Sprach-Perspektiven
Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache
0320
2007
978-3-8233-7295-0
978-3-8233-6295-1
Gunter Narr Verlag
Heidrun Kämper
Ludwig M. Eichinger
Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Sammelbandes zeigen, welche fachlichen Richtungen und wissenschaftlichen Gegenstände die Forschungen am IDS in den vergangenen vierzig Jahren geprägt haben und prägen, wie sich die Forschungen am IDS von der Gründung bis heute hinsichtlich ihrer Themen sowie methodisch und theoretisch formiert haben, wo sich das IDS in der heutigen Forschungslandschaft der germanistischen Linguistik befindet und welche Perspektiven das IDS bzgl. seines Forschungsprofils hat. Die Ergebnisse des Nachdenkens über 40 Jahre sprachwissenschaftliche Forschung leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der germanistischen Linguistik.
<?page no="0"?> Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hrsg.) Sprach-Perspektiven Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E <?page no="1"?> S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 4 0 <?page no="2"?> Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Ulrich Hermann Waßner und Stefan Engelberg Band 40 · 2007 <?page no="3"?> Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hrsg.) Sprach-Perspektiven Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6295-1 <?page no="5"?> Inhalt Einleitung........................................................................................................ 7 Ludwig M. Eichinger Vorhaben, Pläne, Ziele und die Umstände.................................................... 15 1. Institutionalisierung Gerhard Stickel Die Gründerjahre des IDS ............................................................................. 23 Siegfried Grosse Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 ................. 43 Friedhelm Debus Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache ............................... 61 Konrad Ehlich Das Institut für Deutsche Sprache zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege .......................................................................................... 71 2. Forschungsunternehmen aus der Geschichte des IDS Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann Das Projekt „Deutsche Wortbildung“: Werkgeschichte und wissenschaftsgeschichtliche Position .......................... 91 Alan Kirkness Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick ...................... 133 Wolfgang Mentrup Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik ................... 151 Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie ......................................................................................... 177 Christina Bankhardt Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen ..... 203 Chronologie der literarischen Erscheinungen zu den Beiträgen von Christina Bankhardt und Wolfgang Mentrup ...................................... 221 <?page no="6"?> Inhalt 6 Helmut Schumacher Valenzforschung am IDS ............................................................................ 243 Ulrike Haß Themen und Motivationen der IDS-Wortschatzforschung ......................... 283 Bruno Strecker Die „Grammatik der deutschen Sprache“ ................................................... 305 3. Aktuelle Forschungsperspektiven 3.1 Soziolinguistik und linguistische Diskursanalyse Heinrich Löffler Dialektforschung am IDS? .......................................................................... 319 Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS...................... 331 Inken Keim Von der Forschung zur Praxis: Vom Projekt „Kommunikation in Migrantenkindergruppen“ zu „Förderprogrammen für Migrantenkinder“... 367 Reinhold Schmitt Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion ...... 395 Heidrun Kämper Linguistik als Kulturwissenschaft. Am Beispiel einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs im 20. Jahrhundert ......................................... 419 3.2 Neue Technologie und Korpusanalyse Annette Klosa/ Doris Steffens Deutscher Wortschatz im Internet: Das Informationssystem elexiko und sein Modulprojekt Neologismen.......................................................... 443 Rainer Perkuhn „Corpus-driven“: Systematische Auswertung automatisch ermittelter sprachlicher Muster..................................................................................... 465 Kathrin Steyer/ Meike Lauer „Corpus-Driven“: Linguistische Interpretation von Kookkurrenzbeziehungen ........................................................................... 493 <?page no="7"?> Einleitung Im Jahr 2004 konnte das Institut für Deutsche Sprache sein vierzigjähriges Bestehen feiern. Aus diesem Anlass sollte ein Beitrag zu vierzig Jahren Linguistik am Institut für Deutsche Sprache und damit zur Wissenschaftsgeschichte geleistet werden. Dieser Beitrag in der Form des vorliegenden Sammelbandes ist jedoch kein Jubiläumsband (schon das Erscheinen mehr als zwei Jahre nach dem Geburtstag lässt dies nicht zu). Vielmehr war umgekehrt das Institutsjubiläum der Anlass, über die Entwicklung der Germanistischen Linguistik innerhalb einer ihrer Institutionen nachzudenken. Die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Sammelbandes betrachten das Institut aus der Innenperspektive - seien sie (ehemalige) Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen oder (ehemalige) Funktionsträger. Sie ziehen einerseits Bilanz, anderseits geben sie in einer Momentaufnahme Aufschluss über Forschungsprojekte des Instituts. Der Sammelband zeigt damit, welche fachlichen Richtungen und wissenschaftlichen Gegenstände die Forschungen am IDS in den vergangenen vierzig Jahren geprägt haben und prägen, wie sich die Forschungen am IDS von der Gründung bis heute hinsichtlich ihrer Themen sowie methodisch und theoretisch formiert haben, wo sich das IDS in der heutigen Forschungslandschaft der germanistischen Linguistik befindet und welche Perspektiven das IDS bzgl. seines Forschungsprofils hat. Die Ergebnisse des Nachdenkens über 40 Jahre sprachwissenschaftliche Forschung, die dem IDS das Profil einer hinsichtlich ihrer Forschungsplanung und -umsetzung komplexen historisch gewachsenen Forschungsstätte geben, leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte unseres Fachs. Auch aus diesem Grund ist der Sammelband keine Festschrift, deren Beiträge die Forschungen am IDS aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen. Die Beiträge setzen sich kritisch mit ihrem jeweiligen Gegenstand auseinander: mit der Rekonstruktion der Institutionalisierung und mit den Forschungsmotiven der dargestellten Projekte, mit forschungsleitenden Fragestellungen und Ergebnissen. Dass dabei die vierzigjährige Institutsgeschichte nicht vollständig aufbereitet werden konnte, mögen der Leser und die Leserin verzeihen. Der erste Abschnitt versammelt Beiträge, die die Phasen und Aspekte der Institutionalisierung des IDS in unterschiedlichen Hinsichten rekonstruieren. <?page no="8"?> Einleitung 8 Der langjährige Direktor Gerhard Stickel (Die Gründerjahre des IDS) rekapituliert die Institutsgeschichte der Jahre 1973 bis 2002, wobei er die Gründungsgeschichte des Instituts, Leitideen der Forschung und die Diversifizierungsgeschichte aufarbeitet und die Genese wichtiger Projekte und Publikationen nachzeichnet. Der frühere Präsident des IDS Siegfried Grosse (Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989) widmet seinen Beitrag der Erweiterung des Instituts als Folge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/ 90 und stellt die gegenseitige Annäherung der beiden universitätsunabhängigen Institutionen IDS und Zentralinstitut für Sprachwissenschaft für die germanistische Sprachwissenschaft und Linguistik vor der politischen Wende und die teilweise Integration danach in ihrer Problematik dar. Friedhelm Debus (Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache) zeichnet die institutionelle und thematische Geschichte der Jahrestagungen des Instituts nach von den „Mannheimer Tagungen des Wissenschaftliches Rates“ (bis 1967), die eher den Charakter interner wissenschaftlicher Konferenzen hatten, über die „Jahressitzungen (des Wissenschaftlichen Rates)“ (bis 1975) bis zu den großen internationalen Kongressen, die das IDS regelmäßig veranstaltet. Konrad Ehlich (Das Institut für Deutsche Sprache zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege) reflektiert die in der Satzung festgelegte Aufgabe des Instituts, nämlich die Erforschung der „deutsche[n] Sprache, vor allem in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte“ im Spannungsfeld einerseits strikter Wissenschaftlichkeit, andererseits drängender werdenden sprachpolitischen Engagements. Im zweiten Kapitel werden zentrale Forschungsprojekte aus der Anfangszeit des Instituts bzw. die mit einer langen Geschichte vorgestellt. Lorelies Ortner, Hanspeter Ortner und Hans Wellmann (Das Projekt „Deutsche Wortbildung“: Werkgeschichte und wissenschaftsgeschichtliche Position) stellen das Projekt „Deutsche Wortbildung“ vor, das Wortbildung als „Grenzgängerphänomen“ zwischen Lexikologie, Morphologie und Syntax zum Thema hatte und dessen zentrales Motiv in der möglichst vollständigen Erfassung und vieldimensionalen Beschreibung a ll e r Möglichkeiten der Wortbildung bestand, um einen Überblick zu geben über die grundsätzlich im Deutschen möglichen Wortbildungen, über den Nutzungsgrad der einzelnen Möglichkeiten und ihre semantische Beschreibung auf der Basis von rollensemantischen Konzepten unter Einbeziehung textlinguistischer sowie pragmatischer Kofaktoren. Alan Kirkness (Deutsches Fremdwörterbuch <?page no="9"?> Einleitung 9 R-Z: Rückblick und Ausblick) gibt einerseits einen Rückblick auf das Deutsche Fremdwörterbuch in seinem (wörterbuch-)geschichtlichen Kontext. Andererseits problematisiert der Autor Fremdwortlexikologie und -lexikografie im Deutschen. Wolfgang Mentrup rekonstruiert in seinem Beitrag (Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik) die Geschichte früher Wörterbuchprojekte des IDS, die er in die im 15. Jahrhundert einsetzende Tradition ‘Orthografie und Lexikografie’ stellt. Wolfgang Mentrup und Christina Bankhardt (Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie) zeichnen, daran anknüpfend, die Geschichte der (gescheiterten und erfolgreichen) Orthografiereformen - z.T. als Vorgeschichte der gerade abgeschlossenen Reform - nach. In ihrem Beitrag (Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen) stellt Christina Bankhardt schließlich das Archiv zur Geschichte der Orthografie und der Reformbemühungen vor. Helmut Schumacher (Valenzforschung am IDS) gibt einen detaillierten Überblick über die Voraussetzungen der Valenzforschung am IDS, über ihre Anfänge im Projekt ‘Grundstrukturen der deutschen Sprache’, sowie über die lexikografischen Erträge der Valenzforschung. Ulrike Haß (Themen und Motivationen der IDS-Wortschatzforschung) zeichnet in chronologischer Ordnung und anhand vor allem publizierter Quellen die zentralen Forschungsvorhaben zum deutschen Wortschatz nach und fragt auch nach den Gründen für eine teils generativsemantische, dann überwiegend klassisch-lexikografische und schließlich pragmalinguistische Ausrichtung der IDS-Wortsemantik, sowie nach der lexikologisch genutzten Computerlinguistik insbesondere der frühen Jahrzehnte. Bruno Strecker (Die ‘Grammatik der deutschen Sprache’) rekapituliert das Konzept der GDS als eine, wenn nicht vollständige, so doch breit angelegte Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, deren Realisierung seit Anfang der Achtzigerjahre forciert wurde, so dass in fast einem Jahrzehnt intensiver Arbeit ein mehr als 2500 Seiten starkes Werk entstand, das in Form der Komponente Systematische Grammatik im Rahmen des Online- Informationssystems GRAMMIS weitergeführt wurde. Ein drittes Kapitel ist aktuellen Forschungsprojekten gewidmet, und zwar einerseits aus pragmalinguistischer und diskursanalytischer Perspektive (Soziolinguistik und linguistische Diskursanalyse), andererseits werden Projekte vorgestellt, die auf der Anwendung der neuen Technologien bzw. Korpusanalysen basieren (Neue Technologie und Korpusanalyse). Heinrich Löffler (Dialektforschung am IDS? ) reflektiert den Stellenwert der Dialektologie, die <?page no="10"?> Einleitung 10 zwar offensichtlich nicht zu den Kernaufgaben des IDS gehört, dennoch immer wieder eine mehr oder weniger große Rolle spielt, z.B. im Mannheimer Stadtsprachenprojekt, im Aussiedlerprojekt der Russlanddeutschen und im Korpus „Gesprochene Sprache“, so dass das Fazit lautet: Dialekt war nie eigentliches Thema eines Projekts, tauchte jedoch immer wieder als Nebenthema auf und hatte mit einem separaten Projekt (Deutsches Spracharchiv) sozusagen Gastrecht am ansonsten dialektologie-freien IDS. Reinhard Fiehler, Peter Schröder und Peter Wagener (Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS) zeichnen die Geschichte der Forschung zur gesprochenen Sprache zunächst hinsichtlich der technischen Voraussetzungen nach, um anschließend die Anfänge der Forschung in der Außenstelle des IDS in Freiburg zu würdigen und die Überführung der Forschung nach Mannheim und die Erforschung gesprochener Sprache in unterschiedlichen Projekten (Eigenschaften gesprochener Sprache, Russlanddeutsche Varietäten) und Forschungsschwerpunkten (Grammatik gesprochener Sprache, Dokumentation gesprochener Sprache) darzulegen. Inken Keim (Von der Forschung zur Praxis: Vom Projekt „Kommunikation in Migrantenkindergruppen“ zu „Förderprogrammen für Migrantenkinder“) stellt Ergebnisse einer Untersuchung vor, die im Rahmen eines von der DFG in den Jahren 2000 bis 2004 geförderten Forschungsschwerpunkts „Sprachvariation als kommunikative Praxis: Formale und funktionale Parameter“ steht und an dem die Universität Mannheim und das IDS beteiligt waren. Sprach- und Wissensförderung von Migrantenkindern ist eines der Ziele der beteiligten Forscherinnen und Forscher. Das Einzelprojekt „Herausbildung kommunikativer Stile in türkischstämmigen Jugendgruppen in Mannheim“ ist ein Teil dieses Konzepts und beantwortet die Fragen, ab welchem Alter und unter welchen sozialen und sprachlichen Bedingungen Migrantenkinder deutschtürkisches Mixing herausbilden, über welches sprachlich-kommunikative Repertoire sie zu Schulbeginn verfügen und welche Formen von Deutsch sie im Kindergarten erwerben. Reinhold Schmitt (Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion) stellt den auf der Basis von Videoaufzeichnungen arbeitenden multimodalen Analyseansatz als systematische Weiterentwicklung der Konversationsanalyse dar und beschreibt die Rolle des IDS bei dieser Entwicklung. Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Darstellung des konversationsanalytischen Ansatzes und seiner Fokussierung auf den verbalen Teil der Interaktion, sowie einer Skizze des multimodalen Ansatzes hinsichtlich seiner methodischen und methodologischen <?page no="11"?> Einleitung 11 Spezifik, um dann aktuelle multimodale Forschungsaktivitäten der Abteilung ‘Pragmatik’ sowie Vorarbeiten in diesem Bereich vorzustellen und abschließend Entwicklungslinien eines zukünftigen Verhältnisses von Konversationsanalyse und der Analyse multimodaler Interaktion zu projektieren. Heidrun Kämper (Linguistik als Kulturwissenschaft. Am Beispiel einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs im 20. Jahrhundert) thematisiert die kulturwissenschaftliche Forschungsperspektive der Sprachwissenschaft hinsichtlich ihrer langen Tradition, die nachgezeichnet und deren neue Programmatik dargestellt wird, um exemplarisch das Selbstverständnis von Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft in ein potenzielles Forschungsprogramm zu übersetzen, das den Zusammenhang zwischen Sprache und Gesellschaft im Sinn eines zeitgeschichtlichen Diskurses als linguistischen Gegenstand beschreibt. Ein mögliches Ziel eines solchen Programms ist die Erarbeitung einer Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte sprachlicher Umbrüche. Der Abschnitt ‘Neue Technologie und Korpusanalyse’ ist drei Projekten gewidmet. Annette Klosa und Doris Steffens (Deutscher Wortschatz im Internet: Das Informationssystem elexiko und sein Modulprojekt Neologismen) stellen zum einen das lexikologisch-lexikografische Informationssystem im Internet, elexiko (früher: „Wissen über Wörter“), vor, ein auf großen elektronischen Textkorpora basiertes Wörter„buch“, dessen Ziel eine kostenlos nutzbare, an der Gegenwartssprache orientierte Darstellung (weiter Teile) des deutschen Wortschatzes im Internet ist. Zum andern wird die Integration lexikografischer Ergebnisse aus IDS-Projekten thematisiert, und zwar exemplarisch am Beispiel des Projekts zur Neologismenforschung, dem Pilotfunktion zukommt und dessen Wortartikel in die elexiko-Datenbank integriert und mit eigener Gestaltung und eigenen Recherchemöglichkeiten einem breiten Publikum angeboten werden können. Rainer Perkuhn („Corpusdriven“: Systematische Auswertung automatisch ermittelter sprachlicher Muster) stellt ein Verfahren dar, Typisches und Auffälliges der deutschen Sprache aus großen Korpora zu ermitteln. Es geht um ein abstraktes, generisches Verfahren, das große Mengen sprachlicher Daten vorstrukturiert und dessen Wert am Beispiel der Kookkurrenzanalyse nachgewiesen wird. Kathrin Steyer und Meike Lauer („Corpus-Driven“: Linguistische Interpretation von Kookkurrenzbeziehungen) zeigen - an diesen Beitrag anschließend - die Möglichkeiten umfassender Korpusanalysen, die das Prinzip der CDL (Corpus-driven Linguistics) mit den am IDS entwickelten <?page no="12"?> Einleitung 12 automatischen Verfahren erschließt. Dem Analysegang liegt als Forschungsziel zugrunde zu erklären, worin die Ähnlichkeit von Verwendungskontexten besteht, die das automatische System zu einem Cluster zusammenfasst. Die Autorinnen machen an Beispielen das Forschungsinstrument der Korpusanalyse deutlich. Die Zusammenschau dieser zwanzig Beiträge lässt erkennen: 1) Die Institutsgeschichte spiegelt die Entwicklung der germanistischen Linguistik wider: zunehmende Professionalisierung und Diversifizierung, Internationalisierung und Technisierung. 2) Die Forschungsgeschichte des IDS ist geprägt von dem jeder Wissenschaft eigenen Zusammen- und Wechselspiel von Grundlagenforschung und angewandter Wissenschaft. 3) Die Forschungsgegenstände des IDS bestehen sowohl aus den - gleichsam überzeitlich gültigen - sprachwissenschaftlichen Kernaufgaben, als auch aus die veränderte sprachliche Wirklichkeit aufnehmenden Themen. 4) Die Forschungen des Instituts nutzen die neuen technischen Medien, Präsentationsformen und Forschungsinstrumentarien, ohne traditionelle und in die neuen Technologien nicht überführbare Arbeitsweisen zu vernachlässigen. 5) Der Forschungsplan des IDS lässt erkennen, dass einerseits eine Verpflichtung zur Forschungstradition besteht, dass man aber andererseits bemüht ist, der methodisch-theoretischen Weiterentwicklung der germanistischen Linguistik zu entsprechen. Anlässlich des 25jährigen Bestehens des Instituts für Deutsche Sprache bemerkte Siegfried Grosse: Vermutlich haben seit Begründung der Sprachwissenschaft noch nie so viele verschiedene theoretische Überlegungen, methodische Ansätze, interdisziplinäre Affinitäten und empirische Erhebungen in so dichter, sich beschleunigender Folge die germanistische Forschung und Lehre bewegt wie in den vergangenen 25 Jahren. * * IDS (Hg.) (1989): Institut für deutsche Sprache 25 Jahre. Mannheim. S. 5. <?page no="13"?> Einleitung 13 Diese Feststellung hat Gültigkeit; wir können sie in Bezug auf die heutige Linguistik ebenso bestätigen, wie sie vermutlich im Jahr 2014, anlässlich des 50jährigen Instituts-Jubiläums, bescheinigt werden wird. Der Sammelband erscheint im Jahr des 400-jährigen Bestehens der Stadt Mannheim. Wir widmen der Stadt, die das Institut vor 42 Jahren aufgenommen hat und ihm seither ununterbrochen verbunden ist, diesen Band auch als Dank. Mannheim, im Frühjahr 2007 Heidrun Kämper Ludwig M. Eichinger <?page no="15"?> Vorhaben, Pläne, Ziele und die Umstände 1. Das IDS und die neue Sprachwissenschaft Bei Menschen kann man mit Fug und Recht davon ausgehen, dass sie mit vierzig Jahren erwachsen sind - oder es wohl niemals mehr werden. Gilt das auch für Institute? Man kann den vorliegenden Band auch mit diesem Gedanken im Kopf lesen. Dabei kann und soll es nicht nur um Familienerinnerungen gehen, deren Aufblättern dazu geeignet wäre, bei allen nicht zur Familie gehörigen Lesern ein tiefes Gefühl von Langeweile auszulösen. Die Familie soll nicht vergessen sein. Aber es geht nicht nur darum, vielmehr steckt das Lebensalter des IDS den Zeitraum ab, in dessen Verlauf in der Germanistik die Linguistik heimisch geworden und nach allerlei Auf und Ab in einer Normallage neben anderen Wissenschaften angelangt ist. 2. Viel Anfang Der Beginn des IDS fiel in eine Phase, da sich die würdevollen Worte hochmögender Gründerväter ebenso zu ziemen schienen wie das Bewusstsein, Vorhut von etwas Neuem zu sein. Aber auch diese Fremd- und Selbsteinschätzung konnte nicht verhindern, dass schon das noch junge IDS sehen musste, was seine Aufgaben auf Dauer sein könnten. Und nicht alle geplanten Wege liefen so geradeaus, wie man sich das gewünscht hätte. Wer hätte sich schon gedacht, dass das IDS seinen größten Umfang hatte, als es wenig mit der üblichen Arbeit des Linguisten, aber viel mit der Erforschung Künstlicher Intelligenz zu tun hatte. Das kontrastiert auch merkwürdig mit den Anfängen, die von linguistischen Aufgaben bestimmt waren, die in der damaligen Universitätsforschung keinen Platz fanden, aber doch auch alle das eine oder andere praktische Ende hatten. Das augenfälligste Beispiel dafür mag die valenzgrammatische und -lexikographische Traditionslinie des IDS sein, die sich bis auf die Anfänge zurückführen lässt, und schon bald Ausprägungen zeitigt, von der die Arbeit des IDS insgesamt geprägt sein würde. Abgesehen von solchen Entwicklungslinien, die sich aus dem Blick zurück zusammenfügen, scheint das IDS am Anfang aus einer Reihe mehr oder minder locker aufeinander bezogener Projekte zu bestehen, die zudem räumlich zerstreut waren, entsprechend den Universitätssitzen der die Projekte leitenden professoralen Betreuer. Es ist kein Zufall, dass man zu dieser Zeit nicht daran gedacht hat, Archivalien, die uns jetzt den Rückblick erleichtern würden, ordentlich abzulegen und zu verwahren. Man hatte Wichtigeres zu tun. Ob die hochgemuten Erwartungen sich erfüllen würden, hing von einer Reihe von Zufällen ab, die in angemessener Weise zu nutzen einer energischen Hand bedurfte. Davon spricht Gerhard Stickel in seinem Bericht über die frühe Geschichte des <?page no="16"?> Ludwig M. Eichinger 16 Instituts. Es ist bedauerlich, dass es niemanden gibt, der mit gleichem Wissen von den Jahren seit 1976 bis zur Jahrtausendwende erzählt hätte. Jedenfalls hat das Institut, wie Konrad Ehlich zeigt, seinen eigenen Platz zwischen Akademie- und Universitätsaufgaben gefunden, einen Platz, der ständig nach einer Neudefinition des Verhältnisses von Stetigkeit und Innovation verlangt. An einzelnen Projekten und ihrer Entwicklung lässt sich das zeigen. 3. Die allmähliche Verfestigung 3.1 Personelle „Abrundung“ So seien drei Punkte der Institutsgeschichte hervorgehoben, die zum heutigen Gesicht des IDS Wesentliches beigetragen haben. Bei der Schilderung der frühen Geschichte des Instituts ist schon mehrfach von dem - damals eher virtuellen - Verhältnis zu den entsprechenden Institutionen der DDR -Akademie der Wissenschaften die Rede gewesen. Nachdem sich beide Institutionen nach 1990 in einem Staatsverband wiederfanden, wurde, das beschreibt Siegfried Grosse, aus dem virtuellen ein realer Kontakt. Es kamen nicht nur Personen aus Berlin nach Mannheim, sie hatten eigene Projekte und eigene Vorstellungen von Institutsforschung. Vor allem in den lexikalischen und grammatischen Forschungsbereichen ergaben sich dadurch grundsätzliche Veränderungen. Zudem hat durch diesen Aufwuchs das Verhältnis von Personen und dauernd zur Verfügung stehenden Stellen in etwa die Größenordnung erreicht, die in den Planungen und Empfehlungen früherer Zeiten vorgesehen waren. 3.2 Sachliche „Versammlung“ Der zweite zu erwähnende Punkt ist zu einem erheblichen Teil eine Folge dieser personellen Veränderung. Es erwies sich, und wurde in der Mitte der 1990er Jahre vom Wissenschaftsrat durchgeführten Evaluation besonders sichtbar, dass die bis dahin existierende Organisationsstruktur den neuen strukturellen Anforderungen nicht mehr recht gewachsen war. Gleichzeitig hatten sich Kerne der Arbeiten herausgestellt, an denen sich eine neue Organisationsform orientieren konnte. Da ist zum einen die damals auf die Publikation zugehende Deutsche Grammatik, die mit der Verknüpfung von funktionalen und formalen Eigenheiten des Deutschen nicht nur eine Summe aus den grammatischen Erfahrungen am Institut zieht, sondern auch zu vielen Dingen etwas sagt, die in bisherigen Beschreibungen keinen oder allenfalls einen marginalen Platz gefunden hatten. Zum anderen fällt in diese Zeit auch das ausführlich dokumentierte Stadtsprachenprojekt, das in prototypischer Weise für die gesprächsanalytischen Arbeiten am Institut steht. Sie schlagen sich nicht zuletzt in einer immer wieder anders gearteten <?page no="17"?> Vorhaben, Pläne, Ziele und die Umstände 17 Erforschung der türkisch-deutschen Binnenmehrsprachigkeit in der städtischen Lebenswelt der Bundesrepublik nieder. Zu diesem Zeitpunkt gerieten auch die von Anfang an ins Auge gefassten Bemühungen um eine großräumige und neuartige Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung in eine neue Phase. Sie konkretisierten sich im systematischen Ausbau eines Korpus gegenwartssprachlicher Texte und der Nutzbarmachung entsprechender statistischer Analysemethoden, wie sie sich nach außen sichtbar in dem Recherchesystem COSMAS niederschlugen. Weniger klar war die Lage im Bereich jener Projekte, die sich mit semantischen und lexikologischen Fragestellungen bzw. mit lexikographischen Aufgaben beschäftigten. Ulrike Haß weist auf, dass dieser Bereich einerseits stärker unter Traditionalismusverdacht stand als die anderen Forschungsbereiche, allen voran die Syntax. Andererseits gab es hier mit dem „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“, das an der Akademie der Wissenschaften der DDR entstand, ohnehin ein anspruchsvolles lexikographisches Projekt. Zudem fordert lexikographische Tätigkeit einen Aufwand, der die prinzipiell gegebenen Möglichkeiten auf das Machbare einschränkt. Unter diesen Bedingungen fand das IDS seine Aufgabe in der Entwicklung eines Wörterbuchs schwerer Wörter und seiner exemplarischen Ausgestaltung im Bereich des öffentlichkeitsrelevanten Wortschatzes - Wolfgang Mentrup beschreibt den Weg dorthin. Rückblickend kann man die strukturellen Eigenheiten der so entstandenen „Brisanten Wörter“ schon als die Aufforderung sehen, die gewünschte Breite und Differenziertheit der Darstellung mit der Möglichkeit einer individuellen Zugriffstiefe in neuen medialen Formen zu verbinden. Ein Wörterbuch mit deutlich kulturellem Zug war damit entstanden, und mit seinem Erscheinen musste auch in der Öffentlichkeit der Eindruck verschwinden, die Neubearbeitung des „Deutschen Fremdwörterbuchs“, an die das Institut eher zufällig gekommen war, sei ein Fremdkörper in seiner Tätigkeit. 4. Ausweitung des Fokus 4.1 Der zeitliche Fokus Dazu passt auch, dass die Neufassung der Institutssatzung - in klarer Einsicht, dass man das eine nicht ganz ohne das andere haben kann - dem IDS die Erforschung der deutschen Gegenwartssprache und jener der neueren Geschichte des Deutschen zur Aufgabe macht. Eigentlich war diese Verbindung immer schon latent da gewesen, nicht zuletzt an Stellen, an denen sich die syntaktischen und die lexikalischen Interessen miteinander berührten, wie etwa in dem umfänglichen in Innsbruck entstandenen Wortbildungsprojekt. <?page no="18"?> Ludwig M. Eichinger 18 4.2 Germanistik - Germanistiken Anderes lässt sich nicht so einfach mit einem einzelnen Projekt oder einer Gruppe von Vorhaben in Verbindung bringen - prägt aber doch die Arbeit des Instituts von Anfang an. Seit seiner Gründung legt das Institut in seiner Forschung wie in seinen sonstigen Tätigkeiten Wert auf die Verbindung mit den sprachwissenschaftlich arbeitenden Germanisten innerhalb und außerhalb des deutschsprachigen Raums. So wurden zu Beginn Projekte gemeinsam mit dem Goethe-Institut durchgeführt, die auf Bedürfnisse des Deutschen als Fremdsprache zielten - das war auch bis in die neueste Zeit eine der Zielorientierungen der Valenz-Forschung am Institut. Noch eindeutiger dem Kontakt mit der so genannten Auslandsgermanistik verpflichtet sind die Arbeiten zur kontrastiven Grammatik, die allerdings im Laufe der Zeit etwas an Bedeutung verloren, nicht zuletzt wegen der nicht unerheblichen methodischen Probleme, die mit solcher Art von Forschung verbunden waren. Allerdings werden wir sehen, dass die Kernidee in neuer, typologischer Wendung weiterlebt. Was immer am IDS selbst jeweils als Forschung betrieben wurde, es gab und gibt eine andere Konstante, in der sich der Blick über die verschiedenen Arten der Beschäftigung mit der deutschen Sprache weitet - es sind das die Jahrestagungen, deren thematische Vielfalt in dem Beitrag von Friedhelm Debus noch einmal aufgefächert ist. Im Laufe der Jahre mehr und mehr werden sie so zu einem internationalen Diskussionsforum der mit dem Deutschen befassten Sprachwissenschaftler, einem Forum für die verschiedensten Fragen. Hier kommt auch manches zur Sprache, was das Institut nicht an eigener Forschung betreibt. So schließt, wie Heinrich Löffler deutlich macht, der Blick auf die gesprochene Sprache die dialektologische Sichtweise nicht ein - aus verschiedenen, auch forschungsorganisatorischen Gründen. Überhaupt spiegelt sich in der Geschichte der Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache am Institut, dass die Erforschung gesprochener im Vergleich zu der geschriebener Sprache insgesamt zeitlich verzögert stattfand und auch von weniger gefestigten Voraussetzungen auszugehen hatte. Dennoch sind die Arbeiten der Freiburger Außenstelle ein frühes Beispiel für neue Ansätze in diesem Bereich. 5. Ausbau und Konzentration 5.1 Konzentration Die in der Mitte der 1990er Jahre eingeleitete Neuorganisation passt sich - und das ist der dritte der oben angekündigten Punkte - den Schwerpunkten der Forschung an, die sich auf dem angedeuteten Weg herausentwickelt haben, und umgekehrt orientiert sich die Planung deutlich an den so gewonnenen strukturellen Vorgaben. Das kann in diesem Band nur punktuell dokumentiert werden. Einige zentrale Punkte werden allerdings sichtbar. <?page no="19"?> Vorhaben, Pläne, Ziele und die Umstände 19 So zeigt Bruno Strecker auf, wie sich auf dem erreichten Fundament der großen Grammatik verschiedene Projektgruppen entwickelt haben, so die stärker praktisch orientierte Verarbeitung im Grammatischen Informationssystem, das seine Nutzer an verschiedenen Wissensständen und bei unterschiedlichen Interessen abholt, aber auch das an eurotypologischen Zielvorstellungen interessierte neue zentrale Grammatikprojekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich/ Grammatik des Nominals“, das durch den systematischen Einbezug von Partnersprachen den sprachvergleichenden Aspekt in einer neuartigen Weise einbringt und so in modernisierter Form eine durchgehend vorhandene Interessenlinie fortsetzt. Annette Klosa und Doris Steffens zeigen, wie vorhandene lexikographische Ansätze mit einem Neuansatz zur elektronischen Lexikographie verbunden werden, der in seiner inhaltlichen Ausbaurichtung wiederum dem lange vorhandenen Interesse an öffentlich interessantem Wortschatz folgt. Und auch hier folgt der medialen Veränderung ein Bedarf an grundlegender theoretischer Reflexion ebenso wie die Entwicklung neuer Techniken. Dem Beitrag zur Erforschung gesprochener Sprache kann man entnehmen, wie hier über einzelprojektbezogene Forschungen und die Sicherung und Archivierung des Materials hinaus ein Schritt in eine Welt des Korpusausbaus und der Analyse versucht wird, wie er für die geschriebene Sprache am IDS schon seit längerer Zeit eine zentrale Aufgabe darstellt. Dass im Bereich der geschriebenen Sprache die Möglichkeiten der Korpusanalyse gerade in den letzten Jahren einen Stand und einen Grad an Nutzbarkeit erreicht haben, der auch linguistisch ganz neue Wege und Erkenntnisse verspricht, zeigen die beiden Beiträge zu diesem Thema deutlich - gerade auch, weil sie einerseits die methodische und andererseits die linguistisch-interpretatorische Seite betonen. 5.2 Erweiterung Daneben gibt es wie in der gesamten Zeit des IDS Teile, in denen neue oder andere Ansätze vorgeschlagen und entfaltet werden - über ihren genauen Stellenwert wird erst in einigen Jahren etwas zu sagen sein. So hat mit der geschilderten Emanzipation der Wörterbucharbeit und mit der Öffnung über ein zu strikt verstandenes Synchronie-Konzept hinaus die kulturwissenschaftliche Option der Forschung einen plausibleren Platz in der Forschung des IDS gefunden. Insbesondere eine diskursgeschichtliche Aufarbeitung von kritischen Phasen der deutschen Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, lässt sich, wie Heidrun Kämper zeigt, mit der generellen Orientierung am lexikalischen Niederschlag gesellschaftlich relevanter Diskurse gut verbinden. <?page no="20"?> Ludwig M. Eichinger 20 Reinhold Schmitt auf der anderen Seite skizziert das Konzept einer multimodalen Analyse verbaler Interaktion. Da die Dokumentation durch Videotechnik eine systematische Berücksichtigung der nichtsprachlichen Modi der Interaktion erlaube, sei ihr theoretischer wie methodischer Einbezug geboten. Dazu bedürfe es des Weiterdenkens der gesprächsanalytischen Grundannahmen unter veränderten Dokumentationsbedingungen. An dieser Stelle sollte man auch die Fragen der Rechtschreibung erwähnen, deren Behandlung erkennbar in unterschiedlicher Nähe und Ferne zur eigentlichen Institutsarbeit stattfand, allerdings phasenweise von hoher sachlicher und emotionaler Bedeutung war, was aus Wolfgang Mentrups Darstellung dieses Bereichs unmittelbar hervorgeht. 6. Wiedererkennbarkeit Wenn man das Gesamtbild betrachtet, dann kann man die angedeutete rhetorische Frage vom Beginn dieser Einleitung bejahen. Auch das IDS ist mit seinen gut vierzig Jahren erwachsen geworden. Es kann aus seinen Erfahrungen Nutzen ziehen. Aber wie die Individuen in modernen Gesellschaften auch, ist es ein Fall für lebenslanges Lernen. Gefestigtheit ist nicht Stagnation: das ist sicher ein Merksatz für interessante Wissenschaft. Die vorliegenden Beiträge vermitteln einen nicht vollständigen, aber doch erhellenden Blick auf das Institut für Deutsche Sprache und die Einbettung seiner Tätigkeit in die generelle sprachwissenschaftliche Entwicklung. Die gebotenen vermischten Blicke auf das IDS können Zusammenhänge vermitteln, wie sie sich nach der Lektüre der in unseren Jahresberichten jeweils genau vorgelegten Einzeldokumentationen allenfalls mit größerer Mühe rekonstruieren ließen. Unvermeidlich ist dabei, dass die Beiträge teilweise recht dezidiert die Meinung der jeweiligen Autoren spiegeln, ungeglättet durch eine vermittelnde Institutssicht, der diese kurzen Bemerkungen dienen mögen. Ich danke allen Autoren, die sich an diesem Band beteiligt haben, besonders den ehemaligen Präsidenten des Kuratoriums bzw. Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts. Heidrun Kämper danke ich dafür, dass sie sich mit nimmermüdem Einsatz um die Planung und Zusammenstellung des vorliegenden Buches bemüht hat. Prof. Dr. Dr. h.c. Ludwig M. Eichinger Direktor des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim, im Frühjahr 2007 <?page no="21"?> 1. Institutionalisierung <?page no="23"?> Gerhard Stickel Die Gründerjahre des IDS 0. Unvermeidliche Vorbemerkung An der Geschichte des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) 1 war ich von 1973 bis 2002, also fast drei Jahrzehnte lang, unmittelbar beteiligt, davon die meiste Zeit als Direktor (1976-2002). Was in diesen Jahren geschah, kann ich also nur schwer aus objektivierender Distanz beobachten und beschreiben, weil ich in das Geschehen verwickelt war und es in großen Teilen auch zu verantworten hatte. Eine Beschreibung dieses Zeitabschnittes wäre deshalb als die eines befangenen Beteiligten unausweichlich sehr persönlich gefärbt. Deshalb konzentriere ich den Überblick auf die Zeit von 1964 bis 1976. Auch dies wird nicht ganz objektiv sein können, weil die nachfolgende Zeit bis heute von den Nachwirkungen der ersten Jahre betroffen war und noch ist. Aus heutiger Sicht ist auch eine skizzenhafte Beschreibung der Gründerjahre des IDS weitgehend auf schriftliche Zeugnisse angewiesen. Zeugen, die befragt werden können, gibt es nur noch wenige. Die acht Institutsgründer sind gestorben. Auch von den ersten Mitarbeitern des Instituts leben einige schon nicht mehr; andere sind längst im Ruhestand. Nur wenige können noch über ihre Beobachtungen und Erlebnisse aus dieser Zeit berichten. Und das werden sie in mehreren der folgenden Beiträge auch tun. Wie die verfügbaren Dokumente erkennen lassen, waren alle Beteiligten während der Gründungszeit in erster Linie mit dem Aufbau des Neuen beschäftigt. Zunächst dachte kaum jemand daran, dass auch das Neue einmal alt sein werde und seine Entstehung in Vergessenheit geraten könnte. Mit der Einrichtung eines systematisch geordneten Archivs wurde erst später begonnen, als Akten und andere Archivalien durch mehrere Umzüge zu einem Teil schon verloren, zu anderen Teilen in Unordnung geraten waren. Die Akteure der ersten Jahre waren Planer und Forscher auf Wegen in linguistisches und forschungsorganisatorisches Neuland. Es fehlten Datenverwalter und Dokumentare. Eine 1 Die Schreibung des Institutsnamens hat sich mit den Jahren leicht geändert. Während in den Gründerjahren bis Anfang der 90er-Jahre das Adjektiv deutsche im Institutsnamen durchweg kleingeschrieben wurde, hat sich seit etwa 1995 unter dem Einfluss der Rechtschreibreform die Großschreibung des Attributs durchgesetzt, also Institut für Deutsche Sprache. Entsprechend änderte sich auch die Abkürzung IdS zu IDS . <?page no="24"?> Gerhard Stickel 24 Beschreibung von Vorgeschichte und Frühzeit des IDS kann sich deshalb nur auf wenige publizierte Berichte, auf teilsystematisch archivierte Akten und Briefe und auch auf mündlich tradierte Geschichten stützen. 1. Wie es zur Gründung kam Selten wird sich in einer Stunde eine so stattliche Zahl von Menschen zusammenfinden, die - sei es als Forscher, sei es als Liebhaber - sich der deutschen Sprache verantwortlich verbunden fühlen. Keine Gelegenheit scheint deshalb günstiger als die hier und jetzt gegebene, eine Mitteilung zu machen, die ohnehin in diesen Tagen hätte veröffentlicht werden können, aber nirgends besser als hier und jetzt veröffentlicht werden kann. Mit diesen hoch gestimmten Worten leitete der seinerzeit als Wortfeldforscher bekannte Münsteraner Germanist Jost Trier seine Rede ein, mit der er am 19. April 1964 im Rittersaal des Mannheimer Schlosses die Gründung „eines Instituts für deutsche Sprache“ verkündete, „eines Forschungsinstituts vor allem für die gegenwärtige deutsche Sprache“. Anlass war die Überreichung des Konrad-Duden-Preises an den Bonner Germanisten Hugo Moser, den nachmaligen Präsidenten des IDS. Das Institut war am Tag zuvor etwas hastig zunächst als Verein gegründet worden, wobei man offensichtlich Mühe hatte, rechtzeitig die für eine Vereinsgründung erforderlichen sieben Vereinsmitglieder zusammenzubekommen. Das Gründungsprotokoll wurde auch von einem Vorstandsmitglied und einer Sekretärin des Bibliographischen Instituts (des ‘Dudenverlags’) unterschrieben, die unmittelbar danach wieder ihren Austritt erklärten. Formell wurde der Verein, ohne eingetragen worden zu sein, einige Monate später wieder aufgelöst. Eigentliches Gründungsdatum ist der 19. April 1964, als das Institut von den „Mannheimer Acht“, wie Hugo Moser sie später manchmal nannte, als Stiftung des bürgerlichen Rechts errichtet werden konnte. 2 Der dem IDS von Anfang an verbundene schwedische Germanist Gustav Korlén meinte anderthalb Jahre später in seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.11.65), „daß sich die Gründung des Mannheimer Instituts im Bereich der Sprachwissenschaft vielleicht als das bedeutsamste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte der europäischen Germanistik erweisen wird“. Dies kennzeichnet die geradezu enthusiastische Aufbruchstimmung der an der Gründung direkt oder mittelbar Beteiligten. Gut vierzig Jahre später, aus der Sicht der ersten Jahre 2 Genehmigt wurde die Stiftung des bürgerlichen Rechts „Institut für deutsche Sprache“ vom baden-württembergischen Kultusminister Dr. Gerhard Storz am 10.6.1964. <?page no="25"?> Die Gründerjahre des IDS 25 des 21. Jahrhunderts lässt sich die Gründung des längst gefestigten und allgemein anerkannten Instituts natürlich gelassener betrachten. Gründer des IDS waren die Hochschulgermanisten Rudolf Hotzenköcherle (Zürich), Karl Kurt Klein (Innsbruck), Friedrich Maurer (Freiburg i.Br.), Jost Trier (Münster), Hugo Moser (Bonn), der Bonner Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber, der damalige Leiter der Dudenredaktion des Verlags Bibliographisches Institut Paul Grebe und Walter Hensen, damals Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache. Die Germanistikprofessoren waren ihrer fachlichen Herkunft und ihrer thematischen Hauptaufgabe nach durchweg Sprachhistoriker und Mediävisten. Das Wort Linguistik war noch wenig gebräuchlich und die deutsche Gegenwartssprache zumindest in der westdeutschen Hochschulgermanistik allenfalls ein Randthema. Zum Studienplan (Curriculum war in dieser Bedeutung noch nicht bekannt) des Fachs gehörten neben literaturwissenschaftlichen Veranstaltungen in erster Linie Vorlesungen, Seminare und Übungen zum Alt- und Mittelhochdeutschen. Gotisch und Altisländisch konnten hinzukommen. Die Gegenwartssprache kam allenfalls in der Dialektologie vor, die sich freilich ebenfalls noch mit Vorliebe mit Altvertrautem befasste und in der Feldforschung vorzugsweise ältere Menschen befragte, die noch die jeweilige ‘unverfälschte’ Ortsmundart sprachen. Für die regionalen Varietäten des Deutschen gab es schon gesonderte Forschungsstellen: vor allem den Deutschen Sprachatlas in Marburg und das schon 1932 in Berlin gegründete Deutsche Spracharchiv, das nach dem Krieg in Braunschweig und Münster weitergeführt wurde. Außerhalb der Hochschulen gehörten größer angelegte Forschungen zum Gegenwartsdeutschen lediglich zu den Aufgaben des von Theodor Frings geleitenden großen Instituts für deutsche Sprache und Literatur an der (Ost-)Berliner Akademie der Wissenschaften. 3 Zu diesem Institut hatten Germanisten in der alten Bundesrepublik und anderen westlichen Länder zwar einzelne Kontakte, die aber wegen des sich verschärfenden ‘kalten Krieges’ immer schwieriger wurden. Der Plan zur Gründung eines zentralen Forschungsinstituts für deutsche Sprache, besonders für die Gegenwartssprache, entstand in einem Kreis von Germanisten, die sich seit Anfang der 60er-Jahre regelmäßig in Bonn trafen, 3 1972-1990 Akademie der Wissenschaften der DDR . <?page no="26"?> Gerhard Stickel 26 um Themen zur Grammatik der deutschen Gegenwartssprache zu erörtern. 4 Ihnen war der damalige Mangel an Forschungen zum heutigen Deutsch offensichtlich besonders bewusst. Mentor dieses Arbeitskreises „Sprache und Gemeinschaft“ war der Sprachwissenschaftler und Keltologe Leo Weisgerber. Frühere Bemühungen von Weisgerber und Jost Trier, eine zentrale Forschungseinrichtung für die deutsche Sprache zu gründen, waren an der fehlenden Finanzierung gescheitert. Zum Motor des neuen und schließlich erfolgreichen Gründungsvorhabens wurde Hugo Moser, der ebenfalls dem Weisgerber-Kreis angehörte. Am 19.8.63 schreibt Moser dem Leiter der Mannheimer Dudenredaktion Paul Grebe, dass er „gemeinsam mit Herrn Weisgerber den Plan erwäge, ein Zentralinstitut für deutsche Sprache (Gegenwartssprache) ins Leben zu rufen“. Als Aufgaben dieses Instituts werden genannt: 1. Koordination der bestehenden Arbeitsstellen für Gegenwartssprache 2. Forschungen: a) im Bereich der inhaltsbezogenen Grammatik (Wortbildung, Flexion, Satzbau, Wortschatz) b) Einfluß der Alltagssprache auf die Hochsprache c) regionale Formen der deutschen Schriftsprache in Deutschland und in den Außengebieten d) Entwicklungen in der deutschen Sprache in der Sowjetzone e) fremdsprachliche Einflüsse auf das heutige Deutsch f) sonder- und fachsprachliche Einflüsse auf die deutsche Gegenwartssprache. Moser erwähnt noch „phonologisch-strukturalistische Forschung“ als wünschenswert, wendet sich aber dann der nahe liegenden Frage nach der Finanzierung des erwogenen Instituts zu. Unterstützt durch einen vorbereitenden Ausschuss, dem schon sieben der acht Gründer (außer K.K. Klein) angehören, beantragt Moser im Januar 1964 mit einem knappen dreiseitigen Schrei- 4 Vorschläge und Pläne zu einer deutschen Sprachakademie oder einer anderen zentralen Einrichtung für deutsche Sprache hatte es spätestens seit dem Vorschlag von G.W. Leibniz, eine „Deutschgesinnte Gesellschaft“ zu gründen, immer wieder gegeben, zuletzt sogar zur Gründung einer „Deutschen Akademie“, die aber während der Nazizeit nur kurz bestand. In Mannheim der Barockzeit gab es knapp 20 Jahre lang eine „Kurfürstliche Deutsche Gesellschaft“ (gegr. 1775). An diese geplanten oder tatsächlichen Einrichtungen knüpften die Gründer des IDS aber nicht ausdrücklich an, von gelegentlichen Anspielungen in Festreden abgesehen. <?page no="27"?> Die Gründerjahre des IDS 27 ben bei der Fritz Thyssen Stiftung Mittel zur „Gründung eines Instituts für deutsche Sprache“ mit den schon in dem erwähnten Brief genannten Aufgaben, ergänzt um das Thema „Rechtschreibfragen“. Nicht eingeschlossen werden Forschungen zu Mundarten und Umgangssprachen, weil „die in den Forschungsbereich des Deutschen Sprachatlasses fallen“. Betont wird auch, dass die genannten Aufgaben keine „Parallelen zu den Forschungsgebieten des Instituts für deutsche Sprache und Literatur an der Berliner Akademie der Wissenschaften“ darstellten. Die mit Schreiben der Thyssen-Stiftung vom 14.4.64 bewilligten 100.000,- DM bildeten den Hauptteil des aus heutiger Sicht bemerkenswert bescheidenen Gründungskapitals. Hinzu kamen jährlich DM 12.000,-, die von der Stadt Mannheim für die ersten Jahre zugesagt waren, zudem 30.000,- DM, die das Bibliographischen Institut für eine Zusammenarbeit im Bereich der Rechtschreibung in Aussicht stellte, 7.500,- DM vom Schwann-Verlag für „Bemühungen des Instituts um eine wissenschaftliche Grammatik“ sowie „Honorare in unbekannter Höhe aus kommenden Publikationen des Instituts“ und die erhoffte „Bewilligung von Forschungsaufträgen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Gesamtdeutsche Ministerium“. Die erste Fassung der Institutssatzung vom 19.4.64 erwähnt außer diesen Beträgen und Erwartungen auch noch die Hoffnung, dass das Institut „nach Bewährung in das Königssteiner Staatsabkommen 5 übernommen“ werden könne. Ich bin oft gefragt worden, warum das Institut gerade in Mannheim gegründet wurde und dort bis heute geblieben ist. Vor allem zwei Argumente werden in Briefen und mündlichen Berichten wiederholt genannt: zum einen der Verlag Bibliographisches Institut (BI) mit seiner Dudenredaktion, zum anderen der sprachlich besonders interessierte, parteilose damalige Mannheimer Oberbürgermeister Dr. Hans Reschke. Das Bibliographische Institut, das 1953 seinen Sitz von Leipzig über Wiesbaden nach Mannheim verlegt hatte, leistete auf mancherlei Weise Start- und Aufbauhilfe: In seinen Räumen konnte sich der Gründungsausschuss treffen; hier konnten auch die ersten Mitarbeiter des IDS mehrere Monate bis zum Bezug eigener Räume arbeiten und auch danach noch die verlagseigene Bibliothek und die reiche sprachliche Belegsammlung, die „Duden-Kartei“, benutzen. Und dann war da Paul 5 Dieses Abkommen regelte damals das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der gemeinsamen Finanzierung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen. <?page no="28"?> Gerhard Stickel 28 Grebe, der neben seiner Hauptaufgabe als Leiter der Dudenredaktion des BI zum ersten Direktor des IDS bestellt wurde. Obwohl er zwischen diesen beiden Aufgaben sorgfältig trennte, gehörte seine Doppelfunktion zu den Gründen, warum das IDS in der sprachinteressierten Öffentlichkeit lange Jahre mit dem „Duden“ in Verbindung gebracht oder gar verwechselt wurde. Hierzu trug auch ein Vertrag bei, der schon wenige Wochen nach der Institutsgründung geschlossen wurde und in dem das IDS und der Verlag eine unbefristete Zusammenarbeit im Bereich der deutschen Rechtschreibung vereinbarten. Dieser Vertrag hatte auch zur Folge, dass die Neuauflagen der Duden-Rechtschreibung bis einschließlich 1983 im Untertitel die Zeile „im Einvernehmen mit dem Institut für Deutsche Sprache“ enthielten. Dieser Vertrag vom 19.7.64 wurde wegen Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der über Jahre hin lebhaft diskutierten Reform der Rechtschreibung im Dezember 1984 aufgehoben und durch eine Vereinbarung ersetzt, in der in allgemeiner Form wechselseitige Unterstützung in der linguistischen Arbeit verabredet wird. Oberbürgermeister Reschke verhalf dem Institut über den Mannheimer Gemeinderat zu einer jährlichen Zuwendung der Stadt, die auch die Miete und Unterhaltung der ersten Räume in einem der Jugendstilhäuser um den Friedrichsplatz umfasste. Reschke vertrat auch mehre Jahre lang die Stadt im Kuratorium des Instituts und wurde später Vorsitzender des Förderkreises, des „Vereins der Freunde und Förderer des Instituts für deutsche Sprache“. Auch nachfolgende Oberbürgermeister, besonders Prof. Ratzel und Widder, und die aufeinander folgenden Kulturdezernenten David, Mark und Dr. Kurz, unterstützten das IDS nach Kräften, als es u.a. um die Frage des endgültigen Standortes ging. Der Wissenschaftsrat gab in seinem Gutachten von 1971 als mögliche endgültige Standorte für das IDS auch Heidelberg und die Regionen Köln-Bonn und Hamburg-Kiel zu erwägen. Die Stadt Mannheim verhalf dem Institut daraufhin zunächst zu einer besseren Unterbringung in dem ehemaligen Verlagshaus des Bibliographischen Instituts. Ende der 80er- Jahre trug sie durch günstige Überlassung eines größeren städtischen Gebäudes an einen Investor dazu bei, dass nach entsprechendem Aus- und Umbau 1992 eine angemessene, endgültige Bleibe für das Institut gefunden werden konnte. <?page no="29"?> Die Gründerjahre des IDS 29 2. Der Aufbruch Die Arbeiten für das neu gegründete Institut bestanden in den ersten Jahren aus Bemühungen um eine Verstärkung und Sicherung der schwachen finanziellen Basis, aus thematisch ausgreifenden Forschungsplanungen und verbunden damit dem Aufbau einer zunehmend komplexeren und immer mehr Personen umfassende Gremienorganisation. Als wichtigstes Organ konstituiert sich am 18.7.1964 das Kuratorium, bestätigt Hugo Moser als seinen Präsidenten und beschließt eine Ergänzung um weitere namhafte Germanisten. Bis Ende 1965 kommen zu den acht Gründungsmitgliedern noch die Germanistikprofessoren Hans Eggers (Saarbrücken), Hans Glinz (Essen), Hans Neumann (Göttingen) und Ludwig Erich Schmitt (Marburg) sowie Oberbürgermeister Reschke und der ehemalige baden-württembergische Kultusminister Gerhard Storz hinzu. In den Folgejahren ändert sich die Zusammensetzung des Kuratoriums unter anderem durch das Ausscheiden älterer Mitglieder und die Beteiligung von Ministerialvertretern nach der Etatisierung von Teilen des Institutshaushalts beim Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung und beim Kultusministerium von Baden Württemberg. Als weiteres Gremium, das in der damaligen Satzung ebenfalls als Organ vorgesehen ist, wird ein Wissenschaftlicher Rat gebildet, in den bis zu seiner ersten Sitzung am 26. und 27. März 1965 vom Kuratorium schon 30 ordentliche Mitglieder aus dem deutschen Sprachgebiet und 20 korrespondierende Mitglieder aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland berufen werden. Schon ein Jahr später wächst dieses Beratungsgremium auf insgesamt 69 Mitglieder an (43 ordentliche und 26 korrespondierende Mitglieder). 6 Angesichts der knappen Haushaltsmittel muss die Sitzungsfrequenz des Wissenschaftlichen Rats schon bald von zwei auf nur eine Sitzung pro Jahr reduziert werden. 7 In der Institutskorrespondenz, in Sitzungsprotokollen und anderen Dokumenten 6 Auch in den Folgejahren nahm das Kuratorium weitere Berufungen vor, und weil keine zeitliche Begrenzung der Mitgliedschaft vorgesehen war, erreichte der Wissenschaftliche Rat 1977 einen Mitgliederstand von 133 Mitglieder (63 ordentliche, 70 korrespondierende Mitglieder). Eine erhebliche Verkleinerung auf maximal 40 Mitglieder erfolgte erst 1997 mit der generellen Umorganisation des IDS . 7 Ab 1978 kam der Wissenschaftliche Rat nur noch alle zwei Jahre im Zusammenhang mit den zweijährlichen ‘großen’ Jahrestagungen zu einer Sitzung zusammen. Erst 1999 konnte der jährliche Sitzungsturnus für den dann erheblich verkleinerten und neu konstituierten „Internationalen Wissenschaftlichen Rat“ wieder aufgenommen werden. <?page no="30"?> Gerhard Stickel 30 dieser Zeit werden die Angehörigen des Kuratoriums und des Wissenschaftlichen Rats als „Mitglieder des Instituts für deutsche Sprache“ bezeichnet, eine Redeweise, die an den Sprachgebrauch wissenschaftlicher Akademien erinnert. So wird in den Jahresberichten bis einschließlich 1974 noch zwischen „Mitgliedern“ und „Mitarbeitern“ des Instituts unterschieden. 8 Im Arbeitsplan vom 10.5.1965 9 fassen Moser und Grebe die Aufgaben des Instituts folgendermaßen zusammen: „Das Institut für deutsche Sprache hat sich vor allem zwei Aufgaben gestellt: Es will die deutsche Gegenwartssprache erforschen, und es will zugleich ähnliche Bemühungen anderer Stellen des In- und Auslandes koordinieren.“ Die grundsätzliche Beschränkung auf die Gegenwartssprache schließe aber gelegentliche „synchrone Betrachtungen auch für frühere Zeitabschnitte“ nicht aus. Der Arbeitsplan sieht folgende Vorhaben vor: 1. Bestandsaufnahme der heutigen deutschen Hoch-(Schrift-)Sprache mit Hilfe datenverarbeitender Maschinen, 2. Feststellung und wissenschaftliche Erforschung des gegenwärtigen Sprachgebrauchs und Veröffentlichungen darüber, 3. Schaffung einer wissenschaftlichen Grammatik des heutigen Deutsch, 4. Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen für die Pflege der deutschen Sprache und deren Weitergabe an Institutionen der Sprachpflege, insbesondere die Gesellschaft für deutsche Sprache, 5. Erarbeitung eines „Grunddeutsch“ für den Deutschunterricht für Ausländer. Diese Arbeit wird vor allem dem Goethe-Institut und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst zugute kommen. 6. Koordinierung der Arbeiten zu deutschen Gegenwartssprache im In- und Ausland. Diese Planung wird in den Gründerjahren mehrmals in Teilen revidiert oder spezifiziert, was angesichts der dynamischen Entwicklung des Instituts nicht verwundern kann. Neben der von Anfang an ausgeklammerten Dialektfor- 8 Bis 1974 wird Leo Weisgerber, Mitanreger und Mitgründer des Instituts, in den Jahresberichten als „Ehrenmitglied“ geführt, danach bis 1984 als „Ehrenmitglied des Wissenschaftlichen Rats“. Als weitere Ehrenmitglieder des Wissenschaftlichen Rats sind in jeweils mehreren Jahresberichten bis zur Umstrukturierung 1997 verzeichnet: Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Glinz, Paul Grebe, Siegfried Grosse, Friedrich Maurer, Hans Neumann, Peter von Polenz, Heinz Rupp und Gerhard Storz. 9 Der Plan ist einem Schreiben Hugo Mosers vom 24.5.65 an die Deutsche Forschungsgemeinschaft beigefügt. <?page no="31"?> Die Gründerjahre des IDS 31 schung wurden zunächst auch lexikografische Arbeiten ausgeschlossen, und zwar im Hinblick auf die von Paul Grebe betonten laufenden Wörterbucharbeiten an anderen Stellen (u.a. beim ‘Duden’ und dem ‘Grimmschen Wörterbuch’). Schon ab 1967 werden aber in der Korrespondenz und in Sitzungsprotokollen mehrere Wörterbuchvorhaben erwähnt. 10 Erwogen werden unter anderem ein „Syntagmatisches Wörterbuch“ und ein „Rückläufiges Wörterbuch“. Konkret gearbeitet wird ab 1970 an einem „Kleinen Valenzlexikon deutscher Verben“. Zu eingehender Planung größerer lexikografischer Projekte kommt es aber erst ab 1975 im Zusammenhang mit dem von Harald Weinrich vorgeschlagenen großen „Interdisziplinären Wörterbuch“. Dieses Vorhaben gelangt über Planungsentwürfe und eine Vielzahl ‘metalexikografischer’ Analysen und Reflexionen leider nicht hinaus. 11 Einzelne Ideen wirkten sich aber auf spätere lexikografische Arbeiten des IDS aus wie Brisante Wörter 12 und das Großvorhaben elexiko. 13 Zur Beratung der verschiedenen Projekte werden im Anschluss an die Frühjahrssitzung 1965 insgesamt sieben Kommissionen eingerichtet, und zwar für: - Dokumentation der Gegenwartssprache; - Datenverarbeitende Maschinen und Sprachforschung; - Inhaltsbezogene Grammatik; - Strukturalistische Grammatik; - Sprache in Mitteldeutschland; - Sprache des Nationalsozialismus; - Gesprochene Sprache. Hinzu kommen in den folgenden Jahren noch Kommissionen für - Rechtschreibfragen und für - Wissenschaftlich begründete Sprachpflege. 10 So im Protokoll der Kuratoriumssitzung vom 28.2.1968. 11 Unter anderem in: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des Instituts für Deutsche Sprache. Düsseldorf 1976. 12 Strauß, Gerhard/ Haß, Ulrike/ Harras, Gisela: Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin/ New York 1989. 13 Siehe hierzu www.elexiko.de . <?page no="32"?> Gerhard Stickel 32 Einzelne Kommissionen waren schon vorher als „Ausschüsse“ gebildet worden, so der „Maschinenausschuss“, der sich in der Gründerzeit rege um den Aufbau der Datenverarbeitung des Instituts kümmerte. Die Kommissionen bestanden überwiegend aus Mitgliedern des Wissenschaftlichen Rats, sollten aber nach ihren thematischen Aufgaben auch um Spezialisten ergänzt werden. Nicht alle Kommissionen kamen zustande. Einige liefen schon nach wenigen Sitzungen aus. Längeren Bestand hatten nur die Kommissionen für Rechtschreibfragen 14 und für Wissenschaftlich begründete Sprachpflege. 15 Beständiger waren auch die „Beiräte“, d.h. kleinere Beratergruppen externer Fachleute, die ab 1970 für konkrete Forschungsvorhaben des Instituts eingerichtet wurden. Solche Vorhaben entwickelten sich in dem Maße, in dem Mittel für die Anstellung oder Weiterbeschäftigung von Mitarbeitern eingeworben werden konnten. Die Institutsgründer sahen das IDS in den ersten Jahren vor allem als eine Einrichtung seiner „Mitglieder“, als Forum und Tagungsstätte der in seinen Gremien versammelten externen Hochschulwissenschaftler. In den Dokumenten der Gründerzeit ist nur wenig von Mitarbeitern die Rede, d.h. den Wissenschaftlern, die hauptberuflich am Institut tätig waren. Bezeichnenderweise kommen Angestellte oder Mitarbeiter des IDS in der ersten Fassung der Institutssatzung gar nicht vor. Sie werden erst in der zwei Jahre nach der Gründung am 15.3.67 vom Kuratorium beschlossenen Satzung erwähnt. In den ersten zwölf Monaten konnten mit den sehr begrenzten Haushaltsmitteln auch nur sechs wissenschaftliche Mitarbeiter 16 eingestellt werden, darunter als stellvertretender Direktor der aus dem Schuldienst zum IDS überwechselnde Dr. Ulrich Engel, ein ehemaliger Schüler von Hugo Moser, der für die weitere Entwicklung des Instituts besonders wichtig wurde. 17 Zwei weitere Mitarbeiter waren nicht in Mannheim tätig, sondern in der schon in den ersten Monaten eingerichteten Bonner Außenstelle des IDS. Diese Arbeitsstelle, 14 Ab 1976-1977 mit dem Namen Kommission für Rechtschreibreform. 15 Ab 1975 als Kommission für (Fragen der) Sprachentwicklung. 16 In den Dokumenten werden auch Bürokräfte und technische Mitarbeiter erwähnt, dies aber in den ersten Jahren ohne Zahlenangaben. 17 Engel und Grebe tauschten Anfang der 70er-Jahre ihre Funktionen. Engel, der einen Ruf auf eine Professur abgelehnt hatte, wurde geschäftsführender Direktor des IDS . Grebe, der neben seinem Hauptberuf als Leiter der Dudenredaktion nur ehrenamtlich als Institutsdirektor tätig gewesen war, wurde ab 1972 beim IDS als stellvertretender Direktor bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden Anfang 1976 angestellt. <?page no="33"?> Die Gründerjahre des IDS 33 die mehre Jahre lang unmittelbar vom IDS-Präsidenten Moser geleitet wurde, 18 befasste sich mit dem öffentlichen Sprachgebrauch in der DDR (zunächst „Mitteldeutschland“) und weitete ihr Programm später zu ostwestdeutschen Sprachvergleichen aus. Die planerischen und organisatorischen Aufgaben wurden in den ersten Jahren in nahezu täglicher telefonischer und brieflicher Abstimmung vom Präsidenten (des Kuratoriums) 19 Moser und den Direktoren Grebe und Engel bearbeitet. Diese Dreiergruppe nannte sich auch entsprechend „Institutsleitung“. Ihr gelang in erstaunlich kurzer Zeit ein erheblicher Auf- und Ausbau der anfänglich so bescheidenen Mannheimer Arbeitsstelle zu einer im Bereich der Geisteswissenschaften ungewöhnlich großen Forschungseinrichtung. Hierzu trug zunächst das große Projekt Grundstrukturen der deutschen Sprache bei, das von 1966 bis 1974 von der Stiftung Volkswagenwerk finanziert und gemeinsam mit der damals noch bestehenden Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Goethe-Instituts bearbeitet wurde. Das methodische Konzept hierzu wurde im Wesentlichen von Ulrich Engel entwickelt. Ziel war - analog zu dem damals entwickelten français fondamental - die Beschreibung der im Sprachgebrauch häufigen grammatischen Strukturen des Deutschen, die schon wegen ihrer Gebrauchsfrequenz für die Sprachvermittlung besonders wichtig sind. Mit diesem Projekt konnten außer den Goethe-Mitarbeitern im IDS sechs neue wissenschaftliche Mitarbeiter befasst werden. 3. Weiterer Aufbau und Krisen Aufbau und wirtschaftliche Konsolidierung des Instituts dauerten noch manche Jahre, in denen sein Fortbestand einige Male ernsthaft gefährdet war. Die Aufnahme in das Königssteiner Staatsabkommen gelang nicht. Im Oktober 1966 nahm der Wissenschaftsrat auf Veranlassung des damaligen Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung zum ersten Mal zur Bedeutung des IDS und seiner Förderungswürdigkeit Stellung. 20 Er bestätigte 18 Ab 1973 war Dr. Manfred Hellmann Leiter dieser Arbeitsstelle. 19 Über dieses fehlende Genitivattribut wurde bei Tagungen und im Institut gelegentlich diskutiert und auch gescherzt. 20 Stellungnahme des Wissenschaftsrats Drs. 1151/ 66 vom 21. Oktober 1966 (unveröffentlicht). Name und Teile der Aufgaben des auftragsgebenden Ministeriums änderten sich einige Male im Zusammenhang mit Regierungswechseln: Es wurde später das Bundes- <?page no="34"?> Gerhard Stickel 34 die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung der deutschen Sprache an einer zentralen Stelle und erklärte das Institut als für diese Aufgabe geeignet. Er sprach auch Empfehlungen für die Arbeitsgebiete des IDS und seine Finanzierung aus. Im selben Jahr konnte das Institut aber nur durch eine Zuwendung des Landes Nordrhein-Westfalen aus akuter Finanznot gerettet werden. Im folgenden Jahr wurde das IDS, genauer: ein Teil seiner damaligen Personal- und Sachkosten, in den Etat des Bundes übernommen und mit einem kleineren Anteil auch in den des Landes Baden-Württemberg. Weil aber die Etatisierung erst Mitte 1967 erfolgte, wäre das Institut in der ersten Jahreshälfte beinahe zusammengebrochen, wenn nicht das Auswärtige Amt über das Goethe-Institut mit einer Zwischenfinanzierung geholfen hätte. Der Auf- und Ausbau ging dennoch zügig weiter, aus heutiger Sicht etwas zu rasch und zu riskant. Bis 1971 wuchs das Personal des Instituts auf 70 Mitarbeiter. Davon konnten aber nur 24 aus dem regulären Haushalt finanziert werden, die übrigen 46 (darunter 31 Wissenschaftler) aus befristeten Projektmitteln verschiedener Stellen. Zur Erweiterung trugen besonders zwei größere befristete Vorhaben bei: Ab 1970 förderte das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft eine ganze Projektabteilung Linguistische Datenverarbeitung (LDV), die auf die Standorte Mannheim und Bonn verteilt wurde. Leiter war der Bonner Kommunikationswissenschaftler Gerold Ungeheuer. 21 Die Abteilung LDV führte breit angelegte Untersuchungen zur automatischen Analyse des Deutschen durch und entwickelte Verfahren zur Mensch-Computer-Kommunikation in natürlicher Sprache. Ab 1971 förderte das Auswärtige Amt auf zehn Jahre eine Serie kontrastiv-linguistischer Projekte. Sie zielten auf mehrere sprachvergleichende Beschreibungen, in denen das Deutsche jeweils einer anderen Sprache (zunächst Französisch, Japanisch und Spanisch) gegenübergestellt und die mittelbar dem Deutschunterricht in den betreffenden Ländern dienen sollten. Diese Projekte, die zunächst von Ulrich Engel geleitet wurden, bekamen für die jeweiligen Sprachenpaare gesonderte Leiter. 22 ministerium für Bildung und Wissenschaft, danach für Forschung und Technologie und ab 1998 das Bundesministerium für Bildung und Forschung. 21 Sein Nachfolger ab 1977 war Dieter Krallmann (Essen). 22 Jean-Marie Zemb (Paris) für das Sprachenpaar Deutsch-Französisch, Hans-Martin Gauger (Freiburg i.Br.) und Nelson Cartagena ( IDS ) für Deutsch-Spanisch, Gerhard Stickel bis 1976 und danach Tohru Kaneko für Deutsch-Japanisch. Die Serie der kontrastiven Projekte wurde später u.a. mit Mitteln der Volkswagen-Stiftung von Ulrich Engel fortgesetzt, <?page no="35"?> Die Gründerjahre des IDS 35 Vergrößert hatte sich das Institut auch durch die Einrichtung weiterer Außenstellen. Neben der seit Institutsgründung bestehenden Bonner Forschungsstelle für Öffentlichen Sprachgebrauch und den Bonner Arbeitsgruppen der Abteilung LDV wurden weitere externe Arbeitsstellen eingerichtet: Ende 1966 in Kiel, später in Freiburg i.Br., für Gesprochene Sprache (Leitung: Hugo Steger), 1967 in Innsbruck für Deutsche Wortbildung (Leitung: Johannes Erben). Zur Erweiterung trug auch die Eingliederung von drei kleinen, vorher selbständigen Arbeitstellen bei, die dem IDS zur ‘Bereinigung’ der öffentlichen Forschungsfinanzierung angeschlossen wurden: 1969 die Redaktion des germanistischen Referateorgans „Germanistik“, die in Tübingen als Außenstelle des IDS in Verbindung mit dem Niemeyer-Verlag geführt wurde, 1971 das Deutsche Spracharchiv, das von Braunschweig als weitere IDS-Außenstelle nach Bonn verlegt wurde, und 1971 die Marburger Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachenfragen, die als Arbeitsstelle für Fragen der Mehrsprachigkeit (Leitung: Heinz Kloss) in die Mannheimer Institutszentrale übernommen wurde. Das Jahr 1971 hätte ein Wendepunkt oder besser ein Markstein in der Entwicklung des IDS werden können. In einem umfangreichen Memorandum vom 20. April 1971, das Hugo Moser als Präsident des IDS gemeinsam mit anderen namhaften Germanisten erstellt hatte, wurde dem damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und anderen staatlichen Stellen die Gründung einer großen, zentralen öffentlich-rechtlichen Forschungsinstitution für deutsche Sprache vorgeschlagen. 23 Kern dieses Großinstituts sollte das IDS sein. Zur Begründung wies das Memorandum unter anderem auf die beachtliche staatliche Förderung vergleichbarer Forschungseinrichtungen in anderen Staaten (besonders in der DDR und Frankreich) hin. Auf Ersuchen des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft nahm der Wissenschaftsrat in einem ausführlichen Gutachten Stellung zu dem Memoder nach seinem Ausscheiden aus dem Direktorenamt ab 1976 die erfolgreichen Projekte zu den Sprachenpaaren Deutsch-Rumänisch, Deutsch-Serbokroatisch und Deutsch-Polnisch leitete. 23 Der Titel der unveröffentlichten Denkschrift lautete: Memorandum über die Schaffung einer Institution zur Erforschung der deutschen Sprache. In seinen quantitativen Zielvorstellungen war diese Memorandum alles andere als bescheiden: Vorgeschlagen wurde ein Aufbau in drei Stufen, der für den Endausbau einen Stellenplan für insgesamt 446 Mitarbeiter vorsah (289 Wissenschaftler, 103 technische und administrative Mitarbeiter und 154 Hilfskräfte). <?page no="36"?> Gerhard Stickel 36 randum. 24 Das Gutachten vom 23. Juli 1971 schließt sich den wesentlichen Argumenten des Memorandums an. Die besondere Bedeutung der wissenschaftlichen Beobachtung und Untersuchung der deutschen Gegenwartssprache als dauernde Aufgabe eines zentralen Forschungsinstituts wird ausdrücklich bestätigt. Der Wissenschaftsrat rät aber von einer Neugründung einer großen öffentlich-rechtlichen Einrichtung ab und schlägt stattdessen einen Ausbau des bestehenden Instituts bei gleichzeitiger Konzentration der Arbeitsgebiete vor. Empfohlen werden ein Ausbau des Instituts zu einer mittelgroßen Forschungseinrichtung mit 80 bis 100 festen Stellen (davon etwa 50 für Wissenschaftler) und eine Reduzierung der mit befristeten Projektmitteln geförderten Arbeiten. Der Wissenschaftsrat macht auch detaillierte Vorschläge zu Forschungsschwerpunkten und zur organisatorischen Struktur des Instituts. Empfohlen werden drei ständige Abteilungen: a) zentrale Dienste mit den Aufgaben, sprachliches Datenmaterial für Forschungsarbeiten zu sammeln und aufzubereiten, die Bibliothek des Instituts einschließlich Spracharchiv zu unterhalten, die laufenden Projekte und Publikationen im Bereich der germanistischen Linguistik zu dokumentieren und die Kontakte zur Auslandsgermanistik zu pflegen; b) Grammatik und Lexik mit der Aufgabe, anhand umfangreicher Materialien grammatische und lexikalische Untersuchungen zur deutschen Gegenwartssprache unter Berücksichtigung von Sprachvariationen durchzuführen; c) Soziolinguistik mit der Aufgabe, in Zusammenarbeit mir Sozialwissenschaftlern die geschriebenen und gesprochenen Varietäten des Deutschen unter soziologischen Aspekten ihrer Vorkommensbedingungen zu untersuchen und zu beschreiben. Der Wissenschaftsrat rät, befristete Projekte wie die der Linguistischen Datenverarbeitung und der Kontrastiven Grammatiken zwar zu Ende zu führen, aber nicht als ständige Arbeitsgebiete einzurichten. Empfohlen wird zudem die Errichtung eines Institutsgebäudes mit 120 bis 130 Arbeitsplätzen (80- 100 für feste Mitarbeiter, die übrigen für Projektmitarbeiter und Gastwissenschaftler). Memorandum des IDS und Gutachten des Wissenschaftsrats blieben auf Jahre hin ohne materielle Folgen. Die Konsolidierung der Institutsfinanzen 24 Stellungnahme des Wissenschaftsrats Drs. 1907/ 71 vom 23. Juli 1971 (unveröffentlicht). <?page no="37"?> Die Gründerjahre des IDS 37 zog sich mehr als zehn Jahre hin. Zu einem ausreichend großen Institutsgebäude kam es erst 1992, also nach 20 Jahren. Für die ersten Jahre blieb die Unterbringung in einem Gebäude der Stadt Mannheim und in Räumen angrenzender Privathäuser ein erträgliches Provisorium. Belastend für Planung und konkrete Arbeiten erwies sich aber schon nach wenigen Jahren, dass Institutsfinanzen und die davon abhängige Personalstruktur sich nicht annähernd nach den Vorschlägen des Wissenschaftsrates entwickelten. 1972 legte das Institut dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und dem Kultusministerium von Baden-Württemberg einen Stufenplan 25 vor, der im Sinne des Wissenschaftsrats einen Ausbau des Stellenplans von 1973 bis 1977 auf insgesamt 80 Stellen vorsah: 50 Stellen für Wissenschaftler, 30 für technische Mitarbeiter und Verwaltungsangestellte. Für die Verwirklichung dieses Plans machten die Ministerien eine grundlegende Änderung der Institutssatzung zur Bedingung. Die Erarbeitung, Verabschiedung und Genehmigung einer neuen Satzung, besonders die Verhandlungen des Instituts mit den Ministerien und der Ministerien untereinander, zogen sich über mehr als drei Jahre hin. Auf die Satzungsdiskussion im IDS und für das IDS wirkten sich auch die organisatorischen Neuerungen im Hochschulbereich aus, die durch die Studentenbewegung der „68er“ ausgelöst worden waren. Am 9.9.1975 wurde schließlich eine neue Institutssatzung von der Stiftungsaufsichtsbehörde genehmigt. Der weitere Aufbau des Instituts, für den die neue Satzung zur Bedingung gemacht worden war, ließ jedoch noch manches Jahr auf sich warten. Von 1972 bis 1976 blieb die Anzahl der Planstellen für Wissenschaftler konstant bei 15. Genehmigt wurde nur die Vermehrung der festen Stellen für technische und administrative Mitarbeiter von 12 auf 23. Durch diese Verstärkung der Verwaltung und der technischen Dienste wurde zwar eine Ausweitung der Projektforschungen möglich, damit letztlich aber auch ein erhebliches Strukturproblem erzeugt, weil das Missverhältnis zwischen dauerhaften Planstellen und befristeten Projektstellen immer krasser wurde. Wie sich bald zeigte, ließ die überwiegende Projektfinanzierung eine umfassende längerfristige Arbeitsplanung nicht zu, weil eben Projektmittel jeweils nur für thematisch und zeitlich eng begrenzte Vorhaben vergeben wurden (und weiterhin werden), was eine planvolle Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forschungsgruppen kaum zuließ und zudem die Erhaltung eines Stammes qualifizierter, eingearbeiteter Mitarbeiter erschwerte. 