos a Romanis relictos Galli invenerunt. c) Formen Sie die folgenden AcI-Konstruktionen zu NcI-Konstruktionen um: 1 Paulam pontem transgredi videmus. 2 magistros multum legisse putavimus. d) Vergleichen Sie den folgenden Textauszug zum Turmbau zu Babel (Genesis 11,1-4) mit den romanischen Übersetzungen: Woran lässt sich syntaktisch jeweils der Bibelstil festmachen? Wo wird in der Übersetzung von der lateinischen Syntax abgewichen? Formen Sie die Inter- <?page no="225"?> Weiterführende Aufgaben 225 linearversion in sauberes Deutsch um und orientieren Sie sich dabei am lateinischen Text (Texte und Interlinearversion nach Pöckl/ Rainer/ Pöll 2003; in der Interlinearversion sind die Kasus der Nomina durch ihre Anfangsbuchstaben markiert . Erat autem terra labii unius, et sermonum eorundem. Es-war aber Erde-Nom Lippe-Gen eine-Gen und Redeweisen-Gen gleiche-Gen Cumque proficiscerentur de oriente, invenerunt campum in terra Als-und sie-brachen-auf von Orient-Abl sie fanden Feld-Akk in Land-Abl Sennaar, et habitaverunt in eo. Dixitque alter ad proximum suum: Sinear und sie-wohnten in ihm. Sagte-und einer-Nom zu nächster-Akk sein-Akk Venite, faciamus lateres, et coquamus eos igni. Kommt machen-wir Ziegel-Akk und brennen-wir sie-Akk Feuer-Abl Fr.: Toute la terre avait une seule langue et les mêmes mots. Comme ils étaient partis de l’orient, ils trouvèrent une plaine au pays de Schinear, et ils y habitèrent. Ils se dirent l’un à l’autre : Allons ! faisons des briques, et cuisons-les au feu. It.: Or tutta la terra fu un labbro solo e gesta uguali. E avvenne, nel loro vagare dalla parte d’Oriente, che gli uomini trovarono una pianura, nel paese di Sin’ar e vi si stabilirono. E si dissero l’un l’altro. „Orsù ! Facciamoci dei mattoni, e poi cuociamoli al fuoco“. Sp.: Era entonces toda la tierra de una lengua y unas mismas palabras. Y aconteció que, como se partieron de oriente, hallaron una vega en la tierra de Sinaar, y asentaron allí. Y dijeron los unos a los otros : Vaya, hagamos ladrillo y cozámoslo con fuego. 5.6 Weiterführende Aufgaben a Recherchieren Sie, wie Tesnière die Verknüpfung von Sätzen in seiner Syntaxe structurale darstellt. b Welche Segmente unterscheidet Raible (1992 auf seiner Junktionsskala? Geben Sie jeweils selbst gewählte romanische Beispiele dazu. c Stellen Sie anhand von Müller-Lancé (1994: 72ff kurz dar, inwiefern sich die Satzwertigkeit absoluter Konstruktionen auf einer Skala zwischen Adverbialsatz und Adverb bewegt. d Erläutern Sie auf der Basis von Kiesler (2006: 72ff und Väänänen (1981: 161ff , wie sich die Universalkonjunktion que nach herrschender Meinung herausgebildet hat und in welchen Punkten noch Unklarheit besteht. <?page no="226"?> 6 Wortschatz Zunächst sei vorausgeschickt, dass das vorliegende Buch nicht das Ziel verfolgt, systematisch den wichtigsten lateinischen Wortschatz zu vermitteln. Es geht vielmehr darum, exemplarisch Eigenheiten des klassischen und vulgärbzw. spätlateinischen Wortschatzes zu vermitteln, die Auswirkungen auf den Wortschatz der romanischen Sprachen hatten. Dennoch sollen in den meisten Abschnitten dieses Kapitels Klassisches und Vulgär- und Spätlatein gemeinsam behandelt werden. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen gibt es sprachliche Universalien, die den Bereich des Wortschatzes betreffen und damit für Klassisches und Vulgär- und Spätlatein gleichermaßen Geltung haben. Hierzu gehört die Tatsache, dass die meisten und kurzfristigsten sprachlichen Innovationen im Wortschatz stattfinden, einfach deshalb, weil neue Gegenstände nach neuen Bezeichnungen verlangen. Es geht also um den Ausbau des Wortschatzes. Ein typisches Beispiel hierfür sind fremdsprachliche Entlehnungen. Zum anderen nutzen Klassisches und Vulgär- und Spätlatein weitgehend dieselben Techniken der Wortbildung. Dies betrifft die Komposition ebenso wie die Derivation. 6.1 Gemeinlateinischer Ausbau des Wortschatzes 6.1.1 Fremdsprachliche Entlehnungen Die mit Abstand meisten Entlehnungen im Lateinischen stammen aus dem Griechischen. Solche Gräzismen finden wir sowohl im Klassischen Latein (z.B. rhetorica: ‚Rhetorik’) als auch im Vulgär- und Spätlatein (z.B. baptizare: ‚taufen’). Nur stammen die einen eher aus dem Bereich der „heidnisch“-griechischen Bildungswelt, die anderen verstärkt aus dem volkstümlichen Christentum und sind entsprechend jüngeren Datums. Für die Überlieferung in den romanischen Sprachen spielt dieser Unterschied keine Rolle: Hier findet sich z.B. fr. rhétorique friedlich vereint neben baptiser im Wörterbuch (zu den Gräzismen ausführlich Kiesler 2006: 89ff). Naturgemäß tauchen auch Keltismen und Germanismen erst in späteren lateinischen Epochen auf, als nämlich durch die römische Expansion Kontakt mit eben diesen Völkern entstand. Anders als bei den Griechen war dieser Kontakt aber überwiegend kriegerischer Natur. Die Entlehnungen waren daher nicht nur seltener, sondern wurden auch überwiegend von Soldaten getätigt und hatten es entsprechend schwer, ins Klassische Latein vorzudringen. Solche Keltismen sind carrus ‚vierrädriger Wagen’ (> sp./ it. carro, fr. char), cerevisia ‚Bier’ (> sp. cerveza), braca ‚Hose’ (> fr. braie, sp. bragas) und camisia ‚Hemd’ (> sp. camisa, it. camicia, fr. chemise). Noch seltener und jünger sind Germanismen wie burgus ‚befestigte Ortschaft’ (vgl. fr. ribourg, dt. reiburg). <?page no="227"?> Tendenzen im Vulgär- und Spätlatein 227 6.1.2 Wortbildung 1 Die Prinzipien der Wortbildung sind in Kap. 4.2 bereits ausführlich behandelt worden. Zur Komposition ist aus Sicht des Gesamtwortschatzes nachzutragen, dass die „echte“ Komposition, also die Zusammensetzung zweier Substantive mit gleichem Kasus, im Lateinischen generell sehr selten ist. Meist spürt man noch durch, dass eines der Kompositionsglieder ein ehemaliges Substantiv als Genitiv- Attribut ist (z.B. parricida ‚Vatermörder’ < patris-cida ‚des Vaters Mörder’; aquaeductus ‚Aquaedukt’ bzw. wörtl. ‚des Wassers Führung’). Im Vulgärlatein ist der „echte“ Kompositionstyp zwar geringfügig häufiger, aber vorwiegend bei der Zusammensetzung von Adjektiven, vgl. stultiloquus ‚Dummschwätzer’ (< stultus, 3 ‚dumm’ + loquus, 3 ‚sprechend’) und caldicerebrius ‚hitzköpfig’ (calidus, 3 ‚heiß’ + cerebrius, 3 ‚hirnig’ von cerebrum ‚Gehirn’). Insgesamt bleibt echte Komposition im Lateinischen jedoch selten. Entsprechend verzeichnen wir auch in den romanischen Sprachen bis heute deutlich weniger echte Kompositionsphänomene als in den germanischen Sprachen: vgl. dt. Apfelbaum, eng. apple tree vs. fr. pommier, sp. manzano, it. melo. Ein generell beliebter und besonders im Vulgärlatein hochfrequenter Kompositionstyp hingegen ist die Zusammensetzung eines Präfixes mit einem anderen Lexem, die in Kap. 4.2.3 ausführlich behandelt wurde: z.B. vlat. com-edĕre ‚miteinander-essen’ (> sp. comer). Auch die Derivation, wie wir sie am Beispiel der Verba inchoativa (florēre => flore-scĕre ‚erblühen’) und intensiva (canĕre/ cantus => cantare ‚laut singen’) kennengelernt haben (vgl. Kap.4.2.2), ist in allen Registern und Sprachepochen präsent. Bei den Nomina gilt dies beispielsweise auch für die abgeleiteten Deminutiva (z.B. frater > fratellus ‚Brüderchen’). 6.2 Tendenzen im Vulgär- und Spätlatein 6.2.1 Bevorzugung bestimmter Wortbildungsmuster Das Vulgärlatein ist ausgesprochen produktiv im Wortbildungssektor. Die meisten dieser Wortbildungselemente und -verfahren kennt man aber auch aus dem Klassischen Latein, 2 nur eben mit anderen Lexemen. Der Unterschied ist im Bereich der Wortbildung also weniger qualitativer als quantitativer Art: In den volkstümlichen Registern werden nämlich Komposita, Verba intensiva und Deminutiva ihren Ausgangswörtern gegenüber häufig bevorzugt. Dies gilt auch dann, wenn das jeweilige Simplex im klassischen Wortschatz hochfrequent war, wie z.B. im Falle von putare ‚vermuten’, das selbst untergegangen ist, während sich seine Komposita computare (‚zusammenrechnen’) und amputare (‚beschnei- 1 Beispiele nach Väänänen (1981: 84ff). 2 Vorwiegend im Vulgärlatein anzutreffende Derivationssuffixe sind dagegen z.B. -o/ -onis und -aster/ -astra/ -astrum: vgl. strabo ‚Schieler’ < strabus, 3 ‚schielend’; filiastra ‚Schwiegertochter’ < filia, -ae, f ‚Tochter’ (Väänänen 1981: 88f). <?page no="228"?> Wortschatz 228 den’) sowohl in den romanischen Sprachen wie auch im Deutschen und Englischen (computer, amputation) erhalten konnten. Ein kleiner Wesensunterschied ergibt sich aus diesen Verschiebungen aber doch: Mit der Generalisierung im Vulgärlatein verlieren diese Bildungen zumeist ihre Sonderbedeutung, es findet also ein Bedeutungswandel statt. So bedeutet das ehemalige Verbum Intensivum cantare im Vulgärlatein nur noch ‚singen’ (vgl. fr. chanter, sp. cantar, it. cantare), das Kompositum comedĕre nur noch ‚essen’ (vgl. sp. comer) und der Deminutiv fratellus nur noch ‚Bruder’ (vgl. it. fratello). Diese Kette lässt sich beliebig fortsetzen: Gern zitierte Beispiele sind die Intensiva natare statt nare ‚schwimmen’ (vgl. sp. nadar, it. nuotare, fr. nager) und adiutare statt (ad-)iuvare ‚helfen’ (vgl. frz. aider, sp. ayudar, it. aiutare), oder auch die Deminutiva auricula statt auris ‚Ohr’ (vgl. sp. oreja, fr. oreille, it. orecchia) und vetulus statt vetus ‚alt’ (vgl. sp. viejo, fr. vieux/ vieil, it. vecchio). Den Deminutiva wird darüber hinaus eine affektische Konnotation zugeschrieben: Sie übertragen also neben der rein lexikalischen Information z.B. eine Atmosphäre der Intimität oder Herzlichkeit. Wir kennen dieses Phänomen aus dem Schwäbischen, wo beispielsweise die deminutivische Formulierung „Gut’s Nächtle! “ keinesfalls bedeutet, dass die Nacht kurz werden wird. In Abhängigkeit von der Frage, inwieweit aus den Techniken der Wortschatzerweiterung Wortartwechsel und Bedeutungsveränderungen erfolgten, unterscheidet Kiesler (2006: 84f) fünf typische vulgärlateinische Entwicklungen: • Erweiterungen ohne Wortartwechsel oder Bedeutungsveränderung wie z.B. die aus den klassischen Bestandteilen cum ‚mit’ + initiare ‚anfangen’ erstellte Komposition *cuminitiare > it. cominciare, sp. comenzar, fr. commencer. Entsprechendes gilt für vulgärlateinische Derivationen wie *parescĕre (von klat. parēre ‚scheinen’), das zu sp. parecer und fr. paraître wird, oder auch für Intensivbildungen wie *oblitare (von klat. oblivisci/ oblitus ‚vergessen’), das in sp. olvidar und fr. oublier erhalten ist. • Derivationen mit Wortartwechsel: so z.B. vom klassischen Substantiv passus ‚Schritt’ zum vlat. Verb *passare ‚überschreiten, vorübergehen’ (> it. passare, fr. passer, sp. pasar) oder vom Gräzismus parabola ‚Rede, Gleichnis’ zum vlat. Verb parabolare ‚sprechen’ (> it. parlare, fr. parler). • Zusammensetzungen, aus denen neue Bedeutungen erwachsen: z.B. cum ‚mit’ + panis ‚Brot’ > vlat. companio ‚Gefährte’, also wörtl. ‚Brotgenosse’; vgl. fr. compagnon, it. compagno, sp. compañero. • Elliptische Bildungen, bei denen zumeist ein Adjektiv zum Substantiv wird: So entsteht aus medius (dies) ‚Mittag’ fr. midi, aus (via) strata ‚gepflasterte Straße’ it. strada, aus (caseus) formaticus ‚geformter Käse’ it. formaggio und fr. fromage sowie aus (hora) sexta ‚sechste Stunde’ die spanische siesta. • Onomatopoetika, also lautmalerische Wortbildungen, wie es sie in allen Sprachen der Welt gibt. Besonders gut erhalten hat sich das vom Klopfgeräusch [toktok] abgeleitete vlat. Verb *toccare ‚schlagen, klopfen’, das sich semantisch zu ‚berühren’ weiterentwickelt und das klassische Wort tangĕre verdrängt hat (vgl. it. toccare, sp. tocar, fr. toucher). <?page no="229"?> Tendenzen im Vulgär- und Spätlatein 229 6.2.2 Tendenz zu „Lautstärke“ und Regelmäßigkeit All die oben genannten Zusammensetzungen und Ableitungen haben zwei pragmatische Vorteile, die sie für die gesprochene Sprache, also das Vulgärlatein, prädestinieren: Zum einen sind sie durch ihre größere Länge lautstärker, bieten also den phonetisch-morphologischen Reduktionstendenzen mehr Widerstand, zum anderen sind sie morphologisch regelmäßiger, also leichter zu lernen (z.B. a-Konjug. statt kons. Konjug.; a-/ o-Dekl. statt kons. Dekl.). Wenn man bedenkt, wie viele Menschen wegen der permanenten Expansion des Römischen Reiches Latein als Zweitsprache erworben haben, bieten diese Bildungen enorme Vorteile. Dies gilt bis heute: So fällt beispielsweise auf, dass Ausländer in Württemberg sehr gerne auf die dort verbreiteten Deminutiva zurückgreifen. Hier gibt es weder Probleme mit dem Genus, noch mit der Wortendung: vgl. dt. die Nacht, der Hase, das Bier vs. schwäbisch das Nächtle, das Häsle, das Bierle. Daneben gibt es auch Fälle, in denen lautstärkere bedeutungsähnliche Wörter konkurrierenden Wörtern mit anderen Lexemstämmen vorgezogen werden. So verdrängt beispielsweise homo (‚Mensch’) den lautschwachen Ausdruck vir (‚Mann’) und übernimmt beide Bedeutungen, also zugleich ‚Mensch’ und ‚Mann’ - vgl. fr. homme, sp. hombre (beide vom Akk. hominem), it. uomo (vom Nom. homo). Entsprechendes gilt für klat. os, oris, n ‚Mund’, das wegen seiner Kürze und der Ähnlichkeit mit os, ossis, n ‚Knochen’ und ora, ae, f (Abl. Pl. oris) ‚Küste’ im Vulgärlatein durch bucca ‚Backe’ ersetzt wird (vgl. sp. boca, fr. bouche, it. bocca). 