25 Siehe Engel/ Hoberg (1973). <?page no="38"?> Gerhard Stickel 38 In den Jahren 1974 und 1975 erreichte das IDS seinen bis dahin größten Personalstand mit 135 Mitarbeitern - bei nur 33 Planstellen. Die Hoffnungen auf weitere Förderung des Projekts Grundstrukturen der deutschen Sprache und auf Weiterfinanzierung der Projektabteilung Linguistische Datenverarbeitung im bisherigen Umfang erfüllten sich aber nicht, sodass bis Ende 1976 insgesamt 42 Mitarbeiter ihre Arbeitsplätze verloren. Die finanzielle Krise spitzte sich im Frühjahr 1976 für die damalige Institutsleitung zu. Der geschäftsführende Direktor Ulrich Engel trat daraufhin zurück. Erst kurz zuvor war ich Nachfolger des im März 1976 ausgeschiedenen stellvertretenden Direktors Paul Grebe geworden und nun wurde ich zum 1. Juli als Nachfolger von Ulrich Engel zum Direktor bestellt. Mir wurden dann Möglichkeiten zur Sanierung des Instituts gegeben, die meinem Vorgänger vorenthalten worden waren. Eine Sanierung der Institutsfinanzen konnte bis Ende 1977 erreicht werden. Über weitere Jahre blieb dem Institut aber das strukturelle Problem der ungenügenden Grundfinanzierung im Verhältnis zu den jeweils nur für ein oder zwei Jahre verfügbaren und planbaren Projektmitteln. Erst in den 80er-Jahren ließ sich in mehreren Schritten eine nachhaltige Konsolidierung der materiellen Arbeitsbedingungen des Instituts erreichen. 4. Zukunftsweisende Pläne und Projekte Unter den skizzierten mageren und labilen finanziellen Bedingungen wurde in den ersten zwölf Jahren des IDS respektable Forschung betrieben. Es kam zu Tagungen und Kolloquien, die nicht nur die Arbeiten im Institut anregten, sondern auch in die Hochschulgermanistik im In- und Ausland hinein wirkten und über die Fachszene hinaus zunehmend für Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sorgten. Es wurde optimistisch und kreativ geplant und projektiert, zunächst von den Gründern und den hinzugewonnenen Mitgliedern der Entscheidungs- und Beratungsgremien, dann immer stärker auch in Initiativen, die von selbstbewusster werdenden Mitarbeitern des Instituts ausgingen. In rascher Folge erschienen Monografien und Sammelbände zumeist in den neu gegründeten Reihen des Instituts: Sprache der Gegenwart (ab 1967), Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache (ab 1968), Heutiges Deutsch (1971-1979), Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache (ab 1972) und Phonai (ab 1967 26 ). Weitere Reihen und Einzelbände sollten fol- 26 Erst seit 1971 im IDS herausgegeben. <?page no="39"?> Die Gründerjahre des IDS 39 gen. 27 Hinzu kam die Mitherausgabe der gemeinsam mit Hugo Steger 1973 gegründeten Zeitschrift Deutsche Sprache. Mit größeren Vorhaben wurde erfolgversprechend begonnen, so mit der mehrbändigen Deutschen Wortbildung, an der in der Innsbrucker Außenstelle gearbeitet wurde, und der Vervollständigung und Neubearbeitung des vielbändigen Deutschen Fremdwörterbuchs. 28 In Richtung auf die späteren soziolinguistischen Projekte deuteten auch die vielfältigen Teilergebnisse der in der Freiburger Arbeitsstelle durchgeführten Untersuchungen der gesprochenen Sprache. Zu weiteren Vorhaben wie der Erarbeitung einer großen wissenschaftlichen Grammatik des Deutschen, einer umfassenden Dokumentation des Wortschatzes der Gegenwartssprache und größeren pragmalinguistischen Untersuchungen gab es verschiedene Ansätze, die aber wegen der kurzatmigen Finanzierung des Instituts erst nach den Gründerjahren wieder aufgegriffen und umgesetzt werden konnten. Als substanzreiche empirische Basis auch für nachfolgende Forschungen erwiesen sich die computergespeicherten Textkorpora des Instituts, mit deren zunächst noch mühsamen und zeitraubenden Aufbau schon in den ersten Jahren begonnen worden war 29 und die inzwischen erheblich vergrößert werden konnten und laufend weitergeführt werden. Im Selbstverständnis der im IDS und für das IDS Tätigen bahnte sich Anfang der 70er-Jahre ein Wandel an, der sich in den Folgejahren verstärkte: der Wandel nämlich von einer akademieartigen Einrichtung, deren Aktivitäten im Wesentlichen von ehrenamtlichen externen Mitgliedern belebt und gesteuert wurden, zu einem klar strukturierten Forschungsinstitut mit hauptamtlichen Leitern und Mitarbeitern, die selbst Pläne für ihre Arbeiten entwickeln und dabei von den externen Mitgliedern der Institutsgremien vorwiegend beraten und kritisch beobachtet werden. Einher ging damit eine theoretische und methodische Neuorientierung der Forschungsarbeiten. Während in den ersten Jahren z.B. noch Überlegungen zu einer ‘inhaltsbezogenen’ Grammatik des Deutschen, im Sinne von Leo Weisgerber oder Hans Glinz, angestellt wurden, orientierten sich die konkreten Forschungen 27 Die später u.a. wegen Verlagswechsels gegründeten Reihen Studien zur deutschen Sprache und Schriften des Instituts für Deutsche Sprache traten an die Stelle der Forschungsberichte… bzw. der Sprache der Gegenwart. 28 Begonnen von Hans Schulz (1913) und Otto Basler (1942). 29 Die Texte des Mannheimer Corpus I wurden noch auf Lochstreifen abgeschrieben und eingegeben. <?page no="40"?> Gerhard Stickel 40 im Institut mehr und mehr an den neueren Konzepten der strukturalen Linguistik, der dependenziellen, später auch der funktionalen Grammatik und nahmen auch Impulse aus der sich entwickelnden Soziolinguistik auf. Eine einheitliche theoretisch-methodische Hausdoktrin wurde freilich vermieden. Wie einige der damals im IDS tätigen Mitarbeiter berichten, gab es schon in den Gründerjahren immer wieder Diskussionen über die Entscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung, zwischen kleineren explorativen Projekten und großen materialintensiven Vorhaben, Diskussionen, die weiterhin die Planungsarbeit des Instituts beleben. Bei allen Änderungen und Neuerungen und den damit verbundenen Auseinandersetzungen im IDS und für das IDS blieb während der zwölf Gründerjahre wie auch in der Folgezeit der grundlegende Auftrag des Instituts unstrittig im Wesentlichen konstant. Die in der ersten Fassung der Institutssatzung formulierte Zweckbestimmung „die Erforschung der deutschen Sprache, vor allem in ihrem heutigen Gebrauch“ und „die Zusammenarbeit mit anderen mit anderen auf die deutsche Sprache gerichteten Unternehmungen“ wurde in späteren Versionen der Satzung nur leicht variiert - bis hin zu der bis heute geltenden Bestimmung des Institutsauftrags: Die Stiftung [d.h. das IDS , G.S.] verfolgt den Zweck, die deutsche Sprache in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte wissenschaftlich zu erforschen und zu dokumentieren. Sie pflegt dabei die Zusammenarbeit mit anderen in- und ausländischen Einrichtungen ähnlicher Zielsetzung und erbringt auch wissenschaftliche Dienstleistungen. <?page no="41"?> Die Gründerjahre des IDS 41 5. Anhang: Literatur zu den Gründerjahren Bethge, Wolfgang (1976): Vom Werden und Wirken des Deutschen Spracharchivs. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 43, S. 22-53. Biere, Bernd Ulrich (Red.) (1989): Institut für deutsche Sprache: 25 Jahre. Mannheim. Engel, Ulrich/ Hoberg, Rudolf (1973): Pläne für die Erweiterung des Instituts für deutsche Sprache. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 2, S. 27-34. Grebe, Paul (1972): Einige Bemerkungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Instituts für deutsche Sprache. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 1, S. 51-56. IDS (Hg.) (o.J. [1971? ]): Das Mannheimer „Institut für deutsche Sprache“ und seine Aufgaben. Mannheim. [Broschüre im Selbstverlag des IDS ]. IDS (Hg.) (1974): 10 Jahre Institut für deutsche Sprache. Informationen zur Arbeit des IDS anlässlich seines 10-jährigen Bestehens. Mannheim. [Broschüre im Selbstverlag des IDS ]. Jahresberichte des IDS (1970-1977): Jahresberichte des IDS i n den Jahrbüchern des Instituts für deutsche Sprache 1969 bis 1976, hrsg. von Moser, Hugo et al. in der Reihe „Sprache der Gegenwart“, Düsseldorf. Moser, Hugo (1974): Zehn Jahre Institut für deutsche Sprache. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 3, S. 1-8. Rupp, Heinz (1966): Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim. In: Wirkendes Wort, S. 63f. Stellungnahme des Wissenschaftsrats Drs. 1151/ 66 vom 21. Oktober 1966 (unveröffentlicht). Stellungnahme des Wissenschaftsrats Drs. 1907/ 71 vom 23. Juli 1971 (unveröffentlicht). Stickel, Gerhard (Juni 1977): Schwierigkeiten, das Institut für deutsche Sprache zu erhalten - Memorandum zur Situation des IdS. Mannheim. Stickel, Gerhard/ Teubert, Wolfgang (1977): Das Institut für deutsche Sprache: Replik. In: Studium Linguistik 4, S. 78ff. <?page no="43"?> Siegfried Grosse Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 Vorbemerkung Der Bitte, den Beitrag über die Erweiterung des IDS nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu verfassen, bin ich gern gefolgt. Denn mit der Wende beginnt sich ein Spalt in meiner Biografie zu schließen. Nach der Entlassung aus kanadischer Gefangenschaft (1946) habe ich an der Fürstenschule meiner sächsischen Heimatstadt Grimma das Abitur nachgeholt und damit den Reifevermerk ersetzt, den ich bei der Einberufung 1942 erhalten hatte. Einen Studienplatz in Leipzig oder an einer anderen Universität der sowjetischen Besatzungszone bekam ich nicht. So bewarb ich mich in Freiburg und Kiel. Von beiden Hochschulen wurde ich angenommen. Ich entschied mich für Freiburg und meldete mich ordnungsgemäß am Einwohnermeldeamt Grimma ab, was ohne Schwierigkeiten möglich war; denn die DDR gab es 1947 noch nicht. Ich galt als wegziehender Ortswechsler und nicht als Republikflüchtiger. Deshalb bekam ich 40 Jahre lang jeden Einreiseantrag in die DDR ohne Schwierigkeiten genehmigt. Bis 1967 habe ich mich jedes Jahr mehrere Wochen in der Deutschen Demokratischen Republik aufgehalten, danach in größeren zeitlichen Abständen. So hatte ich als Bürger einer westlichen Demokratie die Möglichkeit, die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen meiner Heimat, mit der ich eng verbunden geblieben war, aus eigener Anschauung und vielen Gesprächen kennen zu lernen, und war nicht auf die problematische Informationsvermittlung durch die Medien angewiesen. Nach dem Wende-Vokabular bin ich weder ein Wessi noch ein Ossi, sondern ein Wossi, ein Westdeutscher, der nicht vergessen hat, dass er aus Ostdeutschland stammt. Vorgeschichte Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer; die Landesgrenze zwischen Ost- und Westdeutschland verschwand. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde vorbereitet und in den Verträgen zur Einheit Deutschlands am 3.10.1990 gesetzlich verankert. Mit dieser überraschenden Entwicklung hatte selbst ein halbes Jahr vorher weder in der DDR (wie ich dort bei meinem letzten Aufenthalt im Frühjahr 1989 gesehen hatte) noch in der Bundesrepublik irgend jemand gerechnet, auch wenn während der letzten <?page no="44"?> Siegfried Grosse 44 Jahre dank Michail Gorbatschow die beiden Begriffe ‘Glasnost’ und ‘Perestroika’ als Maximen in der Politik die Spannungen zwischen Ost und West gemildert hatten und nach Abschluss eines Kulturabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik Kontakte auf vielen Ebenen wieder möglich geworden waren. So fuhren Gerd Stickel und ich 1987 zum Zentralinstitut für Sprachwissenschaft nach Berlin und wurden dort nach einem zunächst hindernisreichen Grenzübergang freundlich aufgenommen. Wir lernten das Institut kennen und vereinbarten mit der Leitung einen laufenden Informationsaustausch und die Erwägung gemeinsamer künftiger Projekte. Herr Viehweger hat 1987 und 1988 das IDS und auch die Universität Bochum mehrfach besucht. Dieter Herberg stellte sein Neologismusprojekt auf der Mannheimer Jahrestagung 1988 vor. Im März 1989 überbrachte Joachim Schildt auf der Jahrestagung des IDS (Thema: ‘Deutsche Gegenwartssprache’), das damals auf sein fünfundzwanzigjähriges Bestehen zurückblicken konnte, als stellvertretender Direktor des Zentralinstituts eine Grußbotschaft, in der er den Wunsch für „eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Instituten einzelner Staaten“ zum Ausdruck brachte (Stickel (Hg.) 1990, S. 18). Dieser Gruß ließ nicht ahnen, dass anderthalb Jahre später Teile des ZISW in Mannheim mit dem IDS verschmolzen werden sollten. Die Eruption der euphorischen Begeisterung, die der Zusammenschluss auslöste, entlud sich in der Bundesrepublik in unzähligen spontanen Aktivitäten, aber sie öffnete zunächst nicht den Blick für die Langzeitfolgen von nationalem und internationalem Gewicht, die mit diesem Ereignis auf die politisch gestaltenden Kräfte und die Bewohner beider Länder zukommen sollten. Die seither vergangenen 15 Jahre haben inzwischen deutlich gemacht, wie viele Informationsdefizite in der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Ost und West während der fünfundvierzigjährigen Trennung entstanden waren, sich angesammelt hatten und nicht mit gesetzlichen Regelungen ausgeglichen werden können: innerhalb von zwei sehr unterschiedlichen politischen, staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen; durch die Trennung familiärer oder lang gewachsener Bindungen; durch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten des wirtschaftlichen Wachstums und nicht zuletzt durch das Fortschreiten der Zeit. Die Generation, die das gesellschaftliche Leben trug, war inzwischen mindestens fünfzig Jahre alt geworden und kannte auf <?page no="45"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 45 beiden Seiten die Teilhaftigkeit der beiden deutschen Staaten an einem gemeinsamen Staatswesen aus eigener Erfahrung nicht. Aus persönlichen Gründen verfolge ich das fortschreitende Zusammenwachsen der alten und der neuen Bundesländer mit besonders engagiertem Interesse. Wie sich gezeigt hat, wussten Politiker und Bevölkerung in beiden Ländern kaum etwas über die Realität der jeweils anderen Seite trotz oder vielleicht gerade wegen der medialen Informationen, die der Rezipient weder nachprüfen, noch von einer Pro- oder Contra-Färbung der Berichterstattung frei zu halten vermochte. Die Bundesrepublik hatte die wirtschaftliche Situation der Deutschen Demokratischen Republik falsch eingeschätzt, und die Bewohner der DDR kannten die alltägliche Notwendigkeit der selbständigen Entscheidungsfreiheit nicht, die in der demokratischen Bundesrepublik seit 1945 das Grundgesetz jedem gewährte. Diese Unkenntnis der jeweiligen Sach- und Personalsituation hat zu Fehlentscheidungen, mangelndem Verständnis und Einfühlungsvermögen, Ärger, Ungerechtigkeit und deshalb zu Enttäuschungen in Ost und West geführt. Sie hat den inneren Einigungsprozess, der gesetzlich nicht geregelt werden kann, verlangsamt und lässt ihn daher auch heute noch nicht abgeschlossen sein. Die Tragweite dieser Folgen hatte man zunächst weder vorhergesehen, noch einschätzen und beurteilen können. Umwälzende Veränderungen brauchen nun einmal für ihre Stabilisierung prüfende Umsicht, Zeit und Geduld. Aber solche Faktoren sind für Politiker mit der kurzen Amtsdauer von Legislaturperioden, die ihren politischen Wirkungsradius eng begrenzen, schwer in Einklang zu bringen. Bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat das IDS in Mannheim auf seinem Sektor einen beispielhaften Beitrag geleistet; denn die ‘Durchmischung’ mit 22 Berliner Kolleginnen und Kollegen ist aufs glücklichste gelungen. Dabei haben sich die Kapazität und der Radius seiner Forschungsarbeit verändert. Die Aufnahme und Integration des linguistischen Kollegiums aus der Berliner Akademie der Wissenschaften ist der bisher markanteste Einschnitt in der jungen Geschichte des Instituts gewesen. Das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Bis zur politischen Wende gab es im deutschen Sprachgebiet neben den germanistischen Instituten oder Seminaren der Universitäten und einzelnen germanistischen Forschergruppen, die sich z.B. mit langfristigen Wörter- oder Handbucharbeiten befassten, zwei zentrale universitätsunabhängige <?page no="46"?> Siegfried Grosse 46 wissenschaftliche Institutionen, deren Aufgabe es war, die deutsche Sprache besonders in ihrer gegenwärtigen Ausprägung zu erforschen: - in der Bundesrepublik seit 1964 das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim; - in der Deutschen Demokratischen Republik seit 1969 das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (ZISW) in Berlin, das zur Akademie der Wissenschaften der DDR gehörte. Nach der Wende wurde das Berliner Zentralinstitut nach Artikel 38 des Einigungsvertrages aufgelöst, und Mannheim blieb das einzige Forschungsinstitut (ohne feste Bindung an eine Universität) für die deutsche Sprache. Damit hatte sich in dem Moment, in dem das Land sehr viel größer geworden war, die bisher vorhandene Kapazität für die Erforschung seiner Sprache plötzlich erheblich vermindert. Das ZISW war 1990 mit 220 Mitarbeitern (davon 175 Wissenschaftler(inne)n, von denen 164 in der Grundlagenforschung und 11 im Bereich der wissenschaftlichen Dienste beschäftigt waren) das größte Institut zur Erforschung des Deutschen, nicht nur in der Deutschen Demokratischen Republik, sondern im gesamten deutschen Sprachgebiet (ZISW 1990, S. 28). Das IDS verfügte zur gleichen Zeit über 72 Planstellen, davon 42 für wissenschaftliche Mitarbeiter(innen). Der Wissenschaftsrat hatte zwar in seinem Gutachten 1971 empfohlen, das Institut als mittelgroße Forschungseinrichtung mit 80-100 Planstellen, davon 50 wissenschaftliche Mitarbeiter(innen), auszustatten; aber diese Empfehlung wurde nicht befolgt (Grosse 1990, S. 27). Hartmut Schmidt hat in einem ‘Rückblick’ die ‘Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR’ kenntnisreich aus eigener Erfahrung behutsam abwägend dargestellt und kritisch gewürdigt. Dieser Artikel (Schmidt 1992) sollte nicht in Vergessenheit geraten. Denn er ist ein wichtiges Zeugnis für Leistungen und Verdienste der germanistischen Sprachgeschichte in einer inzwischen verschwundenen Institution. Auch in den anderen Forschergruppen des ZISW ist zwanzig Jahre lang unter erschwerten Bedingungen (politisch ideologischer Dirigismus) und materiellen Einschränkungen (Devisenmangel, Reisebeschränkungen, zeitweise fehlender Kontakt mit dem Ausland, Reglementierung der Publikationen, unzureichende maschinelle und materielle Ausstattung) stetig gearbeitet und publiziert worden. Die Veröffentlichungen (darunter das siebenbändige Wör- <?page no="47"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 47 terbuch der deutschen Gegenwartssprache und die Grundzüge einer deutschen Grammatik) haben überregional in der deutschsprachigen und internationalen germanistischen Sprachwissenschaft und Linguistik Anerkennung gefunden und sich in ihrem wissenschaftlichen Niveau gleichrangig behauptet. Die folgende Skizze des ZISW ist keine wissenschaftsgeschichtliche Beschreibung der Institution. Sie soll lediglich in Stichworten das Tätigkeitsfeld umreißen, aus dem die Berliner Wissenschaftler(innen) nach Mannheim gekommen sind. Im Zuge einer umfassenden Universitäts- und Bildungsreform, für die Margot Honecker, die Frau des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, als Ministerin verantwortlich zeichnete, war die Berliner Akademie der Wissenschaften nach sowjetrussischem Vorbild zu einem Unternehmen gigantischen Ausmaßes mit mehr als 60 Instituten erweitert worden. Konrad Adam hat ihren Umfang mit einem Kombinat in der Wirtschaft verglichen. Die Anzahl der dort beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter war sehr groß (13.000, Adam 1990). Solche Dimensionen hatten die bundesdeutschen Akademien nicht. Eines der 60 Institute im Verband der Berliner Akademie war das ZISW. 1969, also fünf Jahre später als das IDS, war es im Zuge der Akademiereform nach sowjetrussischem Muster durch den Zusammenschluss von sprachwissenschaftlichen Forscher(inne)n aus mehreren philologischen Instituten, Arbeitsstellen und Forschergruppen der Akademie und der DDR-Universitäten als ‘Zentrum sozialistischer Großforschung’ gegründet worden. Es sollte die Rolle einer Leitinstitution für die gesamte DDR-Linguistik übernehmen (Herberg 1991, S. 5). Die Wissenschaftler(innen) kamen zum Teil von den Hochschulen, deren Forschungskapazitäten 1965 bei der Universitätsreform eingeschränkt worden waren, so dass ihre Aufgaben von dann an hauptsächlich in der Lehre bestanden. So setzte sich das Institut aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammen, die insgesamt kein geschlossenes Institutsprofil bildeten, sondern eher dem Konglomerat einer Fakultät ähnelten: aus den Instituten für deutsche Sprache und Literatur, für romanische Sprachen und Kulturen, für Slawistik, für Orientforschung; aus den Arbeitsstellen für strukturelle Grammatik, für mathematische und angewandte Linguistik und automatische Übersetzung, für Anglistik, für maschinelle Verarbeitung natürlicher Sprachen; aus der Arbeitsgruppe Sprachpathologie und der Sprachwissenschaftli- <?page no="48"?> Siegfried Grosse 48 chen Kommission. Nur etwa die Hälfte der wissenschaftlichen Mitarbeiter(innen) war mit germanistisch-linguistischen Aufgaben befasst. Die wissenschaftliche Arbeit des ZISW war in sechs Forschungsbereiche gegliedert, die ihrerseits in 40 Forschungsgruppen unterteilt waren: I. Kommunikationslinguistik (Gesprächsanalyse, Metakommunikation, Soziolinguistik, Sprachfähigkeit bei Kindern); II. Grammatik (Kognitive Linguistik, Morphologie/ Phonologie, Syntax, Satzmodus, Textstrukturanalyse); III. Sprachgeschichte (Historische Wortforschung, Deutsches Wörterbuch (Neubearbeitung), Goethe-Wörterbuch, Historische Lexikologie, Entwicklung der deutschen Sprache, Geschichte der germanistischen Linguistik, Namenforschung (Brandenburgische Namen und Gewässernamen), Handschriftenbeschreibung); IV. Fremdsprachen (Phraseologie und Funktionswörter in Slawischen Sprachen: (Russisch, Tschechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch, Slowenisch), Baltische Sprachen (vor allem Litauisch und Lettisch), Albanologie, Finnougristik, Rumänistik, Englische Lexikologie, Jiddisch und Chinesisch); V. Automatische Sprachverarbeitung (Automatische Analyse des Deutschen auf semantischer und syntaktischer Ebene, lexikalische Datenbanken für die Computerlinguistik, automatische Übersetzung Deutsch-Russisch), Lehrsysteme für den Sprachunterricht; VI. Lexikologie/ Lexikografie (einsprachige Wörterbücher, Spezialwörterbücher, Lernerwörterbücher des Deutschen, Neologismusforschung, Metalexikografie, Orthografieforschung des Deutschen, Lexikografie der deutschen Gegenwartssprache). Außerdem gab es eine Abteilung für Information und Dokumentation. Die Fachbibliothek umfasste insgesamt 68.500 Bände und 370 Zeitschriften. Dazu kamen umfangreiche Wörterbucharchive mit großen Belegsammlungen: das Deutsche Wörterbuch von J. und W. Grimm (2 Millionen Belege) - die westdeutsche Partnerinstitution des Grimmschen Wörterbuchs hat ihren Sitz in Göttingen -; die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs (3,8 Mill. Belege); das Goethe-Wörterbuch (3,3 Mill. Belege) - die bundesdeutsche Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuchs befindet sich in Heidelberg -; <?page no="49"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 49 das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (3 Mill. Belege) und das Marx-Engels Wortschatzarchiv mit ca. 800.000 Belegen. Das Archiv für die Beschreibungen der deutschsprachigen Handschriften des Mittelalters enthielt etwa 20.000 Beschreibungen. Die Schallarchive zu den Mundarten der DDR, der regionalen Umgangssprachen und der Stadtsprache Ostberlins umfassten Tonbandaufnahmen zahlreicher Orte. In zwei Punkten unterschieden sich die Aufgabenfelder des ZISW vom IDS. Im Mannheimer Institut waren von Anfang an weder die historische Dimension der deutschen Sprache (ZISW III: Historische Lexikologie, Geschichte der deutschen Sprache, Wissenschaftsgeschichte der germanistischen Linguistik, Namenforschung, Beschreibung mittelalterlicher deutscher Handschriften) noch die Fremdsprachenphilologie (ZISW IV) vertreten. Im Herbst 1990, noch ehe der Vereinigungsvertrag in Kraft getreten war, hatten das ZISW und das IDS einen Vorvertrag über eine Kooperation geschlossen und ein vom Bundesministerium für Forschung und Technologie gefördertes Projekt über die gegenwärtige Sprachentwicklung in Deutschland begonnen. Die politischen Voraussetzungen der Zusammenführung Bis zum 15. Oktober 1990 war ein umfangreiches Konvolut von Gesetzen für die Vereinigung der beiden deutschen Länder erarbeitet worden: - Der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.5.1990; - Der Wahlvertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 3.8.1990; - Der Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12.9.1990. Das ist der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und den vier Siegermächten (der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, den Vereinigten Staaten von Amerika); - Der Einigungsvertrag (Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.8.1990). <?page no="50"?> Siegfried Grosse 50 Diese vier Gesetze, dazu drei Anlagen zum Einigungsvertrag und noch vier finanzpolitische Gesetze (über Investitionen, offene Vermögensfragen, D-Mark-Bilanz, Kirchensteuer) umfassen insgesamt 628 Seiten. Davon nimmt der Artikel 38 des Einigungsvertrages, der die Zusammenführung von Wissenschaft und Forschung in einem vereinten Deutschland regelt, nur eine Seite und acht Zeilen ein. Der Einigungsvertrag legte mit knappen Formulierungen dar, wie die Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik den bestehenden Akademien in der Bundesrepublik organisatorisch und strukturell angeglichen werden sollte, das heißt: es erfolgte die Lösung vom sowjetrussischen Organisationsmuster, nach dessen Vorbild das große Zentralinstitut gebildet worden war. Die bundesdeutschen Akademien sind wissenschaftliche Gesellschaften, in die renommierte Gelehrte als Mitglieder berufen werden. Sie treffen sich in Klassen zu Symposien und erfüllen institutionenübergeifend für die einzelnen Fachdisziplinen beratende, anregende und auch kritische Aufgaben. An den Akademien sind Institute mit Forschungsvorhaben von langer Dauer angesiedelt (wie z.B. das Mittelhochdeutsche Wörterbuch an der Göttinger Akademie). Aber sie verwalten und etatisieren kein Netzwerk von einzelnen wissenschaftlichen Instituten oder Projekten. Zur Berliner Akademie der DDR gehörten 1990 außer dem Zentralinstitut für Sprachwissenschaft mehr als 60 wissenschaftliche Institute und sonstige Einrichtungen mit Tausenden von Mitarbeitern. Sie alle waren von der Auflösung betroffen, das heißt vom künftig unsicheren Bestand ihres Arbeitsplatzes. Das Kuratorium und die Direktoren des IDS waren sofort bereit, die durch die geplante Auflösung des ZISW gefährdete Forschungskapazität für die deutsche Sprache zu schützen. Wie viele Erwägungen, Vorschläge, Berichte, Beratungen, Gutachten, Telefonate, Schreiben und Aktenfaszikel der Einigungsvertrag nur auf dem kleinen Feld einer der 60 verschiedenen Akademiesektionen ausgelöst, mit enger Terminierung in beschleunigte Bewegung gesetzt und auf die Mannheimer Schreibtische gebracht hat, wissen am besten die beiden damaligen IDS-Direktoren Gerd Stickel und Rainer Wimmer. Ihnen ist für ihren unermüdlichen und engagierten Einsatz und ihre konstruktiven Vorschläge sehr zu danken. Denn neben der termingepeitschten ZISW-Auflösung lief der übliche Tagesbetrieb des Instituts weiter: mit Forschungsprojekten, Besucherbetreuung, Tagungsvorbereitungen. Dazu kam außerdem noch der emporwachsende Bau des neuen Hauses. Ich habe die aufregende Entwicklung als Vorsitzender des Kuratoriums begleitet. Jetzt <?page no="51"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 51 liegt sie als Grundlage für diesen Beitrag in der Form eines stummen und vergilbten Aktenberges vor mir. Er erlaubt nur teilweise eine Rekonstruktion der Entscheidungsschritte. Denn er sagt nichts aus über die Menschen, um die es ging, über ihre Unsicherheit, die Gerüchte und Ängste, die enttäuschten oder erfüllten Hoffnungen, denen alle Mitarbeiter(innen) am ZISW anderthalb Jahre lang ausgesetzt waren. Die Umstrukturierung des wegen seiner Größe und Heterogenität unübersichtlichen und schwerfälligen Zentralinstituts hatte seine Leitung schon längere Zeit vor der Vereinigung erwogen und dabei an die Teilung in ein ‘linguistisches’ und in ein ‘philologisches’ Institut gedacht. Die Frist vom Inkrafttreten des Vertrages bis zum Beginn der neuen Regelungen betrug nur etwa ein Jahr. Das war eine sehr kurze Zeitspanne für die Umstrukturierung, das heißt für die Streichung oder Versetzung alter und die Schaffung neuer Arbeitsplätze im wissenschaftlichen Bereich. Denn das Instanzengeflecht im bundesdeutschen Bildungswesen ist zwischen Bund und Ländern kompliziert, und die dazugehörigen Begutachtungen und Beratungen der zuständigen Gremien brauchen in jeder Demokratie bis zu einer abschließenden Entscheidung ihre Zeit. Im Einigungsvertrag lauten die beiden ersten Abschnitte des für ‘Wissenschaft und Forschung’ maßgebenden Artikels 38 folgendermaßen: (1) Wissenschaft und Forschung bilden auch im vereinten Deutschland wichtige Grundlagen für Staat und Gesellschaft. Der notwendigen Erneuerung von Wissenschaft und Forschung unter Erhaltung leistungsfähiger Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet [Verträge 1990, S. 44] dient eine Begutachtung von öffentlich getragenen Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat, die bis zum 31. Dezember 1991 abgeschlossen sein wird, wobei einzelne Ergebnisse schon vorher schrittweise umgesetzt werden sollen. Die nachfolgenden Regelungen sollen diese Begutachtung ermöglichen sowie die Einpassung von Wissenschaft und Forschung in dem in Artikel 3 genannten Gebiet in die gemeinsame Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland gewährleisten. (2) Mit dem Wirksamwerden des Beitritts wird die Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik als Gelehrtensozietät von den Forschungsinstituten und sonstigen Einrichtungen getrennt. Die Entscheidung, wie die Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik fortgeführt werden soll, wird landesrechtlich getroffen. Die Forschungsinstitute und sonstigen Einrichtungen bestehen zunächst bis zum 31. Dezember 1991 als Einrichtungen der Länder in dem in Artikel 3 genannten Gebiet fort, soweit sie nicht vorher aufgelöst oder <?page no="52"?> Siegfried Grosse 52 umgewandelt werden. Die Übergangsfinanzierung dieser Institute und Einrichtungen wird bis zum 31. Dezember 1991 vom Bund und den in Artikel 1 genannten Ländern bereitgestellt. (Verträge 1990, S. 64f.) Berlin und Mannheim? Es sind allgemein formulierte Rahmenrichtlinien, die den Ausführungen weiten Spielraum lassen. Der Wissenschaftsrat hatte für die angeforderte Begutachtung dem ZISW einen ausführlichen Fragenkatalog zugesandt, um eine Grundlage für eine geplante Begehung und die abschließende Beurteilung zu erhalten. Offenbar hat sich die Institutsleitung mit der Antwort Zeit gelassen. Denn in einem scharfen Protestschreiben vom 19. Juni 1990 werfen die um ihre künftigen Arbeitsplätze besorgten Mitarbeiter der Leitung des ZISW vor, zu schweigen und die Eingliederung in ein gesamtdeutsches Wissenschaftssystem zu ignorieren. Vom 1. Juli 1990 an wurden die Haushaltsmittel des ZISW von 19,5 Millionen DM auf 9,8 gekürzt, was den Abbau von 50% der Personalstellen bedeutete. Die Antworten des ZISW an den Wissenschaftsrat sind vom 28. August 1990 datiert. Sie beginnen mit einer Selbstdarstellung, in der Struktur und gegenwärtiger Entwicklungsstand als Ergebnis einer zwanzigjährigen Entwicklungsgeschichte dargestellt werden. Die Arbeitsrichtung des ZISW hatte sich in einem wesentlichen Punkt anders gestaltet, als das Politbüro der SED intendiert hatte. Das hatte nämlich bereits 1968, ein Jahr vor der Gründung des ZISW, beschlossen, die Sprachwissenschaft in der DDR habe künftig die gesellschaftliche Wirksamkeit von Sprache zu untersuchen und damit „den Übergang zur sozialistischen Großforschung zu leisten“. 1969 entstand das umfangreiche Institut, an das der Auftrag erging, eine marxistisch-leninistische Sprachwissenschaft zu entwickeln. Dafür erfolgte eine personelle Umstrukturierung zu Lasten der historischen Dimension, die ja leider bei fast allen Reformen als erste für entbehrlich gehalten wird, und der strukturellen Grammatik, die als bürgerlich verfemt wurde. Außerdem wurden die Wissenschaftskontakte mit den westlichen Ländern unterbunden; denn man wollte die Sprachwissenschaft der Akademie ganz auf die sowjetische Forschung ausrichten. Die Ergebnisse sollten bis 1975 als ‘Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft’ publiziert werden. Dazu kam es aber nicht; denn der ideologisch motivierte Auftrag, vor dessen Ausführung sogar sowjetische Linguist(inne)en aus eigener Erfahrung gewarnt hatten, erwies sich als nicht durchführbar und war somit ein wissenschaftlicher und wissenschaftspolitischer Fehlschlag. <?page no="53"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 53 In der zweiten Hälfte der 70er-Jahre konnte dieses Debakel mit der Wiederaufnahme der unterbrochenen Forschungen überwunden werden. Erleichtert wurde diese Entwicklung durch die Erkenntnis der Akademie-Leitung, dass auch die Wissenschaft nur im internationalen Kontext lebensfähig ist. Allmählich wurden die Verbindungen zur westlichen Linguistik wieder reaktiviert, wobei die verdienstvolle Brückenfunktion der skandinavischen Länder nicht vergessen werden darf. Die Selbstdarstellung schließt mit der Bemerkung, das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft sei zu keinem Zeitpunkt, auch als es die Forderung nach einer marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft auferlegt bekam, ein ideologisches Institut gewesen (ZISW 1990, S. 3). Das haben die Recherchen des Wissenschaftsrates bestätigt. Der Einleitung folgt die Beschreibung des ZISW (s.o.): seine Struktur und innere Gliederung, die Aufgaben der einzelnen Forschungsgruppen, die Personalausstattung und die laufenden Forschungsprojekte mit ihren bereits erzielten oder angestrebten Ergebnissen und den Publikationen. Im letzten Punkt 23 (ZISW 1990, S. 39f.) skizziert das Institut Vorstellungen über seine Fortführung und Einbindung in die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft. Diese Vorschläge versuchen verständlicherweise, möglichst den gesamten Bestand zu erhalten. Sie sind vage, weil zum damaligen Zeitpunkt noch nichts über die künftige Struktur der Hochschulregion Berlin/ Potsdam bekannt war und man sich auch nicht in den bundesdeutschen Verwaltungs- und Finanzierungsmodalitäten auskannte. Der Leitung des ZISW war im Vergleich zu ihren ersten Erwägungen für eine Reform vor der Wende nichts Neues eingefallen: Ein Teil der Forschungsgruppen sollte ein Institut für germanistische Sprachwissenschaft bilden, dessen Schwerpunkte in der deutschen Sprachgeschichte, Grammatik, Lexikografie der deutschen Gegenwartssprache und in der Text- und Diskursanalyse liegen sollten. Man stellte es sich mit dem Status eines Instituts der blauen Liste, das jeweils zu gleichen Teilen vom Bund und dem Bundesland der Institutsresidenz finanziert wird, als An-Institut einer Berliner Universität oder der Akademie der Wissenschaften vor. Das Forschungsprogramm wurde als komplementär zum Mannheimer IDS gesehen, weshalb man eine künftige Zusammenarbeit für ‘möglich und nützlich’ hielt. Ein zweites Institut mit dem gleichen Status der Anbindung und Finanzierung wie das erste sollte die Theoretische Linguistik und die vergleichende Sprachwissenschaft umfassen mit den Forschungsschwerpunkten Grammatiktheorie und Computerlinguistik. Für die verbleibenden Teile wurden drei Möglichkeiten in ab- <?page no="54"?> Siegfried Grosse 54 gestufter geografischer Entfernung aufgewiesen: die Vereinigung mit den Instituten der Universitäten Berlins oder mit denen der neuen oder schließlich mit denen der alten Bundesländer. Der Wissenschaftsrat hat das ZISW am 12. Oktober 1990 besichtigt und sein Mitglied Wolfgang Klein (Max-Planck-Institut Nijmwegen) als fachkompetenten Linguisten beauftragt, auf Grund der Begehung einen Vorschlag zur Umgestaltung vorzulegen. Herr Klein kannte das ZISW und das IDS gut, zudem lebte und arbeitete er in den Niederlanden, also in Distanz zu den beiden zu vereinigenden Ländern. In seinem Gutachten vom 1.11.1990 hebt er mit Nachdruck hervor, dass angesichts der erschwerten Umstände am ZISW im Schnitt bemerkenswert gute Arbeit geleistet worden ist, deren wissenschaftlicher Standard nicht hinter dem der Bundesrepublik zurücksteht. Das Institut sei aber zu umfangreich und heterogen, weshalb es sinnvoll sei, große Teile in ein ‘neues Institut für die Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart’ zu überführen, das fünf Teilbereiche umfassen und etwa 60 Stellen (also etwa ein Drittel des derzeitigen Bestandes) haben sollte. Für die anderen Mitarbeiter(innen) müssten Einzellösungen gesucht werden. Da etwa ein Drittel von ihnen älter als 55 Jahre sei, ließe sich in den nächsten Jahren der Bestand sozialverträglich vermindern. Er riet zu einer Tandem-Vereinigung der Berliner germanistischen Forschergruppen mit dem IDS, also zu einem Institut mit den beiden Standorten Berlin und Mannheim. Es sollte an beiden Stellen von je zwei Direktoren geleitet und unter dem Dach eines gemeinsamen Kuratoriums zusammengehalten werden. Herr Klein schlug für das neue Institut die folgenden fünf Abteilungen vor: I. Struktur der deutschen Sprache der Gegenwart (Phonologie und Graphematik (evtl. unter Einschluss der Orthografieforschung), Lexikologie und Lexikografie, Syntax und Morphologie, Textlinguistik) II. Die Varietäten des Deutschen der Gegenwart (Deutsche Soziolekte, bestimmte Kommunikationsformen im Alltag und in den Medien, Untersuchung der Sprachinseln im Ausland wie auch das Deutsch von Immigranten) <?page no="55"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 55 III. Die Entwicklung der deutschen Sprache (die innere und äußere Geschichte des Deutschen, struktureller wie sozialer Wandel; Veränderungen in Lexik, Aussprache, Phraseologie; Normungsversuche und ihre wissenschaftliche Begründung) IV. Die Vermittlung des Deutschen (Kontrastive Grammatiken; wissenschaftliche Untersuchungen zu Lernproblemen des Deutschen) V. Wissenschaftliche Dienste (Datenbanken; Dokumentation der wissenschaftlichen Literatur; Beratung offizieller Stellen in Fragen der Sprache; wissenschaftliche Betreuung der Auslandsgermanisten) In den Bereichen I bis IV waren bisher beide Institute tätig, allerdings mit unterschiedlichen, sich ergänzenden Schwerpunkten; der V. Bereich war nur in Mannheim vorhanden. Es wurden 15 Forschergruppen mit 63 Mitarbeiter(inne)n aus der Bestandsaufnahme des ZISW ausgewiesen, die hierfür in Frage kommen könnten. Für die verbleibenden 20 Gruppen mit 102 Mitarbeiter(inne)n wurden Universitäten (für die Fremdsprachen), Akademien (für die Langzeitprojekte wie die großen Wörterbücher), das Max-Planck-Institut oder die DFG als Förderungsinstanz für Kurzzeitprojekte von drei bis fünf Jahren vorgeschlagen. Die beiden Direktoren des IDS lernten erstmals am 4.10.1990 in einem vertraulichen Gespräch mit den Zuwendungsgebern der blauen Liste, dem Bundesministerium für Technologie und Forschung und dem baden-württembergischen Ministerium für Kunst und Wissenschaft die sehr nüchterne finanzielle Einschätzung der Realität von Seiten der Politiker kennen: die Tandem-Lösung sei zu kostspielig und deshalb unrentabel; der Personalbestand des ZISW könne keinesfalls gehalten werden; bestenfalls erhalte das IDS einen Zuwachs von 20-30 Mitarbeiter(inne)n; es sei kaum denkbar, Teile des ZISW in die blaue Liste als neues Institut aufzunehmen. Diese Beurteilung der Situation war keine Basis für die bisherigen Vorschläge, welche die Struktur des ZISW zwar veränderten, aber zugleich versuchten, möglichst viel vom wissenschaftlichen Potenzial zu bewahren. Trotzdem hat man nichts unversucht gelassen, die ursprüngliche Planung durchzusetzen. So fand Kleins Tandem-Modell in abgewandelter Form den Beifall des IDS, dessen Kuratorium am 4.3.1991 eine entsprechende Vorlage der Direktoren <?page no="56"?> Siegfried Grosse 56 und des Vorsitzenden verabschiedete. Diese plädierte ebenfalls für ein neu konzipiertes IDS mit den beiden Standorten Berlin und Mannheim. Denn einmal wollte man auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, das IDS bereichere sich bei der Auflösung des ZISW um etwa 30 Personalstellen (besonders in einer Zeit, in der bereits zahlreiche Personalstellen an den Hochschulen aus Ersparnisgründen einen sog. ‘kw-Vermerk’ [künftig wegfallend] bekommen hatten), und zum anderen begrüßte man die Schaffung einer Berliner Außenstelle, die den Aufnahmewinkel für Feldforschungen und Datenerhebungen in den neuen Bundesländern öffnen und Verbindungen zu den Berliner Hochschulen und den geplanten Neugründungen in Frankfurt/ Oder und Potsdam ermöglichen könnte. Eine Vereinigung an einem dritten Ort (die Rede war von Leipzig oder Weimar) wurde aus Kostengründen und mit einem Hinweis auf die seit 27 Jahren gewachsene Bodenständigkeit in Mannheim und die engen Verbindungen zu den Hochschulen im angrenzenden Rhein-Main-Neckar Gebiet abgelehnt. Die drei Vorschläge (Wissenschaftsrat (Klein), ZISW und IDS) blieben nicht allein: die einzelnen Forschungsgruppen des ZISW formulierten ihre Vorstellungen einer künftigen Tätigkeit; die Berliner Hochschulen äußerten ihre Bedenken über zu erwartende zusätzliche finanzielle Belastungen des ohnehin finanzschwachen Senats und deren Rückwirkungen auf die bestehenden wissenschaftlichen Institutionen; einzelne germanistische Institute meldeten sich zu Wort, allerdings ohne konkrete Vorschläge zu machen (aus mangelnder Sachkenntnis der Situation). Man muss sich einmal vorstellen, dass der Wissenschaftsrat in diesem begrenzten Zeitraum auch die anderen 59 Institute der Berliner Akademie aufzulösen und in neue Bereiche zu überführen hatte, wobei in manchen Fällen die Verhältnisse komplizierter waren als in der germanistischen Linguistik und Sprachwissenschaft. Die Entscheidung Schließlich entschied am 25. Juni 1991 der Wissenschaftsrat, dass die Integration von Mitgliedern der germanistischen, IDS-affinen Arbeitsgruppen des ZISW am sinnvollsten mit einer Eingliederung von 20-30 Personen mit ihrer laufenden Projektarbeit in das Mannheimer IDS erreicht werde. Denn nur auf diese Weise sei eine unmittelbare ‘Durchmischung’ möglich. Die Tandem-Lösung sei, wie Beispiele von Instituten mit zwei Standorten gezeigt hätten, zu teuer und in der Verwaltung wenig effektiv. Mit dem Hinweis auf den entstehenden Neubau hielt der Wissenschaftsrat die Frage der <?page no="57"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 57 Unterbringung für gelöst. Energische Proteste der Institutsleitung, dass sich das Raumproblem keineswegs einfach regeln lasse, wenn mit einem Schlag die Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter um 50% steige, wurden mit der zynischen Bemerkung beantwortet, die neuen Berliner Kolleg(inn)en seien an beengte Raumverhältnisse gewöhnt, einige von ihnen hätten sogar den Schreibtisch mit einem Kollegen teilen müssen. In Zusammenarbeit mit Vertretern des ZISW wählten Mitglieder des Kuratoriums, die Institutsleitung und Vertreter der IDS-Mitarbeiterschaft 30 Berliner Damen und Herren aus, die auf Grund ihrer fachlichen Ausrichtung und Publikationen in die Konzeption des Mannheimer Instituts als komplementäre Erweiterung zu passen schienen. Vorgesehen war die Zahl 22. Aber da man nicht wissen konnte, ob alle Nominierten einer Berufung nach Mannheim folgen würden, gab es noch eine Liste mit Ersatzkandidaten, was sich als sinnvoll erweisen sollte. Denn einige Damen und Herrn sagten ab, weil sie aus persönlichen Gründen in Berlin bleiben mussten oder wollten. Der Entschluss, nach langer Ansässigkeit Berlin zu verlassen, in eine unbekannte, weit entfernte und viel kleinere Stadt umzuziehen und sich den Arbeitsplatz und das Umfeld des Wohnens neu zu erschließen, bedeutete für alle eine ungewöhnliche Herausforderung, die anzunehmen mehr oder weniger schwer gefallen sein dürfte. Die Wohnungsvermittlung wurde durch die institutsfreundliche Hilfsbereitschaft der Stadtverwaltung erleichtert. Den Nachtragshaushalt (in Höhe von 4,5 Millionen DM) und die Gehaltsberechnungen für die neue Kollegenschaft hatte die Verwaltung des IDS erarbeitet. Dem Land Baden-Württemberg fiel die Aufbringung der halben Summe offensichtlich schwerer als dem Bund. Die Damen und Herren vom ZISW wurden entsprechend ihren bisherigen Spezialgebieten in das IDS eingegliedert. Sie arbeiteten in der Wortbildung, der Grammatik und später auch in der Orthografie. Als neues Arbeitsgebiet gewann das IDS die historische Dimension hinzu, so dass die von Herrn Reichmann im benachbarten Heidelberg geleitete Arbeitsstelle des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches eine Unterstützung erfuhr. Dem Einstellungsvertrag eines jeden neuen Mitarbeiters, der aus der ehemaligen DDR kam, hatte eine Zusatzerklärung mit einem einheitlichen Befragungstext politischen Inhalts beizuliegen, die zu unterschreiben war. Es wurde gefragt, ob sie oder er für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet, vor dem 9.11.1989 eine Funktion in der SED und in Massenorganisa- <?page no="58"?> Siegfried Grosse 58 tionen bekleidet oder eine sonstige heraus gehobene Funktion im System der DDR innegehabt habe. Die Erklärung schloss mit der Versicherung „Ich bin mir bewusst, dass wahrheitswidrige Angaben eine fristlose Entlassung rechtfertigen“. Nach etwa einem Jahr (Weihnachten 1992) stellte sich leider in einem Fall heraus, dass die Angaben eines Mitarbeiters der Wahrheit nicht entsprachen, weil er seine Informationstätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit verschwiegen hatte. Dieser (nicht von unserer Seite) öffentlich gemachte Sachverhalt hatte die sofortige Entlassung zur Folge. Das neue Institutsgebäude (R 5, 6-13) konnte am 1.7.1992 bezogen werden. Bisher war das IDS 28 Jahre lang in der Friedrich-Karl-Straße in Gebäuden untergebracht gewesen, die ihm einst das Bibliographische Institut überlassen hatte. Es waren mehrere aneinander gebaute Häuser, die ineinander übergingen und deren Raumfolge unübersichtlich und für die täglichen Arbeitsabläufe nicht funktionell angeordnet war. Außerdem hatte sich das Institut im Laufe der Jahre vergrößert und litt unter Platznot. Der Umzug war ein großes Ereignis; denn der Zwang, jedes Zimmer und jeden Schreibtisch nach 28-jähriger Sesshaftigkeit ausräumen zu müssen, zu sichten und neu zu ordnen, hatte eine Entrümpelungsaktion zur Folge, die Distanz zur eigenen Arbeit schuf und einer Verjüngungskur gleichkam. Es war eine besonders glückliche Fügung, dass zur gleichen Zeit der Zuzug der Berliner erfolgte, für die bis zu diesem Zeitpunkt Arbeitsräume in Berlin gemietet worden waren. So trafen sich die alte und die neue Belegschaft in erwartungsvoller Aufbruchstimmung an den neuen Arbeitsplätzen in einem übersichtlichen Haus mit einer vorzüglichen Bibilothek, die sich erstmals in ihrer reichen Qualität entfalten konnte, und einem Vortragssaal. Das alles erleichterte den gemeinsamen Start und festigte die neue Gemeinschaft von Anfang an. Die Unterbringung der vergrößerten Mitarbeiterschaft ist dem Verhandlungsgeschick der Direktoren und dem verständnisvollen und hilfreichen Entgegenkommen der Stadt zu verdanken, die sich Räume im neuen Haus zur eigenen Nutzung vorbehalten hatte und nun angesichts des Berliner Zuzugs darauf verzichtete. Die Vergrößerung der Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter hatte leider keine Vermehrung des nicht wissenschaftlichen Personals zur Folge. Am 15.7.1993 wurde zwischen dem Bundesland Berlin und dem IDS ein Vertrag geschlossen, der dem IDS 2700 Bände (Wörterbücher, Lexika, grammatische und sprachgeschichtliche Darstellungen, Textausgaben und literaturgeschichtliche Handbücher) aus der Bibliothek des Zentralinstituts <?page no="59"?> Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989 59 für Sprachwissenschaft unentgeltlich zur unbefristeten Nutzung überstellte. Der größte Teil der Bibliothek ist offenbar in Berlin geblieben und dem Linguistischen Institut angegliedert worden. Das war der letzte Akt der Vereinigung in der germanistischen Sprachwissenschaft und Linguistik. Sie ist zum Wohle der Beobachtung, Erforschung, Beschreibung und Pflege der deutschen Sprache gelungen und hat sich seit 15 Jahren vorzüglich bewährt. Literatur Adam, Konrad (1990): Ein kranker Saurier. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1990, S. 27. Grosse, Siegfried (1990): 25 Jahre Institut für deutsche Sprache. In: Stickel (Hg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Berlin/ New York. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1989), S. 21-29. Herberg, Dieter (1991): Ein Institut macht Inventur. Bemerkungen zu Geschichte und Profil des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft. In: Sprachreport 1, S. 5f. Schmidt, Hartmut (1992): Sprachhistorische Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR . Ein Rückblick. In: Roloff, Hans-Gert (Hg.): Jahrbuch für Internationale Germanistik. Jg. XXIV, H. 2. Bern / Berlin/ Frankfurt a.M./ New York/ Paris/ Wien. S. 8-31. Verträge (1990): Die Verträge zur Einheit Deutschlands. Staatsvertrag, Einigungsvertrag mit Anlagen, Wahlvertrag, Zwei-plus-Vier-Vertrag, Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen, D-Mark-Bilanzgesetz. Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung von Professor Dr. Ingo von Münch. Stand: 15.10.1990. München. Wissenschaftsrat (1991): C.IV. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft ( ZIS ), Berlin. Aktenauszug (S. 193-321), IDS Mannheim. ZISW (1990): Zentralinstitut für Sprachwissenschaften an der Akademie für Wissenschaften Berlin: Selbstdarstellung vom 17.9.1990. Masch. Akte (41 S.) vom 17.9.1990, IDS Mannheim. <?page no="61"?> Friedhelm Debus Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache Als am 19. April 1964 das Institut für Deutsche Sprache (IDS) gegründet und als Stiftung bürgerlichen Rechts urkundlich bestätigt wurde, 1 hatte man neben den Organen des Instituts sogleich auch den „Wissenschaftlichen Rat“ als wichtiges Beratungsgremium berufen. Dieses Gremium war in der anfänglichen Institutsgeschichte für die Tagungen von besonderer Bedeutung. Allerdings waren diese Tagungen noch keine Jahrestagungen im heutigen Sinne. Es waren die „Mannheimer Tagungen des Wissenschaftlichen Rates“, 2 der zunächst aus 75 ordentlichen und korrespondierenden Mitgliedern bestand. Die Referenten dieser Tagungen rekrutierten sich aus diesem Rat, dazu aus dem 14 Mitglieder zählenden Kuratorium und den Mitgliedern der zehn eingesetzten Kommissionen sowie aus hauptamtlichen Mitarbeitern des Instituts. 3 Es handelte sich also eher um intern organisierte wissenschaftliche Tagungen, freilich mit einzelnen öffentlichen Vorträgen über allgemein interessierende Fragen. So hielt zum Auftakt Hugo Moser den Vortrag „Wohin steuert das heutige Deutsch? Triebkräfte im heutigen Sprachgeschehen“, gefolgt von Gustav Korlén mit „Führt die politische Teilung Deutschlands zur Sprachspaltung? “. 4 Im ersten Jahr nach der Institutsgründung fanden sogar zwei Tagungen, im Frühjahr und Herbst 1965, statt. Über die Herbsttagung wird von „der ersten großen Tagung des IDS“ berichtet, 5 und Gustav Korlén bemerkt in der ‘Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ vom 15.11. 1965 darüber: 1 Hugo Moser nennt im ersten Jahrbuch abweichend den 29. April 1964; vgl. Moser, Hugo: Ziele und Aufgaben des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 9-14; hier S. 9. - Die vollständigen bibliografischen Angaben zu den Jahrbüchern sind im Anhang dieses Beitrages aufgeführt. 2 Vgl. das „Geleitwort“ der Herausgeber des Jahrbuchs 1965/ 1966, S. 8. 3 Vgl. Jahrbuch 1965/ 1966, S. 10ff. 4 Beide Vorträge sind im ersten Jahrbuch des Instituts (1965/ 1966) wiedergegeben: S. 15- 35 und S. 36-54. 5 Vgl. IDS (Hg.) ( 2 1991): Institut für deutsche Sprache 25 Jahre. 2. Aufl. [1. Aufl. 1989]. Mannheim. S. 11. <?page no="62"?> Friedhelm Debus 62 Man verließ im übrigen die Tagung mit dem Eindruck, daß die Gründung des Mannheimer Instituts im Bereich der Sprachwissenschaft sich vielleicht als das bedeutsamste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte der europäischen Germanistik erweisen wird. 6 Für die Jahre 1966 und 1967 ist dann auch erstmals von „Jahrestagungen“ die Rede. 7 Doch der Begriff hat sich damit noch nicht etabliert. Hugo Moser schreibt für diese Jahre stattdessen von „Tagungen des Wissenschaftlichen Rates“. 8 Danach ist bis einschließlich 1975 von „Jahressitzungen (des Wissenschaftlichen Rates)“ die Rede, einmal nur knapp von der „(dreitägigen) Sitzung“. 9 Ab 1976 sind es dann offiziell die „Jahrestagungen (des Instituts)“ - mit zwei Ausnahmen: für 1979 begegnen die Varianten „Symposium“, „Tagung“ und „Kolloquium“, 10 1981 wird der Begriff „Kolloquium“ gebraucht. 11 Seit dem zweiten Jahr der regelmäßigen Tagungen hat sich das Frühjahr als Zeitrahmen fest etabliert, vorwiegend mit drei Tagen im März. Gleichsam umgangssprachlich wird daher auch von „Frühjahrstagungen“ gesprochen. Was die Teilnehmerzahlen betrifft, so ist zunächst festzustellen, dass es dazu keine Statistik gibt. Doch es begegnen einige Angaben in Jahrbüchern bzw. gut erinnerte Erfahrungswerte. In den ersten Jahren ist die Zahl der Teilnehmer, gemessen an der heutigen bis etwa 600, eher bescheiden. Das hängt mit dem Charakter der prinzipiell institutsinternen „Sitzungen“ zusammen. „Gut besuchte und fruchtbar verlaufene Tagungen des Wissenschaftlichen Rates“ nennt Hugo Moser diejenigen der Jahre 1965, 1966 und 1967. 12 Im Jahrbuch 1968 wird die Teilnehmerzahl der Tagungen von 1967 und 1968 mit „jeweils über 80“ angegeben. 13 Die „Jahressitzung des Wissenschaftlichen Rates“ 1970 war „von etwa 80 Teilnehmern besucht.“ 14 Doch bereits 1973 war die Zahl der Teilnehmer auf über 200 gestiegen. 15 Das mochte am Thema 6 Zit. nach IDS (Hg.) ( 2 1991) (wie Anm. 5). 7 Jahrbuch 1966/ 1967, Geleitwort, S. 7. 8 Jahrbuch 1965/ 1966, S. 14. 9 Jahrbuch 1971, Geleitwort, S. 7f. 10 Jahrbuch 1979, Vorwort, S. 7f., dazu S. 364. 11 Jahrbuch 1981, Vorwort, S. 7f. 12 Jahrbuch 1965/ 1966, S. 14. 13 Jahrbuch 1968, S. 247. 14 Jahrbuch 1970, S. 335. 15 Jahrbuch 1973, S. 258. <?page no="63"?> Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache 63 „Linguistik und Literatur“ gelegen haben, weshalb „Linguisten und Literaturwissenschaftler aus der Bundesrepublik, aus Europa und Übersee“ gekommen waren. 16 Das zeigt ein erweitertes Konzept der Tagungen zur interessierten Öffentlichkeit hin, wiewohl noch in den beiden folgenden Jahren von „Jahressitzungen des Wissenschaftlichen Rates“ die Rede ist (s.o.). Ende der 70er-Jahre „wurde - zunächst motiviert durch akuten Geldmangel - das Alternieren von großen und kleinen Jahrestagungen eingeführt. Bei den großen geht es durchweg um ein Thema, für das Interesse auch über die Grenzen der Germanistischen Linguistik hinaus angenommen wird. Die Themen der kleinen Jahrestagungen sind linguistischer, sind stärker fachorientiert. Sie stehen meist in thematischem Zusammenhang mit laufenden Forschungsarbeiten des Instituts.“ 17 Nun, die „kleinen“ Tagungen waren nur wenig kleiner als die großen. Es zeigte sich, dass die Jahrestagungen zu zentralen Treffpunkten und Diskussionsforen für Inlands- und nicht zuletzt Auslandslinguisten geworden waren. Es gab und gibt „nicht wenige Linguisten […], die - fast lemmingartig oder jedenfalls wie unter einem bedingten Reflex - in jedem März nach Mannheim aufbrechen, völlig unabhängig von der Thematik […].“ 18 Emil Skála (Prag) hat die Bedeutung der Jahrestagungen gerade für die Auslandsgermanistik bildhaft gekennzeichnet: „Die Mannheimer Begegnungen sind ein gutes Gewürz für unsere Arbeit.“ 19 Dass die Kollegen aus der DDR über weite Strecken an Teilnahme und Mitwirkung gehindert waren, bleibt eine schmerzliche Tatsache, doch seit 1984 begann sich dies erfreulicherweise zu ändern. 20 Der zunehmend öffentliche Charakter der Jahrestagungen führte dann auch dazu, dass sich der zunächst „traditionelle“ öffentliche Vortrag erübrigte. Zugleich erforderte die wachsende Teilnehmerzahl einen größeren Tagungsraum, der zuerst im Mannheimer Rosengarten und dann seit 1992 im Bürgersaal des Mannheimer Stadthauses zur Verfügung stand bzw. steht - mit der Ausnahme des Jahres 1995, in dem die Jahrestagung in der Universität Mannheim (Schloss) stattfand. 16 Ebd. Das Tagungsthema wurde für den Druck des Jahrbuchs 1973 abgeändert (siehe dieses). 17 Stickel, Gerhard: Eröffnung der Jahrestagung am 12.3.1991. In: Jahrbuch 1991, S. 1-5; hier S. 1. 18 Sitta, Horst: Eröffnung der Jahrestagung am 15. 3. 1994. In: Jahrbuch 1994, S. 3-6; hier S. 3. 19 Vgl. IDS (Hg.) ( 2 1991) (wie Anm. 5), S. 77. 20 Vgl. ebd., S. 13 und insbesondere den Beitrag von Siegfried Grosse (in diesem Band). <?page no="64"?> Friedhelm Debus 64 Thematisch ist das IDS auf die deutsche Gegenwartssprache und ihre neuere Geschichte ausgerichtet, was sich sowohl in den Forschungsprojekten 21 als auch nicht zuletzt in den vielfältigen Beiträgen der Jahrestagungen und ihrer Vorläufer kundtut. Hugo Moser hat gleich zu Beginn in seinem programmatischen Beitrag etwas allgemein umschreibend festgestellt, das IDS sei „vorzugsweise mit dem Blick auf das heutige Deutsch und seine Entwicklung ins Leben gerufen worden“, jedoch sei „die diachronische Betrachtungsweise […] keinesfalls ausgeschlossen, wie schon die Gründung einer Kommission für älteres Neuhochdeutsch zeigt.“ 22 Das ist hinsichtlich der historischen Perspektive durchaus offen formuliert, was auch für die späteren Aufgabenbeschreibungen des IDS gilt. So heißt es in den „Richtlinien für die wissenschaftliche Arbeit des Instituts für deutsche Sprache“ 1986: „Das IDS hat die Aufgabe, die deutsche Sprache, vor allem in ihrem gegenwärtigen Gebrauch, wissenschaftlich zu erforschen“, und in der „Satzung des Instituts für deutsche Sprache“ 1994 ist in §2 festgelegt: „Die Stiftung verfolgt den Zweck, die deutsche Sprache in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte wissenschaftlich zu erforschen und zu dokumentieren.“ 23 Zu sehen ist diese thematische Positionierung des IDS im Umfeld der vorwiegend historisch ausgerichteten Forschung und Lehre an den deutschen Universitäten bis tief in das 20. Jahrhundert hinein. Dabei hatte die traditionelle Mundartforschung einen gewichtigen Stellenwert; sie ging zwar von den gesprochenen Orts- und Regionalsprachen aus, aber sie suchte von dieser Basis her stets analysierend zu möglichst weit reichenden historischen Tiefenschichten vorzudringen - man denke nur an Georg Wenkers Blick auf die frühen Lautgesetze oder an die zahlreichen Einzeluntersuchungen zur dialektal-historischen Laut-, Formen- und Wortgeschichte. Hier begann das neu gegründete Institut für Deutsche Sprache mit dem überfälligen systematischen Einstieg in die Dokumentation und Erforschung der Gegenwartssprache. Das wurde nicht zuletzt mit dem Direktor des Deutschen Sprachatlas, Ludwig Erich Schmitt, abgesprochen. Als damaliger wissenschaftlicher Assistent an diesem Institut habe ich die mehrmaligen Besuche Hugo Mosers miterlebt: Das neu zu gründende Institut sollte die gesprochene und geschriebene deutsche (Standard-)Sprache, das Marburger Institut, dessen Name 1956 in „Forschungsinstitut für deutsche Sprache - Deutscher Sprachat- 21 Vgl. die einschlägigen Beiträge in diesem Band. 22 Jahrbuch (1965/ 1966), S. 7. 23 Vgl. zur Geschichte des IDS den Beitrag von Gerhard Stickel (in diesem Band). <?page no="65"?> Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache 65 las“ erweitert worden war, fürderhin die deutschen Mundarten und ihre historische Entwicklung bis hin zu überregionalen umgangssprachlichen Formen untersuchen. Mundarten und Sprachgeschichte auf der einen Seite - (Standard-)Sprache und ihre neuere Geschichte auf der anderen Seite: das sollten die zwei sich ergänzenden Standbeine für die Erforschung der deutschen Sprache sein. Dass sich die Zusammenarbeit der beiden Institute nicht im geplanten Sinn entwickelte, steht auf einem anderen Blatt und ist hier nicht darzulegen. 24 Gleichwohl sind, eher unbeabsichtigt, auch dialektale Daten durch das IDS erhoben worden. 25 - Die thematische Ausrichtung des IDS spiegelt sich bezeichnenderweise im Titel der ersten großen Veröffentlichungsreihe wider: „Sprache der Gegenwart“. In dieser Reihe sind die Jahrbücher des IDS bis einschließlich 1987 erschienen, die von Anfang an die Beiträge der (Jahres-)Tagungen dokumentieren. Danach konnte die Reihe im Schwann-Bagel-Verlag (Düsseldorf) nicht weitergeführt werden. Doch erst ab 1989 wurden die Jahrbücher des IDS dann im Walter de Gruyter-Verlag (Berlin/ New York) veröffentlicht, nun mit dem neuen Reihen-Titel „Institut für deutsche Sprache. Jahrbuch…“. Wegen bestimmter Schwierigkeiten konnten die Beiträge der Jahrestagung 1988 nicht in dieser neuen Reihe erscheinen, sondern wurden erst 1997 als Band 9 in der im Gunter Narr Verlag (Tübingen) erscheinenden Reihe „Studien zur deutschen Sprache“ publiziert. 26 Was nun die Thematik der Jahrestagungen betrifft, so wird diese, auch nach Vorschlägen aus dem Wissenschaftlichen Rat, vom Kuratorium festgelegt und in der neueren Zeit von einem Vorbereitungsausschuss im Detail geplant. Die vielfältigen Themen der Tagungen 27 haben im Sinne der Institutssatzung den eindeutigen Schwerpunkt in der deutschen Gegenwartssprache. Das wird gleich in den beiden ersten Jahrbüchern mit den verschiedene Sprachbereiche betreffenden Vorträgen ersichtlich, die unter diversen Kapitelüberschriften zusammengefasst sind und hier exemplarisch genannt seien. Jahrbuch 1965/ 1966: I „Bewegungen in der Gegenwartssprache“ (mit den bereits genannten öffentlichen Vorträgen von Hugo Moser und Gustav Kor- 24 Vgl. hierzu auch Debus, Friedhelm: Eröffnung der Jahrestagung 1996. In: Jahrbuch 1996, S. 3-8, darin S. 4f. 25 Vgl. den Beitrag von Heinrich Löffler in diesem Band. 26 Vgl. dazu: Wimmer, Rainer/ Berens, Franz-Josef (Hg.): Wortbildung und Phraseologie. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 9). Vorwort, S. 7f. 27 Vgl. die im Anhang aufgeführten Jahrbücher. <?page no="66"?> Friedhelm Debus 66 lén). II „Probleme des Satzbaus“ (mit fünf Vorträgen). III „Der Bereich der Wortarten“ (mit sechs Vorträgen). IV „Grammatik und Stil“ (mit zwei Vorträgen). V „Gesprochenes Deutsch“ (mit vier Vorträgen). VI „Wege der Erforschung der deutschen Gegenwartssprache“ (mit zwei Vorträgen, darunter über erste philologische Erfahrungen mit datenverarbeitenden Maschinen). VII „Fragen sprachwissenschaftlicher Methode“ (mit einem Vortrag und zwei Stellungnahmen). - Jahrbuch 1966/ 1967: I „Sprachnorm und Sprachwandel“ (mit acht Vorträgen). II „Sprachwissenschaft und Sprachkritik“ (mit drei Vorträgen). III „Sprachpflege und Sprachwissenschaft“ (mit sechs Vorträgen). IV „Grammatische Probleme“ (mit zwei Vorträgen). Die Themen der einzelnen Vorträge in den beiden ersten Jahrbüchern berühren Bereiche, denen sich die folgenden Tagungen neben weiteren Fragestellungen gesondert gewidmet haben und teilweise thematische Binnengliederungen aufweisen: die Jahrbücher 1977, 1981, 1984, 1989, 1990, 1991, 1995, 1999, 2003. Die verschiedenen Themenbereiche sind auf den Tagungen ab 1968 unterschiedlich oft behandelt worden. Darin spiegeln sich die besonderen Forschungsschwerpunkte des IDS wider, aber nicht weniger weitere Aspekte der In- und Auslandsgermanistik. Nachfolgend seien die Themenbereiche nach der Häufigkeit ihrer Berücksichtigung aufgeführt, wobei die einzelnen Vorträge aus Platzgründen nicht genannt werden können: 9 mal Lexikologie/ Lexikografie („schwere Wörter“), dazu Wortbildung/ Phraseologie: 1975, 1982, 1987, 1988, 1990, 1993, 1998, 2000, 2003; 7 mal Gesprochene Sprache/ Gegenwartssprache/ Deutsch als Verkehrssprache in Europa/ Öffentlichkeit/ Medien: 1972, 1989, 1992, 1996, 1998, 1999, 2004; 7 mal Sprachgeschichte/ sprachgeschichtliche Einzelaspekte (19., 20. Jahrhundert, Frühneuhochdeutsch und ältere Sprachstufen): 1968, 1976, 1984, 1988, 1990, 1997, 2001; 6 mal Grammatik/ Grammatiktheorien/ Syntax/ Grammatik mit Zusätzen (kontrastiv, typologisch, Deutsch-Unterricht, Logik, Pragmatik): 1969, 1971, 1979, 1983, 1991, 1995; 4 mal Textlinguistik/ Stil/ Dialog/ Kommunikation: 1973, 1980, 1985, 1994; 4 mal Mundartliche Aspekte: 1974, 1976, 1989, 1996; 3 mal Sprachtheorie: 1986, 1971, 1979; <?page no="67"?> Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache 67 3 mal Didaktik/ Deutsch als Fremdsprache: 1974, 1998, 2002; 2 mal Sprachkultur: 1984, 2004; 2 mal Fachsprachen/ Sprache und Recht: 1978, 2001; 2 mal Rechtschreibung: 1989, 1998; 1 mal Sprachsoziologie: 1970; 1 mal Stadtsprachenforschung / Aspekte der Mehrsprachigkeit: 1981. Die Jahrestagungen und ihre Vorläufer haben sich in den vierzig Jahren Institutsgeschichte als außerordentlich wichtige Einrichtung erwiesen und einen ansehnlichen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte geleistet. Neben den sonstigen Aktivitäten des IDS bestätigen sie in überzeugender Weise die Anfangsvermutung von Gustav Korlén. 28 Die stetig gewachsene Zahl der Tagungsteilnehmer aus dem In- und Ausland, zu denen auch viele Vertreter der jüngeren Generation gehören, nimmt die Tagungen als willkommene und einmalige Gelegenheit zur fachlichen Information und zum persönlichen Austausch gerne wahr. Das ist für unser Land zugleich eine wichtige kulturpolitische Aktion, die jegliche Förderung verdient. Mögen auch in Zukunft die Jahrestagungen ihre zentralen Funktionen in bewährter Form erfüllen! Anhang: Die Jahrestagungen im Spiegel der Jahrbücher des Instituts für Deutsche Sprache Jahrbuch 1965/ 1966: Satz und Wort im heutigen Deutsch. Probleme und Ergebnisse neuerer Forschung. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1967. (= Sprache der Gegenwart 1). Jahrbuch 1966/ 1967: Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1968. (= Sprache der Gegenwart 2). Jahrbuch 1968: Sprache. Gegenwart und Geschichte. Probleme der Synchronie und Diachronie. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1969. (= Sprache der Gegenwart 5). Jahrbuch 1969: Probleme der kontrastiven Grammatik. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1970. (= Sprache der Gegenwart 8). 28 Vgl. Anm. 6. <?page no="68"?> Friedhelm Debus 68 Jahrbuch 1970: Sprache und Gesellschaft. Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1971. (= Sprache der Gegenwart 13). Jahrbuch 1971: Neue Grammatiktheorien und ihre Anwendung auf das heutige Deutsch. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1972. (= Sprache der Gegenwart 20). Jahrbuch 1972: Gesprochene Sprache. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1974. (= Sprache der Gegenwart 26). Jahrbuch 1973: Linguistische Probleme der Textanalyse. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1975. (= Sprache der Gegenwart 35). Jahrbuch 1974: Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1975. (= Sprache der Gegenwart 36). Jahrbuch 1975: Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1976. (= Sprache der Gegenwart 39). Jahrbuch 1976: Sprachwandel und Sprachgeschichtsschreibung. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf 1977. (= Sprache der Gegenwart 41). Jahrbuch 1977: Engel, Ulrich/ Grosse, Siegfried (Hg.): Grammatik und Deutschunterricht. Düsseldorf 1978. (= Sprache der Gegenwart 44). Jahrbuch 1978: Mentrup, Wolfgang (Hg.): Fachsprachen und Gemeinsprache. Düsseldorf 1979. (= Sprache der Gegenwart 46). Jahrbuch 1979: Ballweg, Joachim/ Glinz, Hans (Hg.): Grammatik und Logik. Düsseldorf 1980. (= Sprache der Gegenwart 50). Jahrbuch 1980: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung. Düsseldorf 1981. (= Sprache der Gegenwart 54). Jahrbuch 1981: Bausch, Karl-Heinz (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Stadtregion. Düsseldorf 1982. (= Sprache der Gegenwart 56). Jahrbuch 1982: Henne, Helmut/ Mentrup, Wolfgang (Hg.): Wortschatz und Verständigungsprobleme. Was sind „schwere Wörter“ im Deutschen? Düsseldorf 1983. (= Sprache der Gegenwart 57). Jahrbuch 1983: Stickel, Gerhard (Hg.): Pragmatik in der Grammatik. Düsseldorf 1984. (= Sprache der Gegenwart 60). <?page no="69"?> Die Jahrestagungen des Instituts für Deutsche Sprache 69 Jahrbuch 1984: Wimmer, Rainer (Hg.): Sprachkultur. Düsseldorf 1985. (= Sprache der Gegenwart 63). Jahrbuch 1985: Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. Düsseldorf 1986. (= Sprache der Gegenwart 67). Jahrbuch 1986: Wimmer, Rainer (Hg.): Sprachtheorie. Der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag. Düsseldorf 1987. (= Sprache der Gegenwart 71). Jahrbuch 1987: Harras, Gisela (Hg.): Das Wörterbuch. Artikel und Verweisstrukturen. Düsseldorf 1988. (= Sprache der Gegenwart 74). [Jahrbuch 1988]: Wimmer, Rainer/ Berens, Franz Josef (Hg.): Wortbildung und Phraseologie. Tübingen 1997. (= Studien zur deutschen Sprache 9). 29 Jahrbuch 1989: Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Jahrbuch 1989 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1990. Jahrbuch 1990: Wimmer, Rainer (Hg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Jahrbuch 1990 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1991. Jahrbuch 1991: Hoffmann, Ludger (Hg.): Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Jahrbuch 1991 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1992. Jahrbuch 1992: Born, Joachim/ Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsch als Verkehrssprache in Europa. Jahrbuch 1992 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1993. Jahrbuch 1993: Harras, Gisela (Hg.): Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen. Jahrbuch 1993 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1995. Jahrbuch 1994: Stickel, Gerhard (Hg.): Stilfragen. Jahrbuch 1994 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1995. Jahrbuch 1995: Lang, Ewald/ Zifonun, Gisela (Hg.): Deutsch - typologisch. Jahrbuch 1995 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1996. Jahrbuch 1996: Stickel, Gerhard (Hg.): Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen. Jahrbuch 1996 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1997. Jahrbuch 1997: Kämper, Heidrun/ Schmidt, Hartmut (Hg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Jahrbuch 1997 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1998. 29 Vgl. hierzu die Ausführungen oben S. 65 <?page no="70"?> Friedhelm Debus 70 Jahrbuch 1998: Stickel, Gerhard (Hg.): Sprache - Sprachwissenschaft - Öffentlichkeit. Jahrbuch 1998 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 1999. Jahrbuch 1999: Kallmeyer, Werner (Hg.): Sprache und neue Medien. Jahrbuch 1999 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 2000. Jahrbuch 2000: Stickel, Gerhard (Hg.): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Aktueller lexikalischer Wandel. Jahrbuch 2000 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 2001. Jahrbuch 2001: Haß-Zumkehr, Ulrike (Hg.): Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York 2002. Jahrbuch 2002: Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsch von außen. Jahrbuch 2002 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York 2003. Jahrbuch 2003: Steyer, Kathrin (Hg.): Wortverbindungen - mehr oder weniger fest. Jahrbuch 2003 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York 2004. Jahrbuch 2004: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Jahrbuch 2004 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York 2005. Jahrbuch 2005: Blühdorn, Hardarik/ Breindl, Eva/ Waßner, Ulrich Hermann (Hg.): Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Jahrbuch 2005 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York 2006. . <?page no="71"?> Konrad Ehlich Das Institut für Deutsche Sprache zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege ∗ 1. 1964 wurde das „Institut für Deutsche Sprache (IDS)“ gegründet. Friedhelm Debus gibt in seinem Beitrag in diesem Band Informationen zur Anfangsphase des Instituts. Vor allem aber enthält die Schrift „Institut für deutsche Sprache 25 Jahre“ aus dem Jahre 1989 im Artikel von Bernd Ulrich Biere einige Informationen über „Gründung - Entwicklung - Arbeitsschwerpunkte“ des damals noch jungen Institutes. Biere zitiert dort aus „einer kleinen Ansprache“ des dritten Konrad-Duden-Preisträgers, Jost Trier, bei der Preisverleihung am 19.4.1969 den Satz: „Ich kann mitteilen, daß das Institut am gestrigen Nachmittag, am 18. April 1964, ins Leben gerufen worden ist.