3 Aus romanistischer Sicht besonders interessant ist die partielle Verdrängung von ire ‚gehen’ durch lautstärkeres vadĕre: Hier entsteht, ähnlich wie wir es schon beim Hilfsverb esse kennengelernt haben, ein Synkretismus aus den Formen dreier Verben, wobei die Domäne von vadĕre jeweils das Präsens ist: Im Spanischen entsteht das Formenparadigma des Verbs ir, in dem das Präsens, außer dem Infinitiv, von lat. vadĕre her gebildet wird (Ind. voy, Konj. vaya), das Imperfekt, Futur I und Konditional von lat. ire aus (iba, iré, iría) und die Formen des Perfektstamms (Präteritum, Konj. Impf. und Konj. Fut.) von lat. esse aus (fui, fuera, fuere/ fuese). Im Französischen kommt als drittes Verb die auf klat. ambulare ‚spazieren gehen’ zurückgehende vulgärlateinische Kontraktion *amblare hinzu, die den Infinitiv fr. aller und einige weitere Formen bildet (vgl. Prs. je vais vs. nous allons, Impf. j’allais, Fut.I: j’irai, Kond. j’irais). Im Italienischen hat sich ire als defektives Verb im literarischen Sprachgebrauch halten können (erhalten sind z.B. im Präsens ite, im Passato Remoto isti und irono sowie einige Futurformen). Ansonsten wurde ire aber von it. andare verdrängt, das auf vlat. *ambitare 4 3 Die italienische Spezialität Saltimbocca lässt sich also ohne weiteres aus ihren lateinischen Ingredienzien erklären (lat. salta in buccam ‚spring in den Mund’), auch wenn diese mit den kulinarischen Ingredienzien (Kalbsschnitzel, Schinken, Salbei) herzlich wenig zu tun haben. 4 *ambitare ist eine Komposition aus ambo ‚beide’ und dem Verbum Intensivum von ire: itare. Die Bedeutung wird als ‚zwischen beiden Seiten hin- und hergehen’ rekonstruiert. Dies tat man z.B., wenn man vor Wahlen im Senat zwischen den beiden einander gegenüberliegenden Sitztribünen hin und her lief, um sich Stimmen zu sichern. Entsprechend belegt sind die Substantivbildung ambitio ‚Ehrgeiz’ (> fr. ambition, sp. ambición, it. ambizione) und die Adjektivbildung ambitiosus ‚ehrgeizig’ (> fr. ambitieux, sp. ambicioso, it. ambizioso). <?page no="230"?> Wortschatz 230 zurückgeht und sich das Formenparadigma mit den Abkömmlingen von lat. vadĕre teilt: z.B. im Präsens Sg. vado, vai vs. Pl. andiamo, andate. 6.2.3 Tendenz zu Eindeutigkeit und Konkretheit Ein weiterer Wesenszug des Vulgär- und Spätlateins besteht im Streben nach Eindeutigkeit und Konkretheit. So wird ein unregelmäßiges Verb wie klat. edĕre ‚essen’, das einige Formen mit esse ‚sein’ gemeinsam hat (ähnlich wie im Deutschen: est = ‚er isst/ er ist’), schon allein deshalb durch die oben genannte Komposition comedĕre oder durch einen konkreteren Ausdruck wie manducare (ursprüngl. ‚kauen’) verdrängt (vgl. it. mangiare, fr. manger), damit Verwechslungen vermieden werden. Dieser Trend zur Vermeidung von Vieldeutigkeit bedeutet nicht unbedingt eine Steigerung der lexikalischen Präzision. Im Gegenteil: Ein typischer Zug des Vulgärlateins ist gerade der Verzicht auf lexikalische Oppositionen (Stefenelli 1981: 48ff, vgl. Kiesler 2006: 82). Die Sprache wird dadurch weniger präzise, aber dem Lerner leichter zugänglich. So bestand im Klassischen Latein noch die Opposition zwischen alius ‚ein anderer’ und alter ‚der andere von zweien’; im Vulgärlatein wurde alius aufgegeben und alter übernahm beide Bedeutungsvarianten (vgl. it. altro, sp. otro, fr. autre). Entsprechendes gilt für die klassische Opposition patruus ‚Onkel väterlicherseits’ vs. avunculus ‚Onkel mütterlicherseits’, die im Vulgärlatein zugunsten eines verallgemeinerten avunculus ‚Onkel’ aufgegeben wurde, der nun in fr. oncle und dem hiervon entlehnten dt. Onkel weiterlebt. Die Entsprechungen sp. tío und it. zio hingegen gehen auf den spätlateinischen Gräzismus thius zurück (< gr. thêios ‚Onkel’) - aber auch hier wird nicht mehr zwischen dem Bruder des Vaters und dem Bruder der Mutter unterschieden. In die Kategorie der Vermeidung von Vieldeutigkeit kann man auch die Adverbbildung im Vulgärlatein einordnen: Die klassische Adverbbildung war bei ihrer Ableitung vom Adjektiv sehr heterogen. So nutzte man als Adverbmarker die Endung -ē bei Adjektiven der o/ a-Dekl. (z.B. iustus => iustē ‚gerecht’) und die Endung -ter bei allen anderen Deklinationen (z.B. fortis => fortiter ‚tapfer’; sapiens => sapienter ‚weise’). Dieses Verfahren hatte abgesehen von seiner Heterogenität auch noch den Nachteil, dass das Adverb in der o-Deklination mit dem Vokativ verwechselt werden konnte, der zwar ursprünglich auf -ĕ auslautete, was aber nach dem Quantitätenkollaps nicht mehr zu unterscheiden war. Entsprechend drängte eine analytische Kollokation an die Stelle des synthetisch gebildeten Adverbs: nämlich die ablativische Umschreibung mit dem bildhaften mente (von mens, mentis, f: ‚Verstand, Sinn’), also beispielsweise iusta mente (wörtl. ‚mit gerechtem Verstand’) an Stelle von iustē. Im Zuge der Verbreitung dieser Kollokation wurde mente semantisch zu ‚Art und Weise’ generalisiert und als neues Adverb-Suffix grammatikalisiert. Entsprechend finden wir diesen Adverbtyp heute in allen romanischen Sprachen wieder, vgl. fr. justement, sp. justamente, it. giustamente. <?page no="231"?> Tendenzen im Vulgär- und Spätlatein 231 Aufgrund solcher Entwicklungen liest man häufig vereinfachend, der vulgärlateinische Wortschatz sei konkret, der klassisch lateinische Wortschatz sei abstrakt. Diese Generalisierung ist allerdings mit Vorsicht zu genießen und rührt vor allem von den jeweils berücksichtigten Textsorten her. Natürlich finden sich in Ciceros philosophischen Schriften mehr Abstrakta als in Landwirtschaftsfachbüchern, die generell dem Vulgärlatein zugerechnet werden. Nimmt man aber Caesars Commentarii Belli Gallici als klassische Textgrundlage, dann wird deutlich, dass dieses Register durchaus sehr konkret werden kann: Wir lernen hier fachsprachliche Details über Ausrüstung (z.B. clipeus ‚Rundschild’ vs. scutum ‚Langschild’) und Formationen (z.B. agmen novissimum ‚Nachhut’, testudo ‚Schildkröte’). Umgekehrt ist in den volkssprachlichen Texten des Christentums von Abstrakta wie ‚Reue’ (paenitentia) und ‚Lossprechung’ (absolutio) die Rede. Dennoch kann man sicherlich sagen, dass sich volkssprachliche Sprecher bei Vorliegen zweier Varianten im Zweifel eher für den bildhafteren, konkreteren Ausdruck entscheiden, der dann in der Folge semantisch wieder ausgeweitet wird. So erklärt sich beispielsweise die Verdrängung von klassisch ignis (‚Feuer’) durch focus, das ursprünglich ‚Ofen’ bedeutete (vgl. it. fuoco, sp. fuego, fr. feu) und ebenso die Verdrängung von equus ‚Pferd’ durch das ursprüngliche ‚Lastpferd’ caballus (vgl. it. cavallo, sp. caballo, fr. cheval). Bei den Adjektiven haben formosus ‚schön an Gestalt’ und bellus ‚charmant, lieblich’ das neutralere pulcher ‚schön’ verdrängt (vgl. sp. hermoso, it. bello, fr. beau/ belle). Typisch für diese Art der Verdrängung ist auch die Bevorzugung von Fachwörtern: So tritt z.B. im Vulgärlatein der kulinarische Terminus ficatum ‚Leberpastete’ an die Stelle des allgemeineren iecur ‚Leber’ (> port. fígado, sp. hígado, it. fegato, kat. fetge, fr. foie), und der veterinärmedizinische Terminus camba bzw. gamba ‚Pfote/ Haxe eines Vierbeiners’ an die Stelle von crus ‚Unterschenkel/ Bein’ (> sp. gamba, fr. jambe) - ganz ähnlich, wie wir es aus der deutschen Umgangssprache kennen: vgl. „Nimm die Pfoten weg! “ oder „Er hat lange Haxen.“ Nicht das Lexemmaterial an sich ist also „vulgärlateinisch“, sondern der Bedeutungswandel, den es durchgemacht hat. Wie Konkretes abstrakt werden kann, haben wir im Deutschen der letzten 30 Jahre miterleben können: Das ursprünglich höchst konkrete Wort geil wurde im Zuge seiner Verbreitung semantisch immer allgemeiner, und kann heute alle Facetten von ‚sehr gut/ sehr schön’ abdecken (geile Klamotten, geiles Essen, geiles Wetter etc.). Bei geil ist allerdings - wenn auch immer weniger - die Registermarkierung noch deutlich spürbar. Wichtig für die Beurteilung des vulgärlateinischen Wortschatzes ist auch, dass in den seltensten Fällen ein einziger Grund ausreicht, um einen bestimmten Wandel zu erklären. So sind beispielsweise die genannten konkreteren Formen zugleich lautstärker und regelmäßiger (s.o.). 6.2.4 Innerlateinische Variation im Wortmaterial Die genannten Beobachtungen gelten häufig nicht für die Gesamtheit des romanisierten Territoriums. Der klassische Wortschatz war zwar durch die Verbreitung des schriftlichen Standards überall im Imperium weitgehend <?page no="232"?> Wortschatz 232 homogen - anders hätten Spanier und Afrikaner nicht Einzug in den klassischen Lektürekanon halten können -, der vulgärlateinische Wortschatz jedoch konnte von Region zu Region stark variieren: So finden wir beispielsweise in der schon sehr früh romanisierten Randromania älteres Wortmaterial als in der Zentralromania, die auch noch in späteren Phasen des Römischen Reiches intensiven Kontakt zur Hauptstadt Rom hielt. Die spanischen und portugiesischen Bezeichnungen für ‚Kopf’ (sp. cabeza, port. cabeça) gehen z.B. auf vlat. capitia zurück, das klat. caput verdrängt hatte. Die französische und italienische Entsprechung (fr. tête; it. testa) hingegen lassen sich auf das jüngere testa zurückführen, das klassisch einmal ‚Ziegelstein, Tonscherbe, Tonkrug’ bedeutet hatte. Entsprechendes gilt für sp. hablar und port. falar, die auf älteres und schon bei Plautus belegtes vlat. fabulare (ursprünglich: ‚plaudern’) zurückgehen, das das klassische Deponens loqui ‚sprechen’ verdrängt hatte, während fr. parler und it. parlare auf das dem Christenlatein entsprungene parabolare (‚in Gleichnissen sprechen’; vom Gräzismus parabola ‚Parabel, Gleichnis’) zurückgehen. Nach all dem Gesagten sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, nur vulgärlateinisches Wortgut habe sich in den romanischen Sprachen erhalten. Stefenelli (1991/ 1992) hat vielmehr nachweisen können, dass sich etwa die Hälfte der 1000 häufigsten Wörter des Klassischen Lateins als Erbwort oder Kultismus im Französischen wiederfindet - im Spanischen und Italienischen dürfte die Quote noch höher liegen (zu Erbwörtern, Kultismen und Semikultismen vgl. Kap.2.1.6). 6.3 Erklärungen für den lexikalischen Wandel 6.3.1 Metapher und Metonymie Wir haben gesehen, dass der wesentliche Unterschied zwischen dem klassischen und dem vulgär- und spätlateinischen Wortschatz weniger auf der formalen, als vielmehr auf der semantischen Seite besteht. Zumeist werden ja im Vulgärlatein Formen herangezogen, die auch im Klassischen Latein existieren, nur werden sie eben uminterpretiert. Warum vollzieht sich nun im Vulgär- und Spätlatein so viel semantischer Wandel? Im zurückliegenden Jahrhundert hat man dies oft mit der schlichten Geisteshaltung der „Vulgärlateiner“ erklärt, die zu Lautstärke, Konkretheit, Bildhaftigkeit und Affektgeladenheit tendiere, einfach weil ihr die leisen, komplexen und abstrakten Elemente intellektuell nicht zugänglich seien. Am deutlichsten bringt dies Vosslers Formulierung zum Ausdruck: „der Hochlateiner artikuliert, der Vulgärlateiner schreit“ (Vossler 1954: 208). Diese Hypothese fußte allerdings auf einem stark eingegrenzten Verständnis von Vulgärlatein, das die gesprochene Sprache der Unterschicht fokussierte. Mit der Ausdehnung des Vulgärlateinbegriffs auf die Nähesprache aller sozialen Schichten verliert dieser Erklärungsansatz entsprechend an Überzeugungskraft. <?page no="233"?> Erklärungen für den lexikalischen Wandel 233 Neuerdings versucht die kognitive historische Semantik Erklärungen dafür zu finden, warum bestimmte Konzepte 5 zur Findung neuer Bezeichnungen hinzugezogen werden oder warum vorhandene Konzepte abgewandelt werden. Hierbei wirken drei grundlegende Prinzipien menschlicher Wahrnehmung: die Kontiguität, die Similarität und der Kontrast. „Kontiguität“ bedeutet nichts anderes als ‚Nachbarschaftsbeziehung’ (von lat. contiguus ‚benachbart’) - hierdurch sind Elemente gekennzeichnet, die häufig miteinander auftreten, also typischerweise eine Szene bzw. einen Rahmen bilden können (engl. script oder frame; daher auch rame-Semantik). Ein solcher Rahmen ist z.B. eine Bushaltestelle; zugehörige Elemente sind die Wartenden, eine Sitzbank, ein Fahrplan, ein Fahrkartenautomat. „Similarität“ hingegen bedeutet ‚Ähnlichkeit’ (von lat. similis ‚gleich’). Formal ähnlich sind sich z.B. ein Schlauch und eine Schlange. Ein Kontrast wiederum besteht zwischen gegensätzlichen Konzepten, also Antonymen (‚schwarz/ weiß’; ‚alt/ jung’ etc.). Bei Assoziationstests zeigt sich, dass zumindest der muttersprachliche 6 Wortschatz eines Sprechers primär nach diesen Prinzipien organisiert ist. Auf ein bestimmtes Stimulus-Wort hin wird also üblicherweise mit einem anderen Wort reagiert, das entweder in Kontiguitäts- oder in Similaritätsbzw. Kontrastbeziehung zu diesem Wort steht. Nach Blank (2001: 71ff) läuft Bedeutungswandel in drei Stufen ab: • Assoziation: Der menschliche Geist stellt fest, dass zwei Konzepte in einer Similaritätsbeziehung (z.B. ‚Maus’ und ‚Computereingabegerät’) oder in einer Kontiguitätsbeziehung (z.B. ‚Fuß’ und ‚Bein’) stehen. • Innovation: Ein Sprecher überträgt erstmals die Bezeichnung des einen Konzepts auf das andere Konzept. Das Wort „Maus“ wird also auch für das Computergerät verwendet, das Wort „Fuß“ für das ganze Bein. Im Falle der Similaritätsbeziehung spricht man bei dieser Übertragung von einer „Metapher“ (‚Übertragung’), im Falle der Kontiguitätsbeziehung von „Metonymie“ (‚Umbenennung’). • Lexikalisierung: Andere Sprecher imitieren diesen Gebrauch, bis die neue Verwendung sich im Wortschatz der gesamten Sprechergemeinschaft wiederfindet. Dies kann sehr schnell gehen, wie im Falle der Computermaus, wenn eine technische Innovation nach einer neuen Bezeichnung verlangt, oder auch sehr langsam, wenn eigentlich kein Bedarf für eine neue Bezeichnung besteht. Letzteres gilt z.B. im Falle des schwäbischen Fußes, der bekanntlich bis zur Hüfte geht. Auf diese Weise lassen sich fast alle schon angesprochenen Phänomene des lateinisch-romanischen Bedeutungswandels erklären. Nur ein paar Beispiele: 5 „Konzept“ nennt man in der Kognitiven Linguistik eine bildhafte Vorstellung von einem Gegenstand oder Sachverhalt - oder anders ausgedrückt: eine übereinzelsprachliche Bedeutung. Man spricht auch von „mentalen Repräsentationen“ der Außenwelt im menschlichen Geist. 