“. Über dem genauen Gründungsdatum liegt ein gewisses Dunkel. Debus benennt den 19. April als Tag der Gründung, der erste Präsident, Hugo Moser, verzeichnet im ersten Jahrbuch des neugegründeten Institutes gar den 29. April 1964 als Gründungstag (Moser 1967, S. 9). Da die Gründungsurkunde der „Stiftung bürgerlichen Rechts“ am 19. April 1964 ausgefertigt wurde, wird man füglich diesen Tag als eigentlichen Gründungstag betrachten. 2. Eine Stiftung des Umfangs, wie ihn die Arbeit des Instituts für Deutsche Sprache erfordert, benötigt natürlich erhebliche Mittel. Es ist wenig wahrscheinlich, dass diese Mittel von den „acht Germanistikprofessoren aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Österreich und aus der Schweiz“ (Biere 1989, S. 9) eingebracht wurden, die die Stiftung errichteten. Und in der Tat: Von einem namhaften Beitrag der Fritz-Thyssen-Stiftung (100.000 DM) ist die Rede, die den „Grundstock des Stiftungsvermögens“ ausmachte (ebd., S. 12), sowie von beachtlichen 30.000 DM des „Vereins der Freunde des Instituts der deutschen Sprache e.V.“ - jährlich. Neben der „Unterstützung des damaligen Mannheimer Oberbürgermeisters Dr. Hans Reschke“ (ebd.) ∗ Ich danke dem Institut für Deutsche Sprache, insbesondere Frau Dr. Heidrun Kämper und Frau Cornelia Pfützer-König, sowie Frau Dr. Kathrin Kunkel, Dudenverlag Mannheim, für wertvolle Hilfen bei der Quellenrecherche. <?page no="72"?> Konrad Ehlich 72 wird dann bereits die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit ihren Projektmitteln als Geldgeber genannt. Freilich: auch damit ist ein solches Institut nicht zu betreiben, und so sind es denn die Bundesrepublik Deutschland einerseits, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Mannheim andererseits, die die Finanzierung gewährleisten. Sie werden in der Satzung des IDS vom 9. November 1984 in §3 zum Stiftungsvermögen als erste genannt. 1989 umfasst der „Grundhaushalt“ 8 Millionen DM (Stickel 1989, S. 18), die je zur Hälfte von der Bundesrepublik Deutschland und vom Land Baden-Württemberg aufgebracht werden. Der gegenwärtige Haushalt (2005) umfasst Einnahmen im Umfang von 7.762.000,- Euro, von denen der überwiegende Teil (je 3.835.000,- Euro) vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung erbracht wird. Die Stadt Mannheim trägt 18.000 Euro bei, 74.000 Euro stammen aus eigenen Einnahmen. Dazu treten noch Projektmittel von - im Jahr 2005 freilich nur - ca. 34.000 Euro (IDS (Hg.) 2005, S. 71f.). 3. Die zentrale Aufgabe des Instituts besteht seit seiner Gründung darin, „die deutsche Sprache, vor allem in ihrem heutigen Gebrauch, wissenschaftlich zu erforschen“, sagt die Satzung in der Fassung des Jahres 1984 in ihrem Paragraphen 2, Absatz (1). Daneben „pflegt [es] die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen ähnlicher Zielsetzung“ (ebd.). In den insgesamt 17 Paragraphen dieser Satzung vom 9. November 1984 mit ihren nahezu 250 Zeilen sind es diese drei Zeilen, die etwas über die Aufgaben des Institutes enthalten - ein für derartige Satzungen nicht ungewöhnliches Verhältnis. Aus diesen wenigen Zeilen heraus war und ist alles andere zu entwickeln, was das Institut an Arbeit leistet. Dies geschah unter anderem in „Richtlinien für die wissenschaftliche Arbeit des Instituts für deutsche Sprache (IdS)“ vom 7. November 1986 (IDS (Hg.) 1989, S. 131). Sie entfalten die genannten drei zu 28 inhaltlichen Zeilen und beschreiben sieben Hauptaufgaben- und Zielbereiche. Die so vergleichsweise vage Bestimmung der Stiftungssatzung erlaubt eine flexible Gestaltung im Einzelnen. Zugleich benennt sie den zentralen Auf- <?page no="73"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 73 gabenbereich der Stiftungsarbeit, eben die Erforschung der „deutsche[n] Sprache, vor allem in ihrem heutigen Gebrauch“. 4. Die Bearbeitung dieser Aufgabe soll „wissenschaftlich“ erfolgen. Dies setzt sich ab von Interessenkonstellationen, die sich gleichfalls der „Gegenwartssprache“ spezifisch annehmen, nämlich denen von „Sprachfreunden“ und „Sprachliebhabern“, Amateuren eben, die mit oft hohem Engagement und viel Einsatz sich in der einen oder anderen Weise um die Sprache kümmern - meist, um sie „rein“ zu erhalten und vor allfälligen Degenerationen zu schützen. Ein zentrales solches Bemühen richtet sich gegen Fremdwörter. Diese Bemühungen freilich waren und sind durch die Geschichte der wohl einflussreichsten derartigen Vereinigung seit dem Kaiserreich von 1870/ 71, nämlich des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (ADSV)“, gründlich diskreditiert: Die Verbindung der Sprachreinigung mit dem Versuch, „das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen“ (ADSV 1886), hatte diesen Verein vor und nach 1933 intensiv mit den Nationalsozialisten sympathisieren und kooperieren lassen (vgl. Simon 1989), um von diesen - genauer von Hitler selbst - schließlich desavouiert zu werden mit dem Ergebnis, dass der Verein 1943 faktisch aufhörte zu bestehen. Eine Neugründung unter dem Namen „Gesellschaft für deutsche Sprache“ 1947 versuchte - bei teilweiser Kontinuität etwa im Titel ihres Organs, der „Muttersprache“ -, genau am amateurhaften Status etwas zu verändern. Heute geht es dem Verein darum, „die Sprachentwicklung kritisch zu beobachten und auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung Empfehlungen für den allgemeinen Sprachgebrauch zu geben“ (GfdS o.J.). Ein verhältnismäßig vorsichtiger, ja zurückhaltender Umgang mit Empfehlungen oder gar Eingriffen in die Sprachentwicklung, eine starke Konzentration auf Beobachtung und damit Sprachentwicklungs-Deskription gegenüber einer - zum Beispiel fremdwörterinkriminierenden - Präskription waren Folgen der Vereinsarbeit. Dies freilich hinterließ in der Bundesrepublik ein Vakuum an „Sprachpflege“-Bedarf, einem Bedarf, wie er etwa in der westlichen Nachbarkultur des Niederländischen ohne eine ähnliche diskriminierende Geschichte wie die <?page no="74"?> Konrad Ehlich 74 deutsche von einer Gesellschaft wie „Onze taal“ vergleichsweise problemlos befriedigt wird. In der Gründung eines neuen Vereins, der nach verschiedenen Zwischenstufen der Namensgebung jetzt den Namen „Verein deutsche Sprache (VdS)“ trägt, schuf sich dieses Interesse eine neue Organisationsform, und auch hier spielt die Fremdwortfrage - unter nunmehr freilich zum Teil erheblich anderen allgemeinen Bedingungen, wie sie durch die sogenannte „Globalisierung“ heraufgeführt werden - wieder eine zentrale Rolle. 5. Die Zielsetzungen des Instituts für Deutsche Sprache unterscheiden sich von solchen Bemühungen durch die strikte Betonung der Wissenschaftlichkeit. Dies hebt das Institut deutlich von sprachpflegerischen Aktivitäten ab. Zugleich stellt es seine Arbeit innerhalb der Arbeitsteilungen des Wissens in den Kontext zweier anderer Institutionengruppen, die in den europäischen Gesellschaften mit der Entwicklung und Vermittlung gesellschaftlich relevanten Wissens spezifisch betraut sind. Die älteren derartigen Institutionen sind die Universitäten, die jüngeren sind die Akademien. Beide stehen in einem durchaus kritischen Verhältnis zueinander. Die Universitäten sind trotz aller Brüche in ihrer Geschichte ihren seit den mittelalterlichen Entstehungsbedingungen fortgeschriebenen Zweckbestimmungen weiterhin stark verpflichtet. Sie befassen sich mit dem theoretischen Gesamtwissen, das die Gesellschaft entwickelt hat und unterhält. Zwar sind sie nicht praxisabstinent; aber ihre zentralen Aufgaben bestehen in der kollektiv wahrgenommenen Gesamtverantwortung für alle Bereiche des Wissens, nicht einfach in der unmittelbaren Anwendbarkeit. Sie unterscheiden sich darin von solchen Wissenschaftsinstitutionen, die unmittelbar aus der Praxis herkommen und auf sie ebenso unmittelbar wieder abzielen. (Die Bemühungen der Politik, diese geschichtlich-gesellschaftlich herausgearbeiteten grundsätzlichen Unterschiede gegenwärtig unter dem Primat der Ökonomie möglichst weitgehend einzuebnen, sagen viel über den gesellschaftlichen Zustand und wenig über die Erfordernisse der gesellschaftlichen Gesamtwissensstruktur aus.) Die Ablösung von unmittelbaren praktischen Handlungszielen erzeugt freilich leicht die Gefahr einer vollständigen Loslösung von der gesellschaftli- <?page no="75"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 75 chen Praxis. Dies hat die scholastischen Wissenssysteme in eine im Ergebnis fatale Grundlagenkrise gestürzt. Sie blieb nicht die einzige. Vergleichbare Krisen durchziehen die Geschichte der Institution Universität seit Beginn der Neuzeit weiterhin. Eine der entscheidenden war der Umbruch der Naturanalyse einerseits, der theologischen Krise der Reformation andererseits. Eine andere ging der Humboldtschen Universitätsreform im darniederliegenden Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts voraus. Die Krisen erfassten nicht zuletzt die Sprache der Wissenschaft und ihre Sprachlichkeit. Die Entstehung der Akademien der Wissenschaften verdankt sich eben einer derartigen Grundlagenkrise. Die Universität erschien als nicht mehr reformierbar. Für neue Aufgaben gesellschaftlicher Wissensgewinnung mit einer neuen Sprachlichkeit und einer neuen, aus den korporalistischen Fesseln der administrativen Universitätseinbindungen gelösten personalen Trägerschaft wurde ein neuer Typus von Institution konstituiert, eben die Akademie. In Leibniz' Programmschriften und deren Realisierung etwa in der preußischen und der russischen Akademie suchte sich eine weltumspannende mathesis universalis ihren Ausdruck (vgl. zur Berliner Gründung neben Harnack 1900 Flamm 1994, § 3). Die relative Unabhängigkeit dieses Personals - späterhin über das Rechtsinstitut der lebenslangen Zugehörigkeit abgesichert - eröffnete der systematischen Wissensgewinnung einen weitgehenden Freiraum, wie er für die universitäre Funktionaleinbindung z.B. der Theologie oder der Jurisprudenz nicht gegeben war und gegeben werden konnte. Die Akademien verlagerten das Doppelgewicht von Wissensgewinnung und Wissensweitergabe deutlich auf die erste; die Wissensweitergabe beschränkte sich weithin auf den literarischen Diskurs der Gelehrten. Zum großen Erstaunen erholte sich freilich die Universität von ihrer Lethargie. Sie gewann nicht zuletzt durch die Humboldtsche Reform einen neuen gesellschaftlichen Stellenwert - und drängte dadurch die Arbeit der Akademien auf spezialistische Detailprojekte einerseits, einen intensivierten kommunikativ-diskursiven Austausch in der Schaffung von neuem gesellschaftlichen Wissen andererseits zurück. Seither stehen Universität und Akademie nebeneinander. Sie zeigen eine spezifische Arbeitsteilung. Den Akademien fallen vor allem Großprojekte zu wie etwa zahlreiche Wörterbuchvorhaben <?page no="76"?> Konrad Ehlich 76 (so das Grimm'sche), wie sie die Akademiearbeit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland charakterisieren. Ein kleiner, herausgehobener, weil besonders qualifizierter Teil der Professorenschaft macht die Hauptgruppe des Akademiepersonals aus. Für die Arbeit der Akademieprojekte ist weitgehende Distanz zur Lehre kennzeichnend. Durch die Langfristigkeit, mit der in den Akademien Großprojekte betrieben werden können, entstehen Arbeitszyklen, die in der wissenschaftlichen Tätigkeit einzelner Universitätsprofessoren allenfalls durch subjektive Entsagung oder durch die Konstituierung von die Lehre und die Forschung verbindenden Arbeitsgruppen möglich sind. Gerade aufgrund der Langfristigkeit ihrer Unternehmen freilich haben die Akademien viel von ihrer ursprünglichen innovativen, vorwärtstreibenden Kraft verloren. So ist denn nicht zu Unrecht von einer Krise des Akademiegedankens die Rede. Was der institutionelle Ort gesellschaftlicher Innovation sein sollte, gerät seinerseits in die Gefahr, nur noch als ein Dormitorium des Geistes wahrgenommen zu werden. Was gestern noch kühn in der Wissensentwicklung voranstürmte, verliert Schubkraft und fällt zurück. Beide Institutionstypen, Universität und Akademie, befinden sich in diesem offenbar immerwährenden Wettlauf. Ein Ergebnis ist der Versuch, die Grundfigur der Bearbeitung jener Momentaufnahme, in der der eine Typus weit ins Hintertreffen zu geraten scheint, - eben die Gründung eines neuen, anderen Organisationstyps - durch immer neue Gründungen und immer andere Institutionstypen je und je zu wiederholen. So entstehen in den Naturwissenschaften Kaiser-Wilhelm-Gesellschaften, die heute als Max- Planck-Institute universitäts- und damit lehrferne Grundlagenforschung betreiben; es entstehen Zentren wie etwa die seinerzeitige Kernforschungsanlage Jülich, die sich längst zu einer allgemeinen Wissensgewinnungs- und -innovationsfabrik weiterentwickelte; es entstehen kulturwissenschaftliche Zentren oder Wissenschaftszentren, die sich des personalen wissenschaftlichen Austauschs und des sowohl in Akademien wie in Universitäten schwerlich noch möglichen wissenschaftlichen Diskurses annehmen. 6. Wissenschaftssoziologisch sind in dem so konstituierten Spannungsfeld auch die Gründung und die Arbeit eines Institutes zu sehen, das sich in besonderer Weise der Erforschung der deutschen Sprache widmet. <?page no="77"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 77 Dabei ist es einigermaßen schwierig, den genauen Stellenwert, die genaue Position eines solchen Institutes zu lokalisieren. Traugott Flamm hat in seiner Untersuchung „Eine deutsche Sprachakademie“ (1994) eine ausführliche Analyse der „Gründungsversuche und Ursachen des Scheiterns“ vorgenommen. Die von ihm versammelten und ausgewerteten Dokumente zeigen, dass für den Akademiebereich von Leibniz' Absichten der Gründung einer „Deutschgesinnten Gesellschaft“ (Flamm 1994, S. 74ff.) an nie Klarheit darüber bestand, wie ein solches Institut konkret zu positionieren wäre. Schon in Leibniz' eigener Akademiegründung von 1700 spielt eigenartigerweise die zuvor intendierte sprachbezogene Arbeit keine Rolle mehr. Vielmehr wird die „Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften“ von ihm ganz auf die Naturwissenschaften hin ausgelegt (ebd., § 3.5.). Es ist erst der Kurfürst selbst, der der deutschen Sprache in diesem Unternehmen einen Ort anzuweisen auffordert, einen Ort freilich, an dem sich im Folgenden wenig tat. Nach einer Reihe feudalabsolutistischer Fehlschläge, die unter anderen Gottsched, Klopstock, Herder und Uhland zu erleiden hatten, geriet die Akademie für die deutsche Sprache im 19. Jahrhundert ganz in den Umkreis des „Projekts Nation“ (Anderson 1996) - zunächst im fortgesetzten Bemühen, im zerfaserten politischen Feld ein wenigstens kulturell einigendes Band zu haben, um dann nach der Reichseinigung schließlich dieses als mehr oder minder überflüssig und obsolet zu erfahren. Die bereits erwähnte sprachpflegerische Alternative, der Allgemeine Deutsche Sprachverein, trug in der späten Kaiserzeit zum Scheitern institutioneller Konsolidierung ebenso bei wie das eifersüchtige Wachen der Akademien insbesondere in Berlin und München über ihre eigenen Ressourcen, die durch eine Neugründung gefährdet schienen (Flamm 1994, § 5.). Was dann 1924 als „Deutsche Akademie“ in München erfolgreich ins Werk gesetzt wurde, bezieht sich bereits auf eine politisch-gesellschaftliche Konstellation, in der die deutschnationalen und dann die faschistischen Kräfte das Desaster von 1918 in ihrem Sinn zu bearbeiten gedachten. Die Umwandlung der Akademie in eine Körperschaft des öffentlichen Rechts durch einen „Führererlaß“ vom 15.11.1941 (vgl. Harvolk 1990) besiegelte zugleich das Ende dieser Gründung. Gegenüber den vorwiegend auf die Stärkung des „Deutschtums“ im Inneren gerichteten Akademiezielen vor dem Ersten Weltkrieg war in dieser „Deutschen Akademie“ in Reaktion auf die durch <?page no="78"?> Konrad Ehlich 78 die politischen Veränderungen bedingten Entwicklungen nun das Auslandsdeutschtum verstärkt auf die Tagesordnung getreten: Die Akademie will allen in der Welt ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen dienen. Ihr Zweck ist, alle geistigen und kulturellen Lebensäußerungen des Deutschtums zu pflegen und die nicht amtlichen kulturellen Beziehungen Deutschlands zum Auslande und der Auslandsdeutschen zur Heimat im Dienste des deutschen Nationalbewußtseins zielbewußt zusammenzufassen und zu fördern. (Deutsche Akademie 1925, S. 35, zit. nach Flamm 1994, S. 297f.). In der Aufgabenbestimmung des 15.11.1941 heißt es dann im Paragraphen 2: (1) Aufgabe der Deutschen Akademie ist in erster Linie die Erforschung und Pflege der deutschen Sprache im Inlande und ihre Förderung und Verbreitung im Auslande. (2) Außerdem nimmt die Deutsche Akademie teil an der Erforschung und Pflege des deutschen Kulturgutes in Vergangenheit und Gegenwart. (Reichsgesetzblatt 1941, Nr. 132, S. 717f., zit. nach Flamm 1994, S. 327). Diese „Deutsche Akademie“ löste sich im nationalsozialistischen Untergangsszenario auf. 7. Zu einer tatsächlichen „Akademie der deutschen Sprache“ kam es also nicht, und auch die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Darmstadt konstituierte, konnte hinsichtlich der Sprache das 300jährige Vakuum offenbar nicht ausfüllen. Alle Versuche, eine deutsche Sprachakademie zu gründen, fanden massivste Widersprüche und Widerstände. So zieht sich wie eine Art basso continuo seit 1683 der Ruf nach einer solchen Akademie durch den deutschen intellektuellen Diskurs; zugleich wird er mit mehr oder minder schrillen Tönen, Ober- und Untertönen konterkariert. Die Akademien selbst haben jene Aufgaben, die in allen Programmschriften benannt wurden, in denen auf die Gründung einer solchen Akademie gedrängt wird, nicht umfassend wahrgenommen - soweit es dabei um die deutsche Sprache in ihrer je gegenwärtigen Erscheinungsform geht. Zwar sind immer wieder einzelne Aspekte und Themen von Akademien und vergleichbaren Institutionen aufgegriffen worden, auch nach 1949 in der Bundesrepublik, doch einen umfassenden Ort hat die deutsche Sprache an keiner von ihnen gefunden. <?page no="79"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 79 Dies setzt das IDS in eine spezifische, einzigartige Situation und gibt ihm für die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Sprache eine Bedeutung, die von der Akademienseite her wohl nur schwer infrage gestellt werden kann. Allerdings bleibt die durch die Zersplitterung kultureller Zuständigkeiten in Deutschland bedingte offene Einladung zu immer neuen Kompetenzverschiebungen, und Akademien können sich aufgerufen fühlen, im IDS ihrer Auffassung nach nicht hinreichend bearbeitete Gegenstände zum eigenen Thema zu machen (vgl. exemplarisch das Lexikonprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gegenüber dem elexiko-Projekt des IDS). 8. Mit der deutschen Sprache befassen sich seit der institutionellen Etablierung und Konsolidierung der Germanistik als akademischer Disziplin in der Mitte des 19. Jahrhunderts zugleich und intensiv die Universitäten. Deren Beschäftigung mit der deutschen Sprache stand gleichfalls in einer sehr engen Verbindung zu jenem „Projekt Nation“, dem auch die Bemühungen um eine Sprachakademie im 19. Jahrhundert verpflichtet waren. Dies brachte aufgrund der historischen Dimensionierung dieses Projektes freilich die starke Konzentration auf die Geschichte und Vorgeschichte dessen mit sich, was man als „deutsch“ ansah bzw. konstruierte. Die retrograde Orientierung war für jenes Projekt unabdingbar, um mittels geschichtlicher Dignität die aktuelle Bedeutung und politische Zielsetzung zu konstituieren und abzusichern. Der enorme wissenschaftliche Erfolg dieser Arbeit bedeutete freilich bis ins 20. Jahrhundert hinein zugleich die weitgehende Abkehr von der aktuellen deutschen Sprache. Bis auf wenige Ausnahmen fand sie unter den Universitätsgermanisten kaum Interesse. Zu diesen wenigen gehört Otto Behaghel, der das Desiderat deutlich empfand und in seiner eigenen Arbeit auch umsetzte. Eine Bearbeitung dieser Aufgabe sah freilich auch er eher in der Schaffung eines neuen institutionellen Typus, einer „Reichsanstalt für deutsche Sprache“, als in der Ausweitung der universitären Arbeit (Behaghel 1901). Er schrieb: Was wir also brauchen, ist eine gelehrte Körperschaft, die der deutschen Sprachforschung wissenschaftliche Aufgaben stellt, ihre Durchführung in die Wege leitet und überwacht und dadurch dem praktischen Leben, dem einzelnen Schriftsteller, dem einzelnen Grammatiker eine Fülle von Anregungen bietet, es aber diesem überläßt, zu den Ergebnissen der Forschung Stellung zu nehmen, die Folgerungen daraus zu ziehen (ebd., S. 328). <?page no="80"?> Konrad Ehlich 80 Behaghel sieht hier deutlich die Grenzen, die sich für die Tätigkeit eines Lehrstuhls oder eines Universitätsinstitutes stellen - und die Arbeit jener „Reichsanstalt“ als komplementär dazu. 9. Die Orientierung auf die wissenschaftliche Erforschung auch der jeweiligen Gegenwartssprache wies über die Grenzen einer sich fast nur historisch verstehenden Sprachwissenschaft deutlich hinaus. Dies bestimmte auch und gerade die Arbeit des 1964 neu gegründeten Instituts in Mannheim. Die Zielsetzungen, die sich in den Konkretisierungen ab 1965 ergaben, sind durch und durch dieser Neufokussierung verpflichtet. Der „heutige Gebrauch“ der deutschen Sprache als zentrales Erkenntnisobjekt setzte sich nicht nur unmittelbar in die ersten Arbeitsvorhaben um. Gerade in der empirischen Erfassung des Gegenwartsdeutschen leistet das Institut etwas, für das an universitären Einrichtungen allenfalls Vorformen bestanden. Von diesen wird das „Deutsche Spracharchiv“ in Münster 1971 dem IDS eingegliedert (Biere 1989, S. 13). Die dialektbezogenen Arbeiten des Deutschen Sprachatlas in Marburg und die West-Arbeitsstelle des Grimm'schen Wörterbuches an der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bleiben für sich bestehen. Mit der Außenstelle des Instituts in Kiel und dann in Freiburg (vgl. Schröder 1989) erfolgt eine erste Erfassung gesprochener Sprache jenseits der für das Deutsche Spracharchiv und den Marburger Sprachatlas charakteristischen Orientierung auf die dialektalen Varietäten. 10. Der institutionell innovative Charakter des Institutes ermöglicht es ihm, in der seit Mitte der 60er-Jahre, also seit der eigenen Gründung, beginnenden Um- und Neuorientierung eines Teiles der universitären germanistischen und allgemeinen Sprachwissenschaft eine wichtige Rolle zu übernehmen. Die noch junge Pragmatik ebenso wie soziolinguistische Fragestellungen erhalten in dem Institut eine den traditionellen Bereichen Grammatik und Lexikon gegenüber gleichberechtigte Stellung. Das Institut ist mit seinen Jahrestagungen zudem zunehmend ein Ort des Austauschs, an dem Repräsentanten der nach-inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft ihre Konzepte vorstellen und in ein - zum Teil heftiges - intradisziplinäres Gespräch einbringen können. Zugleich wirken sich die Jahresta- <?page no="81"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 81 gungen als Umschlagsort der neu in die Diskussion gebrachten Konzepte und Methodologien auch für und durch die Auslandsgermanistik aus. Schließlich nimmt das Institut öffentliche Funktionen wahr, indem es zu Sprachfragen Stellung nimmt. Allerdings bewirken die Umbrüche in der Arbeit der universitären Linguistik zugleich eine neue Konkurrenzsituation für das Institut in seiner Orientierung auf die Gegenwartssprache. An zahlreichen germanistischen Instituten in der Bundesrepublik erfolgt eine Abkehr von den (nur) historischen Fragestellungen. Sprachsoziologische und linguistische Themen werden ebenso wie die synchrone Analyse von Sprach- und Zeichensystemen zu Hauptarbeitsfeldern. Gerade die neu etablierten Universitäten und Gesamthochschulen gewinnen hier eigene Profile, etwa in der Gründung einer „Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft“ an der Universität Bielefeld oder in der Einrichtung eines „Seminars für allgemeine Sprachwissenschaft“ an der noch jungen Universität Düsseldorf. Die Beziehung auf das Gegenwartsdeutsche und die Einbeziehung von Fragestellungen jenseits des Themen- und Methodenkanons der germanistischen Linguistik vor 1950 machen damit nicht mehr die differentia specifica des Instituts für Deutsche Sprache aus. Dies stellt ohne Zweifel bis in die Gegenwart eine Herausforderung für die Arbeit des Institutes dar. 11. Von seiner Organisations- und Finanzierungsstruktur her war das Institut für Deutsche Sprache ein klassischer Fall für die „Blaue Liste“, das Verzeichnis von Forschungseinrichtungen innerhalb der BRD, die jenseits der reinen Landesverantwortlichkeiten unterhalten wurden. Nach dem Staatsabkommen über die „Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen“ aus dem Jahre 1949 (Königsteiner Abkommen) und nach der Einbringung des Artikels 91b in das Grundgesetz 1969 wurde diese Liste 1977 nach vieljährigen Verhandlungen als Zusammenstellung von 46 Institutionen publiziert, bei denen der Bund und die Bundesländer forschungsmäßig, d.h. forschungsfinanzierend, zusammenarbeiten, um „gesamtstaatliche wissenschaftspolitische Interessen“ zu realisieren. Diese „Blaue Liste“ war wie so vieles in der föderativen Zersplitterung im Einzelnen ein sehr heikles, verfassungspolitisch problematisches Unternehmen. Die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförde- <?page no="82"?> Konrad Ehlich 82 rung (BLK)“, das Tarierungsinstrument für die ganze Problematik, stand auch an dieser Stelle vor nur sehr schwer lösbaren Aufgaben. Nach der jüngsten Föderalismusreform des Jahres 2006 ist die BLK aufgelöst. Als durch die Wiedervereinigung die Zahl der „Blaue-Liste“-Institute nahezu verdoppelt wurde (81 statt zuvor 47), stellten sich die Strukturprobleme in noch größerer Klarheit dar, zumal die zuvor deutlich geistes- und kulturwissenschaftlichen Schwerpunkte sich nunmehr dadurch verlagerten, dass die in der alten BRD bei der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft lokalisierten natur- und technikwissenschaftlichen Bereiche durch Übernahmen früherer DDR-Institute auch innerhalb der Blauen Liste zu einem erheblichen Sektor wurden. Die Umwandlung in zunächst eine „Wissenschaftsgemeinschaft Blaue Liste (WBL)“, dann in die „Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz (WGL)“ (http: / / www.wgl.de) ab 2003 schuf dieser Vertretung von Forschungseinrichtungen und nicht zuletzt dem Institut für Deutsche Sprache eine neue öffentliche Präsenz. 12. Mit seiner Stellung innerhalb von „Blauer Liste“ bzw. Leibniz-Gemeinschaft ist das IDS für den Bereich der deutschen Sprache eine der wenigen Inlandsinstitutionen, die sich trotz der föderalistischen Grundstrukturen über den Bereich der einzelnen Länder hinaus kulturell betätigen können. Dem Land Baden-Württemberg kommt das Verdienst zu, hier den Part jener sechzehn Staaten zu übernehmen, die innerhalb eines föderalistischen Gesamtkonzeptes eine sprachpolitische Verantwortung empfinden sollten - ganz abgesehen von den jenseits der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegenden deutschsprachigen bzw. teilweise deutschsprachigen Staaten. Innerhalb der Kulturpolitik im Bundesstaat BRD, der für die Fragen der Sprache sich eher als ein Staatenbund ohne spezifische Interessen und Verantwortlichkeiten bei den Sektoren Kultur und Sprache versteht (und das ohnehin geringe Interesse in der aktuellen sogenannten Föderalismusreform noch zu vermindern bestrebt war), ist das Institut für Deutsche Sprache auch in dieser institutionellen Hinsicht einzigartig. Es nimmt Funktionen wahr, die in das breite Spektrum von Aufgaben gehören, deren gesamtstaatliche Bearbeitung in immer neuen Fassungen und unter Bezug auf unterschiedlichste - und zum Teil auch fatale - politische Konstellationen im Ruf nach <?page no="83"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 83 einer Akademie der deutschen Sprache immer wieder gefordert wurde. So gesehen, hat das Institut für Deutsche Sprache tatsächlich den Charakter eines „Zentralinstituts“. Darin lässt sich ein entferntes Echo aus der Situation der staatlichen Teilung vernehmen, das möglicherweise im Gründungsdunkel des Jahres 1964 angesichts der stark zentralistischen, nach dem russisch-sowjetischen Vorbild organisierten Arbeit der Ostberliner Akademie der Wissenschaften der DDR ausgelöst wurde - wenn denn tatsächlich die ersten Mittel für die Gründung des IDS (vgl. Kap. 2.) aus dem Etat des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen gekommen sein sollten, wie es „mündliche Quellen“ nahelegen. Als in Ostberlin im Rahmen der dortigen Akademiereform das „Institut für deutsche Sprache und Literatur“ unter der Leitung von Theodor Frings in ein „Zentralinstitut für Sprachwissenschaft“ umgewandelt wurde, verfügte die dezentrale Bundesrepublik mit dem IDS über ein im deutsch-deutschen Kontakt dringend notwendiges Pendant, das dann freilich gerade in dieser Hinsicht für nahezu 20 Jahre nicht tätig werden konnte. Mit dem Ende der DDR wurden große Teile jenes Zentralinstituts in das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim integriert (vgl. Grosse in diesem Band) - mit dem Ergebnis, dass der zentrale Stellenwert des Institutes nunmehr für den ganzen Bereich der neuen Bundesrepublik Deutschland gestärkt wurde. 13. Die jüngst durchgeführte Verfassungsreform hat die wenigen länderübergreifenden Strukturen für den Bereich der Kultur und damit auch der Sprachpolitik eher weiter geschwächt als gestärkt. Lediglich für die Außenkulturpolitik verfügt die Bundesrepublik Deutschland über eine eigene politisch auch eingestandene und etatmäßig umgesetzte Verantwortung. Um so wichtiger ist ein Institut, das weder Akademie noch Universitätseinrichtung und das auch nicht auf Aufgaben der unmittelbaren Sprachpflege ausgelegt ist. Das Institut für Deutsche Sprache als der größte linguistische „Arbeitgeber“ innerhalb der BRD verfügt über Arbeitskapazitäten, wie sie sonst nur Akademien zukommen. Es ist über seinen wissenschaftlichen Auftrag einer Aufgabe verpflichtet, wie sie sonst in Bezug auf viele Facetten der deutschen Sprache von den Universitäten wahrzunehmen ist. Das Institut für Deutsche <?page no="84"?> Konrad Ehlich 84 Sprache hat von diesen seinen Ressourcen zur Erfüllung seiner Aufgaben in den vergangenen 40 Jahren einen überzeugenden Gebrauch gemacht. 14. Die Zukunft dieses Institutes wird vor allem darin bestehen, diese Mittel verstärkt zur Bearbeitung solcher Aufgabenfelder und solcher Aufgabenstrukturen zu nutzen, die über die Möglichkeiten der einzelnen Institute und Lehrstühle von Germanistik und allgemeiner Sprachwissenschaft hinausgehen. Zudem ist die Vermittlungsposition zwischen deutscher und internationaler Sprachgermanistik eine zentrale wissenschaftliche Aufgabe, für deren Erfüllung das Institut für Deutsche Sprache über beste Voraussetzungen und eine jahrzehntelange erfolgreiche Praxis verfügt. Im Zusammenhang der europäischen Integration und in Bezug auf die anstehenden sprachpolitischen Aufgaben kommen neue Aufgabenfelder hinzu, wie sie etwa im gegenwärtigen kontrastiven Grammatikprojekt bereits umgesetzt werden. Die Fragen der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit im Land und in der ganzen Europäischen Union verlangen nach einer umfassenden sprachwissenschaftlichen Bearbeitung, für die innerhalb des Instituts für Deutsche Sprache Mittel eingesetzt und zum Teil neu gewonnen werden können. Die Erforschung der sprachpolitischen Realitäten des 20. Jahrhunderts bedarf erheblicher weiterer Anstrengungen, die im Institut für Deutsche Sprache einen verstärkten institutionellen Ort finden sollten. Falls im Rahmen einer bundesweiten Verstärkung der indivuellen Sprachförderung von Kindern umfassende Sprachstandserhebungen stattfinden, so wäre sicherlich das Institut für Deutsche Sprache der Ort, an dem die so gewonnenen anonymisierten Daten zum Nutzen der Verbesserung des Bildungswesens im Land systematisiert und ausgewertet werden können. Vor allem aber die Aufgaben einer umfassenden Dokumentation des gegenwärtigen Deutsch in seinen schriftlichen und gesprochenen Varietäten, die Herstellung einer Reihe von allgemein für die wissenschaftliche Forschung zugänglichen Korpora, die gut aufgearbeitet und für die weitergehende For- <?page no="85"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 85 schung des ganzen germanistischen Bereiches leicht handhabbar sind, gehört ohne Zweifel zu den Herausforderungen, auf die lediglich ein Institut wie das IDS angemessen eingehen kann. 15. Das Institut für Deutsche Sprache hat sich gegenüber den Forderungen eines direkten Eingriffes in die Sprachentwicklung, den Forderungen einer „Sprachpflege“, bisher verweigert - und es hat gut daran getan. Allerdings ist die Reihe der Aufgaben, die unter diesem Stichwort thematisiert werden, damit ebenso wenig obsolet geworden wie weitere sprachpolitische Aufgaben, die in verschiedenen anderen europäischen Ländern von Sprachakademien wahrgenommen werden. Die teils dramatische Geschichte der Rechtschreibreform, für die das Institut für Deutsche Sprache in den letzten Jahren weder direkt verantwortlich zeichnete noch auch die Verantwortung übernehmen wollte oder konnte, zeigt eine der großen Schwachstellen in den Aufgabenfeldern in Bezug auf die deutsche Sprache als eine der großen europäischen Kultursprachen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Exemplarisch war hieran ex negativo zu sehen, dass es stärkerer, besser strukturierter, verantwortlich etatisierter und wissenschaftlich fundierterer institutioneller Strukturen bedarf, als sie für dieses große und so problematisch verlaufende Projekt von der Politik je zugestanden waren. Neben dem IDS als einer wissenschaftlichen Einrichtung zur Erforschung der deutschen Gegenwartssprache, einer Einrichtung, die zwischen Universität und Akademie situiert ist, und neben praktischen sprachpflegerischen Aktivitäten bedarf die deutsche Sprache meines Erachtens in einer durch „Globalisierung“ und Europäisierung geprägten Welt (vgl. Ehlich 2006) einer eigenen sprachpolitischen Agentur (vgl. Glück 2006), die gerade auch die Umwandlungen einer europäischen Außenin eine europabezogene Innenpolitik für die Fragen von Sprache verantwortlich begleitet. Hier ist politisch im letzten Vierteljahrhundert - aus zum Teil nachvollziehbaren Gründen, doch im Ergebnis mit möglicherweise weitreichenden negativen Folgen - vieles versäumt worden. Diese Aufgaben fallen explizit nicht in den Bereich des Instituts für Deutsche Sprache. Dessen erfolgreiches Wirken entbindet die Politik in Deutschland freilich nicht davon, eine solche Agentur für die deutsche Sprache zu <?page no="86"?> Konrad Ehlich 86 entwickeln, um die sprachpolitischen Aufgaben in enger Kooperation mit allen bestehenden Institutionen, die auf die deutsche Sprache bezogen sind, anzugehen. Literatur Anderson, Benedikt (1996): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a.M. ASDV (1886): Satzung von 1886 (Auszug). Internet: http: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Allgemeiner_Deutscher_Sprachverein#Ziele (Stand: August 2006). Behaghel, Otto (1901): Brauchen wir eine Akademie der deutschen Sprache? In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 20, S. 323-329. Biere, Bernd Ulrich (1989): Das Institut für deutsche Sprache. Gründung - Entwicklung - Arbeitsschwerpunkte. In: IDS (Hg.), S. 9-17 Ehlich, Konrad (2006): Mehrsprachigkeit für Europa - öffentliches Schweigen, linguistische Distanzen. In: Cigada, Sara/ de Pietro, Jean-François/ Elmiger, Daniel/ Nussbaumer, Markus (Hg.): Les enjeux sociaux de la linguistique appliquée. Actes du colloque VALS - ASLA 2004. Neuchâtel. (= Bulletin vals-asla 83/ 1). S. 11-28. Flamm, Traugott (1994): Eine deutsche Sprachakademie. Gründungsversuche und Ursachen des Scheiterns (von den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts bis 1945). Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien. GfdS (o.J.): Gesellschaft für deutsche Sprache e.V.: Über die GfdS. Internet: http: / / www.gfds.de/ index.php? id=7 (Stand: August 2006). Glück, Helmut (2006): „Eine Agentur für die deutsche Sprache“. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Germanistik in und für Europa. Bielefeld. S. 553-560. Grosse, Siegfried (in diesem Band): Die Erweiterung des IDS als Folge der politischen Wende 1989. Harnack, Adolf von (1900): Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 2 Bde. Berlin. Harvolk, Edgar (1990): Eichenlaub und Hakenkreuz. Die Deutsche Akademie und ihre volkskundliche Sektion 1923-1962. München. IDS (Hg.) (1989): Institut für deutsche Sprache 25 Jahre. Mannheim. IDS (Hg.) (2005): Institut für Deutsche Sprache: Jahresbericht 2005. Mannheim. <?page no="87"?> Das IDS zwischen Akademie, Universität und Sprachpflege 87 Moser, Hugo (1967): Sprache, Freiheit oder Lenkung. Zum Verhältnis von Sprachnorm, Sprachwandel, Sprachpflege. Rede anläßlich der feierlichen Überreichung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim durch den Herrn Oberbürgermeister am 19. April 1964. Mannheim. [Hrsg. vom Dudenverlag]. Schröder, Peter (1989): Gesprochene Sprache. Die Forschungsstelle Freiburg des IdS. In: IDS (Hg.), S. 55-61. Simon, Gerd (1989) Sprachpflege im „Dritten Reich“. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Sprache im Faschismus. Frankfurt a.M. S. 58-86. Stickel, Gerhard (1989): Das Institut für deutsche Sprache. Organisationsstruktur. In: IDS (Hg.), S. 18-22. <?page no="89"?> 2. Forschungsunternehmen aus der Geschichte des IDS <?page no="91"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann Das Projekt „Deutsche Wortbildung“: Werkgeschichte und wissenschaftsgeschichtliche Position Anjetten, entspröden, kellnerieren - monokelig, snoboid, isodynamisch, pedalfreudig, generalstäbelnd, karteikastentief - Schmähbold, Playboytum, Lenkstangenschnurrbart oder Wer-mit-wem-im-Nachtklub-Tratsch 1 - im Universum der Wortbildungsmöglichkeiten herrscht immer Bewegung und es entstehen ständig neue, schillernde Produkte. Wortbildung ist ein Schnittstellenphänomen; sie steht zwischen benennender Referenz und paradigmatisch wie syntagmatisch konstituierter Bedeutung. Sie kann dem Objektbereich der Lexikologie, der Morphologie wie auch dem der Syntax zugerechnet oder als selbstständiges Phänomen behandelt werden. Diesem faszinierenden Grenzgängerphänomen war das Projekt „Deutsche Wortbildung“ gewidmet, das - von der DFG und vom IDS gefördert - von 1966 bis 1991 an der Außenstelle des IDS am Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck durchgeführt wurde. Die Aufgabe des Projekts war eine möglichst vollständige Erfassung, vieldimensionale Beschreibung und Erklärung aller Möglichkeiten der Wortbildung - in der Sprache der Gegenwart und kontrastierend mit älteren Sprachständen. Deshalb wurde ein Korpus von weit über 200.000 Belegen angelegt (nicht EDV-unterstützt). Die systematische (nicht selektive) Auswertung sollte einen Überblick geben − über die grundsätzlich im Deutschen möglichen Wortbildungen; dabei sollten auch selten genutzte Formen angemessen berücksichtigt werden; − über den Nutzungsgrad der einzelnen Möglichkeiten, d.h. auch einen Überblick über das Zusammenspiel paralleler oder konkurrierender Muster, über ihre Häufigkeit in den verschiedenen Funktionsbereichen und Textarten sowie über Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. 1 Die ohne Quellenangaben genannten Bildungen stammen alle aus den im Rahmen des Projekts entstandenen Bänden zur deutschen Wortbildung (s.u. Kap. 1.). <?page no="92"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 92 1. Geschichte des Projekts Die Arbeiten am Projekt haben in der Arbeitsstelle Innsbruck schon 1966, gerade zwei Jahre nach der Gründung des IDS, begonnen. Einen wichtigen Anstoß dazu gab ein DFG-Antrag („Sprachbau“) des Institutsgründers Hugo Moser (Bonn), den er in Verbindung mit Johannes Erben (Innsbruck) gestellt hatte. Johannes Erben, der Initiator des Gesamtprojekts „Deutsche Wortbildung“, betreute das Projekt der Mannheimer Außenstelle von Beginn an bis 1979 vor Ort (in Innsbruck) und später, nach seiner Berufung nach Bonn, als Mentor aus der Ferne. Ihm verdankt das Projekt vieles: u.a. den empirischen Ansatz, die vergleichend historische Ausrichtung, die Berücksichtigung synchronischer Funktionszusammenhänge (vgl. Erben 1964) und viele Weichenstellungen bei der inhaltlich/ wissenschaftlichen Detailarbeit. Das Projekt wurde zuerst von Hans Wellmann (bis 1977), darauf zwei Jahre lang von Oskar Putzer und dann von Lorelies Ortner geleitet (1979-1991). Gerhard Stickel (als Direktor des IDS) und Wolfgang Mentrup (als Leiter der Abteilung „Grammatik und Lexik“ am IDS) haben durch mehrere erfolgreiche DFG-Anträge und mit langjähriger Unterstützung durch das IDS die Fortführung des Projekts bis 1986 gewährleistet. Ohne die wohlwollende Betreuung durch Wolfgang Mentrup und seinen außerordentlichen Einsatz hätte das Großprojekt nicht zu Ende geführt werden können. Abgeschlossen wurde es schließlich 1991 durch die weitere jahrelange (unbezahlte) Mitarbeit der Autor(inn)en. Zu Beginn waren Ingeburg Kühnhold und Hans Wellmann für die wissenschaftliche Durchführung des Projekts verantwortlich (Teil 1: Ableitungen). In der zweiten Phase des Projekts (Teil 2: Komposita) waren es Hildegard Gärtner, Elsbeth Gassner-Koch, Elgin Müller-Bollhagen, Hanspeter Ortner, Lorelies Ortner, Maria Pümpel-Mader, Oskar Putzer und Hans Wellmann. Schon früh ermöglichte das IDS die Beschäftigung wissenschaftlicher Hilfskräfte, die nach ihrem Examen auch selbstständig Teile der im Rahmen des Projekts entstandenen Bücher erarbeitet oder weiterführende Untersuchungen zur Wortbildung 2 vorgelegt haben (Anna Maria Fahrmaier, Ingeborg Fink, Gabriele Böheim, Hildegard Gärtner, Elsbeth Gassner-Koch, Heinrich 2 Z.B. Hahn (1976) und Fahrmaier (1978). <?page no="93"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 93 Hahn, Artur Moser, Elgin Müller-Bollhagen, Lorelies Ortner, Heinz-Peter Prell, Maria Pümpel-Mader, Oskar Putzer und Barbara Unterpertinger). 3 Ergebnis des Projekts sind neben zahlreichen kleineren Publikationen mehrere, z.T. sehr umfangreiche Monografien: drei Bände zur Ableitung sowie ein Registerband, ferner zwei Bände zur Komposition und ein Begleitbuch zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung: 4 Kühnhold, Ingeburg/ Wellmann, Hans (1973): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungsstelle Innsbruck. Erster Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 29). Wellmann, Hans (1975): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungsstelle Innsbruck. Zweiter Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 32). Kühnhold, Ingeburg/ Putzer, Oskar/ Wellmann, Hans, unt. Mitw. von Fahrmaier, Anna Maria/ Moser, Artur/ Müller, Elgin/ Ortner, Lorelies (1978): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungsstelle Innsbruck. Dritter Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 43). Kühnhold, Ingeburg/ Prell, Heinz-Peter (1984): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungsstelle Innsbruck. Morphem- und Sachregister zu Band 1-3. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 62). Ortner, Lorelies/ Müller-Bollhagen, Elgin/ Ortner, Hanspeter/ Wellmann, Hans/ Pümpel-Mader, Maria/ Gärtner, Hildegard (1991): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, Forschungsstelle Innsbruck. Vierter Hauptteil: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 1). Berlin/ New York. (= Sprache der Gegenwart 79). Pümpel-Mader, Maria/ Gassner-Koch, Elsbeth/ Wellmann, Hans, unt. Mitarb. von Ortner, Lorelies (1992): Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Eine Bestandsaufnahme des Instituts für deutsche Sprache, 3 Weitere Hilfskräfte sind in den Vorwörtern der Bände I-V der „Deutschen Wortbildung“ erwähnt; ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich für ihre Mitarbeit gedankt. 4 Der Registerband zu den Kompositionsbänden konnte im Rahmen des Projekts leider nicht mehr erstellt werden. Weitere Desiderate sind Untersuchungen zu den weniger produktiven Wortbildungsmustern wie Verbkomposition und Wortbildung des Adverbs (vgl. Barz 2005a, S. 719f. und 769ff.; Heinle 2004) sowie zur Kurzwortbildung. <?page no="94"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 94 Forschungsstelle Innsbruck. Fünfter Hauptteil: Adjektivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 2). Berlin/ New York. (= Sprache der Gegenwart 80). Ortner, Hanspeter/ Ortner, Lorelies (1984): Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Mit einer ausführlichen Bibliographie. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 55). 2. Inhaltliche Ausrichtung des Projekts 2.1 Umfangreiche Materialbasis Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ sah eine synchrone Erfassung und Erforschung des deutschen Wortschatzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage einer sehr großen Materialbasis vor. Das Projekt war also zentral empirisch ausgerichtet und den Prinzipien einer Korpuslinguistik verpflichtet, wie sie in den letzten Jahren wieder zu Ehren kommt. 5 Neu am methodischen Vorgehen war, dass nicht nur Stichwörter aus Wörterbüchern (z.B. aus dem sechsbändigen Wörterbuch zur deutschen Gegenwartssprache von Klappenbach/ Steinitz 6 und aus vielen anderen Wörterbüchern) ins Korpus aufgenommen wurden, sondern in der Mehrzahl Beispiele aus verschiedensten alltagssprachlichen, fachsprachlichen und literarischen Quellen die Materialgrundlage bilden, z.B. Meditations- und Yogafreak, Gegenzugoffenfachdoppelhubschaftmaschine, Blut-Methusalem (Gottfried Benn). Damit konnten sowohl usuelle als auch nicht-usuelle Bildungen beschrieben werden, lexikalisierte Wortbildungen wie auch Neologismen/ Okkasionalismen (hechten - storchen). 7 Die bunte Vielfalt des gewählten Korpus gewährleistete überdies, dass (noch) wenig produktive und selten belegte, auch erst im Ansatz produktive Typen miterfasst wurden, z.B. Komitativ- (= Begleit-)Komposita des Typs Cordon-bleu-Salat und Hosenbluse ( → ‘Bluse, die zu einer Hose passt/ getragen wird’) oder Bezugsadjektive auf -technisch (dirigiertechnisch differenziertes Musizieren, bestelltechnisch konformgehen, aus monetentechnischen Gründen). Das Gesamtkorpus umfasst ca. 109.000 Stichwörter (types) in über 200.000 Belegen (tokens). Ein derart großes Korpus stellt sicher, dass die Beschreibung nicht nur Einzelfälle erfasst, sondern einen Überblick über alle denkbaren Fälle bieten kann. Auch damit hebt sich das Unternehmen „Deutsche 5 Vgl. die sprunghaft anwachsende Literatur der letzten Jahre. 6 Klappenbach/ Steinitz (Hg.) (1964ff.). 7 Vgl. dazu z.B. Erben (1981) und Müller-Bollhagen (1985). <?page no="95"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 95 Wortbildung“ von anderen Wortbildungsuntersuchungen ab, die vielfach nach dem Prinzip „große Theorie auf kleiner Materialbasis“ vorgehen. Auf der Grundlage aller auffindbaren Belege konnten die „Produkte“ von Derivation (demokratisch, charaktervoll), Konversion (Gehorsam), Präfigierung (Geschrei, Riesenangst), Komposition (Haarfarbe) und besonderer Bildungsweisen wie Zusammenbildung (schwarzäugig), kombinatorische Ableitung (vergolden), Rückbildung (Tatkraft) und Zusammenrückung (Zurück-zur-Natur-Trend) in ihrem vollen Umfang festgestellt werden. Das war nötig, um die Mittel, Arten, Muster und Regularitäten kreativer Wort- „Produktion“ zu erkennen und zu beschreiben. Durch die systematische Anwendung von Transformationen aller vorkommenden Fälle gelang es uns, Klassifikations- und Abgrenzungsprobleme besser darzustellen, die große Ausdifferenzierung von Wortbildungstypen nachzuweisen und insgesamt einen umfassenden Überblick über die Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung durch Wortbildung zu geben. Auf der Basis einer breiten und umfassenden Materialgrundlage war es auch möglich, Aussagen über Frequenzen und über die Nutzung von Mustern in mehr oder weniger großem Umfang zu machen. Dies gelang unter anderem auch durch die konsequente Erfassung und Beschreibung von reihenhaften Elementen, vgl. z.B. im Kompositionstyp „Geltungsbereich - Bezugsgröße“ (referentiell): 59 Stichwörter mit -frage (Sicherheitsfrage), 53 mit -problem (Sicherheitsproblem), 26 mit -krise (Erdölkrise), 24 mit -verhältnisse (Lichtverhältnisse), 19 mit -situation (Konfliktsituation), 17 mit -lage (Stimmungslage), 7 mit -angelegenheit (Geldangelegenheiten). Reihenhafter Gebrauch von Wortbildungselementen unterstützt manchmal die Interpretation als Affixoid, vgl. z.B. Lieblings- (Lieblingsheld, Lieblingsauto, Lieblingsobstsorten, Lieblingsfarbe), und bei einigen Klassen die These von den Plastikwörtern (Pörksen 2004), vgl. z.B. die Wörter mit den vielfach verwendeten, semantisch verblassten Konstituenten -struktur, -charakter und -system, die ohne weiteres kommunikativ entbehrlich sind (Das Tempolimit [...] hat nur Symbolcharakter. → ‘ist nur ein Symbol’; Erarbeitung neuer Lehrplanstrukturen → ‘neuer Lehrpläne’; Aufbau von Gesamtschulsystemen → ‘von Gesamtschulen’). Durch die zufällige, nicht auf einen bestimmten Bildungstyp hin orientierte Auswahl konnte ein realistisches Bild der gegenwartssprachlichen Wortbildung gezeichnet werden. Das zeigt sich am besten in der angemessenen Berücksichtigung von Komposita gegenüber Ableitungen (ca. 65% der <?page no="96"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 96 untersuchten types aller Wortarten sind Komposita, also weit mehr als Ableitungen; vor allem der substantivische Wortschatz - der in der Gegenwartssprache zu ca. 60% vertreten ist - wird im modernen Deutsch „in sehr großem Umfang“ (Wellmann 1998, S. 441) durch Komposita ausgebaut). Auch damit wurde ein methodisch neuer Weg beschritten, der das Konzept der „Deutschen Wortbildung“ von der stark ableitungszentrierten Ausrichtung früherer Wortbildungslehren abhebt. „Die Fülle des Materials ermöglichte es schließlich auch [...], auf eine Eigenschaft der Wortbildungen einzugehen und sie auch in ihren vielfältigen Verzweigungen gesamthaft darzustellen, die in Wortbildungsarbeiten sonst eher nur erwähnt, nicht systematisch aufgeführt wird“ (Ortner/ Wellmann/ Ortner 1991, S. XXXI): ihre ausgeprägte Polysemie. So ließen sich viele Übergangs- und Überschneidungstypen ermitteln, z.B. Brillenglas → ‘Glas der Brille’ (Ganzes - Teil) oder → ‘Glas, aus dem Brillen hergestellt werden’ (Produkt - Material). Durch die breite Materialbasis spiegelt das Projekt insgesamt also die sprachliche Wirklichkeit eines bestimmten Zeitausschnitts der Gegenwart wider und hat dadurch der Erforschung von Wortbildungen neue Perspektiven eröffnet. 2.2 Vielfalt der Beschreibungsgesichtspunkte 2.2.1 Strukturelle Aspekte Die Aufgabe des Projekts war es, alle Struktur- und Bildungstypen - qualitativ und quantitativ - zu erfassen, zu bestimmen und zu erklären. Das bedeutete, mehrere Aspekte des „Schnittstellenphänomens“ Wortbildung zu berücksichtigen: - Graphie: vor allem Verknüpfungszeichen: z.B. Schrägstrich- und Bindestrichverwendung (Video/ Dia/ Film/ Kostüm-Spektakel) - Morphologie: beteiligte Wortarten und komplexe Strukturen, Fugenelemente: z.B. Bildungen mit Adjektiv (erbleichen, bleichsüchtig, Bleichling, Bleichgesicht) oder mit Präpositionen (Zwischenaufgabe); Komposita mit Wortgruppen und Sätzen (Tapp- und Tastfilm, Strohhaufen-Brombeer-Brennessel-Nullkosten-Nullenergie-Haus, In-den-Mund-nehm- Spiel, Die-Welt-ist-schlecht-Gejammer, Könnten-wir-das-mal-nach-Dreh- <?page no="97"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 97 schluß-besprechen-Regisseur); Fugenregularitäten und -variationen (z.B. druckfrisch - ausdrucksstark, Schweine-/ Schweinsrippchen) - Syntax von Bildungsmustern, der Valenzänderung usw.: z.B. das Verhältnis von Erklärungsparaphrasen zum Erklärten (eisernes Gitter → ‘Gitter, das aus Eisen ist’), Unterschiede im syntaktischen Gebrauch von Ableitungen (über etw. sprechen, etw. be-/ aussprechen, sich versprechen), die syntaktische Einbettung von Komposita, wenn Valenzpartner erst im Kontext signalisiert werden (Großmutters Mädchenzeit → ‘Zeit, in der Großmutter (noch) ein Mädchen war’; Pressegespräch → ‘Gespräch (, das jmd. ) mit (Vertretern) der Presse (führt)’) - Lexikologie: Wortwahl sowie Bezeichnungsleistung und Semantik der Formen und Strukturen (vgl. Wellmann 1993): z.B. Bildungen mit Eigennamen (xanthippoide Flüche, Gerhard-Hauptmann-Mähne), Bildungen mit Fremdwörtern (Do-it-yourself-Freunde, beautiful-Leute, sandig-humoses Erdreich) oder Bildungen mit Abkürzungen und Kurzwörtern (BRD-kritisch, TV-unüblich, Technokraten-Uni, Profi-Fußball); Termini (Hammerzehe); Metaphern (Zigarettenhose; fischblau, -feucht, -glatt, -stumm; siehe auch unten Prozeßschiff); Komposita als Teil von (abgewandelten) Phraseologismen (auf Freiersfüßen gehen; Ein [...] Märchenheld, den kein Charakterisierungswässerchen trüben kann.); voll- und teilmotivierte Bildungen (Bauernhof - Rechnungshof ; Bockbier); mehrdeutige Konstituenten (Parkanlage - Parkverbot); Monosemierung durch den Kontext (Die beiden Marken unterscheiden sich in der Zigarettenlänge. → ‘Länge einer Zigarette [metrisches Maß]’; Ich geh noch auf eine Zigarettenlänge mit. → ‘so lang, wie es dauert, eine Zigarette zu rauchen [zeitliches Maß]’); Bildungen mit systematischen semantischen Modifikationen, die durch Zusatzelemente in der Paraphrase sichtbar gemacht werden können (Qualitätsmaterial → ‘Material von h o h e r Qualität’; Grünspecht → ‘Specht, der ü b e r w i e g e n d grün ist’); Konstituenten, die derselben Bezeichnungsklasse und oft auch bestimmten Wortfeldern angehören (wie etwa die Grundwörter in Durchfuhrerlaubnis, Einreisegenehmigung, Einfuhrbewilligung) - Textpragmatik: Textkonstitution, Textsortenspezifik bestimmter Wortbildungstypen: z.B. Variation zwischen Komposita und syntaktischen Strukturen in einem Textabschnitt ([...] ihre vollen weichen Lippen, jetzt <?page no="98"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 98 violett wie reife Pflaumen [...] ihre P f l a u m e n li p p e n 8 [...] und ihre Lippen sind p f l a u m e n b l a u . 9 Max Frisch; [...] Frau Serno stellt einen Liter Kornschnaps auf die Häkselmaschine [...] Mampe-Bitter nimmt wieder einen Schluck vom S c h n a p s lit e r . Erwin Strittmatter); in größere Bildfelder eingebettete Metaphern ([...] nach der [...] Abtakelung des Kollegen [...] nun schon der zweite Steuermann auf der Brücke des von vielerlei Wogen und Brechern [...] leckgeschlagenen P r o z e ß s c h if f e s [...]); Wortbildungen als Kennzeichen bestimmter Textsorten, z.B. saloppumgangssprachliche Bildungen des Musters „einschränkender Bereich - dadurch charakterisierte Größe“ (referentiell-limitativ), die für die Presse als typisch gelten können (Pistenjünger, Hosenfan, Rasenfetischist, Brettlenthusiast, Waffennarr, Astrologiefreak - Salatmuffel, Kulturpopel). - Stilistik: Stilschicht und Stilfärbung, Gebrauchsunterschiede in verschiedenen Textarten und Sprachschichten (zur gesprochenen Sprache s.u.): z.B. Bildungen, die salopp-umgangssprachlich und scherzhaft (Brettldiva, Tastenderwisch, Umweltmuffel), abwertend (Systemsklave, Bildungsphilister) oder veraltet sind (Schlafgefährte); medientypische Bildungen (Benzinhunnen für ‘Autofahrer’, Auto-Brutalo, Popopa, Rockfossil; s.o.) versus amtssprachliche Bildungen (Erbschein, Registrierschein, Fahrzeugbrief, Besitzurkunde) versus wissenschaftsspezifische Bildungen (Ausdehnungskoeffizient, Härtegrad, Drehzahl) usw. Die im Projekt beschriebenen Wortbildungen sind grundsätzlich nach den Mustern der Ableitung (Bände I-III) und der Komposition (Bände IV-V) getrennt sowie weiter nach den Basiswortarten Substantiv, Verb, Adjektiv und Partizip gegliedert. Für die systematische Darstellung musste ein übergeordnetes Prinzip ausgewählt werden. Es ist das der Lexikologie. Die Zuordnung von Ableitungen und Komposita zu verschiedenen Typen wurde daher nach semantisch-funktionalen Gesichtspunkten vorgenommen. Die zentralen Gesichtspunkte waren die der Relationsbedeutung (z.B. die ‘haben’-Prädikation 10 bei Ornativ-Komposita wie Henkelkorb → ‘Korb, der (einen) Henkel hat’) und der semantischen Rollen (z.B. „Teil - Ganzes“: Filterzigarette und „Merkmal - Träger“: Qualitätszigarette) (s.u. 4.2.3). So können beispielsweise unabhängig von Wortarten und von Wortbildungsarten 8 Sperrung hier und in den folgenden Beispielen durch die Autor(inn)en (L.O., H.O., H.W.). 9 Vgl. dazu Pümpel-Mader (1985). 10 Vgl. dazu Ortner (1997). <?page no="99"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 99 gleiche semantische Muster ausgemacht werden, vgl. das Muster der räumlichen Zuordnung („lokal“): Dortmunder → ‘jmd., der in Dortmund lebt/ aus Dortmund stammt’; etw. schultern → ‘etw. auf die Schulter nehmen’; seitlich → ‘auf der Seite sein’; stadtbekannt → ‘in der ganzen Stadt bekannt’; Gebirgsdorf → ‘Dorf im Gebirge’. Und auch die systematischen logischen Bezüge sowie die Thema-Rhema-Struktur zwischen verschiedenen Rollenpaaren werden sichtbar, vgl. im ‘haben’-Muster: „Merkmal - Träger“ und „Träger - Merkmal“ (Qualitätsstoff - Stoffqualität); „Teil - Ganzes“ und „Ganzes - Teil“ (Schaftstiefel - Stiefelschaft). 2.2.2 Tendenzen der sprachlichen Entwicklung Als schwierig erwies es sich, Tendenzen der sprachlichen Entwicklung herauszuarbeiten. In einer rein synchron angelegten Untersuchung war das nicht möglich. Deshalb wurden aufwendige Zusatzarbeiten erforderlich: der Vergleich mit einem anderen Sprachstadium. Es war eine Idee von Johannes Erben, dem Leiter der Arbeitsstelle, dafür die Goethezeit, das ausgehende 18. Jh. auszuwählen, für das mit den jeweils vierbändigen Wörterbüchern von Adelung (1811) und von Campe (1807-1811) erste umfassende, am Sprachgebrauch der Zeit orientierte Gesamtdarstellungen vorlagen. Die sprachwissenschaftliche Arbeit am IDS hatte deshalb in der Arbeitstelle Innsbruck von Anfang an auch eine historische Dimension. Bei der Formulierung der Befunde kam es darauf an, für beide Querschnitte Prozentwerte zu ermitteln, die man miteinander vergleichen, einander gegenüberstellen konnte; so wurde es möglich, in der Darstellung der Ableitungen Diachronie und Synchronie miteinander zu verbinden. 11 Durch den angestrebten Vergleich wurde es möglich, die Produktivität der einzelnen Morpheme und Muster in ihrer Entwicklung zu erkennen. Zugleich gab der Vergleich von Frequenzwerten der einzelnen Morpheme, Muster und Typen auch Aufschluss über ihren Stellenwert im Ganzen und über den sprachlichen Wandel von Wortstrukturen. So konnte z.B. im Bereich der Diminutivbildungen der starke Rückgang von -lein (Geschichtlein) und das rasche Aufkommen des Fremdpräfixoids Mini- (Ministaat) dokumentiert werden. Auch die Vergleichsbildungen (Typ nixenhaft, satanisch) 11 Es wäre wünschenswert gewesen, den historischen Vergleich in derselben Weise auch für die Kompositabeschreibung durchzuführen. Das war aber leider nicht möglich, weil es die Anlage von Band IV und Band V gesprengt hätte - und auch weit über unsere Kräfte und finanziellen Mittel gegangen wäre. <?page no="100"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 100 zeigen diese Tendenz zur Systemerweiterung, etwa durch die bildungssprachlichen Fremdmorpheme -oid (eunuchoide Stimme), -esk (clowneskes Genie), -al (heldentenorale Wucht) und -os/ -ös (philiströse Pedanterie). Bei den Bildungen, die eine eingeschränkte Negation signalisieren, konnten die Verdrängung von scheindurch das entlehnte Element pseudo- (scheinspröde um 1800 - pseudoakademische Ehren heute), das Aufkommen von semineben halb- (semi-/ halbprofessionell) sowie die Neueinführung von quasi- und paraim öffentlich-politischen Sprachgebrauch des 20. Jahrhunderts belegt werden (quasistationärer Zustand, parakriminelles Milieu). Auch im Bereich der graduativen (Verstärkungs-)Adjektive deutet sich eine Verschiebung im Gebrauch von Präfixoiden an: Während um 1800 das Muster ‘viel- + Adjektiv’ (vielgetreu) gern genutzt wurde, konnten im Gegenwartskorpus Bildungen dieses Typs nicht nachgewiesen werden. Hingegen sind zahlreiche andere, um 1800 nicht belegte Präfixoide ein Kennzeichen für die Sprache des 20. Jahrhunderts mit ihrer starken Tendenz zur „lexikalischen Popularisierung“ (Drosdowski/ Henne 1980, S. 630) und zum Eindringen umgangssprachlicher Formen in die Schriftsprache, vgl. Bildungen wie hypermodern, ultrarechts (heute auch: topfit, gigacool, ein megafettes Lob), oberschlau, extrastark, schwerreich, kreuzfidel, brandeilig, saublöd (heute auch: schweineteuer), scheißegal, stinkfein, knallrot, kotzgrob, krachlila und quietschfidel. Überraschend ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Befund, dass das Präfixoid superbereits um 1800 zur Adjektivbildung verwendet wurde (superfein), aber - wie auch das Element ur- (uralt) - erst im 20. Jahrhundert eine explosionsartige Verwendung gefunden hat und auch heute noch zu den augmentativen Spitzenreitern zählt (superdeutsch, superbequem, superhaltbar; urdeutsch, urallein, urfern, urprimitiv, urglücklich). 2.2.3 Funktionelle Aspekte Die Entscheidung für eine funktionelle Betrachtung der Wortbildung - im Gegensatz z.B. zu einer Klassifikation nach den einzelnen Wortbildungsmorphemen (-ig, -heit, Ge-, Miniusw.) - hatte Auswirkungen auf die Beschreibung der Wortbildungseinheiten: Wo immer es möglich war, wurde in den Wortbildungsbänden das systematische Zusammenspiel verschiedener Wortbildungsarten, -formen und -typen beschrieben. Damit wurden die vielfältigen Zusammenhänge im System des deutschen Wortschatzes sichtbar. <?page no="101"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 101 Typen gleicher funktionaler Prägung lassen die Beziehungen zwischen heimischen Formen und Formen der Entlehnung erkennen. 12 Soweit letztere inhaltlich transparent sind und wie andere Wortbildungen zur Textkonstitution genutzt werden, soweit ihre Durchsichtigkeit für das Textverstehen von Bedeutung ist, mussten sie erfasst und berücksichtigt werden, auch wenn nur wenige Formen der Entlehnung zur Bildung eigener neuer Wörter genutzt werden. 13 So spielen die Muster der einfachen Verbbildung durch Konversion oder Nullableitung mit Entlehnungen auf -ieren/ -isieren zusammen (sinnen - sinnieren), die Entlehnungen auf -(er)ie/ -erei stehen in enger Beziehung zu Bildungen auf -ung und zur Präfigierung mit Ge- (+ -e) (Plünderei - Plünderung, Zänkerei - Gezänk); auch im Bereich der Adjektivableitung bestehen zahlreiche Verbindungen zwischen heimischen und entlehnten Affix(oid)en, so etwa zwischen -bar und -abel/ -ibel (deklinierbar - deklinabel) und zwischen nach- und post- (nachindustriell - postindustriell) (siehe auch oben 2.2.2). Auffällig sind auch die Beziehungen zwischen fremdwörtlichen Ableitungen und heimischen Komposita (Dermatologe - Hautarzt, Klimatologie - Klimakunde). Die funktionale Perspektive deckt ferner systematische wortfeldhafte Ausprägungen auf, die sich durch zahlreiche Synonyme belegen lassen. Besonders nachhaltig zeigen das Kompositapaare, deren Bestimmungswörter verschiedenen Wortarten angehören, z.B. Adjektiv - Substantiv (Kleinbetrieb - Zwergbetrieb) und Verb - Substantiv (Ausziehtisch - Auszugtisch). Die Beschreibung nach semantisch-funktionalen Klassen hatte vor allem auch den Vorteil, dass das sprachsystematische Zusammenspiel zwischen Mustern der Ableitung und der Komposition deutlich wurde, z.B. zwischen -er und -gerät, -maschine, -mittel bei den instrumentativen Bildungen (Fernseher - Fernsehgerät, Mäher - Mähmaschine, Dünger - Düngemittel), zwischen -(er)ei und -anlage, -werk, -stelle bei den lokativen Bildungen (Ziegelei - Kabelwerk), zwischen -heit und -schaft und Kollektiva als Zweitkonstituenten von Komposita (Christenheit - Christengemeinschaft, Hörerschaft - Hörerkreis). Ebenso können etwa die zahlreichen Übergänge zwischen den beiden Haupttypen der Wortbildung demonstriert werden, vgl. im Bereich der Klassifizierungsmodifikationen das Zusammenspiel von Präfixen, Präfixoiden und Bestimmungswörtern von Komposita (Sachbezeichnungen: Un-Schuhe - Bei- 12 Vgl. dazu ausführlich Müller (Hg.) (2005). 13 Vgl. dazu Wellmann (1974). <?page no="102"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 102 nahe-Dirndl - Fast-Dirndl; Personenbezeichnungen: Nicht-Soldat - Exkanzler - Altkanzler - Möchtegern-Kanzler - Schattenkanzler - Quasi-Vizekanzler - Noch-Festspieldirektor - Auch-Meister - Halbwaise - Fast-Präsident - Volljurist). Die vergleichende Betrachtung gewährt somit auch einen guten Überblick über die unterschiedliche funktionelle Ausnützung der verschiedenen Wortbildungstypen. Schließlich gibt die funktionale Perspektive auch Auskunft über die Leistung von Komposita gegenüber Wortgruppen. Synonyme Beispielpaare demonstrieren den hohen Grad an Verdichtung durch Wortbildung (einsiedlerisches Leben - Einsiedlerleben, atomares Zeitalter - Atomzeitalter, ärztliche Kommission - Ärztekommission). Wortgruppen mit Präfixoidbildungen sind expliziter als Komposita und verdeutlichen daher die semantischen Relationen, z.B. die Beziehung des Vergleichs (Schachbrettfassade - schachbrettartige Fassade [mit Fokus auf dem Grundwort Fassade], Hotelpaläste - palastartige Hotels [mit Fokus auf dem Bestimmungswort Hotel]), formbezogene Beziehungen (Stabmagnet - stabförmiger Magnet) oder ornative ‘haben’-Beziehungen (Schwefelpräparat - schwefelhaltiges Präparat; Blumenfenster - blumengeschmücktes Fenster). Nicht zuletzt macht die Gegenüberstellung von Komposita und syntaktischen Strukturen das hohe Ausmaß an „begrifflicher Konsolidierung“ (Fleischer 1978, S. 79) deutlich (Junglehrer ! junger Lehrer, Großbauer ! großer Bauer). 14 3. Nutzen und Außenwirkung des Projekts Ziel des Projekts war es, das System der Wortbildung im Deutschen „nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten so gründlich, so ausführlich und so lückenlos wie möglich zu analysieren und darzustellen - in einer Weise, die auch die ‘unscharfen’ Zonen der Überschneidungen und internen Querbeziehungen zwischen verschiedenen Mustern deutlich werden lässt“ (Ortner/ Wellmann/ Ortner 1991, S. XXXI ). Die vorliegenden fünf Bände der „Deutschen Wortbildung“ und der Begleitband (Ortner/ Ortner 1984) zeigen die Regularitäten und die Musterhaftigkeiten auf, aber auch die Restriktionen, die Vielfalt und die Besonderheiten, sie behandeln die zentralen Kernstrukturen wie auch die Rand- und Übergangsphänomene. Verschiedenste Beschreibungsgesichtspunkte - paradigmatische und syntagmatische (s.o. 2.2) - wurden bei allen, nicht nur bei einzelnen, ausgewählten Typen syste- 14 Vgl. dazu auch Erben (1978). <?page no="103"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 103 matisch berücksichtigt, um die Voraussetzungen der Wortbildungsprozesse und ihre Wirkung beschreiben zu können. Durch die Bearbeitung von sehr großen Materialmengen haben die Mitarbeiter(innen) der Innsbrucker Außenstelle des IDS auf die gewaltige Dynamik und Vielfalt des Systems aufmerksam gemacht und die fast unbegrenzte Leistungsfähigkeit von Wortbildungen nachgewiesen. Damit konnten Lücken in der Kenntnis von Wortbildungsarten und -typen geschlossen werden (s.o. 2.1). Mit der neuen Sicht auf Wortbildung sind vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für künftige Wortbildungsstudien gegeben 15 - die Bände können als empirischer Bezugspunkt für weiterführende Auseinandersetzungen dienen. Sie eröffnen aber auch Perspektiven für andere Forschungsdisziplinen, wie z.B. Stilistik und Text(sorten)linguistik (s.u.). Eine unmittelbare Anwendung der Erkenntnisse besteht in der Nutzung der publizierten Ergebnisse für die systematische Darstellung der deutschen Wortbildung in Einführungen und Gesamtdarstellungen. Direkt aus der Arbeitsstelle hervorgegangen sind in der Duden-Grammatik der Teil „Wortbildung“ (Wellmann 4. Aufl. 1984; 6. Aufl. 1998), die „Einführung in die deutsche Wortbildungslehre“ (Erben 1975; 5. Aufl. 2006) sowie die Überblicksdarstellung zur „Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache“ (Erben 2003). Auch in andere Wortbildungsdarstellungen - vor allem in Arbeiten, die in der Leipziger Forschungstradition stehen - sind Ergebnisse der fünf Bände „Deutsche Wortbildung“ und des Begleitbandes (Ortner/ Ortner 1984) übernommen worden. 16 Gesamtdarstellungen dienen unter anderem als Lehrbücher für Studierende. Mit der Perspektive auf den Unterricht zeigt sich, dass die „Deutsche Wort- 15 Dies stellten auch verschiedene Rezensent(inn)en fest; vgl. z.B. Barz (1994, S. 477) und Jeziorski (1985, S. 103). 16 So z.B. in die „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“ (Fleischer/ Barz 1992), in die „Deutsche Wortbildung in Grundzügen“ (Motsch 2004), in den Abschnitt „Die Wortbildung“ in der neuen Duden-Grammatik (Barz 2005a) sowie in die entsprechenden Kapitel der beiden Ausgaben der „Kleinen Enzyklopädie - deutsche Sprache“ von Wolfgang Fleischer (in Fleischer/ Hartung/ Schildt u.a. (Hg.) 1983) bzw. Irmhild Barz und Marianne Schröder (in Fleischer/ Helbig/ Lerchner (Hg.) 2001). Den im Projekt ausführlich behandelten, etwas spezielleren Aspekt des systematischen Zusammenspiels von entlehnten und heimischen Wortbildungselementen (s.o. 2.2.3) stellt der 2005 von Peter O. Müller veröffentlichte Sammelband „Fremdwortbildung“ (Müller (Hg.) 2005) besonders heraus. <?page no="104"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 104 bildung“ nicht nur ein wesentliches Werk der Grundlagenforschung ist, sondern auch einen angewandten Aspekt und damit eine gewisse praktische Relevanz hat. Dies gilt vor allem für die Nutzung der Bände im Deutsch-als- Fremdsprache-Unterricht. Die veröffentlichten Monografien werden im Ausland in Forschung und Lehre bis heute gerne verwendet. 17 In diesem Zusammenhang ist die neue Konzeption eines deutschen Lernerwörterbuchs zu erwähnen. Sie spiegelt eine andere Art der Nutzung wider, und zwar die Verwertung der Wortbildungsergebnisse in der Lexikografie. Solche Lernerwörterbücher ermöglichen eine lexikographische Struktur, bei der rechts- und linksverzweigte Komposita - in den Beispielen unten (Abb. 1) signalisiert durch „K-“ und „-K“ - zugleich neben dem Basisstichwort eingetragen sind und die produktiven Elemente - Suffixe, Präfixe und Kompositionsglieder - auf dieser Grundlage beschrieben werden, so im „Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache“ (Götz/ Haensch/ Wellmann (Hg.) 1993; Neubearb. 2003; 4. Aufl. 2006), auch als CD-ROM (Langenscheidt 2003), und im „Taschenwörterbuch Deutsch als Fremdsprache“ (Götz/ Wellmann (Hg.) 2003; 3. Aufl. 2005). Abb. 1: Wortbildungselemente und -bedeutungen im DaF-Wörterbuch von Götz/ Haensch/ Wellmann 18 17 Dies zeigt sich auch in der Zusammenarbeit zwischen den Autor(inn)en und Wissenschaftler(inne)n anderer Sprachen, z.B. in den Arbeiten des Forschungsprojekts „Wortbildung und Text“ an der Universität Chabarowsk (Russland). 18 Die Beispiele stammen aus Götz/ Haensch/ Wellmann (Hg.) (1997). <?page no="105"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 105 Die Frage nach den Entwicklungstendenzen im Bereich der Wortbildung haben wir aus der Vergangenheitsperspektive gestellt und dabei den Wandel von Wort- und Wortbildungsstrukturen sowie von Produktivitätsverschiebungen in den letzten 200 Jahren beschrieben (s.o. 2.2.2). Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache zu verfolgen bedeutet aber auch, Wortbildungen mit Blick auf die Zukunft zu betrachten, d.h. die Prognostizierbarkeit, die Wahrscheinlichkeit künftiger Wortbildungen im Auge zu haben. „Der hohe Okkasionalismus-Anteil im Korpus“ und die Frequenzangaben in „Deutsche Wortbildung“ sowie „die Beobachtungen zum textsortenspezifischen Vorkommen der Muster“ (Barz 1994, S. 473) machen es möglich, lebendige Muster zu orten, Muster in nuce zu erkennen, „jüngste und künftig zu erwartende Entwicklungen“ anzudeuten, vgl. z.B. die Suffixoidbildungen zum Ausdruck von Neigung, die um 1970 „in auffallender Dichte vorkommen und eine sich reihenhaft entwickelnde Systemerweiterung der Adjektivderivation erkennen lassen“ 19 (flirtbereit, radioselig, illustriertenversessen, wochenendlüstern, fotogeil, pedalfreudige Urlaubsgäste, baulustige Epoche, trippelsüchtiger Rechtsaußen, erschließungswütiger Bürgermeister). Die großflächige Bestandsaufnahme der Bildungen und Muster gibt den Sprachstand der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder und ermöglicht künftigen Wortbildungsforscher(inne)n Aussagen über das Aufkommen neuer Wortstrukturen. Durch die Perspektive nach rückwärts und nach vorwärts wurden neue Erkenntnisse über die Dynamik des Wortschatzes gewonnen, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Sprachgeschichte darstellen. 20 Die Innsbrucker Bände zur Wortbildung in Texten wurden auch zur Grundlage für die Untersuchungen zur Wortbildung in der gesprochenen Sprache. 21 19 Erben, Klappentext zu Kühnhold/ Putzer/ Wellmann (1978). 20 Die Ergebnisse aus „Deutsche Wortbildung“ hat von Polenz für seine umfassende Darstellung der Wortschatzgeschichte in der „Deutschen Sprachgeschichte des 19. und 20 Jahrhunderts“ (Polenz 1999) ausgewertet. Methodisch bauen auch zahlreiche weitere sprachgeschichtliche Arbeiten auf den Ergebnissen der „Deutschen Wortbildung“ auf, z.B. der Überblicksartikel „Historische Wortbildung“ im Handbuch „Sprachgeschichte“ (Solms 1998) oder die Arbeiten von Stricker zur Suffixableitung in der Sprache Goethes (Stricker 2000) und von Müller zur Substantivableitung in den Schriften Albrecht Dürers (Müller 1993). 