6 Zum Unterschied zwischen muttersprachlichem und fremdsprachlichem Assoziieren vgl. Müller-Lancé (2003: 116ff und 355ff). <?page no="234"?> Wortschatz 234 Metaphern: Lat. testa (‚Tonkrug’) steht in einer Similaritätsbeziehung zu caput (‚Kopf’). Die typischen römischen Krüge haben nämlich links und rechts zwei hochkant angebrachte Henkel, die an abstehende Ohren erinnern. Die Übertragung erinnert also an das Deutsche, wo der Ausdruck „Birne“ gerne scherzhaft für das Konzept ‚Kopf’ verwendet wird. Durchgesetzt hat sich der neue Ausdruck in frz. tête und it. testa. Die Kniescheibe (lat. patella) erinnert formal an ein kleines Rad (lat. rotula < Deminutiv von rota ‚Rad’). Zu rotula entstand eine vulgärlateinische Variante rotella, die die ursprüngliche Bezeichnung der Kniescheibe allmählich verdrängte. Im Altspanischen steht das hiervon abstammende rodilla nur noch für die Kniescheibe, im Neuspanischen dann verallgemeinernd für das ganze Knie. Metonymien: Die Konzepte von lat. focus (‚Ofen’) und ignis (‚Feuer’) stehen in einer Kontiguitätsbeziehung - vor Einführung der elektrischen Einbauküche befand sich ja im Ofen sinnvollerweise Feuer. Man könnte auch von einer „Ganzes-Teil- Beziehung“ sprechen, denn das Feuer ist Teil des Ofens. Wegen dieser Beziehung lag es nahe, die Bezeichnung des Konzepts ‚Ofen’ auf das Konzept ‚Feuer’ zu übertragen. „Brandspuren“ dieser Übertragung finden wir noch heute in den romanischen Sprachen: it. fuoco, sp. fuego, fr. feu. Andere im Bedeutungswandel wirksame Kontiguitätsbeziehungen sind z.B. Genus - Spezies, Handelnder - Handlung, Ursache - Folge etc. und jeweils umgekehrt. In unmittelbarer Nachbarschaft der Hüfte (lat. coxa) befindet sich der Oberschenkel (lat. femur). Das Wort femur aber war sehr unhandlich, da es keine einheitliche Deklination aufwies: Es existierte eine Formenreihe, die auf dem Genitiv feminis aufbaute und damit Verwechslungen mit femina (‚Frau’ - Abl.Pl. feminis) provozierte, und eine weitere Reihe, die sich von der alternativen Genitivform femoris ableitete. Es war also deutlich bequemer, den Ausdruck für das Nachbarkonzept ‚Hüfte’ auch für den Oberschenkel zu verwenden. Aus dieser Verwendung von coxa ist fr. cuisse (‚Oberschenkel’) hervorgegangen. Metaphern und Metonymien erklären die Ursachen von Bedeutungswandel. Man kann die Arten von Bedeutungswandel aber auch vom Ergebnis her typologisieren. Bei diesen Kategorien spielt es dann keine entscheidende Rolle, ob der Bedeutungswandel von Similaritäts- oder Kontiguitätsbeziehungen ausgelöst wurde. Die beiden wichtigsten Typen von Bedeutungswandel aus ergebnisbezogener Sicht sind die Bedeutungsverengung und die Bedeutungserweiterung: Bedeutungsverengung („Spezialisierung“) liegt vor, wenn ein ursprünglich weites Konzept in seinem Bedeutungsgehalt eingegrenzt wird, vgl. z.B. lat. collocare ‚hinsetzen, hinlegen’ > fr. coucher ‚zum Schlafen hinlegen’; lat. materia ‚Baumaterial’ > sp. madera ‚Holz’; pullus ‚Tierjunges’ > it. pollo, sp. pollo, fr. poulet ‚Hähnchen’. Bedeutungserweiterung („Generalisierung“) ist der umgekehrte Vorgang: ein spezielleres Konzept wird in seinem Geltungsbereich erweitert, vgl. laxare <?page no="235"?> Erklärungen für den lexikalischen Wandel 235 ‚lockern’ > fr. laisser ‚lassen’; lat. sedēre ‚sitzen’ > sp. ser ‚sein’; lat. stare ‚stehen’ > it. stare ‚sein’. Wie unmarkiertes Wortmaterial bildhaft verwendet und damit schließlich doch volkssprachlich markiert wird, zeigt der folgende Auszug aus der Cena Trimalchionis (‚Gastmahl bei Trimalchio’), dem berühmtesten Abschnitt in Petrons Roman Satyrica. Wir werden Zeuge eines Tischgesprächs, bei dem ein Freigelassener einem anderem von seinem Sohn vorschwärmt (Sat. 46,5-7): (5) ceterum iam Graeculis calcem impingit et Latinas coepit non male appetere, etiam si magister eius sibi placens fit nec uno loco consistit. scit quidem litteras, sed non vult laborare. (6) est et alter non quidem doctus, sed curiosus, qui plus docet quam scit. itaque feriatis diebus solet domum venire, et quicquid dederis, contentus est. (7) emi ergo nunc puero aliquot libra rubricata, quia volo illum ad domusionem aliquid de iure gustare. habet haec res panem. nam litteris satis inquinatus est. ‚(5) Übrigens hat er schon im Griechischen einen Anlauf genommen und ist fürs erste nicht schlecht hinter dem Latein her, obschon sein Lehrer sich etwas einzubilden beginnt und nicht bei der Stange bleibt; er hat zwar seine Weisheit studiert, will sich aber nicht plagen. (6) Es ist noch ein anderer da, nicht gerade gelehrt, aber genau, einer der mehr beibringt, als er weiß. So kommt er gewöhnlich an den Feiertagen ins Haus, und was man ihm gibt, er ist mit allem zufrieden. (7) Also habe ich jetzt dem Jungen ein paar Büchers mit roten Paragraphen gekauft, weil ich will, dass er für den Hausgebrauch ein bißchen am Jus knabbert. Damit kommt man durchs Leben. Denn mit Bildung ist er schon genug bekleckst.’ (Text und Übersetzung nach Müller/ Ehlers 1983: 87f) Der Text bietet nicht nur Einblick in die Universalien der väterlichen Psyche (4 Axiome: „1. Mein Sohn ist toll. 2. Wenn nicht, dann ist der Lehrer schuld. 3. Geistige Bildung schadet nicht. 4. Jura ist aber was Handfesteres.“) und in die Schlichtheit des vulgärlateinischen Satzbaus, sondern auch in die Möglichkeiten der Wortwahl (im Text jeweils unterstrichen). Diese betreffen zum einen morphologische Normverstöße (z.B. Akk.Pl. libra statt klat. libros => daher mit ‚Büchers’ übersetzt) und vulgärsprachliche Derivationen (z.B. domusio ‚Hausgebrauch’, abgeleitet von domus ‚Haus’), zum anderen den Gebrauch von Metaphern. Zu nennen wäre calcem impingĕre (wörtl. ‚die Ferse hineintreten’) für ‚mit etwas anfangen’, gustare (wörtl. ‚kosten, schmecken’) für ‚probieren’, panem habēre (wörtl. ‚Brot haben’) für ‚Ertrag bringen, eine Zukunft haben’ und schließlich inquinari (wörtl. ‚beschmutzt werden’) für ‚etwas abbekommen’. Dass auch diese Metaphern offensichtlich auf Universalien der menschlichen Wahrnehmung beruhen, zeigt die Tatsache, dass sie sich durchweg ohne Probleme ins Deutsche übertragen lassen. 6.3.2 Durchsichtigkeit und Volksetymologie Die oben aufgeführten Phänomene betrafen die Übertragung unterschiedlicher Ausdrücke für ähnliche Konzepte oder aber die Veränderung von Konzepten bei gleichbleibenden Ausdrücken. Es gibt aber auch formalen Wandel innerhalb <?page no="236"?> Wortschatz 236 eines einzigen Ausdrucks, der semantisch ausgelöst wird. Ein schönes Beispiel hierfür ist das Bemühen der Sprecher, die Form semantisch undurchsichtiger Wortzusammensetzungen durchsichtig zu machen, also so zu verändern, dass die einzelnen Komponenten wieder unabhängig voneinander zu verstehen sind (vgl. Gauger 1971). Diese Tendenz haben wir bereits bei den Zahlwörtern kennengelernt (vgl. Kap.4.3.5), wo z.B. das schon in altlateinischer Zeit durch Lautwandel undurchsichtig gewordene quingenti (‚500’ < quinque + centum) im Italienischen wieder durchsichtig gemacht wurde (cinquecento), während es im Spanischen undurchsichtig blieb (quinientos). Das Phänomen der Durchsichtigmachung taucht bei der Entwicklung lateinischer Formen zu romanischen Formen, aber auch in der Entwicklung zu deutschen Fremdwörtern immer wieder auf. So finden wir im Deutschen häufig das „möchtegernlateinische“ Adverb posthum in der Bedeutung ‚nach dem Tode’ (z.B. „ein posthum veröffentlichtes Buch“). Lateinisch - und übrigens auch deutsch - korrekt heißt es hingegen postum, denn das Wort leitet sich von lat. postumus ‚letzter’ ab. Gedacht ist also an das letzte Werk eines Autors. Offensichtlich hat bei postumus ein Bedeutungswandel von ‚letzter’ zu ‚nach dem Tode’ stattgefunden. Dieser semantische Wandel hat dann einen lautlichen (und graphischen) Wandel ausgelöst: post in der Bedeutung ‚nach’ kannte man aus vielen (halb-)lateinischen Komposita (z.B. postnatal, posttraumatisch, postmodern), die Endung -um hingegen war nichtssagend, oder anders ausgedrückt: undurchsichtig. Bekannt war aber das lateinische Wort humus (‚Erde’), das sich auch im Deutschen als Fremdwort erhalten hat. Es lag also nahe, ein -heinzufügen und sich das so entstehende posthum als ‚nachdem einer unter der Erde begraben liegt’ zu erklären. Man spricht in solchen Fällen von ‚Volksetymologien’ oder von ‚Sekundärmotivationen’. Man hat ja ein ursprünglich motiviertes 7 Wort, dessen Motiviertheit man nicht mehr erkannt hat, ein zweites Mal motiviert. Besonders im Französischen sind solche Fälle häufig, und zwar vor allem im Bereich der Graphie. Dies liegt daran, dass die Diskrepanz zwischen Schreibung und Lautung hier so groß ist, dass es häufig kein Problem darstellt, Buchstaben hinzuzufügen oder zu entfernen, ohne dass sich die Lautung deshalb ändern müsste. Entsprechend konnte man z.B. in der Renaissance in die geschriebene Form des Verbs savoir ein <ç> einfügen (<sçavoir>), um damit an das vermeintliche Etymon lat. scire (‚wissen’) zu erinnern; ein Fall von gelehrter Volksetymologie, den wir im Zusammenhang mit der Relatinisierung bereits erwähnt hatten. Dieser Fall war allerdings wissenschaftlich begleitet - und als sich herausstellte, dass das eigentliche Etymon lat. sapĕre (‚schmecken, wahrnehmen’) war, wurde das <ç> schnell wieder getilgt. Solche Volksetymologien können ohne weiteres die Grenzen von Sprachfamilien überschreiten. Ein beliebtes Beispiel ist das französische Wort choucroute 7 „Motiviert“ nennt man ein Wort oder eine Wortzusammensetzung, bei der die Verbindung von Ausdruck und Inhalt nicht willkürlich, sondern gesucht ist; so ist z.B. im Deutschen Schwein unmotiviert, Haxe unmotiviert, Schweinshaxe hingegen motiviert. <?page no="237"?> Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen 237 (‚Sauerkraut’), das nach Meinung der meisten Franzosen aus der Zusammensetzung von chou (‚Kohl’, von lat. caulis) und croute (‚Kruste’, von lat. crusta) hervorgegangen ist und demnach in den Einzelbestandteilen lateinischen Ursprungs wäre. Faktisch geht choucroute jedoch auf elsässisch Suurkrut zurück - ist also nur eine regionale Variante des germanischen bzw. deutschen Worts Sauerkraut. Da man aber die im Elsässischen für das Konzept ‚Kraut’ stehende Lautfolge / kru: t/ im Französischen als croute ‚Kruste’ kannte - oder vielmehr zu kennen glaubte -, lag es nahe, auch in der ersten Komponente der Zusammensetzung ein französisches Wort zu vermuten. Das Gericht basierte auf Kohl, der französische Ausdruck für das Konzept ‚Kohl’ war chou und klang damit auch noch ähnlich wie die elsässische Lautfolge / su: r/ - und fertig war die Volksetymologie choucroute; deutlich schneller als die Zubereitung des entsprechenden Gerichts. 6.4 Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen In der gesamten westlichen Welt gibt es keinen Bereich des modernen Lebens, in dem es nicht von lateinbasierten Lehn- und Fremdwörtern wimmeln würde. Selbst die Terminologie der Computertechnik ist - wenn auch angloamerikanisch umgeleitet - überwiegend lateinisch-griechischen Ursprungs. Der Überbegriff selbst ist Beleg genug (lat. computare ‚rechnen’ + gr. techné ‚Handwerk, Kunst’), wir brauchen also gar nicht in Details wie Prozessoren (lat. procedere, -cessi, -cessum ‚fortschreiten’) oder Speichermedien (CD = Compact Disc < lat. compactus, 3 ‚zusammengedrängt’ + lat. discus ‚Scheibe’) einzudringen. In diesem Kapitel sollen daher nur einige Wortfelder exemplarisch vorgestellt werden, in denen sich die lateinische Begrifflichkeit fast vollständig ins Deutsche und Englische (natürlich auch in die romanischen Sprachen - aber hier handelt es sich häufig um Erbwörter) hinübergerettet hat. Hierzu gehören die Bezeichnungen für Tage und Monate sowie für das Inventar akademischer Einrichtungen. Überwiegend handelt es sich dabei um Lehnwörter, denn diese Termini sind zumeist an die jeweiligen Laut- und Schreibkonventionen vor Ort angepasst (<Rector> wäre z.B. im Deutschen ein Fremdwort, <Rektor> ein Lehnwort). Bewusst im Wortlaut, und zwar als Kollokation oder Satzzitat, finden einige lateinische Rechtsgrundsätze bis heute Anwendung. Auch diesen ist ein Abschnitt gewidmet. Um die LeserInnen vor den Fallen falschen Fremdwortgebrauchs zu schützen, folgt schließlich eine Liste von lateinischen Fremdwörtern im Deutschen, die häufig falsch verwendet werden: also ein Antibarbarus im Stile der Appendix Probi (vgl. S.65). Den Abschluss des Kapitels bildet eine kleine Auswahl zentraler lateinischer Zitate aus den unterschiedlichsten Epochen. 