21 Die Einheiten aus der gesprochenen Sprache sind in den zwei Bänden der Tübinger Arbeitsstelle (Leiter: Arno Ruoff; Autoren: Bernhard Gersbach und Rainer Graf) zur „Wortbildung in gesprochener Sprache“ (Gersbach/ Graf 1984/ 1985) nach dem Modell von <?page no="106"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 106 Die Ergebnisse der Wortbildungsforschung haben ferner Auswirkungen auf die Text(sorten)linguistik. Sie vermitteln Einsichten in die vielfältigen Möglichkeiten der Textkonstitution durch Wortbildung, weil zahlreiche Beispiele für verschiedene Formen der Textverflechtung beschrieben sind, z.B. Wiederaufnahme einer Wortbildungskonstituente (Dazu probierte er ein Ichbin-Herr-der-Lage-Gesicht. Es glückte ihm nicht. Soweit sein dickes G e s i c h t überhaupt Gefühle ausdrücken konnte, zeigte es Angst. Christine Nöstlinger) oder Vorbereitung der Wortbildung durch vorangehende bedeutungsähnliche Syntagmen (Das kleine Mädchen hat Beine, die sind wie Finger so dünn. Wie Finger im Winter. So dünn und so rot und so blau und so dünn. Das kleine Mädchen geht auf seinen F i n g e r b e i n e n , den dünnen blauen W i n t e r b e i n e n [...] Wolfgang Borchert). Dass bestimmte Wortbildungsmuster als Textsortenspezifika beschrieben worden sind, kann sowohl als Beitrag zur Textsortenlinguistik als auch zur Stilistik 22 gesehen werden, z.B. Vergleichsbildungen, die typisch für Science-Fiction-Romane sind, vgl. Ortner 1985, S. 260ff.: Marsianer [...] mit ihren Goldmünzenaugen; gorillaähnliche Geschöpfe [...] Gorillageschöpfe; spinnenartige Geschöpfe [...] Pflanzenspinnen [...] achtfüßige Pflanzen [...] Spinnenpflanzen. Durch die zentrale lexikologisch-semantische Ausrichtung des Wortbildungsprojekts sind die Ergebnisse auch in neueren Arbeiten aus dem Bereich der Lexikologie und der Nominationsforschung aufgegriffen worden. 23 Die Bände der „Deutschen Wortbildung“ vermitteln neue Erkenntnisse zum reihenhaften Ausbau des Wortschatzes, zur Benennungsleistung von Ableitungen und Komposita, zur Bedeutungsbeziehung zwischen den Wortbildungskonstituenten und zwischen verschiedenen Wortbildungen sowie zu den Wortkategorien und Bezeichnungsklassen, aus denen die Wortbildung schöpft: So wurde z.B. genau beschrieben, ob es sich bei Bestimmungswörtern von Komposita um Kollektiva (Vereinsmitglied), Abstrakta (Arbeitsvorgang), Personenbezeichnungen (Kinderzimmer), Sachbezeichnungen (Ham- „Deutsche Wortbildung“ so systematisch erfasst und beschrieben, dass die Wortbildungsmuster der geschriebenen und der gesprochenen Sprache direkt miteinander verglichen werden können. 22 Projekt-Befunde zu stilistisch-textpragmatischen Merkmalen von Wortbildungsprodukten haben z.B. Fleischer/ Michel/ Starke (1993) in der Überblicksdarstellung „Stilistik der deutschen Gegenwartssprache“ berücksichtigt. 23 Z.B. von Schippan (1992) in „Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache“ und von Barz (2005b) im Handbuch „Lexikologie“. <?page no="107"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 107 merstiel) usw. handelt. Für die Darstellung der Bezeichnungsklassen wurde eine Art Thesaurus erstellt, der es ermöglicht, den gesamten Wortschatz der deutschen Sprache nach der referenziellen Leistung der Wortschatzeinheiten zu gliedern. Dieser Thesaurus kann als taugliches - weil empirisch ermitteltes - Modell für die Beschreibung des Grundwortschatzes und zur Erstellung von Sachwörterbüchern herangezogen werden. Die genaue Darstellung der verschiedenen Bildungen mit Eigennamen (z.B. pompejisieren, Nudelhuber, Zigarrenfritze, Messer-Johnny, CDU-Programm, Picasso-Gemälde, Kodakgelb, Brigitte-Bardot-Schmollmund) ist aufschlussreich in Bezug auf die Rolle von Namen bei der Wortbildung und kann daher neue Impulse für die Namenforschung geben. Im Projekt „Deutsche Wortbildung“ wurden die Wortbildungskonstruktionen nach dem Konzept der semantischen Beziehungen analysiert und beschrieben. Komposita wurden als Verbindungen sich gegenseitig festlegender semantischer Rollen aufgefasst (z.B. Ort - Objekt: Landhaus; Anlass - Actio: Hochzeitsreise). Dadurch leistet das Projekt auch einen Beitrag zur logischen Semantik. Im Gegensatz zur oft nur sehr grobkörnigen Modellierung in anderen Wortbildungsarbeiten bieten unsere Untersuchungen ein äußerst differenziertes Modell aller vorkommenden Möglichkeiten von Relationsbedeutungen und semantischen Rollenpaaren. Dieses Modell ist im Theorieband von H. und L. Ortner in Form einer tabellarischen Übersicht mit den Vorschlägen von 26 Autor(inn)en zur semantischen Klassifizierung von Komposita bzw. syntaktischen Strukturen verbunden worden (Ortner/ Ortner 1984, S. 199ff.). Es stellt den Stand der semantikorientierten Kompositaforschung für die 70er- und die 80er-Jahre dar und hat so auch wissenschaftsgeschichtlichen Aufschlusswert. Als Schemata der Sprache (‘langue’) zeigen [einzelsprachliche Muster] die Formen an, durch die anderen (Lesern, Hörern) Sinneswahrnehmung, psychische Erfahrung und gedankliche Abstraktion, in diesem Sinne auch konkretes ‘Weltwissen’ und damit oft auch eine bestimmte Erfassungsperspektive (vgl. Gastarbeiter versus Fremdarbeiter, Greifvogel versus Raubvogel) vermittelt werden. [...] Zeichenverbindungen - Satzwie Wortbildungskonstruktionen - basieren auf Schemata und vermitteln auch wieder Schemata. Schemata sind einerseits „als Bedingungen der Möglichkeit“ von Wortbildungen oder Wortfügungen zu verstehen: zum anderen zeigen sie auch Produktivität an [...]. (Ortner/ Wellmann/ Ortner 1991, S. XXXII u. XXXVIII ). <?page no="108"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 108 Mit der Berücksichtigung der Schemagebundenheit und der Kreativität bei der Produktion von Wortbildungen hat das Projekt „Deutsche Wortbildung“ enge Berührungspunkte mit der - in den 70er-Jahren erst im Entstehen begriffenen - Disziplin der Kognitionslinguistik (s.u. 4.2). 24 Das zeigt die bunte Palette von mustergebundenen lexikalisierten Bildungen wie Birchermüesli über nicht-usuelle Bildungen aus Presse und Werbung (nagegerechtes Hamsterfutter, spülfreundlicher Römertopf, der D-Mark-trächtige deutsche Nachbar) bis zu nur mehr ästhetisch motivierten, kaum bzw. nicht mehr analysierbaren Wortneuschöpfungen aus der Lyrik wie Brustwarzenstein, Zeitenschrunde, Atemseil (Paul Celan); Gezeitenschoß, Aasgestrüpp, Korallenohr, Hurentorte (Gottfried Benn). 4. Vom Strukturalismus zur Kognitions- und Performanzlinguistik - wissenschaftsgeschichtliche Positionierung Das Unternehmen „Deutsche Wortbildung“ hatte ein großes Ziel. Eine große Menge gegenwartssprachlicher Belege sollte konsequent beschrieben werden. Konsequent beschrieben hieß: so beschrieben, dass alle (nicht nur ausgewählte) Belege mit ihren typischen Besonderheiten von der Beschreibung erfasst werden. Typische Besonderheiten waren natürlich vor allem im Bereich der Semantik zu erwarten. Die tiefgreifende Differenzierung der wortbildungsspezifischen Semantik wurden vor „Deutsche Wortbildung“ im Bereich der Ableitung nur ansatzweise, im Bereich der Komposition überhaupt nicht erforscht. Die Realisierung des Vorhabens einer konsequenten Beschreibung hatte nichtkalkulierte Folgen für die Theorie hinter der Beschreibung. Das Unternehmen „Deutsche Wortbildung“ wurde - zeitentsprechend (Beginn 1966) - von einer strukturalistischen Position aus angegangen. Auf Grund der großen Materialmengen und der konsequent auch semantischen Ausrichtung waren dabei Probleme zu bearbeiten, für die der strukturalistische Interessenfokus zu eng war. Die Empirie hat unsere Theorie Mores gelehrt - indem sie unerbittlich an auch noch zu Berücksichtigendes erinnerte, als zu wenig relevant Eingeschätztes sichtbar machte, indem sie (Klein-) Muster in Mustern erkennen ließ, indem sie Reihenhaftigkeiten zeigte, wo kleinere Belegsammlungen höchstens einmal einen Ausreißer enthalten hät- 24 Vgl. dazu die Frühzusammenfassung der kognitiven Aspekte von Wortbildung von Wilss (1984); ähnlich Wilss (1992). <?page no="109"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 109 ten (die meisten bis zur „Deutschen Wortbildung“ ausgewerteten Korpora waren Zufallssammlungen von (meist) theorie-bestätigenden Belegen). Das ausgewertete Material zeigte, dass in den bisherigen Wortbildungstheorien einiges zu simplifizierend beschrieben wurde. Der Versuch einer sachgerechten Beschreibung machte das Unternehmen „Deutsche Wortbildung“ zu einer Expedition ins Reich der Semantik und führte zu Ergebnissen, die sich mühelos in den Kontext neuerer linguistischer Ansätze einfügen lassen. 4.1 Wortbildungsforschung und neuere linguistische Ansätze Hat es Revolutionen gegeben in der Linguistik der letzten zwanzig Jahre? - Zwei oder drei Revolutiönchen (Nestroy) schon. Zu einigen Themen von mindestens zwei Neuansätzen, zur Kognitions- und zur Performanzlinguistik, kann auch „Deutsche Wortbildung“ beitragen: − Die Kognitionslinguistik (als Teil der Kognitionswissenschaft) hat mit ihren Zentralthemen Wissen und Wissensverarbeitung viel dazu beigetragen, dass die Semantik, diese Immer-noch-terra-incognita, explorierbar wird. Auch in der Wortbildungsforschung waren die traditionellen Fragen einer jeden Wissenschaft noch nicht definitiv beantwortet: Welche Einheiten gibt es, welche Ebenen und welche Beziehungen? Das Zeichenmodell von der Scholastik bis zu Saussure ist nicht in der Lage, die ganze „widerspenstige“ Realität zu modellieren, in der sprachliche Zeichen eine Rolle spielen, und schon gar nicht die vielen Modi zu erfassen, in denen sie diese Rolle spielen können. Für die Wortbildungsforschung ist die Kognitionswissenschaft bzw. die Kognitionslinguistik auch deshalb wichtig, weil sie lehrt, die Komplexität kognitiven Geschehens (einschließlich der Rolle der Sprache dabei) zu denken, und weil durch sie zusammenwächst, was zusammengehört: Linguistik und Psycholinguistik (s.u. 4.2). − Die Performanzlinguistik schaut auf den token-zu-token-Verkehr in der konkreten Kommunikation (nicht so sehr auf die durch Abstraktion gewonnenen types) und sie fragt dem nach, was durch die Sprache in der Sprache (konkret) konstituiert wird. Nicht was der Mensch mit den gebrauchten sprachlichen Einheiten macht, interessiert sie, sondern was der Gebrauch mit den Menschen macht - per-form-ativ. Konstituiert wird bei dieser ewig sich wiederholenden Arbeit des Geistes (Humboldt) unter anderem auch das, was außen stehende Beobachter als Muster beschreiben. Für die Wortbildungsforschung ist die Performanzlinguistik aus <?page no="110"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 110 zwei Gründen wichtig: 1. weil sie Wesentliches zur Theorie, Psychologie und Soziologie des Musters beiträgt und damit ein Zentralphänomen der Wortbildungstheorie thematisiert und weil sie 2. die Theorie wieder auf den Boden der sprachlichen Wirklichkeit zurückführt. Aus diesem Grund bleibt sie nahe bei der Empirie (s.u. 4.3). 4.2 Perspektiven der Wortbildungsforschung - die kognitive Analyse der Einheiten-, Ebenen- und Beziehungsprobleme Das „Wunder der Sprache“ entsprang (im Tier-Mensch-Übergangsfeld) aus der konsequenten Form-Bedeutung-Koppelung. Es war ein Wunder der Semantik. Doch die Semantik ist noch weitgehend eine terra incognita - mit mehr weißen als schon erforschten Flecken. Das bekam und bekommt auch die Wortbildungsforschung zu spüren, die ihren Gegenstand oft mit sehr groben Kategorien beschrieben hat, wo es um feine Besonderheiten ging. Die Bedeutung ist viel älter als die sprachliche Form. Während die (akustisch) wahrnehmbare Form ein kategoriales Produkt aus einer einfachen Wertkonstellation ist, wie sie in der phonologischen Systemlinguistik (im Wesentlichen auf der Basis von Oppositionen) beschrieben wird, ist dies bei der Bedeutung nicht der Fall. Das sprachliche Zeichen mag zweiseitig sein, doch die Strukturen auf beiden Seiten sind nicht spiegelbildlich organisiert. Und die Zusammenhänge zwischen Elementen dieser Strukturen auch nicht. Ein Unternehmen wie die „Deutsche Wortbildung“, das durch und durch semantikzentriert und -orientiert war, musste bei seinen Expeditionen ins Reich der Bedeutung auf das stoßen, worauf jede Semantikerin stößt: auf Einheiten-, Ebenen- und Beziehungsprobleme. 4.2.1 Einheitenprobleme Die Einheitenprobleme sind beträchtlich. Sie reichen von der ontologischen Unterbestimmtheit bis zur ontologischen Illusion. Einheitenprobleme entstehen u.a. bei Kategorisierungen nach dem Teil- Ganzes-Prinzip. Sie kondensieren sich z.B. in folgenden Fragen: - Wie und als was konstituieren sich die Teile einer Wortbildungskonstruktion? Vgl. die Affixoiddebatte: Ist blitzin blitzdumm das Erstglied eines Kompositums oder ein Präfixoid in einer Ableitung? Wie sind die ersten Konstituenten von Riesenfreude, Superkonzert, Lieblingsfilm, Schlager- <?page no="111"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 111 preis, Glanzleistung, Vollblutweib oder Null-acht-fünfzehn-Film zu beurteilen? Die Frage des Affixoidstatus erhebt sich übrigens keineswegs nur bei der Beschreibung von Wortbildungen des neuesten Deutsch, wie Beispiele aus der Goethezeit, z.B. superfein (s.o. 2.2.2), oder aus der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert belegen, z.B. Prima-Stöckelarbeiter, Hochprima-Bödenarbeiter auf Stöckelschuhe (Arbeiterzeitung, Wien, 27.8. 1905, 30.7.1905). - Wie konstituiert sich die Wortbildungskonstruktion als Teil in einer syntagmatischen Einheit? Vgl. die Debatte, ob die Wortbildung ein Phänomen der Syntax ist oder nicht, z.B. Qualitätsminderung von Kunst → ‘Minderung der Qualität von Kunst’. Einheitenprobleme entstehen ferner - bei der Parallelisierung unterschiedlicher Ebenen, z.B. Oberfläche/ Form auf der einen Seite und Bedeutung auf der anderen: bei gleichem formalem Muster (Substantiv + Verb + -er) entstehen Interpretationsunterschiede: Hassprediger → ‘Prediger des Hasses’/ ‘Prediger, dessen Thema der Hass ist’ oder: → ‘jmd., der Hass predigt’; Fragesteller → nicht: *‘Steller einer Frage’, sondern: → ‘jmd., der die/ eine Frage stellt’ - bei der Variantenbildung auf zwei Ebenen bei trotzdem notwendiger Präsenz beider Lesarten, vgl. Variationsbildungen wie schaumhaft oder Ostalgie (Saeco Vienna schwarz - einfach „schaumhaft“ - Mit diesem Kaffee-Vollautomat geht ein Traum in Erfüllung! ! ! ; 25 In Ostdeutschland nennt man das Phänomen ‘Ostalgie’ - Sehnsucht nach der alten Zeit. (Die Woche 7.7.1994, S. 16)). Solche Bildungen mit Konstituentenvariation 26 spielen - ähnlich wie modifizierte Phraseologismen 27 - in der Frage der Stilbildung und der Textkonstitution moderner Presse- und Werbetexte eine entscheidende Rolle. - bei der Herstellung von Bezügen und Analogien auf der Ebene der Kognitionen (in der Tiefe also). Dabei gerät die Wortbildungsanalyse in die Wirbel der Synonymiefrage. Erst im Kompositum erweisen sich z.B. die Lexeme Budget-, Brot-und-Buttersowie Sparals Synonyme, vgl. Bud- 25 http: / / www.haushalt-cupio.de/ Reviews/ ItemId/ B0000AHIJI/ ReviewPage/ 2 (Stand: 10.8.2006). 26 Zur genaueren Beschreibung solcher Variationsbildungen (Typ Zungenspitzengefühl) vgl. Ortner/ Ortner (1984, S. 49ff.). 27 Vgl. z.B. Burger (1998, S. 150ff.). <?page no="112"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 112 get-Motorrad (neben Low-Budget-Motorrad) - Brot-und-Butter-Motorrad - Spar-Produktionsracer (Lederer 2002, S. 76f.). Die Wörter Putzfrau, Putz-erin und Putz-e indizieren dieselbe Bedeutung wie ‘weibliche Person, die berufsmäßig putzt’ - jedoch: Benennen sie „synonyme“ Kognitionen? Wer ein Kopftuch trägt, ist nicht die geborene Putze. (Zeit 31/ 1998, S. 7). Und welchen Mehrwert steuert das plötzlich sehr aktive Muster auf -e bei? Das ist für mich eine asoziale Denke. (Spiegel 2/ 1998, S. 6); Tanke (= Tankstelle) (Hörbeleg 1997); Saftschubse (‘Stewardess’) 28 . Zu diesen klassischen Problemen ist ein schwerwiegendes neues hinzugekommen. In Zeiten, in denen sogar das Phonem, eine seit fast hundert Jahren scheinbar ganz unumstrittene Einheit der Linguistik, als möglicherweise schriftlinguistische Fiktion enttarnt wurde, schaut es für die Wortbildungseinheit als isolierte Einheit nicht gut aus. In der Sprache gibt es nichts Isoliertes; „tout se tient“, meinte schon Saussure. Doch für den war der Glaube an autonome Einheiten noch eine feste Burg. Inzwischen ist jedoch das Autonomitätspostulat erschüttert und die scholastische Frage, ob die Wortbildungseinheit ein Gegenstand der Lexikologie ist oder der Syntax, hat sich in Nichts aufgelöst, angesichts der Erkenntnis: Wortbildungseinheit ! Wortbildungseinheit - und das nicht nur bezogen auf den Gegensatz von usuellen und okkasionellen (Wohnungsmiete - Trübsinnsstaude (Christine Lavant)) oder von lexikalisierten bzw. motivierten Bildungen (Wäschebeutel → ‘für s c h m u t z i g e Wäsche’/ Wäschetruhe → ‘für f r i s c h e Wäsche’; Preis- Leistungs-Verhältnis → ‘Verhältnis, das zwischen Preis und Leistung besteht’). Kontext und Einheit bilden auch ein Szenario, wobei einmal dem Kontext, also dem Ganzen (z.B. bei der Monosemierung polysemer Einheiten), das Hauptgewicht zukommt (Extremfall 1); einmal der Einheit, also dem Teil, (Extremfall 2); vgl. oben Die beiden Marken unterscheiden sich in der Zigarettenlänge. versus: Ich geh noch auf eine Zigarettenlänge mit. Oder: Seine D i c h t u n g e n waren nicht von Dauer, denn als Stoff verwendete er nur Kautschuk minderer Qualität. (zit. in Neisser 1974, S. 312). Die kognitionslinguistische Semantik ermöglicht es, wie mit einem Mikroskop feine bedeutungs- und formkonstituierende Mechanismen wahrzunehmen, von denen hier einige genannt seien: 28 http: / / www.pons.de/ speziell/ ausbild/ wbjuspra/ vorgeschmack.htm (Stand: 10.8.2006). <?page no="113"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 113 - Die Basiseinheiten der semantischen Arbeit des Gehirns sind: Aktivationen von Einheiten des deklarativen Wissens und Stärken der Verbindung zwischen den Aktivationen. Aus ihrem Zusammenwirken ergeben sich Form und Bedeutung. Die Wörter, Lemmata, semantischen Knoten usw. sind keine autonomen Einheiten, sondern Objektivationen auf der Basis qualitativer Sprünge, in denen Aktivationen zusammenlaufen, also Repräsentationen von Repräsentationen, alle durch Arbeit des Geistes entstanden. - Bedeutung und Form sind Einheiten der oberflächenlinguistischen Beschreibung für die Darstellung von Eigenschaften von Objektivationen. Ihnen entsprechen im Gehirn keine autonomen, isomorphen, monolithischen, homogenen Einheiten, sondern eine Konfiguration von Aktivationen in einem Aktivationengewimmel. Aktivationen reichen von den assoziationsstimulierenden Kleinsteinheiten im deklarativen Wissen über die semantischen Merkmale, wie sie die Merkmalsemantik beschreibt, bis zu den Ganzheiten der Prototypen- und Stereotypsemantik sowie sonstigen holistischen Konzeptionen. „Hinter“ Versprechern und Verschreibern kann man z.B. auf solche Kleinsteinheiten stoßen. Versprecher und Verschreiber sind - wie mikrosprachgeschichtliche Moden, Trends, Tendenzen - „geologische Fenster“: Paß auf, oder willst du mich erstolchen? nikotinfreier Kaffee; Reißverschnallen; daß dieses Jahr etwas glücklicher wird als das abgeflossene; ein bleibendes Erinnernis; Er wird um zehn Uhr auf dem Hauptbahnhof beerdigt. Fahr nicht so raskant. 29 - Aktivationen und ihr Zusammenspiel im deklarativen Wissen sind das Kernthema der kognitionslinguistischen Semantik. Aktivationen sind mikroskopisch klein und ziemlich verwürfelt. Es gibt einigermaßen konstitutive und fakultative Aktivationen. Wie die Metapher zeigt, kann aber auch jede anscheinend konstitutive Aktivation als irrelevant behandelt werden, z.B. Münzmallorca (jugendsprachlich ‘Solarium’) 30 und Moralkorsett ( → ‘die Moral als Korsett’). - Aktivationen kristallisieren sich in Objektivationen; Objektivationen, das sind die sprachlichen Formen der Oberfläche. Das verarbeitende Gehirn geht davon aus, dass - im Allgemeinen - verschiedenen Formen auch unterschiedliche semantische Werte zuzuschreiben sind (die Unterschiede 29 Alle Beispiele aus Leuniger (1993). 30 http: / / www.pons.de/ speziell/ ausbild/ wbjuspra/ wandel (Stand: 10.8.2006). <?page no="114"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 114 können in der Semantik oder Stilistik liegen, vgl. Blumenbehälter - Blumengefäß - Blumenwanne oder SPD-Mitglied - SPD-ler). - Die Aufgabe der Kognition ist es, das Zusammenspiel der Objektivationen und der Aktivationen, formwie semantikbezogenen, so zu organisieren, dass ein Minimum an Zeichenqualität gesichert ist: Diakrise (Zeichenunterscheidbarkeit), Intersubjektivität usw. - Objektivationen entstehen - über qualitative Sprünge - aus relativ bestimmten Ensembles von Aktivationen. Allerdings, welche Mitglieder fest angestellt zum Ensemble gehören, welche nur ein Gastspiel geben, welche eine führende Rolle oder nur eine Nebenrolle haben - das ist nie ganz fix. (Darum kommt jede type-token-Untersuchung jeder beliebigen linguistischen Größe zum Ergebnis, dass nur Familienähnlichkeiten Einheiten konstituieren.) - Objektivationen werden generiert - aus Wissens- und Textbezügen heraus. Doch Achtung: Das ist nichts Wortbildungsspezifisches. Es gilt auch für jedes polyseme Simplex. Es mutet seltsam an, angesichts des endemisch polysemen Simplexbestandes gegen die Wortbildung, besonders gegen die Bedeutungsbeschreibung der Komposita, einzuwenden, sie sei wegen deren Polysemie nicht möglich. Als Beispiel für die unmöglich zu beschreibende Polysemie wird gerne die Fischfrau angeführt → ‘Frau, die Fisch verkauft’, → ‘Frau eines Fisches’, → ‘Frau, die Fisch isst’, → ‘Frau, die Fisch produziert’ usw. Na und? Vergleichen Sie doch einmal die Interpretamente von polysemen Wörtern wie Birne oder gar geben! Monosemie ohne Kontext ist auch hier nicht zu haben. Gegenüber den Aktivationen sind die Objektivationen, alle Objektivationen, auch die semantischen, nach dem type-token-Modus arbeitende (relativ) stabile Kategorien. Zwischen den Aktivationen und den Objektivationen liegen Ebenen der Verarbeitung. 4.2.2 Ebenenprobleme Waren das schöne Zeiten, als in der Linguistik nur mit zwei Ebenen gerechnet werden musste: der Ebene der Form und der Ebene der Bedeutung. Doch heute? Da gibt es vor allem auf der Seite der Bedeutung (des immer noch als zweiseitig konzipierten sprachlichen Zeichens) eine Vielzahl von Ebenen bzw. Modulen. Auch hier ergibt sich dasselbe Bild: Fragen zur Ontologie der <?page no="115"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 115 Ebene und zum Existenzmodus der Einheiten auf einer Ebene sind immer noch nicht geklärt. Heute wird allerdings statt von Ebenen auch von Modulen gesprochen. Doch das ist nur ein neues Begriffsfloß in einem Meer des Unbekannten, des Halbwissens und der Mutmaßungen. Die Bestimmung, dass Module nach einem einzigen oder doch nach nur wenigen besonderen Prinzipien arbeiteten, verlagert die Frage nur. Module - wie viele und welche gibt es? Module entstehen auf dem Weg bevorzugter Partnerschaften. Aber keiner kennt die Grenzen zwischen den Modulen. Jeder postuliert die Großbzw. Kleinmodule, die er braucht - freihändig. Und alle alten Klassifikationsprobleme kommen durch die neue Hintertüre wieder herein. Eine Zeit lang versuchte man den Ebenenproblemen mit der Kaskadentheorie beizukommen. (Das Bild der Kaskade wird im Sinn eines mehrfach gestuften Wasserfalls in der Kognitionspsychologie gern gebraucht: Über die Kaskaden, über mehrere Stufen/ Ebenen, flösse der Aktivationsstrom hin zu den Schlussprodukten.) Es ist zwar unbestritten, dass bei Konzeptualisierungen, die in Objektivationen münden, „mehrere Stufen der Konzeptionalisierung durchlaufen werden“ (Sucharowski 2002, S. 20f.), doch nicht im Sinn eines „Von-Stufe-zu-Stufe“, sondern chaotischer, interaktiver, weniger monodeterministisch - innerhalb von Modulen wie auch modulüberspringend. Mit Aitchison (1981, S. 286) muss man davon ausgehen, dass alles noch komplizierter ist - interaktiver, dialektischer. Verworrener auch. Es sind nicht nur die Mühen, mit den Ebenen den langen Produktionsweg zu rekonstruieren, der auch bei scheinbar bloßer Wiederverwendung zurückgelegt werden muss: er führt über viele Zwischenstufen und qualitative Sprünge - Transformationen, wie sie ein Bächlein aus dem Gebirge erlebt, das an der Mündung ein Fluss ist. Sehr früh, also auf der „gedanklichen Ebene“ (Bosshardt 2003, S. 455), im Vorsprachlichen (Sucharowski 2002, S. 21), dort wo über die „konzeptuelle“ und die „thematische Struktur“ eines Satzes entschieden wird, tauchen sie in vielen Modellen auch im 3. Jahrtausend wieder auf, die Phänomene, die einmal (bei Fillmore) Kasus hießen (vgl. Bosshardt 2003, S. 455). Semantische Kasus, semantische Rollen - die schon in den Achtzigerjahren totgesagten - heißen heute zwar nicht mehr Kasus, doch sie erfreuen sich bester Gesundheit (ebenso wie die Relationsbestimmungen „lokal“, „kausal“, „kausativ“ usw.). Auf der konzeptuellen Ebene wird festgelegt, auf wie viele semantische Rollen sich die satzplanerische (und wortbildende) Aufmerksamkeit richten soll (deshalb auch die frühe Festlegung der Intonationskonturen <?page no="116"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 116 der entstehenden linguistischen Einheiten, vgl. z.B. die unterschiedlichen Akzente von Henkel in Henkelkorb und Korbhenkel). Keine Einigkeit besteht darüber, wie viele Ebenen es sind. Doch wie in der neueren Syntaxforschung gezeigt worden ist, werden es mehr sein, als unsere Schulweisheit uns träumen lässt: (text-)syntaktische Umgebung, Intonation, „Gewichte“ aller Art, semantische wie formale, Art der Silbigkeit, Qualität der einzelnen Silben, Semantik der in einer Struktur verbundenen Elemente, Semantik der Struktur selbst, Semantik der Struktur im weiteren Ko- und Kontext (vgl. 2.2.1). Semantik der Struktur? Da sind wir beim vielleicht heißesten Eisen der Wortbildungstheorie - und gleichzeitig knietief in der Sprachtheorie. 4.2.3 Beziehungsprobleme Semantik der Struktur? In welcher Beziehung stehen die Teile einer Wortbildungskonstruktion zueinander? Stehen sie in einer - bestimmten oder unbestimmten - Beziehung in einem Ganzen mit nennlexikalischer Funktion? Kann diese Beziehung semantischen Eigenwert haben? Das waren immer heiße Eisen und „in der Wortbildungsforschung ein epistemologisches Problem ersten Ranges“ (Willems 1994, S. 350). Das epistemologische Problem wird durch den verschärften Relativismus und Kontextualismus nicht geringer. Überall dort, wo die Wortbildungsforschung bisher mit autonomen und stabilen Werten gerechnet hat, muss sie nun Variablen einsetzen. Manchmal haben die Beziehungen semantischen Eigenwert, manchmal nicht. Da es die Ableitung oder das Kompositum nicht gibt, können Bildungen wie Fischfrau, Humanlärm (Süddeutsche Zeitung 14.11.1989, S. 47), Kuckuckskind (Zeit 3/ 2005, S. 4) oder Trotzallemjubel nicht gleich behandelt werden. Und auch nicht ohne Kontext: Auch jetzt spürte sie, dass sie sich am liebsten gedehnt und gestreckt hätte vor Lebensfreude. Einfach weil sie nicht todkrank war. Einfach weil sie lebte. Einfach, weil zu leben etwas Unübertreffliches ist, egal wie. Wenn sie doch Herrn Herzig teilnehmen lassen könnte an ihrem Trotzallemjubel. (Walser 2001, S. 379) In diesem Textabschnitt kommen weder die Elemente trotz allem noch Jubel vor. Und doch ist alles schon aktiviert, was dann in der objektivierenden Wortbildungskonstruktion Trotzallemjubel noch einmal aufgenommen wird. Manchmal freilich gelingt das Information-Retrieval auch mit Kontext nicht, <?page no="117"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 117 z.B. bei Komposita mit überwiegend ästhetischer bzw. verdunkelnder Funktion wie Pfeilschrift und Blutklumpen-Botin: [...] eine Sehne, von der deine Pfeilschrift schwirrt, Schütze. (Paul Celan); Schieferäugige, [...] Lesbare Blutklumpen-Botin, herübergestorben [...] (Paul Celan). Und schließlich gibt es Nominationen, deren Benennungsmotive, und damit die semantischen Beziehungen zwischen den Konstituenten, nur durch Benennungskommentare - verbale oder visuelle - deutlich werden, vgl. die „geheimnisvollen“ Komposita Kompassmesse und Jesusechse: [...] dass Schuberts „Deutsche Messe“ im Sprachgebrauch der Alteingesessenen „Kompassmesse“ heißt, da sie mit den Worten „Wohin soll ich mich wenden“ beginnt. ( http: / / www.kultur-online.net/ index.php? q=node/ 2761 ( Stand: 10.8.2006)). Wieso wird der Helmbasilisk auch Jesusechse genannt? Weil er übers Wasser laufen kann. ( http: / / myblog.de/ kalafudra/ art/ 1440770 (Stand: 10.8.2006)). Abb. 2: Jesusechse 31 Der erodierte ontologische Status der Einheiten hat verheerende Auswirkungen auf die Beziehungen. Denn es sind nicht mehr Beziehungen zwischen klar konturierten Einheiten, sondern zwischen Werten errechnet aus Aktivationen verschiedener Parameter (Dimensionen). Einfache Typologien von Beziehungsproblemen wie die folgende können höchstens für eine Erst- und Grobeinteilung herangezogen werden: 31 Abbildung aus Setford (2002, S. 51). <?page no="118"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 118 − Beziehungen zwischen den Einheiten der Form (= Oberfläche) in der Wortbildungskonstruktion, die (im weiteren Sinn) synonym sind, z.B. Eisengitter - eisernes Gitter. Solche Beziehungen berücksichtigend wurde in „Deutsche Wortbildung“ die getrennte Behandlung von Ableitungen und Komposita vorgenommen. − Beziehungen zwischen den Einheiten der Semantik auf der Ebene der Wortart bzw. der Ebene der Bedeutung, z.B. Fieber - fiebrig - fiebern. Dieser Gesichtspunkt führte in „Deutsche Wortbildung“ bei der Behandlung der Ableitung und der Komposition zu den weiteren Großkategorien: Substantiv, Verb, Adjektiv, Partizip. − Beziehungen zwischen den Einheiten der Semantik. Dieser Gesichtspunkt führte in „Deutsche Wortbildung“ zur Klassifikation nach relationssemantischen Gesichtspunkten: Daraus ergaben sich - immer noch im Rahmen von Grobsortierungen - z.B. für die Substantivkomposita 33 Großklassen wie „partitiv“, die nach den semantischen Rollen in 142 Subtypen gegliedert wurden, z.B. Träger - Merkmal (Haarfarbe), Ganzes - Teil (Kinderhand) und Kollektiv - Element (Vereinsmitglied). Die Grobsortierungen folgen den Theorien über die sprachlichen Grundgegebenheiten, wie sie in Lemma-Form-Theorien (z.B. Aitchison) vertreten werden, aber wir behielten in „Deutsche Wortbildung“ immer die Übergangsbereiche im Auge und wir waren uns dessen bewusst, dass die Grobsortierungen keineswegs erschöpfend waren und auch nicht nur unter genau diesen Gesichtspunkten hätten vorgenommen werden können - nicht nur wegen der Ebenenvielfalt und der interaktiven Beziehungen zwischen den Aktivationen auf jeder Ebene. Denn relevant ist nicht nur, ob eine Beziehung besteht, sondern auch in welcher Stärke. Ebenso relevant: die Existenz und Ausstrahlungskraft von Mustern (vgl. z.B. das heute beliebte Muster mit dem umgangssprachlichen Suffix -i: Grufti, Öffis ‘öffentliche Verkehrsmittel’, Öli ‘Kübel für Altöl’ usw.). Muster entstehen auf Grund besonders starker Verbindungen zwischen relativ wenigen Elementen aus wenigen Gruppen und aus der Kraft der Analogie heraus. Wie immer sind Fehler, Versprecher und Verschreiber aufschlussreich: Gelähmten-Klo statt Behinderten-Klo. Wäre eine Fehlbildung wie Rutsch-Klo (auf das Behinderte [vom Rollstuhl aus] hinüberrutschen müssen) gleich wahrscheinlich wie Gelähmten-Klo? Sicher nicht. Denn in Gelähmten-Klo bleiben semantische Beziehung (final) und (Wort-)Art der Partnerrollenbe- <?page no="119"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 119 nennung erhalten. Das achtjährige Kind hat alles richtig gespeichert, nur eine Rolle mit einem semantischen Fast-Doppelgänger aus derselben Kohorte neu besetzt. 4.3 Wortbildungsforschung und Performanzlinguistik „Performanz“ ist ein „ umbrella term der Kulturwissenschaften“ (Wirth 2002, S. 10). Unter dem Fahnenwort „Performanz“ sammelt sich - negativ ausgedrückt - alles, was im Lauf der Wissenschaftsgeschichte der Linguistik zu kurz gekommen ist. Positiv ausgedrückt: Das Etikett „Performanz“ steht für alle Anstrengungen, von einer Linguistik wegzukommen, bei der Sprache nur als „todtes Gerippe“ (Humboldt) übrig bleibt (Bühler: „Metzgeranalyse“). Die Performanzlinguistik betreibt eine Radikalisierung der pragmatischen Wende, und zwar durch − die Hinwendung zum konkreten Gebrauch und zum konkret Gebrauchten (den konkreten tokens, nicht den types). Nicht das abstrakt erschlossene System mit seinen Einheiten steht im Mittelpunkt, sondern die konkrete soziale Interaktion, bei der token auf token folgt. Theoretisch kommt es dabei fast notwendig zu einer Reetablierung der Wirkgröße Muster - als ein token-naher gemeinsamer Nenner (s.u. 4.3.1); − die intensivierte Hinwendung zur Empirie und die Zurückdrängung der Allmacht der Abstraktion (s.u. 4.3.2); − Zurückdrängung der Allmacht der Abstraktion heißt auch Bemühung um eine Sprachbeschreibung, deren Objekt Produkte des lebendigen Kontakts sind (Produkt-, nicht Summengegenstände; s.u. 4.3.3). 4.3.1 Hinwendung zum konkreten Gebrauch und zum konkret Gebrauchten - die Wiederinstallierung des erlernten Musters/ des praktizierten Mustergebrauchs Mit der performativen Wende ist die Stunde der Einzel-tokens gekommen. Sie gewinnen Relevanz in ihrer spezifischen Besonderheit, nicht nur als Illustrationen in theoretischen Aussagen, die von allgemeinen (Groß-) Klassen handeln und nicht nur als ephemere Größen auf dem Weg zur Abstraktion. <?page no="120"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 120 Ein Wort wird als token in den sprachlichen Verkehr gebracht, Kaltmiete etwa, und es wird von anderen Sprachteilhabern aufgenommen. Doch damit wird nicht nur das Einzelzeichen wieder aufgenommen, auch das Muster, das formale (Adjektiv + Substantiv) wie das semantisch-„elliptische“ (s.u.). Deshalb ist auch die Stunde der Muster im token-token-Verkehr gekommen, die Stunde der Klein-Muster, der Muster in Mustern in Mustern usw. - und zwar der konkreten, aus dem token-token-Verkehr sich ergebenden Muster. Das zeigt sich an der Belegfolge: a) Glatteis → ‘glattes Eis’; b) Feinzucker → ‘feiner Zucker’/ ‘feingestoßener Zucker’ (Brockhaus-Wahrig 1980ff.); c) Polarstation → nicht: ‘polare Station’, sondern: ‘Station im Polargebiet’; Komplettpreis → ‘Preis für das komplette X’; Akutbetten → ‘B., in denen akut Erkrankte liegen’. Die Bildungen dieses Typs folgen alle einem formalen Muster, semantisch aber realisieren sie Klein-Muster aus einem großen Musterkomplex, der nach einem frequenten Prinzip organisiert ist: in einem formalen Muster (Adjektiv + Substantiv) wird eine stark ausdifferenzierte Vielfalt semantischer Muster realisiert - von der direkten Eigenschaftszuschreibung bis hin zum Nominationskürzel -, die sich in der Besetzung der semantischen Rollen unterscheiden. Mit diesem Ansatz lässt sich ein wesentlicher „Grundgedanke“ der Performanz-Linguistik weiter verfolgen, der Gedanke, „nach dem der Gebrauch selbst zeichenbildend wirkt“ (Feilke 1994, S. 225). Es sind nicht in erster Linie das Weltwissen und/ oder die abstrakte Kompetenz, die bestimmen, was wir wie sagen. Es ist die Redepraxis. Die Praxis ist das Maß aller Dinge und die Linguistik muss das modellieren, was in den Gewässern der Praxis so daherschwimmt - z.B. auch manch kecker Fisch aus der Werbesprache, der gelegentlich sogar in der Standardsprache geltende Restriktionen ignoriert wie etwa frischwärts und unkaputtbar: Coca-Cola startet mit einem neuen Werbeslogan „Laßt uns frischwärts geh'n“ in die wilden 70-er Jahre [...] ( http: / / www.gilthserano.de/ bio/ unternehmen/ bio-cocacola.html (Stand: 10.8.2006)). Vor einigen Jahren warb Coca-Cola für eine neue Flasche aus Kunststoff, die das kostbare Getränk schützen sollte, auch wenn die Flasche 'runterfällt. Und so zeigte der Werbespot im Fernsehen, wie eine Flasche die Treppe hinab purzelte und natürlich ganz blieb - sie war ja „unkaputtbar“. [...] Seit Anfang der 90er Jahre ist das Wort in aller Munde. ... Das Wort „unkaputtbar“ hält sich, vielleicht weil bei uns so viel Anderes und Empfindlicheres kaputt geht: <?page no="121"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 121 Umwelt, Klima, Frieden, Ehen, andere Beziehungen! ? [...] Gott bietet uns eine Beziehung zu sich an, die unkaputtbar ist. ( http: / / www.jesus-online.de/ article.php? article=3616 (Stand: 8/ 2005)). 32 Im Strom der Praxis spielen konkrete Muster eine wichtige Rolle. Und System- und Homogenitätsfragen einer großklassifikatorisch interessierten Linguistik eine geringe. Die triumphale Wiederkehr der konkreten Muster, also der Muster-token, und - damit untrennbar verbunden - des Gedankens des (nachahmenden) Lernens gehen auf Kosten der Theorie einer Kompetenz ohne Bodenhaftung, die mit möglichst großen und homogenen Klassen - wie Kompositum, Ableitung - rechnet, mit trennscharf gebildeten Klassen (entweder Präfix oder Erstglied eines Kompositums, nicht auch noch: Präfixoide - igittigitt! ) und mit Qualitäten wie Vollständigkeit bzw. Ellipse. Klasse ! Klasse, das weiß man in der Textsortenlinguistik schon lange. Da unterscheidet z.B. Ulla Fix Basistextsorte, Textsortenfamilie, einzelne Textsorte - und Graduierungen der Musterhaftigkeit (Fix 2005). Das Reinheitsgebot gilt nicht in der menschlichen Sprachpraxis. Das Gehirn und damit die Sprache brauchen keine Groß-Klassen, keine Stammbäume, auch keine Stammbüsche, sondern da wuchern Rhizome, Geflechte. Großklassifikatorische Fixierbäder können diesen Reichtum nur ungenau erfassen. Vielfalt ist Trumpf, sie muss theoretisch gedacht und in der Darstellung abgebildet werden. Um die platonistische Entfremdung im Denken 33 zu überwinden plädiert Sibylle Krämer, eine Sprecherin der Performanz-Philosophie, für eine „flache Ontologie“ (mit weniger „hoher“ oder „tiefer“ Abstraktion hinter den Phänomenen, also weniger Annahmen zur „virtuellen Sprache“) (Krämer 2005). Eine „flache Ontologie“ bedeutet das Ende der Alleinherrschaft der Großklassen und in einem gewissen Sinn - der Systemlinguistik. Ein Ende der Praxis, (Klein-)Muster aufgrund prototypischer Entsprechungen umstands- und kommentarlos Groß-Mustern (Kompositum, Ableitung) zuzuschlagen, die derselben Musterlogik folgen wie die (Klein-)Muster. Großklassen sind eher Familien mit Familienähnlichkeiten (Wittgenstein). Um festzustellen, wer alles zur Familie gehört, muss Feldforschung betrieben und muss die 32 Die Suchmaschine Google bietet das Wort unkaputtbar inzwischen 169.000 Mal an (10.8.2006). 33 Vgl. Habermas (2004, S. 12). <?page no="122"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 122 Praxis dokumentiert werden. Das ist wie mit der Systematik in der Biologie. Vergleichen Sie allein die 60.000 Arten starke Familie der Rüsselkäfer in der Ordnung der Käfer 34 - auch in dieser Familie gibt es sicher nicht nur Ableitungen und Komposita! Hier wie dort gilt zwar nicht gerade Wittgensteins „Denk nicht, sondern schau! “ (Wittgenstein 1984, Bd. I, S. 277), wohl aber das Credo jedes Empirikers: „Schau, schau, schau! - und dann denke (lange) über das nach, was du gesehen hast! “ 4.3.2 Hinwendung zur Empirie Wer den token-token-Verkehr beschreiben will, muss sich von den lichten Höhen der Abstraktion auf die Ebene der Praxis begeben und dort Mustersuche betreiben. Er muss beobachten, sammeln, vergleichen, registrieren ... Für „Deutsche Wortbildung“ waren wir jahrelang mit der Botanisiertrommel unterwegs. Wir haben eine sehr große Anzahl von Belegen gesammelt und ausgewertet. Denn intendiert war eine nicht-punktualisierende Beschreibung der Wortbildungsphänomene. Der theorieinspirierte Blick auf ausgesuchte Einzelphänomene erfasst die Praxis nur teilweise, wir wollten die ganze Praxis überblicken - flächendeckend. Dass „Deutsche Wortbildung“ zu datenschwer sei, dieser Vorwurf ist erhoben worden. 35 Ja, „Deutsche Wortbildung“ ist datenschwer - und das ist gut so! 36 Und es wird - dem Computer sei Dank! - bald (wieder) common sense werden, dass als Grundlage für linguistische Aussagen drei Dinge wesentlich sind: Daten, Daten, Daten. Für „Deutsche Wortbildung“ war klar: Nur wenn wir versuchten, die Praxis im Schleppnetz einer riesigen Kartei einzufangen, war eine materialnahe Analyse möglich. Wir wollten den token-token- Verkehr im Auge behalten, um den Verhexungen des Verstandes durch zu frühe und zu „hohe“ Abstraktion zu entgehen. Denn: In den luftigen Höhen der Abstraktion sind alle Kühe schwarz, auch die blonden (Karl Kraus). 34 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rüsselkäfer (Stand: 10.08.2006). 35 Willems (1994, S. 349). 36 Das meinen wiederum andere Rezensent(inn)en, vgl. Motsch (1994, S. 462f.), Höhne (1993, S. 317f.) und Barz (1994, S. 476), die in Bezug auf das Unternehmen „Deutsche Wortbildung“ die Dokumentation der semantischen Vielfalt der Komposition durch ein großes Korpus besonders würdigen. <?page no="123"?> Das Projekt „Deutsche Wortbildung“ 123 4.3.3 Beschreibung von Produkt-, nicht von Summengegenständen Was sieht man, wenn man genau hinschaut? - Produktgegenstände. Was konstruiert man sich, wenn man zu früh denkt? - Summengegenstände. Die Begriffe „Produkt-“ und „Summengegenstände“ hat Stetter (2005) eingeführt, um zwei Phänomene zu unterscheiden, für die Saussure ein wunderbares Gleichnis gefunden hat: In einer russischen Kleinstadt [...] habe ein Original namens Boguslawski gelebt. Dieser sei jeden ersten und fünfzehnten eines jeden Monats zum Photographen gegangen und habe von sich eine Portraitaufnahme machen lassen. Nach zwanzig Jahren veranstaltet Boguslawski eine Ausstellung, die nichts anderes zeigt als die derart entstandenen 480 Portraits in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Nun zeigen zwei beliebige benachbarte Portraits stets den gleichen Boguslawski, und doch zeigen das erste und das letzte zwei verschiedene Männer. (de Saussure, zit. nach Stetter 1997, S. 129). Im Raum-Zeit-Kontinuum ändert sich das logische Verhältnis der Tokens zueinander. Die raum-zeitlich unmittelbaren Nachbarn (Tokens) sind Produktgegenstände und die raum-zeitlich entfernteren Verwandten (Tokens) sind Summengegenstände (vgl. Stetter 2005). Letztere sind Abstraktionen über Phänomene, von denen manche so viel (oder so wenig) miteinander zu tun haben wie das 10. und das 420. Porträt von Boguslawski. In „Deutsche Wortbildung“ haben wir uns bemüht, möglichst nahe bei den Produktgegenständen zu bleiben und uns nicht zu allzu abstrahierenden Aussagen über Summengegenstände verführen zu lassen. Wir haben in „Deutsche Wortbildung“ nicht nur Boguslawski-Linguistik betrieben und schon gar nicht alle Boguslawski-Probleme gelöst - vor allem nicht alle Probleme der Graduierung. Doch Dimensionen und Werte in den Dimensionen haben wir aufgezeigt. An Maßstäben für die Vermessung der unübersichtlichen Praxis haben wir gearbeitet. 4.3.4 Modellierung der wortbildungstypischen Komplexität Einfache Geister haben das Bedürfnis nach einfachen Ordnungen. Dem kann man nachgeben, wenn man die Semantik aus der Analyse aussperrt. Doch Wortbildungskonstruktionen ohne ihre spezifische Semantik in den Blick zu nehmen, ist, wie wenn Alice vom Grinsen der Edamerkatze nur das Grinsen sieht. <?page no="124"?> Lorelies Ortner/ Hanspeter Ortner/ Hans Wellmann 124 Das haben wir, immer angespornt von Johannes Erben, nicht getan. Ziel von „Deutsche Wortbildung“ war, wie gesagt, die Modellierung der gesamten wortbildungstypischen Komplexität auf der Basis großer Materialmengen. Um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen haben wir all unseren Mut zusammengenommen und uns in die „Hölle der Semantik“ 37 vorgewagt. Während die formale Beschreibung sich auf bewährte systemlinguistische Ansätze stützen konnte, musste für die semantische weiter ausgegriffen werden. Es mussten Klassifizierungsprobleme gelöst werden (z.B. Abgrenzung von Präfixen und Präfixoiden) und es mussten Begriffe entwickelt und getestet werden, um die - musterhafte! - referenzielle und kompositionelle Konstitution von Bedeutungsklassen analysieren zu können. Speziell die - semantischen - Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten der Komposition wurden vor dem Projekt noch nie systematisch beschrieben. Sie konnte auf der Basis von rollensemantischen Konzepten unter Einbeziehung textlinguistischer sowie pragmatischer Kofaktoren geleistet werden. Wir haben die Welt der Wortbildungsphänomene mit den Maulwurfsaugen (I. Kant) der Empiriker betrachtet. Unser Interesse galt dem faszinierenden Phänomen: formale Sparsamkeit (formal wenig Typen) bei gleichzeitigem semantischen Reichtum innerhalb der formal gleichen Typen - das war die anspruchsvollste Herausforderung. Ihr war das Projekt „Deutsche Wortbildung“ gewidmet. 5. Literatur Adelung, Johann Christoph (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit D. W. Soltau's Beyträgen und Berichtigungen. Bd. I-IV. Wien. Aitchison, Jean (1981): Wörter im Kopf. Eine Einführung in das mentale Lexikon. Stuttgart. Barz, Irmhild (1994): Rezension zu „Deutsche Wortbildung. 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Der erste ist ein Rückblick auf das Deutsche Fremdwörterbuch in seinem (wörterbuch-)geschichtlichen Kontext, auf seine Entstehung und seine Fertigstellung im Institut für Deutsche Sprache (IDS). Der zweite ist ein eher persönlich gefärbter Ausblick auf die Lexikologie und Lexikographie des Fremdworts im Deutschen, der auf meinen während der Fertigstellung des Fremdwörterbuchs gemachten Erfahrungen beruht. Er geht exemplarisch auf zwei Fragenkomplexe näher ein, die nach meiner Überzeugung bei fundierten und sachgemäßen historischen Untersuchungen zum deutschen Fremdwort mitberücksichtigt werden müssen. 2. Rückblick Eine Konstante der deutschen Sprachgeschichte ist der fremdsprachliche Einfluss auf den Wortschatz. Er zieht sich in jeweils unterschiedlicher historischer Brechung und in unterschiedlichen Ausprägungen wie ein roter Faden durch die Geschichte des Deutschen vom Vor- und Althochdeutschen über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis hin zur Gegenwartssprache. Am auffälligsten sind in neuhochdeutscher Zeit seit Erfindung des Buchdrucks, Renaissance und Reformation Wörter, die in Form und Inhalt aus fremden Sprachen übernommen wurden und werden, die so genannten Fremdwörter. Die neuhochdeutschen Fremdwörter waren und sind in der deutschen Sprachgemeinschaft umstritten: Die einen nehmen sie als Bereicherung der einheimischen deutschen Sprache und Kultur auf, die anderen lehnen sie als Anzeichen eines übermäßigen fremden Einflusses auf diese Sprache und Kultur ab. Der besondere Stein des Anstoßes sind heutzutage Anglizismen, d.h. Wörter, die aus dem Englischen oder Angloamerikanischen übernommen wurden, oder besser: Wörter, die tatsächlich, angeblich oder vermeintlich aus dem Englischen oder Angloamerikanischen übernommen wurden (darauf werde ich weiter unten noch zurückkommen). Die Fremdwörter spielten und spielen eine ebenfalls umstrittene Sonderrolle in der historischen wissenschaftlichen Erfassung und Beschreibung der deutschen Sprache, nicht zuletzt auch in der <?page no="134"?> Alan Kirkness 134 Lexikographie des Neuhochdeutschen. Vom ausgehenden 16. bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie grundsätzlich nicht oder nicht umfassend oder systematisch in die meisten großen einsprachigen Wörterbücher des Deutschen mit wissenschaftlichem Anspruch aufgenommen: Eher seltene Ausnahmen wie beispielsweise Sanders (1876) bestätigen die allgemeine Regel, die von Maaler (1561) bis Trübner (1939-1957) gilt. Nebenbei sei hier angemerkt, dass nicht zuletzt aus diesem Grund die eher fremdwortoffenen historischen Enzklopädien und (Zeitungs- und Konversations-)Lexika m.E. weitaus aufschlussreichere Quellen für die deutsche Fremdwortforschung darstellen als die Sprachwörterbücher - und dass dies wiederum noch ein Grund wäre, die übliche Trennung von Sprach- und Sachlexikographie neu zu überdenken, die sich auf jeden Fall für die Behandlung der Fremdwörter negativ auswirkt. Erfasst wurden die Fremdwörter vorzugsweise getrennt in Sonderwörterbüchern; vom Wörterbuch schwerer Wörter Simon Roths (1571) über Zeitungs- und Konversationslexika des 18. und unzählige Fremd- und Verdeutschungswörterbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis zum bekannten einbändigen Fremdwörterbuch der Gegenwart, z.B. Duden- Fremdwörterbuch (2005). Dieses ist nach dem Rechtschreibwörterbuch der Bestseller der deutschen Lexikographie. Als Sonderwörterbuch ist es jedoch eigentlich nicht mehr erforderlich, weil seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemeine, einsprachige deutsche Wörterbücher auch Fremdwörter grundsätzlich und systematisch aufnehmen und beschreiben. Offensichtlich aber ist die Auffassung noch weit verbreitet, die sog. Fremdwörter im Deutschen seien eben Fremdkörper, die als fremd bzw. nichtdeutsch nicht „dazugehören“. Die Tradition der gesonderten lexikographischen Behandlung, die m.E. das Gefühl des „Fremdseins“ der Fremdwörter noch fester zementiert, ist offenbar ebenfalls noch weit verbreitet. In diese Tradition gehört auch das Deutsche Fremdwörterbuch von Hans Schulz und Otto Basler. Es entstand Anfang des 20. Jahrhunderts auf Anregung vor allem des Freiburger Germanisten und Anglisten Friedrich Kluge als Ergänzungswörterbuch zum Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. In der Erstbearbeitung gilt „der Grimm“ als unentbehrliches Grundlagenwerk historischer (neuhoch-)deutscher Wortforschung; jetzt vor allem als „Der digitale Grimm“ auf CD-ROM (Grimm 2004) noch viel flexibler und komfortabler zugänglich und benutzbar als vordem. Er erfasst und beschreibt die neuhochdeutschen Fremdwörter je nach Bearbeiter oder Bearbeitergruppe sehr unterschiedlich, insgesamt aber, und vor allem in den im <?page no="135"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 135 19. Jahrhundert bearbeiteten Wortstrecken, unsystematisch und unbefriedigend. Viele durchaus gängige und historisch bedeutende Fremdwörter sind gar nicht aufgenommen; die formale und inhaltliche Beschreibung der erfassten Fremdwörter ist häufig sehr knapp und wenig aufschlussreich. Erst in den zuletzt, nach 1930 und vor allem nach 1950, bearbeiteten Wortstrecken genügt die Behandlung der Fremdwörter eher heutigen Ansprüchen. Diesem Missstand abzuhelfen war Zweck und Ziel des wissenschaftlichen, historisch-entwicklungsbezogenen Deutschen Fremdwörterbuchs. Erster Bearbeiter wurde Kluges Schüler Hans Schulz (1886-1915), der 1910 eine erste Lieferung veröffentlichte. Er konnte 1912 den 416 Seiten starken ersten Band A-K abschließen, der 1913 erschien. Nachdem Schulz aber 1915 im Ersten Weltkrieg fiel, lag das Wörterbuch eine Reihe von Jahren brach. Schulz' Nachfolger wurde 1923 der Freiburger Germanist Otto Basler (1892-1975), der die inhaltliche Konzeption von Schulz grundsätzlich beibehielt, zugleich aber die Quellen- und Materialbasis des Wörterbuchs sehr beträchtlich erweiterte. Basler brachte 1926 seine erste Lieferung heraus und vollendete 1942 den zweiten, 748 Seiten umfassenden Band L-P. Er konnte noch die erste Lieferung eines dritten Bands fertigstellen, die 1972 erschien und den Buchstaben Q in 105 Seiten umfasste, wurde aber vor allem wegen zunehmender Sehschwäche gezwungen, die Arbeit am Fremdwörterbuch aufzugeben. Bereits 1969 kam Basler mit dem ihm befreundeten ersten Präsidenten des 1964 in Mannheim gegründeten Instituts für Deutsche Sprache, Professor Hugo Moser, überein, dass er dem Institut seine große private Fachbibliothek verkaufen und dem Institut alle seine Quellen- und Wortsammlungen für das Fremdwörterbuch übergeben würde in der Erwartung, dass das IDS für die Fertigstellung des Wörterbuchs Sorge trägt. Bis Ende 1972 lag sein Archiv im Institut in Mannheim geschlossen vor. Dank des Erwerbs der Basler'schen Bibliothek konnten die Institutsbestände sehr bedeutend erweitert werden, nicht zuletzt um historische Werke. Mit der Basler'schen Belegsammlung von einigen Millionen Zetteln stand die größte Spezialsammlung deutscher Fremdwörter der institutsinternen und -externen Forschung zur Verfügung. Ein Förderantrag des Instituts an die Deutsche Forschungsgemeinschaft sah zum einen die Klärung des zentralen Begriffs des Fremdworts, zum anderen die Vollendung des Fremdwörterbuchs vor. Der erste Teil des Antrags wurde nicht bewilligt. Die Förderung des zweiten Teils, der die Ordnung, Beurteilung und ggf. vorsichtige Ergänzung des Basler'schen Materials und die Fertigstellung der Buchstaben R bis Z unter grundsätzli- <?page no="136"?> Alan Kirkness 136 cher Beibehaltung des bisherigen Konzepts und Umfangs beinhaltete, wurde im März 1974 zugesagt. Am 1. April 1974 nahm eine kleine Mitarbeitergruppe in Mannheim die Arbeit an der Fertigstellung des Deutschen Fremdwörterbuchs, Buchstabenstrecke R-Z auf. Seither ist die Geschichte des Fremdwörterbuchs Teil der Geschichte des Instituts für Deutsche Sprache. Die Bearbeitungsgeschichte des Fremdwörterbuchs am Institut lässt sich schnell nachzeichnen. Im ersten Projektjahr wurde mit der Aufbereitung des umfangreichen Quellen- und Belegmaterials begonnen, und die lexikographische Praxis von Schulz und vor allem von Basler wurde genau untersucht. Im zweiten und den darauf folgenden Jahren wurden neben der fortgestzten Materialaufbereitung die Wörterbuchartikel R-Z ausgearbeitet und redigiert. 1977 erschienen zwei R-Lieferungen und eine S-Lieferung sowie der fertige dritte Band Q-R (506 S.); 1978 zwei weitere S-Lieferungen und der vierte Band S (704 S.); 1979 und 1980 jeweils eine T-Lieferung und 1981 eine dritte T- Lieferung und der fünfte Band T (580 S.); 1982 eine Lieferung U-V, 1983 eine letzte Lieferung V-Z und der sechste Band U-Z (444 S.). Das Gesamtquellenverzeichnis folgte 1984. Damit lag das Deutsche Fremdwörterbuch nach einer Entstehungsgeschichte von mehr als 70 Jahren abgeschlossen vor. Diese Geschichte ähnelt in mancher Hinsicht, wenn auch in sehr viel kleinerem Maßstab, der Geschichte des Grimm'schen „Deutschen Wörterbuchs“: Zunächst von einzelnen Bearbeitern unterschiedlich, aber meist knapp ausgearbeitet, nahm es immer mehr an Umfang und Systematizität zu und wurde in institutionalisierter Teamarbeit abgeschlossen. Ist das Deutsche Wörterbuch in der Erstbearbeitung das Grundlagenwerk historischer (neuhoch-)deutscher Wortforschung, insbesondere des indigendeutschen Wortschatzes, so kann das Deutsche Fremdwörterbuch in der Erstbearbeitung als Grundlagenwerk historischer (neuhoch-)deutscher Fremdwortforschung gelten. Beide sind jedoch in weiten Teilen veraltet und bedürfen der Überarbeitung. Das Quellenverzeichnis bildete die erste Lieferung eines abschließenden siebenten Bands (840 S.), der 1988 erschien und zwei weitere Lieferungen enthielt. 1986 kam eine zweite Lieferung heraus mit vier systematischen Registern aller im Wörterbuch behandelten Fremdwörter: alphabetisch, rückläufig, chronologisch und etymologisch; 1988 erschien die dritte Lieferung mit einem nach Wortklassen sortierten Register und einem umfangreichen Nachwort, das eine historische Dokumentation des Deutschen Fremdwörterbuchs als Beitrag zur Geschichte der germanistischen (Fremdwort-)Lexikographie enthielt. <?page no="137"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 137 Das Projekt ‘Deutsches Fremdwörterbuch’ war zunächst gewissermaßen ein Fremdkörper im Institut für Deutsche Sprache: Es wurde durch Drittmittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert und die Ausarbeitung und Redaktion der Wörterbuchartikel lag in den Händen von neuen, eigens dafür angestellten Mitarbeitern. Es handelt sich um ein historisches Wörterbuch, das den neuhochdeutschen Zeitraum erfasst und betont etymologisch-entwicklungsbezogen ausgerichtet ist. Das IDS wurde dagegen mit dem Auftrag gegründet, die Gegenwartssprache zu erforschen. Die hauptsächlichen Institutsprojekte, wie die Untersuchungen zur gesprochenen Sprache, 1 zu den syntaktischen Grundstrukturen des heutigen Deutsch und zur Kontrastiven Grammatik arbeiteten dementsprechend synchron-gegenwartsbezogen und waren vor allem grammatisch und pragmatisch ausgerichtet. Dafür hatte die vorwiegend lexikologische Dokumentation und Erforschung des Ost-West-Wortschatzes eine bis 1945 zurückreichende historische Tiefe, und ein Lexikon zur Verbvalenz war auch in der Bearbeitung. 2 Allmählich wurde aber das Projekt ‘Deutsches Fremdwörterbuch’ in die Institutstätigkeit stärker integriert: Die Mitarbeiter wurden auf etatisierte Stellen übernommen; der Forschungsauftrag des Instituts wurde erweitert, um die neuere Geschichte der deutschen Sprache mitzuerfassen; und lexikologisch-lexikographische Vorhaben wurden zu institutionalisierten Schwerpunkten der Tätigkeit einer Abteilung Grammatik und Lexik, später Lexik. Dazu gehörten als integraler Bestandteil Fremdwörter und Fremdwörterbuch. Soweit dieser kurze Rückblick auf die Entstehung des Deutschen Fremdwörterbuchs und die Fertigstellung der Wortstrecke R-Z als Projekt des IDS. Aus der Fertigstellung lassen sich nach meiner Überzeugung wertvolle Lehren zur Lexikologie und Lexikographie des Fremdworts ziehen. Zwei der mir ganz wesentlich erscheinenden werden im nachfolgenden Ausblick beispielhaft kurz diskutiert. 3. Ausblick 3.1 Quellen- und Belegmaterial Der erste Punkt betrifft das Quellen- und Belegmaterial, das sich für die besonderen Belange der vor allem historisch-entwicklungsbezogenen Fremdwortforschung einschließlich der Lexikographie eignet. Für die Fertigstel- 1 Vgl. den Beitrag von Fiehler/ Schröder/ Wagener (in diesem Band). 2 Vgl. den Beitrag von Schumacher (in diesem Band). <?page no="138"?> Alan Kirkness 138 lung bewährte sich als Materialgrundstock weitestgehend die Basler'sche Belegsammlung, ganz besonders die vielen Zeitungsbelege als Nachweise für den Fremdwortgebrauch in der alltäglichen Gebrauchssprache des 20. Jahrhunderts. Voraussetzung war, dass die Belege einen Textausschnitt enthielten, der groß genug war, um vor allem semantisch-inhaltlich aussagekräftig zu sein (Kontextbelege). Die frühere Praxis, wie sie häufig bei Schulz und Basler ebenso wie beispielsweise bei den Lexikographen Jacob und Wilhelm Grimm anzutreffen ist, nur das Stichwort und eine verkürzte Quellenangabe anzuführen, ist unbefriedigend und führt allzu häufig zu mühsamen, zeit- und arbeitsaufwändigen Nachforschungen. Mit der heutigen Verfügbarkeit von sehr großen elektronischen Textkorpora und raffinierten Konkordanzprogrammen lässt sich dieses Problem technisch leicht lösen. Mit solchen Textkorpora allein ist es jedoch nicht immer getan. Gezielte Leseprogramme und besondere Belegsammlungen sind insbesondere für die historische Lexikologie und Lexikographie nach wie vor unentbehrlich. Dies bestätigen immer wieder die Erfahrungen, die bei der Bearbeitung historischer Wörterbücher wie des Fremdwörterbuchs und des Grimm'schen Wörterbuchs oder - um über den germanistischen Tellerrand zu schauen - des Oxford English Dictionary gemacht werden. So empfehlen sich z.B. speziell für die Fremdwortforschung gezielte Untersuchungen zu einzelnen Herkunftssprachen, ggf. in bestimmten Zeiträumen. Als unentbehrlich erwiesen sich bei der Fertigstellung der Erstbearbeitung u.a. die Arbeiten von William Jones und Richard Brunt zum französischen Einfluss 1575-1648 (Jones 1976) bzw. 1649-1735 (Brunt 1983) oder von Peter Ganz zum Einfluss des Englischen 1640-1815 (Ganz 1957). Sie ließen ähnliche Arbeiten für den Einfluss des Französischen in dem entscheidenden Zeitraum von etwa 1735-1815 oder für die zunehmende Einwirkung des Englischen zwischen 1815 und 1945 umso schmerzlicher vermissen. Der englische Einfluss nach 1945 ist dagegen mehrfach belegreich dokumentiert und beschrieben; dies spielte aber für die Fertigstellung nur eine geringe Rolle - in bewusster Abgrenzung gegenüber dem inzwischen fertig vorliegenden Anglizismen-Wörterbuch von Broder Carstensen und Ulrich Busse (Carstensen/ Busse 2001). Es fehlten aber ganz besonders - und es fehlen leider immer noch - Belegsammlungen und lexikologische Untersuchungen zum Einfluss des Neubzw. Gelehrtenlateins vor allem auf den bildungs- und wissenschaftssprachlichen Fremdwortschatz des Deutschen. Die Erfassung und Dokumentation des <?page no="139"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 139 Neulateins, und zwar vor allem als (Natur-)Wissenschaftssprache, weniger als Träger einer schöngeistigen Literatur europäischen Rangs, ist wohl eine der wichtigsten Aufgaben der (Fremd-)Wortforschung überhaupt, will man von Behauptungen und Spekulationen zu gesicherten Nachweisen über die Herkunft und Entwicklung vieler bildungs- und wissenschaftssprachlicher Ausdrücke gelangen. Das belegt eindeutig eine Untersuchung wie beispielsweise die von Wilfried Seibicke zur Wortfamilie um Technik und Technologie (Seibicke 1969), wie die entsprechenden Artikel im Fremdwörterbuch beweisen. Ansonsten musste sich die Fertigstellung eher mit Andeutungen und Vermutungen begnügen; das Problem wurde zwar erkannt, konnte aber nur ausnahmsweise im Einzelfall gelöst werden. Dieses Problem gilt übrigens nicht nur für das Deutsche, sondern gleichermaßen auch für andere europäische Kultursprachen wie das Englische und Französische, war doch das Neulatein jahrhundertelang in der frühen Neuzeit ein gesamteuropäisches Phänomen. Dennoch stellt das Neulatein weitestgehend noch eine terra incognita in der volkssprachlichen Wortforschung dar. Erst die neubearbeiteten Wortstrecken M-O des Oxford English Dictionary geben einen einigermaßen gesicherten, lexikographischen Einblick in den Einfluss des Neulateins - das freilich eher vage unter „postclassical Latin“ subsumiert wird und das u.a. auch das Mittellatein miterfasst - auf den bildungs- und wissenschaftssprachlichen Wortschatz der neueren europäischen Sprachen. Dies ist auch für die deutsche Fremdwortforschung wichtig, denn für Informationen über die anderen europäischen Sprachen als Herkunfts- und Vermittlersprachen deutscher Fremdwörter sind deutsche Lexikologen und Lexikographen vorrangig auf fremdsprachliche Wörterbücher angewiesen. Es empfehlen sich ebenfalls eingehende, beleggestützte Untersuchungen bzw. Monographien zu einzelnen Fremdwörtern, wie sie mit der bereits genannten Studie von Seibicke (1969) zu Technik und Technologie vorliegen. Solche eingehenden Einzelwortuntersuchungen sind für ein lexikographisches Team kaum möglich. Ein Wörterbuch kann von ihnen vor allem qualitativ nur profitieren, auch wenn es keine bloße Anthologie von Wortmonographien sein sollte. Darüber hinaus empfehlen sich historische, beleggestützte Untersuchungen zu einzelnen Wissenschaftssprachen und vor allem (natur-)wissenschaftlichen Fachsprachen, kommen doch zunächst in einzelnen Fachsprachen viele Fremdwörter vor, die später in den allgemeinen, insbesondere bildungs- und wissenschaftssprachlichen Wortschatz übergehen. So konnte die Fertigstel- <?page no="140"?> Alan Kirkness 140 lung des Fremdwörterbuchs zum Beispiel auf die Untersuchung von Friedrich Kluge zur Seemannssprache (Kluge (Hg.) 1911) oder zur Kaufmannssprache und zur Sprache der Mathematik von Alfred Schirmer (Schirmer 1911, 1912) zurückgreifen. Diese Untersuchungen liegen jedoch inzwischen fast ein Jahrhundert zurück, und trotz vielfacher Anregung von Uwe Pörksen (1986, 2001), Jürgen Schiewe (1991) und anderen hat sich die Germanistik bisher nur sehr begrenzt der historischen Erfassung und Dokumentation der (Natur-) Wissenschaftssprachen im deutschen Sprachraum zugewandt, ganz im Gegensatz etwa zur Erforschung der deutschen Dialekte. Dazu kommt, dass das Fremdwörterbuch, wie auch das Grimm'sche Wörterbuch, meist von Germanisten ausgearbeitet wurde, d.h. von Geisteswissenschaftlern, die eine eher literarische und sprachwissenschaftliche Ausbildung und dementsprechend eine Vorliebe für Ausdrücke aus eher schöngeistig-literarischen oder philologisch-philosophischen Bereichen hatten. Dabei kommen die naturwissenschaftlichen Bereiche als Fremdwortspender zwangsläufig zu kurz. In diesem Zusammenhang kommt das Fehlen (natur-)wissenschaftlich orientierter Arbeiten zum Neulatein erschwerend hinzu. Empfehlenswert wäre also außer gezielten Untersuchungen zu wissenschaftlichen Fachsprachen das Heranziehen von Wissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern aus wichtigen Fachbereichen als Berater oder die Aufnahme naturwissenschaftlich ausgebildeter Spezialisten in eine Mitarbeitergruppe, die sich mit der (historischen) Lexikologie und Lexikographie der Fremdwörter im Deutschen befasst. Nebenbei sei angemerkt, dass dies m.E. nicht nur der (historischen) Lexikographie des Fremdworts, sondern des neuhochdeutschen Wortschatzes überhaupt sehr zugute käme, und dass es nicht zuletzt aus diesem Grund bedauerlich ist, dass der in den 70er- und 80er-Jahren mehrfach, auch innerhalb des IDS diskutierte Plan des von Harald Weinrich angeregten „Interdisziplinären Deutschen Wörterbuchs“ nicht verwirklicht werden konnte 3 - wenngleich das Konzept sich allerdings in der heutigen Online-Lexikographie, wie sie das Infomationssystem elexiko des IDS darstellt, wiederfindet. 4 Schießlich sei angemerkt, dass man sich gegenwärtig zunehmend dem Aufbau immer größerer elektronischer Textkorpora zuwendet und dabei allmählich auch der Frage, inwieweit sich dies auch für historische Texte eignet und empfiehlt, Aufmerksamkeit schenkt (z.B. im Projekt TEXTGRID, www. 3 Vgl. hierzu den Beitrag von Haß (in diesem Band). 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Klosa/ Steffens (in diesem Band). <?page no="141"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 141 textgrid.de ). So ist in den elektronischen Korpora z.B. die Textgestaltung, die u.a. für den Grad der Integration der Fremdwörter höchst aussagekräftig sein kann, hinsichtlich ihrer originalgetreuen Wiedergabe ein Problem. Nach meiner Überzeugung sind jedenfalls fremdwortspezifische Untersuchungen besonderer Quellengruppen für eine fundierte lexikologische und lexikographische Fremdwortforschung unerlässlich. 3.2 Das Fremdwort im Deutschen Der zweite Punkt betrifft den zentralen Begriff des Fremdworts im Deutschen, der schon lange umstritten ist (und dessen Klärung Teil des ursprünglichen IDS-Antrags an die Deutsche Forschungsgemeinschaft war). Während der Fertigstellung wurde er immer problematischer. Es stellte sich nämlich immer deutlicher heraus, dass nicht alle Fremdwörter nachweislich aus anderen, fremden Sprachen übernommen wurden, ja dass viele nachweislich nicht entlehnt, sondern innerhalb des Deutschen neugeprägt wurden. Solche deutsche Neuprägungen entsprachen nicht dem herkömmlichen Verständnis des Fremdworts - ein aus einer anderen Sprache übernommenes, formal nicht voll eingebürgertes Wort -, machten jedoch die Mehrheit der bei der Fertigstellung R-Z aufgenommenen und beschriebenen „Fremdwörter“ aus: Das Herkunftsregister erbringt dafür den deutlichen Beweis. Eine Klärung des Fremdwortbegriffs schien also, und scheint mir immer noch, die allererste Voraussetzung für eine sachgerechte und angemessene Erforschung und Behandlung des Fremdworts zu sein. Diese tut not, und zwar nicht nur in der germanistischen Sprachwissenschaft, sondern auch für die breite Öffentlichkeit. Leerformeln wie „Fremdwörter sind Glückssache“ helfen den vielen deutschen Sprachteilhabern, für die die „Fremdwortfrage“ offenbar noch ein Problem zu sein scheint, nicht weiter. Umdefinitionen, wie sie inzwischen in einsprachigen Wörterbüchern anzutreffen sind, wonach unter „Fremdwort“ ein aus einer fremden Sprache übernommenes oder in der übernehmenden Sprache mit Hilfe von Wörtern oder Wortteilen aus einer fremden Sprache geprägtes Wort zu verstehen sei, können m.E. auch nicht überzeugen, hebt doch der zweite Teil der Definition im Grunde den ersten auf. Erforderlich ist nach meiner Überzeugung ein Neuansatz, wie er bereits 1967 von Peter von Polenz in seinem wegweisenden Aufsatz „Fremdwort und Lehnwort sprachwissenschaftlich betrachtet“ (Polenz 1967) angeregt wurde. Nach der Fertigstellung des Fremdwörterbuchs R-Z wurden diese Anregungen auch am IDS aufgegriffen und weitergeführt. <?page no="142"?> Alan Kirkness 142 Zuerst muss festgestellt werden, dass der fremdsprachliche Einfluss auf den deutschen Wortschatz keineswegs, wie oft angenommen, auf die Fremdwörter beschränkt ist. Hinzu kommt nämlich der ganze Bereich des sog. „inneren Lehnguts“ oder der Lehnprägungen, der durch den Begriff Fremdwort nicht abgedeckt wird. Dieser Begriff ist insofern einseitig, als er sich vor allem auf die Form bzw. Ausdrucksseite des Worts bezieht und weniger oder gar nicht auf dessen Bedeutung(en) bzw. auf die Inhaltsseite. Zu den Lehnprägungen gehören zum einen Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen, d.h. Wörter, deren Inhalt (wenigstens teilweise) aus fremden Sprachen übernommen, deren Form jedoch genau Glied für Glied übersetzt oder freier übertragen wurde, und zwar vornehmlich mit Hilfe einheimisch deutscher Wörter und Wortteile. Bekannte Beispiele sind Flutlicht als Lehnübersetzung von englisch floodlight und Wolkenkratzer als Lehnübertragung von englisch skyscraper. Dazu zählen zum anderen Lehnbedeutungen, d.h. Wörter, deren übernommener Inhalt durch eine bereits vorhandene, meist indigen deutsche Form wiedergegeben wird. Ein bekanntes Beispiel ist Ente im Sinne von „Zeitungslüge“ nach dem Vorbild von französisch canard. Das innere Lehngut ist besonders für das Alt- und Mittelhochdeutsche und zum Teil auch für den englischen Einfluss auf das heutige Deutsch gut erforscht; es bleiben jedoch noch Lücken in der Erfassung der Lehnprägungen und Probleme in der Begrifflichkeit und Terminologie. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, denn die Diskussion betrifft in erster Linie die ausdrucksseitig erkennbaren Fremdwörter. Synchron-gegenwartsbezogen betrachtet sind vor allem die semantischpragmatischen Verständnis- und Verständigungsschwierigkeiten wichtig, die verschiedene Fremdwörter für unterschiedliche Sprachteilhabergruppen mit sich bringen. Diese Schwierigkeiten hängen kaum mit der Herkunft der Wörter aus fremden Sprachen zusammen, sondern viel eher mit ihrer Verwendung im Deutschen; beispielsweise als Fachtermini oder als Bestandteile des Bildungswortschatzes; zum Teil auch mit ihrer Form, denn viele (vor allem fach- und bildungssprachliche) Fremdwörter sind morphologisch komplexe Sprachzeichen, die für viele Sprachteilhaber nicht motiviert bzw. durchsichtig sind, d.h. keine Schlüsse von der Form auf den Inhalt zulassen, wie das bei durchsichtigen einheimischen Komposita und Ableitungen eher möglich ist. Es handelt sich also um schwer verständliche Wörter, und Fragen der Schwerverständlichkeit sollten von Fragen der Herkunft, und somit von der traditionellen Fremdwortfrage, abgekoppelt werden. Versuche, solche schwer verständliche Wörter in Anlehnung an „hard words“ im Englischen <?page no="143"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 143 und in Rückgriff auf die „schweren Wörter“ Simon Roths (1571) allgemein als „schwere Wörter“ zu terminologisieren, schlugen fehl. Aber es fand innerhalb und außerhalb des IDS eine wissenschaftlich wichtige Diskussion über Fragen der (Schwer-)Verständlichkeit vor allem fach- und bildungssprachlicher Ausdrücke im Deutschen statt. Den institutionellen Rahmen für diese Diskussion steckten zwei lexikographische Vorhaben ab: zunächst die Überlegungen zu einem großen (etwa 20-bändigen) Interdisziplinären Deutschen Wörterbuch, sodann die institutsinterne Planung zu einem ein- oder zweibändigen „Handbuch der schweren Wörter“. Wenngleich die lexikographischen Vorhaben in der Folge nicht verwirklicht werden konnten, beeinflussten die Überlegungen dazu jedoch in lexikographischer Hinsicht das 1989 erschienene Lexikon „Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“ (Strauß/ Haß/ Harras 1989). In lexikologischer Hinsicht führten sie zu bedeutenden Monographien (namentlich von Gerhard Strauß und Gisela Zifonun) zur Semantik und Pragmatik schwer verständlicher bzw. schwerer Wörter im Deutschen überhaupt und in bestimmten Teilbereichen des Wortschatzes (z.B. Strauß/ Zifonun 1985). Diachron-historisch betrachtet ist vor allem die Unterscheidung zwischen Lehnwörtern, d.h. nachweislich aus fremden Sprachen hinsichtlich Form und (wenigstens partiell) Inhalt übernommenen Wörtern, und Lehnwortbildungen, d.h. innerhalb des Deutschen ganz oder teilweise mit entlehnten Komponenten neugebildeten Wörtern wichtig. In seinem herkömmlichen Verständnis, das das Merkmal ‘(fremde) Herkunft’ so sehr hervorhebt, hat der Begriff des Fremdworts den Blick auf diesen Bereich deutscher Wortbildung weitestgehend versperrt. Wie bereits erwähnt, wurde der Begriff hauptsächlich aus diesem Grund während der Fertigstellung des Fremdwörterbuchs immer problematischer. Als wichtigstes Nachfolgeprojekt wurde deshalb das Vorhaben „Lehn-Wortbildung“ in Angriff genommen, das die Erarbeitung eines Lexikons der deutschen Lehn-Wortbildung zum Hauptziel hatte. Dieses Vorhaben schloss sich zugleich ergänzend an die grundlegenden Untersuchungen zur deutschen Wortbildung an, vor allem an die Untersuchungen zur Ableitung und Komposition, die in der Innsbrucker Außenstelle des IDS erarbeitet wurden. 