6.4.1 Wochentage, Monatsnamen und ihre Götter Der römische Kalender hat unsere Zeitrechnung bis heute geprägt. Sprachlich wird dies besonders an den Bezeichnungen für die Wochentage und Monate <?page no="238"?> Wortschatz 238 deutlich. Alle römischen Wochentage sind bestimmten Göttern gewidmet, weshalb es sich lohnt, ihre wichtigsten Vertreter zu kennen. Das antike Rom hat seine Gottheiten und die damit verbundenen Mythen 8 selbst schon entlehnt, und zwar vorwiegend aus dem griechischen Kulturkreis. Die später gleichfalls über das Griechische vermittelte Entlehnung des Christentums aus dem Osten ist die logische Fortsetzung dieses Prozesses und hat die Wochentagsterminologie mitgeprägt. Es überwiegen aber die Spuren „heidnischer“ Gottheiten: Griechisch-römische Gottheiten gr. Name lat. Name Abstammung/ Aufgabenbereich Zeus Iupiter (Gen. Iovis) Göttervater und oberste Gottheit, besonders zuständig für irdische Belange und das Wetter Poseidon Neptunus (-i) Bruder des Zeus, Gott der Meere Hades Orcus (-i) Bruder des Zeus, Gott der Unterwelt Hera Iuno (Iunonis) Göttermutter, Schwester und Frau des Zeus, Göttin des Himmels, zuständig für Ehe und Geburt Apollon Apollo (-onis/ inis) Sohn von Zeus und Leto, Gott der Künste u. Medizin Athena Minerva (-ae) Tochter von Zeus und Metis, Göttin der Klugheit Ares Mars (Martis) Sohn von Zeus und Hera, Gott des Krieges Aphrodite Venus (Veneris) Tochter von Zeus und Dione, Göttin der Liebe Hermes Mercurius (-ii) Sohn von Zeus und Maia, Götterbote/ Gott des Handels Artemis Diana (-ae) Tochter von Zeus und Leto, Göttin der Jagd Helios Sol (-is) Sohn von Hyperion und Theia, Gott der Sonne Selene Luna (-ae) Tochter von Hyperion und Theia, Göttin des Mondes Maia Maia Mutter des Hermes, Bergnymphe - Saturnus etruskische Gottheit, zuständig für Landwirtschaft - Janus röm. Gottheit, zuständig für Ein- und Ausgänge „Amtssitz“ der griechischen Götter ist der Olymp, ein Berg in Griechenland. In Rom errichtete man schon zu Zeiten der Königsherrschaft auf dem Kapitolshügel einen Tempel für die drei wichtigsten Gottheiten: Iupiter, Iuno und Minerva. Diese drei heißen daher auch „die kapitolinischen Götter“. Die römischen Wochentage waren einzelnen Göttern zugeordnet, und zwar jeweils mit Genitiv: z.B. Solis dies ‚Tag des Sonnengottes’. Die Zuordnungen entsprachen griechischen Vorbildern, so hieß der griechische Freitag z.B. Aphrodites heméra (‚Tag der Aphrodite’). In den romanischen Sprachen hat man diese Ausdrücke weitgehend übernommen (also quasi „aus 2. Hand“), zog aber für Samstag eine jüdische und für Sonntag eine christliche Bezeichnung vor: 8 Zwei Elemente sind für diese Mythen charakteristisch: zum einen die klare Verteilung der Zuständigkeiten und zum anderen das sehr menschliche Verhalten der Götter, die sich mit Vorliebe in Menschen verliebten und mit diesen Halbgötter zeugten - zum punktuellen Nachschlagen empfiehlt sich das mythologische Lexikon von Herder (1990). <?page no="239"?> Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen 239 Lateinisch basierte Bezeichnungen für Wochentage lat. Name romanische Ableitung germanischer Name Solis dies => christl. dominica dies it. domenica, fr. dimanche sp. domingo dt. Sonntag, engl. Sunday - Lunae dies it. lunedì, fr. lundi, sp. lunes dt. Montag, engl. Monday Martis dies it. martedì, fr. mardi, sp. martes dt. Dienstag, engl. tuesday Mercuri dies => christl. medio hebdomas it. mercoledì, fr. mercredi, sp. miércoles (engl. wednesday) dt. Mittwoch Iovis dies it. giovedì, fr. jeudi, sp. jueves dt. Donnerstag, engl. thursday Veneris dies it. venerdì, fr. vendredi, sp. viernes dt. reitag, engl. friday Saturni dies => jüd./ christl. sabbatum sambatum it. sabato, sp. sábado fr. samedi (< afr. sambedi) engl. saturday dt. Samstag Etwas aus der Art schlägt das Portugiesische, wo man erfolgreich versucht hat, auch die übrigen „heidnischen“ Bezeichnungen zu verdrängen. An deren Stelle traten die kirchenlateinischen Bezeichnungen secunda feria (eigentlich: ‚2. Feiertag’ - der erste war also der Sonntag), tertia feria etc. > port. segunda-feira ‚Montag’, terça-feira ‚Dienstag’, quarta-feira ‚Mittwoch’ etc. (vgl. Väänänen 1981: §166). Interessant sind hier auch die deutschen und englischen Entsprechungen: Im Falle des Samstags verhält sich das Englische lateinischer als die romanischen Sprachen (Saturni dies > engl. saturday), bei Sonntag und Montag erstellte man in beiden Sprachen Lehnübersetzungen aus dem Lateinischen (sol > Sonne, sun; luna > Mond, moon). Für die Bezeichnung des Dienstags wurde das germanische Pendant des Mars, ein gewisser Gott Teiwa (> engl. tuesday) bzw. seine Namensvariante Thingsus (> dt. Dienstag), bemüht, für den Donnerstag wurde analog zu Iupiter die germanische Gottheit Thor, die gleichfalls für Wetter, d.h. Blitz und Donner zuständig ist, zur Bezeichnung herangezogen: In dt. Donnerstag musste dieser Donner quasi als pars pro toto (‚Teil für das Ganze’) herhalten, in engl. thursday wurde Thor selbst verewigt. In engl. wednesday finden wir Thors Kollegen Wodan (auch: Odin/ Wotan) wieder, der aber von seiner Position her (König der Götter und Menschen) eher Jupiter entsprach als dem lateinischen Namensgeber Merkur. Im Englischen gehen also zwei Tage auf Jupiter zurück, während dt. Mittwoch eine Lehnübersetzung des mittellateinischen Gräzismus medio hebdomas ‚in der Mitte der Woche’ darstellt. Der Freitag erlebte eine Übertragung von Venus auf die ihr gleichgestellte germanische Göttin Freia. Deutlich weniger Abweichungen gibt es bei der Überlieferung der lateinischen Monatsnamen (hierzu Rubenbauer et al. 1995: 338f). Zu beachten ist, dass alle lateinischen Monatsnamen Adjektive zu einem meist fehlenden Bezugswort mensis, -is, m ‚Monat’ darstellen. Hiervon weichen wir allerdings ab, wenn wir im Deutschen den Juni als „Juno“ bezeichnen, um ihn phonetisch besser gegen den Juli abzugrenzen. Wir nennen hier nämlich die Namensgeberin anstelle des <?page no="240"?> Wortschatz 240 Namens, eine Form der Metonymie. Wichtig ist weiterhin, dass das römische Jahr erst im März beginnt; der März ist also der erste, der Februar der letzte Monat. Zur Tabelle: Wenn Götter Namengeber waren, dann sind diese in der zweiten Spalte recte (‚aufrecht’) gedruckt, Kaiser sind zusätzlich unterstrichen. Monatsnamen, die sich von Zahlwörtern ableiten, stehen jeweils klein und kursiv. Der auf septem ‚7’ zurückgehende Ausdruck September bezeichnet also den 7. Monat. Der seit 44 v.Chr. Julius Caesar gewidmete Monat Iulius hieß zuvor Quintilis (5. Monat’), der ab 8 v.Chr. Augustus geweihte Monat hieß zuvor Sextilis (‚6. Monat’). Caesar hat sich diese Auszeichnung redlich verdient, denn er stellte die Jahresrechnung auf 365 Tage und einen alle vier Jahre eingeschobenen Schalttag um - die letzten Feinheiten wurden 1582 durch Papst Gregor XIII erledigt. Sonderfälle der Bezeichnung stellen auch April und Februar dar: Ersterer geht wohl auf eine idg. Wurzel *apero zurück, die in etwa ‚folgender’ bedeutet - also ‚der 2. Monat’ -, letzterer auf das Reinigungsfest ebrua, das jeweils am Jahresende gefeiert wurde. Lateinisch basierte Bezeichnungen für Monate latein. Name Geber > Name romanische Ableitung ital. span. frz. germanischer Name deutsch englisch 1 Mars > Martius marzo marzo mars März march 2 *apero- > Aprilis aprile abril avril April april 3 Maia > Maius maggio mayo mai Mai may 4 Iuno > Iunius giugno junio juin Juni june 5 Iulius > Iulius luglio julio juillet Juli july 6 Augustus > Augustus agosto agosto août August august 7 septem > September settembre septiembre septembre September september 8 octo > October ottobre octubre octobre Oktober october 9 novem > November novembre noviembre novembre November november 10 decem > December dicembre diciembre décembre Dezember december 11 Ianus > Ianuarius gennaio enero janvier Januar january 12 ebrua > ebruarius febbraio febrero février ebruar february 6.4.2 Fremd- und Lehnwörter im akademischen Bereich Wegen ihrer über Jahrhunderte vom Latein bestimmten Tradition ist die europäische Universität - neben der katholischen Kirche - diejenige Institution, die den lateinischen Begriffsapparat am besten bewahrt hat. Es folgt eine Auswahl der verbreitetsten Termini im Deutschen mit Bedeutungserklärung und den lateinischen Herleitungen (weitere akademische Begriffe erläutert in Filip- Fröschl/ Mader 1999: 11-19): Terminus heutige Bedeutung lateinische Herleitung Institutionen, Gremien, Personal Universität wissenschaftliche Hochschule universitas, -atis, f: ‚Gesamtheit, Körperschaft’ Alma Mater Beiname für die Institution Universität ‚nährende Mutter’ < mater, -tris, f: Mutter und almus, 3: ‚nährend’ <?page no="241"?> Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen 241 Senat Leitungsgremium senatus, -us, m: ‚Senat’ (wörtl.: ‚Rat der Alten’ vgl. senex, -is, m: ‚Greis’) Rektor Leiter der Universität rector, -oris, m: ‚Lenker, Leiter’ Magnifizenz (Anrede des Rektors) magnificentia, -ae, f: ‚Erhabenheit’ Dekan Leiter einer Fakultät decanus, -i, m: Vorsteher einer Gruppe von zehn Personen; vgl. decem: ‚zehn’ Spectabilis (Anrede des Dekans) spectabilis, -e: ‚ansehnlich’ Fakultät Fachbereich facultas, -atis, f: ‚Möglichkeit, Fähigkeit’ Institut Fachabteilung instituere, -o, institui, institutum ‚einrichten’ => ‚Einrichtung’ Gremium Auswahl von Vertretern mit einer bestimmten Zielsetzung gremium, ii, n ‚Schoß’ => ‚Ort der Ruhe und Sicherheit’ => Gelegenheit zur Beratung ohne Einmischung von außen Personal Gesamtheit der Beschäftigten personalis, e ‚persönlich’, abgeleitet von persona, ae, f ‚Theatermaske, Rolle, Persönlichkeit’ Kollegium / Kolleg Gruppe von Kollegen/ Ausbildungsgruppe von Nachwuchswissenschaftlern, auch: Vorlesung collegium, -i n: ‚Amtskollegenschaft’; abgeleitet von collega, -ae, m ‚Amtskollege’ (galt v.a. für die jeweils doppelt besetzten röm. Staatsbeamtenposten) Professor (habilitierter) Hochschullehrer professor, -oris, m: ‚Bekenner’; abgleitet von profiteri, -eor, -fessus sum ‚öffentlich erklären’ Emeritus pensionierter Lehrstuhlinhaber emeritus ‚ausgedient’ (Partizip Perfekt, abgeleitet von emerēre, -eo, -ui, -itus und dem synonymen emerēri, -eor, -itus sum) Dozent Überbegriff für jeden Hochschullehrer docens, -ntis ‚lehrend’ = PPA von docēre, eo, -ui, doctum: ‚lehren’ Lektor Fremdsprachenlehrer an einer Universität lector, -oris, m: ‚Vorleser’ Laufbahnen, Studiengänge, Prüfungen Habilitation Qualifikationsarbeit für Professorenlaufbahn habilis, -e: ‚geeignet’ Venia legendi Erlaubnis für Habilitierte, Vorlesungen abzuhalten venia, -ae, f ‚Erlaubnis’ und legere, -o, -legi, -lectum ‚(vor-)lesen’ Doktor akademischer Grad doctor, -oris, m: ‚Lehrer’ Doktorand Promotionsstudent Gerundiv doctorandus: ‚einer, der zum Doktor gemacht werden soll’ Dissertation Doktorarbeit dissertare, -o, -avi, -atum: ‚erörtern’ Rigorosum Doktorprüfung (in Examensform) rigorosus, 3: ‚streng’ (diese Prüfung galt als besonders streng) Promotion Aufbaustudiengang, der zum Doktortitel führt promotio, -onis, f ‚Beförderung’; abgeleitet von promovēre, -eo, -movi, -motum ‚fördern’ => daher auch: „promovieren“ Examen Abschlussprüfung examen, -minis, n: ‚Prüfung’ Diplom akademischer Grad diploma, -atis, n ‚Empfehlungsschreiben’ (=griech. Lehnwort) <?page no="242"?> Wortschatz 242 Magister akademischer Grad magister, -tri, m: ‚Lehrer’ Baccalaureus unterster akademischer Grad wahrscheinlich von baca/ bacca, -ae, f ‚Beere’ + laureus, 3 ‚aus Lorbeer’ => ‚der mit dem Lorbeerkranz’ Kandidat Prüfling oder Bewerber candidatus, -i, m ‚Amtsbewerber’; trug als Erkennungszeichen eine weiße Toga (toga candida) Studienalltag Studium Teilnahme, Vor- und Nachbereitung von wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen und Prüfungen studium, -i, n: ‚Eifer, Fleiß’ Studium Generale Studienveranstaltungen, die Studierenden aller Fakultäten offen stehen generalis, -e: ‚allgemein’ Student(-in) Studierende(r) studens, -ntis ‚sich bemühend’ (PPA von studere, -ui ‚sich bemühen’) Immatrikulation Einschreibung in + matricula, -ae, f: ‚Personenverzeichnis’ => Aufnahme in dieses Verzeichnis Exmatrikulation Austragung ex + matricula, -ae, f: Personenverzeichnis’ => Löschung aus diesem Verzeichnis Numerus Clausus Zulassungsbeschränkung ‚beschränkte Zahl’ < numerus, -i, m: ‚Zahl’ und claudere, -o, clausi, clausum: ‚schließen’ => Zulassung auf eine bestimmte Anzahl von Studienbewerbern beschränkt Semester Studienhalbjahr semestris, -e: ‚sechsmonatig, halbjährig’, abgeleitet von sex ‚6’ und mensis,is, m ‚Monat’ Stipendium finanzielle Studienunterstützung stipendium, -ii, n ‚Sold’ Seminar wissenschaftliche Lehrveranstaltung seminarium, -ii, n: ‚Baumschule’ < seminare ‚säen’ Kolloquium wissenschaftliche Lehrveranstaltung für Doktoranden; auch: Prüfungstyp im Promotionsstudium colloquium, -ii, n: ‚Gespräch’ (Kompositum aus cum ‚mit’ + loqui ‚sprechen’) Exkursion wissenschaftliche Ausflugsveranstaltung excursio, -onis, f: ‚Ausflug’ (Kompositum aus ex ‚heraus’ + currĕre, -o, cucurri, cursum: ‚laufen’) Skriptum Vorlesungsmanuskript scriptum, -i, n: ‚das Geschriebene’ (von scribĕre, -o, scripsi, scriptum ‚schreiben’) Repetitor Wiederholer für Prüfungsstoffe repetĕre, -o, -ivi, -itum: ‚wiederholen’ Tutor Betreuer im Grundstudium tutor, -oris, m: ‚Betreuer, Beschützer’ Aula Festsaal der Universität aula, -ae, f : ‚Halle, Hof’ <?page no="243"?> Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen 243 Auditorium Maximum ugs. „AudiMax“ größter Hörsaal auditorium, -ii, n: ‚Hörsaal, Zuhörerschaft’; maximus, 3 = Superlativ von magnus, 3 (‚groß’) cum tempore (c.t.) ‚15 Minuten nach der vollen Stunde’ cum ‚mit’ + tempus, -oris, n ‚Zeit’ sine tempore (s.t.) ‚zur vollen Stunde’ sine ‚ohne’ + tempus, -oris, n ‚Zeit’ Mensa Universitätskantine mensa, -ae, f: ‚Tisch’ Abb. 33: Lateinische Termini im Universitätswesen 6.4.3 Lateinisches in Rechtssprache und Politik Der große Einfluss des römischen Rechtswesens auf unsere modernen Rechtssysteme wird daran deutlich, dass in der deutschen Rechtssprache nicht nur einzelne Wörter aus dem Lateinischen übernommen wurden, sondern ganze Rechtsgrundsätze oder häufig verwendete Kollokationen. Hier eine kurze Auswahl in alphabetischer Folge: audiatur et altera pars ‚auch die andere Seite soll gehört werden’ in dubio pro reo ‚im Zweifel für den Angeklagten’ de iure ‚vom Recht her’ de lege ‚vom Gesetz her’ de facto ‚vom tatsächlichen Sachverhalt her’ do ut des ‚ich gebe, damit du gibst’ (Austausch von Leistung für Gegenleistung) ius ex non scripto ‚ungeschriebenes Recht’ pacta sunt servanda ‚Verträge sind einzuhalten’ quod erat demonstrandum ‚was zu beweisen war’ Roma locuta, causa finita ‚Rom hat gesprochen, die Angelegenheit ist beendet’. Rom steht in diesem kirchenrechtlichen Prinzip metonymisch für den Papst. sine ira et studio ‚ohne Zorn und Eifer’, also ohne Eigeninteresse und daher neutral bzw. unbefangen Etwas anders liegen die Verhältnisse in der Sprache der Politik: Weder die römische Senatsdemokratie, die wegen der Bevorzugung bestimmter Gruppen eher eine Oligarchie 9 war, noch die römische Diktatur gelten uns heute als vorbildhafte Staatsformen. Entsprechend haben die meisten lateinbasierten Bezeichnungen in der Politik einen kräftigen Bedeutungswandel durchgemacht und sind auch formal an die Zielsprache angepasst worden, also Lehnwörter: Republik ‚(demokratisch geführtes) Gemeinwesen’, von res publica (wörtl.: ‚öffentliche Sache’) Referendum ‚Volksentscheid’ (wörtlich: ‚das zu Berichtende’) - Gerundiv von referre ‚berichten’ 9 Griech.: ‚Herrschaft von wenigen’. <?page no="244"?> Wortschatz 244 Präsident ‚Vorsitzender’; PPA von praesidēre - ‚vorsitzen’ Kanzler von cancellarius, i, m: ‚Kanzleibeamter’ Minister von minister, tri, m: ‚Diener’ Opposition ‚Gegenseite’, vom Verbalsubstantiv oppositio, onis, f: ‚das Entgegengesetzte’ (abgeleitet von opponĕre, -posui, -positum) Fremdwörter, die neben der Originalform weitgehend auch die Originalbedeutung beibehalten haben, sind die Ausnahme, existieren aber durchaus: ius gentium ‚Völkerrecht’ quorum ‚von denen’ (Gen.Pl. des Relativpronomens qui): kennzeichnet die notwendige Mindestanzahl der Stimmberechtigten, damit eine Abstimmung rechtmäßig ist. (weitere Termini zu Politik und Rechtswesen vgl. Filip-Fröschl/ Mader 1999: 20ff) 6.4.4 Antibarbarus Es kommt immer wieder vor, dass deutsche Muttersprachler mit oberflächlichen Lateinkenntnissen lateinische Lehn- und Fremdwörter in einer Weise benutzen, die weder der lateinischen noch der deutschen Norm entspricht. Natürlich kann man hier nicht von „Fehlern“ sprechen, vielmehr wohnen wir einem Sprachwandelprozess gewissermaßen live (lat. in vivo) und am Ort des Geschehens (lat. in situ) bei. Dennoch sind diese Normverstöße höchst peinlich, wenn der Dialogpartner oder gar das Auditorium über solidere Lateinbzw. Deutschkenntnisse verfügt. Deshalb sind im Folgenden, ganz ähnlich wie in der Appendix Probi, nur besser sortiert, einige normgerechte Formen mit ihren Ableitungen und den typischen Normverstößen zur künftigen Vermeidung aufgelistet, die dem Verfasser bereits begegnet sind (auch im universitären Umfeld): a) korrektes vs. falsches Genus: der Prinzipat von lat. principatus, ūs, m nicht: das Prinzipat der Primat von lat. primatus, ūs, m nicht: das Primat der Traktat von lat. tractatus, ūs, m nicht: das Traktat der Zölibat 10 von lat. caelibatus, ūs, m nicht: das Zölibat der Aquädukt von lat. aquaeductus, ūs, m nicht: das Aquaedukt der Viadukt von lat. viaductus, ūs, m nicht: das Viadukt die Klientel von lat. clientela, ae, f nicht: das Klientel die Libido von lat. libido, inis, f nicht: der Libido die Plebs von lat. plebs, plebis, f nicht: der Plebs 10 Wer Schwierigkeiten hat, sich dieses Genus einzuprägen, dem sei folgender Witz empfohlen, der nur mit dem korrekten Maskulinum funktioniert: Während der Kaiserzeit lernt ein Major den katholischen Ortsgeistlichen kennen und findet ihn sympathisch. Es ist der erste katholische Pfarrer, der ihm begegnet. Er lädt daraufhin bei der nächsten Gelegenheit diesen Pfarrer zu einem Ball ein: „Und bringen Sie doch bitte auch Ihre Frau Gemahlin mit.“ - „Aber, Herr Major, wir haben doch den Zölibat.“ - „Ach so, ja gut, dann bringen Sie doch den Kleinen einfach mit! “ (nach Gauger 2006: 82f) <?page no="245"?> Lateinische Lehn- und Fremdwörter in nicht-romanischen Sprachen 245 die Partikel von lat. particula, ae, f (vs. das Partikel) 11 das Virus von lat. virus, i, n (vs. der Virus) 12 das Korpus von lat. corpus, oris, n (vs. der Korpus) 13 das Genus von lat. genus, eris, n nicht: der Genus das Opus von lat. opus, eris, n nicht: der Opus b) korrekter vs. falscher Numerus: das Antibiotikum 14 - die Antibiotika nicht: das Antibiotika das Visum - die Visa nicht: das Visa das Praktikum - die Praktika nicht: die Praktikas (das Internum) 15 - die Interna nicht: die Internas der Kasus - die Kasus (von casus, ūs, m) nicht: die Kasi die Partikel (Sg.) - die Partikeln (Pl.) 16 nicht: die Partikel (Pl.) c) korrekter vs. falscher Kasus in fremdwörtlichen Kollokationen: ad acta (‚zu den erledigten Dingen’) nicht: ad actas coram publico (‚in der Öffentlichkeit’) nicht: coram publicum in natura (‚in der Natur, leibhaftig’) nicht: in naturam per analogiam (‚durch Analogie’) nicht: per analogia d) korrekte vs. falsche Schreibung/ Lautung: postum von lat. postumus, 3 (vgl. S.236) nicht: posthum 6.4.5 Zitate Es gibt zahlreiche Publikationen, die lateinische Zitate mit Übersetzungen auflisten, um dem Lateinunkundigen die Aura des Lateinkundigen zu verleihen (z.B. Sellner 1984, Schoeck 1985, Drews 1994). Hier seien deshalb nur einzelne Zitate herausgegriffen, die symptomatisch für bestimmte Epochen der römischen bzw. lateinischen Kulturgeschichte sind oder häufig falsch zitiert bzw. interpretiert werden. Die Beispiele zeigen auch, dass solche Redewendungen keinesfalls nur aus dem Klassischen Latein geschöpft werden: ceterum censeo Carthaginem esse delendam ‚im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden sollte’ - dieses dem älteren Cato (234-149; Beinamen 11 In der Physik ist auch „das Partikel“ gebräuchlich - gemeint sind dort aber kleinste Teilchen, nicht die Wortart. 12 Die maskuline Verwendung hat sich inzwischen für Computerviren nahezu durchgesetzt - im medizinischen Bereich gilt aber nach wie vor das Neutrum als Norm. 13 Maskulin wird Korpus im Deutschen zum einen für den Körper des Gekreuzigten verwendet, zum anderen in der Möbelschreinerei als Bezeichnung für das Grundelement eines Schranks. Eine linguistische Belegsammlung aber heißt „das Korpus“. 14 Antibiotikum ist ein neu gebildeter latinisierter Gräzismus (gr. anti + bíos ‚gegen das Leben’ - hier das unerwünschte Leben von Bakterien). Die Endung -ticum markiert ihn als Neutrum. 15 Im Singular ungebräuchlich - Interna ist also ein substantivierter Neutrum Plural. 16 Die Pluralform die Partikeln, die für die unflektierbaren Wortarten gebraucht wird, hat kein lateinisches Vorbild und dient ausschließlich der Unterscheidung vom Singular die Partikel. <?page no="246"?> Wortschatz 246 Censorius) 17 zugeschriebene Zitat steht für die Phase der frühen Republik (Altlatein), als Rom sich in ständiger Auseinandersetzung mit dem Erzrivalen Karthago befand („Punische Kriege“). Cato soll sich bei jeder politischen Debatte mit diesem Wortbeitrag gemeldet haben. alea iacta est (oder: alea est iacta): ‚der Würfel ist gefallen’ - C. Iulius Caesar (100-44 v.Chr.) soll dies 49 v.Chr. beim Überschreiten des Rubicon gesagt haben, wodurch der Marsch auf Rom gegen den sich dort verschanzenden und mit dem Senat verbündeten Rivalen Pompeius eröffnet wurde (Phase des Klassischen Lateins: goldene Latinität). Dies markierte den Beginn des Bürgerkriegs und leitete die darauf folgende Diktatur Caesars und damit das Ende der Römischen Republik ein. non scholae sed vitae discimus - ‚nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir’. Dieses Zitat wird üblicherweise dem Philosophen und Prinzenerzieher Seneca d.J. (ca.1-65 n.Chr.) zugeschrieben, steht aber bei ihm genau andersherum, nämlich non vitae sed scholae discimus (Epistel 106,12). Es ist also als Kritik am Studienbetrieb formuliert. In jedem Falle markiert dieses Zitat die Kaiserzeit (Klasss. Latein: silberne Latinität), in der Politik Nebensache wurde und man sich verstärkt geistigen und körperlichen Vergnügungen hingeben konnte. mens sana in corpore sano (Iuvenal: Satiren X, 356). Iuvenal (67- nach 127 n.Chr.) kritisiert hier die Albernheit der Wünsche, die Menschen an die Götter richten. Für sein Glück sei man schließlich selbst verantwortlich, nur um einen ‚gesunden Verstand in einem gesunden Körper’ solle man die Götter bitten - also ein oft falsch interpretiertes Zitat. Iuvenal stellt keinesfalls einen Kausalzusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit her. Von der Sprachepoche her markiert Iuvenal den Übergang vom Klassischen zum Nachklassischen Latein. cogito ergo sum wird dem französischen Philosophen Descartes (1696-1650) zugeschrieben, gehört sprachgeschichtlich also zum Neulatein. In der Erstauflage seiner Meditationes de prima philosophia (1641) hieß es aber noch cogito, ego sum (‚ich denke, ich bin’). Erst die französische Version des Buches führte den Kausalzusammenhang ein: „Je pense, donc je suis“, der dann in Form des Adverbs ergo ‚also’ auch in den lateinischen Text übertragen wurde. homo homini lupus - ‚der Mensch ist dem Menschen ein Wolf’. Dieses Zitat, das den englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) und sein negatives Menschenbild bekannt gemacht hat, schlägt eine Brücke vom Neulatein zurück zum Altlatein. Es taucht nämlich bereits bei Plautus (ca. 250-184 v.Chr.) in der Komödie Asinaria (V. 495) auf. Dort heißt es lupus est homo homini, aber eher in scherzhafter Absicht. 17 Der Beiname geht nicht auf sein ewiges „ceterum censeo“, sondern auf das Amt des Zensors zurück, das er sehr erfolgreich ausübte. <?page no="247"?> Zusammenfassung und Literaturempfehlungen 247 6.5 Zusammenfassung und Literaturempfehlungen Zusammenfassung: Der größte Teil des überlieferten lateinischen Wortschatzes ist in Bezug auf Registerunterscheidung unmarkiert und wird daher im Klassischen Latein ebenso wie im Vulgär- und Spätlatein gebraucht. Auch die Anwendung der Wortbildungstechniken weicht nur wenig voneinander ab. Der Hauptunterschied zwischen dem Wortschatz des Klassischen Lateins und dem des Vulgär- und Spätlateins besteht vielmehr darin, dass im Vulgär- und Spätlatein bestimmte Lexemvarianten des Klassischen Lateins bevorzugt werden, und zwar u.a. nach den Auswahlkriterien Lautstärke, Regelmäßigkeit und Konkretheit. Im Zuge der Verwendung dieser Varianten verändert sich deren ursprüngliche Bedeutung meist im Sinne einer Generalisierung. Ein vulgärlateinisches Wort kann dann semantisch quasi zwei klassische Wörter abdecken. Verkürzt könnte man also sagen: Nicht die Lexeme sind vulgärlateinisch markiert, sondern die Art ihrer Verwendung. Generell besteht die Tendenz, dass klassisch lateinische Wörter eher als Lehn- oder Fremdwörter in die romanischen Sprachen und das Deutsche und Englische überliefert wurden, vulgärlateinische Wörter eher als Erbwörter. Literaturempfehlungen: Für das Erarbeiten klassisch lateinischen Wortschatzes empfiehlt sich die an den romanischen Sprachen ausgerichtete Wortkunde von Mader (2005) oder auch die kürzere, eher für Schüler gedachte adeo-Wörterliste (Utz 2001). Beide Wortkunden sind alphabetisch gegliedert, die Grund- und Aufbauwortwortschätze von Klett (Habenstein et al. 1991; Hermes/ Meusel 1993) bieten zusätzlich eine Sortierung nach Sachfeldern und Häufigkeiten, berücksichtigen aber die romanischen Reflexe weniger konsequent. Die besten Überblicke zum vulgärlat. Wortschatz bieten Kiesler (2006: 81ff) und Väänänen (1981: 75ff). Die Entwicklung vom lat. zum romanischen Wortschatz behandeln grundlegend Stefenelli (1981) und Lüdtke (1968). Zur Erklärung des Bedeutungswandels aus kognitiver Sicht vgl. Blank (1997, 2001) und Blank/ Koch (1999, 2000). Zum lateinischen Wortschatz in den modernen europäischen Sprachen Vossen (1999) und Haider Munske/ Kirkness (1996). 