5 Erster Schwerpunkt der Überlegungen in den ersten Projektjahren waren im Bereich der Ableitung die Regularitäten der Kombinierbarkeit entlehnter Präfixe und Suffixe mit entlehnten oder indigen deutschen Basiswör- 5 Vgl. den Beitrag von Ortner/ Ortner/ Wellmann (in diesem Band). <?page no="144"?> Alan Kirkness 144 tern oder einheimischer Affixe mit entlehnten Basen. Zweiter Schwerpunkt waren die komplexen Sprachzeichen bzw. Kombinationen, die weder als Ableitungen noch als Zusammensetzungen im herkömmlichen Verständnis eingestuft werden konnten, weil sie aus (mindestens) zwei nicht selbständigen, sondern nur gebunden vorkommenden entlehnten Wortbildungseinheiten bestanden. Beispiele sind Bibliothek, Geographie, Soziologie, Graphologie, Phonogramm, Grammophon, Thermometer u.a.m. Diese können aus dem klassischen Lateinischen oder Griechischen, aus dem Mittel- oder vor allem Neulateinischen, oder aus einer modernen Fremdsprache entlehnt, oder aber eben im Deutschen gebildet werden und somit zu den Lehnwortbildungen gehören. Es ging darum, nicht nur bei den Kombinationen Entlehnungen von Lehnwortbildungen zu unterscheiden, sondern auch die im Deutschen verfügbaren bzw. disponiblen Wortbildungseinheiten näher auf ihre Entstehung (in den allermeisten Fällen entstanden sie durch innerdeutsche Morphematisierung, nicht durch Entlehnung) und ihre Verwendung hin zu untersuchen. Für die nur gebunden vorkommenden Wortbildungseinheiten wurde der von Günter Dietrich Schmidt neugeprägte Terminus „Kombinem“ als Oberbegriff eingeführt (Schmidt 1987). Vorrangiger Untersuchungsgegenstand waren somit Lehnkombineme und die damit gebildeten Kombinationen bzw. komplexen Sprachzeichen. Es zeigte sich außerdem, dass Lehnkombineme wie therm(o)-, -(o)therm, graph(o)-, -logie u.a., ganz anders als etwa Präfixe und Suffixe, auch als (gebundene) Basen in Ableitungen fungieren und zum Teil auch sowohl als erste wie als zweite Konstituente auftreten konnten, z.B. Diathermie oder thermisch, Graphologie oder Logographie. Sie konnten ebenfalls mit Kompositionsgliedern, Bestimmungs- oder Grundwörtern kombiniert werden, z.B. Jazzophilie oder Thermohosen. Es war also erforderlich, solche Wortbildungseinheiten von den Affixen zu unterscheiden. Dafür wurde der aus dem Französischen übernommene Terminus „Konfix“ eingeführt. In den folgenden Projektjahren ging es darum, am reichhaltigen Wortmaterial die neue Terminologie und Begrifflichkeit empirisch auf ihre Tragbarkeit und Angemessenheit zu überprüfen und einzelne Lehnkombineme sowohl historisch-entwicklungsbezogen als auch gegenwarts- und zustandsbezogen zu untersuchen. Das Lexikonvorhaben wurde nicht realisiert, es entstanden aber am IDS eine Reihe von historisch-entwicklungsbezogen ausgerichteten Studien zu einzelnen Lehnkombinemen bzw. entlehnten Wortbildungseinheiten, die nur gebunden vorkommen; namentlich von Isolde Nortmeyer, Michael Kinne und insbesondere von Gabriele Hoppe, die mehrere richtungweisende <?page no="145"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 145 Beiträge geliefert hat (Nortmeyer 2000; Kinne 2000; Hoppe 1999, 2000, 2005). Auch außerhalb des Instituts erfreute und erfreut sich die Lehnwortbildung zunehmender Aufmerksamkeit, beispielsweise bei Horst Haider Munske und dessen Schüler(inne)n in Erlangen oder Rolf Bergmann und dessen Schüler(inne)n in Bamberg. Es zeigt sich, dass die Lehnwortbildung im Deutschen ein regelhaftes sekundäres deutsches Wortbildungssystem bildet - vor allem in der Bildungssprache und in naturwissenschaftlichen Fachsprachen -, das neben dem primären, einheimischdeutschen Wortbildungssystem besteht. Die deutschen Lehnwortbildungen sind hinsichtlich ihrer Herkunft keine Fremdkörper, sind sie doch im Deutschen entstanden. Außerdem kommen sie teilweise nur im Deutschen vor, d.h., sie treten in keiner anderen Sprache auf, aus der sie ins Deutsche entlehnt werden könnten. Deshalb eignet sich m.E. zu ihrer Bezeichnung der Terminus Fremdwort nicht. Ein Weiteres kommt hinzu, nämlich die häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen Fremdwörtern, die nicht oder nur teilweise assimiliert sind, und Lehnwörtern, die (voll) assimiliert bzw. eingebürgert sind. Während der Fertigstellung des Fremdwörterbuchs zeigte sich jedoch, dass es bei den behandelten neuhochdeutschen Fremdwörtern völlig unmöglich war, eine begründete Trennung zwischen beiden Kategorien zu erzielen. Es boten sich hierfür weder Einzelkriterien noch Kriterienbündel an, die sich systematisch anwenden und auf einen etwaigen Übergang vom Fremdwort zum Lehnwort schließen ließen. Die wesentlichen Fragen - was sollten die Kriterien sein, wie sollten sie gegeneinander gewichtet werden, und welches Zusammenspiel welcher Kriterien sollte dafür den Ausschlag geben? - blieben unbeantwortet. Ebenfalls unbeantwortet blieb die Frage, ob gleiche Kriterien für alle Fremdwörter, gleichgültig welcher Herkunftssprache, d.h. für Latinismen, Gallizismen oder Anglizismen gleichermaßen, gelten sollten. Hier steckt die Integrationsforschung noch in den Anfängen. Dazu kommt, dass im Bereich der Lehnwortbildungen eine solche Unterscheidung kaum sinnvoll erscheint; werden diese doch innerhalb des Deutschen, formal also gewissermaßen schon völlig assimiliert, geprägt. Als vorläufiges Fazit dieser historisch-diachronen Überlegungen zum Fremdwortbegriff bietet sich meiner Meinung nach ein Oberbegriff Lehngut an, der drei hauptsächliche Kategorien umfasst: Lehnprägungen, Wortentlehnungen und Lehnwortbildungen. Es wäre durchaus möglich und sinnvoll, diese drei Kategorien zu untergliedern, dies würde hier jedoch zu weit führen. Lexikographisch betrachtet wäre es naheliegend, etwa zwischen einem Wörterbuch <?page no="146"?> Alan Kirkness 146 des deutschen Lehnguts insgesamt, einem Wörterbuch der Lehnprägungen, einem Wörterbuch der Wortentlehnungen, und einem Wörterbuch der Lehnwortbildungen zu unterscheiden. Welches Lehnwörterbuch man auch immer wählt, es würde auf jeden Fall in puncto Stichwortauswahl und -aufnahme anders und m.E. wissenschaftlich fundierter sein als ein Fremdwörterbuch im herkömmlichen Sinn. 4. Schluss Die sprachgermanistische Erforschung des Fremdworts ist natürlich seit Fertigstellung der Erstbearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuchs weiter fortgeschritten, beispielsweise im Rahmen der Essener Internationalismusforschung von Peter Braun, Andrea Kolwa, Burkhard Schaeder und Johannes Volmert (Braun/ Kolwa/ Schaeder/ Volmert (Hg.) 1990/ 2003). Speziell in der Lexikographie nehmen heutzutage, wie bereits erwähnt, die allgemeinen einsprachigen Wörterbücher des Deutschen die Fremdwörter grundsätzlich auf und beschreiben sie im Zusammenhang des deutschen Wortschatzes. Wozu also noch gesonderte Fremdwörterbücher? Wenn es um semantischpragmatisch begründete Verständnisschwierigkeiten geht, ist Spezialwörterbüchern des Wissenschafts- und Bildungswortschatzes der Vorzug zu geben. In der Neubearbeitung des Grimm'schen „Deutschen Wörterbuchs“ (Grimm 1965ff.), die sich konzeptionell an die nach 1930 bearbeiteten Wortstrecken der Erstbearbeitung anlehnt, aber auf einer völlig neuen Quellen- und Belegbasis beruht und neuere lexikologische Forschungsergebnisse mit berücksichtigt, werden die Fremdwörter prinzipiell genauso wie indigen deutsche Stichwörter behandelt. Die Neubearbeitung wird allerdings nur die Buchstaben A bis F umfassen; es bleibt also eine merkliche Lücke in der modernen lexikographischen Erfassung des neuhochdeutschen Wortschatzes. Am IDS wird das Deutsche Fremdwörterbuch derzeit völlig neu bearbeitet, wobei sich die bislang zum Buchstaben F gediehene Neubearbeitung (DFWB 1995ff.) konzeptionell und materiell an die Erstbearbeitung der Buchstaben R bis Z (DFWB 1977-1988) anlehnt. <?page no="147"?> Deutsches Fremdwörterbuch R-Z: Rückblick und Ausblick 147 5. Literatur Braun, Peter/ Kolwa, Andrea/ Schaeder, Burkhardt/ Volmert, Johannes (Hg.) (1990/ 2003): Internationalismen. Studien zur interlingualen Lexikologie und Lexikographie. 2 Bde. Tübingen. (= Reihe Germanistische Linguistik 246). Brunt, Richard J. (1983): The Influence of the French Language on the German Vocabulary (1649-1735). Berlin/ New York. (= Studia linguistica Germanica 18). Carstensen, Broder/ Busse, Ulrich (2001): Anglizismen-Wörterbuch: der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945. Begr. von Broder Carstensen. Fortgef. von Ulrich Busse. 3 Bde. Berlin. DFWB (1977-1988): Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Weitergeführt am Institut für deutsche Sprache. Berlin/ New York. [Bde. R-Z, Quellenverzeichnis, Wortregister, Nachwort]. DFWB (1995ff.): Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. 2. Aufl., völl. neubearb. im Institut für Deutsche Sprache. Berlin/ New York. [Bislang ersch.: Bde. A-F]. Duden-Fremdwörterbuch (2005): Duden-Fremdwörterbuch. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Hrsg. von der Dudenredaktion. 8., neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich. (= Der Duden 5). Ganz, Peter F. (1957): Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz 1640-1815. Berlin. Grimm (1965ff.): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearb. Bd. 1-6 hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zus.arb. mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Ab Bd. 7 hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Leipzig/ Stuttgart. Grimm (2004): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Hrsg. vom Kompetenzzentrum für Elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Hoppe, Gabriele (1999): Das Präfix ex-. Beiträge zur Lehn-Wortbildung. Mit einer Einführung in den Gegenstandsbereich von Gabriele Hoppe und Elisabeth Link. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 15). Hoppe, Gabriele (2000): Aspekte von Entlehnung und Lehn-Wortbildung am Beispiel -(o)thek. Mit einem Verzeichnis französischer Wörter auf -(o)thèque und Anmerkungen zu Eingangseinheiten von -(o)thek-Kombinationen. Mannheim. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 00). <?page no="148"?> Alan Kirkness 148 Hoppe, Gabriele (2005): Für und wider. Bd. I: pro- ‘für’. Semantisches Paradigma: Freund, Feind, freundlich, feindlich. Zur Geschichte ihrer reihenbildenden Produktivität. Etymologisches Paradigma: pro ‘vor’, prot(o)-. Mit Anmerkungen zu Teilsynonymen und Antonymen. 2 Teilbde. Mannheim. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 5/ 05). Jones, William Jervis (1976): A Lexicon of French Borrowings in the German Vocabulary (1575-1648). Berlin/ New York. Kinne, Michael (2000): Die Präfixe post-, prä- und neo: Beiträge zur Lehn-Wortbildung. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 18). Kluge, Friedrich (Hg.) (1911 [1973]): Seemannsprache. Wortgeschichtliches Handbuch deutscher Schifferausdrücke älterer und neuerer Zeit. 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[...] Die heute normierten Regeln sind aufgrund ihrer historischen, vielen Zufällen unterworfenen Entwicklung in vielen Bereichen außerordentlich kompliziert und unhandlich. Ziel einer Reform müssen daher einfachere Regeln sein, die praktikabel für die Benutzer sind und sowohl den Gesichtspunkt des Lesens als auch den des Schreibens von Texten berücksichtigen. (Aus dem Neun-Punkte-Programm der Arbeitstagung zur Orthographie 1979 IDS ; Rechtschreibreform 1979, S. 129). 1 Die für diesen Beitrag und für die folgenden Beiträge von Mentrup und Bankhardt angeführte Literatur ist im Anschluss an die Beiträge insgesamt zusammengestellt (siehe unten S. 221ff.) und dabei chronologisch mit Bezug auf das Erscheinungsjahr angeordnet, um sowohl die zeitliche Aufeinander- und Abfolge als auch die zeitliche Parallelität, das zeitgleiche Nebeneinander von Ereignissen augenfällig zu machen. 2 Hic Angewandte Linguistik - Illic Systemlinguistik: Damit greife ich eine der Dichotomien von Leitbegriffen auf, die in der Einladung, an diesem Band mitzuwirken, als Anregung vorgegeben sind; wobei, auch in den folgenden Beiträgen von Mentrup und Bankhardt, weitere Dichotomien mit ins Spiel kommen; so insbesondere die Dichotomie Hic Synchronie - Illic Diachronie, die auch in dem gemeinsamen Literaturverzeichnis zu den drei Beiträgen dokumentiert ist und vor Augen geführt wird. 3 Die Kombination pragmatischorientiert (etwa in Klein 1991, S. 87 „pragmatischorientierte Lexikographie“) reicht, streng genommen, nicht aus. Denn wenn im Felde der theoretischen Linguistik, der Systemlinguistik eine Grammatik geplant und verfasst wird, so hat auch dieses Unternehmen seine ihm eigentümliche Pragmatik; wobei die Redeweise vom „Alltag“ extrem pauschal ist, denn ‘der’ Alltag hat natürlich viele Gesichter. <?page no="152"?> Wolfgang Mentrup 152 Aus dieser programmatischen Standortbestimmung ergeben sich als besonders interessierende Größen der hier spezifischen Konstellation: • als Bearbeiter die Mitglieder der Kommission für Rechtschreibfragen des IDS = Vertreter verschiedener Zweige der Geisteswissenschaft; • als Gegenstand der Bearbeitung die weither überkommene, 1901 amtlich normierte Regelung unter Berücksichtigung ihrer ausdifferenziert expansiven Weiterführung insbesondere im ‘Duden’; • als Adressaten und potenzielle Benutzer/ Anwender speziell Schulen und Behörden sowie allgemein die Mitglieder der deutschen Schreib- und Lese-, der deutschen Schriftgemeinschaft im In- und im Ausland; • als Zweck die Vereinfachung der Regelung und deren bessere Handhabbarkeit für den Anwender; • als hintergründige Entscheidungsinstanz die Kultusministerkonferenz ( KMK ) und der Bundesmininister des Innern ( BMI ) als staatliche Stellen mit Regelungskompetenz für Schulen und Behörden. Ausführlich zu diesem Feld vgl. unten den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt. Für primär phonematisch und graphematisch oder auch für speziell historisch orientierte Studien wie „C2 Diskurs und Mündlichkeit“ und „C3 Text und Schriftlichkeit“ (Hoffmann; in IDS-Grammatik 1997) bzw. wie Orthographie (Mentrup; in Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2003) trifft diese Standortbestimmung nicht zu. 4 Der auf den Alltag hin orientierte Wissenschaftszweig, dessen Ursprung und Wurzeln weit zurückreichen, ist dem IDS auch sonst nicht fremd, wie die folgende Erinnerung zeigt. 5 4 Vergleiche auch: „Die IDS -Grammatik ist als wissenschaftliche Grammatik mit systematischem Erklärungsanspruch konzipiert“ mit der „Zielgruppe ›Sprachinteressierte mit Vorkenntnissen‹ (2)“. Sie „ist - kurz gesagt - eine Grammatik von Sprachwissenschaftlern für Sprachwissenschaftler“ (Eschenlohr 1999). 5 Zur Einbettung der hier aufgerufenen Unternehmen in den (Zeit-)Rahmen der IDS -Wortschatzforschung insgesamt und zu weiteren Gesichtspunkten wie Korpora und Datenbanken vgl. den Beitrag von Haß (in diesem Band). <?page no="153"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 153 2. Ausweitende Erinnerung: Lexikographie im Wechselspiel mit Lexikologie 2.1 Die Vision: Kommunikative Versöhnung von Fachsprachen und Gemeinsprache Mit der Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache im Frühjahr 1975 (Probleme der Lexikologie und Lexikographie) wird, initiiert von Harald Weinrich in seinem Vortrag Die Wahrheit der Wörterbücher, das Projekt Interdisziplinäres deutsches Wörterbuch Gegenstand des intensiven wissenschaftlich-kollektiven Nachdenkens. Die Ausgangslage: Im 19. und 20. Jahrhundert haben durch tiefgreifende Umwälzungen in Wissenschaft und Technik die Differenzierung, die Zahl und die Bedeutung der Fachbereiche eine bis dahin unbekannte Dimension angenommen. Mit der Entfaltung der Fachbereiche einher geht eine explosionsartige Ausfächerung der Fachsprachen, mit erheblichen, (wenn man so sagen will: ) turbulenten Ein- und Auswirkungen auf die Gemeinsprache. Die Schlussfolgerung: Als Konsequenz sei eine neue Form interdisziplinärer Lexikographie im Wechselspiel mit der Lexikologie - umgesetzt in einem großen interdisziplinären Kommunikations-Lexikon als Dokumentation der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts - zur Abhilfe der tiefgehenden Kommunikationsstörungen, wie es heißt, zwischen Gemeinsprache und Fachsprachen notwendig (Weinrich 1976), oder pathetischer formuliert: zu deren kommunikativer Versöhnung. Ende 1975 bis Anfang 1977 finden fünf Colloquien mit interdisziplinärer Besetzung statt, von der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg, finanziert und gemeinsam von der Stiftung und dem IDS veranstaltet. Die vorläufige Systematik allein der fach(sprach)lichen Komponente umfasst zehn Großbereiche, die ihrerseits in drei bis hin zu elf einzelne Fach- und Wissenschaftszweige untergliedert sind (Henne/ Weinrich 1976; Mentrup 1976/ 1977). Dieser Zeitpunkt - gewissermaßen als Neuanfang, als gemeinschaftlicher Aufbruch in einen neuen lexikologisch-lexikographischen Horizont erlebt - ist geprägt von einer interdisziplinär wissenschaftlichen Begeisterung, von einem euphorischen Enthusiasmus aller Beteiligten, der auch die Überlegungen und die Planungen in den folgenden Jahren beflügelt. <?page no="154"?> Wolfgang Mentrup 154 1978 erscheint der Band Interdisziplinäres Wörterbuch in der Diskussion. Die komplexe Thematik dieses Großprojektes ist in den 20 Bad Homburger Thesen programmatisch eingefasst und in sechs Schwerpunkten eingegrenzt (Interdisziplinäres Wörterbuch 1978, S. 281-284 bzw. S. 7-9); in Teilaspekten konkretisiert in den auf den Colloquien vorgelegten Arbeitspapieren und gehaltenen Referaten, von denen eine Auswahl in dem Band veröffentlicht ist. Als wesentliche Größen der hier spezifischen Konstellation ergeben sich: • als Autoren ein großes interdisziplinär zusammengesetztes Team (These 13); • als Gegenstand der Erarbeitung ein großes Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (These 1); • als Gegenstand der Beschreibung allgemein die deutsche Standardsprache und ihre Fachsprachen; speziell bei diesen - unter Ausklammerung der fachinternen Kommunikation - die interfachliche und die fachexterne Kommunikation einer sehr großen Anzahl von Sach- und Fachbereichen (These 3, 15); • als Adressaten und potenzielle Benutzer die Laien und die Fachleute der verschiedenen Disziplinen im In- und im Ausland (These 11); • als Zweck: „Das Wörterbuch soll die Laien in die Lage versetzen, sich fachlich zu informieren, und es soll den Fachleuten helfen, sich Laien verständlich zu machen.“ (These 11). Erste Überlegungen zur Organisation legen u.a. fest, dass zwischen diesem Wörterbuchunternehmen und dem IDS eine Verbindung hergestellt werden soll, die einerseits dieses Unternehmen an das Institut anbindet, um die Nutzung der dort gegebenen Arbeitsvoraussetzungen zu gewährleisten, die aber andererseits seine Besonderheit deutlich heraushebt; wobei in der Konkurrenz variativer Ausdrücke wie in Verbindung mit dem vs. in Anbindung an das vs. am oder im oder beim Institut die vielschichtige Gemengelage unterschiedlicher Interessen zu Worte kommt, was in Planungssituationen dieser Art auch anderenorts zu beobachten ist. Das mit diesem Programm ins Zentrum gerückte Grundproblem, nämlich Fachsprachen und Gemeinsprache in ihrem ungeklärten Verhältnis zueinander, wird, wie schon 1977 angekündigt (Ankündigung 1977), Thema der IDS-Jahrestagung im März 1978 (Fachsprachen 1979). In den Vorträgen und Diskussionen geht es u.a. um folgende Themen: - (mehr allgemein) Aktualität der Fachsprachenforschung sowie Kommunikationskonflikte und Fachsprachengebrauch; <?page no="155"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 155 - (spezieller) Kommunikationsdifferenzierung in der Industrie, in der Medizin und im Rechtswesen; - (mit Blick auf Texte im jeweiligen Alltag) Fachsprachliches Vokabular in Zeitungstexten sowie Fachsprache und Gemeinsprache in Lehrtexten; - (mit Blick auf fachliche Texte) Verständliche Gestaltung von Fachtexten. Aber wie in der Geschichte der Lexikographie schon häufig zuvor: Das äußerst weit gespannte und höchst anspruchsvolle Programm des Interdisziplinären Wörterbuchs lässt sich allein schon aus finanziellen Gründen nicht verwirklichen. Doch das so deutlich aufgezeigte Grundproblem bleibt, positiv metaphorisch, virulent und hält die Beteiligten weiterhin in Atem. 2.2 Konkretisierungen - Trennung der Wege 2.2.1 Handlungsausschnitt: Sach-, Gebrauchstexte für Laien - Einfluss auf Textproduzenten? Das geschärfte Bewusstsein von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Differenzierung fach(sprach)licher Kommunikation rückt - unter Ausklammerung der Kommunikation zwischen Fachleuten eines Faches (fachintern) und zudem der zwischen Fachleuten unterschiedlicher Fächer (interfachlich) - die fachexterne Kommunikation zwischen Fachleuten (Experten, Fachjournalisten) auf der einen Seite und ‘normalen Sprachbenutzern’ (den jeweiligen Laien, den Nichtfachleuten auf vielen Gebieten) auf der anderen Seite und im Verein damit Sach-, Gebrauchstexte für den (g)rauen Alltag 6 in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Im Oktober 1979 veranstaltet das Institut für Deutsche Sprache auf Anregung seiner Kommission für Fragen der Sprachentwicklung und gemeinsam mit ihr eine Tagung zu dem Thema Bürger - Formulare - Behörde. In dem verabschiedeten Fünf-Punkte-Programm heißt es zu der hier spezifischen Konstellation (Bürger 1980, S. 122): Vordrucke (Formulare) sind im Kommunikationskreis ›Behörde → Bürger → Behörde ...‹ unentbehrlich. Bei ihrer Gestaltung sind deshalb grundsätzlich sowohl die Erfordernisse der Behörden als auch die der Bürger zu berücksichtigen, und zwar nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel und des Zwecks. Da die Behörden für die Bürger und nicht die Bürger 6 Nach der alten Schreibung, Hic grau - Illic rauh, sähe dies so aus: für den (g)rau(h)en Alltag; vergleichbar bisher wie neu: Der Maler und der Müller - beide ma(h)len. <?page no="156"?> Wolfgang Mentrup 156 für die Behörden da sind, muß neben der fachlichen Richtigkeit die Bürgernähe [...] ein zentraler Gesichtspunkt sein. 7 Und wie es dann so selten ja nicht ist: Die „Problematik der Kommunikation zwischen Amt und Bürger“ führt „zwangsläufig zum Hinweis auf zwei weitere Textsorten [...], die ebenfalls in großer Menge produziert werden und zur täglichen Lektüre zwingen [...: ] die Packungsbeilage der Pharmaka und die Gebrauchsanweisung“ (Grosse 1982, S. 7); wobei deren Lektüre, und auch die der Formulare, nicht freiwillig erfolgt wie etwa die von Krimis etwa im Urlaub, sondern unter dem alltäglichen Zwang steht, sich kundig zu machen, wie man z.B. einen Videorecorder sachgerecht bedient oder, was lebensnotwendiger ist, ein Arzneimittel befindlichkeits- und therapiegerecht anwendet. Auf der 1981 stattfindenden Tagung Anweisungstexte (Anweisungstexte 1982) geht es in den Vorträgen und Diskussionen insbesondere darum: - entsprechende Handlungsräume und speziell die durch die Sach-, Gebrauchstexte gestifteten Handlungsausschnitte auszuleuchten hinsichtlich etwa fachinterner (Gesetzes-)Vorgaben und Handlungsabläufe sowie juristischer Implikationen; - die Texte zu analysieren mit Blick auf graphische Gestaltung, auf Aufbau, Gliederung und Satzbau; - das Vokabular der Texte zu klassifizieren mit Blick insbesondere auf den fachsprachlichen Anteil und auf dessen textimmanente Erläuterungen; - Gesichtspunkte für eine dem Laien als Adressaten und Benutzer angemessen- (er)e Gestaltung solcher Texte zusammenzustellen. Das Augenmerk beider Tagungen richtet sich insbesondere auf die Textproduzenten in ihrer Praxis, um über diese auf die auch sprachliche Gestaltung der Texte Einfluss zu nehmen. Augenfällig wird damit, dass auch die Linguistik ein zunehmendes Interesse an praxisbezogener Forschung entwickelt und im Verein u.a. mit der Verständlichkeitsforschung an für den Rezipienten eingängig(er)en Darreichungsformen der Texte mitwirkt; was, bezogen auf die Texte insgesamt, zu wesentlichen Verbesserungen führt (vgl. auch Liebert/ Schmitt 1998). 7 Stand die Kluft Hic Alltagswelt des Bürgers - Illic Welt der Verwaltung auch im Mittelpunkt, so baute das forsch-zackige Statement eines IDS -Theoretikers: ‘Wir betreiben reine Systemlinguistik; alles andere ist uns schnurz.’, in der Abschlussdiskussion unversehens ein weiteres Spannungsfeld auf: Hic abstrakte Theorie - Illic konkrete Praxis. Das dadurch unversehens bei vielen Teilnehmern entstandene Gefühl der Verunsicherung wurde jedoch durch die während der Tagung entstandene Sensibilisierung beider Seiten für den Standpunkt der jeweils anderen mehr als aufgewogen (Mentrup 1980a, S. 124). <?page no="157"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 157 Darin jedoch speziell mit Blick auf das Vokabular ein Patentrezept zu sehen, erscheint, um auch einmal biblisch zu werden, als eine nostalgische Hoffnung auf die Rückkehr der vor-babylonischen Zeit, in der alle dieselbe Sprache sprechen und in der Überlegungen zu sprachbedingten Kommunikationsstörungen keinen Grund und ein interdisziplinäres Wörterbuch keine Notwendigkeit gehabt haben dürften. Solange es Fachbereiche in ihrer expansiven Spezifizierung, solange es fachliche Mehrsprachigkeit gibt, wird es die fachexterne Kommunikation geben mit sach- und fachorientierten Wörtern, die für Laien schwierig sind. Zumal die Produzenten bei der Abfassung z.B. von Packungsbeilagen gebunden sind an die gesetzliche Vorgabe, alle Angaben wie etwa Nebenwirkungen in sachlich gebotener Genauigkeit zu machen, was nicht mit einer zwar fachlich unterfütterten, dabei aber inhaltlich vagen Lyrik, sondern nur mit juristisch hieb- und stichfesten Fachtermini möglich ist, um Haftungsklagen und Schadenersatzverpflichtungen von vorneherein auszuschalten (Mentrup 1994). Dieses Arbeitsfeld bleibt der Linguistik also erhalten. 2.2.2 Sprach- und Wörterbuchausschnitt: Gebrauchswörterbuch für Laien über Sach-, Gebrauchstexte für Laien - Aufklärung und Information: Schwere Wörter Und so erscheint im Sinne einer offenbar immanent waltenden Logik der nächste Schritt, die Konzentration auf das Vokabular solcher Texte, als nahezu unausweichlich. Vollzogen wird er im Februar 1981 im Institut für Deutsche Sprache auf dem Colloquium Lexikographische Konzepte (Konzepte 1982), u.a. mit Beiträgen zur Medizin, zur Politik und zur Wirtschaft. In diesen Studien zur Bedeutungserklärung in einsprachigen Wörterbüchern geht es darum: - aus fachexternen Texten den fach- und sachbestimmten Sprachausschnitt, der dem Laien mutmaßlich Verständnisschwierigkeiten macht, zusammenzustellen und lexikologisch aufzubereiten; - in Wörterbüchern, der vorfindlichen lexikographischen Praxis, die entsprechenden Wörterbuchausschnitte zu analysieren, miteinander zu vergleichen und unter dem Gesichtspunkt auszuwerten: Was nutzt das in welcher Situation welchem Wörterbuchbenutzer? ; - ein Konzept als Alternative zu entwickeln und in Probeartikeln umzusetzen. 8 8 Zu in der Struktur analogen Unternehmungen auf dem Felde der Orthographie vgl. unten den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 2.1.1. <?page no="158"?> Wolfgang Mentrup 158 Doch auch damit ist diese Geschichte, wie man in Westfalen so sagt, noch immer nicht am krusen Eikelbömken; also immer noch nicht in trockenen Tüchern. Denn all dies führt im IDS, quasi in Form einer Kettenreaktion, zunächst zu einem verschärften Blick auf Wortschatz-bedingte Probleme des Laien in diesen Sach-, Gebrauchstexten, d.h. auf Gruppen von Ausdrücken aus Fach- und Wissenschaftssprachen, oft in Gestalt von ‘Fremdwörtern’ (Lehnwortbildungen); im Weiteren zu der nicht unumstrittenen festsetzenden Benennung des als Phänomen schon seit langem bestehenden Problembereichs mit schwere Wörter als ‘schwerverständliche, inhaltlich/ semantisch schwer zu verstehende Wörter’ (Ankündigung 1981); in Fortsetzung zu dem Entschluss, ein Handbuch der schweren Wörter in die Planung aufzunehmen und dessen Vorbereitung innerhalb der damaligen Abteilung Grammatik und Lexik zwei Arbeitsgruppen zu übertragen (Fachexterne Kommunikation und Lehnwortbildung); und am (vorläufigen) Ende, März 1982, zu der IDS-Jahrestagung Wortschatz und Verständigungsprobleme (Wortschatz 1983), um das zwar benannte, in seiner Reichweite jedoch noch längst nicht abgesteckte, geschweige denn gelöste Problem in einem größeren Kreis zu diskutieren: Was sind ‘schwere Wörter’ im Deutschen? Und verständlicherweise stellt sich assoziativ die Erinnerung ein: „Wie die Zeiten sind / so sind auch die Wort; und hinwiederumb wie die Wort sind / so sind auch die Zeiten.“ (Moscherosch 1643, S. 5) (Henne/ Mentrup 1983, S. 7-10 „1. Zur Lage“). Das reduzierte Programm umfasst als allgemein und gesellschaftlich wichtige Sach- und Fachbereiche Politik, Recht und Verwaltung, Wirtschaft, Medizin, Wissenschaft und Technik. Die asymmetrische Kommmunikationssituation ist gestiftet durch alltagsrelevante Sach-, Gebrauchstexte mit für Rezipienten schweren Wörtern, deren richtiges Verständnis existenziell wichtig, ja: oft lebensnotwendig ist. Die noch bestehende zentrale Lücke wird indiziert durch die bisher noch unbeantwortete Frage: Wo findet, wie bestimmt denn eigentlich der Lexikograph die für den Laien schweren Wörter? Nun - Das Missing link ist der Laie selbst, d.h. seine Reaktion auf ihm auffällig gewordene Wörter, mit denen er sich in seinem Alltag konfrontiert sieht und sich herumschlägt. Lexikalisch bedingte Kommunikationsstörungen erlebt man in alltäglichen Gesprächen wie: A: „Mein Mann hat neuerdings Prokura.“ - B: „Was sagt denn der Arzt? “; was A mit ironischem Mundverzug quittiert haben mag. <?page no="159"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 159 Empirisch greifbar(er) sind sie in sprachreflexiven, wortproblematisierenden Reaktionen von Textrezipienten, die sich in Sprachanfragen und Leserbriefen, in Sprachglossen und Sprachartikeln niederschlagen und die sich nicht selten ausweiten zu öffentlichen Diskussionen über die Sprache etwa der Amtlichkeit oder der Pharmazie: Laien als Gewährsleute und Einstiegs- Zulieferer schwerer Wörter für den Lexikographen. 9 Komplementär zu diesen Erhebungen und diese begleitend steht die lexikologische Analyse mit Blick u.a. auf je spezifisch systematische Merkmale (etwa der Lehnwortbildung), auf die merkmalgesteuerte Klassifizierung (vgl. Angina, Prostata, Prokura) und auf die Strukturierung des ermittelten Vokabularausschnitts, gefolgt von der lexikographischen Umsetzung. Als wesentliche Größen der hier spezifischen Konstellation ergeben sich: • als Autoren zwei kleinere Arbeitsgruppen im IDS ; • als Gegenstand der Erarbeitung ein Wörterbuch für den Gebrauch insbesondere im Alltag; • als Gegenstand der Beschreibung schwere, Verstehens- und Verständnisprobleme verursachende Wörter in alltagsrelevanten Sach-, Gebrauchstexten aus einer begrenzten Anzahl von Bereichen; • als Adressaten und potenzielle Benutzer die Laien auf vielen Gebieten; • als Zweck die Aufklärung über schwere Wörter zur Beseitigung oder auch zur Vermeidung von Verstehens- und Verständnisproblemen. Der Laie in seinem Alltag ist hier der zentrale Ort. Es ist wie der Ort als Spitze des Speeres, auf den hin sich alles richtet, der alles einholend in sich versammelt (nach Heidegger 1953, S. 226). Ob der Alltag eines Professors oder der Alltag eines Taxifahrers - bei aller Andersartigkeit ist der gemeinsame Nenner: Schwere Zeiten mit jeweils spezifisch schweren Wörtern. 9 Im weiteren Verfolg kommen, dadurch ausgelöst, kontrakonfliktäre Handlungen innerhalb der Fächer ins Blickfeld wie fachliche Glossare mit Erläuterungen für Laien (in Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren) sowie, in erneuter Ausweitung, einschlägig thematische wissenschaftliche Diskussionen und auch Sprachkritik, -pflege und -normierungsversuche; wobei, flankierend, gezielte Tests und Umfragen über Verstehens- und Verständnisschwierigkeiten (vgl. etwa Mentrup 1983a (1), 1983b) dienlich sind. <?page no="160"?> Wolfgang Mentrup 160 sprachreflexive Reaktion (Sprachproblematisierungssituation) Lexikograph/ Autor: Handbuch der schweren Wörter Sach-, Gebrauchstexte schwere Wörter (Sprachbenutzungssituation) Laie Alltag (Sprachproblemsituation) Wörterbuchbenutzer (Wörterbuchbenutzungssituation) In der öffentlichen Diskussion, möglicherweise ein Maßstab für die gesellschaftliche Relevanz auch solcher Unternehmen, werden 1982 von den Berichterstattern: - mit der Formulierung „Schwierige schwere Wörter“ die terminologischen und sachlichen Schwierigkeiten des Themas der Jahrestagung eingefangen; - mit „Lexikographie im Wandel“ der Wille gewürdigt, die Wortschatz- und Wörterbucharbeit den veränderten Bedingungen der modernen Welt anzupassen; - mit „Aufbruch in die allgemeinen Kommunikationsprobleme“ die Einsicht vermittelt, dass nicht nur Lexikologie und Lexikographie, sondern auch weitere Disziplinen wie etwa Textlinguistik und Verständlichkeitsforschung notwendigerweise beteiligt sind; - mit „Verständlichmachung und Verstehen“ das Verständnis dafür angezeigt, dass der Laie im Zentrum dieser praktischen lexikalischen Arbeit steht und diese sich auf den Laien und seine sprachlich hervorgerufenen Nöte einlassen muss. Die Überschrift „Mit Sysiphus als Patron? “ eines Zeitungsartikels stimmt in mehrfacher Hinsicht nachdenklich. Sisyphus (so die richtige Schreibung), der Frevler in der griechischen Mythologie, muss wegen seines Verrats an Zeus zur Strafe einen schweren Marmorstein einen steilen Berg hinaufwälzen. Doch wenn er sich schon auf dem Gipfel und am Ziel der Erlösung wähnt, rollt der tückische Stein wieder in die Tiefe hinunter und die Qual beginnt von neuem (Schwab 1974, S. 87). Stellt man Patron in der Bedeu- <?page no="161"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 161 tung ‘Schutzheiliger eines Berufsstandes’ hinzu, so ergibt sich: Sisyphus, Sinnbild für vergebliche, und also immer erneut zu beginnende Arbeit, als Schutzheiliger der Lexikographen; womit auf die unaufhaltsame Erweiterung der Fachwortschätze und auf den permanenten, (wahrscheinlich) vergeblichen Kampf um Aktualität von Projekten wie dem der ‘Schweren Wörter’ fragend aufmerksam gemacht sein mag (Henne/ Mentrup 1983, S.13-15, „3. Berichte und Ausblick“). 2.2.3 Am Scheidewege: Lexikon für sprachinteressierte Laien: Brisante Wörter - Lehnwortbildung - Pragmatik einer Alltags-orientierten Lexikographie In Folge gruppendynamischer Prozesse und damit gegebener Fliehkräfte trennen sich nunmehr die Wege. Gründe dafür liegen zwischen den Polen Hic kollektive Einbindung in ein großes Projekt - Illic individuelle Ausgestaltung des jeweils favorisierten Themas. Konkret im Spiel sind inkongruente Vorstellungen von der Organisation und unterschiedliche Arbeitsstile, personeller Wechsel in der Abteilungsleitung und divergierende, inkompatible Auffassungen über die Ausgestaltung des Konzepts ‘schwere Wörter’ sowie die Ausweitung der Beanspruchung durch die Orthographie mit Blick auf ihre Reform (dazu vgl. unten den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 2.3). In Fortführung der Linie ‘schwere Wörter’ wird der bisherige Grundstock der Bereiche eingeengt auf Politik, Kultur und Bildung, Umwelt, Medizin und Verwaltung (Haß/ Mentrup/ Wimmer 1986, S. 3). Im weiteren Verlauf verjüngt er sich 1989, bei gleichzeitiger Umbenennung von schwer zu brisant, im Lexikon Brisante Wörter zu 1. Politik und Ideologie, 2. Umwelt und 3. Kultur und Bildung. Der bisher offene Kreis der Laien als Adressaten wird zweifach eingeschränkt; zum einen durch das Attribut sprachinteressierte Laien, zum anderen durch deren Eingrenzung auf vier Berufsgruppen, nämlich Journalisten, Politiker, Lehrer oder Juristen (Brisante Wörter 1989, S. 9-10; vgl. auch Klein 1991, Schaeder 1991). Als wesentliche Größen der hier spezifischen Konstellation ergeben sich: • als Autoren eine kleine Arbeitsgruppe im IDS (drei Autoren und zwei Mitautoren); • als Gegenstand der Erarbeitung ein Wörterbuch zum und für den öffentlichen Sprachgebrauch; <?page no="162"?> Wolfgang Mentrup 162 • als Gegenstand der Beschreibung brisante, in der kommunikativen Auseinandersetzung in der Gesellschaft konfliktträchtige Wörter aus drei Bereichen; • als Adressaten und potenzielle Benutzer sprachinteressierte Laien, Journalisten, Politiker, Lehrer oder Juristen; zudem, unter einem anderen Aspekt, Wörterbuchmacher; • als Zweck die Aufklärung über Verwendungsweisen brisanter Wörter zur Beseitigung oder auch zur Vermeidung von Verstehens- und Verständigungsproblemen bzw. Anregungen für eine Verbesserung lexikographischer Konzepte und Darstellungsweisen. Die beiden anderen Linien, nämlich Lehnwortbildung und Pragmatik einer Alltags-orientierten Lexikographie, markiere ich hier punktuell mit Lehnwortbildung (1987) bzw. Mentrup (1988). Dass diese Linie nicht abbricht, zeigen exemplarisch der Sammelband Sprache im Alltag, Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik (2001) und darin speziell der Beitrag Fachsprache im Alltag: Anleitungstexte (Schaeder 2001) sowie der Artikel Texte in Medizin-orientierter Kommunikation (Mentrup 2001). 2.3 Das IDS: Entpersonalisiertes Erscheinungsbild - Die Mitarbeiter - Wechselspiel mit Externen „Das Institut für Deutsche Sprache“, „im IDS“ oder auch „Arbeitsgruppen“: Hypostasierende Redeweisen wie diese führen zu einem eigentümlich entpersonalisierten Erscheinungsbild - Institutionen gewissermaßen ohne individuelle(s) Gesicht(er) - und verstellen den Blick auf eingebundene Mitarbeiter als mitverantwortliche Akteure. 10 An den oben dargestellten Unternehmen und Ereignissen sind beteiligt: Angelika Ballweg-Schramm, Gisela Harras, Ulrike Haß, Gabriele Hoppe, Michael Kinne, Alan Kirkness, Jaqueline Kubczak, Elisabeth Link, Wolfgang Mentrup, Isolde Nortmeyer, Günter Dietrich Schmidt, Gerhard Strauß, Gisela Zifonun. 10 Dies mag den Gründervätern, oder generationsgerechter: den Gründergroßvätern des IDS und den Mitgliedern des Kuratoriums über die Zeit hin möglicherweise ja durchaus recht sein und ins Gesamtbild passen. Dies ist, und dies im Jahre 1981, bestimmt von der asymmetrischen Polarität Hic die „›Professorenkuratoren‹“ mit Freiheit der Forschung an der Universität (wobei die Pflicht zur Lehre nicht erwähnt wird), die für das IDS Forschungsziele setzen und Forschungsvorhaben benennen - Illic die Mitarbeiter des IDS als Auftragsempfänger und Vollzugsarbeiter freudlos und ohne Spaß. Dieser Eindruck entsteht bei der Lektüre des ersten Abschnitts im Beitrag von Haß (in diesem Band). <?page no="163"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 163 Die Beteiligung der Genannten ist zeitlich wie inhaltlich unterschiedlich, was ich hier nicht aufdröseln kann. Einen gewissen Einblick gibt die im Literaturverzeichnis angeführte Literatur über diesen Zeitraum. 11 Die Druckfassung vieler dieser Veröffentlichungen wird von Karin Laton erstellt. Das interdisziplinäre Wechelspiel zwischen dem IDS, seinen Mitarbeitern, und externen Wissenschaftlern sind mit den Jahres- und sonstigen Tagungen und den Sammelbänden augenfällig geworden. Sie zeigen sich auch in den wissenschaftlichen Beiräten der einzelnen Projekte: Beirat ›Lehnwort‹ Prof. Dr. Johannes Erben, Bonn - Prof. Dr. Manfred Höfler, Düsseldorf - Prof. Dr. Horst Munske, Erlangen - Prof. Dr. Peter von Polenz, Trier. Beirat ›Fachexterne Kommunikation‹ Dr. Rudolf Beier - Prof. Dr. Walther Dieckmann, Berlin - Prof. Dr. Franz-Josef Hausmann, Erlangen - Prof. Dr. Herbert Ernst Wiegand, Heidelberg. (Wortschatz 1983, S. 306). Wechselspiele dieser Art dienen insbesondere inhaltlichen Auseinandersetzungen, was der Natur der Sache entspricht und diese sicherlich fördert. Doch bergen sie, und dies sei hier nicht ausgespart, auch die Möglichkeit ebenenverschobener Kontroversen mit atmosphärischen Störungen und Irritationen in sich. Dafür ein Beispiel. In Mentrup (1984a; in der Festschrift für Siegfried Grosse) setzte ich mich kritisch mit Herbert Ernst Wiegands Vorstellungen von ‘Wörterbuchbenutzungssituationen’ auseinander und schickte ihm, wie auch Helmut Henne, diesen Aufsatz zu. In einem handschriftlichen Brief dankte Wiegand mir, drückte seine Freude darüber aus, dass er in der Festschrift kritisch gefeiert werde, denn man könne einem Autor keinen größeren Gefallen tun, als sich kritisch mit seinen Schriften auseinanderzusetzen. Er habe aus dem Beitrag viel gelernt, wenngleich er natürlich nicht mit allem einverstanden sei, was allerdings nicht wesentlich sei. Wichtig sei, dass die uns interessierende Sache gefördert werde, und schloss Mit herzlichen Grüßen und seiner Unterschrift, versehen mit dem Pronomen Ihr. Ein Jahr später, 1985, kam Wiegand auf meinen Beitrag zurück, um nunmehr jedoch seitenlang diesen inhaltlich abzuqualifizieren und mich persön- 11 Hingewiesen sei auf umfangreiche Arbeitspapiere, an denen die Genannten beteiligt sind. Die Unterlagen der Entwicklung von Bad Homburg an bis zu dem Band Brisante Wörter sind im IDS archiviert. <?page no="164"?> Wolfgang Mentrup 164 lich abzufertigen oder, bildfeldgerecht ausgedrückt, mich abzukanzeln (Wiegand 1985). Mein Eindruck: Du darfst halt in der Kirche nicht pfeifen, geschweige denn in einer Kathedrale. 2004, also knapp 20 Jahre danach, griffen Henning Bergenholtz und Sven Tarp diese Kontroverse auf: Einerseits: „Mentrup was the first to put his finger on the Achilles' heel of Wiegand's theory“ (S. 23), „One gets the impression that Mentrup's critique hit a nerve with Wiegand“ (S. 30). Andererseits: Wiegand's „personal response“, „angry reply“ (S. 23); „Totalling sixteen pages, Wiegand's response to Mentrup's article is […] rather aggressive [...]. Mentrup's arguments are criticised in an unusually harsh way“ (S. 29), „unusual in academic discussion“ (S. 31) (Bergenholtz/ Tarp 2004); was insgesamt meinem Eindruck von 1985 entsprach. Wenn - im Gegenzug? - Wiegand ein Jahr später, 2005, in einem anderen Zusammenhang über Bergenholtz und Tarp urteilte: Wer über seine eigene Lehre großmäulig Sätze wie diese schreibt: [...], hat sich m.E. als Forscher menschlich disqualifiziert. Diese arrogante Selbsteinschätzung lässt Zweifel daran aufkommen, dass die wichtige Fähigkeit des nachdenklichen Zuhörens oder gründlichen Lesens bei diesen Autoren noch in ausreichendem Maße vorhanden ist. (Wiegand 2005, S. 3), so liegt dies augenscheinlich auf derselben Ebene wie 20 Jahre zuvor. Dieser dem Autoren offensichtlich eigentümliche Diskussionsstil ist schon sehr eigentümlich. Die Antwort der beiden menschlich Disqualifizierten wird sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. 12 Henne dankte mit einem Sonderdruck und einem angehefteten Kärtchen mit dem Kurztext: „Ein Lektüre-Erlebnis bietet die Grosse-Festschrift jedenfalls! “; wobei mit dem jedenfalls eine rätselhafte Leerstelle aufgetan ist, die zu füllen ich nicht im Stande war und bis heute nicht bin. 12 Ich bin mir sicher, dass der eine oder die andere die Erwähnung dieser langzeitigen Episode missbilligt nach dem Motto: ‘Was soll denn das? So etwas schreibt man doch nicht.’; was wahrscheinlich auch vorgebracht werden wird, wenn unten im Beitrag von Mentrup/ Bankhardt auf dem Feld der Reform der Orthographie von Mentrup über ähnliche Irritationen, Probleme und Konflikte berichtet wird. Doch die Tatsache, dass all dies sich ereignet (hat), zeigt, dass auch solches, zumindest nach Ansicht einzelner, zum Spiel gehört; wenngleich möglicherweiser viele der Ansicht sind, dass das nicht unbedingt so sein müsste oder sollte. <?page no="165"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 165 3. Historisch Überkommenes: Schwere Wörter - Fremdwörter 3.1 Das vermeintlich Neue ist häufig so neu dann doch nicht Zurück zu schwere Wörter, auch als Einstieg in die weit(er)e Vergangenheit. Die 1981/ 1982 definitorisch festgesetzte Teilbedeutung von schwer im Sinne von ‘schwerverständlich, inhaltlich/ semantisch schwer zu verstehen’ erscheint vielen als neu und stößt - die Opposition schwierig (vgl. Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache, Sprachschwierigkeiten) vs. schwer (von Gewicht) sei gefährdet - auch auf Befremden und Unbehagen und auf Widerspruch, 13 verbunden auch mit der Umbenennung in brisante Wörter. Doch ist die neue Bedeutung so neu dann doch nicht, sondern sie ist sowohl gegenwartssprachlich als auch sprachhistorisch gesichert. Dies zeigen einerseits Belege von schwer in Wörterbüchern der Gegenwart und auch zurück bis etwa 1800 und andererseits strukturelle Parallelen zu „Dunkle Wörter der deutschen Sprache. Für weitere Kreise zusammengestellt“ (Kittel 1877; Kursive WM). Kittel konstatiert bei seinen Zeitgenossen, ausgenommen sind die Sprachkundigen, einen erheblichen Mangel an sprachhistorischen Kenntnissen und will mit Blick auf den sprachlichen Laien, den Sprachunkundigen, Abhilfe schaffen. Als Parallelen lassen sich feststellen: Die aus dem 18. Jahrhundert stammende und dem 19. Jahrhundert weitergegebene Bildungsidee schlägt sich in praktischer Spracharbeit ebenso nieder wie unsere die wissenschaftliche und technische Entwicklung (manche sprechen, metaphorisch, von ‘Revolution’) begleitende und deren sprachliche Folgen dokumentierende lexikalische [Aufklärungsund] Informationsarbeit. (Henne/ Mentrup 1983, S. 15) Als angestrebtes Ideal ergibt sich: - 1982 der lexikalisch sowie fachlich und wissenschaftlich aufgeklärte bzw. informierte Laie; - 1877 der sprachhistorisch gebildete Sprachbenutzer. 13 Regungen dieser Art suchen oft ein Ventil, einen Ausweg in Witz oder Ironie, in Süffisanz oder Sarkasmus. So wird in Briefen an das IDS , in Zuspitzung durch Austausch von Wörtern und Sachen, mehrfach gefragt, wieviel ein Wort denn wiegen müsse, um als schwer anerkannt zu werden; und auch, ob Blei ein schweres Wort sei, Feder jedoch nicht. Ähnlich wie anderenbereichs die Fragen, ob man Elefant groß-, aber ameise kleinschreibe; oder ‘Dingwörter’ wie Tisch groß, weil man das Ding ja anfassen könne, hingegen Wörter wie ehre klein. <?page no="166"?> Wolfgang Mentrup 166 Wandel der Zeiten und damit Wandel der als dunkel bzw. als schwer, der jeweils als schwierig angesehenen Wörter (Henne/ Mentrup 1983, S. 11-12, „2. Vergewisserung“). Doch ist auch dies noch nicht der Anfang dieser Geschichte. Die weitere Spurensuche führt innerhalb des Deutschen, mit Blick auf „schwere Wörter“ und diesmal in der Bibel, über 1746 und 1723 in das Jahr 1690 und weiter zurück, mit Blick auf damit bezeichnete Phänomene, in die Zeit um 1500 als Ausgangspunkt. Zudem kommt, mit Blick auf schwere Wörter allgemein, in einer Zeitschleife das Jahr 1571 ins Blickfeld. Ging es bisher um die Vorstellung neuer lexikographischer Konzepte, so geht es nunmehr, zeitverschoben komplementär oder komplettierend, um den Aufweis historischer Parallelen, wobei Orthographie und Lexikographie in Zeit-eigentümlicher Weise im Verbund auftreten. Ins Spiel kommt damit die Arbeitsstelle Orthographieforschung, späterhin in Graphie und Orthographie umbenannt, in der heutigen Abteilung Grammatik des IDS mit einem ihrer Arbeitsfelder, dem historisch ausgerichteten. 14 3.2 Die Deutsche Bibel: Religiöser Sach-, Gebrauchstext für Laien - Unterweisung 3.2.1 Unterricht im Schreiben und im Lesen der Bibel Die Ausgangslage: Seit Otfrid von Weissenburgs Leben Jesu in der lingua nativa (Fränkisch) und seiner Klage über lingua nostra inculta et corrupta (Otfrid 865) haben sich über Jahrhunderte hin in einem vielschichtigen Wandlungsprozess Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Sprache, Kultur, Wissenschaft, (Schul-)Bildung, Medien und Textsorten tiefgreifend verändert (Polenz 8 1972, 1991-1999). Für die Zeit um 1500, eine Kulminationsstufe dieser Entwicklung, benennt Rudolf von Raumer drei zentrale Größen, die auch die weitere Zukunft entscheidend mit beeinflussen und gestalten: • Mitte des 15. Jahrhunderts die Erfindung der Buchdruckerkunst, die „der Kunst des Lesens die Möglichkeit einer weiteren Verbreitung“ gibt; • ab 1522 Luthers Bibelübersetzung, die „dem Volk das Lesenkönnen zum Bedürfnis“ macht; 14 Für das Folgende vgl. Mentrup (2003) und die dort angegebene Literatur. Zudem sind einschlägige recht umfangreiche Arbeitspapiere aus dem Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen benutzt worden (zu diesem vgl. unten den Beitrag von Bankhardt). <?page no="167"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 167 • gleichzeitig das Aufblühen der „Teutschen Schulen“, das selbst „in den kleinen Dörffern und Flecken“ ermöglicht, „lesen [... und] schreiben [... zu] lernen“ (Raumer 1852, S. 49). Zeitgenossen sehen diese Zeitenwende, diese Umbruchsituation (möglicherweise sprechen spätere Beobachter, metaphorisch, auch von ‘Revolution’) so: 15 - Die Bibel ist für Ungelehrte ein Buch mit sieben Siegeln: die heylige „ chrifft i „ t für die vngelerten Layen / die der heubt „ prachen Hebrei „ ch / vnd Kriechi „ ch / oder Latini „ ch nicht k − ndig „ ind / nit touglich (Kolroß 1530, S. 65; Frangk 1531, S. 93). 16 - Die Bibel, von Luther übersetzt und gedruckt, ist nunmehr jedem zugänglich: Doch hat es Gott gefallen / die heylig g „ chrifft dem einfaltigen leyen z ¯ heyl / in v † tterlicher „ pråch / durch den truck an das liecht zekummen la „„ en / das er Gottes wort / vnd etlicher Gotgelerter außlegung / „ elbs le „ en möge (Kolroß 1530, S. 65; Ickelsamer 1527/ 1534, S. 53). - Daraus erwächst das dringende Bedürfnis vieler Laien, Lesen und Schreiben zu erlernen: tüdt „ ch „ chreiben oder le „ en wenig leüt k ¥ nnen / „ o werdend vile leyen gereytzt „ chryben vnd l † ßen zelernen / „ ich bem − yend / die zyt in erlu „ tigung heyliger g „ chrifft nützlich z ¯ uertryben / vnd jeder beg † r „¥ lichs b † lde „ t zeerlernen (Ickelsamer um 1534, S. 122; Kolroß 1530, S. 65). Die Schlussfolgerung: Abhilfe durch Hilfsmittel in deutscher Sprache für den Schul- und Selbstunterricht der deutschen Sprache. Die Bühne ist frei für den Auftritt der Grammatiker, Orthographen und Lexikographen: Derhalben di „ es handtb − chlin / da mit die jhenigen daruß was jnen manglet / in kurtzem erlernen; Die „ e Grammatica / Darauß einer „ elbs mag / lernen / was vom / Teüt „ chen le „ en vnnd Orthographiam z ¯ wi „„ en geh = rt (Frangk 1531, S. 92; Ickelsamer um 1534, S. 120; Kolroß 1530, S. 65). Diese Zeit, gewissermaßen als Neuanfang - zum er „ ten erfunden (Ickelsamer 1527/ 1534, S. 52); derglychen im truck nie ge „ ehen (Meichszner 1538, S. I) -, als Aufbruch erlebt, ist geprägt von einer religiösen Begeisterung, von einem gotterfüllten Enthusiasmus aller Beteiligten bei dem Unterfangen, die 15 Diese Anfangs-, diese Umbruchszeit wird sich weiter unten (im Beitrag Mentrup/ Bankhardt, 3.2), wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt, noch einmal in Erinnerung bringen. 16 Kursiv gesetzte Passagen dieser Art sind Kompilationen aus den jeweils angegebenen Textstellen. <?page no="168"?> Wolfgang Mentrup 168 deutsche Bibel, das populärste religiöse Sachbuch, als Gebrauchstext nunmehr jedem unmittelbar zugänglich zu machen; wobei sowohl die Bibelübersetzung und ihr Druck als auch Lesen und Schreiben lehren und lernen Gottes Gaben sind und alles im Namen Gottes und ihm zu Ehren geschieht: 17 würdt yeder / der zum rechten vr „ prung des le „ ens kummt / erkennen / das es ain herrliche gab Gottes i „ t; dieß handb − chlin in den truck gefertiget / mit hilff Gottes des allmechtigen / jm „ ey lob / ehr / vnd pryß in ewigkyit. Amen. (Ickelsamer um 1534, S. 123-124; Kolroß 1530, S. 65). Als wesentliche Größen der hier spezifischen Konstellation ergeben sich: • als Autoren Gelehrte, Sprachkundige wie Kolroß tüdt „ ch Leermey „ ter; Frangk Freyer k − n „ te Magi „ ter; Ickelsamer tewt „ cher schulmai „ ter (Müller 1882, S. 64, 93, 397); • als Gegenstand der Erarbeitung rechte weis le „ en zu lernen (Ickelsamer (1527/ 1534, S. 52), Handb − chlin || tüt „ cher Orthographi (Kolroß 1530, S. 64), Teut „ che Grammatica (Ickelsamer um 1534, S. 120) in tüt „ cher Sprache als vnderricht zur vnderwei „ ung (Frangk 1531, S. 93); • als Gegenstand der Beschreibung mu „ ter vnd regeln des rechten tüt „ chen „ chreibens vnd le „ ens (Frangk 1531, S. 109-110f.); Laute ~ B ¯ ch „ taben, Etymologia, gemainer brauch; acht tayl der rede „ ampt einer teüt „ chen Syntaxi (Ickelsamer um 1534, S. 131-132, 142, 120); • als Adressaten und potenzielle Benutzer/ Anwender vnge − bte vngelerte einfalltige Layen (Frangk 1531, S. 93, 110; Kolroß 1530, S. 87); ain holtzhawer, ain hyrdt auff dem velde / ain yeder in „ einer arbeit one Sch ¯ lmaister; mancher vater seine kinder / dahaymen leret / mancher ge „ ell seine mitge „ ellen in der werckstatt (Ickelsamer um 1534, S. 122-131); • als Zweck Teut „ ch recht b ¯ ch „ t † bisch z ¯„ chreiben z ¯ reden vnd z ¯ le „ en (Ickelsamer um 1534, 131; Kolroß 1530, S. 64); gutter deut „ cher b − cher wie Luthers „ chrifftwerke / zu lesen (Frangk 1531, S. 94); sampt dem text des / kleinen Catechi „ mi (Ickelsamer 1527/ 1534, S. 52). 17 So schon vor über 600 Jahren, bezogen auf die Sprache, bei Otfrid von Weissenburg: „Est tamen conveniens, ut qualicumque modo, sive corrupta seu lingua integrae artis, humanum genus auctorem omnium laudent, qui plectrum eis dederat linguae verbum in eis suae laudis sonare.“ „Und dennoch ziemt es sich, daß das Menschengeschlecht auf welche Art auch immer, sei es in einer fehlerhaften, sei es in einer höchst kultivierten Sprache, den Schöpfer aller Dinge lobt. Er nämlich hat ihnen das Instrument der Sprache gegeben, damit sie in ihr sein Lob erklingen lassen.“ (Otfrid 865, S. 4-7 lat. Text; dt. Übersetzung von G. Vollmann-Profe in: Straßner 1995, S. 2-4). <?page no="169"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 169 3.2.2 Anleitung zum praktischen Gebrauch der Bibel Sind die Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens auch erworben, so ergeben sich beim praktischen Gebrauch der Bibel doch neue Schwierigkeiten, so bei Angaben von Bibelstellen wie 1 Mos 2,3-5, die den meisten Heutigen als recht unproblematisch erscheinen, doch für den, der erst noch an die Lektüre der Bibel herangeführt werden soll und wird, rätselhaft sind, zumal in Darreichungsformen wie i mose ij, iij-v: Dann _ o einer [...] noch die anzeygungen [...] heyliger _ chrifft / noch die Ciffer (_ o n ( ben dem text an = rtern verzeychnet) ver _ t F nde / wurd er wenig frucht mit jnen _ chaffen (Kolroß 1530, S. 65). Entsprechend bietet Kolroß einen straff aufgebauten Grundkurs zur Abhilfe an: - Bedeutungserklärung: Allegationes anzeygungen oder anziehungen von ort vnd end / da „¥ llichs in der Bibel „ todt, Exemplum Luc. ŗŗj., i. Pet. i; - Gegenstand: Was du in anzeygungen wie i. Pet. i wi „„ en m ¯„ t: was die zaal vor dem wort oder „ ilben bedüdte, was durch die „ ilben ( „ o für gantze wort ge „ etzt) ver „ tanden werde und was die zaal nach den „ ilben anzeyge; • Regi „ terlin / in welchem aller B − cher vnnd Epi „ tlen Nammen / der gantzen Bibel (wie „ y vff das kürtze „ t angezogen) erkl † rt werden; • Die Cifer zeerfaren vnd zelernen; • Ein Tafel über die cifer von eim bi „ s vff tu „ ent mol tu „ ent; • Ein tafel der verglychung tüdt „ cher vnd [römische] cifer zaal (Kolroß 1530, S. 87-91. Analog auch Ickelsamer (1527/ 1534, S. 63) und Fuchßperger (1542, S. 184- 185). 3.2.3 Aufklärung über schwere Wörter zum Verstehen der Bibel Bringt Kolroß mit Allegationes, mit den Namen der biblischen Bücher und Episteln fremde und zudem abgekürzte Wörter sowie auch mit Zahlen und Ziffern lexikalische Wortgruppen ins Spiel, die nach seiner Meinung dem Benutzer der Bibel Probleme machen und deshalb erklärt werden (müssen), so werden von Ickelsamer in seiner Teutschen Grammatica weitere problematische Gruppen angesprochen und z.T. wortweise erklärt, und zwar insbesondere: Nammen vnd w ¥ rter / deren Etymologias (vr „ prung, Compo „ ition, „ ignification, bedeütung) die teut „ chen offt nit ver „ tehen / deßhalb „ tudieren „ olten <?page no="170"?> Wolfgang Mentrup 170 vnd jre bedeütung erfor „ chen / Ich hab ein g ¯ te Summa z ¯ samen gele „ en / biß einmal einer ein teüt „ ches Dictionarium will la „„ en außgehn / dem ich damit z ¯ hilff kommen will (Ickelsamer um 1534, S. 131-132., 147-152). 18 Die merkmalgesteuerte Klassifizierung führt zu einer fünffachen Stukturierung dieses Vokabularausschnitts: - fremmde w ¥ rter Hebrai „ ch / Ghriechi „ ch oder Lateini „ ch, die die teüt „ chen gantz teütsch „ ein gedencken (mantel / rock / Brot / Got / Herr); - oder die die teüt „ chen in der teüt „ chen „ prach eben „ o gemain als die teüt „ chen w ¥ rter gebrauchen (Policey / Arzney / Recept / Colica) (Ickelsamer um 1534, S. 148); - w ¥ rter mit nit ver „ tandenem vr „ prung vnd „ chreibung als Weinachten (weynige nacht) vs. Weihnachten (Weihen nacht) oder auch Fa _ tnacht vs. Faßnacht (Ickelsamer um 1534, 150-151); - w ¥ rter mit vnrechten oder nur in einem lant vertrauten und für die anderen vngewonlichen B ¯ ch „ taben (harbant vs. harwant vs. harwet) (Ickelsamer um 1534, S. 131-132.; vgl. auch Frangk 1531, S. 106); - hailige vnd eigne Nammen als Chri _ ten bzw. Chunrad, Gott _ chalck, Wolgang / (auß welchen namen ytz ein Wolfsgang oder ein hangender oder gehenckter Wolff ist worden) (Ickelsamer um 1534, S. 151-152). Ich mache einen Zeitsprung in das Jahr 1690 zu Bödikers Werk Grund=Sätze der deut _ chen Sprache im Reden und Schreiben, zu dessen Weiterführung durch Frisch (1723) und dann durch Wippel (1746), in denen wegen schwere Wörter das Kapitel „LXXIV. In der T[/ t]eut _ chen Bibel _ ind etliche _ chwere W = rter, die im er _ ten Anblick[e] nicht ver _ tanden werden“ von besonderem Interesse ist. Es geht dabei um von Luther gebrauchte Wörter, die nun ganz oder fast veraltet sind und bei denen man, um sie zu verstehen, auf den Grund sehen muss; wobei dies vor allem heißt, Komposita zu zerlegen und die Bestandteile etymologisch zu erklären. Die merkmalgesteuerte Klassifizierung führt zu einer vierfachen Strukturierung des Vokabularausschnitts ‘schwere Wörter’: - als veraltet wenigen mehr bekannt (aber für wiederum ungebr † uchlich; in Aberglaub deutet aber jedoch ober oder über); - durch ver † nderte Schreibart ver „ tellt (Compo „ ita Acht _ chreibung vs. An _ chreibung; Achtermeel vs. Afftermeel = Nach=Meel); 18 Ein Exemplum eines solchen Dictionariums erscheint knapp 30 Jahre später mit Maaler (1561), ein anders geartetes mit Roth (1571), von denen weiter unten noch die Rede ist. <?page no="171"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 171 - nur in einem Land bekannt, im andern nicht ( ( ffern kommt von teut „ ch ab; die Niederteut „ chen sprechen für ab jedoch af, daher Affe > ( ffern); - von der Jugend aus Mangel der Erfahrung nicht ver „ tanden (affter = nach, Affter= Sabbat). 19 3.3 Ungleichzeitigkeit des zumindest strukturell Gleichen Vieles wiederholt sich offenbar, doch ist es nicht (ganz) das Gleiche, doch wiederum sind nicht nur strukturelle Parallelitäten auffällig. 3.3.1 Der jeweilige Laie in seinem Alltag Als Parallelen sind oben (in 3.1) festgestellt: Die aus dem 18. Jahrhundert stammende und dem 19. Jahrhundert weitergegebene Bildungsidee schlägt sich in praktischer Spracharbeit ebenso nieder wie unsere die wissenschaftliche und technische Entwicklung (manche sprechen, metaphorisch, von ‘Revolution’) begleitende und deren sprachliche Folgen dokumentierende lexikalische [Aufklärungsund] Informationsarbeit. (Henne/ Mentrup 1983, S 12). Als weit zurückliegende Ergänzung fügt sich nunmehr dazu: Die mit der vielschichtigen Umbruchsituation gegebene Zugänglichkeit der Deutschen Bibel um 1530 grundsätzlich für alle führt zur sprachlichen (orthographischen, grammatischen, lexikalischen) und zur praktischen Unterweisungsarbeit für den Umgang mit der Bibel und mit weiteren (religiösen) Schriftwerken. Als angestrebtes Ideal ergibt sich die Trias: - 1982 der lexikalisch sowie fachlich und wissenschaftlich aufgeklärte bzw. informierte Laie; - 1877 der sprachhistorisch gebildete Sprachbenutzer; - um 1530 der sprachlich (orthographisch, grammatisch, lexikalisch) und praktisch unterwiesene Benutzer der Deutschen Bibel und weiterer (religiöser) Schriftwerke. 19 Bödiker (1690) war mir nicht zugänglich. Wippel (1746, S. 291) berichtet, dass „Herr B = diker _ ich an neun und zwanzigen angezeigeten bibli _ chen _ chweren Worten begn F gt“, welche Wippel mit den Erklärungen wiederholt. Frisch (1723, S. 188-191); das Gesamtverzeichnis reicht bei ihm bis S. 271. Wippel (1746, S. 290-294); sein Gesamtverzeichnis geht bis S. 348. Eine Zwischenstation ist Stade (1711), auf den beide hinweisen. <?page no="172"?> Wolfgang Mentrup 172 3.3.2 Fremdwörter: Heimatrecht in der Fremde - Opfer ethnischer Säuberung Ein Exemplum des von Ickelsamer um 1534 angesprochenen Dictionariums erscheint mit Maaler (1561), in dem zum ersten Male der deutsche Wortschatz und seine deutsche und auch lateinische Erklärung im Mittelpunkt stehen, auch dies als Neuanfang verstanden: „dergleychen bißh ( r nie ge _( hen“ (Titel). Dies scheint allerdings „bei seinen Zeitgenossen die seiner würdige Beachtung nicht gefunden zu haben [...], sei es, daß man die Sammlung des Wortschatzes der eigenen Sprache für unnütz, oder daß man sie gelehrter Behandlung gar nicht wert erachtete; mehr entsprach dem Bedürfnisse der Zeit ein Fremdwörterbuch“ (Socin 1888, S. 307). Ein solches legt im Sinne einer offenbar immanent waltenden Logik zehn Jahre später, 1571, Simon Roth vor, das hier allein schon wegen schwere Wörter von besonderem Interesse ist: Ein Teut _ cher || Dictionarius / dz i _ t ein auß = || leger _ chwerer / vnbekanter Teut = || _ cher / Griechi _ cher Hebrai _ cher / || Wäli _ cher vnd Franz = si _ cher / auch andrer Natio = || nen w = rter / so [...] offt mancherley jrrung brin = || gen (Roth 1571, S. 277 Titel). Adressaten und potenzielle Benutzer sind diejenigen, „so zu Schreibereien kommen / vnd Ampts verwaltung haben / aber Lateins vnerfarn _ eind / darumb auch kein deriuation, das i _ t / wie ein wort von dem andern herkompt ver _ tehn“ (Roth 1571, S. 277, 283). Zentrale Gesichtspunkte und merkmalgesteuerte Gruppen schwerer Wörter sind: - Unterscheidung von primitiua vnnd deriuativa, simplicia vnnd compo „ ita; - vertierung der ins Teut „ ch geratenen w ¥ rtlein, end „ ilben oder b ¯ ch „ taben (für celebrare usw. „ tehet celebrirn usw.; für _ igmentum, figura, flamma finde „ t du _ igment / figur / flam); - verk − rtzungen im anfang mittel vnnd end der w ¥ rtlein; - w ¥ rtlein / welche „ o gar ins Teut „ ch geraten / vnnd nun für Teut „ ch gehalten werden (fluß / form / furckel / h ( mi _ ch / Her / Jenner / Jn _ el / Jud); - Vocabel / dictiones oder w ¥ rter / Barbari „ ch vnd k − h latein / nit das mans hin für „ ul brauchen / sonder wo es im reden oder alten „ chrifften f − rkem / das man es ver „ ten m ¥ chte; <?page no="173"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 173 - corrupte wort / Pauern Latein / da „ olche offt den Gelerten ein nach „ innen machen / aber auch zu eim po „„ n vñ l † cherlichem „ chwanck ge „ chehen / „ o ohn „ ondere m − h vnd − bung nit m − gen begriffen werden (Roth 1571, S. 283-284). Schwere Wörter = unbekannte Wörter, was auch dazu führt, dass sie oft mancherlei Irrung verursachen und besonderes Nachsinnen erfordern und deshalb ausgelegt werden (müssen). Auch Ickelsamer zeigt ein hohes Maß an Unbefangenheit, an Toleranz gegenüber fremden Wörtern. Alle Sprachen „ _ ein all vnter ainander vermi _ chet“ (Ickelsamer um 1534, S. 149). Deshalb sollten die Deutschen „ _ ich auch nit _ ch ( men etwa fremmder w = rter bedeütung z G lernen vnnd z G erfaren“(ebd. S. 148). Gueintz (1641, S. 10-11, 122-125) geht speziell auf die Kunstwörter (heute Fachwörter) ein, die keine deutschen Entsprechungen haben, dem Laien unbekannt sind und deshalb ein lateinisch-deutsches Register erfordern („Technica Kunstw = rter“; z.B. Orthographia Wort „ chreibung), dem Braun ein deutsch-lateinisches zur Seite stellt (z.B. Recht „ chreibung, Recht „ chreibekun „ t Orthographia; Braun 1766, unpaginiert 7 Seiten): Heimatrecht für Fremde in der Fremde - Auslegung, Explikation. Doch gilt dies nicht für alle. Braun (1766, S. 5) nimmt „nur gute deutsche W = rter“ und ausländische nur mit Bürgerrecht auf; „die F brigen _ ind in ein be _ onders Regi _ ter gezogen“: Selektion, Ghettoisierung. Zudem wird angeboten, wie man _ ie „gut deut _ ch geben könne“ (Titel): Möglicher Ersatz. Die Ausgangsvorstellung: Allein die deutsche Sprache ist ursprünglich unvermischt: „reine Jungfrau“ (Gueintz 1641, S. 10). Doch ist „das k =_ tliche Kleid“ mit „außgebettelten Lappen“ verunziert (Pudor 1672, S. 60): „un _ ere arme gemißhandelte Sprache“ (Campe 1801, S. VII). Reaktion: „Ausrottung dieses Krebsgeschwürs am Leibe deutscher Sprache, deutschen Volkstumes, deutscher Ehre“ (Engel 1918, S. 22): Ethnische Säuberung. Fremdwörterbücher (vgl. die Bibliographie Kirkness 1984) als Ort der Auslegung und Aufklärung, aber auch als Stätte der Separation dieser Fremden - eingebettet in die leidige Geschichte des Purismus, der Sprachreinigung (Kirkness 1975). Und doch: Vieles von dem vermeintlich Fremden ist im Grunde Deutsch, wie die Bearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuches von Schulz/ Basler im IDS zeigt (dazu vgl. den Beitrag von Kirkness in diesem Band). <?page no="174"?> Wolfgang Mentrup 174 3.3.3 Änderungen orthographischer Regeln und Fremdwörter: Auslöser existenzieller Grundängste Auch im Bereich der Orthographie bleiben die Fremdwörter nicht ungeschoren. So überlegt Konrad Duden, ob man nicht „solchen Eindringlingen, die unsere Sprache verunstalten, [...] ein Brandmal aufprägen und durch Angabe der entsprechenden besseren deutschen Ausdrücke vor ihrem Gebrauch warnen“ soll (Duden 1880, S. X): Warnung vor dem Gebrauch. Die amtliche Regelung von 1902 ist hier direktiv entschieden: „entbehrliche Fremdwörter soll man überhaupt vermeiden“ (Preußen 1902, S. 22): Meidung. 1920 wird die Direktive resultativ präzisiert: „Sprachreinheit“ = „fremdwortfreie [...] Sprache“: Judenfreie Städte, national befreite Zonen, neuerlich mutiert zu No-Go-Areas; und direktiv mental radikalisiert: „Man denke nicht erst in Fremdwörtern, [...] sondern [...] alles gleich deutsch“ (Preußen 1920 bis 1941, S. 20-23): Rein-Deutschdenk. Gegenüber dem jüngeren Bemühen um eine Rechtschreibreform wird nicht so selten ein tiefsitzendes Unbehagen geäußert, wobei, auch in Zuschriften an das IDS, mehrere eng miteinander zusammenhängende Motive anklingen. Besteht die Neuregelung letztlich auch nur darin, dass eine begrenzte Zahl orthographischer Ausnahmeregeln aufgehoben ist (wie etwa nicht mehr Kuß, sondern Kuss analog zu küssen; nicht mehr Schiffahrt, sondern Schifffahrt wegen Schiff+Fahrt), so wird dies doch als Angriff auf die deutsche Sprache insgesamt empfunden und ausweitend als Angriff auf das Deutsche, auf das Deutschsein überhaupt: Mit einem Handstreich drohe das zerstört zu werden, was über Jahrhunderte organisch gewachsen sei. Die deutsche Sprache, in Wort und Schrift, sei die Seele des deutschen Volkes. Deshalb: Schmierfinger weg von unserer Sprache. Lasst uns Deutsche deutsch bleiben. Als noch bedrohlicher erscheint der Abbau unseres Sprachgutes durch überflüssige Anglizismen. Die schlussfolgernde Forderung: Statt sich mit der Rechtschreibung zu beschäftigen, solle man lieber die vielen amerikanischen Brocken in der deutschen Sprache ausmerzen; was zu der weiteren assoziativen Verknüpfung führt: Das Niveau der vorgesehenen Neuregelung richte sich nach den Ausländern, den Asylanten, um diesen die schnelle Integration zu erleichtern. Diese hereinzulassen sei versuchter Völkermord durch Überschwemmung und Überfremdung mit artfremden Völkern gewesen. <?page no="175"?> Angewandte bzw. Alltags-pragmatisch orientierte Linguistik 175 Neben der existenziellen Gefährdung des Deutschen überhaupt kommen weitere Bedrohungen und existenzielle Grundängste zur Sprache, von der Umweltverschmutzung über die Verseuchung durch defekte Atomkraftwerke bis hin zur Alkohol- und Drogensucht (vgl. Mentrup 1993a, S. 116-120). Wie diesen assoziativ-emotionalen Verkettungen beizukommen ist - Ich weiß es nicht. <?page no="177"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt* Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie Die Hauptaufgabe unserer Schrift ist eine praktische. Sie hat dem ganzen Volke zu dienen. (Raumer 1876b, S. 51) 1 Wie es der eine auch drehen oder die andere auch wenden mag: Das Jahr 2006 bildet einen Kulminationspunkt in der Geschichte der deutschen Orthographie und speziell der Bemühungen um eine Reform oder, vorsichtiger gesagt, um eine Neugestaltung ihrer amtlichen Regelung. Mit dem nunmehr sanktionierten Regelwerk (Amtliche Regelung 2006) wird die auf der Orthographischen Konferenz von 1901 in Berlin beschlossene Regelung (und die über die Zeit hin ausdifferenziert expandierte Weiterführung insbesondere im ‘Duden’, die am 18./ 19.11.1955 von der Kultusministerkonferenz in Zweifelsfällen für verbindlich erklärt wird) 2 nach über einem Jahrhundert, nach mehr als über 100 gescheiterten Reforminitiativen 3 und nach einem amtlichen Dreisprung am Ende abgelöst. 2006 geht die Geschichte des Bemühens um eine Reform der amtlichen Orthographie mit Sicherheit nicht zu Ende (allein schon, weil zu vieles offen * Zu dieser zweifachen Autorschaft: Für die kritischen Passagen in diesem Beitrag und für kritische Einzelwertungen ist allein Wolfgang Mentrup verantwortlich. 1 Die für diesen Beitrag sowie für den vorausgehenden von Mentrup und den folgenden von Bankhardt angeführte Literatur ist im Anschluss an die Beiträge insgesamt zusammengestellt (siehe unten S. 221ff.) und dabei chronologisch mit Bezug auf das Erscheinungsjahr angeordnet, um sowohl die zeitliche Aufeinander- und Abfolge als auch die zeitliche Parallelität, das zeitgleiche Nebeneinander von Ereignissen augenfällig zu machen. 2 Der Versuch, auf dieser Linie mit Rust (1944) eine gleichrangige amtliche Zwischenstation einzurichten (Kopke 1995), läuft ins Leere. Das höchst angestrengte Bemühen unter Hinweis auf die vermeintliche inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem Regelwerk des nationalsozialistischen Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust und verschiedenen neueren Reformkonzepten eine ideologische Verbindung zwischen den an diesen Beteiligten und dem Nationalsozialismus herzustellen (u.a. Birken-Bertsch/ Markner 2000), ist blanker Unsinn (vgl. Mentrup 2007, insbesondere 1.2, 1.3; 2.3). 