6.6 Aufgaben 6.6.1 Übungen Der folgende Text gehört zu den sog. Glosas Emilianenses, einem der ältesten spanischen Sprachzeugnisse (entstanden um 1000 n.Chr.; Fundort: Kloster San Millán de la Cogolla, Provinz Logroño). Die Textsammlung enthält ganz unterschiedliche Texte, in denen jeweils lateinische Wörter, die nicht mehr verstanden wurden, als Randnotizen oder Überschreibungen in spätlateinischfrühromanische Wörter übersetzt wurden (sog. „Glossen“). Diese Glossen sind <?page no="248"?> Wortschatz 248 hier als eckige Klammern unmittelbar hinter dem übersetzten lateinischen Wort eingefügt. In dem Auszug geht es um einen Rat von Dämonen, in dem verschiedene Diener des Teufels diesem berichten, was sie auf der Erde für Missetaten angerichtet haben. Et ecce repente [lueco] unus de principibus ejus ueniens adorabit eum. Cui dixit diabolus: unde uenis? Et respondit: fui jn alia prouincia et suscitabi [lebantai] bellum [pugna] et effusiones [bertiziones] sanguinum … similiter respondit: jn mare fui et suscitabi [lebantaui] conmotiones [moveturas] et submersi [trastorne] nabes cum omnibus … Et tertius ueniens [elo terzero diabolo venot] … jnpugnaui quemdam monacum et vix [ueiza] feci eum fornicari (Transkription nach Menéndez Pidal 1956: 4). Textnahe Übersetzung (die als Glosse übersetzten Wörter sind unterstrichen und in der Originalreihenfolge belassen): ‚Und siehe, plötzlich kam einer seiner obersten Diener und betete ihn (erg. den Teufel) an. Zu ihm sagte der Teufel: Woher kommst du? Und er antwortete: Ich war in einer anderen Provinz und provozierte dort Krieg und Blutvergießen. … sogleich antwortete (erg. ein anderer): Ich war auf dem Meer und provozierte Stürme und versenkte Schiffe mitsamt allen (erg. Leuten). … Und der dritte (erg. sagte) ankommend [der dritte Teufel kam]: … ich bedrängte einen Mönch und beinahe hätte ich ihn dazu gebracht, ins Bordell zu gehen.’ a) Wo finden sich im lat. Text Abweichungen vom Klassischen Latein? b) Versuchen Sie, herauszufinden, warum die jeweils in den Glossen übersetzten Wörter Probleme beim Verständnis machten, und zeigen Sie, inwieweit die Varianten in den Glossen dem Romanischen bzw. Altspanischen näher stehen. c) Ermitteln Sie, welches kognitive Prinzip bei den folgenden Bedeutungswandelphänomenen wirksam war: 1 klat. musculus ‚Mäuschen’ > slat . musculus ‚Muskel’ > sp. muslo ‚Oberschenkel’ 2 vlat. *adripare ‚am Ufer anlegen’ (ripa, ae, f ‚Ufer’) > fr. arriver, it. arrivare ‚ankommen’ 3 lat. testimonium ‚Zeugnis’ > fr. témoin ‚Zeuge’. 4 lat. passer ‚Spatz’ > sp. pájaro ‚kleiner Vogel’. 5 slat. talpum ‚Maulwurf’ > it. topo ‚Maus’ 6 slat. spatula ‚kleine Schaufel’ > fr. épaule ‚Schulter’ (vgl. süddeutsches Schweinefleischgericht: Schäufele) 6.6.2 Weiterführende Aufgaben a) Erklären Sie auf Grundlage von Blank (2001: 69ff) die unterschiedlichen Typen von Metaphern und Metonymien im Prozess des Bedeutungswandels. b) Erläutern Sie den Begriff der „Selektion“ nach Kiesler (2006: 81f). <?page no="249"?> 7 Metrik und Stilmittel Die Inhalte dieses Kapitels verstehen sich als „Nachschlag“. Sie runden den Überblick über die verschiedenen Facetten des Lateinischen ab, sind aber nicht von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Zusammenhangs von Latein und den romanischen Sprachen. An dieses Kapitel schließen sich daher weder eine Zusammenfassung noch Aufgaben an. 7.1 Metrik Die lateinische Metrik wird in Latinumskursen üblicherweise nicht behandelt, da sie recht schwer zugänglich ist. Hier sollen daher nur die allerwichtigsten Grundzüge angesprochen werden (nach Rubenbauer et al. 1995: 331ff). Lateinische Metrik basiert ausschließlich auf dem Rhythmus langer und kurzer Silben. Es gibt also keine systematischen Endreime wie in den modernen Sprachen und auch keine Assonanzen 1 wie z.B. im Altfranzösischen. Grundsätzlich gilt eine Silbe dann als lang, wenn ihr Vokal lang ist (sog. „Naturlänge“), oder wenn auf einen Vokal zwei Konsonanten folgen (sog. „Positionslänge“; zur Silbenlänge vgl. S.79). Die letzte Silbe eines Verses kann immer lang oder kurz sein. Zur Intensivierung des Rhythmus werden die langen Silben betont („Hebungen“: Symbol „ -! “), die kurzen nicht („Senkungen“: Symbol „U“). Die kleinste regelmäßige Abfolge von Hebungen und Senkungen wird als „Versfuß“ bezeichnet. Mit den unterschiedlichen Versfüßen wurden auch deren Bezeichnungen aus dem Griechischen entlehnt. Die wichtigsten Versfüße sind: Trochäus -! U carmen Iambus U -! viri Daktylus -! U U carmina Anapäst U U -! domini Spondéus -! - oder - -! cogo Ein Anapäst oder Daktylus kann jeweils durch einen Spondéus vertreten werden. Zwei Kürzen gelten also quasi als eine Länge. Die nächstgrößere Einheit ist das Metrum. Ein Daktylus gilt alleine als Metrum, die übrigen Versfüße werden jeweils zu einem Metrum gedoppelt (ein jambisches Metrum enthält also zwei Jamben hintereinander). Ein Vers besteht aus einer bestimmten Anzahl von Metra; die Bezeichnungen für die verschiedenen Versarten werden von den entsprechenden griechischen Zahlwörtern abgeleitet. Ein Pentameter enthält also fünf (gr. pénte: ‚5’), ein Hexameter sechs 1 Vorform des Reims, bei der nur die Vokale ab der letzten betonten Silbe übereinstimmen, nicht aber die Konsonanten. <?page no="250"?> Metrik und Stilmittel 250 (gr. ‚héx’: 6) Metra. Für die Identifizierung eines Verstyps werden der maßgebliche Versfuß und das Metrum angegeben: z.B. iambischer Trimeter oder daktylischer Hexameter. Die wichtigsten Versarten des Klassischen Lateins sind der daktylische Hexameter, der v.a. in Satiren und im Epos (z.B. Vergils Aeneis) eingesetzt wird, und der daktylische Pentameter, der nur in Kombination mit dem Hexameter auftritt. Diese Kombination nennt man auch „elegisches Distichon“ (gr. ‚Zweizeiler’), da sie v.a. in der Liebeselegie (z.B. bei Ovid) ihre Anwendung findet. Um einen lateinischen Vers auf Anhieb korrekt lesen zu können, muss man also das Vokalquantitätensystem sehr gut verinnerlicht haben. Zur Veranschaulichung sind im Aeneis-Zitat auf S.181f die Hebungen als Akzente eingetragen. 7.2 Stilmittel Auf die Bedeutung der antiken Rhetorik für die abendländische Literatur wurde bereits hingewiesen (vgl. S.220). Eine zentrale Qualität der Rede ist die Form ihrer Darstellung (lat. elocutio), und diese wiederum hängt ab von den verwendeten stilistischen Ausschmückungen (lat. ornatus). Diese Stilmittel kann man unterscheiden in Tropen (gr. ‚Wendungen’) und Figuren - beide Typen haben sich in den modernen Literaturen erhalten. Die Bezeichnungen der einzelnen Stilmittel sind überwiegend griechische Lehnwörter im Lateinischen. Im Folgenden wird nur eine kleine Auswahl geboten, weitere Stilmittel finden sich in Rubenbauer et al. (1995: 322ff) sowie in Throm (1995: 310ff). Unter Tropen versteht man ein „gewendetes“, im Vergleich zum Standard verändertes Sprechen. Ein Wort steht hier für ein anderes, wir befinden uns also auf der paradigmatischen Ebene. Diese Veränderungen sind v.a. semantischer Art und hängen eng mit den Prinzipien des Bedeutungswandels zusammen, die wir in Kap.6.3.1 kennengelernt haben. Solche Tropen sind z.B.: • Synekdoche (gr. ‚Mitbezeichnung’; engerer für den weiteren Begriff oder umgekehrt, also z.B. Pars pro toto oder Totum pro parte): z.B. puppis (‚Heck’) für navis (‚Schiff’) oder elephantus (‚Elefant’) für ebur (‚Elfenbein’) • Metonymie (gr. ‚Namensvertauschung’; also z.B. Ursache für Wirkung oder Gottheit für Funktionsbereich): z.B. Vulcanus (Gott des Feuers) für ignis (‚Feuer’) • Metapher (‚Übertragung’ eines Wortes in einen anderen Gegenstandsbereich oder - kognitionslinguistisch ausgedrückt - frame): z.B. fulmina fortunae (wörtl. ‚Blitze des Schicksals’) für ‚Schicksalsschläge’ • Euphemismus (Verwendung „schöner“ Ausdrücke für unangenehme Inhalte): z.B. suae vitae durius consulĕre (wörtl. ‚sich zu hart um sein Leben bemühen’) für ‚sich umbringen’ (vgl. den entsprechenden deutschen Euphemismus Hand an sich legen). Als „Figuren“ hingegen bezeichnet man Besonderheiten der Wortstellung oder der Kombination von Gedanken. Sie betreffen also immer mehrere Wörter <?page no="251"?> Stilmittel 251 zugleich und spielen sich auf der syntagmatischen Ebene ab. Typische Wortfiguren sind: • Geminatio (‚Verdoppelung’ eines Worts): z.B. fuit, fuit ista virtus (‚es gab sie, es gab sie, diese Tugend’) • Anapher (‚Wiederholung’ eines Worts am Anfang von Sätzen oder Satzteilen): z.B. testis est Italia, testis est Sicilia (‚mein Zeuge ist Italien, mein Zeuge ist Sizilien’) • Epipher (Wiederholung eines Worts am Ende von Sätzen oder Satzteilen): z.B. visum ab omnibus, lectum ab omnibus (‚gesehen von allen, gelesen von allen’) • Alliteration (Wiederholung des Anlauts in aufeinanderfolgenden Wörtern): z.B. veni, vidi, vici (‚ich kam, sah, siegte) • Parallelismus (gleicher Bau einander entsprechender Sätze oder Satzglieder): z.B. matri familiaris, patri alienus (‚der Mutter vertraut, dem Vater fremd’). Typische Gedankenfiguren sind: • Klimax (gr. ‚Leiter’ => Steigerung): z.B. vincula, carcerem, verbera, secures, crucem (‚Fesseln, Kerker, Schläge, Beile, Kreuz’) • Oxymoron (Zusammenstellung sich widersprechender Ausdrücke): z.B. cum tacent, clamant (‚indem sie schweigen, schreien sie’) Ein schönes Beispiel für die Kombination aus Alliteration (einfach unterstrichen), Anapher (doppelt unterstrichen), Parallelismus und Klimax bietet der Anfang von Ciceros berühmtester Rede, der 1. Rede gegen Catilina. Cicero hielt diese Rede als Consul im Jahre 63 v.Chr. vor dem Senat, um diesen gegen den der Verschwörung verdächtigen Catilina, einen Konkurrenten bei der zurückliegenden Konsulatswahl, zu aktivieren. Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? Quam diu etiam furor iste tuus nos eludet? Quem ad finem sese effrenata iactabit audacia? Nihilne te nocturnum praesidium Palati, nihil urbis vigiliae, nihil timor populi, nihil concursus bonorum omnium, nihil hic munitissimus habendi senatus locus, nihil horum ora voltusque moverunt? (I,1; ed. Lord 1959). ,Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld mißbrauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen? Erschütterte dich nicht der nächtliche Posten auf dem Palatin, nicht die Wachen in der Stadt, nicht die Furcht des Volkes, nicht die Zusammenkunft aller Rechtschaffenen, nicht diese fest verwahrte Stätte der Senatssitzung, nicht die Mienen und Blicke der Anwesenden? ’ (Übers. nach Fuhrmann 1970). Darüber hinaus bilden die Alliterationssätze eine Trias (‚Dreiergruppe’), die durch nihil verbundenen Satzteile eine Doppeltrias. Wenn diese Rede jemals in dieser Form gehalten worden ist, dann ist sie ein typischer Fall von konzeptioneller Schriftlichkeit im Medium der Mündlichkeit - und dennoch gut verständlich. Nicht umsonst gilt ihr Verfasser seit 2000 Jahren als Inbegriff des Redners. <?page no="252"?> 8 Zeittafel 8.1 Phase der Ausdehnung des Römischen Imperiums Italien ab 1200 v.Chr. Einwanderung der Italiker und Illyrier in Italien ab 900 Einwanderung der Etrusker in Italien ab 800 Gründung griechischer Kolonien in Süditalien (die Griechen nannten die kalabrische Halbinsel „Italia“) 753 sagenhafte Gründung Roms 510 Ende der etruskischen Königsherrschaft (letzter König: Tarquinius Superbus), Beginn der römischen Republik ab 400 Erste Kelteneinfälle in Italien, Ansiedlung der Kelten in der Po-Ebene (daher Gallia cisalpina ‚das Keltenland diesseits der Alpen’) 387 Rom zeitweise von Kelten besetzt 272 Übergabe Tarents, Herrschaft Roms über Unteritalien 264-241 1. Punischer Krieg: Vertreibung der Karthager aus Sizilien, Sardinien und Korsika 191 Herrschaft über Oberitalien (ganzes heutiges italienisches Gebiet gehört zum Imperium Romanum) Iberische Halbinsel ab 1100 v.Chr. Phönizische Kolonien in Südwestspanien, Stadtgründungen, z.B. Gadir (> lat. Gades > Cádiz) und Málaka (> Málaga) ab 1000 Besiedlung der Halbinsel durch indogermanische Keltiker, Keltiberer, Gallaeci, Asturier, Kantabrer, Turduler, Turdetaner und Ligurer sowie durch nichtindogermanische Basken, Iberer und Tartessier ab 600 Griechische Kolonien in Südostspanien, z.B. Rhodé (> Rosas/ kat. Roses) und Emporion (> Ampurias/ kat. Empúries) ab 500 Karthager lösen die Phönizier als Hauptkolonialmacht in Spanien ab 241 Gründung eines römischen Kolonialreichs auf der Pyrenäenhalbinsel 226 Ebrovertrag: Rom u. Karthago legen den Ebro als Grenze ihrer Einflußbereiche fest 218-201 Konflikt um Sagunt (mit Römern verbündete Stadt auf karthagischem Gebiet, ab 219 von Karthagern belagert) => 2. Punischer Krieg: Hannibal zieht über Spanien nach Rom und überschreitet 218 den Ebro 218 röm. Heer unter Führung Scipios d.Ä. landet in Emporion, um Hannibal den Nachschub abzuschneiden. Von hier aus Eroberungen an der Küste entlang Richtung Südwesten 201 endgültige Niederlage Karthagos: Abtretung der iberischen Gebiete <?page no="253"?