3 In Jansen-Tang (1988) sind für die Zeit 1902-1981 insgesamt 80 Reforminitiativen erfasst und hinsichtlich ihrer Reformpunkte systematisch ausgewertet. <?page no="178"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 178 bleibt); wohl aber eine wichtige Phase der jüngeren Entwicklung, an der das Institut für Deutsche Sprache (IDS) wesentlich beteiligt ist. 1. Das sich bis 1973 aufbauende Vakuum: Scheitern und verfehlte Wende Am 18. April 1964 wird das „Institut für deutsche Sprache [...] ins Leben gerufen“, öffentlich verkündet von Jost Trier, einem der Gründungsväter. Vorsitzender des Kuratoriums ist Hugo Moser (IDS (Hg.) 1989, S. 9). Direktor wird Paul Grebe, der zudem (von 1947 bis 1973) Leiter der Dudenredaktion ist 1965 findet sich im Katalog von zehn „Aufgaben des Instituts“ der Punkt „5. Rechtschreibfragen“ (vgl. Haß in diesem Band, 1.), sodass die Gründung der Kommission für Rechtschreibfragen am 21.10.1965 als folgerichtig erscheint, wenngleich deren Spuren, abgesehen von knappen Erwähnungen in den IDS-Jahrbüchern, seltsam verweht sind. Mit Trier, Grebe und Moser bringt sich ein Stück nachhaltiger Reform- Vergangenheit in die Erinnerung: Nach dem Scheitern der Stuttgarter Empfehlungen (1955) findet am 4.5.1956 die konstituierende Sitzung des Arbeitskreises für Rechtschreibregelung statt, und zwar mit staatlichem Auftrag des Bundesministers des Innern (BMI) und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (Kultusministerkonferenz, KMK), was gegenüber allen Reforminitiativen seit 1921 ein qualitatives Novum ist. Trier ist erster und Grebe geschäftsführender Vorsitzender, Moser persönliches Mitglied dieses Arbeitskreises. Grebe ist maßgeblicher Akteur bei der Erarbeitung insbesondere der Wiesbadener Empfehlungen. Am 17.12.1958 werden die Wiesbadener Empfehlungen (1959), als deren Herzstück die gemäßigte Kleinschreibung, also die Kleinschreibung der Substantive, angesehen wird - wenngleich dieses Konzept alles andere als neu ist - den amtlichen Auftraggebern übergeben. Doch diese schieben die Entscheidung auf die lange Bank, wo sie dann schließlich auch verbleibt, wozu u.a. die FAZ und die Akademie für Sprache und Dichtung wesentlich beitragen. Am 1.2.1964 findet die letzte Sitzung des Arbeitskreises statt, am 16.2.1966 teilt Grebe den Mitgliedern das endgültige Scheitern mit; 4 wobei 4 Zur Geschichte der Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen vgl. Strunk (1992; (Hg.) 1998). Zudem, unter je spezifischen Gesichtspunkten, Mentrup (2007), 3.2 und 4.2.3. <?page no="179"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 179 die Wiesbadener Empfehlungen als Bezugsgröße reformerischer Tätigkeiten weiterhin im Spiele sind. So 1973, als alles sich plötzlich nun doch noch zu wenden scheint. Zahlreiche Institutionen und Organisationen, darunter auch das IDS, plädieren ebenso einmütig wie nachdrücklich für die Substantivkleinschreibung: • am 14.2.1973 eine Sektion des Trierer Germanistentages; • am 24.3. die drei dem neu gegründeten internationalen arbeitskreis für deutsche rechtschreibung angeschlossenen Organisationen, je eine aus Österreich, aus der Schweiz und aus der Bundesrepublik Deutschland ( BRD ) (Augst/ Zabel 1979, S. 35); • am 18.4. das Institut für Deutsche Sprache ( IDS -Stellungnahme 1973/ 18.4.); • Anfang Oktober die Dudenredaktion durch Günther Drosdowski, ab 1974 Nachfolger von Paul Grebe als deren Leiter, auf dem Frankfurter Kongress vernünftiger schreiben (Drewitz/ Reuter (Hg.) 1974, S. 45-47); • am 6.10. der Frankfurter Kongress in seiner Schlussresolution (ebd., S. 178); • am 19.10.1973 die Teilnehmer des internationalen Kongresses Die reform der deutschen rechtschreibung in Wien (Augst/ Zabel 1979, S. 35-36). Ist diese Welle privat-institutioneller Proklamationen quantitativ schon beeindruckend, so erreicht sie ihren - qualitativ neuen - Scheitelpunkt auf der amtlichen Ebene: • am 25.5.1973 dadurch, dass sich „die Kultusminister [...] einstimmig für die alsbaldige Durchführung einer gemäßigten Rechtschreibreform auf der Grundlage der ›Wiesbadener Empfehlungen‹“ aussprechen (Augst/ Zabel 1979, S. 32); • Anfang Oktober auf dem Frankfurter Kongress in den Grußworten der Bundesregierung („100 jahre sind wirklich genug“) und der Kultusministerkonferenz („die ›wiesbadener empfehlungen‹ sind die richtige mitte“; Drewitz/ Reuter (Hg.) 1974, S. 5). Dieser Zeitpunkt - gewissermaßen als Neuanfang, als gemeinschaftlicher Aufbruch in einen neuen orthographischen Horizont erlebt - ist geprägt von einer reformerischen Begeisterung, von einem euphorischen Enthusiasmus aller Beteiligten. Dies insbesondere auch deshalb, weil die amtlichen Stellen ja nunmehr wirklich entschlossen zu sein scheinen, das nachholen zu wollen, was sie 1959 auf die lange Bank geschoben haben. Doch der Schein währt nicht lange und der Wille ist schwach. Am 23.11. 1973 rückt Kultusminister Wilhelm Hahn (Baden-Württemberg) von dem Maibeschluss der KMK ab und fordert im Gegenzug die Beibehaltung der <?page no="180"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 180 Großschreibung. Dabei wird bekannt, dass auf der KMK-Sitzung im Mai 1973 die Wiesbadener Empfehlungen weder inhaltlich beraten noch verlesen worden sind, was schon verwundern kann. 5 1974 vereinbart die KMK zwar noch, einen Arbeitskreis für Rechtschreibregelung in neuer Form einzurichten, doch bleibt es auch hier bei einer Absichtserklärung (Augst/ Zabel 1979, S. 16, 32). Im gleichen Jahr löst Grebe den Wiesbadener Arbeitskreis offiziell auf und übergibt die Akten dem IDS (vgl. unten den Beitrag von Bankhardt, 2.2 (3)). Verfehlte Wende mit einem Vakuum als Ergebnis, das neue Bemühungen gewissermaßen bedingt. 2. Der Ziellauf bis 2006 2.1 Der neue Anlauf 2.1.1 Neukonstituierung 1977: IDS-Kommission für Rechtschreibfragen Einer immanenten Logik folgend geht das Bemühen um eine Rechtschreibreform in eine neue Runde, in der die Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für Deutsche Sprache nunmehr aktiv ins Spiel kommt. Deren Sitzung am 24.3.1977 kommt einer Neukonstituierung gleich. Mitglieder sind u.a. Paul Grebe und Hugo Moser als alte Bekannte; Heinz Rupp, Vorsitzender der Kommission bis 1980, und Hans Glinz, ab 1980 sein Nachfolger im Amt; Günther Drosdowski, stellvertretender Vorsitzender, seit 1974 Leiter der Dudenredaktion; Johann Knobloch und Otto Nüssler, Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS); Wolfgang Mentrup und Isolde Nortmeyer, IDS . Die mit der Neukonstituierung verbundene Neubesinnung wird u.a. ausgelöst durch die jüngeren Erfahrungen, durch die öffentliche Diskussion der, wie es heißt, mangelhaften Rechtschreibleistungen in den Schulen; durch neue international ausgerichtete politische Aktivitäten vor allem in Öster- 5 Anders gesagt: Die Weisheit und Ernsthaftigkeit bestimmter Beschlüsse der KMK sowie den Grad der Einsicht in die ‘Dinge’, die jenen eigentlich vorausgehen sollte, kann man schon in Zweifel ziehen. Ein anderer Fall, der den Plural Beschlüsse rechtfertigt, ist der viel diskutierte Beschluss von November 1955. In diesem ist u.a. von „der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen“ die Rede, deren Regelungen weiterhin für verbindlich erklärt werden (Kultusministerkonferenz 1955/ 18.+19.11.). In den Verhandlungen zwischen Grebe, Leiter der Dudenredaktion, und der KMK wird Rust (1944) als eine dieser Verfügungen zwar angeführt, doch ist sicher, dass beide weder das Rechtschreibbuch von 1944 noch andere spätere Verfügungen insgesamt kennen (vgl. Mentrup 2007, 2.2, 3.2.3 und die dort ausgewertete Literatur). <?page no="181"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 181 reich sowie durch die intensivierte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Orthographie insbesondere in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 6 Das Rahmenprogramm der Kommission sieht vor, nicht wie bisher allgemeine Proklamationen oder inhaltlich eher vage Empfehlungen zu formulieren, sondern ausgehend von der 1901 beschlossenen Regelung ein komplettes Regelwerk zu erarbeiten (zu der hier spezifischen Konstellation vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 1); in Kommentaren die Neuerungen vorzustellen und zu begründen sowie die breite Öffentlichkeit über den jeweiligen Stand und über den weiteren Verlauf der Arbeit zu informieren. Für die anstehende Arbeit werden als konkrete Leitlinien festgelegt: - auf der Grundlage von Untersuchungen zum Schreibbrauch (‘Fehler’analysen sowie Auswertung von IDS -Korpora mit insgesamt mehr als 13 Mio. Wortformen) problemträchtige Einzelwörter, Fallgruppen und Bereiche sowie, insbesondere bei Fremdwörtern, Schreibvarianten zu ermitteln; - die historische Entwicklung der Regelung einzelner Bereiche (z.B. Groß- und Kleinschreibung), bestimmter Fallgruppen (z.B. die um Schif(f)fahrt) und von Einzelfällen (z.B. das/ dass) aufzuarbeiten; - die Regelung von 1901 und ihre ausdifferenziert expansive Weiterführung insbesondere im ‘Duden’, die vorfindliche orthographische Praxis, auch unter dem Gesichtspunkt zu analysieren: Was an dieser Regelung ist die Ursache für die Probleme bei ihrer Anwendung? ; - Reformvorschläge, die vorfindliche Reformpraxis, zu analysieren, die Konzepte miteinander zu vergleichen und unter dem Gesichtspunkt auszuwerten: Was an den vorgesehenen Änderungen dient der Vereinfachung der Regelung und der Erleichterung bei ihrer Anwendung? ; - ein Konzept als Alternative zu entwickeln und konkret in Regeln umzusetzen. 7 6 Vgl. Scharnhorst (1964/ 1965, 1965), Nerius (1966, 1975), mit denen, gegenüber der Linie Stuttgart-Wiesbaden, in der DDR ein in die Zukunft weisender Neuansatz markiert ist. Bezogen auf den angedeuteten vielschichtigen Komplex in seinen internationalen Verflechtungen und in der Entwicklung über die Zeit hin setzen wir hier nur einige Schlaglichter. Verwiesen sei auf ausführliche(re) Darstellungen wie u.a. Augst/ Zabel (1979); Mentrup (1984b, c; 1985a; 1989a; 1990a; 1992a, b; 1993a); Augst/ Blüml et al. (Hg.) (1997, Teil I, die Beiträge 1.1 bis 1.5 speziell auch zu der Entwicklung in den einzelnen Ländern). 7 Vgl. u.a. IDS -Kommission (Hg.) (1985, 1989) und Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992) jeweils die Kommentare; Mentrup (1983c; 1993a); im weiteren Umfeld Jansen-Tang (1988), Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion (1991), Rechtschreibwörterbücher im Test (1997), Böhme (2001). <?page no="182"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 182 Auf der Sitzung am 2.6.1977 spricht sich die Kommission mehrheitlich (Knobloch und Nüssler als Befürworter der Modifizierten Großschreibung stimmen dagegen) für die gemäßigte Kleinschreibung aus (IDS-Kommission 1977/ 12.6.). Ein im Sinne der vereinbarten Leitlinien erarbeitetes Konzept einschließlich eines Regelwerks für diesen Bereich liegt 1979/ 1980 vor (Mentrup 1979a bis c; Materialien 1980). 2.1.2 Internationales Zusammenspiel auf der wissenschaftlichen Ebene: Erste Fassung von Reformvorschlägen 1985 Innerhalb von zwölf Monaten finden drei große wissenschaftliche Tagungen zur Orthographie statt, auch dies ein Zeichen für einen Reformaufbruch in internationaler Konstellation: • 10.-12.10.1978 (international einschließlich DDR ) Wien: Gemäßigte Kleinschreibung; Intensivierung der Kontakte zwischen Mitgliedern der Arbeitsgruppen; Feststellung starker Entsprechungen der bisher nebeneinander herlaufenden Arbeit und der entwickelten Regelungs- und Reformvorstellungen (Zur Reform 1979; Mentrup 1979d); • 25.-26.5.1979 (nur BRD ) IDS : Bestandsaufnahme der Forschung in der BRD ; 9-Punkte-Programm, u.a. (vgl. auch oben den Beitrag von Mentrup, 1.) Reform im gesamten deutschsprachigen Raum; Festlegung der Reformbereiche; Aufforderung an die amtlichen BRD -Stellen, einen neuen Arbeitskreis einzurichten (Rechtschreibreform 1979; Mentrup 1980b); • 2.-4.10.1979 (international ohne DDR ) Wien: Polemischer, ideologisch unterfütterter Auftritt österreichischer Literaten gegen die ‘Kleinschreiber’; Bereinigte (= Modifizierte) Großschreibung als Reformvorschlag der GfdS; aufgrund der kritischen Diskussion von der Gesellschaft im Dezember 1979 offiziell zurückgezogen (Mentrup 1980c). Die politisch zuständigen Stellen reagieren auf die vielfachen Aufforderungen, eine Reform in Angriff zu nehmen, zweigleisig. Einerseits wird die allgemeine Bedeutung der Rechtschreibung betont und grundsätzliches Interesse an ihrer Reform bekundet; andererseits wird darauf hingewiesen, dass angesichts der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der Reformvorschläge zunächst die wissenschaftlichen Standpunkte einander anzunähern seien, bevor eine politische Entscheidung überhaupt erwogen werden könne. Zu strukturell analogen Untersuchungen auf dem Felde der Lexikographie vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 2.2.2. <?page no="183"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 183 Um dieses ‘zunächst-bevor’-Argument zu unterlaufen, vereinbaren während der Wiener Tagung im Oktober 1979 Mitglieder von Arbeitsgruppen aus Österreich (Karl Blüml, Ernst Holzfeind, Ernst Pacolt), der Schweiz (Rolf Landolt) und der BRD (Gerhard Augst, seit 1979 Mitglied der IDS-Kommission; Wolfgang Mentrup), die Arbeit dieser Gruppen zu koordinieren und die Reformvorstellungen aufeinander abzustimmen. Der Grundstein für die wissenschaftliche Zusammenarbeit auf internationalen Arbeitstagungen ist gelegt. Nach seiner Rückkehr informiert Mentrup Heinz Rupp, den Vorsitzenden der IDS-Kommission, und Dieter Nerius, den Leiter der DDR-Arbeits gruppe, über diese Vereinbarung; beide stimmen zu (Dokument 1979/ 20.11.). Der Kreis der vier Arbeitsgruppen ist komplett und geschlossen. Im Zeitraum von zwölf Jahren finden neun Arbeitstagungen statt, Teilnehmer sind Vertreter von je einer Arbeitsgruppe aus den vier Ländern: 8 Basel 1980; Wien 1982, 1989; Rostock 1984, 1988; Mannheim 1986, 1990; Zürich 1987; Rorschach 1991. 9 1985 legt die IDS-Kommission die ersten Arbeitsergebnisse der Öffentlichkeit vor; wobei die Vorschläge zur Groß- und Kleinschreibung sowie zur Worttrennung international bereits abgestimmt sind (IDS-Kommission (Hg.) 1985). 10 8 Die Delegation aus den einzelnen Gruppen zu diesen Tagungen ist nicht ohne Probleme. In der IDS -Kommission wird anfänglich die Dichotomie Hic Träger von Funktionen (wie Vorsitzender, dessen Stellvertreter) - Illic die Bearbeiter der Bereiche, die auf der jeweiligen Tagung behandelt werden, diskutiert. Grundsätzlich bestimmt dann in der Praxis das Illic-Kriterium die Auswahl, was allerdings nicht von jedem Funktionär für gut gehalten und in Einzelfällen zu unterlaufen versucht wird. Ein qualitativ anderer und gewichtigerer Fall ist, dass Renate Baudusch ( DDR ), eine exzellente und international anerkannte Fachfrau für die Interpunktion, aus politischen Gründen nicht ins ‘feindliche Ausland’ reisen darf mit der Folge, dass ihre Forschungsergebnisse und Reformvorstellungen für diesen Bereich von anderen vorgetragen und vertreten werden müssen. 9 Berichte darüber: Schaeder (1983), Landolt (1985), Mentrup (1985b, c); Landolt (1986), Mentrup (1986a, b), Landolt (1987); Mentrup, (1987a, 1989b), Schaeder (1989, 1990); Mentrup (1991a, b; 1992c). 10 Diese Publikation der IDS -Kommission führt bei Mitgliedern der anderen Arbeitsgruppen verständlicherweise zu Irritationen und beschwört zwischenzeitlich die Vorstellung von der Konstellation ‘Joseph und seine Brüder’ herauf, was allerdings nicht lange anhält; zumal in dem Band die Kommissions-eigenen Vorschläge von den international bereits verabschiedeten klar abgegrenzt sind. Über die lange Zeit hin besteht zwischen den vier Gruppen ein zwar empfindliches, doch, insgesamt gesehen, ausgewogenes Gleichgewicht. <?page no="184"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 184 2.1.3 Internationales Zusammenspiel auch auf der politischen Ebene: Zwischenfassungen von Reformvorschlägen 1989 bis 1993 Wohl auch unter dem Eindruck der systematisch wissenschaftlichen Arbeit und angeregt oder aufgeschreckt durch öffentliche Stellungnahmen des Kultusministers von Rheinland-Pfalz, Georg Gölter, u.a. in einem Spiegel- Interview (Mitte 1984; vgl. Mentrup 1993a, S. 196-198) ändert sich die Einstellung der amtlichen Stellen grundlegend. 1985/ 1986 informieren sich staatliche Institutionen der BRD in Gesprächen mit Vertretern der GfdS und des IDS über den wissenschaftlichen Stand der Dinge. Zudem finden intensive Gespräche mit amtlichen Stellen in Österreich statt mit dem bemerkenswerten ersten Ergebnis: Vom 4. bis 5.12.1986 1. Amtliche (internationale) Wiener Gespräche zur Rechtschreibreform zwischen Fachbeamten und Wissenschaftlern = 1. Sitzung der 3. Orthographischen Konferenz (Mentrup 1987b, Schaeder 1987); die Zählung „1.“ deshalb, weil drei weitere folgen. 11 Ein zweites wichtiges Ergebnis ist der offizielle Auftrag des BMI und der KMK im Februar 1987 an das IDS und dessen Kommission, Vorschläge zur Reform aller Bereiche (außer Groß- und Kleinschreibung) vorzulegen und mit der GfdS abzustimmen. Oktober 1988 überreicht das IDS den Auftraggebern den Vorschlag zur Neuregelung und die GfdS ihre Stellungnahme dazu. 12 Über den erteilten Auftrag hinaus enthält der Band eine Bestandsaufnahme der Diskussion über die Regelung der Groß- und Kleinschreibung (IDS-Kommission (Hg.) 1989). 13 11 Zu den damit abgesteckten zwei Ebenen, „Ebene der Fachexperten“ und die „der Politiker (offizielle Ebene)“, wird in einer Gesprächsnotiz (14.2.1979) aus dem Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Wien) festgestellt, dass die Diskussionen zwischen beiden „sich bisher als unbefriedigend erwiesen“ hätten, da „die ersten wohl über Fachkenntnisse verfügen, aber nicht über die Entscheidungskraft, während bei den zweiten in der Regel das Gegenteil zutrifft“ (vgl. Mentrup 1984b, S. 107); und dies, wie ich ( WM ) meine, umso mehr, je höher der politische Rang ist. Ein Beleg für diese Einschätzung ist die Forderung eines nicht unwichtigen deutschen Politikers und gleichzeitigen Gegners der Neuregelung von 1996, er wolle weiterhin wie bisher Schifffahrt mit drei f schreiben. 12 Vgl. auch Mentrup (1989c). Bereits seit März 1980 gibt es eine Vereinbarung zwischen der IDS -Kommission und der Rechtschreibkommission der GfdS: Trotz unvereinbarer Vorstellungen zur Groß- und Kleinschreibung sachorientierter Umgang miteinander und inhaltliche Zusammenarbeit (IDS/ GfdS 1980/ 3.+4.3.). 13 Im zeitlichen Umfeld dieser Veröffentlichung entsteht ein Konflikt. Tritt Drosdowski 1973 auf dem Frankfurter Kongress in Grebes Wiesbadener Fußstapfen und wandelt er auch 1977 bis ca. 1985 auch als Mitglied der IDS -Kommission noch auf den Wiesbadener <?page no="185"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 185 Vom 21. bis 23. Mai 1990 finden die 2. Amtlichen Wiener Gespräche statt (Mentrup 1990b), auf denen die Wissenschaftler von den Vertretern der amtlichen Stellen aufgefordert werden, für die Groß- und Kleinschreibung alternative Lösungen auszuarbeiten, was Hoffnung auf eine politisch vorbehaltlose Diskussion, auf ein sachliches Pro und Contra aufkommen lässt. Auf den letzten internationalen Arbeitstagungen (1990 und 1991) wird die Bearbeitung des Regelteils abgeschlossen, mit den drei gleichstrukturierten Regelungsvarianten: Status-quo-Regelung, Modifizierte Großschreibung, Substantivkleinschreibung. Das für den Endergebnis-Band insgesamt verantwortliche Gremium, das als Herausgeber einen griffig zitierbaren Namen braucht, konstituiert sich mit dem Erscheinen dieses Bandes (Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) 1992) und tritt erstmals, auch namentlich, in Erscheinung. 14 Spuren, so schwenkt er spätestens 1987 jedoch um, wechselt die Richtung und plädiert, als Leiter der Dudenredaktion, nunmehr nur noch für einige Verbesserungen bei der Groß- und Kleinschreibung und für die Beibehaltung der generellen Regelung. Im Oktober 1988 distanziert sich der „Leiter der Dudenredaktion, Prof. Dr. Günther Drosdowski“ per Pressemitteilung des Bibliographischen Instituts („Keine ›Heie‹ am ›Bot‹? “) in der dort abgedruckten „Erklärung“ in aller Öffentlichkeit von der zuvor von der IDS -Kommission vorgeschlagenen Regelung bestimmter Laut-Buchstaben-Beziehungen (wie Bot statt Boot, Hei statt Hai) und avanciert mit dem griffigen Schlagwort „Bruch in der Schreibtradition“ in vielen Berichterstattungen zum negativen Kronzeugen gegenüber der Kommission (vgl. ausführlich Mentrup 2007, 4.2.3). Damit stellen sich die grundsätzlichen Fragen, inwieweit die Bündelung von Funktionen bei einer Person für die Arbeit von Gremien nützlich und verträglich ist und ob es nicht durch die Möglichkeit eines Interessen- und Rollenswitchings zwangsläufig zu Kollisionen kommt. 14 Vgl. dazu als Herausgeber-Gegenstück das Gesamt der vier beteiligten Gruppen mit ihren umfangreichen Namen (vgl. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) 1992, S. IX; 1995, S. 285 ): Forschungsgruppe Orthographie der Universität Rostock und des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft, Berlin (Leiter: Prof. Dr. Dieter Nerius); Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für Deutsche Sprache ( IDS ), Mannheim (Vorsitzender: Prof. Dr. Gerhard Augst); Wissenschaftliche Arbeitsgruppe des Koordinationskomitees für Orthographie beim Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Wien (Leiter: Dr. Karl Blüml); Arbeitsgruppe Rechtschreibreform der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Bern/ Zürich (Präsident: Prof. Dr. Horst Sitta). <?page no="186"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 186 Bezogen auf die Regelung der Groß- und Kleinschreibung ist das Votum eindeutig: Der ›Internationale Arbeitskreis für Orthographie‹ hat die hier vorgelegten Regelungsvarianten ausführlich erörtert. Nach sorgfältigem Abwägen des Pro und Contra hat er sich einstimmig für die Substantivkleinschreibung ausgesprochen und empfiehlt nachdrücklich ihre Einführung. (ebd. S. XXIII ). Trotz dieses einstimmigen Pro-Votums und trotz der überwältigenden bzw. klaren Mehrheit für die Substantivkleinschreibung, die sich bei den von den amtlichen Stellen in Österreich und in der Schweiz durchgeführten Befragungen einschlägiger Verbände und Institutionen ergibt, scheitert diese von den Reformern als einen der zentralen Reformpunkte angesehene Regelung am vorab feststehenden starren Veto insbesondere der staatlichen Stellen in Deutschland. Während der mündlichen Anhörung am 4.5.1993 in Bonn wird eine Diskussion über die drei auftragsgemäß vorgelegten Regelungsvarianten unterbunden wie auch die über den fehlerträchtigsten Einzelfall daß/ dass → das. Ein Abwägen des Pro und Contra, etwa Modifizierte Großschreibung vs. Substantivkleinschreibung, findet nicht statt; was du auch so sehen kannst: Die Wissenschaftler werden in diesem Fall wie Tanzbären an der Nase herumgeführt. 15 2.2 Der amtliche Dreisprung 2.2.1 Chronologische Abfolge: 1996-2004 - Endfassung Amtliche Regelung 2006 Scheint mit dem Band von 1992 und nach der rein politischen Bereinigung des Problembereichs der Groß-und Kleinschreibung alles auch klar zu sein, so ist ein Abschluss dieser Geschichte trotzdem nur in einem Dreisprung des erneuten amtlichen Bemühens zu erreichen; über einen Zeitraum von noch einmal mehr als 10 Jahren und unter erheblichen Turbulenzen. 15 Insgesamt ist das eine eigene Geschichte (wert), zu der u.a. auch die Fragen gehören, was alles an Abstrichen ursprünglich vorgesehener zentraler Reformpunkte Reformern zugemutet werden kann bzw. was Reformer in dieser Hinsicht alles so mit sich machen lassen und ob nicht durch die allmähliche Kumulation einzelner und als solche als nicht wesentlich erscheinender Abstriche am Ende das Reformprogramm so heruntergedimmt ist, dass von dem, was ursprünglich vorgesehen war, nur wenig mehr übrig bleibt. Und auch, welche Konsequenzen sich daraus ergeben bzw. welche die Reformer für sich daraus ziehen. Das Maß des Zumutbzw. Hinnehmbaren erscheint jedenfalls als sehr groß, wenn nicht gar als unbegrenzt. <?page no="187"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 187 Der Vorlauf: Während der 3. Wiener Gespräche zur Reform der deutschen Rechtschreibung = 3. Sitzung der 3. Orthographischen Konferenz (22.-24.11.1994; Zabel 1995) wird die überarbeitete Regelung des Bandes von 1992 mit einigen Änderungen angenommen. Die endredigierte Fassung mit überarbeitetem Regelteil und einem neu erstellten und angefügten Wörterverzeichnis erscheint 1995 als „Vorlage für die amtliche Regelung“ (Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) 1995); mit einer, wie wir meinen, unleidlichen Modifizierung der bisherigen Modifizierten Großschreibung (erkennbar an Schreibungen wie Leid tun, Pleite gehen, des Näheren, im Allgemeinen, im Großen und Ganzen, Unzählige). Am 1.12.1995 stimmt die Kultusministerkonferenz, wie dann auch die internationale Wiener Absichtserklärung (1996/ 1.7.), abgegeben auf der 4. Sitzung der 3. Orthographischen Konferenz, der Vorlage von 1995 als neuer amtlicher Regelung - der weitere Verlauf erklärt die hier vorgenommene Zählung als AR I - zu (veröffentlicht als Amtliche Regelung 1996). Übereinstimmend wird festgelegt: Diese Regelung tritt am 1.8.1998 in Kraft; bis zum 31.7.2005 besteht eine Übergangszeit, in der bisherige Schreibweisen nicht als falsch gewertet, sondern nur als überholt gekennzeichnet werden. Zudem wird eine Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung eingerichtet, die sich 1997 konstituiert, mit der Aufgabe, allgemein gesagt, die Neuregelung zu betreuen. Gleichzeitig wird der Beschluss der KMK vom 18./ 19.11.1955 aufgehoben: Die Ära der ‘Duden’-Verbindlichkeit in Zweifelsfällen erweist sich nunmehr als ein begrenztes Interregnum. Der Internationale Arbeitskreis für Orthographie geht gewissermaßen in diese Kommission über. Die IDS -Kommission für Rechtschreibfragen wird 1996 aufgelöst. Am 4.6.2004, im Einvernehmen mit den anderen deutschsprachigen Staaten, stimmt die KMK der in Zwischenstaatliche Kommission (Hg.) (2004/ Februar) vorgelegten Modifizierung der Amtlichen Regelung (1996) zu und bestätigt den 31.7.2005 als Ende der Übergangszeit. Die nunmehr neue amtliche Regelung - AR II - wird 2005 veröffentlicht (Amtliche Regelung 2005). Aufgrund unterschiedlicher Umstände (dazu vgl. unten 2.2.2) wird im Oktober 2004 die Gründung eines Rates für deutsche Rechtschreibung beschlossen, der sich im Dezember konstituiert und die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung ablöst. Am 2.3.2006 stimmt die KMK, im internationalen Einvernehmen, dem vom Rat für deutsche Rechtschreibung auf der Basis der Regelung vom Juni 2004 überarbeiteten Regelwerk „Regeln und Wörterverzeichnis“ (Rat für deutsche Rechtschreibung (Hg.) 2006a) als nunmehr neuer amtlicher Regelung - im Reigen als AR III - zu (Amtliche Regelung 2006; vgl. dazu auch Güthert 2006). <?page no="188"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 188 Ein auffälliger, und wenn man es sich bewusst vor Augen führt: ein aufwändig spektakulärer amtlicher Dreisprung → AR I 1995/ 1996 → AR II 2004/ 2005 → AR III 2006, mit dem die Zielmarke erreicht wird, nämlich eine endgültig abgesegnete amtliche Neuregelung der deutschen Orthographie; wobei, ebenfalls auffällig, ein gewissermaßen Zeit-kongruenter Wechsel der beteiligten Gremien einhergeht, nämlich seit 1992 Internationaler Arbeitskreis für Orthographie → 1996 Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung → Dezember 2004 Rat für deutsche Rechtschreibung bis in die Gegenwart hinein und über diese hinaus. 2.2.2 Begleitende Turbulenzen Zu den Turbulenzen, die dieses Reformvorhaben in der politischen und in der Medienöffentlichkeit begleiten, hier nur einige Punkte, um nicht der Gefahr des Abgleitens in die Textsorte Monographie zu erliegen; 16 wobei in diesem Konflikt, wie es scheint, die Befürworter einer Reform vieles, wenn nicht alles nur falsch machen können und kaum etwas oder gar nichts richtig: • scharfe, in Einzelfällen obsessive Kritik z.T. ‘professioneller’ Reformgegner als ‘Dauerbeschuss’; • ‘Aufstand’ der Dichter und Literaten („Schwachsinn Rechtschreibreform RET- TET DIE DEUTSCHE SPRACHE ! Der Aufstand der Dichter“ Spiegel 42/ 14.10.1996) im Verein mit Institutionen wie Akademie für Sprache und Dichtung, PEN , Deutscher Schriftstellerverband; • ca. 30 juristische Prozesse mit der Beschwerde, die Reform verletze Elternrechte und/ oder Grundrechte; wobei in ca. zwölf dieser Verfahren der Beschwerde stattgegeben, diese jedoch am 12.5.1998 vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen wird (Mentrup 1998/ Mai). 17 Dabei kann man sich schon fragen, ob eine solche Welle von Prozessen um denselben Gegenstand und mit den immer wiedergekäuten Argumenten nicht auch die (extreme Ausweitung der) Grenzen einer Demokratie als Institution aufzeigt oder, verschärft, die demokratischen Regeln ad absurdum führt. 16 Wir stützen uns im Folgenden vor allem auf im Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen gesammelte Dokumente und auf Presseberichte über diesen Zeitraum (zu dem Archiv vgl. unten den Beitrag von Bankhardt, 2.2 (4)). 17 In diesem Zusammenhang werden von Gerhard Stickel und Wolfgang Mentrup mehrere Gutachten erstellt; was zeigt, dass auch das Direktorat des IDS mit eingebunden ist. <?page no="189"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 189 Verläuft trotz all dieser und anderer Ereignisse bis Juni 2004 das Zusammenspiel zwischen der KMK und der Zwischenstaatlichen Kommission auch nach Plan, so stellen sich weitere Turbulenzen ein mit einer Änderung des Vorgehens als Folge; wobei auch hier gelten mag: Manchmal sagt die Vorgeschichte mehr aus als das erzielte Ergebnis selbst: • Die öffentliche Kritik richtet sich verstärkt gegen bestimmte Regelungen bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, aber auch bei der Zeichensetzung und bei der Worttrennung. • Im August 2004 führt die Springerpresse, wie schon im Jahre 2000 die FAZ, die bisherige Schreibung wieder ein, auch andere Presseorgane wie Der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung kündigen die Rückkehr zu ihr an. • Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff 18 spricht sich gegen die Einführung der Reform aus und fordert, wie auch das Saarland, die Rückkehr zur alten Rechtschreibung. 19 • Der Ablehnung dieser Forderung durch die KMK begegnet Wulff mit der Kündigung der Mitarbeit seines Landes im Sekretariat der KMK und stellt diese(s) damit insgesamt in Frage. • Im Oktober beschließt die Konferenz der Kultusminister eine Reform dieses Gremiums, wobei Niedersachsen auf diese Linie einschwenkt und seine konstruktive Teilnahme zusichert. • Auf der gleichen Sitzung verständigt sich die KMK , einschließlich Niedersachsen und mit Zustimmung aus Österreich und aus der Schweiz , auf die Gründung eines Rates für deutsche Rechtschreibung mit der Auflage, dieser solle bis zum 1.8.2005 einen allseits konsensfähigen Änderungsvorschlag erarbeiten. • Die konstituierende Sitzung des Rates am 17.12.2004 bedeutet gleichzeitig die Ab- und Auflösung der Zwischenstaatlichen Kommission (zur Abfolge der Sitzungen des Rates und zu weiteren Informationen vgl . http: / / www. rechtschreibrat.com ). Während der Arbeit des Rates verlautete Zwischenbemerkungen wie „Die Zeit wird knapp.“ und „Bis zum 1.8.2005 können nicht alle Einzelheiten abschließend erörtert werden.“ erklären das im April 2005 durchgeführte und dann leicht modifizierte Splitting der Regelung in strittige Teile (wie insbe- 18 Dies belegt punktuell, dass auch die (Konferenz der) Ministerpräsidenten sich an den Verhandlungen über die Rechtschreibreform beteiligt (sieht) sehen, was wir hier allerdings insgesamt (dr)außen vorlassen. 19 die alte Rechtschreibung: Varianten sind hier die bisherige oder auch die klassische Rechtschreibung, wobei schon auffällig ist, dass oft der Eindruck erweckt wird, als wäre diese Regelung das Ideal an sich gewesen. Dass das Gegenteil zutrifft, ist eindrucksvoll in Zimmermann (1980) und Menzel (1985a, b) dokumentiert. <?page no="190"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 190 sondere die Getrennt- und Zusammenschreibung) und in unumstrittene Teile (wie Laut-Buchstaben-Beziehung und hier speziell ss statt ß sowie die Fallgruppe um Schifffahrt) und auch die zeitliche Sukzessivierung, dass nämlich die unstrittigen Teile wie geplant am 1.8.2005 verbindlich in Kraft treten, doch die strittigen erst dann, wenn sie von der KMK beschlossen sind. Doch Bayern und Nordrhein-Westfalen scheren aus und sehen die Amtliche Regelung (1996) weiterhin als Grundlage an, während Wulff zustimmend von der richtigen Richtung spricht, dabei jedoch für eine noch weiter gehende Rücknahme der neuen Regeln plädiert und sein Kultusminister die Ausscherer kritisiert: Auch Niedersachsen führt zum August [2005] die unstrittigen Teile der Rechtschreibreform verbindlich ein [...]. Es sei „irreführend“, [so der niedersächsische Kultusminister Busemann,] wenn man den Anschein erwecke, „durch eine solche Tat [wie in Bayern und NRW] das ganze Thema wieder auf Null wie vor 1996 setzen zu können“. [...] [Der Rat für deutsche Rechtschreibung] solle künftig die Schreibregeln festlegen, nicht mehr die KMK , erklärte Busemann. „Die Politik möge das Thema so weit wie möglich aus den Händen lassen.“ (Mlodoch 2005/ 20.7.). So wie Wulff 2004 in Verbindung mit seiner Ablehnung der Neuregelung gleich insgesamt die KMK in Frage stellt, sieht im Juli 2005 Kurt Beck, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, in dem „Vorgehen von Bayern und NRW [... einen] Präzedenzfall, der nicht nur die Zusammenarbeit in der Konferenz der Länderchefs gefährde, sondern auch die Zukunft der Konferenz infrage stelle“ (AP/ dpa 2005/ 26.7.). 2.2.3 Der Rechtschreibfrieden Angesichts all dieses Hin-und-Hers erscheint als Einschätzung nicht abwegig: Der Rat für deutsche Rechtschreibung [...] hat sich erst konstituiert, nachdem das Verfahren politisch gesprengt zu werden drohte. Die Konferenz der Kultusminister, die die Rechtschreibreform längst beschlossen und [dabei gleich zweimal (vgl. oben AR I und AR II)] auf den Weg gebracht hatte, wird zum Spielball föderaler Interessen und befindet sich seither in einer erheblichen Legitimationskrise (Nutt 2005/ 9.4.). So dann auch in Ausweitung durch Kurt Beck die Konferenz der Ministerpräsidenten; wobei offenbar in Kauf genommen wird, dass die Reform unter die Räder kommen kann: Auch sie ein Spielball im politischen Geschäft? <?page no="191"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 191 Der Öffentlichkeit wird all dies vorgestellt als faires Angebot an die Gegner, bei der positiven Weiterentwicklung der vorgefundenen ‘Schlechtschreibreform’ mitzuarbeiten, als Versuch zur Aussöhnung zwischen den verhärteten Fronten und zur Versöhnung der Bevölkerung mit der Rechtschreibung; insbesondere mit dem Ziel, die intensiv geführte und entnervende Debatte, den andauernden Schreib- und Reformstreit, den orthographischen Glaubenskrieg und ideologischen Kampf, den Kulturstreit mit hohen Glaubensanteilen, das Chaos oder das Schisma der deutschen Rechtschreibung, diese Tragikomödie mit satirischen Zügen (Auswahl aus der öffentlichen Diskussion) durch eine Reform der Reform mit einem allgemeinen Rechtschreibfrieden zu beenden; wobei die Sehnsucht nach einem solchen auch darin zu Worte zu kommen scheint, dass Rechtschreibfrieden unter den „‘Top ten’ der Wörter des Jahres [2006]“ nach Fanmeile, Generation Praktikum und Karikaturenstreit den vierten Rang einnimmt, vor Prekariat (DPA 2006/ 16.12.). Kann man über die während dieses Dreisprungs mehrfach geänderten Regelungsinhalte auch streiten, so gilt hier vielleicht vor allem: Lieber etwas kürzer springen, aber durch eine die bisherigen Gegner einbindende Strategie zum abschließenden Erfolg kommen, nämlich zur Ablösung der Amtlichen Regelung von 1901; was dann durch die Amtliche Regelung III von 2006 ja gelingt, die vom 1. August 2006 an verbindlich für Schulen und Behörden ist. Gekoppelt an diesen Abschluss ist die mehrfach geäußerte Absicht der zuständigen Politiker, sich in Zukunft strikt aus diesem Bereich herauszuhalten und diese Angelegenheit dem Rat für deutsche Rechtschreibung zu überlassen; wobei sich allerdings die Frage stellt, wie das angesichts der Entscheidungskompetenz der KMK und des BMI dann letztlich aussehen soll. 2.3 Das IDS: Arbeitsstelle Graphie und Orthographie - Die Mitarbeiter - Wechselspiel mit der Öffentlichkeit Wenn man so will, ist dem Institut für Deutsche Sprache das Thema Rechtschreibreform, gewissermaßen schon vor seiner Gründung 1964, von den Gründungsvätern in die Wiege gelegt, wenngleich, sieht man von der Abwicklung der Wiesbadener Episode durch Paul Grebe und von der offiziellen IDS-Stellungnahme (1973/ 18.4.) einmal ab, die eigentlichen reformerischen Tätigkeiten 1977 so recht erst beginnen, dann aber nachhaltig bis in die Gegenwart hinein andauern. <?page no="192"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 192 Institutionell verortet sind diese Tätigkeiten in der Arbeitsstelle Orthographieforschung - zwischenzeitlich in Graphie und Orthographie umbenannt - in der heutigen Abteilung Grammatik des IDS, womit neben dem historisch ausgerichteten Arbeitsfeld der Arbeitsstelle das zweite abgesteckt ist. Von 1977 bis Oktober 1993 hier eingespannt ist Wolfgang Mentrup. Neben der Beteiligung an der Erarbeitung eines neuen Regelwerks fallen insbesondere folgende Aufgaben an: - technische Vorbereitung der Sitzungen der IDS -Kommission für Rechtschreibfragen (statistisch 2,3 Sitzungen pro Jahr); - Anknüpfung offizieller Kontakte zu den in der Bundesrepublik Deutschland für die Rechtschreibung amtlich zuständigen Stellen (insbesondere Kultusministerkonferenz, Bundesinnenministerium); - Aufnahme von Gesprächen, intensive Verhandlungen und Kooperation mit den Fachbeamten zur inhaltlichen und organistorischen Abstimmung, auch im Hinblick auf die Wiener Gespräche im Dezember 1986 und im Mai 1990 und auf die öffentliche Anhörung im Mai 1993; 20 - Kooperation mit den vier Arbeitsgruppen; - Koordination der Arbeiten an den Bänden IDS -Kommission (Hg.) (1985, 1989) und Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1992, 2 1993), deren endredaktionelle Bearbeitung und Herstellung; - insbesondere im Zusammenhang mit dem Band IDS -Kommission (Hg.) (1989) Kooperation mit der Gesellschaft für deutsche Sprache (speziell mit Hans Bickes, dem damaligen Geschäftsführer); - Erarbeitung der Basisliste für das Wörterverzeichnis in Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1995). Im Oktober 1993 tritt Mentrup aus dem Reformunternehmen aus. 21 20 Die Fachbeamten in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz sind ebenso kooperativ wie konstruktiv an den Reformbemühungen beteiligt. In besonderer Weise möchte ich ( WM ) in Deutschland nennen: Ministerialdirigent Franz Niehl (Kultusministerium Nordrhein-Westfalen), Ministerialrätin Helene Lipowski (Kultusministerium Rheinland-Pfalz), Dr. Tobias Funk (Sekretariat der Kultusministerkonferenz), Ministerialrätin Dr. Monika Palmen-Schrübbers (Bundesinnenministerium). 21 Ich ( WM ) meine: Zu einer vernünftige(re)n Reform gehören vor allem, wenn natürlich auch nicht nur, die Kleinschreibung der Substantive und die Aufhebung der Unterscheidungsschreibung das (Artikel, Pronomen) - daß/ dass (Konjunktion) → einheitlich das (so auch Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) 1992, S. XXIII , XVI ). Doch spätestens seit der öffentlichen Anhörung im Mai 1993 ist endgültig klar, dass dies an der politischen Konstellation insbesondere in Deutschland scheitert. Damit ist zugleich der <?page no="193"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 193 Nachfolger im Amt wird Klaus Heller. Neben der Beteiligung an der weiteren Bearbeitung des Regelwerks fallen insbesondere folgende Aufgaben an: - Erarbeitung des Wörterverzeichnisses in dem Band Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1995); - Endredaktion und Herstellung der Bände Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1995) und Amtliche Regelung (1996); - als Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung (1997-2004) Endredaktion und Herstellung der vier Berichte der Kommission und des Bandes Amtliche Regelung (2005); - Erstellung der Sprachreport Extra-Ausgabe zu Amtliche Regelung (1996) (Heller 1996). Im Januar 2005 scheidet Heller mit 65 Jahren aus. Kerstin Güthert nimmt die Stelle der Geschäftsführerin des Rates für deutsche Rechtschtschreibung ein. Als Hauptaufgaben fallen an: - Erstellung zahlreicher Vorlagen für die Diskussion und für die Entscheidungen im Rat; - Endredaktion und Herstellung der Bände Rat für deutsche Rechtschreibung (Hg.) (2006a, b); - Erstellung der Sprachreport Extra-Ausgabe zu Amtliche Regelung (2006) (Güthert 2006). Die Druckfassung aller angeführten Publikationen wird von Karin Laton erstellt. Eine Ausnahme ist Güthert (2006), deren Druckfassung von Claus Hoffmann erstellt ist. Die Geschäftsstelle der Zwischenstaatlichen Kommission und des Rates sind (so 1996 in der Wiener Absichtserklärung) beim Institut bzw. (so 2004 in der Satzung des Rates) am Institut für Deutsche Sprache eingerichtet oder (so 2005 in der Amtlichen Regelung) vom Institut beherbergt; wobei die konkurriende Varianz dieser Ausdrücke vermuten lässt, dass auch in ihnen, wie schon anderenorts beobachtet (vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 2.1), die vielschichtige Gemengelage unterschiedlicher Interessen zu Worte kommt. Dies gilt im zeitlichen Vorfeld der Einrichtung der Zwischenstaatlichen Kommission auch für die lange Auseinandersetzung innerhalb des Internationalen Arbeitskreises darüber, ob der Inhaber der die Geschäfte führenden Stelle Sekretär Weg zu einer solchen Reform für lange Zeit versperrt. Denn in absehbarer Zeit wird vor dem Hintergrund aller gemachten Erfahrungen wohl niemand einen neuen Vorstoß in Richtung auf eine durchgreifende(re) Reform unternehmen. <?page no="194"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 194 oder Geschäftsführer heißen solle und ob nicht administrativer Sitz eine geeignete Bezeichnung für diese Stelle sei; wobei sich dann auch hier das Wechselspiel zwischen am und im IDS wiederholt. Beendet wird all dies durch Gerhard Stickel als Vorstand, der den Entwurf einer Satzung an die politischen Stellen verschickt mit der Etablierung der Bezeichnung Geschäftsstelle in Folge. Sind die Reformtätigkeiten institutionell auch in der Arbeitsstelle verortet, so sind doch weitere Stellen des IDS, so insbesondere das Direktorat (Gerhard Stickel, Ludwig M. Eichinger) und die Arbeitsstelle für Öffentlichkeitsarbeit (Annette Trabold), zeitweise extrem mit eingebunden, bedingt durch die gesellschaftliche Relevanz und auch durch die politische und öffentliche Brisanz dieses Themas und Bereichs. Die über den gesamten Berichtsraum von den Akteuren und insbesondere vom IDS durchgeführte Information der Öffentlichkeit über dieses Reformvorhaben ist äußerst vielgestaltig und vielschichtig. 22 Sie löst Reaktionen von außen aus in Form von Berichten über das Vorhaben und von Stellungnahmen zu diesem, was wiederum Reaktionen der Initiatoren nach sich zieht: Sich hochschraubende Spirale der seit 1980 andauernden Diskussion in breitester Öffentlichkeit. Pauschal sei festgestellt: Noch nie ist die Wissenschaft, die Öffentlichkeit, die Bevölkerung und (um mit Rudolf von Raumer zu sprechen: ) das Volk über einen so langen Zeitraum im Vorfeld einer angestrebten Reform der Rechtschreibung über deren Zwischenstadien bis hin zum endlich erreichten Ergebnis in allen Medien einschließlich eines mehrfach ausgestrahlten Fernsehfilms speziell über dieses Thema (Kilian/ Mentrup 1990) so intensiv und umfassend informiert worden wie diesmal, und zwar von 1980 an bis in die Gegenwart. Gegenteilige Darstellungen wie ausgeheckt von einer weitgehend anonymen Expertengruppe, einer Clique selbsternannter Experten oder auch von Sesselfurzern im stillen Kämmerlein sowie Heimlichtuerei, Überrumpelungstaktik, Diktatfrieden usw. sind Zeugnis blinder Unkenntnis, eitler Ignoranz oder was auch immer; jedenfalls sind sie blanker Unsinn. Selbst wenn du dir eine Neuregelung anders vorgestellt hast und die von 1996 oder die von 2006 in Teilen als nicht ausreichend ansiehst: All dies ist selbst dieser Geschichte nicht angemessen. 22 Vgl. im Literaturverzeichnis exemplarisch die einschlägigen Beiträge in der IDS - Hauspostille Sprachreport von Mentrup (1985c) u.a. über Hoffmann (1988) und Heller (1996) bis hin zu Güthert (2006). <?page no="195"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 195 Wenn 1876 der Königlich Preußische Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten Adalbert Falk der Ansicht war, durch die authentische Publikation der Materialien der Orthographischen Konferenz von 1876 werde den „im Scherz und Ernst verbreiteten Schreckbildern von den Vorschlägen der Kommission und von den Absichten der Regierungen der Boden entzogen“ und einer sachbezogenen Diskussion der Boden bereitet (Falk 1876/ 8.3., S. 16), so zeigt sich schon damals wie in verstärktem Maße auch heute, dass diese Erwartung zumindest gegenüber bestimmten Kreisen naive Illusion ist. 3. Historisch Überkommenes: Langzeitigkeiten - Paradox oder Aporie? 3.1 Zeitläufe: 1956 bis 2006 - 1833 bis 1901 Der neue Anlauf beginnt, so die engere Vorstellung, um 1975 und benötigt rund 30 Jahre, bis eine, wie auch immer erneuerte, neue amtliche Regelung 2006 in trockenen Tüchern liegt. Verlegt man den Beginn in das Jahr 1956, in dem der Arbeitskreis für Rechtschreibregelung sich, amtlich legitimiert, konstituiert, so ergibt sich ein Zeitraum von rund 50 Jahren. Erinnert man daran, wie viele Vor- und Zwischenfassungen den Weg bis 2006 pflastern, wie viele private und staatliche Institutionen, Arbeitsgruppen, Kommissionen u.Ä. und wie viele Tagungen, Sitzungen, amtliche Gespräche u.Ä. allein schon oben (in 1 und 2) ins Spiel gekommen sind; bedenkt man, dass über die Zeit hin die BRD und die DDR, nach der Wiedervereinigung Deutschland sowie Österreich und die Schweiz intensiv beteiligt sind und dass die Wiener Absichtserklärung (1996/ 1.7.) von Vertretern aus acht Staaten abgesegnet wird, so wird insgesamt deutlich, welch großer, ja: riesiger Aufwand an Zeit und ‘Personal’, an Energie und Arbeit notwendig ist, um die Amtliche Regelung (1901) endlich abzulösen. Als Gegenbild in der Vergangenheit findet sich: Die 26 Teilnehmer der 2. Orthographischen Konferenz von 1901 brauchen gerade mal drei Tage, um die Diskussionsvorlage, eine neue Bearbeitung von Preußen (1880), zu verabschieden (Beratungen 1901); wobei bis heute ungeklärt ist, wer diese erstellt hat. Die Vorlage für die 1. Orthographische Konferenz von 1876 wird von nur einem, von Rudolf von Raumer, erarbeitet (Raumer 1876a); die Konferenz besteht aus 14 Mitgliedern und sieben weiteren Teilnehmern und dauert zwölf Tage (Verhandlungen 1876). <?page no="196"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 196 Der Weg zu der Amtlichen Regelung (1901) scheint recht einfach und gradlinig zu sein. Früher, könnte man denken, war halt manches einfach(er). Doch der Eindruck täuscht. Die Konferenzen von 1901 und 1876 sind nicht einfach so vom Himmel gefallen; sie sind keine isolierten Einzelereignisse, sondern Stationen eines langen Entwicklungsprozesses; wobei wir uns hier ausschließlich auf eine Skizze der amtlichen Schiene beschränken. Die ersten Konzepte regional amtlicher Rechtschreibregelungen sind mit Erfurt (1833) und SchweizZürich (1837) benannt als der Anfang des Bemühens um eine amtliche Regelung. Es folgen u.a. Hannover (1855), Leipzig (1857) und Württemberg (1861), mit denen sich Raumer kritisch auseinandersetzt, wobei er in beispielhaft ausgewogener Weise das aus seiner Sicht Unzutreffende zurechtrückt und das als positiv Angesehene nachdrücklich hervorhebt und weiterführt (Raumer 1855b, 1857a bis c, 1862). Sowohl diese praktisch orientierten Beiträge als auch seine theoretischen und historischen Arbeiten über die (Prinzipien der) Orthographie (Raumer 1852, 1855a, 1856) erklären, dass Raumer vom Staatsminister Falk mit Zustimmung aller Hohen Bundesregierungen ersucht wird, eine Vorlage für die von Falk für Januar 1876 anberaumte Konferenz zu erarbeiten (Verhandlungen 1876, S. 3-7). Bei der Erarbeitung seines Regelwerks (Raumer 1876a) schließt Raumer sich Berlin (1871) an, mit dessen „Ansichten“ er „in allem Wesentlichen“ übereinstimmt (Raumer 1876b, S. 53), wobei dieses Regelwerk seinerseits Raumers Schriften verpflichtet und in Wilmanns (1871) ausführlich kommentiert ist. Der weitere Verlauf ist mit Konferenz (1876) im Verein mit Raumer (1876c) als Kommentar und Duden (1876) als streitbarer Kampfschrift, mit Preußen (1880) im Verein mit Wilmanns (1880) als Kommentar und Duden (1880) als auslegender Interpretation sowie mit Beratungen (1901) und deren Ergebnis wie Preußen (1902) oder Bayern (1903) grob skizziert. Von 1833 bis 1901 erscheinen in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz 23 insgesamt 23, wie wir sagen, amtliche Hauptwerke mit zahlreichen Folgeausgaben (vgl. unten den Beitrag von Bankhardt, 2.1.2 (1)), über 23 Hingewiesen sei auch auf die Konferenz zur Erzielung einer einheitlichen Rechtschreibung in den schweizerischen Kantonen (Verhandlungen 1892), die sich der preußischen Regelung, wie sie in Dudens Wörterbuch niedergelegt ist, anschließt. <?page no="197"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 197 die als Vor- und Zwischenfassungen im Zuge der allmählichen Angleichung und auch durch stilles Übereinkommen über die Zeit von rund 70 Jahren hin der Weg zu der amtlichen Einheitsorthographie von 1901 führt. Bedenkt man zudem, dass nahezu alle dieser vorgängigen Orthographien das Ergebnis langwieriger Konferenzen von Lehrern, innerhalb organisierter Vereine oder speziell eingerichteter Kommissionen sind und wie viele staatliche Stellen mit im Spiel sind (im Einzelnen vgl. insbesondere Schlaefer 1980b, 1981), so wird insgesamt deutlich, welch großer, ja: riesiger Aufwand an Zeit und ‘Personal’, an Energie und Arbeit notwendig ist, um die Amtliche Regelung (1901) endlich zu erreichen. Der Weg in Richtung auf eine (neue) amtliche Regelung ist lang und mühsam; gleichviel, ob in der weiteren oder jüngeren Vergangenheit, ob in der näheren oder weiteren Zukunft. Das eine Ziel des damaligen Bemühens auf der amtlichen Schiene ist, die „möglichste Übereinstimmung“ (SchweizZürich 1837, Vorwort), „eine größere Gleichmäßigkeit“ (Hannover 1855, S. 3) der Regelung in den jeweils regional kompetenziellen Bereichen zu erzielen, was 1901 dann insgesamt für Deutschland, Österreich und die Schweiz erreicht wird. Das zweite Ziel, die Beseitigung von Missständen und Gebrauchsschwankungen (Hannover 1955, S. 3), d.h. die Vereinfachung der Regelung, bleibt 1901 auf der Strecke und wird der Zukunft überantwortet (Duden 7 1902, Vorwort); so auch die „Beseitigung der großen Anfangsbuchstaben, die für Lehrer und Schüler ein wahres Kreuz sind“ (Duden 1908, S. 336), wie nunmehr auch mit der Amtlichen Regelung von 2006. 3.2 Konzepte im Wechsel und in Konkurrenz: ph, rh, th - Schif ( f )fahrt Das Bemühen um die Beseitigung von Missständen der Orthographie, um ihre Vereinfachung zum Nutzen ihrer Anwender begleitet die Kodifizierung der deutschen Orthographie in deutscher Sprache von Beginn an, was schon die Überschrift „Vom mangel vnd f ( hl vnsers A be cees“ (Ickelsamer um 1534, S. 137, Anm. 109*) exemplarisch zeigt, 24 und was auch erklärt, dass gegensätzliche Konzepte, die Schreibung von Einzelfällen, von Fallgruppen 24 Damit bringt sich die Anfangs-, die Umbruchszeit um 1500 in Erinnerung, die, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt, aus oben (vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 3.2) bereits bekannt ist. <?page no="198"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 198 oder von Teilbereichen zu regeln, im Verlauf der Entwicklung seit jeher miteinander konkurrieren oder im Wechsel miteinander stehen. 25 Ein Beispiel dieses stetigen Wiedergängertums ist die Fallgruppe ph, rh, th. Die meisten der 80 Reformvorschläge von 1980-1902 sehen die Umstellung in p, r, t vor (Jansen-Tang 1988, S. 65-121; 563-567); diese wird 1901 auf der 2. Orthographischen Konferenz abgelehnt (Beratungen 1901, S. 343- 344). 1898 fordert Duden, Überflüssiges wie ph, th zu beschränken (Duden 1898, S. 767); dies wird 1876 auf der 1. Orthographischen Konferenz abgelehnt (Verhandlungen 1876, S. 104). Aichinger (1754, S. 12) ist durchaus dafür, einige Wörter mit f zu schreiben; doch „Filo _ ofen und Profeten [...] _ ehen etwas verwunderlich aus“. 1672 beobachtet Pudor bei solchen, „ _ o der Neugierigkeit ergeben“, Fari „ eer, Fili „ ter, Jo „ ef; doch solch „unn = htige Schreibk F n _ tlerey“ werde kaum angenommen (Pudor 1672, S. 19). 1534 stellt Ickelsamer fest: „Das / th/ brauchen die teüt _ chen ongef ( r für ein / t/ [...] wi _ _ en aber [...] nit / was der wind h hie für ein zierde gibt / darumb _ ie es auch _ elten recht brauchen“ (Ickelsamer um 1534 S. 138-139 Anm. 120-123*). Kritisiert er dies auch als Mangel, so nimmt dieser von ihm festgestellte damalige Schreibbrauch doch vorweg, was Generationen von Reformern nach ihm zu erreichen versuchen sollten, und zwar vergeblich, sodass dieser weiterhin offene Fall auch in der Zukunft aktuell bleiben wird. Die auch in der Gegenwart viel diskutierte Fallgruppe um Schif(f )fahrt ist ein Beispiel dafür, wie ein von uns über zwei Jahrhunderte hin beobachtetes Bemühen um die Regelung einer schon wegen ihrer Beispiele ebenso kuriosen wie marginalen Gruppe sich wiederholt und permanent im Kreise dreht, dabei nahezu alle Regelungsmöglichkeiten durchspielt, damit man am Ende entscheiden kann, welche denn nun eigentlich die angemessenste ist. In der folgenden Skizze beschränken wir uns ausschließlich darauf, den Wechsel der Konzepte anzugeben und den Akteur zu benennen, der, nach 25 Dies wird trotz der Amtlichen Regelung (2006) auch in der Zukunft so bleiben, allein schon deswegen, weil einiges auch dort noch offen geblieben ist und weiterhin für Unruhe sorgen wird, so etwa die Regelung der Groß- und Kleinschreibung, die erneut verbotene Trennung A-bend und die beibehaltene Trennung Zu-cker (dazu Mentrup 1993a, S. 22-30; 1999, S. 200). <?page no="199"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 199 unseren Beobachtungen, in der Konstellation dieser Diskussion das jeweilige Konzept zum ersten Mal vorträgt: 26 • 1782 empfiehlt Adelung die Anwendung des Bindestrichs, um das Auge nicht durch drei gleiche Zeichen zu verletzen (Adelung 1782, Bd. 2, S. 790). Also Bett-Tuch. • 1838 plädiert Heyse für die Beibehaltung aller drei Konsonantbuchstaben (Heyse 5 1838, S. 252). Also Betttuch, Schifffahrt. • 1854 beklagt J. Grimm „die unbarmherzigen schreibungen schnelllauf stalllicht stammmutter betttuch massstab missstimmung weissschnabel gefängnisssträfling schifffahrt “ und spricht sich damit für die kürzere Form aus (Grimm 1854, S. LXI ). Also Bettuch, Schiffahrt. • Berlin (1871, § 17) bringt zudem - nach unserer Beobachtung zum ersten Mal - explizit die Trennung mit ins Spiel: Also Schwimmeister, bei Trennung Schwimm-meister. • Konferenz (1876, § 5. c) und Preußen (1880, § 14. d) unterscheiden zwischen Brennessel, Schiffahrt, in denen man drei Konsonantzeichen gewöhnlich vermeidet, und weniger gebräuchlichen Wörtern, in denen man sie zulässt: allliebend, Schallloch, Schnellläufer, Stillleben, Zolllinie, Schwimmmeister, Betttuch. Also Hic Schiffahrt - Illic Schwimmmeister. Zur Trennung wird nichts gesagt. • 1901 (2. Konferenz) werden generell beide Schreibungen als Varianten zugelassen und bei Trennung drei Buchstaben vorgeschrieben (Preußen 1902 und Bayern 1903, § 14. c). Also Schiffahrt, Schwimmeister und Schifffahrt, Schwimmmeister, bei Trennung Schiff-fahrt, Schwimm-meister. • Duden (1903, S. X) differenziert: Bei drei gleichen Konsonantbuchstaben zwischen Vokalbuchstaben ist einer zu streichen, bei Trennung jedoch nicht. Also Schiffahrt, bei Trennung Schiff-fahrt; sowie, bei folgendem Konsonantbuchstaben, Schifffracht, Schiff-fracht. • Rust (1944, § 19. 6 und § 25. 4) hebt diese Differenzierung auf: Bei drei gleichen Konsonanten ist generell einer zu streichen, bei Trennung jedoch nicht. Also Schiffahrt, Blattrichter, bei Trennung Schiff-fahrt, Blatt-trichter. • Die Wiesbadener Empfehlungen (1959, S. 18) ziehen die letztmögliche Konsequenz auf dieser Schiene, also generell nur zwei Konsonantenbuchstaben, und das auch bei Trennung. Also Schiffahrt, Blattrichter, Schif-fahrt, Blat-trichter. 26 Die Begründungen sowie die Konkurrenz, das zeitliche Nebeneinander mehrerer Konzepte, bleiben dadurch (weitgehend) (dr)außen vor. Ausführlich zu dem Schicksal der Regelung dieser Fallgruppe im Zusammenhang mit den Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen (1955 bzw. 1959) und auf der Linie ‘des Duden’ vgl. Mentrup (2007, 3.3.1.1 bzw. 4.1.1.1 (3)). Zum Schicksal insgesamt vgl. Mentrup (i.Vorb.). <?page no="200"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 200 In der Amtlichen Regelung (1996, 2006) findet die „allgemeine Regel, nach welcher in Compositis die Bestandteile ihre Schreibung behalten“, Anwendung, die bereits Wilmanns (1880, S. 116) formuliert, die er auf der 2. Orthographischen Konferenz von 1901 als Antrag einbringt, der aber abgelehnt wird (Beratungen 1901, S. 338), und die u.a. Heyse schon 1838 vorgeschwebt haben mag. Wäre 1901 der Antrag von Wilmans angenommen worden, dann wäre diese Geschichte bereits vor über einhundert Jahren zumindest amtlich beendet gewesen. 27 3.3 Die Orthographie: Amtlicher Sach-, Gebrauchstext für Laien - Nicht Reformierbar? Die Orthographie ist der einzige sprachliche Bereich, für den die Regelungs- und Entscheidungskompetenz beim Staat liegt, mit Geltung für Schulen und Behörden. Heißt dies auch zunächst, dass du ansonsten, also etwa privat, so schreiben kannst, wie du willst, so hat die amtlich festgelegte Rechtschreibung doch eine übergreifende Vorbildfunktion für alle. Die kodifizierte amtlich festgelegte Orthographie ist, in welcher Darreichungsform auch immer, das Sachbuch auf diesem Feld und, als amtlicher Anleitungs- und Gebrauchstext praktisch für alle, der Bestseller unter den Büchern, die mit Sprache zu tun haben. Und es verwundert angesichts dieser Gewichtigkeit nicht, dass in religiöser Metaphorik und sakraler Überhöhung von der Rechtschreibbibel und auch Sprachbibel sowie, bezogen auf einzelne zeitweise als hier maßgebend angesehene Personen, vom Rechtschreibpapst die Rede ist und dass im 19. Jahrhundert Orthographiebücher im Titel als Katechismus ausgewiesen sind (dazu vgl. Mentrup 2007, 4.2). Wie vieles andere auch, das ex cathedra oder qua Amtlichkeit sich an den Laien wendet und diesen in die Zucht oder Pflicht zu nehmen versucht, bereitet die Orthographie diesem als Anwender erhebliche Probleme, wie jede(r) aus eigener Erfahrung im Alltag weiß, und das nicht nur heute, sondern spätestens seit Ickelsamers Zeiten. Auch hier (wie anderenbereichs etwa bei Formularen oder Gebrauchsanweisungen; dazu vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 2.2.1) erfolgt die Lektüre 27 Ein anderes Beispiel dieser Art ist die Geschichte der s-Schreibung, die nach einem ebenfalls Jahrhunderte andauerndem Hin und Her ein, wie wir meinen, glückliches Ende findet; wobei auch hier Heyse nach einigem Schwanken die Lösung vertritt, die seit 1996 bzw. 2006 dann amtlich ist (vgl. Mentrup 1993a, S. 83-88). <?page no="201"?> Bemühungen um eine Reform der amtlichen Regelung der Orthographie 201 nicht aus freien Stücken, sondern steht unter dem alltäglichen Zwang, in einer orthographischen Problemsituation die richtige Lösung zu finden; allein schon, um sich angesichts des (überzogenen) Stellenwerts, den die Rechtschreibung in der Gesellschaft hat, durch fehlerhafte Schreibungen nicht zu blamieren. Maßnahmen zur Abhilfe sind im Verlauf der Zeit viele durchgeführt worden, so u.a.: - schlichte Ausklammerung als besonders schwierig angesehener Bereiche wie insbesondere die der Interpunktion (Verhandlungen 1876, Beratungen 1901); was dem, der sich in Kommafragen kundig machen will, natürlich nicht aufs Fahrrad hilft; - Adressaten-spezifische Fassungen etwa für höhere Schulen und für Volksschulen (Duden 1872a bzw. b; Hannover 1855 bzw. Hannover 1857; Verhandlungen 1876, S. 84); - Register der grammatischen Terminologie mit Erläuterungen (z.B. in Duden- Rechtschreibung [oder auch Der Kleine Duden] 2 1939), Wechsel zwischen lateinischen und deutschen Termini; wobei auch deutsche Termini als schwere Wörter natürlich Probleme machen und zudem die sachgegebene Grammatikalisierung der Orthographie nicht aufhebbar ist (Mentrup 1989e); - begleitende Hilfsmittel wie Kommentare (Wilmanns 1871, 1880), interpretative Auslegungen (Duden 1880), Informationsbroschüren vielfältigster Art auch seit 1995; - im Zusammenhang mit Amtliche Regelung (1901) oder (1996) Zusammenstellung der geänderten Schreibungen nach dem Motto Vorher - Nachher (Stanze 1994b, S. 199-202; Heller 1996). Doch all dies geht an dem Eigentlichen vorbei und betrifft nicht den Kern. Denn ähnlich wie bei der Bibel können weder offiziell eingesetzte Kommissionen als Textproduzent noch Kommentatoren und Interpreten noch Reformatoren an dem Inhalt der sanktionierten Orthographie in Richtung auf eine Vereinfachung von sich aus etwas ändern, sondern allenfalls an der Darreichungsform. So begründet einschlägige Vorschläge zur Änderung auch sein mögen, sie bedürfen der Zustimmung und Absegnung durch die Stellen mit Entscheidungskompetenz. Und was das innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen und politischen, der medialen Konstellation mit sich bringen kann, dürfte oben deutlich geworden sein. Eine Reaktion ist resignativer Zweifel an dieser Konstellation und an der Möglichkeit einer Reform in ihr: „[...] jeder Reformversuch [hier bezogen <?page no="202"?> Wolfgang Mentrup/ Christina Bankhardt 202 auf die Regelung der Groß- und Kleinschreibung], sofern er nicht autoritär durchgesetzt wird, scheint [...] zum Scheitern verurteilt zu sein“ (Mentrup 1969, S. 256); was mir (WM) eine harsche Kritik von Jost Trier einbrachte, der seine Bemühungen in der 50er-Jahren insbesondere um die Wiesbadener Empfehlungen dadurch in Misskredit gebracht bzw. nicht so recht gewürdigt sah. Ein Anderes ist es, die Reformbereitschaft der Deutschen, die Reformierbarkeit der deutschen Orthographie überhaupt in Abrede zu stellen, was seit Beginn ihrer Kodifizierung das Bemühen um ihre Reform begleitet und wie ein ständiger Fluch über ihnen schwebt: „Von den [...] vnge _ chickligkaitten der Orthographien / ja mehr Cacographien [...] vnd des w G_ ts vnentlich vil / will ich nichts von _ chreiben / Es haben andere gen G g _ am thon / vnd werden _ ich auch die teüt _ chen hierinn nit Reformiern la __ en.“ (Ickelsamer um 1534, S. 142). So passt sich auch hier ins Bild ein, dass in dem Bericht Ein neuer mühsamer Schritt auf dem Weg zur Reform der Orthographie (Mentrup 1987c) Sisyphus, Sinnbild für vergebliche, und also immer erneut zu beginnende Arbeit, als Schutzheiliger nunmehr auch für die Orthographen und Reformer bemüht wird, wie anderenbereichs (vgl. oben den Beitrag von Mentrup, 2.2.2) für die Lexikographen. Orthographie und die Möglichkeit ihrer Reform: Ein Paradox oder eine Aporie? Wer kann das schon wissen. Und doch - Mit Sisyphus verbindet sich noch eine andere, weniger bekannte Geschichte: Als Orpheus nach Eurydikes Tod vor den Thron des Hades und seiner strengen Gemahlin zum süßen Klang der Saiten seine Leier singt: ‘Schenkt ihr das Leben von neuem’, da horchen die blutlosen Schatten auf und weinen; der unselige Tantalos hascht nicht mehr nach den fliehenden Wassern, Ixions sausendes Rad steht still und sogar Sisyphus vergisst seine Qual und setzt sich auf seinen Felsblock, um den sanften Klagetönen zu lauschen (Schwab 1974, S. 96). Die an das oben Dargestellte anknüpfende Deutung dieser Geschichte überlassen wir allerdings anderen. <?page no="203"?> Christina Bankhardt Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen Das Institut für Deutsche Sprache ( IDS ) ist die zentrale Stelle zur Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache in ihrem Gebrauch und in ihrer neueren Geschichte. ( IDS -Satzung 1997) 1 1. Zur Entstehung Auf der Sitzung des Leitungskollegiums des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) vom 8.6.1998 wurde im Rahmen der Planung für die Abteilung Grammatik und speziell für die Arbeitsstelle Graphie und Orthographie auf Vorschlag von deren Leiter, Wolfgang Mentrup, der Punkt „Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen“ in die neue Planung aufgenommen und damit die Einrichtung dieses Archivs beschlossen (Mentrup 1998/ 10.6.). Dabei geht es insbesondere darum, einerseits die im IDS und speziell in der Arbeitstelle verstreuten Dokumente und Dokumentationen von Aktivitäten im Themenbereich Orthographie und ihre Reform in einem projekteübergreifenden Archiv zusammenzuführen und andererseits einschlägige Nachlässe auch ‘von draußen’ einzuholen und sicherzustellen. Gesamtziel ist, beide Materialmengen der von der Arbeitsstelle und vom IDS organisierten bzw. betreuten wissenschaftlichen Auswertung verfügbar zu machen. Seit August 2004 wird das Archiv von Christina Bankhardt und Wolfgang Mentrup inventarisiert und neu geordnet. Die betrifft u.a.: - die Zusammenführung inhaltlich zusammengehörender Dokumente und Dokumentengruppen in Ordnern; 1 Die für diesen Beitrag und für die vorausgehenden Beiträge von Mentrup und Bankhardt angeführte Literatur ist im Anschluss an die Beiträge insgesamt zusammengestellt (siehe unten S. 221ff.) und dabei chronologisch mit Bezug auf das Erscheinungsjahr angeordnet, um sowohl die zeitliche Aufeiander- und Abfolge als auch die zeitliche Parallelität, das zeitgleiche Nebeneinander von Ereignissen augenfällig zu machen. <?page no="204"?> Christina Bankhardt 204 - die auch für Außenstehende einsichtige (Neu-)Benennung dieser Ordner und der in ihnen enthaltenen Dokumente(ngruppen); - die Festlegung der Abfolge dieser Ordner im Sinne einer inhaltlich stimmigen Gliederung und einer überschaubaren Makrostruktur sowohl der elektronischen Datei als Hypertext wie auch der gedruckten Dokumente; - die Ausstattung der Darreichungsform des Ganzen im PC mit Links; - die Erstellung einer Broschüre zur Information, für die mit der in diesem Beitrag gegebenen Übersicht die Grundlage gelegt ist; - die Überprüfung von (Teil-)Komponenten unter dem Gesichtspunkt, sie im Internet verfügbar zu machen . Diese Schritte waren für die Erschließung des Archivs aus folgenden Gründen notwendig: Die vorfindliche Anordnung im Kleineren, insbesondere die Benennungen sowie die Gesamtstruktur waren im Zuge der langzeitigen Erarbeitung und der weiteren Bearbeitung innerhalb dieser Arbeitswelt sukzessive entstanden; sie hatten sich aus ihr ergeben und sich in dieser gewissermaßen verselbständigt. Sie machten innerhalb dieses Horizontes für die unmittelbar eingebundenen Beteiligten durchaus Sinn und waren für diese als Insider verständlich. Doch schon aus einer gewissen zeitlichen Distanz zu diesem Komplex und insbesondere für Außenstehende erwies sich vieles als recht rätselhaft, als undurchsichtig und ließ keine inneren Zusammenhänge erkennen. 2. Drei Hauptkomponenten Das Archiv besteht aus drei Hauptkomponenten. Diese sind: Orthographie als der breitgefächerte Schwerpunkt (unten als 2.1), Nachlässe als Dokumentation der Bemühungen um die Orthographie und um ihre Reform von ca. 1930 an bis 2005 (unten als 2.2) und Bibliographien und Bücherbestand (unten als 2.3). 2.1 Orthographie Die Komponente Orthographie ist im Archiv in fünf Einzelkomponenten untergliedert. Die ersten drei sind definiert durch Jahrhunderte: 1 Das 16.-18. Jh. 4 Bibliographien 2 Das 19. Jh. (allgemeinerer Art) 3 Das 20. Jh. 5 Historisches Den Schwerpunkt bildet das 19. Jh., das entsprechend in diesem Beitrag im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Bestandteile der anderen Komponenten fließen von Fall zu Fall mit ein. <?page no="205"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 205 2.1.1 Das 19. Jh. als Schwerpunkt (1) Der Ausgang: DFG-Projekt „Orthographiedarstellungen 19. Jh.“ Ausgang der Komponente ‘Das 19. Jh.’ ist das DFG-Projekt Orthographiedarstellungen des Deutschen im 19. Jh. - Die Entwicklung der Wortkomponente, dessen Hauptgegenstand praktische Orthographiedarstellungen sind, und zwar mit Regelteil und mit Wörterteil. 2 Mit Rechtschreib- oder Orthographiebuch werden selbständige Darstellungen gegenüber solchen, die Bestandteil z.B. einer Grammatik wie in Heyse ( 3 1822) sind, terminologisch abgegrenzt. Unterschieden werden amtliche Orthographiedarstellungen (seit Erfurt 1833) und private, d.h. solche privater Autoren (seit Anfang des 16. Jh.s). Die Angabe „im 19. Jh.“ betrifft die Hauptmenge der erfassten Darstellungen. Einige wenige, wie Adelung (1788), stammen aus der 2. Hälfte des 18. Jh.s. Im amtlichen Bereich sind alle Werke auch des 20. Jh.s, soweit sie uns bekannt sind, mit berücksichtigt. Einerseits ist das Bemühen um eine Einheitsschreibung, verbunden mit der Herausbildung des Typs amtliches Orthographiebuch, bis 1901 ein zentraler Aspekt dieses Projektes. Andererseits ist die Weiterführung der amtlichen Linien als solche und zudem mit Blick auf Rust (1944) und auf die Amtliche Regelung (1996, 2004 und 2006; hierzu vgl. oben den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, insbesondere 2) von besonderem Interesse. Leiter des Projektes: Wolfgang Mentrup (01.09.2000 Rente; Weiterarbeit darüber hinaus). Hauptbearbeiter von August 1992 an, dem Beginn der zunächst für zwei Jahre bewilligten Laufzeit, war Norbert Schrader, unterstützt von Petra Teutsch als wissenschaftlicher Hilfskraft. Am 6. Mai 1994 bewilligte die DFG die Mittel für das dritte Jahr. Geplant war, in dieser Besetzung bis August 1995 die Analysen der Orthographiedarstellungen abzuschließen und die primär auf den Wörterteil hin ausgerichtete Auswertung vorzunehmen. Doch wie es dann ja so selten nicht ist, kam es auch hier ganz anders. 2 Damit sind aus dem Spiel: Einerseits das Rechtschreib-, Orthographieregelbuch ohne separate Zusammenstellung von Wörtern, ohne Wörterteil (wie etwa Saß 1935) und andererseits das Rechtschreib-, Orthographiewörterbuch ohne separate Zusammenstellung von Regeln, ohne Regelteil (wie etwa Preußen 1903). <?page no="206"?> Christina Bankhardt 206 (2) Der Ein- oder Umbruch: Nichterreichen des eigentlichen Projektziels Norbert Schrader schied zum 14. November 1994 aus und trat eine längerfristig gesicherte Stelle beim Grimmschen Wörterbuch in Berlin an. Petra Teutsch begann im Dezember 1994 ihren Mutterschaftsurlaub. Um einen Abbruch des Projektes zu vermeiden, erhöhte zum einen Wolfgang Mentrup seinen Anteil an dem Projekt und übernahm Norbert Schraders Arbeitsgebiet; wobei er, wie er einmal sagte, damals nicht so recht überschaute, worauf er sich da einließ bzw. was da auf ihn zukam. Zum anderen wurden die bewilligten Mittel gestreckt, und zwar zur Finanzierung von Petra Teutsch von Oktober 1995 bis August 1996 als wissenschaftlicher Mitarbeiterin und von studentischen Hilfskräften bis September 1996. Ab Oktober 1996 wurden die Arbeiten ohne DFG-Mittel weitergeführt; ab Juni 1997 beteiligte sich Rosemarie Schnerrer, Mitarbeiterin im IDS, an den (Nach-)Analysen. Das ursprünglich vorgesehene Ziel des Projektes, eine insbesondere auf die Analyse des Wörterteils der Darstellungen gestützte Studie über die Entwicklung der Wortkomponente, ist aus personellen, organisatorischen und inhaltlichen Gründen nicht verwirklicht worden. (3) Die Neuorientierung: Änderungen in der Akzentsetzung - Ausweitung des Gegenstandes Projekt-interne Gründe 3 für eine Neuorientierung sind der einschneidende Personalwechsel Januar 1995 und September 1996, der zu den Projektphasen II bzw. III führte, und die mit diesem Wechsel verbundenen Änderungen in der Akzentsetzung. 3 Projekt-externe Arbeiten waren u.a.: 1994 Erarbeitung der Basisliste für das Wörterverzeichnis in Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) (1995) durch Mentrup (vgl. oben den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 2.3); 1996-1997 Beginn der Arbeit an dem Artikel Texte in Medizin-orientierter Kommunikation im Handbuch Deutsch als Fremdsprache (erschienen als Mentrup 2001); 1997 und 1998, z.T. zusammen mit Gerhard Stickel, Gutachten und Stellungnahmen im Zusammenhang mit der juristischen Auseinandersetzung um die Neuregelung der Rechtschreibung (vgl. oben den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 2.2.2). <?page no="207"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 207 Die neuen Akzente betrafen: - die ergänzende Beschaffung von Orthographiedarstellungen, und zwar von privaten und amtlichen, da etwa in Schlaefer (1980a) als nicht beschaffbar gekennzeichnete Werke sich auch durch Nachweise in Stanze (1994a, b) und in Fix (1994) sowie aufgrund eigener Recherchen - ab 1995 nun doch als beschaffbar erwiesen; was auch mit der Erschließung der Bibliotheken in den neuen Ländern nach der Wiedervereinigung zusammenhängen mag; - die Herstellung eines einzigen, einheitlichen Analyserasters (aus den vorfindlichen drei unterschiedlichen Rastern) und Angleichung der bereits durchgeführten Analysen an dieses; - die stärkere Berücksichtigung pragmatischer Gesichtspunkte bei den neuen Analysen und entsprechend die erweiternde Nachanalyse bereits durchgeführter; - den Verzicht auf die Berücksichtigung des Wörterteils bei den neuen Analysen; - die Neuerfassung der amtlichen Titel, die bisher gemäß den Titeln bibliographiert waren, nach Ländern usw., nach Werkslinien und nach Phasen; - den Verzicht auf die Analyse weiterer amtlicher Werke, begründet mit Stanze (1994a, b); - die komplementäre Einbeziehung und Beschaffung von Umtexten, d.h. von theoretischen Beiträgen in der Auseinandersetzung mit der Orthographie im 19. Jh., und deren Analyse. Karin Laton hat viele der einschlägigen Manuskripte geschrieben. Als Hilfskräfte über aufeinander folgende Zeiträume hin haben im Projekt mitgearbeitet und zudem Archivarbeiten durchgeführt: Susanne Bergmann, Susanne Frick, Susanne Krüger, Andrea Weber; Cornelia Bieller, Annabelle Ehmann, Ruben Heim, Jutta Reinisch, Kerstin Steiger; Hagen Augustin, Ilona Ewald; Christina Bankhardt. Mentrups Mitarbeit bezog sich darüber hinaus auf die Bearbeitung bestimmter Schwerpunkte: - 1997/ 1999 Abfassung erster Kapitel über Rust (1944) unter Berücksichtigung der amtlichen Linien und des ‘Duden’; bis April 2002 unter Berücksichtigung neu erschienener Veröffentlichungen zur Amtlichen Neuregelung (1996) fertiggestellt; im Weiteren noch einmal überarbeitet (erschienen als Mentrup 2007); - 1999 Beginn der Arbeit an dem Artikel Orthographie für das Historische Wörterbuch der Rhetorik (erschienen als Mentrup 2003; auf der Grundlage eines umfangreichen Manuskripts Rhetorik - Grammatik - Orthographie); <?page no="208"?