> Phase der Ausdehnung des Römischen Imperiums 253 197 Teilung der röm. Gebiete auf der Iber. Halbinsel (v.a. Südu. Ostküste) in zwei Provinzen: • Hispania citerior (Nordosten der Halbinsel): Tarraco (Tarragona) und Carthago Nova als Hauptstädte • Hispania ulterior (Südwesten der Halbinsel): zunächst ohne feste Hauptstadt, später z.T. Corduba (Cordoba) 121 Eroberung der Balearen abgeschlossen 49-44 z.T. Austragung des röm. Bürgerkriegs auf span. Boden; so erobert z.B. Caesar 49 Ilerda (> Lérida/ Lleida) gegen das Röm. Reich und besiegt 45 bei Munda (Nähe Corduba) die Söhne des Pompeius 29-19: Unterwerfung der Kantabrer u. Asturer im Norden, z.T. unter Führung von Augustus 15 v.Chr. Neuordnung in 3 Provinzen: • Hispania citerior > Provincia Tarraconensis (Norden/ Nordosten der Halbinsel; ca. 50% der Halbinsel): Hauptst. Tarraco • Lusitania (Südwesten der Halbinsel): Hauptstadt Emerita Augusta > Mérida • Hispania ulterior > Baetica/ Baetis (Süden der Halbinsel): Hauptstadt Corduba (Fluß Baetis => arab. Guadalquivir) Gallien ab 800 v.Chr. griech. Kolonien in Massalia (> Marseille), Nikaia (> Nice) und Agathé Tiché (Agde); parallel Einwanderung keltischer Stämme aus Nordosten => Verdrängung der im Süden beheimateten Ligurer Richtung Osten (Côte d’Azur, Oberitalien) 130-125 Bündnis zwischen Griechen und Römern zur Unterwerfung der Ligurer (125: Zerstörung des Ligurerzentrums Entremont) 121 Sieg der Römer gegen Averner und Allobroger => Errichtung der Provincia Gallia Narbonensis (als Teil der Gallia transalpina) 101 entscheidender Sieg unter Marius gegen die Kimbern bei Vercellae (heutiges Vercelli im Piemont) => Ende der Germanengefahr für Rom 60/ 59 Einrichtung des 1. Triumvirats (Pompeius, Crassus und Caesar) gegen Teile des Senats (60); Caesar wird dennoch 59 zum Consul gewählt 58 Suebenführer Ariovist (Germane) verbündet sich mit den Sequanern (Kelten) zunächst gegen die ebenfalls keltischen Häduer und dann gegen die Römer => Ausbruch des gallischen Krieges 55 Konsulat von Pompeius und Crassus, im Gegenzug wird Caesars Kommando in Gallien verlängert (Pompeius bekommt Spanien, Crassus Syrien) 51 Caesar besiegt den rebellischen Avernerführer Vercingetorix bei der Belagerung Alesias => ganz Gallien unter röm. Herrschaft. Die Provincia Narbonensis untersteht direkt dem Senat; einem vom Kaiser ernannten Legaten unterstehen die Tres Galliae, d.h. Belgica, Celtica - später nach ihrer Hauptstadt Lugdunum (Lyon) in Lugdunensis umbenannt - und die 10 v.Chr. von Augustus eingerichtete Aquitania. <?page no="254"?> Zeittafel 254 Eroberung der übrigen Gebiete des Imperium Romanum 3./ 2. Jh.v.Chr. Albanien (219), Küste Dalmatiens (168), Macedonien (148), Karthago (146), Griechenland (146), Türkei (133) 1. Jh.v.Chr. Teile Kleinasiens (ca. 60), Dalmatien u. Illyricum (entsprechen zusammengenommen in etwa Slowenien, Kroatien und Bosnien- Herzegowina: 33), Ägypten (30), Mösien (entspricht Teilen Serbiens, Bulgariens u. Rumäniens: 29), nördliches Voralpengebiet: Noricum (> Österreich: 16), Raetien (> Schweiz: 15) 1. Jh. n.Chr. Pannonien (> Ungarn: 10), Britannien (43), Thrakien (> Restbulgarien: 45), Dekumatenland (> Süddeutschland bis an den Limes: 69) 2. Jh. n.Chr. Dakien (> Restrumänien: 107), Armenien u. Mesopotamien (> Irak: 117) => größte Ausdehnung des Imperium Romanum 117 n.Chr. unter Trajan 8.2 Zerfall des Röm. Reiches/ Entwicklung der Romania 9 n.Chr. Schlacht im Teutoburger Wald; drei röm. Legionen unter Varus vom Cheruskerfürsten Arminius vernichtet => Aufgabe der erst 12 v.Chr. errichteten Provinz Germanien, aber Halten der Rheingrenze 1.-2.Jh. ständige Grenzkämpfe in den nördlichen Provinzen 212 Constitutio Antoniniana: Verleihung des röm. Vollbürgerrechts an alle freien Provinzbürger (u.a. zur Sicherung der Grenzen) ab 250 Alamannen kämpfen am süddeutschen Limes mit Rom und brechen im Laufe des 3.Jh. immer wieder in Ostgallien ein 3.-4.Jh. die aus China vertriebenen Hunnen treiben ab 350 die Alanen (nordiranisches Nomadenvolk) und ab 375 die Ostgoten (Germanenstamm) vor sich her in Richtung Westen 305 Reichsreform unter Diokletian führt zu Parzellierung => Außengrenzen des IR werden nicht mehr zentral von Rom aus verteidigt. Konsequenz für Romania: Carthaginiensis (Südosten der Iberischen Halbinsel) und Gallaecia (Nordwesten) als zusätzlich eingerichtete Provinzen in Hispanien (jetzt insgesamt 5 Provinzen) 312 Konstantin besiegt den Rivalen Maxentius bei der Milvischen Brücke nahe Roms, was auf göttlichen Beistand zurückgeführt wird => ab 313 wird das Christentum mehr und mehr zur röm. Staatsreligion ab ca. 350 ständige Germanenangriffe auf nördliche Reichsgrenzen; einzelne Übergriffe der Franken nach Gallien 395 Aufteilung des Römischen Reichs nach Tod des Kaisers Theodosius d.Gr. unter dessen Söhnen: • Honorius: Westrom, Hauptstadt ab 404 Ravenna • Arcadius: Ostrom, Hauptstadt Konstantinopel (= bis 330 Byzantion, ab 1930 Istanbul) ab 401 Angriffe der Westgoten gegen Italien (unter Alarich) <?page no="255"?> Zerfall des Röm. Reiches/ Entwicklung der Romania 255 400-450 Hunnen dringen unter Attila in Gallien und Italien (Po-Ebene) ein; zurückgeschlagen 451 in Schlacht bei den Catalaunischen Feldern (bei Troyes) 405 Aufgabe des Limes durch die Römer 406/ 7 ca. 25.000 ostgermanische Burgunder überqueren den Rhein, werden von den Hunnen und Römern geschlagen und ab 443 zwischen Neuenburger und Genfer See zwangsangesiedelt 408 erste Belagerung Roms durch die Westgoten, Abzug nach riesigen Kontributionszahlungen ab 409 Eindringen von westgerm. Sueben (Galizien), ostgerm. Vandalen (Wandalucía/ Al-Andalus > Andalusien) u. Alanen (Portugal) auf der Iber. Halbinsel; später von Westgoten im römischen Auftrag bekämpft 410 Einnahme und Plünderung Roms durch den Westgotenfürsten Alarich 418 Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien: Beginn des Westgotenreichs mit Zentrum Tolosa, verbündet mit Rom; in der Folge Ausdehnung des Westgotenreichs bis an die Loire und die Rhône 429 Gründung des Wandalenreichs in Nordafrika 5.Jh. Bretonen werden in Großbritannien von den einwandernden Angeln, Sachsen und Jüten vertrieben und siedeln nach Armorika (Bretagne) über (= „Inselkelten“) 2.H. 5.Jh. systematische Expansion der Franken nach Westen (unter dem Merowinger Childerich) 472 Rückeroberung der Lusitania, 474 der Tarraconensis durch Rom/ Westgoten von den Wandalen 476 Zerfall des Weströmischen Reichs (Westgotenfürst Odowaker setzt Romulus Augustulus ab; wird 493 selbst nach Kampf um Ravenna vom Ostgotenkönig Theoderich erschlagen) 486 Childerichs Nachfolger, der Frankenkönig Chlodwig (Clovis; Salier) vernichtet bei Soissons die letzten Reste römischer Präsenz, das galloromanische Reich des Syagrius => Grundstein für Merowingerreich mit Hauptstadt Paris; in der Folge Verschmelzung fränkischgermanischer und galloromanischer Aristokratie 493-526 Ostgotenreich unter Theoderich, Residenz: Ravenna 507 Frankenkönig Chlodwig vertreibt die Westgoten aus Gallien auf die iberische Halbinsel => gesamtes Gebiet bis auf Nord- (Asturer, Kantabrer, Basken) und Westküste (Suebenreich) wird westgotisch, Hauptstadt nach Süden verlegt => bis 560: Barcelona, bis 711: Toledo 527-626 Oström. Kaiser Justinian besetzt u.a. Italien und die span. Mittelmeerküste, Phase der erneuten Einigung von Ost- und Westrom 568 Einfall der Langobarden in Italien, die Einheit Italiens zerbricht: => 3 Mächte auf ital. Boden: • Byzanz (v.a. Küstengebiete) • Langobarden (Norden und Kleinreiche im mittleren u. südlichen Inland) • Päpste in Rom (ab 739 mit Unterstützung der hinzugerufenen Franken) <?page no="256"?> Zeittafel 256 ab 711 arabische und afrikanische Heere überschreiten Meerenge von Gibraltar und erobern die iberische Halbinsel 732 Karl Martell schlägt die Muslime bei Tours und Poitiers, südliche Teile des Frankenreichs werden zurückerobert (Beginn der Karolingerdynastie), in Spanien dauert die Rückeroberung („Reconquista“) aber bis 1492 774-1260 Frankreich und Italien: Vorherrschaft der Franken nach Unterwerfung der Langobarden durch Karl d. Gr. (ab 768 König der Franken, ab 774 König der Langobarden; 800 Kaiserkrönung in Rom; † 814) ab 12. Jh. Italien: zunehmende Selbständigkeit der großen Städte (Genua, Pisa, Venedig, Florenz, Mailand etc.) 1453 Ende des Oström. Reichs mit Eroberung Konstantinopels durch die Türken 8.3 Erste romanische Sprachdenkmäler Frankreich: 842 Eidesformel: Serments de Strasbourg um 880 erstes literarisches Denkmal: Séquence d’Eulalie um 1100 Nationalepos: Chanson de Roland Italien: um 800 Rätseltext: Indovinello Veronese um 960 Gerichtsurteile: Placiti Cassinesi ab 1200 erste literarische Volgare-Texte in der Toscana u. angrenzenden Gebieten (ca. 1200: Ritmo laurenziano; 1225/ 26: Cantico di frate Sole) Spanien: um 980 Klösterliche Liste über die Ausgabe von Käse: Nodicia de kesos 11.Jh. Klösterliche Glossen: Glosas Emilanenses, Glosas Silenses um 1200 Nationalepos: Poema de Mio Cid <?page no="257"?> 9 Lösungen zu den Übungen Lösungen zu Aufgaben 2.6 (Varietäten) Hier handelt es sich nicht um Transfer- oder Übungsaufgaben. Alle Fragen werden im Kapitel selbst beantwortet oder haben explizit eigene Recherche zum Ziel. Die Angabe von Lösungen ist hier also unsinnig. Lösungen zu Übungen 3.4 (Phonetik/ Phonologie) a) aquă in piscinā est. ‚Das Wasser ist im Fischteich.’ homines măli sub mālo sedent. ‚Schlechte Menschen sitzen unter einem Apfelbaum.’ pecuniă fūris inventa est. ‚Das Geld des Diebes ist gefunden worden.’ b) sp. cuando - it. quando - frz. quand: Alle drei Wörter gehen auf lat. quando zurück. Im Spanischen und Italienischen ist die Lautung / kw/ erhalten geblieben, im span. Orthographiesystem wird aber die Lautkombination [kw] grundsätzlich <cu> geschrieben, im ital. System <qu>. Im Französischen hingegen wird / k/ gesprochen und, je nach Etymon, <c> (z.B. beim gleich lautenden camp ‚Lager’) oder <qu> geschrieben. sp. beso - sp. vaso: Beide Anlaute werden im Neuspanischen gleich ausgesprochen. Die unterschiedliche Schreibung erinnert an die unterschiedliche Herkunft der beiden Grapheme: beso von lat. basium und vaso von lat. vas (bzw. vlat. vasum). Hier also ausnahmsweise einmal ein etymologischer Zug in der span. Orthographie. c) Palatalisierung: Verlegung des Artikulationsortes von hinten (Hintergaumen = Velum) nach vorne (Vordergaumen = Palatum). Dadurch, dass nach der Palatalisierung häufig die Zähne bzw. der Zahndamm an der Artikulation beteiligt sind, entsteht quasi als Nebenprodukt der Palatalisierung oft ein Zischlaut. Dissimilation: lautliche Entwicklung, bei der zwei benachbarte gleiche oder ähnliche Laute zu zwei verschiedenen Lauten werden. Synkopierung: Verstummen unbetonter Zwischenvokale. d) lat. pontem > it. ponte, sp. puente, frz. pont, port. ponte, kat. pont => Verstummen des Auslautkonsonanten (und z.T. -vokals); im Span. auch Diphthongierung der betonten Silbe. lat. defendĕre > it. difendere, sp. defender, frz. défendre, port. defender => Verstummen des Auslautvokals; im Ital. auch e > i im Rahmen des Quantitätenkollapses. lat. edictum > it. editto, sp. edicto, frz. édit, port. edito: Auslautkons. -m verstummt überall, Auslautvokal -u fällt mit -o zusammen und verstummt im Frz.; / kt/ -Nexus wird im Ital. assimiliert, im Frz. und Port. zu / t/ reduziert. Im Span. ist lat. edictum nicht erbwörtlich überliefert (das Erbwort hätte *edicho gelautet), sondern nur als im 15.Jh. entlehnter Kultismus edicto. lat. focum > it. fuoco, sp. fuego, frz. feu, port. fogo, kat. foc: Im Kat. und Frz. Verstummen der Auslautsilbe, ansonsten nur des Auslautkosonanten bei gleichzeitigem Zusammenfall des Auslautvokals mit -o. Im Ital., Span. und Frz. zusätzlich Diphthongierung des betonten Vokals. <?page no="258"?> Lösungen zu den Übungen 258 e) desiderare > it. desiderare (Sonorisierung [s] > [z]); fr. désiderer ([s] > [z], unbetontes Auslaut-e verstummt, betontes [a] > [e]); sp. desear (Auslaut-e verstummt, unbetonter Zwischenvokal [i] wird synkopiert, [d] nach [s] und [r] zwischen [e] und [a] verstummen). centum > it. cento (Auslaut-m verstummt, Auslaut-u fällt wegen Quantitätenkollaps mit [o] zusammen, Anlaut wird palatalisiert/ assibiliert: [k] > [tS]); sp. ciento (Auslaut wie it.; betontes [e] wird diphthongiert zu [je], Anlaut palatalisiert: [k] > [T]); fr. cent (Auslautsilbe verstummt ganz, [e] wird unter Einfluss von [n] nasaliert, [n] selbst verstummt, Anlaut wird palatalisiert/ assibiliert: [k] > [s]). noctem > it. notte (Verstummen von Auslaut-m, Assimilation des -kt-Nexus); sp. noche (Verstummen von Auslaut-m, Palatalisierung und Assibilierung des -kt-Nexus); fr. nuit (Verstummen der gesamten Auslautsilbe, Vokalisierung des kt-Nexus mit entsprechender Auswirkung auf [o], das zum Halbvokal wird). Lösungen zu Übungen 4.3.6 (Nominalmorphologie KL) a) millesimo septuagesimo primo: Ordnungszahl, Abl.Sg.m - 1071 (...anno: ‚im 1071. Jahr’; nach Bembo wäre Venedig also im Jahre 421 n.Chr. gegründet worden [1492-1071]). tribus: Kardinalzahl, Abl.Pl. - ‚drei’ (tribus cum navibus: ‚mit drei Schiffen’). tres et triginta: Kardinalzahl, unveränderlich - ‚33’ (tres et triginta totos dies: ‚33 ganze Tage lang’). sex: Kardinalzahl, unveränderlich - ,6’ (sex numero: ‚6 an der Zahl’). duae: Kardinalzahl, Nom.Pl.f - ‚zwei’ (quarum duae: ‚zwei von ihnen’). b) frz. impossible < im-possibilis; antécedent < ante-cedentem; contredire < contra-dicĕre sp. desigual < dis-aequ-alem; preclásico < prae-class-icum; sobreponer < supra-ponĕre it. incidere < in-cidĕre; riparlare < re-parabolare; sostituire < sub-stituĕre fr. animation < animat-ionem; béatitude < beati-tudinem; moniteur < monit-orem sp. actriz < act-ricem; igualdad < aequali-tatem; verdoso < virid-osum it. sottoalimentazione < subter-ali-ment-at-ionem; 1 riduttore < re-ductorem. c) qualitatis - qualitas; passu - passus; longiores - longior; his pueris - hic puer; panem nostrum - panis noster. d) lupis - acribus; passum - duodecimum; muros - magnos; materiae - optimae; hominum - illorum; mare - nostrum; civibus - miseris. e) dona bona Nom./ Akk.Pl.n ‚gute Gaben’ qualitatis maximae Gen.Sg.f ‚von bester Qualität’ senatu honesto Abl.Sg.m ,von dem ehrenwerten Senat’ oratorum eloquentium Gen.Pl.m ,der eloquenten Redner’ principiis veteribus Dat./ Abl.Pl.n ,den/ durch die alten Grundsätze(n)’ auditorium grande Nom./ Akk.Sg.n ,die große Zuhörerschaft’ cervisiam tertiam Akk.Sg.f ,das dritte Bier’. f) urbs magna: ,die große Stadt’ => maior, maxima bellum crudele: ,der grausame Krieg’ => crudelius, crudelissimum magistros superbos: ,die hochmütigen Lehrer’ => superbiores, superbissimos regis potentis: ,des mächtigen Königs’ => potentioris, potentissimi 1 Dieses Wort existierte natürlich im Lateinischen noch nicht, sehr wohl aber seine Bestandteile. <?page no="259"?