> Christina Bankhardt 208 - 1999 Beginn der Arbeit über das Thema Amtliche Regelungen im Rückverfolg mit dem Orthographiebuch Rust (1944) als Ausgangspunkt (Mentrup i.Vorb.); - als Grundlagenpapiere in unterschiedlichen Stufen der Bearbeitung: ab 1994 Fehleranalysen; bis 1996 Konrad Duden unter Rücksicht auf Raumer und Wilmanns sowie auf die Zeitläufte seit ca. 1870; 1998/ 1999 Rudolf von Raumer. Übersicht über Beginn, Laufzeit, Bearbeiter, Finanzierung Phase Laufzeit (Haupt-)Bearbeiter Finanzierung I Zusammenstellung des Analysecorpus und erste Analysen 08/ 92- 12/ 94 N. Schrader, P. Teutsch, Hilfskräfte DFG Ergänzung des Analysecorpus, Herstellung eines einheitlichen Rasters Erweiterung der Gesichtspunkte und deren Berücksichtigung bei den (Nach-)Analysen systematische Beschaffung und Analyse von Umtexten II 01/ 95- 09/ 96 W. Mentrup, P. Teutsch, Hilfskräfte IDS, DFG III 10/ 96- 08/ 00 W. Mentrup, R. Schnerrer (ab 6/ 97), Hilfskräfte IDS IV Erste Auswertungen der Analysen, Arbeiten im Archiv 09/ 00- 07/ 04 W. Mentrup, Hilfskräfte IDS V Systematische Neuordnung des Archivs insgesamt 08/ 04- 2006 Chr. Bankhardt, W. Mentrup IDS VI Endbearbeitung von Materialien u.a. über die amtlichen Rechtschreibbücher 2007 Chr. Bankhardt, W. Mentrup IDS 2.1.2 Orthographiedarstellungen: Gesamtcorpus - Analysen und erste Auswertungen Das Gesamtverzeichnis der ermittelten praktischen Orthographiedarstellungen aus dem 19. Jh. enthält 172 Titel, zusätzliche Auflagen/ Ausgaben sind hier nicht eingerechnet. <?page no="209"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 209 Nicht beschaffbar sind 25 Titel (ein amtlicher Titel, Erfurt 1833, und 24 private). Es handelt sich dabei um singuläre Werke, deren Autoren nach unserem Wissen kein anderes einschlägiges Werk geschrieben haben. Als Materialgrundlage für die Analysen ergibt sich: 172 Titel - 25 nicht beschaffbare Titel = 147 beschaffbare Werke = 41 amtliche Hauptwerke + 106 private Werke. Die Analysen sind nach einem einheitlichen Raster mit den Punkten 0 bis 8 durchgeführt, das sich in stark verschlankter Form so darstellt: 0. Autor und Titel des Werkes 1. Textsorte und pragmatische Merkmale 1.1 Textsorte - Gegenstand 1.2 Heraus-/ Auftraggeber, Autor, Adressat 1.3 Normativer Status 1.4 Historischer Ort: Entstehung(szeit), Grundlagen, Richtung 1.5 Gründe - Ziele - Wertungen 1.6 Prämissen 1.7 Prinzipien(teil) 1.8 Geleitwünsche u.Ä. 2. Bestandteile: in der vorfindlichen Abfolge 3. Regelteil: Bereiche, Inhalt; Anordnung, Verweise 4. Wörterteil: u.a. Lemmata: Menge, Funktion, Anordnung; Arten der Angaben dazu, Verweise 5. Auflagen desselben Werkes; andere Werke des Autors; Rezeption dieser Werke 6. Typisches: Leitwörter - Kernsätze 7. Charakterisierung des Textes 8. Literatur zum Autor/ Werk Die 25 nicht beschaffbaren Werke sind, bezogen auf die Rasterpunkte 0 und 5 und speziell auf die Dichotomie Bestandteil einer Grammatik - eigenständiges Orthographiebuch, mit berücksichtigt. (1) Amtliche Orthographiebücher Das Amts-Corpus umfasst 41 beschaffbare amtliche Hauptwerke. Beteiligt sind 17 regionale, großkompetenzielle Bereiche, so 11 Länder (Baden, Bayern, Hessen, Mecklenburg, Österreich*, Preußen, Sachsen*, Sachsen-Altenburg, Schweiz*, Siebenbürgen, Württemberg), 4 Städte (Berlin, Bremen, Hannover*, Leipzig) und 2 Institutionen (Konferenz 1876, Reichspost). <?page no="210"?> Christina Bankhardt 210 Im Weiteren werden 25 Groß- oder Werkslinien unterschieden. Für die Mehrzahl, oben in der Aufstellung nicht durch * markiert, jeweils eine; für Hannover zwei: Hannover, Hannover Mittel- + Volksschulen (MV); für Sachsen zwei: Sachsen, Sachsen Fremdwörterbuch (Fw); für Österreich vier: Österreich, Österreich Lehrerhaus Verein (LehrV), Österreich Militär (Mil), Österreich Verein Mittelschule (VMi) und für die Schweiz vier: Schweiz St. Gallen (Gall), Schweiz Lehrerverein (LV), Schweiz Verein schweizerischer Buchdruckereibesitzer (VBdr), Schweiz Zürich (Zü). Die Kriterien für diese Unterscheidung sind spezielle Adressaten (MV, LehrV, Mil, VMi, LV, VBdr), regionale Geltung (Gall, Zü) und spezieller Buchtyp (Fw). Die Feindifferenzierung orientiert sich zunächst an der Zeit- und Inhaltsgrenze 1901 (2. Orthographische Konferenz mit der damit gegebenen amtlich einheitlichen Neuregelung). Gibt es bei den Werkslinien Ausgaben vor und nach 1901, so haben die vor 1901 erschienenen den Index 1 (z.B. Preußen1 1880, ÖsterreichMil1 1882), die nach 1901 erschienenen den Index 2 (ÖsterreichMil2 1902). Ist innerhalb des jeweiligen Zeitraumes vor bzw. nach 1901 eine Neubearbeitung durchgeführt bzw. ein neues Rechtschreibbuch erschienen, dann wird dies mit dem jeweils erweiterten Index angezeigt (z.B. Württemberg1.1 1861, Württemberg1.2 1884; Bayern2.1 1903, Bayern2.2 1941, Bayern2.3 1948). Auf diese Weise ergeben sich nach (in der Mehrzahl regional definierten) kompetenziellen Bereichen, nach Werkslinien und nach Zeit- und Inhaltsphasen geordnet 41 Hauptwerke mit insgesamt ca. 270 erfassten Ausgaben. Erfurt 1833 ist, als nicht beschaffbar, darin nicht enthalten. In allen 41 Dokumenten sind die Rasterpunkte 0 und 5 systematisch bearbeitet. Die in der Tabelle kursiv gesetzten 9 Hauptwerke sind nach den Punkten 0 bis 8 analysiert; einbezogen sind drei weitere Ausgaben, was jeweils markiert ist durch #. Diese 9 sind auch Bestandteil des Corpus End-Analysen. <?page no="211"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 211 Amtliche Hauptwerke in der Zeit vor 1901 nach 1901 nur vorher nur nachher Erfurt 1833, SchweizZü 1837, Hannover 1855#, HannoverMV 1857, Leipzig 1857#, SchweizGall 1858, SchweizLV 1863, Berlin 1871, Konferenz 1876, ÖsterreichVMi1879, Mecklenburg 1882(2), Siebenbürgen 1882, SchweizVBdr 1886, Österreich- LehrV1894 Summe 14 Hessen1902, Bremen1903Na, Reichspost1903, Sachsen-Altenburg 1903 Summe 4 1 ⇒ ⇒ 2 Baden1 1881 Baden2 1903 ÖsterreichMil1 1882 ÖsterreichMil2 1902(7) SachsenFw1 1889 SachsenFw2 1903(6) Summe 3 Summe 3 1 ⇒ ⇒ 2.1 + 2.2 Preußen1.1 880 Preußen2.1 1902 Preußen2.2 1952 Österreich1 1879# Österreich2.1 1902 Österreich2.2 1951 Summe 2 Summe 4 1 ⇒ ⇒ + 2.1 + 2.2 + 2.3 Bayern1 1879 Bayern2.1 1903 Bayern2.2 1941 Bayern2.3 1948 Sachsen1 1880 Sachsen2.1 1902 Sachsen2.2 1938 Sachsen2.3 1946 Summe 2 Summe 6 1.1 + 1.2 ⇒ ⇒ 2.1 + 2.2 Württemberg1.1 1861 Württemberg1.2 1884 Württemberg2.1 1902 Württemberg2.2 1949(18) Summe 2 Summe 2 Spaltensumme 23 1901 Zweite Orthographische Konferenz: inhaltliche Neuregelung Spaltensumme 19 Gesamtsumme 23 + 19 = 42 = 41+ Erfurt 1833 <?page no="212"?> Christina Bankhardt 212 Die hier gewählte Art der Anordnung unterscheidet sich qualitativ von der, die vielerorts anzutreffen ist und die aufgrund ihrer alphabetischen Orientierung nach dem Titel unter Berücksichtigung des Erscheinungsjahres dazu führt, dass u.a. in Bibliographien Ausgaben desselben Werkes und derselben Linie an verschiedenen Stellen zu suchen sind, dass also Zusammenhängendes auseinander gerissen wird, disloziert ist (so etwa in Ehlich/ Coulmas/ Graefen (Hg.) 1996, dort etwa die Seiten 1568-1571). 4 Gegenüber der bisher umfangreichsten Zusammenstellung amtlicher Werke, nämlich Stanze (1994a, b), sind ca. 70 Ausgaben mehr erfasst. Zum einen handelt es sich um Ausgaben, die bei Stanze fehlen. Zum andern sind bestimmte Werke, die Stanze nicht als amtlich ansieht, einer amtlichen Linie zugeordnet, da sie, wenn z.T. auch in eingeschränkter Form, für Schulen amtlich verbindlich waren. Dies betrifft z.B.: - Stanglmaier, Hans (1941(2)): Rechtschreibung: siehe Bayern2.2 (1941(2)). - Bayern2.2 (1941(2)): A bis Z Wörterbuch und Regelverzeichnis. Herausgegeben im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus von Hans Stanglmaier. 2. durchgesehene Auflage. München/ Berlin. R. Oldenbourg 1941. - Basler, Otto (1948): Rechtschreibung: siehe Bayern2.3 (1948). - Bayern2.3 (1948): Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Bearbeitet von Otto Basler. München. Leibniz-Verlag. Bisher R. Oldenbourg 1948. Die in diesem Beitrag auch tabellarisch zusammengestellten Werke sind unten im Literaturverzeichnis aus Platzgründen nicht aufgeführt. Einzelne (auch oben in dem Beitrag von Mentrup/ Bankhardt) angesprochene amtliche Werke werden in einer kurzen Zitierform angegeben. 4 So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, die Ausgabe des sächsischen Rechtschreibbuches Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis (1918) dort auf S. 1569 geführt, die Ausgabe Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den sächsischen Schulen (1880) auf S. 1571. Nach unserer Anordnung ergibt sich hier die Abfolge Sachsen1 (1880), Sachsen2.1 (1918). <?page no="213"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 213 (2) End-Analyse (privat + amtlich) und Parallelsortierung Zur Erinnerung: 147 beschaffbare Werke = 41 amtliche Hauptwerke + 106 private Werke. Von den 106 privaten Werken sind 13 als hier so genannte Nebenausgaben in Zusammenhang mit der Analyse eines anderen Werkes desselben Autors, bezogen auf die Rasterpunkte 0 und 5 und speziell auf die Dichotomie Bestandteil einer Grammatik - eigenständiges Orthographiebuch, mit berücksichtigt. Die verbleibenden 93 privaten Werke sind nach den Punkten 0 bis 8 analysiert. In die Analyse mit einbezogen sind insgesamt ca. 150 Ausgaben (einschließlich der Nebenausgaben); bibliographisch miterfasst sind zudem ca. 120 Ausgaben. Insgesamt sind damit ca. 270 Ausgaben im Spiel. Zu den 93 privaten hinzu kommen die oben unter (1) Amtliche Orthographiebücher bereits genannten ausführlichen Analysen 9 amtlicher Hauptwerke: 93 private + 9 amtliche = 102 ausführliche Analysen nach allen Punkten des Rasters. Im Zuge der Parallelsortierung, im Arbeitsjargon auch Queerbeetsortierung genannt bzw. geschrieben, sind die Feststellungen, die in den Analysen zu den Rasterpunkten festgehalten sind, jeweils für die einzelnen dieser Punkte in chronologischer Abfolge in einem Dokument zusammengestellt. (3) Zusammenfassender Rückblick - Erste Auswertungen und Arbeitspapiere Insgesamt handelt es sich um eine systematisch angelegte und in den Rasterpunkten verortete Feststellung des Vorkommens der Behandlung orthographischer Gegenstände und Sachverhalte in den beigezogenen Orthographiedarstellungen über die Zeit hin. Die Durchführung der Analysen einschließlich der Nachanalysen hat sich über den recht langen Zeitraum von acht Jahren (1992-2000) erstreckt und ist verbunden mit einem starken Wechsel der Bearbeiter. Darin ist begründet, dass trotz des hergestellten einheitlichen Rasters die Füllung der Rasterpunkte sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht unbedingt homogen ist. Ausgeglichen werden kann dies durch die Beiziehung der Texte der einschlägigen Darstellungen, die im Archiv vorhanden sind. <?page no="214"?> Christina Bankhardt 214 Übersicht über die beteiligten Orthographiedarstellungen 172 Titel insgesamt = 25 nicht beschaffbar + 147 beschaffbar 147 Orthographiedarstellungen 41 amtliche Hauptwerke 106 private Darstellungen Darstellgn. ca. 270 erfasste Ausgaben ca. 270 erfasste Ausgaben Punkte 0 + 5 Punkte 0 bis 8 Punkte 0 + 5 Punkte 0 bis 8 41 davon 9 25 nicht beschaffbar 93 Analysen 3 weitere Ausgaben 13 Nebenausgaben ca. 150 Ausgaben ca. 120 weitere Ausgaben bibliographisch erfasst Auswertungen allgemeinerer Art betreffen u.a. die chronologische Abfolge von orthographischen und sprachlichen, von technischen, zivilisatorischen, kulturellen und politischen Ereignissen im 19. Jh., die aus dem Rasterpunkt 1.4 Historischer Ort sowie aus durch noch nicht eingearbeitete Zeitungsartikel systematisch ergänzt werden kann zu einem vielgestaltigen Hintergrundpanaroma. Zudem liegt eine ausführliche Ortsbestimmung des Projektes von ca. 1998 aus gesehen vor mit einer Zwischenbilanz damaliger Ergebnisse. Die amtlichen Hauptwerke sind bereits gründlich bezüglich ihrer Ausgaben und der Struktur ihrer Titel bearbeitet, wobei es u.a., und dies gilt auch für die privaten Werke, um ihre quantitative Verteilung über die Zeit hin geht; illustriert anhand zahlreicher Schaubilder und Tabellen. Die Endbearbeitung dieser Materialien ist für 2007 (Phase VI des Projektes) vorgesehen mit einer einschlägigen Veröffentlichung als Ergebnis. Die als Arbeitspapiere rechnergestützt zusammengestellten Unterlagen dokumentieren Ereignisse und Handlungen während der Planung und während der weiteren Entwicklung des Projektes über die Zeit hin und komplettieren die ausgedruckten Dokumente in den Projektordnern, insgesamt die Dokumentation der Geschichte dieses Projektes mit historischem oder, wenn man so will, auch nostalgischem Wert. <?page no="215"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 215 2.1.3 Umtexte (Diskussionstexte) Das Corpus der Umtexte im engeren Rahmen, d.h. von theoretischen Beiträgen in der Auseinandersetzung mit der Orthographie im 19. Jh., umfasst neben einigen authentischen Ausgaben ca. 250 Texte als Fotokopien, 5 angereichert um Texte aus dem 20. Jh., in 25 Archivordnern. Im Weiteren ist eine größere Menge von Texten aus dem 19. und 20. Jh.,die zum größeren Teil unter schulischen Aspekten von Interesse sind, in 11 Ordnern zusammengestellt. Die im Jahr 2000 abgeschlossene Analyse von Umtexten aus dem 19. Jh. umfasst ca. 220 Texte von Autoren, die zum großen Teil nicht zu den ‘Klassikern’ wie Heyse, Raumer, Sanders, Weinhold, Wilmanns und Duden gehören. Die Texte der Klassiker sind in Spezialbeiträgen mit berücksichtigt und in der Umtext-Datenbank nur mit Titel und kurzen Angaben erfasst (ca 30). Die chronologisch geordneten Analysen liegen auch hier in zwei Versionen vor: Als Gesamtanalyse des einzelnen Textes, geordnet nach einem einheitlichen Raster von Gesichtspunkten jeweils in einem Dokument, und als Parallelsortierung der einzelnen Rasterpunkte aus allen Analysen, auch diese jeweils in einem Dokument. Erste Auswertungen betreffen zum einen quantitative Aspekte wie Stoßzeiten, d.h. Häufung solcher Texte zu bestimmten Zeitpunkten oder in umgrenzten Zeiträumen, sowie Vielschreiber, wie etwa Raumer, Sanders, Wilmanns und Duden. Zum anderen dienen themenorientierte Untersuchungen zur (Behandlung der) Groß- und Kleinschreibung und zur s-Schreibung sowie zu Beiträgen über die Geschichte der Orthographie(darstellungen) (u.a. Reichard 1747, Siebenkees 1808, d'Hargues 1862, Egger 1870 und zahlreiche im Anschluss an die Konferenz von 1876) der Vorbereitung des Bandes Kommentierte Dokumentation der Diskussion über die Orthographie im 19. Jh., der unter Mitwirkung von Cornelia Bieller, Ilona Ewald und Kerstin Steiger von Kerstin Güthert herausgegeben wird (Güthert (Hg.) i.Vorb.). 5 Zur Zeit der Drucklegung dieses Beitrags werden diese um weitere Dokumente ergänzt, die aufgrund von Recherchen durch Kerstin Güthert nunmehr verfügbar sind. <?page no="216"?> Christina Bankhardt 216 2.2 Nachlässe Bisher besteht diese Archiv-Komponente aus vier Teilkomponenten, die an einzelne Akteure gebunden und zeitlich definiert sind. Die beiden ersten sind mit Otto Basler (seit ca. 1930) und mit Ernst Pacolt (Österreich, seit ca. 1950) verknüpft. Die dritte umfasst den Zeitraum von ca. 1950 bis ca. 1970 mit den Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen und mit Paul Grebe als einem der maßgebenden Akteure. Die vierte betrifft den Zeitraum von ca. 1977 bis 2005 mit dem Bemühen um eine neue amtliche Regelung und mit dem IDS als Koordinationsstelle. (1) Otto Basler: u.a. 1929-1938 Außenmitarbeiter der Dudenredaktion, freier Herausgeber und Bearbeiter verschiedener Dudenbände; ab 1964 Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des IDS. Der Nachlass besteht aus zwei jeweils sehr umfangreichen Teilen: - Belege für Fremdwörter, die nicht im Archivraum, sondern in der Arbeitsstelle Fremdwörterbuch deponiert sind (vgl. Kirkness 1982); - Sammlung von Dokumenten, Materialien, von kleineren Nachlässen (Gierach, Virgil Moser, Liebhaber) und von vielem anderen mehr, die vorsortiert ist (vgl. Donalies 1997). (2) Ernst Pacolt: Österreich; u.a. Volksschuldirektor; Mitglied der seit 1961 bestehenden Kommission für die Orthographiereform; Mitautor am Österreichischen Wörterbuch; Schulbuchautor. Es handelt sich um zwei Nachlässe: • Privat: Die Korrespondenz ist von Ruth Mell und Constantin Weber ( IDS ) sortiert und maschinell chronologisch aufgelistet. Andere Bereiche wie Rechtschreibung, Rechtschreibreform, Schulbücher, Privates sind grob vorsortiert; • Ministerium 1947-1990: Chronologisch sortiert und maschinell aufgelistet. (3) 1950-1970 insbes. Stuttgarter und Wiesbadener Empfehlungen (1955 bzw. 1959): • Paul Grebe: u.a. 1947-1973 Leiter der Dudenredaktion; maßgeblicher Akteur bei der Erarbeitung der Stuttgarter und insbesondere der Wiesbadener Empfehlungen; ab 1964 Direktor des IDS . Der chronologisch geordnete Nachlass umfasst 14 Ordner; • Werner Paul Heyd: u.a. Journalist; Beteiligter bei der Erarbeitung der Stuttgarter und der Wiesbadener Empfehlungen (von Hiltrud Strunk, Siegen, zugesagt); • Bernhard Puschmann: u.a. Oberkorrektor; Beteiligter bei der Erarbeitung der Wiesbadener Empfehlungen) (von Hiltrud Strunk, Siegen, zugesagt); • Kettner: Berichte aus Fachzeitschriften 1946-1979 (5 Ordner). <?page no="217"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 217 (4) 1977-2005 Bemühungen um eine Neuregelung der Orthographie Dokumentiert sind in langen Reihen von Ordnern die (Organisation und Koordination der) Arbeit der IDS-Kommission für Rechtschreibfragen, die des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie und die der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung an der neuen amtlichen Regelung von ca. 1977 bis 2004 und in Fortsetzung die des Rates für deutsche Rechtschreibung ab 2005 - insgesamt auch im internationalen Wechselspiel mit den staatlichen Stellen: • Erarbeitung der inhaltlichen Reformvorschläge, Regelteil 1976-1996 und Wörterteil 1993-1996, Amtliche Neuregelung (1996, 2004, 2006); • wissenschaftliche Diskussion; • Wellen der öffentlichen Diskussion in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen (1976-2005); • gerichtliche Verfahren (1996-1998); • Korrespondenz(en) über die Zeiten hin. In der Arbeitsstelle Graphie und Orthographie auch koordinierend tätig: 1977 bis Oktober 1993: Wolfgang Mentrup; November 1993 bis Januar 2005: Klaus Heller; ab 2005: Kerstin Güthert (vgl. oben den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 2.). Seit längerem bemühen wir uns, wenn auch bisher vergeblich, um das Archiv, in dem die Arbeit der Forschungsgruppe Orthographie (DDR) dokumentiert ist und das irgendwo in Berlin gebunkert wird. Vorhanden sind immerhin schon die Protokolle der Sitzungen der Forschungsgruppe Orthographie. Der Nachlass von Wolfgang Steinitz ist von Dieter Nerius, Rostock, in Aussicht gestellt. 2.3 Bibliographien und Bücherbestand Für das 16.-18. Jh. bildet das Literaturverzeichnis aus Güthert (2002) den Grundstock, das z.Zt. um weitere Titel ergänzt wird. Für das 19. Jh. liegen mehrere Bibliographien vor: - speziell für einzelne Autoren: Duden, Raumer, Sanders, Wilmanns; - für die Orthographiedarstellungen, und zwar in unterschiedlichen Darreichungsformen. Kriterien der ersten Ebene der Unterteilung sind hier amtlich und/ oder privat; die der zweiten Ebene alphabetisch oder chronologisch. Speziellere Zusammenstellungen betreffen u.a. die Autoren und unterschiedliche Zitierformen; <?page no="218"?> Christina Bankhardt 218 - für die Umtexte im engeren Rahmen des 19. Jh.s., und zwar in alphabetischer und komplementär dazu in chronologischer Anordnung; - eine sehr umfangreiche Arbeitsbibliographie, die im Verlauf der Beschäftigung mit der Orthographie über Jahrzehnte hin nach und nach ausgeweitet und ab 1998 bis 2000 systematisch ergänzt wurde. Sie ist alphabetisch nach Autoren angeordnet, wozu komplementär eine chronologisch angeordnete Bibliographie erstellt werden kann. Auf einige speziellere Bibliographien sowie auf die Inhaltsverzeichnisse der Sammel- und Materialienordner sei hier nur hingewiesen. Neben den umfangreichen Beständen der IDS-Bibliothek befinden sich speziell im Archivraum, oft in Form von Fotokopien, zahlreiche Orthographiedarstellungen aus dem 16.-18. Jh., eine umfassende Sammlung aus dem 19. Jh., und zwar, entsprechend der eingerichteten Opposition, sowohl privater als auch amtlicher Werke (vgl. oben 2.1.2), deren Linien auch über 1901 hinaus in vorhandenen Folgeausgaben weit in das 20. Jh. hineinreichen (so u. a. die Reihe der Duden-Rechtschreibung bzw. die des Österreichischen Wörterbuches und die der amtlichen Rechtschreibbücher). Sekundärliteratur ist oben in Gestalt von Umtexten insbesondere aus dem 19. Jh. (vgl. 2.1.3) bereits ins Spiel gebracht, über die hinaus nicht wenige einschlägige Beiträge auch aus dem 20. Jh. vorhanden sind. Die Katalogisierung der Titel ist vorgesehen, um die Nutzung der Werke zu erleichtern. 3. Ausblick 3.1 Allgemeines - Erste Erfahrungen Die Nutzung des Archivs wird in der Arbeitsstelle Graphie und Orthographie organisiert. Die universitär wissenschaftliche Betreuung etwa im Rahmen eines Promotionsverfahrens, der Erstellung einer Magisterarbeit oder auch im Zusammenhang mit Seminararbeiten wird von Mitarbeitern des Instituts für Deutsche Sprache mit Lehrauftrag (und Promotionsrecht) wahrgenommen. Das Archiv, in Verbindung mit den Beständen der IDS-Bibliothek, bietet eine umfangreiche Materialgrundlage für sowohl synchrone als auch diachrone Untersuchungen auf den unterschiedlichsten Ebenen und auch für entsprechende Dokumentationen. <?page no="219"?> Archiv zur Geschichte der Orthographie und der Reformbemühungen 219 Erste Erfahrungen (so u.a. in Mentrup 2003, 2007) zeigen, dass die in zwei Darreichungsformen vorliegenden Analysen von Orthographiedarstellungen und Umtexten im Verein mit der Möglichkeit des unmittelbaren Rück- und Zugriffs auf die einschlägigen Ausgangsdokumente als systematisch organisiertes Grundlagenmaterial für die Beschreibung der Behandlung orthographischer Gegenstände und Sachverhalte im 19. Jh. außerordentlich nützlich sind. Speziell gilt dies einerseits mit Blick auf die Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Möglichkeiten der Regelung und andererseits mit Blick auf deren konkurrierendes Nebeneinander und auf das allmähliche Durchsetzen einer der Regelungsmöglichkeiten im Verlaufe der Zeit und im Zuge der Entwicklung; wobei als ein konkretes Beispiel die Fallgruppe um Schif( f )fahrt, Schif( f )fracht angeführt sei (vgl. oben den Beitrag von Mentrup/ Bankhardt, 3.2). Der Nachlass von Paul Grebe ist von Hiltrud Strunk intensiv ausgewertet (Strunk 1992) und ausführlich dokumentiert (Strunk (Hg.) 1998), der Nachlass von Otto Basler von mehreren Wissenschaftlern benutzt worden. Doch zeigt sich an diesen Nachlässen exemplarisch, dass bei einer anderen Themenstellung, bei einem neuen Zugang unter je spezieller Sicht der Dinge Dokumenten dieser Art immer wieder neue Informationen zu entnehmen und neue Aspekte abzugewinnen sind (so in Mentrup 2007). 3.2 Thematische Querschnitte und Teilaspekte der Graphie und Orthographie - Historische Tiefe Einen Typ möglicher Untersuchungen demonstriert der geplante Band Kommentierte Dokumentation der Diskussion über die Orthographie im 19. Jh., in dem, wie oben (2.1.3) schon gesagt, die themenorientierte Diskussion etwa über Groß- und Kleinschreibung oder über die s-Schreibung über die Jahrzehnte hin behandelt wird. Als umfangreichere Themen sind zunächst die heute eingerichteten sechs Bereiche von Laut-Buchstaben-Beziehungen bis zur Worttrennung vorstellbar. Diese Einteilung ist neueren Datums. So werden z.B. auf den amtlichen Schienen von ca. 1855 bis über 1945 hinaus der Apostroph, der Bindestrich und die Schreibung der Fremdwörter und z.T. auch die Schreibung der Namen als eigene Kapitel auf derselben hierarchischen Ebene geführt wie <?page no="220"?> Christina Bankhardt 220 etwa Laute und Buchstaben, Groß- und Kleinschreibung sowie Silbentrennung. Auf der Duden-Schiene ist alles noch ganz anders und entsprechend unübersichtlich. Als übergreifendes Thema ergäbe sich: Die Aufteilung der Orthographie in Teilbereiche über die Zeiten hin. Speziellere Themen sind Laut-Buchstaben-Beziehungen bis hin zu Worttrennung am Zeilenende (hierzu vgl. Güthert 2002, 2005). Noch spezieller sind Apostroph (hierzu vgl. Bankhardt 2006) - Bindestrich - Umlaut - Auslautverhärtung - Fremdwörter u.v.a. Die in den Themen angedeuteten Bereiche und Aspekte könnten in der Entwicklung ihrer Behandlung in deutschen Orthographiedarstellungen (von ca. 1500 oder auch von 1800 an) bis in die Gegenwart verfolgt werden, wobei die Vorgaben etwa der lateinischen und der griechischen Grammatiken und Orthographien und insbesondere auch die der Rhetoriken (hierzu vgl. Mentrup 2003) mit berücksichtigt werden könnten. Ins Spiel kommen dabei Gesichtspunkte wie Erkenntnisstand, terminologische Bezeichnungen, Anwendungsbereich, Phänomenbeschreibung, (Aufkommen von) Regeln, Reichweite der Regeln oder Regelungsumfang, Ort im Gesamtsystem der Orthographie (vgl. in Teilen Mentrup 1993a, Güthert 2002, 2005; Bankhardt 2006; in Teilen Mentrup 2007). 3.3 Akteure Denkbar sind auch Studien über Personen als Akteure auf der orthographischen Bühne, und zwar sowohl über einzelne als auch über mehrere, wobei bei mehreren einerseits ein Querschnitt für einen definierten Zeitraum und andererseits eine historische Abfolge im Sinne des Reihendienstes vorstellbar ist (zu einschlägigen Manuskripten vgl. oben 2.1.1 (3) am Schluss). <?page no="221"?> Chronologie der literarischen Erscheinungen zu den Beiträgen von Christina Bankhardt und Wolfgang Mentrup 1 Nicht selten ist es, um Dinge der Gegenwart einordnen zu können, gut und nützlich, in die jüngere oder auch weitere Vergangenheit, ja: weit in die Geschichte zurückzuschauen. Otfrid (865): Otfrid von Weissenburgs Evangelienbuch. Hrsg. von Oskar Erdmann. 4. Aufl. bes. von Ludwig Wolff. Tübingen 1962. (= Altdeutsche Textbibliothek 49). Ickelsamer, Valentinus (1527/ 1534): Die rechte weis || auffs kürtzi _ t le _ en zu lernen / || wie das zum er _ ten erfunden / vnnd auß der || rede vermerckt worden i _ t / Valentin || Ickel _ amer / Gemehret mit Silben figurn || vnd Namen / Sampt dem text des || kleinen Catechi _ mi. Marburg 1534. [1. Aufl. 1527]. In: Müller (1882), S. 52-64. Kolroß, Johannes (1530): Enchiridion: || das i _ t / Handb F chlin || tüt _ cher Orthographi | h’chtüt _ che || _ pråch artlich ze _ chryben / vnd lä _ en / _ ampt ey= || nem Regi _ terlin über die gantze Bibel / wie || man die Allegationes vnd Concordantias / _ o || im Nüwen Te _ tament näben dem text / || vnnd _ un _ t mit halben Latini _ chen || worten verzeychnet. Ouch || wie man die Cifer vnd || tüt _ che zaal || ver _ ton || _ oll. || Durch Joannem Kolroß / tüdt _ sch || Leermey _ tern z G Ba _ el. Basel 1530. In: Müller (1882), S. 64-91. Frangk, Fabian (1531): Orthographia || Deut _ ch | Lernt | recht || buch _ täbig _ chreiben || M. Fabian || Frangken. 1531. In: Müller (1882), S. 92-110. Ickelsamer, Valentinus (um 1534): Teut _ che || Grammatica || Darauß einer von jm _ elbs mag || le _ en lernen mit allem dem / _ o zum || Teüt _ chen le _ en vnnd de __ elben || Orthographian mangel vñ || überfluß / auch anderm || vil mehr z G wi _ = || _ en geh = rt. || Auch ettwas von der rechten art || vnd Etymologia der teüt- _ chen _ prach || vnd w = rter / vnnd wie man die || Teüt _ chen w = rter in jre _ il= || ben taylen / vnd z G = || _ amen B G ch _ ta= || ben _ oll. || Valentin Jckel _ amer. Um 1534. In: Müller (1882), S. 120-159. 1 Die Titel der oben in dem Beitrag von Bankhardt auch tabellarisch zusammengestellten amtlichen Hauptwerke werden aus Platzgründen hier nicht aufgeführt. <?page no="222"?> Christina Bankhardt/ Wolfgang Mentrup 222 Meichszner, Johann H. (1538): Handb F chlin grunt= || lichs berichts recht vñ wol _ chry= || bens / der Orthographie vnd Gramatic [...]. Tübingen 1538. [Reprint: Hildesheim 1976. (= Documenta Linguistica 4: Grammatiken des 16.-18. Jahrhunderts).]. Fuchßperger, Ortholph (1542): Leeßkon _ t. || Gedruckt zů Jngold _ tat 1542. In: Müller (1882), S. 166-188. Maaler, Josua (1561): Die Teüt _ ch _ praach. || Alle w = rter / namen vñ || arten z G reden in Hochteut _ cher _ praach / dem || A B C nach ordenlich ge _ tellt / vnnd mit g G tem La = || tein gantz flei __ ig vnnd eigentlich vertol = || met _ cht / dergleychen bishär || nie ge _ ähen / || Durch Jo _ ua Maaler bur = || ger z = Zürich. 1561. [Reprint: Hildesheim 1971. Mit e. Einf. von Gilbert de Smet. (= Documenta Linguistica 1: Wörterbücherdes 16.-18. Jahrhunderts).]. Roth, Simon (1571): Ein Teut _ cher || Dictionarius / dz i _ t ein auß = || leger _ chwerer / vnbekanter Teut = || _ cher / Griechi _ cher Hebrai _ cher / || Wäli _ cher vnd Franz = si _ cher / auch andrer Natio = || nen w = rter / so [...] offt mancherley jrrung brin = || gen [...] allen Teut _ chen / _ onderlich aber denen || _ o zu Schreibereien kommen / vnd Ampts ver = || waltung haben / aber Lateins vner = || farn seind / zu gutem publi = || ciert : durch || Simon Roten. Augsburg 1571. [Neudr.: Helsinki 1936. Hrsg. v. Emil Öhmann. (= Mémoires de la Societé néo-philologique de Helsingfors 11).]. Gueintz, Christian (1641): Chri _ tian Gueintzen || Deut _ cher || Sprachlehre || Entwurf.|| Gedruckt zu C = then im F F r _ ten=|| thume Anhalt 1641. [Reprint: Hildesheim 1978. (= Documenta Linguistica 4: Grammatiken des 16.-18. Jahrhunderts).]. Moscherosch, Johann Michael (1643): Der Unartig Teut _ cher Sprachverderber. 1643. Pudor, Cristian (1672): Der Teut _ chen Sprache Grundrichtigkeit und Zierlichkeit. C = lln an der Spree 1672. Bödiker, Johannes (1690): Grund=Sätze der deut _ chen Sprache im Reden und Schreiben, Samt einem Bericht vom rechten Gebrauch Der Vorwörter, der _ tudierenden Jugend und allen Deut _ chliebenden zum Be _ ten Vorge _ tellet von Johanne Bödikero, P. Gymn. Svevo-Colon, Rectore. Cölln 1690. Stade, Diedrich von (1711): Erl ( uter- und Erkl ( rung etlicher Teut _ chen W = rter in Lutheri Teut _ cher Ueber _ etzung der Bibel. 1711. Frisch, Johann Leonhard (1723): Johannis Bödikeri [...] Grund=Sätze Der Teut _ chen Sprache Mei _ tens mit Ganz anderen Anmerkungen und einem völligern Regi _ ter der Wörter, die in der Teut _ chen Über _ etzung der Bibel einige Erläuterung erfordern. Auch zum Anhange mit einem Entwurff und Mu _ ter eines Teut _ chen Haupt=Wörter=Buchs. Verbe __ ert und vermehrt von Joh. Leonh. Frisch. Berlin 1723. <?page no="223"?> Chronologie der literarischen Erscheinungen zu den Beiträgen 223 Wippel, Johann Jacob (1746): Johann Bödikers Grund _ äze Der Teut _ chen Sprache Mit De __ en eigenen und Johann Fri _ chens voll _ tändigen Anmerkungen Durch neue Zu _ äze vermehret von Johann Jacob Wippel.[...] Nebst nöthigen Regi _ tern. Berlin 1746. Reichard, Caspar (1747): Versuch einer Hi _ torie der deut _ chen Sprachkun _ t. Hamburg 1747. Aichinger, Carl Friedrich (1754): Ver _ uch einer teut _ chen Sprachlehre, anfänglich nur zu eignem Gebrauche unternommen, endlich aber, um den Gelehrten zu fernerer Unter _ uchung Anlaß zu geben ans Liecht ge _ tellt von Carl Friedrich Aichinger, d. Z. Stadtprediger zu Sultzbach. Frankfurt und Leipzig 1754. [Reprint: Hildesheim 1972. Mit e. Vorw. von Monika Rössing-Hager. (= Documenta Linguistica 4: Grammatiken des 16.-18. Jahrhunderts).]. Braun, Heinrich (1766): Deut _ ch = orthographisches Wörterbuch _ ammt einem Verzeichniße, wie man die ausländischen Wörter, die zum öfte _ ten vorkommen, gut deut _ ch geben könne. Von H. B. München 1766. Adelung, Johann Christoph (1782): Um _ tändliches Lehrgebäude der Deut _ chen Sprache, zur Erläuterung der Deut _ chen Sprachlehre für Schulen. 2 Bde. [Reprint: Hildesheim 1971. (= Documenta Linguistica 4: Grammatiken des 16.-18. Jahrhunderts).]. Adelung, Johann Christoph (1788): Voll _ tändige Anwei _ ung zur Deut _ chen Orthographie neb _ t einem kleinen Wörterbuche für die Aus _ prache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Von Johann Chri _ toph Adelung, Churfür _ tl. Säch _ . Hofrath und Ober=Bibliothecarius in Dresden. Leipzig 1788. Campe, Joachim Christian (1801): Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche. Braunschweig. 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Voraussetzungen 1.1 Valenzbegriff Der Valenzbegriff wurde von dem französischen Linguisten Lucien Tesnière (1893-1954) in die Sprachwissenschaft eingeführt (Tesnière 1959). Er entlehnte diesen Begriff aus der Chemie, in der den Atomen eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben wird, d.h. die Fähigkeit, eine bestimmte Anzahl von anderen Atomen an sich zu binden, um ein Molekül zu bilden. Diese Vorstellung übertrug Tesnière auf die Syntax von Sprachen, insbesondere auf die Verhältnisse im Satz. Demnach gibt es im Satz ein dominierendes Element, nämlich das Verb, durch das festgelegt ist, welche anderen Elemente, nämlich die Satzglieder, in seiner Umgebung vorkommen müssen oder können, damit ein syntaktisch wohlgeformter Satz entsteht. Diese Eigenschaft des Verbs ist seine „Valenz“. Die durch die Valenz des Verbs geforderten Satzglieder nennt Tesnière „Aktanten“ (actants). Die Verben unterscheiden sich dahingehend, wie viele und welche Arten von Aktanten sie fordern. Es gibt avalente (nullwertige) Verben ohne Aktant, monovalente (einwertige) Verben mit nur einem Aktanten, sowie bi- und trivalente (zweibzw. dreiwertige) Verben mit zwei bzw. drei Aktanten. Außer den Aktanten kommen in Sätzen weitere Satzglieder vor, mit denen auf räumliche, zeitliche und andere Umstände Bezug genommen wird. Diese „Circonstanten“ (circonstants) sind nicht durch die Valenz des Verbs bedingt; sie können beliebig bei allen Verben eingesetzt oder weggelassen werden. Man erkennt, dass Tesnière diese Terminologie vom Theater übernommen hat: Jeder Satz ist ein kleines Drama, bei dem das Verb das Thema vorgibt, die Aktanten sind die Mitspieler, und die Circonstanten sind die Umstände, unter denen das Geschehen abläuft. Im Deutschen sind diese Termini mehrfach variiert worden. Die Aktanten nennt man meist „Ergänzungen“, neuerdings auch „Komplemente“, die Circonstanten werden meist „Angaben“ oder „Supplemente“ genannt. Einen zweiten zentralen Begriff hat Tesnière mit der Valenz verbunden, nämlich den der „Dependenz“ (Abhängigkeit). Der Träger der Valenz im Satz, also das Verb, wird als hierarchisch übergeordnetes Element, als Re- <?page no="244"?> Helmut Schumacher 244 gens, aufgefasst. Alle Satzglieder sind von ihm abhängig, sind seine Dependenzien, und zwar sowohl die Aktanten als auch die Circonstanten. Es liegen allerdings verschiedene Arten von Abhängigkeitsbeziehungen vor: Während die Aktanten von bestimmten Klassen der Verben abhängig sind, sind es die Circonstanten von der Klasse Verb allgemein. Diese Verbindung von Valenztheorie und Dependenzgrammatik stieß zunächst auf wenig Resonanz, obwohl sie sehr anschauliche Strukturbeschreibungen für Sätze und deren Teile ermöglichte. Erst in den 60er-Jahren fand sie bei der angewandten Linguistik zunehmend Anklang, und zwar zunächst mehr in Deutschland als in Frankreich und anderen Ländern. 1.2 Anfänge der Valenzforschung in Deutschland In der germanistischen Sprachwissenschaft der 60er-Jahre entwickelte sich nach langer Zeit der Stagnation eine lebhafte Diskussion um die linguistischen Grundlagen. Eine verbindliche Grammatiktheorie für das Deutsche war nicht in Sicht. Die „traditionelle“ Grammatik war zu uneinheitlich und in vielen Bereichen widersprüchlich. Die „Inhaltbezogene Grammatik“ von Leo Weisgerber hatte zwar in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren einige Breitenwirkung; sie war aber international nicht zu vermitteln und wurde auch in der DDR abgelehnt. Sehr großen Anklang fand die aus den USA importierte „Generative Transformationsgrammatik“ von Noam Chomsky. Ihr ging es um die Generierung von Sätzen durch den idealen Sprecher/ Hörer. Diese Theorie arbeitete mit einem Regelapparat in der „Tiefenstruktur“ und einem „Lexikon“, aus dem sprachliche Ausdrücke entnommen und in die Tiefenstruktur eingesetzt werden. Über verschiedene Transformationen werden diese Konstrukte in die „Oberflächenstruktur“ überführt und als Satz ausgegeben. In der Folge gab es einen raschen Wechsel von immer neuen Varianten dieser Theorie, was für eine didaktische Anwendung nicht förderlich war. Generell liegt die Bedeutung dieses Ansatzes eher im Bereich der Universalienforschung als in der Vermittlung einer Fremdsprache an Lernende. Daher bot sich die Valenztheorie für die Zwecke der Sprachvermittlung in wesentlich höherem Maße an, und zwar sowohl für den muttersprachlichen Unterricht als auch für Fremdsprachen. Ein wichtiger Meilenstein für die Valenzforschung in der germanistischen Linguistik war die Neubearbeitung der Duden-Grammatik durch Paul Grebe, der in der 2. Auflage von 1966 die Syntax konsequent auf eine Beschreibung <?page no="245"?> Valenzforschung am IDS 245 auf der Basis der Valenztheorie umstellte (Duden-Grammatik 1959, 2 1966). Da Grebe gleichzeitig Leiter der Dudenredaktion und der erste Direktor des IDS war, wirkte sich diese Orientierung auch auf das junge Institut aus. Eine ganz ähnliche Linie wurde von dem damaligen stellvertretenden und späteren Direktor Ulrich Engel vertreten, der sich besonders auf das Mitte der 60er-Jahre entstehende Lehr- und Forschungsgebiet „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) konzentrierte. Er entwickelte in der Folgezeit eine „Dependenz-Verb-Grammatik“ (DVG), die sehr großen Einfluss auf die Lehrmaterialien für DaF gewann und viele Forschungsprojekte des IDS beeinflusste. Überhaupt erhielt die Valenzforschung am IDS und über das Institut hinaus durch Engel die meisten Impulse, da er viele der Projekte selbst konzipierte, sich an ihrer Durchführung maßgeblich beteiligte und andere Vorhaben anregte und beratend begleitete. Begünstigt wurde die positive Entwicklung der Valenzforschung nicht zuletzt dadurch, dass ähnliche Ansätze auch am Goethe-Institut in München vor allem durch Gerhard Kaufmann sowie am Herder-Institut in Leipzig durch Gerhard Helbig betrieben wurden und in der grammatischen und der lexikografischen Beschreibung des Deutschen Eingang fanden. 2. Valenz-Grammatik 2.1 Projekt „Grundstrukturen der deutschen Sprache“ Das erste größere Arbeitsvorhaben, das am IDS in Angriff genommen werden konnte, war das Projekt „Grundstrukturen“ (Engel 1989a). Seine erste Phase dauerte von 1967 bis 1970. Eine anschließende zweite Phase sollte sich von 1971 bis 1974 erstrecken, sie musste aber bis 1976 verlängert werden. Die Konzeption wurde zusammen mit dem Goethe-Institut erarbeitet, das sich auch an seiner Durchführung beteiligte. Ziel war es, wesentliche Strukturen der geschriebenen und der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache empirisch zu untersuchen und zu beschreiben. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung sollten dann Interessenten zur Verfügung gestellt werden, damit sie in anwendungsbezogene Darstellungen für den Unterricht des Deutschen eingehen konnten. Einen zentralen Anwendungsbereich sah man im sich rasch entwickelnden Fach ‘Deutsch als Fremdsprache’ (DaF), für das in der BRD und im westlichen Ausland das Goethe-Institut, zunächst noch weitgehend allein, zuständig war. Da man erkannt hatte, dass zwischen der Vermittlung von Muttersprache und Fremdsprache erhebliche Unterschiede <?page no="246"?> Helmut Schumacher 246 bestehen, war es ein Desiderat, für dieses Gebiet geeignete Lehrwerke, Grammatiken und Übungsmaterialien zu entwickeln. Der Forschungsbereich „Grundstrukturen“ wurde in eine Anzahl von Themen aufgeteilt, die in Form von Monografien bearbeitet wurden (Tempora, Konjunktiv, Passiv, Satzbaupläne, Verbvalenz, Wortstellung, Wortbildung). Am IDS in Mannheim wurden die Untersuchungen zur geschriebenen Sprache durchgeführt, an der Forschungsstelle in Freiburg die zur gesprochenen Sprache (Schröder 1989). Die Arbeitsgruppe des Goethe-Instituts sollte die wissenschaftlichen Darstellungen didaktisch aufbereiten, so dass sie in Lehr- und Übungsmaterialien direkt integrierbar wurden. Eine eigene Schriftenreihe mit dem Titel „Heutiges Deutsch“ wurde gegründet, in der „linguistische und didaktische Beiträge für den deutschen Sprachunterricht“ veröffentlicht wurden. Natürlich stellte sich die Frage nach dem Grammatikmodell, das den Arbeiten zu Grunde gelegt werden sollte. Aus den oben genannten Gründen entschieden sich die meisten Mitarbeiter, im Bereich der Syntax die Valenztheorie zu verwenden und die Darstellung mit den Mitteln der Dependenzgrammatik zu realisieren. Eine wichtige Voraussetzung für die Forschungsarbeiten war die empirische Basis. Alle Untersuchungen sollten korpusgestützt vorgenommen werden. Daher wurden zuerst zwei Textkorpora zusammengestellt, in Mannheim eines für die geschriebene deutsche Sprache ab 1945 (heute MK1 genannt) und in Freiburg eines für die gesprochene Sprache (FK). Schon sehr früh stand dem IDS ein eigener Rechner zur Verfügung, so dass die Texte der Korpora in maschinenlesbarer Form vorlagen. Das Projekt „Grundstrukturen“ war insgesamt ein Erfolg. Die Durchführung ist jedoch nicht in allen Bereichen so verlaufen, wie es die Planung vorsah. Bei den noch unzureichenden Mitteln der linguistischen maschinellen Datenverarbeitung nahm die Aufbereitung der Textkorpora sehr viel Zeit in Anspruch. Beim FK mussten die Tonaufnahmen für die geplanten Untersuchungen zunächst transkribiert und dann die Texte codiert werden. Dadurch konnten einige Untersuchungen erst verspätet anlaufen. Es gab erhebliche Verzögerungen beim Abschluss vieler Arbeiten, einige mussten sogar eingestellt werden. Die ersten Bände von „Heutiges Deutsch“ erschienen 1971 mit Arbeiten der ersten Projektphase. Abgeschlossen wurde die Reihe 1981, obwohl noch nicht alle Monografien der zweiten Projektphase vorlagen. Die Abweichungen von der Planung lagen zum großen Teil an den zu optimisti- <?page no="247"?> Valenzforschung am IDS 247 schen Erwartungen der Projektplaner sowie an der hohen Fluktuation bei den Mitarbeitern. Da die wirtschaftliche Lage des IDS höchst unsicher war und man nicht wusste, ob befristete Projektstellen in unbefristete Planstellen umgewandelt würden, verließen manche Angestellte das IDS zugunsten sicherer Arbeitsplätze, wobei nicht alle ihre Arbeitsaufträge zu Ende bringen konnten. Von dieser Entwicklung waren auch einige der valenztheoretisch orientierten Arbeiten betroffen. Die grammatisch orientierte Valenzforschung der „Grundstrukturen“ konzentrierte sich auf zwei Bereiche, nämlich auf die Verben und Satzbaupläne (SBP) sowie auf die Wortstellung; die lexikografisch ausgerichtete Forschung bezog sich auf den Bereich der Verben und der SBP. Der Terminus „Satzbauplan“ ist nicht in der Valenztheorie entstanden, sondern er wurde bereits von der „Inhaltbezogenen Grammatik“ als Ausdruck für die syntaktischen Strukturen auf der Ebene des Satzes gebraucht. Ein Teil der Valenzforschung übernahm den Terminus und gab ihm eine andere Prägung. Der SBP besteht hier aus einer Aufzählung der valenzgebundenen Satzglieder, also der Ergänzungen. Um das System der SBP einer bestimmten Sprache darstellen zu können, ist es zunächst erforderlich, die Ergänzungen zu klassifizieren, was auf verschiedene Weisen geschehen kann. Es wurden in den einzelnen Varianten der Valenztheorie zwischen sechs und elf Ergänzungsklassen (E-Klassen) angesetzt. Bei den kasusbestimmten E-Klassen NominativE, AkkusativE, GenitivE, DativE gibt es kaum Unterschiede, ebensowenig bei der PräpositivE mit fester Präposition. Die Systematik unterscheidet sich vor allem bei der AdverbativE mit verschiedenen adverbialen und präpositionalen Satzgliedern, mit denen lokale, temporale, modale und andere Bezüge ausgedrückt werden. Diese können in einer E-Klasse zusammengefasst werden, bei der es mehrere Subklassen gibt, oder man stellt in diesem Bereich drei oder vier E-Klassen auf die gleiche Stufe. Ähnliches gilt auch für die PrädikativE, in der Prädikatsnomen und prädikatives Adjektiv zusammengefasst werden, die aber auch in zwei gleichrangige E-Klassen zerlegt werden können. Schließlich bleiben noch Randbereiche wie AcI- Konstruktionen und obligatorische Sätze in E-Funktion, die manche Wissenschaftler nicht zu den einfachen E rechnen. Da im Deutschen keineswegs alle mathematisch möglichen Kombinationen von E-Klassen vorkommen (es gibt z.B. kein Verb mit GenitivE und DativE), ergibt sich bei jedem der Systeme eine überschaubare Zahl von SBP. <?page no="248"?> Helmut Schumacher 248 Für den Sprachunterricht sind diese Satzstrukturmodelle von großem didaktischen Wert. Während manche von ihnen bei zahlreichen Verben vorkommen (z.B. NominativE + AkkusativE), sind andere ausgesprochen selten (z.B. NominativE + GenitivE). Diese Verhältnisse muss man bei der Progression in den Lehrwerken berücksichtigen. Die meisten deutschen Verben des Grundwortschatzes haben mehrere Varianten, die sich nicht nur in ihrer Bedeutung, sondern auch im SBP unterscheiden. Daher kann dem Lerner mit Deutsch als Zielsprache vermittelt werden, wie er über den SBP die Bedeutung der Verbvariante erkennen kann. Die für die Sprachproduktion wichtigen Varianten dieser Verben müssen natürlich durch das Lehrbuch eingeführt werden. Nicht zuletzt ermöglicht der SBP auch die Unterscheidung, ob beim jeweiligen Verb eine E obligatorisch oder fakultativ ist. Auch diese Eigenschaft ist für die Sprachproduktion konstitutiv, denn beim Weglassen einer obligatorischen E wird der betreffende Satz ungrammatisch oder das Verb hat eine andere Bedeutung als die vom Sprecher intendierte. Aus diesen Gründen war es unstrittig, dass die Erforschung der SBP zu den wichtigsten Themen der Grundstrukturen des Deutschen zu zählen ist. Bei der Darstellung der Wortstellung kann die Valenztheorie sehr nützliche Dienste leisten, weil die Abfolge der Satzglieder im Aussagesatz sehr viel mit ihrem Status als Ergänzung bzw. als Angabe zu tun hat. Auch innerhalb der valenzgebundenen Elemente gibt es eine Hierarchie bei den E-Klassen. Bei dreiwertigen Verben mit AkkusativE und DativE z.B. steht im unmarkierten Aussagesatz die personbezogene DativE vor der sachbezogenen AkkusativE (jemand gibt jemandem etwas). Da die Satzgliedfolge im Deutschen recht variabel ist, stellt sie ein sehr wichtiges Lehrgebiet im Sprachunterricht dar. Deshalb war naheliegend, sie im Rahmen der „Grundstrukturen“ zu untersuchen. 2.2 Dependenz-Verb-Grammatik (DVG) Es wäre wünschenswert gewesen, wenn zu Beginn der ersten Projektphase der „Grundstrukturen“ eine umfassende theoretische grammatische Darstellung auf der Basis der Valenztheorie und der Dependenzgrammatik vorhanden gewesen wäre. Da das nicht der Fall war, musste eine solche gleichzeitig mit den empirischen Analysen der Daten aus den Textkorpora schrittweise mitentwickelt werden. Ulrich Engel hatte die Aufgabe übernommen, die Dependenz-Verb-Grammatik (DVG) im Rahmen einer Syntax und einer Gesamtgrammatik der deutschen Sprache darzustellen. Wegen seiner vielfälti- <?page no="249"?> Valenzforschung am IDS 249 gen Aufgaben bei der Leitung des Instituts gab es aber 1972 erst einen „Umriss“ dieser Grammatik (Engel 1972a), der auf einigen Aufsätzen basierte und bei weitem noch nicht alle Aspekte einer valenztheoretischen Darstellung behandelte (Engel 1970b, 1971). Die auf dem „Umriss“ sowie weiteren Ausarbeitungen von Einzelbereichen (z.B. Engel 1972b; Engel/ Schramm 1975) beruhende Syntax des Deutschen lag 1977 vor (Engel 1977). In dieser Syntax wurden die Grundbegriffe der DVG noch einmal definiert und präzise Diagramme für die Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse vorgestellt. Engel stellt heraus, dass Valenz und Dependenz keine Synonyme sind. Unter Verbvalenz versteht er einen Sonderfall der „Rektion“, die allen Verben zukommt. Wenn aber eine Rektion nur Subklassen von Verben betrifft, macht das ihre Valenz aus. Der Dependenzbegriff bei Engel beruht auf dem der „Konkomitanz“, d.h. dem simultanen Auftreten von sprachlichen Elementen. Werden diese Elemente in eine bestimmte Richtung gebracht, so dass ein Element als den anderen übergeordnet dargestellt wird, heißt das „Dependenz“. Es handelt sich also um ein Darstellungsverfahren, das nicht in der Natur der Sprache liegt, sondern vom Grammatiker mit einer gewissen Willkür gewählt worden ist. Eine in dieser Zeit oft diskutierte Frage betraf das Verhältnis von Konstituenz und Dependenz. Nach dem Prinzip der „Konstituenz“ unterteilt man eine größere Einheit, z.B. den Satz, in seine Bestandteile, die „Konstituenten“ genannt werden, z.B. Satzglieder. Diese können dann erneut unterteilt werden, bis man bei den Wörtern ankommt. Beim Prinzip der „Dependenz“ wird die Existenz von Elementen verschiedener Kategorien, z.B. Verb oder Nomen, vorausgesetzt. Ihre Beziehung zueinander wird als Abhängigkeitsverhältnis interpretiert. Die Gesamtheit der Wörter bildet die Satzglieder, deren Gesamtheit konstituiert den Satz. Das Verhältnis von Konstituenz und Dependenz sehen einige Wissenschaftler als komplementär, andere dagegen als alternativ an. Engel stellte sich auf die Seite derer, die diese Prinzipien als Alternativen ansehen (Engel 1977, S. 11-47). Im gleichen Jahr erschien unter Mitarbeit von Praktikern eine kleine Grammatik für DaF (Rall/ Engel/ Rall 1977). In diesem Buch wurde versucht, die Ziele des „Grundstrukturen“-Projekts in einem Zuge zu realisieren: nach der Einführung in die DVG wird die Thematik in eine „Produktionsgrammatik“ und eine „Identifikationsgrammatik“ aufgefächert. Beide Bereiche haben <?page no="250"?> Helmut Schumacher 250 drei Kapitel, nämlich eine linguistische Grundlegung, eine didaktische Darstellung und eine Beschreibung der praktischen Anwendung in Sprachkursen (ebd., S. 6). Die Gesamtgrammatik erschien erst 1988, also lange nach Abschluss des „Grundstrukturen“-Projekts (Engel 1988). Sie ging aber in ihrem Umfang weit über die Thematik dieses Projekts hinaus. In ihr wurden auch eine umfassende Beschreibung der Ergänzungen und Angaben sowie der SBP und der Stellungsregeln im Satz vorgelegt. Es ist eine der erfolgreichsten Grammatiken für das Deutsche der Gegenwart überhaupt und erfuhr drei Auflagen. Sie wurde grundlegend für spätere valenzorientierte Projekte am IDS und für das Fach DaF generell. Im Jahre 2004 legte Engel eine gründliche Neubearbeitung seiner Grammatik vor, aber ohne Veränderung der Grundprinzipien (Engel 2004). 2.3 Satzbaupläne (SBP) Mit der Untersuchung der SBP der geschriebenen Sprache wurde Bernhard Engelen betraut, der 1975 eine umfangreiche Monografie zu Satzbauplan und Wortfeld in zwei Teilbänden vorlegte, die für die Valenzforschung am IDS Maßstäbe setzte (Engelen 1975). Er setzte sich kritisch mit Engel auseinander und entwickelte ein eigenes System von neun E-Klassen und den auf ihnen beruhenden SBP, das sich weitgehend an Engel orientierte und dessen spätere Arbeiten wiederum beeinflusste. Präzisiert wurde von Engelen auch der „Verbalkomplex“, d.h. die Elemente im Satz, die keine selbständigen Satzglieder sind (ebd., I, S. 52-57). Im zweiten Teil der Arbeit gibt es eine inhaltsreiche kommentierte Liste von ca. 5.500 Verben, deren Bestand über das MK1 hinausgeht (ebd., I, S. 17), und die nach SBP und nicht nach den Verben geordnet ist. Innerhalb jeder SBP-Struktur werden die Verben weiter aufgefächert. Dies beruht teilweise auf syntaktischen Eigenschaften wie Ausbaufähigkeit, Präfixbildung, mitunter aber auch auf semantischen Kriterien (ebd., II, S. 9f.). Eine Besonderheit für eine lexikonähnliche Darstellung stellt die Auflistung der zulässigen „Verbaladjunkte“, d.h. Adverbien wie sehr, sorgfältig, ganz, dar, die den Verbgruppen zugeordnet werden (ebd., I, S. 177-183). Die Kriterien für die Gruppierung der Verben sind allerdings sehr uneinheitlich. Dies erschwert die Benutzbarkeit, zumal ein alphabetisches Verbregister fehlt. Es gibt nur ein provisorisches Wortregister von Brigitte Hilgendorf, das nicht publiziert wurde (Hilgendorf o.J.). <?page no="251"?> Valenzforschung am IDS 251 Da die Paralleluntersuchung zu den SBP der gesprochenen Sprache bisher nicht erschienen ist, konnte Lutz Götze (Goethe-Institut) für die didaktische Auswertung von IDS-Arbeiten nur auf die frühen Arbeiten von Engel, auf Engelen (1975) und das KVL (Engel/ Schumacher 1976) zurückgreifen. In der Monografie (Götze 1979) wurden die wichtigsten SBP-Strukturen beschrieben und semantisch bestimmte Verbgruppen diesen zugeordnet. Götze erweiterte das Thema und gab auch eine - allerdings sehr knappe - Darstellung der Valenzverhältnisse bei den prädikativen Adjektiven. In der Valenzforschung hatte sich zu dieser Zeit bereits die Auffassung durchgesetzt, dass nicht nur die Verben als Valenzträger in Betracht kommen, sondern auch (mindestens teilweise) Adjektive und Substantive. An diese Position konnte er anknüpfen und eine didaktische Darstellung der Valenzstrukturen deutscher Verben und Adjektive für das Fach DaF vorlegen. 2.4 Wortstellung Eine vergleichbare Situation ergab sich bei der Erforschung der Wortstellungsregeln. Die statistische Auswertung der Wortstellungstypen im MK1 erwies sich als sehr arbeitsintensiv. Eine theoretische Grundlage war mit Engel (1970a) zwar teilweise vorhanden, aber noch nicht empirisch überprüft. Die Ermittlung von statistischen Daten durch die Korpusanalyse war ein wichtiger Aspekt in der Monografie von Ursula Hoberg zur Wortstellung in der geschriebenen deutschen Sprache (vgl. Hoberg 1977). Die 1978 fertig gestellte Untersuchung wurde bis 1981 noch einmal überarbeitet (Hoberg 1981). Sie erbrachte eine detaillierte und differenzierte Beschreibung der Stellungsregeln vor allem im Mittelfeld auf der Basis einer Dependenzgrammatik, die semantische Kriterien mit in Rechnung stellte. Für die Abfolge von Elementen, die als Ergänzungen des Verbs fungieren, wurde aufgezeigt, dass die nominalen Teile von Funktionsverbgefügen am nächsten beim Verb stehen. Nominale kasusbestimmte Ergänzungen, mit denen auf Lebewesen Bezug genommen wird, stehen entfernter vom Verb als Ergänzungen, die auf Unbelebtes und Abstraktes referieren. Am weitesten vom Verb entfernt stehen die pronominal realisierten Ergänzungen (ebd., S. 234). Auch bei den Angaben ergaben sich charakteristische Stellungseigenschaften auf Grund der Verbbindung der verschiedenen Klassen. Da sich modale Angaben nur auf das Verb beziehen, stehen sie am nächsten beim Verb. Die „situativen“ Angaben, mit denen räumliche und zeitliche Verhältnisse ausgedrückt werden, beziehen sich auf die Proposition und stehen weiter vom <?page no="252"?> Helmut Schumacher 252 Verb entfernt. Ganz außen stehen „pragmatische“ Angaben, mit denen das ganze Geschehen, bzw. eine ganze Äußerung bewertet wird (ebd., S. 235). Die Darstellung von Peter Schröder zur Wortstellung in der gesprochenen Sprache sollte eigentlich parallel zur Untersuchung der Wortstellung in der geschriebenen Sprache angelegt werden (vgl. Schröder 1977). Die Freiburger Dissertation setzte sich sehr kritisch mit der Konzeption des „Grundstrukturen“-Projekts und der Freiburger Analyse gesprochener Sprache auseinander und versuchte zu begründen, warum von der Planung abgewichen wurde (Schröder 1984, S. 1-50). Anschließend wurden ein eigenes Analysemodell und Codierverfahren entwickelt (ebd., S. 51-123). Der Begriff der „Topikalisierung“, d.h. die Besetzung des Vorfelds vor dem Verb, wurde mit der Thema-Rhema-Gliederung in Zusammenhang gebracht und zu systematisieren versucht (ebd., S. 124-256). Eigentlicher Kern der Arbeit war eine funktionsorientierte Beschreibung der Vorfeldrealisierung in Sätzen der gesprochenen Sprache in Textzusammenhängen (ebd., S. 257-469). Abgeschlossen wurde die Untersuchung durch weiterführende Anmerkungen zum Satzrahmen und zur Besetzung des Nachfeldes (ebd., S. 470-586). Diese außerordentlich umfangreiche Auseinandersetzung mit den in den 70er-Jahren vorherrschenden Meinungen zur Wortstellung ist nicht eigentlich valenztheoretisch ausgerichtet, weil es dem Autor weniger um Formen als um Textfunktionen geht. Da sie in die Zielsetzung der „Grundstrukturen“ schlecht einzubinden war, wurde sie nicht publiziert. Die für die didaktische Komponente der Wortstellung zuständige Mitarbeiterin Uta Gosewitz (Goethe-Institut) konnte daher zwar eine umfangreiche Bibliografie zu dieser Thematik vorlegen (Gosewitz 1973), zu einer didaktischen Darstellung der Wortstellungsregeln kam es in diesem Arbeitsbereich jedoch nicht. Einige Arbeiten zur Valenzforschung wurden im Rahmen des Projekts „Grundstrukturen“ noch begonnen, jedoch in anderen Projekten fortgeführt. Auf diese wird in Kap. 2.5-2.7 eingegangen. Die Arbeiten zur Valenzlexikografie werden in Kap. 3. besprochen. 2.5 Projekt „Syntaktische Strukturen“ Nachdem das IDS in den 70er-Jahren eine gewisse Konsolidierung erreicht hatte, wurde eine große Abteilung „Grammatik und Lexik“ gebildet, in der <?page no="253"?> Valenzforschung am IDS 253 u.a. grammatisch orientierte Arbeiten aus der Valenzforschung zu Ende gebracht und neue durchgeführt wurden. Aus valenztheoretischer Sicht können als Ergänzungen und Angaben des Verbs nicht nur einfache Satzglieder wie Nominalgruppen (Der Vater schwieg.), Pronominalgruppen (Sie schläft.), Präpositionalgruppen (Wir wohnen in Mannheim.), oder Adjektivgruppen (Sie sind sehr ungeduldig.) fungieren. Einige dieser Satzglieder können unter bestimmten Bedingungen durch Nebensätze bzw. Infinitivkonstruktionen ersetzt werden (Wissen Sie, wo ich in Heidelberg ein Parkhaus finde? Man hat leider vergessen, Sie von der Terminänderung zu benachrichtigen.). Man nennt diese meist „Ergänzungssätze“ oder „Satzförmige Ergänzungen“ bzw. „Angabesätze“. Es war noch weitgehend unbekannt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um diesen „Ausbau“ zuzulassen und welche Formen von solchen „Ausbausätzen“ bei welchem Verb zulässig sind. Daher lag es nahe, auf der Grundlage der Verbgrammatik die Ergänzungssätze und die Angabesätze zu untersuchen, ebenso aber auch die Attributsätze, die nicht vom Verb, sondern von einem Substantiv oder Adjektiv abhängig sind. 2.6 Komplexe Sätze Die Untersuchungen zum komplexen Satz, der einen Nebensatz in der Rolle einer Ergänzung enthält, wurde von Ingeborg Zint-Dyhr vorgenommen (Zint-Dyhr 1981). Es ging dabei um Nebensätze mit Einleitungswörtern ‘dass, ob, w-Einleitungen (wie, was...)’, Infinitivkonstruktionen und abhängige Hauptsätze (Zint-Dyhr 1977, S. 12f.). Diese Formen sind ein wichtiger Gegenstand der Valenzforschung, denn auch für fortgeschrittene Lerner ist die Beherrschung der Regeln schwierig. Zint-Dyhr kommt zu der Überzeugung, den Problemkreis angemessen auf der textpragmatischen Ebene beschreiben zu können, weil dort morphologische, syntaktische und semantische Kriterien integriert werden können (Zint-Dyhr 1981, S. 30). Sie bildet fünf Verbklassen, denen jeweils Typen von Ergänzungssätzen zugeordnet werden (ebd., S. 108-111). Es wird in dieser Darstellung allerdings nicht recht klar, welche E-Klassen überhaupt in Form von Ergänzungssätzen vorkommen können, wann im Obersatz ein „Korrelat“ als Platzhalter stehen kann oder muss (ebd., S. 88-92), und generell wie diese Konstruktionen stilistisch zu bewerten sind. <?page no="254"?> Helmut Schumacher 254 Ein schwieriges Abgrenzungsproblem gibt es auch bei manchen Ergänzungssätzen gegenüber den Attributsätzen. Generell hängen diese nicht von einem Verb, sondern von einem Substantiv oder Adjektiv ab. Bei Ellipsen kann es aber eine Frage der Interpretation sein, welchen Status der abhängige Satz hat (Zint-Dyhr 1981, S. 86ff.). Man befindet sich damit auf der Nahtstelle zwischen der Verbvalenz und der Valenz der Substantive bzw. der Adjektive. Für die didaktische Darstellung ist es außerordentlich schwierig, wenn eine Struktur so erklärt wird, dass zwar ein valenzbedingtes Element vorhanden ist, dessen Valenzträger allerdings getilgt wurde. Von Brigitte Hilgendorf wurde eine sehr breit angelegte Untersuchung durchgeführt, die sich nicht nur auf Attributsätze, sondern auch auf Angabesätze bezog. Als Analysekorpus wurden nicht nur die geschriebenen Texte des MK1, sondern auch die gesprochenen Texte des FK ausgewertet (Hilgendorf 1977). Allerdings wurde bei den Relativsätzen mit dem Begriff der „verkappten Relativsätze“ diese Domäne zu stark ausgeweitet auf Kosten der Ergänzungssätze (ebd., S. 11). Die entscheidende Problematik lag jedoch im Dependenz- und Valenzbegriff, der dieser Darstellung zu Grunde lag. Er entfernte sich erheblich von den Grundannahmen, indem für Aktiv- und Passivsätze bei der gleichen Verbvariante verschiedene SBPs angesetzt wurden. Es sollte eine Art von „periodischem System“ von Strukturmustern entwickelt werden, das verbale und nichtverbale Syntagmen einbeziehen sollte. In diesem System sollte der Valenz die Rolle eines Grenzfalls zukommen (ebd., S. 7ff.). Da dieser Ansatz zu sehr von den Grundlinien der anderen Arbeiten abwich, wurde die Untersuchung nicht abgeschlossen. 2.7 Syntaktische Strukturen der gesprochenen Sprache Im Rahmen des Projekts „Syntaktische Strukturen“ sollten zunächst auch die Untersuchungen zu solchen Strukturen der gesprochenen Sprache zum Abschluss geführt werden. Wegen einer Verlagerung des Forschungsschwerpunkts in der Abteilung „Grammatik und Lexik“ zugunsten eines geplanten großen interdisziplinären Wörterbuchs wurden die Forschungen zur Verbvalenz in der gesprochenen Sprache von Wolfgang Mentrup zurückgestellt. In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen zu verblosen Sätzen nicht zur Publikation gekommen, die ein Teilkapitel bilden sollten (Mentrup 1977, S. 1). Diese Strukturen liegen zwar außerhalb des Skopus der Valenz, lassen sich aber mit einem an die Verbvalenz angelehnten Modell beschreiben (Günther 1977, S. 26f.). <?page no="255"?> Valenzforschung am IDS 255 2.8 Substantivvalenz Bis Mitte der 70er-Jahre hatte sich die Valenzforschung am IDS fast ausschließlich auf die Ebene des Satzes und damit auf die Valenz des Verbs bezogen. Im Zuge der generellen Ausweitung des Valenzbegriffs definierte Ulrich Engel in seiner Syntax: Angaben sind Glieder, die von allen Elementen einer Wortklasse abhängen können. Ergänzungen sind Glieder, die nur von bestimmten Elementen einer Wortklasse abhängen (können). Oder: Ergänzungen sind subklassenspezifische Glieder. (Engel 1977, S. 100) Hier bezogen sich die Begriffe „Ergänzung“ und „Angabe“ nicht mehr ausschließlich auf die Umgebung von Verben, sondern auch auf die anderer Wortklassen. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, um auch die Valenz der Adjektive und der Substantive zu beschreiben und die interne Struktur von Satzgliedern mit den Mitteln der Dependenzgrammatik darzustellen. Die wichtigste Untersuchung auf diesem Gebiet war die am IDS entstandene Heidelberger Dissertation von Wolfgang Teubert zur Valenz des Substantivs und dessen attributiven Ergänzungen und Angaben (Teubert 1979). Auch Teubert stützt seine Klassifikation der Substantive auf das MK1 (ebd., S. 23f.). Er betrachtet die Substantivvalenz als ein System „sui generis“, das, abgesehen von Substantivierungen, nicht einfach aus dem System der Verbvalenz über Transformationen abgeleitet werden kann (ebd., S. 79). Dennoch gibt es Entsprechungen zwischen E-Klassen beim Verb und beim Substantiv. Der Hauptteil von Teuberts Darstellung besteht aus einer Klassifikation der valenten Substantive und einem auf diese bezogenen System von denominalen E-Klassen (ebd., S. 86f.). Er unterscheidet 12 Klassen von solchen Substantiven, nämlich Bezeichnungen für Handlung, Vorgang, Ergebnis, Zustand, Eigenschaft, die meist mit Verben oder Adjektiven korrespondieren. Bei den Klassen „relationale Personenbezeichnung“, „Täterbezeichnung“ und den Bezeichnungen für Maß, Menge, Motion und bestimmten Benennungen ist das nicht der Fall (Teubert 1979, S. 81-86). Die Ergänzungen des Substantivs systematisiert Teubert in 17 semantisch bestimmten E-Klassen wie Agentiv, Objektiv, usw., die den Klassen der Bezugssubstantive zugeordnet werden und deren Ausdrucks- <?page no="256"?> Helmut Schumacher 256 formen bestimmt werden (ebd., S. 88-144). Nicht in analoger Weise, sondern weitgehend nach syntaktischen Gesichtspunkten, werden anschließend die denominalen Angabeklassen klassifiziert, weil einige von ihnen eine Vielzahl von Bedeutungen ausdrücken können (ebd., S. 145ff.). Nach diesen Kriterien werden neun Angabeklassen unterschieden, nämlich Genitivus possessivus und qualitatis, Präpositional-, Situativ-, Adverbialangabe (voran- und nachgestellt), Apposition und Relativsatz (ebd., S. 148-201). Topologische Regeln werden nur am Rande behandelt (ebd., S. 202-210). Die Forschungsarbeit hatte in der Folgezeit nachhaltige Auswirkungen insbesondere auf lexikografische Projekte, auf die in Kap. 3.7 eingegangen wird. 2.9 Grammatik der deutschen Sprache Die Abteilung „Grammatik und Lexik“ wurde 1984 geteilt und das Projekt „Syntaktische Strukturen“ beendet. Die Arbeiten zur Valenz-Grammatik wurden in der neu entstandenen Abteilung „Grammatik“ in Hinblick auf eine umfassende Grammatik der deutschen Sprache weiter geführt (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997). Darüber berichtet der Beitrag von Bruno Strecker in diesem Band. 2.10 Kontrastive Grammatiken Über einen Zeitraum von 30 Jahren (1969-1999) wurde teils am IDS selbst, teils im Ausland in Zusammenarbeit mit dem IDS, an kontrastiven Projekten gearbeitet. Das Ergebnis war eine Serie von fünf umfangreichen kontrastiven Grammatiken und einer kleinen Schriftenreihe, in denen jeweils Deutsch mit einer anderen Sprache kontrastiert wurde, d.h. sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede des Sprachenpaars parallel dargestellt wurden. (Stickel 1977; Engel 1989b). In einer eigenen Abteilung wurden die Projekte zu Deutsch-Französisch, Deutsch-Japanisch, Deutsch-Spanisch bearbeitet. Es gab kein einheitliches Konzept für diese drei Arbeitsvorhaben, so dass der Bezug auf Valenz und Dependenz bei der Syntax höchst unterschiedlich war. Am ausgeprägtesten ist er im morphosyntaktischen Bereich der Deutsch- Spanischen kontrastiven Grammatik (Cartagena/ Gauger 1989). Bei Deutsch und Japanisch im Kontrast handelt es sich um eine Reihe von Einzelstudien, zu denen auch für beide Sprachen eine Morphosyntax gehören sollte. Allerdings wurde nur die für das Japanische abgeschlossen, deren Beschreibung einer Dependenzgrammatik ähnelt (Rickmeyer 1983). <?page no="257"?> Valenzforschung am IDS 257 Ganz anders war die Methode der Syntax-Darstellungen bei den drei später entwickelten kontrastiven Grammatiken zu Deutsch-Serbokroatisch (Engel/ Mrazovi æ (Hg.) 1986), Deutsch-Rumänisch (Engel/ Isbasescu/ Stanescu/ Nicolae 1993), und Deutsch-Polnisch (Engel 1999). Diese Projekte wurden alle von Ulrich Engel geleitet und maßgeblich beeinflusst. Daher hatten sie mit der Dependenz-Verb-Grammatik in Engel (1988) und ihren Vorstufen eine weitgehend einheitliche Grundlage. Prinzipiell waren sie so angelegt, dass für das Deutsche auf die dort vorhandenen Beschreibungen zurückgegriffen werden konnte, so dass nur für die kontrastierte Sprache eine dependenzielle Darstellung zu entwickeln war. Dennoch erforderten die Partnersprachen jeweils Modifikationen in der Darstellung und Präzisierungen bei den Grundlagen (Engel 1989b, S. 31ff.). Die für die Valenzforschung zentrale Aufgabe bestand aber darin, einen theoretischen Rahmen für die Partnersprachen zu entwickeln, der mit der Beschreibung für das Deutsche kompatibel ist. Darin liegt ein grundsätzliches Problem, weil die Gefahr gesehen werden muss, einer anderen Sprache ein System überzustülpen, das für die Beschreibung des Deutschen ausgearbeitet wurde und daher für eine andere Sprache nicht unbedingt adäquat ist. Vorwürfe dieser Art sind gegen die kontrastive Grammatik wiederholt geäußert worden, zumal der Anspruch erhoben wurde, diese Grammatiken seien reversibel einsetzbar. Da diese These überzogen ist, war die Folge, dass bisher die Darstellungen der kontrastiven Grammatiken zwar die Valenzforschung beflügelt, aber in den im Ausland verfassten Lehrwerken noch wenig Eingang gefunden haben. 3. Valenz-Lexikografie 3.1 Projekt „Grundstrukturen“ Im Rahmen des Projekt „Grundstrukturen“ war vorgesehen, die Valenz der deutschen Verben systematisch zu beschreiben. Dieses Vorhaben war nicht auf die Darstellung in Form von Monografien beschränkt, sondern das Material zur geschriebenen Sprache sollte auch in Form eines Lexikons präsentiert werden. Valenzlexika sind besonders für den Fremdsprachenunterricht von Interesse, weil ein Lerner auf Grund seiner muttersprachlichen Kompetenz zwar erwarten kann, dass z.B. in der Umgebung des Verbs schenken auf jemanden, der schenkt, einen Beschenkten und ein Geschenk Bezug genommen wird, aber lernen muss, mit welchen syntaktischen Mitteln im Deutschen auf <?page no="258"?> Helmut Schumacher 258 diese drei semantischen Rollen Bezug genommen werden kann. In einem Valenzlexikon können die syntaktischen Konstruktionsmöglichkeiten in umfassender und übersichtlicher Weise dargestellt werden. Ein weiteres Projektziel war die Ermittlung von Häufigkeiten des Vorkommens von bestimmten syntaktischen Strukturen. In Hinblick auf die Progression im Fremdsprachenunterricht sollten z.B. empirische Daten über die Häufigkeit von bestimmten SBP-Typen bei frequenten Verben durch Korpusanalysen ermittelt werden. Die Ergebnisse wurden in Form von maschinell erstellten Registern vorgelegt. 3.2 Kleines Valenzlexikon deutscher Verben (KVL) Anfang 1970 nahm Ulrich Engel die Arbeiten an einem Valenzlexikon der Verben in Angriff. Da das Lexikon mit maschineller Unterstützung erstellt werden sollte, mussten die Daten von einer größeren Projektgruppe von studentischen Hilfskräften, die ab September 1970 von Helmut Schumacher koordiniert wurde, codiert werden. Es zeigte sich bald, dass die ursprüngliche Absicht, mehr als 1.500 Verben syntaktisch und semantisch zu beschreiben, nicht in einer vertretbaren Zeitspanne realisiert werden konnte (Schumacher 1976a). Weil die theoretischen Grundlagen zu Beginn des lexikografischen Projekts erst ansatzweise entwickelt waren (Engel 1970b), verbesserte Engel schrittweise seine Ausprägung der Valenztheorie (Engel 1971, 1972b; Engel/ Schramm 1975). Für manche der bei der Arbeit am Lexikon auftretenden Probleme mussten Lösungen gefunden werden, die z.T. eine Untersuchung solcher Bereiche der Wörterbuchgrammatik voraussetzten. Diese Studien wurden parallel zur Ausarbeitung der Artikel durchgeführt und zum größeren Teil in einem Forschungsbericht veröffentlicht (Schumacher (Hg.) 1976). Da überwiegend nur zwei wissenschaftliche Mitarbeiter hauptamtlich am Projekt beteiligt waren, wurden für diese Arbeiten auch studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte herangezogen und die Mithilfe von Gastwissenschaftlern angenommen. Die Aufsätze bezogen sich auf die Definition der Grundbegriffe (Pape 1976; Ballweg-Schramm 1976a), die Unterscheidung von Ergänzung und Angabe (Biere 1976; Ballweg 1976b), die Satzförmigen Ergänzungen (Köhler 1976; Ballweg-Schramm 1976b; Ballweg 1976a), die Abgrenzung der Modalitätsverben (Neugeborn 1976), die Unterscheidung von Verbzusatz und adjektivischem Satzglied (Leirbukt 1976), die Behandlung von Funktionsverbgefügen (Günther/ Pape 1976), die Artikelstruktur <?page no="259"?> Valenzforschung am IDS 259 (Schumacher 1976b; Hamel/ Schumacher 1976), u.a. Zurückgestellt wurde der Plan einer semantischen Beschreibung der Verbumgebung, da dafür noch keine befriedigende Konzeption vorlag. Als 1972 das unter Beteiligung des IDS entwickelte „Zertifikat Deutsch als Fremdsprache“ (ZDaF) an Volkshochschulen und Goethe-Instituten eingeführt wurde, bot sich die Gelegenheit, ein Auswahllexikon für die Verben auszuarbeiten, die in der Wortliste des ZDaF als Minimalwortschatz aufgeführt waren. Dieses erschien 1976 mit Artikeln zu 461 Verben (Engel/ Schumacher 1976: KVL). Kern der Beschreibung ist die Darstellung der syntaktischen Umgebungen dieser Verben im SBP, der seine Ergänzungen aufzählt. Engel unterscheidet die Ergänzungen nicht nach morphologischen Kriterien, sondern er fasst alle vorkommenden Ausdrucksformen der Satzglieder in zehn E-Klassen zusammen. Als Kriterium für die Konstituierung der E- Klassen dient ihm die „Anaphorisierungsprobe“, d.h. die Substituierung der Ausdrücke, die in einem Paradigma stehen, durch abstrakte Ausdrücke wie Pronomina, Adverbien, Pronominaladverbien. Damit sind alle Ausdrücke, die sich durch dieselben Anaphern substituieren lassen, Belegungen für dieselbe E-Klasse. Um Missverständnisse durch die traditionellen Bezeichnungen für die Satzgliedklassen zu vermeiden, wählte Engel die neutralen Symbole E 0 bis E 9. Die Klassen E 0 bis E 3 entsprechen weitgehend dem Subjekt und den Objekten (E 0 NominativE; E 1 AkkusativE; E 2 GenitivE; E 3 DativE. Die Klassen E 4 bis E 6 werden meist durch Präpositionalgruppen realisiert, wobei die E 4 (PräpositivE) die festen Präpositionen umfasst, die E 5 (SituativE) und E 6 (DirektivE) sich auf die austauschbaren Präpositionen beziehen sowie auf adverbiale Bestimmungen, mit denen räumliche und zeitliche Verhältnisse ausgedrückt werden. Durch die E 7 (EinordnungsE) und E 8 (ArtE) werden die prädikativen Substantive (E 7) und Adjektive (E 8) klassifiziert. Die E 9 (Ergänzungssatz) erfasst obligatorische abhängige Infinitivkonstruktionen und Nebensätze, die nicht gegen Nominalgruppen ausgetauscht werden können (KVL, S. 21-26). Das System der zehn E-Klassen bietet die Möglichkeit, eine überschaubare Zahl von Satzmodellen aufzustellen, auf die alle Verbalsätze zurückgeführt werden können. Die Zahl ist deswegen ziemlich klein, weil bei einem Verb maximal vier Ergänzungen angesetzt werden und nur bestimmte Kombinationen möglich sind. Engel geht davon aus, dass im Deutschen etwa 30 dieser syntaktischen Grundmuster, die „Satzmuster“ genannt werden, vorkommen. <?page no="260"?