> Lösungen zu den Übungen 259 vinis bonis: ,den/ durch die guten Weine(n)’ => melioribus, optimis. g) nigros: Akk.Pl.m von niger ,schwarz’; niveos: Akk.Pl.m von niveus ,weiß’; beide beziehen sich auf dentes (Akk.Pl.m) ,Zähne’; quae: Nom.Sg.f ,welche, was’, bezogen auf ratio: Nom.Sg.f ,Ursache’; haec: Nom.Sg.f ,diese/ die letztgenannte’, bezogen auf Laecania; illa: Nom.Sg.f ,jene/ die erstgenannte’, bezogen auf Thais; suos: Akk.Pl.m ,die eigenen’, bezogen auf dentes. Übersetzung: ,Thais hat schwarze Zähne, Laecania weiße. Was ist der Grund dafür? Letztere hat gekaufte [erg. Zähne], erstere ihre eigenen.’ Lösungen zu Übungen 4.4.5 (Nominalmorphologie VL und SL) a) Spedusam - Isidorum - panem. b) hominis - Paulo - beatior - felicior. c) exercitibus (Dat.Pl.: ‚den Heeren’/ Abl.Pl. ‚durch die Heere’) => exercitis (nach Zusammenfall der u-Dekl. mit der o-Dekl.) => ad exercitos (für den Dativ) bzw. per exercitos (für den Abl.) (nach Aufgabe des Ablativs und Verwendung des Akk. als obliquer Universalkasus in Verbindung mit Präpositionen). puellarum (Gen.Pl.: ‚der Mädchen’) => de puellis (nach Ersetzung des Genitivs durch Präpos. + Abl.) => de puellas (nach Ersetzung des Abl. durch obliquen Universalkasus). nationi (Dat.Sg.: ‚der Nation’; Stammform natio, -onis, f) => ad natione(m) senatoris (Gen.Sg.: ‚des Senators’) => de senatore(m) clariorem (Akk.Sg. m/ f, Komparativ v. clarus, 3 ‚den berühmten/ die berühmte’) => plus/ magis clarum/ claram. d) eiusdem (Gen. Sg.m/ f/ n: ‚desselben’) => ipsius (nach Verschiebung im Pronominalsystem) => de ipso (nach Verfall des Kasussystems und Kompensierung des Informationsverlusts durch Hinzufügung einer Präposition). huic (Dat. Sg. m/ f/ n: ‚diesem hier’) => isti => ad istum (s.o.) eam (Akk. Sg. f: ‚diese’) => ipsam illos (Akk. Pl. m: ‚jene’) => eccum illos. e) Akk. fontem - Nom. caballi - Nom. filiae - Akk. codicem. f) ipsa: in der Funktion eines Demonstrativums an Stelle von klass. ea => ‚diese’ statt ‚sie selbst’. ingens … valde ‚sehr groß’ in analytischer Form (mit separatem Adverb) anstelle des klassischen synthetisch gebildeten Elativs ingentissima. ipsi: in der Funktion eines Demonstrativums an Stelle von klass. ii oder illi. passos (‚Schritte’): Der Akkusativ Plural wird hier analog zur o-Dekl. gebildet, während passus im Klass. Latein nach der u-Dekl. flektiert wird (also Akk.Pl. passūs). In diesem Falle müsste wegen der Mengenangabe milia klassisch aber sogar der partitive Genitiv stehen, also milia passuum sedecim (wörtlich: ‚16.000 von den Schritten’). milia passuum ist steht auch lexikalisiert für ‚Meile’. ipsam (‚genau dieses, dasselbe’): steht hier an Stelle von klass. eandem. <?page no="260"?> Lösungen zu den Übungen 260 Lösungen zu Übungen 4.5.9 (Verbalmorphologie KL) a) cinis: Nom.Sg.m ‚Asche’; cadit: 3.Sg.Ind.Prs.Akt. ‚er/ sie/ es fällt herab’; rarus: Nom.Sg.m ‚selten/ wenig’; respicio: 1.Sg.Ind.Prs.Akt. ‚ich blicke zurück’; densa: Nom.Sg.f ‚dicht’; tergis: Dat.Pl.n ‚Rücken’; imminebat: 3.Sg.Ind.Impf.Akt. ‚er/ sie/ es bedrohte’ (mit Dativ); quae Rel.Pron. Nom.Sg.f, bezogen auf caligo; nos: Akk.Pl. ‚uns’; sequebatur: 3.Sg.Ind.Impf.Akt.(Deponens) ‚er/ sie/ es folgte’; videmus: 1.Pl.Ind.Prs.Akt. ‚wir sehen’; via: Abl.Sg. ‚Straße’; turba: Abl.Sg. ‚von der Menge’. => Als der Ascheregen einem Sturzbach gleich von hinten droht, schlägt Plinius seiner Mutter vor, die Straße zu verlassen, um nicht von der in Panik fliehenden Menge totgetrampelt zu werden. b) relinquitur: 3.Sg.Ind.Prs.Pass. von relinquĕre; ‚er/ sie/ es wird zurückgelassen’ => relinquatur amati eramus: 1.Pl. Ind.Plpf.Pass. von amare; ‚wir waren geliebt worden’ => amati essemus deleverunt: 3.Pl.Ind.Pf.Akt. von delēre; ‚sie hatten zerstört’ => deleverint tegebam: 1.Sg.Ind.Impf.Akt. von tegĕre; ‚ich bedeckte’ => tegerem cuperis: 2.Sg.Ind.Prs.Pass. von cupĕre; ‚du wirst begehrt’ => cupiaris venisti: 2.Sg.Ind.Pf.Akt. von venire; ‚du bist gekommen’ => veneris. c) clamarem: 1.Sg.Konj.Impf.Akt. von clamare; ‚ich würde rufen’ => clamarer intellexisti: 1.Sg.Ind.Pf.Akt. von intellegĕre; ‚du hast verstanden’ => intellectus es abit: 3.Sg.Ind.Prs.Akt. von abire; ‚er/ sie/ es geht weg’ => abitur duxeratis: 2.Pl.Ind.Plpf.Akt. von ducĕre; ‚ihr hattet geführt’ => ducti eratis respondebit: 3.Sg.Ind.Fut.Akt. von respondēre; ‚er/ sie/ es wird antworten’ => respondebitur. Lösungen zu Übungen 4.6.8 (Verbalmorphologie VL/ SL) a) 1-2-4, 2-3-1, 3-1-3, 4-6-5, 5-4-2, 6-5-6. b) KL: ‚das Buch ist gelobt worden’ - VL: ‚das Buch wird gelobt’ KL: ‚die Hütte war gebaut worden’ - VL: ‚die Hütte wurde gebaut’. c) appellare habemus, venerunt, habebat mandatum, habeo constructum. d) 1: lateinisch geschriebene Wörter: v.a. Präpositionen und Konjunktionen (pro, et, in, cum, ab, per), daneben einzelne Pronomina (quid, qui, me), ein Substantiv (Deus), ein Adverb (nunquam) und eine Verbform (sit). 2: neufranzösisch geschriebene Wörter: son, si (entspricht aber nfr. ainsi) il, commun, nul, et, qui (in den letzten beiden Fällen also nicht entscheidbar, ob lateinisch oder frz.). 3: Nominalmorphologie: Zwei-Kasussystem (Deus als Rectus vs. Deo als Obliquus, hier in Genitivfunktion); Formen aber noch instabil, so heißt es z.B. im Obliquus einmal Karle und einmal Karlo bzw. fradre und fradra, bei den Pronomina einmal mi und einmal me (und zwar ohne Funktionsunterscheidung). 4: Verbalmorphologie: wirkt überwiegend romanisch: Die Infinitive sabir und podir gehen auf spätlateinisch angeglichene Formen zurück (sapēre statt klassisch sapĕre, potēre statt klassisch posse). Das Futur ist bereits wieder synthetisiert worden (prindrai < prehendere habeo; salvarai < salvare habeo), es steht aber noch kein obligatorisches Subjektpronomen bei den Verbformen. An das Lateinische erinnern die Formen dunat (vgl. lat. donat) und fazet (vgl. lat. facit). Lediglich bei <?page no="261"?> Lösungen zu den Übungen 261 der Formel in damno sit ist eine lat. Verbform, und zwar der Konj.Präsens von esse, im Originalzustand erhalten. 5: Nähe zu Spanisch und Italienisch: pro (vgl. it. pro), poblo (vgl. sp. pueblo), salvar (vgl. sp. salvar, it. salvare), nostro (vgl. it. nostro, sp. nuestro), cosa (vgl. it./ sp. cosa), podir (vgl. sp. poder), aiudha (vgl. sp. ayuda), cadhuna (vgl. sp. cada una), fradre (vgl. it. fra/ frate/ fratello; sp. fraternal). Lösungen zu Übungen 5.5 (Syntax) a) Hauptsatz: arma virumque cano; Gliedsatz 1.Ebene: Relativsatz von Troiae bis Romae. In diesen Gliedsatz eingebettet: drei Participia Coniuncta (profugus, iactatus und passus), die sich jeweils auf das Subjekt qui des Relativsatzes beziehen, sowie der Temporalsatz (also ein Gliedsatz 2.Ebene) dum ... Latio. An die adverbiale Bestimmung des Ortes Latio schließt sich nochmals ein verkürzter (das Verb fehlt), mit unde eingeleiteter Relativsatz an, also ein Gliedsatz 3.Ebene. Subjekt des Hauptsatzes ist der Sänger selbst (steckt nur in der Personalendung cano), cano ist Prädikat, arma virumque direktes Objekt, der sich anschließende Relativsatz ist Attribut zu virum. b) 1 NcI: ‚Man glaubte, dass Markus die Griffel genommen habe.’ 2 Abl.Abs.: ‚Nachdem die Schlacht beendet war, zogen sich die Gallier zurück.’ 3 AcI (nach unpers. Ausdruck): ‚Die Schüler müssen Bücher lesen.’ 4 PC: ‚Die Gallier fanden die von den Römern zurückgelassenen Pferde.’ c) 1 Paula pontem transgredi videtur. 2 magistri multum legisse putantur. d) Bibelstil: fast ausschließlich koordinierte Hauptsätze, verknüpft zumeist durch die Konjunktionen et oder -que. Abweichungen in fr. Übers.: Tilgung einiger koordinierender Konjunktionen, keine Nachahmung des Genitivus Qualitatis in Satz 1 (sondern avoir + Obj.). Abweichungen in it. Übers.: Nominale Wiedergabe des Gliedsatzes cum…oriente; Wiedergabe des Hauptsatzes invenerunt campum als Gliedsatz, abhängig vom unpersönl. Ausdruck avenne che. Abweichungen in sp. Übers: Wiedergabe des Hauptsatzes invenerunt campum als Gliedsatz, abhängig vom unpersönl. Ausdruck aconteció que; die Gesprächspartner alter/ proximus werden in den Plural gesetzt: unos/ otros. Übersetzung: ‚Die Erde aber war nur durch eine einzige Sprache und ebensolche Redeweisen charakterisiert. Und als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Sinear, und sie wohnten in ihr. Und einer sagte zu seinem Nächsten: Kommt, lasst uns Ziegel machen und sie im Feuer brennen.’ Lösungen zu Übungen 6.6.1 (Wortschatz) a) unus de principibus statt unus principum (Gen.Pl.), ejus statt eius, adorabit statt adoravit (Perfekt), jn statt in, suscitabi statt suscitavi, nabes statt naves, jnpugnavi statt impugnavi, quemdam statt quendam (Akk. von quidam), feci + AcI statt feci ut + finaler Gliedsatz. b) lueco > sp. luego ‚später’; lebantai > sp. levanté (Indefinido: ‚ich habe erhoben’), vgl. it. levare, fr. lever ‚heben’; pugna (geht zurück auf pugnus ‚Faust’ bzw. pugnare ‚kämpfen’): vgl. sp. puño ‚Faust’, it. pugno ‚Faust, Faustschlag’, fr. poigne ‚Kraft’; <?page no="262"?> Lösungen zu den Übungen 262 bertiziones: vgl. sp. vertimiento ‚Vergießen’, fr. verser ‚gießen’; moveturas: vgl. sp. mover ‚bewegen’, movedor ‚bewegend’, fr. mouvoir ‚bewegen’, it. muovere ‚bewegen’; trastorne > sp. trastorné (Indefinido: ‚ich habe umgestürzt’), vgl. fr. tourner, it. tornare ‚umdrehen’, it. trasvolare ‚überfliegen’; elo terzero diabolo venot > sp. el tercer diablo vino; it. il terzo diavolo vénne; fr. le troisième diable vint; veiza: in Frz., It. und Sp. nicht erhalten; das romanische (und deutsche) Präfix vice-/ Vize- , vgl. fr. vice-président, dt. Vizepräsident geht nicht auf das Adverb vix (‚kaum, beinahe’) zurück, sondern auf das nur in Gen., Abl. und Akk. existierende Substantiv vicis, f ‚Wechsel’. Der Abl. vice bedeutet „an Stelle von“, der Vizepräsident ist also ein ‚Ersatzpräsident’, kein ‚Beinahepräsident’. c) 1 ‚Mäuschen’ > ‚Muskel’: Similarität (Metapher); Muskel > ‚Oberschenkel’: Kontiguität (Metonymie). 2 ‚am Ufer anlegen’ > ‚ankommen’: Kontiguität (Generalisierung). 3 ‚Zeugnis’ > ‚Zeuge’: Kontiguität (Handlung > Handelnder). 4 lat. passer ‚Spatz’ > sp. pájaro ‚kleiner Vogel’: Similarität + Kontiguität (Generalisierung; Spezies > Genus). 5 ‚Maulwurf’ > ‚Maus’: Similarität + Kontiguität („kohyponymische Übertragung“, d.h. der Ausdruck für ein Hyponym wird auf ein anderes Hyponym desselben Hyperonyms übertragen). 2 6 ‚kleine Schaufel’ > ‚Schulter’: Similarität (Metapher). 2 „Hyperonym“ = Überbegriff, hier z.B. Nagetier. „Hyponym“ = Unterbegriff, hier z.B. Maus. „Kohyponym“ = Unterbegriff, der unter dasselbe Hyperonym fällt, hier z.B. Maulwurf. <?page no="263"?> 10 Literaturverzeichnis Textausgaben: Caesar: Commentarii Belli Gallici, hrsg. Georg Hornig, Frankfurt a.M./ Berlin/ München: Diesterweg (1974). Cicero: Epistulae ad Atticum/ Atticus-Briefe, hrsg. Helmut Kasten, München: Heimeran ( 2 1976). Cicero: M. Tulli Ciceronis Epistulae ad familiares : libri I - XVI, hrsg. D. R. Shackleton Bailey, Stuttgart: Teubner (1988). Cicero: The Speeches with an English Translation, hrsg. Louis E. Lord, Cambridge, Mass.: Harvard University Press (1959). Cicero: Sämtliche Reden, Bd. II, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Zürich: Artemis (1970). Horaz: Q. Horati lacci Opera, hrsg. Edward C. Wickham/ H.W. Garrod, Oxford: University Press ( 2 1984). Iuvenal: Satiren, hrsg. Joachim Adamietz, München: Artemis (1993). Petronius: Satyrica, hrsg. Konrad Müller; Wilhelm Ehlers, München: Artemis ( 3 1983). Plautus: T. Macci Plauti Comoediae, hrsg. W.M. 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Es geht also nicht um Übersetzungskompetenz, sondern um das Funktionieren des lateinischen Sprachsystems und die Zusammenhänge zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen. So können Studierende im Selbststudium die Wissenslücke schließen, die durch den Verzicht auf das Latinum als Eingangsvoraussetzung entstanden ist. Das Lehrbuch behandelt Latein konsequent als Tertiärsprache, d.h. es baut auf den Kompetenzen in früher erworbenen Fremdsprachen auf und wendet zugleich die Begrifflichkeit der linguistischen Einführungen an. Es eignet sich daher ebenso gut als Lehrwerk in einführenden Proseminaren. Johannes Müller-Lancé Latein für Romanisten Ein Lehr- und Arbeitsbuch Müller-Lancé Latein für Romanisten ISBN 13: 978-3-8233-6251-7 ISBN 10: 3-8233-6251-8 062106 Stud. - Müller-Lance 10.08.2006 7: 12 Uhr Seite 1 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100%