> Helmut Schumacher 260 Allerdings vergrößert sich die Zahl der Satzmodelle im KVL, weil dort nicht Satzmuster, sondern SBP angegeben werden, bei denen zwischen obligatorischen und fakultativen E unterschieden wird. Im SBP-Code werden die obligatorischen E nicht markiert, während die fakultativen E durch eine öffnende runde Klammer gekennzeichnet sind. Die Mikrostruktur der Verbartikel im KVL ist sehr einfach: In der linken Spalte wird der „Verbalkomplex“ aufgeführt, d.h. das Verb in der Nennform sowie weitere feste Bestandteile wie Reflexivum, es, oder voll lexikalisierte Fügungen. In der rechts anschließenden Spalte ist der SBP-Code eingetragen. Eine Besonderheit dieses Valenzlexikons liegt in dem Eintrag der „Satzförmigen Ergänzungen“ (SE). Es handelt sich hierbei um Nebensätze und Infinitivkonstruktionen in der Funktion einer E 0, E 1, E 2 oder E 4. Zwar ist generell die Vorkommensbedingung für die SE, dass mit der betreffenden E auf einen Sachverhalt oder auf eine Handlung Bezug genommen wird, aber die möglichen Ausdrucksformen der SE unterscheiden sich, und bei manchen Verben ist keine SE möglich. Außerdem wurde angegeben, ob es im übergeordneten Satz ein „Korrelat“, d.h. ein Stützwort wie es, darauf, davon, u.a., gibt oder nicht und ob dieses obligatorisch oder fakultativ ist. Da solche Regeln verbspezifisch sind, wurden sie bei jedem Verb aufgeführt. In der folgenden Spalte wird im KVL die Passivfähigkeit des Verbs eingetragen. Der Eintrag beschränkt sich auf das volle und unpersönliche Passiv mit dem Hilfsverb werden. Die rechte Spalte wird von den Beispielen eingenommen. Jeder SBP und jede Ausdrucksform einer SE wird mit einem Beispielsatz belegt, dessen Hauptfunktion darin besteht, die syntaktische Struktur zu illustrieren. Daher wurden die Beispiele unter Berücksichtigung des Grundwortschatzes im ZDaF konstruiert, und nicht aus den Korpustexten entnommen. Dieses Verfahren hat den Vorteil der leichten Verständlichkeit, allerdings auch den Nachteil, dass diese Sätze häufig kommunikativ unbefriedigend wirken (Schumacher 1976a, S. 10ff.). Das KVL war sehr erfolgreich, allerdings weniger bei der Zielgruppe der DaF-Lehrer an Volkshochschulen, sondern mehr im universitären DaF- Unterricht im In- und Ausland, sowie bei Grammatikern und Lexikografen. 1978 wurde eine zweite Auflage nötig, von der es seit 2003 einen Nachdruck gibt. Das KVL war das erste Valenzlexikon, dessen Daten mit Hilfe des Computers erfasst wurden. Als Druckvorlage hatten aber die Maschinenausdrucke keine ausreichende Qualität, weshalb der gesamte Text noch einmal <?page no="261"?> Valenzforschung am IDS 261 abgeschrieben werden musste. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde der Plan eines „Erweiterten Valenzlexikons“ mit ca. 1.600 Verben nicht verwirklicht. 3.3 Zweisprachige Valenzlexika auf der Basis des KVL Kurz nach dem Erscheinen der 2. Auflage des KVL wurde in Mexiko eine zweisprachige Version dieses Wörterbuchs für Deutschlerner mit spanischer Muttersprache ausgearbeitet (Rall/ Rall/ Zorrilla 1980). Auch die spanische Version wendet sich an Lerner eben dieser Stufe. Jeder Variante der deutschen Verben sind die spanischen Entsprechungen zugeordnet. Diese sind in einem Register alphabetisch mit den deutschen Entsprechungen aufgelistet. Alle Beispiele des KVL sind ins Spanische übersetzt. Die Reihenfolge der Varianten der deutschen Verben ist gegenüber dem KVL aus didaktischen Gründen verändert worden. Während im KVL die Abfolge strikt nach formalen Kriterien geregelt ist, versucht die spanische Version eine Reihenfolge nach der Wichtigkeit der Strukturen. Mit Beginn der 80er-Jahre wurde von Engel damit begonnen, zweisprachige Valenzlexika auf der Basis des KVL kontrastiv anzulegen, so dass ein bidirektionaler Gebrauch ermöglicht wurde. Die folgenden kontrastiv-zweisprachigen Versionen beschränkten sich jedoch nicht auf die syntaktische Beschreibung, sondern fügten eine semantische Komponente hinzu. Dazu war eine weitgehende Umarbeitung des KVL erforderlich, die dann wiederum als Basis für weitere kontrastive Valenzlexika diente. Beim deutsch-rumänischen Valenzlexikon handelt es sich um das erste zweisprachig-kontrastive Verblexikon, denn in ihm wird die spezifische Umgebung der Verben beider Sprachen dargestellt (Engel/ Savin/ Mihailă-Cova et al. 1983). Dieses Projekt wurde unter Leitung von Ulrich Engel in Zusammenarbeit des IDS Mannheim mit einer rumänischen Arbeitsgruppe verfasst. Die rumänische Autorengruppe entwickelte dazu eine valenzorientierte Beschreibung der rumänischen Verben, für die es keine direkte Vorlage gab. Den deutschen Teil des Lexikons bildet eine von Engel mit der Angabe von semantischen Restriktionen bei den Ergänzungen versehene Version des KVL. Im Lexikon sind die Daten zu den beiden Sprachen spiegelbildlich angeordnet: ganz außen stehen das deutsche und das rumänische Lemma, dann folgen SBP und semantische Restriktionen, innen stehen die Beispiele. Die rumänischen Sätze sind Übersetzungen der deutschen Beispiele. Am Schluss <?page no="262"?> Helmut Schumacher 262 gibt es ein Register der rumänischen Verben mit SBP und ihren deutschen Entsprechungen. Durch diese Anlage ist das Lexikon bidirektional nutzbar, d.h. sowohl für rumänische Deutschlerner als auch (eingeschränkt) für deutsche Romanisten. Auf der Basis von Engel/ Savin/ Mihailă-Cova et al. (1983) und mit Betreuung von Ulrich Engel ist das deutsch-italienische kontrastive Verbvalenzlexikon entstanden (Bianco 1996). Es ist das erste Valenzlexikon, das neben der Buchausgabe auch auf einer Diskette ausgewertet werden kann. Wenn auch die Konzeption dieses Valenzlexikons und die Anordnung der Daten weitgehend mit der von Engel/ Savin/ Mihailă-Cova et al. (1983) übereinstimmt, gibt es im Einzelnen eine Reihe von Erweiterungen und Verbesserungen gegenüber der Vorlage. Dazu gehört eine sehr detaillierte zweisprachige Einleitung, in der vor allem der neu entwickelte Beschreibungsansatz für die italienischen Verben dargelegt wird. Ein kontrastives Lexikon zur Valenz deutscher und polnischer Verben steht ebenfalls zu einem großen Teil in der Abhängigkeit vom KVL und seinen Weiterentwicklungen. (Morciniec/ Cirko/ Ziobro 1995). Das Projekt wurde in Polen unter Beratung durch Ulrich Engel durchgeführt. Im Lexikon werden ca. 585 deutsche Verben beschrieben, die zum größten Teil aus dem KVL übernommen sind. Es handelt sich hier ebenfalls um ein kontrastives Valenzlexikon, das eine gleichgewichtete syntaktische und semantische Beschreibung für die Verben beider Sprachen liefert. Der SBP-Eintrag, hier „Aktanten“ genannt, orientiert sich an der Darstellung in „Verben in Feldern“ (ViF) und bedient sich weitgehend deren Benennung der E-Klassen. Die Beispiele sind oft aus dem KVL oder Engel/ Savin/ Mihailă-Cova et al. (1983) übernommen, gelegentlich auch geändert. In einem indirekten Zusammenhang mit dem KVL und seiner Filiation steht das deutsch-türkische kontrastive Valenzlexikon Ozil (1990). Die Beschreibung der E-Klassen und der SBP für das Deutsche folgt der Darstellung in Engel (1988). Mehr als zwei Drittel der 290 Verben kommen im KVL vor. Unter der Federführung von Ulrich Engel werden noch nicht abgeschlossene Projekte für die Ausarbeitung von kontrastiv-zweisprachigen Verbvalenz- Wörterbüchern mit Deutsch als Zielsprache durchgeführt. Dazu gehört ein deutsch-bosnisch/ kroatisch/ serbisches Valenzlexikon, an dem in Deutschland und in Sarajevo gearbeitet wird und das voraussichtlich 2007 erschei- <?page no="263"?> Valenzforschung am IDS 263 nen wird. Die Konzeption für dieses Projekt ist in Djordjevi æ (2002) dargelegt. Bei dem in Santiago de Compostela entstehenden spanisch-deutschen kontrastiven Verbvalenzlexikon hat sich die Arbeitsgruppe dafür entschieden, die Artikelstruktur von der Muttersprache Spanisch der DaF-Lerner zur Zielsprache Deutsch hin anzulegen. Darüber hinaus soll in dem noch nicht endgültig festgelegten Beschreibungsmodell weitgehend die Konzeption von Engel (1996) zu Grunde gelegt werden (Engel/ Meliss (Hg.) 2004). Ebenfalls in Arbeit sind kontrastive Valenzwörterbücher Deutsch-Bulgarisch, Deutsch- Arabisch, Deutsch-Albanisch. 3.4 Valenzregister deutscher Verben (VALREG) und Verb-Stammlexikon Zu den primären Zielsetzungen des Projekts „Grundstrukturen“ gehörte auch die Gewinnung von statistischen Daten über das Vorkommen syntaktischer Strukturen in Textkorpora. Zuvor beschränkte sich die Sprachstatistik vor allem auf die Zählung von Wörtern bzw. von Wortformen, um Häufigkeitslisten für Grundwortschatzsammlungen aufzustellen. Hier ging es um die Ermittlung von Häufigkeitswerten z.B. bei den SBP-Strukturen sowie weiteren syntaktischen Phänomenen im Verbalsatz. Man wollte für das Fach DaF nicht nur einen Mindestwortschatz für bestimmte Lernziele anbieten, sondern auch einen Kanon von grammatischen Strukturen aufstellen, deren Beherrschung zur Qualifikation auf dem jeweiligen Fremdsprachen-Niveau gehören sollte. Für solche Recherchen bot sich der Rechner als leistungsfähiges Hilfsmittel an. Allerdings war in den 60er- und 70er-Jahren noch nicht an eine automatische Annotation der Korpustexte mit grammatischen Merkmalen zu denken. Daher mussten diese in einer aufwändigen manuellen Codierung der Texte erst eingebracht werden. Zudem mangelte es noch an geeigneter Software, was einen hohen Programmierbedarf zur Folge hatte, der an einer Institution wie dem IDS oft an Kapazitätsgrenzen stieß. Daher konnten die Möglichkeiten der maschinellen linguistischen Datenverarbeitung noch nicht in vollem Umfang genutzt werden. Bereits zu Beginn der „Grundstrukturen“ initiierte Ulrich Engel die Erstellung eines „Valenzregisters“, mit dessen Ausarbeitung Hannelore Fenske von der Bonner Forschungsstelle beauftragt wurde (Fenske 1971). Der Maschinenausdruck umfasst die Analysedaten einer Auswahl von jeweils drei Blöcken von Anfang, Mitte und Ende aus acht Texten des MK1, die zu dieser Zeit satzzerlegt und korrigiert vorlagen. Er enthält Informationen zu Satz- <?page no="264"?> Helmut Schumacher 264 Nr., Textschlüssel, SBP, Angaben, Hauptverb mit Verbzusatz, Modalverb, Passiv, Satzform, und fester Präposition. Das Material ist in drei Optionen sortiert, und zwar nach SBP, nach Verb, und nach Text (Fenske 1969). Da Engel 1970 seine Klassifizierung der E-Klassen und damit auch das System der SBP änderte, begannen 1971 die Arbeiten an einem neuen Valenzregister unter der Leitung von Helmut Schumacher, die 1980 abgeschlossen wurden. Inzwischen lagen Satzzerlegungen für das ganze MK1 vor, so dass jetzt ein Korpuslexikon über alle Texte des MK1 erstellt werden konnte. Die Texte wurden in Blöcke von je 100 Wortformen maschinell zerlegt; aus diesen wurden jeweils 10 Blöcke durch Zufallszahlen ausgewählt und analysiert. Die erhobenen Daten gingen noch über die Arbeit von Fenske hinaus. Die Codierungen gaben Auskunft über die genaue Struktur des Verbalkomplexes, die Realisierung des SBP, die Satzform u.a. Auch bei diesem Register wurden die Daten nach laufendem Text, SBP, und Verb sortiert. Eine Neuerung brachten Optionen, bei denen den Analysedaten der Originalsatz aus dem Korpus zugeordnet ist. Daneben gibt es eine Anzahl von weiteren Optionen nach verschiedenen Auswahlkriterien (Schumacher u.a. 1980). Die maschinelle Auswertung der Ergebnisse zeigte bei der Häufigkeit der SBP und der Verben interessante Unterschiede zwischen den verschiedenen Textsorten auf (Schumacher 1981). Noch während der Laufzeit des Projekts „Grundstrukturen“ begann 1971 ein Großprojekt „Linguistische Datenverarbeitung“ (LDV) mit mehreren Teilprojekten, die in Mannheim und Bonn an eigenen Forschungsstellen durchgeführt wurden. Der valenzbezogene Teil fiel in das Projekt der Arbeitsgruppe MasA (1971-1973), von deren Mitarbeitern vorwiegend Bärbel Fritzsche, Hans Dieter Lutz, Isolde Pabst und Wolfgang Teubert mit der Valenzkomponente beschäftigt waren. Das Forschungsziel der Arbeitsgruppe bestand in der Erarbeitung einer maschinellen syntaktischen Analyse, für die morphosyntaktische Voraussetzungen zu ermitteln waren (Arbeitsgruppe MasA 1974a, S. 6). Die wichtigste Komponente, das „Verb-Stammlexikon“, enthält paradigmatische und syntagmatische Informationen, wobei Verben und SBP, Informationen zur Passivfähigkeit, zu Satzförmigen Ergänzungen aus dem KVL übernommen wurden (Arbeitsgruppe MasA 1974a: S. 113f., 131-134; 1974b: S. 31-45). Auch bei den Pronominaladverbien, die als Anapher und als Korrelat auftreten können, muss im Lexikon vermerkt sein, zu welcher E-Klasse sie gehören (ebd., 1974a, S. 100-105). Bei den Nominalgruppen ist u.a. zu berücksichtigen, ob Verträglichkeit mit einem Verbal- <?page no="265"?> Valenzforschung am IDS 265 komplex vorliegt und der SBP erfüllt ist (ebd., 1974a, S. 511f.). Besonders bei der Analyse der „Regierenden Verbalgruppe“ (RVG) spielen die Einträge aus dem Valenzlexikon eine wichtige Rolle. Sie werden zu einer „Wertigkeitsangabe“ zusammengefasst, die für die weitere Analyse grundlegend ist (ebd., 1974a, S. 607-649). Der Wert des MasA-Projekts liegt vor allem in der Gewinnung von „Erfahrungen mit Methoden und Problemen der automatischen Sprachanalyse“ (MasA 1974b: Vorbemerkungen von U. Engel/ I. Vogel, S. IV-V). 3.5 Verben in Feldern (ViF) Seit Mitte der 70er-Jahre konzentrierte sich die lexikografisch orientierte Valenzforschung überall verstärkt auf die semantische Beschreibung der Verben. Einige Mitarbeiter der KVL-Arbeitsgruppe waren mit den damaligen Möglichkeiten für den Einbezug einer semantischen Komponente unzufrieden und suchten nach neuen Wegen (Ballweg/ Hacker/ Schumacher 1971; 1972). Ziel dieser Bemühungen war es, nicht nur die verbale Umgebung semantisch zu charakterisieren, was viele Wissenschaftler für ausreichend hielten, sondern auch die Beziehungen zwischen der Verbbedeutung und der spezifischen verbalen Umgebung aufzudecken (Schumacher 1986, S. 346- 354). Nach weiteren Vorarbeiten wurde 1975 mit einem von der DFG geförderten Projekt begonnen, bei dem zunächst die Konzeption für ein semantisch orientiertes Valenzwörterbuch entwickelt und erprobt wurde. Mitarbeiter(innen) der Valenzgruppe waren Joachim Ballweg, Angelika Ballweg- Schramm, Pierre Bourstin, Helmut Frosch, Jacqueline Kubczak und Helmut Schumacher, der das Projekt leitete, und einige Hilfskräfte (Projektgruppe Verbvalenz 1981). Bei der Entscheidung für eine logisch-semantische Basis der Wörterbuchgrammatik lag es nahe, das geplante Wörterbuch nicht alphabetisch (semasiologisch) anzulegen, sondern die Bedeutungsähnlichkeiten der Verben bzw. bestimmter Verbvarianten über eine zu Grunde liegende begriffliche (onomasiologische) Struktur zu explizieren (ebd., S. 162-171). Am IDS in Mannheim wurde unter diesen Prämissen ein semantisch orientiertes Valenzwörterbuch deutscher Verben erarbeitet, das 1986 unter dem Namen „Verben in Feldern“ erschien (Schumacher (Hg.) 1986: ViF). Die Autoren waren nahezu dieselben, die an der Konzeption mitgearbeitet hatten, verstärkt durch Michael Kinne. Die grammatischen, lexikografischen, zielgruppenspezifischen Aspekte des entstehenden Wörterbuchs wurden in vielen Vorträgen und Aufsätzen zur Diskussion gestellt (z.B. Ballweg/ Frosch <?page no="266"?> Helmut Schumacher 266 1980; Ballweg-Schramm 1978; Ballweg-Schramm/ Schumacher 1979; Schumacher 1985; Schumacher/ Kubczak 1979). Drei Mitglieder der Valenzgruppe konnten in Anlehnung an ihre Projektarbeit Dissertationen verfassen, eine Mannheimer Dissertation über kausative Verben (Ballweg 1977), eine Heidelberger Dissertation über das Passiv (Pape-Müller 1980), und eine über die Hypostasierung von Bedeutungen (Schmidt 1985). In ViF werden ca. 1000 Verbvarianten und verbale Ausdrücke beschrieben, die in sieben Makrofeldern mit insgesamt 30 Feldern gruppiert sind. Die Makrofelder umfassen die folgenden Bereiche: 1. Verben der allgemeinen Existenz; 2. Verben der speziellen Existenz; 3. Verben der Differenz; 4. Verben der Relation und des geistigen Handelns; 5. Verben des Handlungsspielraums; 6. Verben des sprachlichen Ausdrucks; 7. Verben der vitalen Bedürfnisse. Nur die Verben des im jeweiligen Feld zentralen Wortschatzes sind ausführlich in Form von Wörterbuchartikeln dargestellt. Die für die Textproduktion weniger wichtigen Varianten werden in einem lexikografischen Text kurz behandelt, der jedem Verbfeld vorangestellt ist (ViF, S. 48ff.). Abgesehen vom Makrofeld 7. handelt es sich bei den ausgewählten Verben in erster Linie um solche der allgemeinen Wissenschaftssprache, die man beherrschen muss, wenn man die „Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang“ (DSH) ablegen will. Die Valenzbeschreibung in ViF beruht auf einem Grammatikmodell, das im Anschluss an die „Kategorialgrammatik“ von Montague und Cresswell entwickelt wurde. In der Wörterbuchgrammatik werden mit Hilfe des λ - Operators aus Sätzen Prädikate gemacht, die als Operatoren auf Operand- Ausdrücke angewendet werden. Dieses Verhältnis von Operator und Operand wird indirekt als Abhängigkeitsrelation interpretiert, wobei der Operator dem Valenzträger, also dem Verb entspricht. Die Operanden, die durch Variablen symbolisiert werden, vertreten die abhängigen, valenzgebundenen Elemente. Diesen werden Bedeutungsregeln zugeordnet, mit denen spezifiziert wird, welche Kategorien als Belegungsmöglichkeiten für die Verbumgebung in Betracht kommen, z.B. Ausdrücke für Lebewesen, Konkretes, Abstraktes usw. Die zentrale Frage der Valenztheorie, welche Elemente der Verbumgebung als valenzgebunden zu betrachten sind, und welche nicht, wird in ViF durch semantische Analysen ermittelt, die durch eine Serie von Operationen unterstützt werden. Durch den „Eliminierungstest“ als obligatorisch ausgewiesene <?page no="267"?> Valenzforschung am IDS 267 Elemente, d.h. nicht weglassbare Elemente, sind immer als Ergänzungen zu betrachten. Bei den fakultativen Gliedern wird der „Implikationstest“ angewendet, d.h., es wird geprüft, ob Sätze, die das betreffende Glied nicht enthalten, immer solche Sätze implizieren, in denen es vorkommt. Wenn z.B. aus dem Satz Jemand isst. immer der Satz folgt Jemand isst etwas., ist das fehlende Glied ein Kandidat für eine fakultative Ergänzung. Im dritten Schritt wird ermittelt, ob das fragliche Element für bestimmte Verbsubklassen spezifisch ist. Diese Spezifiziertheit wird durch die Paraphrasierung des Verbs festgestellt, weil in der Paraphrase auf die spezifischen Elemente Bezug genommen wird, mit denen die Bedeutung der Verbvariante erklärt werden kann. Wenn beim Satz Jemand ist anwesend. immer impliziert ist Jemand ist bei etwas anwesend., und beide Sätze mit ‘es gibt x in y’ zu paraphrasieren sind, dann wird y als Variable für eine fakultative Ergänzung eingestuft, mit der ein Ort oder ein Ereignis charakterisiert wird. Eine solche Bestimmung ist für solche Verben der Existenz spezifisch, zu denen anwesend sein gehört. Für die Valenzbeschreibung in ViF wird somit ein semantisch motivierter Valenzbegriff zu Grunde gelegt. Auf der morphosyntaktischen Ebene werden in ViF acht E-Klassen unterschieden, nämlich Nominativergänzung (NomE), Akkusativergänzung (Akk- E), Genitivergänzung (GenE), Dativergänzung (DatE), Präpositionalergänzung (PräpE), Adverbialergänzung (AdvE), Prädikativergänzung (PrädE), Verbativergänzung (VerbE). Diese Klassifizierung der Ergänzungen weicht von der Grammatik des KVL darin ab, dass Situativ- und Direktivergänzung hier zur AdvE, sowie Nominal- und Artergänzung zur PrädE zusammengefasst werden. Bei den Satzförmigen Ergänzungen (SE) wird zwischen w- Frage und ob-Frage differenziert und die direkte Rede als eigene SE-Klasse ergänzt. In den Wörterbuchartikeln steht unter dem Lemma der Satzbauplan (SBP), der durch ein Strukturbeispiel (S) und eine Paraphrase (P) syntaktisch und semantisch charakterisiert wird. Die im SBP vorkommenden Ergänzungen werden im folgenden Abschnitt einzeln aufgerufen und mit den für sie jeweils gültigen Belegungsregeln (Bel) versehen. Die bei der Realisierung von Ergänzungen generell möglichen Ausdrucksformen Nominalgruppe, Pronomen und generalisierender Satz werden nicht aufgeführt. Einzeln verzeichnet werden hingegen die speziellen Ausdrucksformen wie Adverbialgruppen (AdvG), Präpositionalgruppen (PräpG), sowie die jeweils möglichen SE- Formen. Die semantische Charakterisierung besteht darin, dass für jede Er- <?page no="268"?> Helmut Schumacher 268 gänzung angegeben wird, auf welche ontologische Kategorie die Ausdrücke Bezug nehmen, mit denen die Ergänzung realisiert werden kann. Häufig werden diese Regeln noch durch spezielle Erläuterungen (Anm) vertieft. Alle in den Artikeln vorkommenden SBP werden in einem SBP-Register mit den entsprechenden Verbvarianten aufgeführt. Bei der Darstellung der Passivfähigkeit der Verben sind neben dem werdenauch das sein- und bekommen-Passiv in den Wörterbuchartikeln verzeichnet (passK). Die passivfähigen Verbvarianten werden auch in einem eigenen Passivregister zusammenhängend aufgelistet. An die grammatische Explikation schließt sich ein Demonstrationsteil an, in dem die wichtigsten Strukturen durch Textbeispiele (TextB) illustriert werden, die man beherrschen muss, wenn man die „Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang“ (DSH) ablegen will. Diese sind überwiegend den Mannheimer Textkorpora entnommene Belege, teilweise aber auch selbst konstruierte Beispiele. Die Artikel werden abgeschlossen durch Hinweise auf deverbative Nomina und Adjektive (WortB) sowie durch Verweise auf andere Bedeutungen des beschriebenen Verbs (and Bed). An die Benutzer von ViF werden deutlich höhere Anforderungen gestellt als bei den anderen Valenzwörterbüchern. Daher wendet es sich in erster Linie an DaF-Lehrkräfte mit linguistischer Vorbildung und an Autoren von Lehrwerken. Der Hauptvorteil des Buches liegt in der Darstellung von bedeutungsverwandten Verben in einer Feldstruktur, die auch solche Varianten unterscheidet, die oft in Standardwörterbüchern als synonym dargestellt werden, und bei denen Präferenzen für die Wahl bestimmter Verben in unterschiedlichen Textsorten meist nicht kodifiziert sind. Das Wörterbuch findet Anwendung in der Lehrerausbildung und in anderen Lehrveranstaltungen der germanistischen Linguistik. 3.6 Valenzwörterbuch deutscher Verben (VALBU) Ende der 80er-Jahre wurde erwogen, eine gründliche Überarbeitung des KVL in Hinblick auf eine dritte Auflage vorzunehmen (Schumacher 1990). Während der Vorbereitungen für dieses Unternehmen wurde bekannt, dass deutsche Lehrwerkverlage - mit großer Verspätung gegenüber den anderen europäischen einschlägigen Verlagen - erkannt hatten, dass man für den Fremdsprachenunterricht nicht nur eigenes Lehr- und Übungsmaterial sowie zweisprachige Wörterbücher benötigt, sondern auch spezielle einsprachige <?page no="269"?> Valenzforschung am IDS 269 Wörterbücher für die Zielsprache braucht. Bisher hatten für das Fach DaF ausschließlich die Valenzlexika diesen Bereich partiell abgedeckt. Da in den 90er-Jahren mit dem Erscheinen von Gesamtwörterbüchern für DaF gerechnet werden konnte, hätte ein nur modifiziertes KVL keinen großen Informationsvorsprung mehr aufweisen können. Daher wurde die Planung umgestellt und zunächst von Helmut Schumacher und wenig später auch von Jacqueline Kubczak ein neues Valenzwörterbuch der Verben konzipiert, das wesentlich mehr an Informationen für den DaF-Lehrer und Lerner enthalten sollte. Als 1992 das IDS durch die Übernahme von Mitarbeiter(inne)n des Ostberliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft wesentlich vergrößert wurde, stießen Renate Schmidt und Vera de Ruiter zur neu formierten Valenzgruppe. Das Wörterbuch erschien 2004 unter dem Titel „VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben“ (Schumacher/ Kubczak/ Schmidt/ de Ruiter 2004: VALBU). Auch bei diesem Projekt wurden die verschiedenen Kernbereiche der Konzeption öfters vor allem bei ausländischen DaF-Experten zur Diskussion gestellt (z.B. Kubczak 1999, 2004; Schumacher 1996). VALBU enthält eine umfassende semantische und syntaktische Beschreibung von 638 deutschen Verben mit ihrer spezifischen Umgebung. Die Stichwortauswahl lehnt sich an den Verbbestand des „Zertifikats Deutsch“ (ZD) an, umfasst somit die Verben des KVL sowie weitere, die für die sprachliche Bewältigung von Alltagssituationen benötigt werden. Der Valenzbegriff, der in VALBU zugrunde gelegt wird, hat eine semantische und eine syntaktische Dimension: Unter semantischer Valenz wird „die Eigenschaft von Verbbedeutungen verstanden, in spezifischer Weise Beziehungen zu bestimmten Eigenschaften von Personen oder Sachen aufzuzeigen“. Unter syntaktischer Valenz wird „die Eigenschaft von Verben verstanden, die Zahl und Art bestimmter sprachlicher Elemente ihrer Umgebung im Satz zu determinieren“ (VALBU, S. 25). Semantische und syntaktische Verbvalenz sind nicht unabhängig voneinander, sondern ihr Zusammenhang besteht darin, dass die spezifischen Satzglieder in der Umgebung des Verbs, nämlich die Ergänzungen, „nur durch solche Ausdrücke realisiert werden können, die auf Personen oder Sachen referieren, deren Eigenschaften mit Komponenten der Verbbedeutung in Beziehung stehen“ (ebd., S. 26). In der Regel gilt auch die umgekehrte Relation, dass nämlich diese Bedeutungskomponenten mit einem Satzglied in der Umgebung des Verbs korrespondieren, somit semantische und syntaktische Valenz einander entsprechen. <?page no="270"?> Helmut Schumacher 270 Die grammatische Konzeption von VALBU weist Ähnlichkeiten mit der von ViF auf, die Umsetzung in die lexikografische Beschreibung führt jedoch zu anderen Ergebnissen. Für die Ermittlung der Ergänzungen werden der „Eliminierungstest“ sowie der „Folgerungstest“ (Implikationstest) aus ViF übernommen und durch den „Anschlusstest“ ergänzt. Bei diesem wird das fragliche Satzglied aus dem Satz herausgenommen und mit ...und das angeschlossen. Wenn diese Umschreibung akzeptabel ist, wird das Element als Angabe bewertet, wenn nicht, gilt es als Ergänzung. Es hat sich jedoch in Grenzfällen häufig erwiesen, dass diese Tests nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen, weshalb die Tendenz verfolgt wird, die Grenzfälle zu den Ergänzungen zu rechnen, damit sie angemessen beschrieben werden. Für die morphosyntaktische Beschreibung der verbalen Umgebung wird auf das System mit acht E-Klassen und auf die Ausdrucksformen zurückgegriffen, die bereits in ViF verwendet wurden. Die semantische Beschreibung von Verbvariante und Verbumgebung ist dagegen für VALBU neu entwickelt worden. Die Paraphrasen sind weniger abstrakt als in ViF gehalten, sondern führen außer einem allgemeineren Verb und einer Charakterisierung der speziellen Differenz für alle Ergänzungen „Verankerungsstellen“ auf, die durch standardisierte Variablen angezeigt werden. Als standardisierte Variablen dienen die Anaphern, nämlich Personalpronomina, Pronominaladverbien, u.a. Mit dieser Paraphrasentechnik wird erreicht, dass in VALBU nicht die isolierte Bedeutung der jeweiligen Verbvariante umschrieben wird, sondern der Zusammenhang mit der spezifischen valenzgebundenen Umgebung der jeweiligen Verbvariante hergestellt wird (VALBU, S. 78). Die Verbumgebung wird in zweifacher Hinsicht semantisch charakterisiert, nämlich durch eine „relationale“ und eine „kategoriale Bestimmung“. Die relationale Bestimmung ist die Kennzeichnung der semantischen Rolle, die eine Ergänzung in der Umgebung einer bestimmten Verbvariante spielt. Dazu werden in VALBU, im Gegensatz zu vielen Wörterbüchern, nicht die bekannten allgemeinen Ausdrücke für Kasusrollen wie „Agens“ verwendet, sondern verbspezifische Umschreibungen der Rollen eingesetzt, die auf den Paraphrasen basieren. Durch das Verb aussprechen z.B. werden zwei semantische Rollen eröffnet, die umschrieben werden durch „derjenige, der etwas äußert“ und „dasjenige, das geäußert wird“. Diese Rollen werden syntaktisch durch die NomE bzw. die AkkE repräsentiert. Für diese Ergänzungen gibt es Belegungsregeln, durch die festgelegt wird, wie die Ausdrücke, die als Belegung zulässig sind, semantisch zu interpretieren sind. Das sind bei der NomE <?page no="271"?> Valenzforschung am IDS 271 Bezeichnungen für Personen, Gremien, und Institutionen. Bei der Belegung der AkkE handelt es sich um Bezeichnungen für abstrakte Objekte (VALBU, S. 62). Eine Neuerung gegenüber ViF liegt in der „funktionalen Bestimmung“, mit der die kategorialen Belegungsregeln häufig präzisiert werden. Bei vielen Handlungsverben ist der Urheber einer Handlung nicht eine beliebige Person, sondern z.B. ein Funktionsträger wie der Sprecher einer Institution. Bei Verben wie kaufen ist nicht allein entscheidend, dass das Erworbene ein konkretes Objekt ist, sondern es muss etwas sein, das als Ware betrachtet wird und daher den Besitzer wechseln kann (ebd., S. 93). Der Artikelaufbau folgt in VALBU immer den gleichen formalen Prinzipien. Die Abfolge der Hauptlemmata ist strikt alphabetisch. Es gibt einen „Artikelkopf“ mit Angabe der Stammformen und einer Übersicht über den Gesamtartikel. Im „Artikelrumpf“ werden die durchnummerierten Subartikel nach einer festgelegten Reihenfolge der SBP abgehandelt. Der „Artikelfuß“ besteht aus einer Auflistung der Phraseologismen, Anmerkungen zum Gesamtartikel, sowie Verweisen auf andere Artikel zu Verben der gleichen Familie (VALBU, S. 65). Bei den Subartikeln sind zwei Sorten zu unterscheiden, nämlich „Langartikel“ und „Kurzartikel“. Die Langartikel beziehen sich auf solche Varianten des jeweiligen Verbs, die Lerngegenstand für das ZD sind, somit die gebräuchlichsten Verwendungen des Verbs darstellen. Da die Langartikel immer am Anfang des Gesamtartikels stehen, ist sichergestellt, dass die für die Sprachproduktion wichtigsten Varianten leicht auffindbar und detailliert beschrieben sind. Unter dem Eintrag W.BED folgen die weiteren Bedeutungen in Form von Kurzartikeln. Diese Varianten sind eher für die Sprachrezeption von Belang. Die Langartikel sind auch gegenüber den Kurzartikeln wesentlich differenzierter strukturiert. Sie enthalten Daten zur Passivfähigkeit und Wortbildung sowie erheblich mehr Verwendungsbeispiele. Die Beispiele sind überwiegend Belege aus den Textkorpora des IDS, teilweise in adaptierter Form. Ein wesentlicher Fortschritt gegenüber ViF liegt darin, dass in VALBU eine genauere Zuordnung von Regeln und deren Illustration gelungen ist. Die Verbvariante als Ganzes wird durch ein prototypisches Beispiel verdeutlicht, dessen Wortschatz im Bereich des ZD bleibt. Es folgen in den Langartikeln spezifischere Beispiele für jede Ergänzung mit stets gleicher Abfolge der semantischen Kategorien. Dieses Prinzip hat zur Folge, dass die Zahl der Beispiele stark variiert; sie ist hoch bei drei- und <?page no="272"?> Helmut Schumacher 272 vierwertigen Verben mit einem breiten Spektrum von Belegungsmöglichkeiten und sehr niedrig bei nullwertigen Verben. Auch Passivkonstruktionen und Anmerkungen haben immer ein Beispiel. Zur Vermeidung von Missverständnissen wird in den Beispielssätzen immer der Ausdruck grafisch hervorgehoben, auf den sich die jeweilige Regel bezieht. In den Kurzartikeln wird mit wesentlich weniger Beispielmaterial gearbeitet, wobei jedoch auch hier die wichtigsten semantischen und syntaktischen Belegungsregeln illustriert werden. Die Zielgruppe von VALBU sind vor allem ausländische Deutschlehrer, die keine speziellen linguistischen Vorkenntnisse benötigen. Da alle möglichen Strukturen bei den Verben behandelt werden, kann das Wörterbuch vor allem bei der Textproduktion, aber auch in Korrektursituationen hilfreich sein. Ein umfangreicher Registerteil informiert dabei über alle vorkommenden Satzmodelle sowie über alle Verbvarianten mit ihren Satzstrukturen (VAL- BU, S. 939-1040). Über die Resonanz des Wörterbuchs kann zwei Jahre nach seinem Erscheinen noch keine gesicherte Aussage gemacht werden. Noch vor dem Erscheinen von VALBU haben verschiedene ausländische Partner Konzepte erarbeitet, um auf der Grundlage dieser Beschreibung für die deutschen Verben kontrastive Valenzwörterbücher zu entwickeln. Mit Beratung von Helmut Schumacher konnte die Konzeption für ein deutschchinesisches Valenzwörterbuch weitgehend geklärt werden (Han/ Yuan/ Sun 1994), das in Tianjin ausgearbeitet werden soll. Auch für ein deutsch-japanisches Wörterbuch wurden erste Überlegungen dargelegt (Hashimoto 2001). Projekte zu weiteren Kontrastsprachen sind in Vorbereitung. Im Herbst 2005 wurde durch Jacqueline Kubczak die Ausarbeitung einer elektronischen Version von VALBU in Angriff genommen (E-VALBU). Diese wird in die Projekte „grammis“ und „Progr@mm“ der Abteilung „Grammatik“ integriert. 3.7 Valenz-Lexikografie der Substantive Im Gegensatz zum Bereich der Verben wurde am IDS kein einsprachig deutsches Valenzwörterbuch der Substantive geplant. Die Überlegungen von Wolfgang Teubert zielten direkt auf zweisprachige Wörterbücher, die mit ausländischen Partnern realisiert werden sollten. Die deutschsprachige Valenzlexikografie der Substantive in der ehemaligen DDR lieferte keine geeignete Basis für solche Vorhaben. Dies hatte zur Folge, dass man zunächst für <?page no="273"?> Valenzforschung am IDS 273 jeweils beide Sprachen eine theoretische Grundlage schaffen musste, wenn ein wissenschaftlich tragfähiges kontrastives Wörterbuch entwickelt werden sollte. Im Zeitraum 1991 bis Anfang 1994 wurde auf Initiative von Wolfgang Teubert ein deutsch-französisches Kooperationsprojekt aus dem Programm „PROCOPE“ durchgeführt, an dem auf französischer Seite die Universität der Provence (Daniel Bresson) und das Laboratoire d'Automatique Documentaire et Linguistique (LADL), Paris (Gaston Gross) beteiligt waren, auf deutscher Seite das IDS (Jacqueline Kubczak, Renate Schmidt, Helmut Schumacher). Ziel war die Entwicklung einer neuen Basis für zweisprachige syntagmatische Wörterbücher. Diese Konzeption wurde auf deutsche und entsprechende französische abstrakte Nomina angewandt. Dazu wurde das Analysemodell des LADL für die Nomina beider Sprachen übernommen, bei dem diese Nomina in einfache Sätze mit „verbe support“ eingebettet werden (Stützverbkonstruktionen). Die Analysedaten sollten in eine - nicht realisierte - Datenbank eingebracht werden, aus der für verschiedene Zwecke lexikografisch aufbereitetes Material zur Verfügung gestellt werden sollte (Bresson/ Kubczak 1998). Dazu musste ein für beide Sprachen geeignetes Beschreibungsmodell entwickelt werden. Die wichtigsten theoretischen Projektergebnisse sowie drei Musterartikel deutsch-französisch sind in Kubczak/ Costantino (1998) dargestellt. Die Arbeiten in Richtung eines umfassenden Wörterbuchs wurden nicht weitergeführt. Die Ergebnisse des PROCOPE-Projekts wurden in Ungarn aufgegriffen. Péter Bassola und eine Arbeitsgruppe in Szeged und Budapest (Sarolta László) entwickelten in Zusammenarbeit mit dem IDS (Jacqueline Kubczak) in Anlehnung an dieses Projekt eine Konzeption für ein deutsch-ungarisches kontrastives Wörterbuch zur Substantivvalenz. Bereits erschienen ist eine Ausgabe mit 50 zentralen abstrakten Substantiven, von denen einige (z.B. Folge, Grund) für das PROCOPE-Projekt im Deutschen vorlagen (Bassola (Hg.) 2003). Eine zweite Folge ist in Vorbereitung. Die Wörterbuchartikel sind sehr übersichtlich gegliedert. Im Artikelkopf wird das deutsche Substantiv lemmatisiert und ein Überblick über die Subartikel mit den jeweiligen ungarischen Entsprechungen gegeben. In einem „Strukturkasten“ werden die Argumente eingeführt und ihre Realisierungsformen aufgeführt. Für jedes Argument und seine Ausdrucksform gibt es ein deutsches Beispiel, das ins Ungarische übersetzt wird. Zur Übersichtlichkeit <?page no="274"?> Helmut Schumacher 274 trägt bei, dass verschiedene Ausdrucksformen bei der Realisierung eines Arguments durch Unterartikel abgegrenzt sind. Die Argumente der ungarischen Entsprechungen werden syntaktisch charakterisiert. Am Artikelfuß findet sich ein Beispielteil mit deutschen Korpusbelegen. Abgeschlossen werden die Subartikel durch einen Baustein zu den Phraseologismen, die bereits beim PROCOPE-Projekt sehr sorgfältig ausgearbeitet wurden. Am Schluss des Wörterbuchs gibt es Listen der deutschen Substantive mit den ungarischen Entsprechungen sowie umgekehrt der ungarischen Entsprechungen mit den deutschen Substantiven. Es ist unzweifelhaft, dass dieses Wörterbuch sowohl für fortgeschrittene ungarische DaF-Lerner als auch für Übersetzer beider Richtungen sehr gut geeignet ist. 4. Valenz-Bibliografie Im Zusammenhang mit den Valenzforschungen zur Grammatik und Lexik wurden schon in den 70er-Jahren bei der Valenzgruppe des IDS als „Nebenprodukt“ auch bibliografische Daten erhoben. Im Forschungsbericht Schumacher (Hg.) (1976) gibt es ein Literaturverzeichnis für alle Aufsätze des Bandes. In diesem sind aber auch alle weiteren Arbeiten zur Valenz und Dependenz erfasst, die damals, teilweise durch zwei ältere bereits überholte Bibliografien, bekannt waren (Schumacher/ Trautz 1976). Die Literatursammlung wurde in den Folgejahren weiter geführt und als umfangreicher Nachtrag in Form eines Arbeitspapiers vorgelegt (Schumacher/ Trautz 1979). Zusammen verzeichneten diese beiden Valenzbibliografien etwa 800 Titel. Erst etwa zehn Jahre später eröffnete sich die Möglichkeit, bibliografische Daten in eine FIDAS-Datenbank zu implementieren, die dem IDS von der damaligen „Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung“ (GMD) in Birlinghofen zur Verfügung gestellt wurde. Diese Datenbank wurde in der Abteilung „Wissenschaftliche Dienste“ von Gert Frackenpohl, Uwe Sommer u.a. zu einer bibliografischen Datenbank (BIDA) umgearbeitet, die verschieene Menues hatte, so dass fast alle damaligen größeren Literaturverzeichnisse am IDS erfasst und in verschiedenen Ausgabeformaten ausgedruckt werden konnten. Auch die Daten der Valenzbibliografie, die Helmut Schumacher auf den aktuellen Stand brachte, wurden nun maschinell erfasst und um ein Schlagwortregister erweitert. Die Zahl der ermittelten Titel hatte sich von 1979 bis <?page no="275"?> Valenzforschung am IDS 275 1986 fast verdoppelt. Die 1987 erschienene erste Auflage der selbständigen Publikation „Valenzbibliografie“ enthielt 1561 Arbeiten (Schumacher 1987). Diese Ausgabe wurde von den Fachkollegen, besonders in Deutschland, sehr positiv aufgenommen und durch zahlreiche Hinweise auf fehlende Titel verbessert. Da Helmut Schumacher unter Mitarbeit von Aloys M. Hagspihl die Recherchen fortsetzte, wurde bereits im folgenden Jahr eine zweite Auflage mit mehr als 800 Ergänzungen ermöglicht (Schumacher 2 1988). Mit dem Stand von Juni 1988 verzeichnete nun die Valenzbibliografie 2377 Titel. Diese Entwicklung war vor allem dadurch ausgelöst, dass die Valenzforschung nunmehr keine Domäne der germanistischen Linguistik blieb, sondern in wachsendem Maße bei Slavisten, Romanisten, und auch bei den Anglisten Anklang fand. Die Tendenz zu kontrastiven Untersuchungen verstärkte sich, wodurch ständig weitere Sprachen, für die es noch gar keine Valenzbeschreibung gab, einbezogen wurden. Es war zu beobachten, dass ausländische Germanistikstudenten für ihre Muttersprachen solche Darstellungen entwickelten, die sich zur Kontrastierung dieser Sprachen mit dem Deutschen eigneten (ebd., S. 7ff.). Aufwändige bibliografische Arbeiten sind nur sinnvoll, wenn sie auf einem aktuellen Stand gehalten werden. Das war jedoch am IDS für lange Zeit nicht möglich. Erst Ende 2004 konnte Schumacher die bibliografischen Arbeiten wieder aufnehmen. Durch das Internet sind heute die Recherchemöglichkeiten wesentlich erleichtert, so dass man mit einer dichteren Ermittlung der einschlägigen Arbeiten rechnen kann, als sie zuvor erreichbar war. Die Daten der früheren Publikation mussten erneut erfasst werden, da sie jetzt in eine Oracle-Datenbank implementiert werden, die für die „Bibliographie zur deutschen Grammatik“ (BDG) eingerichtet wurde und als wichtige Komponente von „grammis“ fungiert. Auch die entstehende „Bibliografie zur Dependenz und Valenz“ (BDV) wird im Internet zugänglich sein. Daneben ist für 2007 eine Buchpublikation geplant (Schumacher 2007). Diese kann nicht zuletzt als Ergänzung des Handbuchs „Dependenz und Valenz“ betrachtet werden, durch das die Valenzforschung in ihrer ganzen Breite dargestellt wird und neue Impulse erfährt. <?page no="276"?> Helmut Schumacher 276 5. 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Einführung Der folgende Beitrag beabsichtigt einen chronologischen Abriss der Wortschatzforschung am IDS. Vielen sind die Namen der lexikologischen, wortsemantischen und lexikografischen Projekte und Publikationen des bzw. am IDS durchaus geläufig; 1 weniger geläufig dürften nach jahrzehntelangem Abstand Begründungen und Kontexte der Aktivitäten sein. Sie sind auch und gerade im Hinblick auf die jeweilige Gegenwart das eigentlich Interessante. Motivationen und Kontextualisierungen aufzuzeigen ist daher die zweite Absicht dieses Beitrags; sie wird vor allem durch Interpretation historischer und überwiegend nachlesbarer Quellen verfolgt. 2 Die Verfasserin, die die letzten 20 von 40 Jahren Wortschatzforschung im IDS erlebt und mitgestaltet hat, versucht eigene Erinnerungen so weit wie möglich durch auch extern zugängliche Quellen zu belegen; Ziel ist, die Außensicht auf das IDS als einzigartige Forschungseinrichtung der Nachkriegsgermanistik zu konturieren. Die Geschichte der IDS-Wortschatzforschung lässt sich in drei Phasen gliedern: Die erste Phase umfasst die Anfangsjahre bis ca. 1975; die zweite Phase setzt mit der Neubearbeitung des Deutschen Fremdwörterbuchs ein und dauert bis ca. 1995. 3 Als sich in den Jahren um 1995 herum die Ideen einer lexikografischen Datenbank zu konkretisieren beginnen, setzt eine neue bis in die Gegenwart andauernde Phase ein. Vor allem, aber nicht nur in dieser letzten Phase bestand eine große, z.T. wechselseitige Abhängigkeit der Wortschatzforschung von Aufbau und computerlinguistischer Auswertung elektronischer Textkorpora. Die Anfänge der IDS-Korpusarbeit sind vermutlich kaum noch gegenwärtig und werden hier deshalb kurz resümiert. 1 Es muss hier selektiv verfahren werden, da nachfolgend nicht alle Arbeiten genannt werden können; vollständige Überblicke bieten die Jahresberichte und die Webseiten des IDS . 2 Außer sämtlichen Jahresberichten wurden auch interne Arbeitspapiere, Protokolle und Briefe ausgewertet. Im Literaturverzeichnis werden aber nur diejenigen Quellen genannt, die zitiert und öffentlich zugänglich sind. 3 Vgl. den Beitrag von Kirkness (in diesem Band). <?page no="284"?> Ulrike Haß 284 1. Die erste Phase von 1964 bis 1975 Die Gründer des IDS hatten die Bündelung vorhandener Forschungsansätze im Blick, nicht aber die Schaffung einer Einrichtung, die einem bestimmten (neueren) Paradigma dienen sollte; ebenso sollte keinem Gegenstand der Linguistik ein prinzipieller Vorrang eingeräumt werden: Die Notwendigkeit, einen Mittelpunkt, einen losen Zusammenschluß von Gelehrten und eine Arbeitsstelle für die Beobachtung und Erforschung besonders der Gegenwartssprache zu schaffen, war immer drängender geworden [...]. Die Aufgabe des Mannheimer Instituts besteht einmal darin, die Arbeiten der vorhandenen Ansatzstellen in gemeinsamem Wirken aufeinander abzustimmen, um Doppelarbeit zu vermeiden. Zum anderen gilt es, die Beobachtung und Erforschung der deutschen Sprache in ausgreifenderer Weise durchzuführen, als dies bislang möglich war. Dabei wird auf schon Begonnenes Rücksicht genommen, selbstverständlich auch auf die Arbeiten des Ostberliner Instituts [...]. (Moser 1967, S. 9f.; vgl. auch S. 14). Synergien, Bündelung und Konsens von Kuratorium und Wissenschaftlichem Rat 4 auch im Festlegen der Arbeitsvorhaben war Programm. Dass die Mitglieder der beteiligten Gremien aus Universitäten, Ministerialverwaltung bzw. Kultusbürokratie und Politik kamen und man bestrebt war, alle einflussreichen Sprachgermanisten in einem der Gremien einzubinden, hatte zur Folge, dass alle seinerzeit aktuellen theoretischen und methodischen Ansätze sowie alle thematischen Forschungsinteressen zu berücksichtigen bzw. in der Praxis - etwa in der Planung - nicht auszuschließen waren. 4 Die Organisationsstruktur des IDS , die im Laufe der Jahre etlichen Veränderungen unterworfen war, soll hier nicht wiedergegeben werden, aber unter Kuratorium (heute ersetzt durch den Stiftungsrat einerseits und den Wissenschaftlichen Beirat andererseits) hat man sich ein 10 bis 15 Mitglieder umfassendes Aufsichtsgremium vorzustellen, unter dem Wissenschaftlichen Rat eine deutlich größere Anzahl von Hochschullehrern im In- und Ausland, etwa den korrespondierenden Mitgliedern einer Akademie entsprechend. Eine Mitwirkung der Mitarbeiterschaft bei der Bestimmung der Forschungsgegenstände war offenbar nicht vorgesehen. Vgl. dazu die explizite Stellungnahme von Heinz Rupp anlässlich seiner Amtsübernahme als neuer IDS -Präsident am 8.9.1981. Nach Einordnung der Kompetenzen und Kompetenzgrenzen der „Professorenkuratoren“ wendet sich Rupp an die IDS -Mitarbeiter: „ ... weil Sie nicht die Freiheit des Forschens haben wie wir an der Universität; Sie können nicht immer auf dem Gebiet forschen, das Ihnen Spaß macht; Kuratorium und Institutsleitung setzen die Forschungsziele, benennen die Forschungsvorhaben.“ (Mitteilungen 8/ 1982, S. 7-12; hier: S. 10) <?page no="285"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 285 Der erste Arbeitsplan aus dem Jahr 1965 begründete jedoch das Primat grammatischer Forschung wie folgt: Im Vordergrund der Beschäftigung mit der deutschen Gegenwartssprache steht zunächst die Dokumentation ihrer grammatischen Merkmale. Von lexikographischen Arbeiten will das Institut vorerst absehen, weil hier schon Wesentliches geschehen ist (Grimm, Trübner, u.a.) und weil das Institut für deutsche Sprache und Literatur in Ostberlin bereits ein Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache erarbeitet. (Arbeitsplan des Instituts für deutsche Sprache (o.Dat. [1965]), S. 1 ( IDS -Archiv), Hervorh. i. Orig.). Der erste Katalog von „Aufgaben des Instituts“, der im IDS-Jahrbuch 1965/ 1966 veröffentlicht wurde, sah folgende „Sondergebiete“ vor. Ihre Reihenfolge gibt durchaus die beabsichtigte Gewichtung wieder: 01) Dokumentation der deutschen Gegenwartssprache 02) Datenverarbeitende Maschinen und Sprachforschung 03) Strukturalistische Grammatik 04) Gesprochene Sprache 05) Rechtschreibfragen 06) Fragen der Hochlautung 07) Sprache im geteilten Deutschland 08) Sprache des Nationalsozialismus 09) Wissenschaftliche Grundlagen der Sprachpflege 10) Älteres Neuhochdeutsch (Moser 1967, S. 12) Irgendeine Form von Wortschatzforschung und Wortsemantik ist hier nirgends explizit und als Gegenstand eigenen Rechts vertreten, aber sie ist bei den Gebieten 1, 2, 7, 8, 9 und 10 zwangsläufig implizit und nur bei 3, der „strukturalistischen Grammatik“, ausgeschlossen - zumindest solange, bis über die Valenz Fragen der Verbsemantik relevant werden (s.u.). Für die Zukunft wurden weitere „Abteilungen“ in Aussicht gestellt: „zur Erforschung des Einflusses der Alltagssprache, der Fach- und Sondersprachen und namentlich der Fremdsprachen auf das heutige Deutsch“, zu den „regionalen Unterschiede[n] der deutschen Hochsprache, besonders in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz“ sowie an letzter Stelle „lexikographische Arbeiten“ (Moser 1967, S. 13). Die vorrangigen Sondergebiete wurden auf damals vier räumlich getrennte Arbeitsstellen (eine zentrale und drei <?page no="286"?> Ulrike Haß 286 Außenstellen) verteilt. Die „Entwicklung der Sprache im geteilten Deutschland“ war beim Präsidenten des IDS, Hugo Moser, in Bonn angesiedelt. In seiner Sitzung im März 1967 diskutierte das Kuratorium unter dem Tagesordnungspunkt „Finanzierung“ mögliche lexikografische Aktivitäten. Es wurden drei Mitarbeiterstellen für ein auf 20 Bände veranschlagtes, ausschließlich synchrones idiomatisches Wörterbuch beantragt. Davon ist später begreiflicherweise nicht wieder die Rede. Im selben Zusammenhang ergänzt Präsident Moser ein IDS-internes Argument, das seit der ersten Arbeitsplanung wiederholt vorgebracht worden war, „daß auch ein Wörterbuch der Gegenwartssprache zunächst in der Diskussion gewesen sei; davon habe man mit Rücksicht auf das Klappenbachsche Unternehmen abgesehen“. 5 1.1 „Grundstrukturen“ oder „Grunddeutsch“ - Semantik als Ergänzung der Syntax 1966 unterbreitete das Goethe-Institut dem IDS erfolgreich den Vorschlag eines „Forschungsunternehmens ‘Grundstrukturen der deutschen Sprache’“, das dann oft und missverständlich auf den Projektnamen „Grunddeutsch“ gekürzt wurde. Hintergrund war die veraltet erscheinende Grammatikkonzeption der Lehrwerke für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache (Engel 1971) - dem IDS wurde hier also eine sprachdidaktische Grundlagenarbeit zugeordnet, die die Sprachvermittlungsorganisation selbst (das Goethe-Institut) nicht zu leisten vermochte. Finanziert wurden die „Grundstrukturen“ in der ersten Phase zwischen Januar 1967 und Januar 1971 durch die Stiftung Volkswagenwerk. Fremdfinanzierung ist insofern ein wissenschaftshistorisch wichtiger Faktor, als für Antragstexte und Berichte Projektbegründungen und -zwecke gefunden werden müssen, die gänzlich außerhalb der durchführenden Forschungseinrichtung sowie außerhalb der disziplinären Matrix liegen können und in mehr oder weniger wissenschaftsfernen Diskurszusammenhängen plausibel erscheinen müssen. Die heute gelegentlich Antragslyrik genannten Texte wirken aber auf die tatsächliche Projektkonzeption zurück. Das Missverständnis, im „Grundstrukturen“-Projekt würde das zeitgemäße „Grunddeutsch“ auch im Sinne eines Grundwortschatzes erforscht, kam aus 5 Protokoll der Sitzungen des Kuratoriums am 15. und 18. März 1967, S. 2 ( IDS -Archiv ). Briefe zwischen Moser und Grebe belegen, dass das strategische Verhältnis zum „Ostberliner Wörterbuch“ bis in die 70er-Jahre hinein wichtig war und die relative Abstinenz des IDS in Sachen Lexikografie mit begründete. <?page no="287"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 287 Sicht des IDS daher, dass die Bezeichnungskürzung eine Analogie oder gar Identität mit einem anderen, dem „Grunddeutsch“-Projekt Alan Pfeffers nahelegte, das nicht auf Strukturen, sondern auf Basisdaten in Form eines Korpus gesprochener Sprache gerichtet war und seinerseits auf ein französisches Vorbild, das „Français Fondamental“ von 1959 (vgl. Pfeffer 1975, S. 8) zurückging. Der originale Wortlaut der 1964 erschienenen Publikation von Pfeffer lautete „Basic (Spoken) German Word List“ und zeigt damit eine lexikalische Ausrichtung. Zeitgleich begannen die Arbeiten der Gruppe um Hugo Steger am (später so genannten) „Freiburger Korpus“, das konzeptionell höheren Anforderungen als das Pfeffer-Korpus entsprechen sollte. Auch Hugo Moser selbst hatte in der programmatischen Vorstellung des IDS im Jahrbuch 1965/ 1966 das Projekt unter dem Namen „Grunddeutsch“ eingeführt und erläuterte: Die Untersuchungen erstrecken sich auf geschriebenes und auf gesprochenes Deutsch. Sie gelten dem Wortschatz und der Wortbildung, der Gebrauch der Tempora und Modi, den Satzbauplänen und der Wortstellung wie auch der Intonation. (Moser 1967, S. 13). Als Präsident betonte Moser im Unterschied zu Engel, der selbst in die grammatische Forschung involviert und ab 1970 zugleich neben Grebe IDS- Direktor war, den integralen Charakter dieses ersten größeren IDS-Projekts. Während Pfeffers „Grunddeutsch“ im Ergebnis eine Wortliste darstellte, wird das „Grundstrukturen“-Projekt von Engel explizit als syntaktisches, nicht als wortschatzbezogenes Projekt definiert. Die Begründung dafür liefert ein wissenschaftsgeschichtliches Urteil, das den linguistischen Fortschritt auf Seiten der Syntax sieht: Ich glaube indessen, daß man in umgekehrter Richtung vorgehen sollte. Wer über die Lexis zur Syntax vorzudringen strebt, zäumt das Pferd am Schwanz auf, weil das Problem der kleinsten bedeutungstragenden Einheiten nur mit Hilfe syntagmatisch-paradigmatischer Kategorien zureichend gelöst werden kann. Damit hängt es zusammen, daß die unübersehbare Stagnation in der Lexikographie offensichtlich erst überwunden werden kann, wenn erhebliche Fortschritte in der Syntax erzielt worden sind. (Engel 1971, S. 297). Bei der näheren linguistisch-systematischen Bestimmung der im Projekt zu erforschenden Grundstrukturen behandelt Engel auch eingehender strukturrelevante Regeln im Wortschatz, kommt aber zu dem Schluss, dass <?page no="288"?> Ulrike Haß 288 Wortschatzdarstellung in traditioneller Art nicht Bestandteil der Grundstrukturen sein kann und daß neue Kategorien und Methoden für eine deskriptiv adäquate Darstellung des Wortschatzes noch nicht bereitstehen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß Teile des Wortbestandes einer Sprache schon heute bearbeitet werden können. Im Rahmen unseres Forschungsunternehmens werden vor allem (im Zusammenhang mit den Satzbauplänen) die deutschen Verben möglichst eingehend beschrieben. (Engel 1971, S. 301, Hervorh. i. Orig.) Dass Engel bei seinen Adressaten - dem Aufsatz lag ein Bericht für den Wissenschaftlichen Rat des IDS zugrunde - Erwartungen annimmt, das IDS solle sich grundsätzlich auch um Wortschatzfragen und Semantik kümmern, belegen längere Abschnitte, in denen die Position der „Grundstrukturen“ gegenüber „Formalisierung“, „generativer Grammatik“, „struktureller“ Linguistik und dem „inhaltbezogenen“ Paradigma dargelegt wird (Engel 1971, S. 306f.). In diesem Zusammenhang wird wieder auf die aktuelle „Krise“ der Semantik (ebd., S. 307) verwiesen, auf deren Überwindung man gewissermaßen noch warten müsse. Zur Beruhigung der Adressaten - die annehmen könnten, das IDS wolle Sprachforschung ohne Semantik treiben - wird in einer Anmerkung von einem 1968 begonnenen „syntagmatischen Arbeitsvorhaben“ gesprochen, in dessen Zentrum „semantische Probleme“ stehen sollen (ebd., Anm. 26). In der Tat beschloss das Kuratorium 1968 ein solches Arbeitsvorhaben, das offenbar von Grebe initiiert worden war: Grebe erläutert seinen Plan eines „syntagmatischen Wörterbuchs“. Auf einer Expertensitzung am 8.2.1968 ist beschlossen worden, zunächst die gesamte bisherige Semantikforschung durchzuarbeiten und eine Kommission für syntagmatische Arbeitsvorhaben zu schaffen. Das Duden-Material wird für das Unternehmen zur Verfügung gestellt. Zunächst wird man sich bei den Arbeiten auf den verbalen Bereich beschränken; es sollen Kategorien, nicht Lexeme, bearbeitet werden. Das Kuratorium stimmt dem Vorhaben zu. (Protokoll der Sitzung des Kuratoriums am 28.2.1968, S. 3 ( IDS -Archiv)). Das Vorhaben kam ‘wegen Mangels an Mitarbeitern’ über Vorarbeiten nicht hinaus Grebe und Bernhard Engelen publizierten im IDS-Kontext auch entsprechende Arbeiten zur Verbsemantik, zu Satzbauplänen und komplexen Sätzen (z.B. Grebe 1967, Engelen 1971; auch einige der unten unter 1.4 genannten Arbeiten resultieren nach den Kuratoriumsprotokollen wohl aus diesem Zusammenhang). All diese Pläne und Vorarbeiten bezeugen für das IDS so etwas wie ‘die Geburt der Verbsemantik aus der Valenzforschung’ (vgl. bes. Grebe 1967, S. 110f.). Ebenso kann bei den in der Arbeitsstelle Inns- <?page no="289"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 289 bruck des IDS angesiedelten Arbeiten zu Wortbildung beobachtet werden, dass sie von einem Interesse am Verb (Verbalpräfixen und -suffixen) ausgingen. 6 Noch 1975 erscheint ein „Grunddeutsch“ betiteltes Werk von Pfeffer in einer Publikationsreihe (Forschungsberichte) des IDS. In dessen Vorbemerkung greift Engel als Reihenherausgeber auf einen Argumentationstopos zurück, demzufolge die IDS-Arbeiten komplementär zur sonstigen Linguistik stehen und die Wortforschung daher nicht notwendig mit berücksichtigen müssen: Immerhin wurde seinerzeit eine Abstimmung zwischen „Grunddeutsch“ und „Grundstrukturen“ insofern erreicht, als sich das erste Unternehmen vordringlich mit Fragen der Lexik beschäftigte, während die „Grundstrukturen“ des IdS ausschließlich auf syntaktische Probleme beschränkt waren. (Engel 1975, S. 1). Initial wurden die „Grundstrukturen“ auch für Überlegungen und Anfänge zu einem Korpus des Gegenwartsdeutschen. Hier galt es Fragen der „repräsentativen“ Zusammensetzung ebenso zu klären wie die technische Realisierung mittels Lochkarten (Engel 1968, S. 3ff.). Die Mannheimer Zentrale des IDS konnte hierbei auf das Deutsche Rechenzentrum in Darmstadt zurückgreifen. 1.2 Die Bonner Außenstelle des IDS und das Thema des Ost-West- Wortschatzes Die erste programmatische Liste der Forschungsgebiete (s.o.) enthält zwei Varietäten (geteiltes Deutschland, Nationalsozialismus), die Sprache genannt werden und für die einem vor allem außerhalb der Sprachwissenschaft gängigen Usus folgend der Ausdruck Sprache mit einem deutlichen Akzent auf Wortschatz bezogen verwendet wird, mit dem aber nicht eine gleichmäßige Berücksichtigung aller systematischen Ebenen der Sprache impliziert ist. Die in der Bonner Außenstelle des IDS bei Moser angesiedelte und wesentlich von dessen Doktoranden und Mitarbeiter Manfred Hellmann lebenslang betriebene Dokumentation der Sprachentwicklung „im geteilten Deutschland“ bzw. „in beiden Teilen Deutschlands“ (Wortlaut in diversen Jahresberichten) war ein Aufgabenfeld, das den Anschluss an und die Diskussion mit Politik 6 Vgl. Jahresbericht 1967/ 1968 (1969), S. 248 und den Beitrag von Ortner/ Ortner/ Wellmann (in diesem Band). <?page no="290"?> Ulrike Haß 290 und Gesellschaft gezielt suchte und großenteils auch fand. 7 Es war aber auch das einzige IDS-Unternehmen, das keinen Zusammenhang mit dem „Grundstrukturen“-Projekt besaß und insofern kaum mit den daraus hervorgehenden theoretisch-methodischen Diskussionen in Berührung kam. Der Gegenstandsbereich wurde 1971 programmatisch ausgeweitet: Nicht mehr nur das „Ost-West-Problem“, sondern „Fragen der Lexikographie und des öffentlichen Sprachgebrauchs“, insbesondere im Bereich des Wortschatzes werden genannt (Jahresbericht 1971 (1972), S. 299). Ab 1973 wird in den Berichten konkret vom Plan eines „Wörterverzeichnisses zur west- und ostdeutschen Zeitungssprache“ gesprochen (Jahresbericht 1973 (1975), S. 244), auch wenn in den zahlreichen Veröffentlichungen v.a. Manfred W. Hellmanns immer wieder die Dokumentationen zu Sprachstand, zu wissenschaftlicher wie öffentlicher Diskussion über das sprachliche Verhältnis DDR-BRD als zentrale Aufgabe herausgestellt werden. Der methodische Schwerpunkt des Ost-West-Wortschatz-Projektes lag von Anfang bis zum Schluss in den 1990er-Jahren auf korpuslinguistischen Fragen, d.h. zunächst bei der Texterfassung (heute noch unter der Sigle BZK, „Bonner Zeitungskorpus“ nutzbar), Kodierung und Auswertung in Form von Wortlisten. Die räumliche Nähe zum Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung sowie zum Institut für instrumentelle Mathematik der Universität Bonn sorgte für Erledigung von „Rechenarbeiten“ und Entwicklung von „Programmen“ und - besonders wichtig für eine lexemorientierte Dokumentation - für den ersten „Grundformenindex“, einen Index, der flektierte und Grundformen einander zuordnet (vgl. Jahresbericht 1967/ 1968 (1969), S. 250). Inwieweit und ab wann sich die lexikalisch orientierten Korpusarbeiten in Bonn und die syntaktisch orientierten Korpusarbeiten in Mannheim - beide begannen 1965 - kooperativ bzw. synergetisch zueinander verhielten, ist den benutzten Quellen nicht zu entnehmen. 1.3 Die Rolle elektronischer Korpora und der linguistischen Datenverarbeitung Seit der Gründung des IDS richteten sich große Hoffnungen auf „datenverarbeitende Maschinen“; sie versprachen nicht nur neue Zugänge zum Sprachgebrauch, sondern verliehen dem IDS auch das Merkmal der ‘moder- 7 Zeitungsausschnitte der ersten Jahre zeigen, dass Hellmann selbst journalistisch aktiv sein Themengebiet in der Öffentlichkeit publik machte ( IDS -Archiv). <?page no="291"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 291 nen Wissenschaft’. Das „Grundstrukturen“-Projekt griff bereits auf maschinelle Sprachdaten zurück, genauer auf das „Mannheimer Corpus“. Auf dessen Basis wurden zunächst „Wortregister“ und „Satzzerlegungen“ erstellt. „Wir haben vermutlich schon heute mehr auf Magnetband gespeicherte Texte deutscher Gegenwartsliteratur als jede andere Stelle in der Welt“, stellte Engel 1968 fest. 8 Generell wurde in der Frühphase betont, dass Korpora und Korpusauswertung „zur Berichtigung bisheriger intuitiver Urteile führen“ (Engel 1971, S. 318). In sämtlichen Quellen nimmt die „maschinelle Sprachbearbeitung“ in der Phase um 1970 eine zunehmend gewichtige Rolle ein. Die Beiträge in Forschungsberichte (2/ 1968) befassen sich ausschließlich damit. Die damalige Forschungspraxis und -organisation war personell wie finanziell zunächst nicht auf den Einsatz von Computern eingerichtet. Um die Ressourcensituation zu verbessern, mussten Ziele hochgesteckt und erreichbar dargestellt werden. In den post festum geschriebenen Berichten herrschte dann vielfach Ernüchterung und Enttäuschung. Tatsächlich wurde der Versuch gemacht, Korpusauswertungen auf solider statistischer Grundlage vorzunehmen und entsprechende internationale Literatur zu rezipieren. Anfang 1971 wurde mit Mitteln des Bundesforschungsministeriums ein „Projekt Linguistische Datenverarbeitung“ begründet, in dem anfangs 24, 1973 30, 1974 33 und 1975 „rund 50“ Wissenschaftler (befristet) angestellt waren. Sie verteilten sich auf Mannheim, Bonn und Marburg. Das in den ersten Jahresberichten formulierte Forschungsprogramm dieser großen Projektgruppe umfasste drei Schwerpunkte („linguistische Forschung, Untersuchungen zur sprachlichen Interaktion, 9 Entwicklung von informationserschließenden Problemlösungssystemen“, Jahresbericht 1971 (1972), S. 305), die der Tendenz nach eine Loslösung von grammatikografischer und lexikografischer Anwendung verraten. Nur zwei der Mitarbeiter waren für die „Dokumentation und den Austausch von Informationen über maschinenlesbar gespeicherte Texte in deutscher Sprache und die erforderlichen Bearbeitungsprogramme“ zuständig (ebd., S. 307). 1974 findet sich die „Arbeitsgruppe Corpus“ dann in der „Abteilung Grammatik und Lexik“ wieder (Jahresbericht 1974 (1975), S. 359), während die LDV sich ganz einem automatischen „experimentellen Informationssystem“ zuwendet (ebd., S. 363). 8 Protokoll der Sitzung des Kuratoriums am 28.2.1968, S. 4 ( IDS -Archiv). 9 Gemeint ist hier wahrscheinlich die „Man-Machine-Communication“, für die eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet war. <?page no="292"?> Ulrike Haß 292 Auf der anderen Seite wiesen die Jahresberichte ab 1972 unter insgesamt elf Arbeitsgebieten der LDV zwei semantische aus, die „automatische[...] kasusrelationale[...] semantische[...] Interpretation deutscher Sätze“ genannt wurden, was wiederum syntax-, nicht lexikbezogen war (Jahresbericht 1972 (1974), S. 327), und ein Gebiet „Semantische Kategorien“, in dem nichts weniger als eine eigene „Begriffstheorie“ neben denen von Frege und Husserl entwickelt werden sollte (ebd., S. 330); aber auch diese stand im Rahmen einer „verallgemeinerten Phrasenstrukturgrammatik“ (Jahresbericht 1973 (1975), S. 255). Der LDV-bezogene Berichtsteil dieser Jahre fällt durch einen aus heutiger Sicht grotesk überzogenen Theorieanspruch auf, 10 der ihn auch nach außen sichtbar von den übrigen IDS-Projekten mit sprachdidaktischen bzw. gesellschaftspolitischen Orientierungen abgrenzte und sicher auch abgrenzen sollte. Gleichzeitig - das zeigen Jahresberichte und nicht veröffentlichte Briefe und Arbeitspapiere insgesamt deutlich - nahmen Anforderungen aus der Universitätsgermanistik im In- und Ausland, aus der Didaktik und aus sprachkulturellen Gruppierungen zu, die im IDS die ideale Einrichtung für zentrale Information, Beratung und Archivierung sahen. Entsprechend wurde die Öffentlichkeitsarbeit allmählich institutionalisiert. Der Aufgabenbereich „Öffentlichkeitsarbeit“ wurde seit 1973 von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter mitbetreut; das Periodikum „Mitteilungen des IDS für seine Freunde und Förderer“ existierte seit 1972; selbst die LDV besaß seit 1972 eine „Clearing- und Servicestelle“ für interne wie externe Aufträge und Anfragen. Damit schien eine Kluft etabliert, die überwiegend verwertungsnahe linguistische Forschung von einer LDV trennte, die sich mittels sprachlich inszeniertem theoretischem Modernismus auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz betätigen wollte (vgl. Jahresbericht 1974 (1975), S. 363). 11 10 Vgl.: „1971 ist man dazu übergegangen, mit kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen zum Aspekt der Sprache zu beginnen und eine Theorie der LDV zu entwerfen. Nach Entwicklung dieser Theorie, die im Berichtsjahr erst in Ansätzen konzipiert werden konnte, soll der ursprüngliche Arbeitsbereich [...] als Anwendungsfall eines LDV -Systems wieder aufgenommen werden.“ (Jahresbericht 1972 (1974), S. 331). 11 Seiner Funktion gemäß ignorierte Präsident Moser die Kluft jedoch; in seiner Rede zum zehnjährigen Bestehen des IDS wird der ‘Modernitätsmarker’ Computer dem ganzen Institut angeheftet: „Dabei stehen dem Institut modernste Hilfsmittel zur Verfügung. Ein eigenes Rechenzentrum wird dabei in den Dienst der linguistischen Forschung gestellt, <?page no="293"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 293 Nach dem Auslaufen der bundesministeriellen Finanzierung des LDV-Projekts wandte sich die Arbeitsstelle ab ca. 1980 wieder mehr den Bedürfnissen vor allem der nun ausgebauten Lexikografie zu. Laut Jahresbericht 1982 (1983, S. 293) wird nicht nur „der Aufbau einer lexikographischen Datenbank vorbereitet“ (vgl. Mitteilungen 8/ 1982, S. 5) - LEDA heißt sie seit dem Jahresbericht 1984 (1985, S. 245) -, sondern vor allem eine eigene Software „REFER“ entwickelt, mit der elektronische Texte belegorientiert ausgewertet werden können (ebd.). REFER als Vorgänger des heutigen Programms COS- MAS eröffnete der Wortschatzforschung kategoriell neue Möglichkeiten in der Nutzung elektronischen Textmaterials. 1.4 Wortfeldforschungen und lexikologische Einzelarbeiten Mitglieder der IDS-Gremien, nicht aber eigene Forschungsgruppen des IDS haben in der Anfangsphase in IDS-Publikationsorganen immer wieder ältere Arbeiten zu semantisch verstandenen Wortfeldern (Porzig, Trier u.a.) aufgegriffen und versucht, sie dem moderneren Paradigma des Strukturalismus gemäß zu modifizieren bzw. die Methoden der historischen Wortforschung auf den Gegenwartswortschatz zu übertragen (z.B. Baumgärtner 1967, Öhmann 1967, Oksaar 1967, Seiler 1968 bis hin zu Harlass/ Vater 1974). Die Lektüre dieser Arbeiten erweckt den Eindruck, dass das Gebiet der Wortsemantik in den Sechzigerjahren weitaus heftigeren Paradigmenstreits ausgesetzt war als die Syntax. Strukturalismus und Sprachinhaltsforschung konkurrierten um die Basis für Modelle der Deskription und Dokumentation des Gegenwartswortschatzes, die eine Abteilung Lexik damals benötigt hätte. Virulent blieb die Beschäftigung mit Wortschatz und Wortsemantik vor allem in Aufgabenbereichen, die von außerhalb der Hochschule an das IDS herangetragen wurden, insbesondere in Sprachpflege und Sprachkritik (vgl. Jahrbuch 1966/ 1967 (1968) zu „Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik“), wo Fremdwörter traditionell eine große Rolle spielen. Aber auch die Frage der Bewertung von ‘Modewörtern’ einerseits und nationalsozialistischem Wortschatz und Wortgebrauch andererseits forderte zu - zunächst noch punktuellen - theoretischen wie methodischen Modernisierungsversuchen der älteren ‘Wortkunde’ heraus. und zwar nicht nur im Sinne etwa von Sortiervorgängen, von Frequenzfeststellungen, sondern auch im Sinn wissenschaftlicher Analyse.“ (Mitteilungen 3/ 1974, S. 4). <?page no="294"?> Ulrike Haß 294 Nachdem 1971 verschiedene Arbeitsgruppen außerhalb des Grundstrukturen- Projekts zu einer Abteilung „Grammatik und Lexik“ zusammengefasst worden waren, wurde auch eine Arbeitsgruppe „Semantik“ gegründet, der explizit die Weiterentwicklung der Konzeption des lexikalischen Feldes, aber auch Satzsemantisches aufgetragen wurde (Jahresbericht 1971 (1972), S. 301). Die Abteilung „GuL“ fungierte als Sammelbecken und umfasste daher gerade solche wortsemantischen Arbeiten, die als Desiderat aus der Syntax-, Wortbildungs- und insbesondere Valenzforschung hervorgegangen waren. In ihnen findet sich punktuell, in Sammelbänden von 1972 (Linguistische Studien II mit Beiträgen von Ballweg, Ballweg-Schramm u.a.) und 1977 (Semantische Studien: Ballweg/ Lötscher (Hg.)), auch ein Echo der generativen, kombiniert mit der strukturellen Semantik. 2. Die zweite Phase von 1974 bis ca. 1995 2.1 Das Deutsche Fremdwörterbuch in der Neubearbeitung Anfang 1974 wird in der Abteilung „Grammatik und Lexik“ eine „Projektgruppe ‘Fremdwörterbuch’“ eingerichtet, um das von Hans Schulz und Otto Basler (er war Mitglied des Wissenschaftlichen Rats des IDS) bis zum Buchstaben Q gebrachte „Deutsche Fremdwörterbuch“ fertigzustellen (Jahresbericht 1974 (1975), S. 354f.). 12 Insofern die Forschungsstelle für öffentlichen Sprachgebrauch in Bonn über Pläne zu einem Ost-West-Wörterverzeichnis noch nicht hinaus gediehen war, stellt das Fremdwörterbuch das erste lexikografische Projekt des IDS dar. Allerdings erlaubte dieses Fortsetzungsunternehmen keine eigene und somit neueren linguistischen Modellen folgende Konzeption; stattdessen musste die ursprüngliche Konzeption aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert bzw. vervollständigt werden (Jahresbericht 1975 (1976), S. 379). Es war wie für die meisten damaligen IDS-Projekte selbstverständlich, dieses Wörterbuchunternehmen wie auch das in Bonn geplante Ost-West-Wörterbuch (zunächst) nicht aus dem Institutshaushalt, sondern mit DFG-Mitteln zu betreiben (Jahresbericht 1975 (1976), S. 379), womit der folgenschwere Druck zu einer Projektterminierung auf (zu) wenige Jahre relativ zur gerin- 12 Nachlässe, insbesondere Wortsammlungen von Wissenschaftlern und Sprachliebhabern sind dem IDS immer wieder angeboten worden, durchaus mit dem Wunsch, das jeweilige Werk fortzuführen, oder auch gegen Entgelt. Vgl. zum Basler-Nachlass den Beitrag von Kirkness (in diesem Band). <?page no="295"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 295 gen Zahl der Mitarbeiter (vier bis fünf) verbunden war. Die Bearbeitung der zweiten Alphabetstrecke war 1983 abgeschlossen. 1990 wurde mit der Neubearbeitung der lexematisch wie methodisch veralteten ersten Alphabetstrecke begonnen. 2.2 Lexikografie fokussiert Kommunikation in der Gesellschaft Sehr bald schon avancierte die als Projekt eben erst ‘entdeckte’, in der sprachwissenschaftlichen und sprachkulturellen Diskussion jener Zeit aber ebenfalls aktuelle Lexikografie zum Thema einer Jahrestagung (1975: Probleme der Lexikologie und Lexikographie) 13 . Der Tagungsband (Jahrbuch 1975 (1976)) bezeugt eindrücklich, wie geeignet dieses Thema für die Bündelung unterschiedlichster Perspektiven im Spektrum zwischen Theorie, maschineller Sprachverarbeitung und praktischem Nutzen war. Auch ältere IDS-Projekte (generative Semantik, Fremdwörterbuch, Ost-West-Wortschatz, Valenzwörterbuch und die Innsbrucker Wortbildung) finden sich hier unter der Überschrift Lexikografie wieder. Der auf dieser Tagung bis heute viel beachtete Vortrag von Harald Weinrich „Die Wahrheit der Wörterbücher“ 14 schließt mit einem Abschnitt, in dem „für ein interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache“ im Sinne eines „Grimm des 20. Jahrhunderts“ plädiert wird. Als organisatorischen Rahmen nennt Weinrich neben einem Verbund der deutschen Akademien und der erhofften Deutschen Nationalstiftung das Mannheimer Institut für Deutsche Sprache. 2.3 Vom interdisziplinären Wörterbuch über die „schweren“ bis zu den „Brisanten Wörtern“ Der Vorschlag von Weinrich bezog sich bekanntermaßen auf ein Wörterbuch, das die Gemeinsprache als „gemeinsamen Grund für eine Vielzahl von Fachsprachen“ (Weinrich 1985, S. 273) behandelt und so eine drohende Abspaltung der Fachvon der Gemeinsprache und Zersplitterung der Fachsprachen untereinander abwenden könne. Weinrich verband in seiner lexikografischen Idee den Bezug zu Sprache und Kultur der durch Technik geprägten und „Kommunikationsstörungen“ ausgesetzten Gegenwartsgesellschaft (vgl. Mitteilungen 4/ 1977, S. 44f.) mit notwendigerweise auch lingu- 13 Vertreten sind die Duden-Mitarbeiter Müller, Weinrich, Wiegand, Henne, Hartmann mit eigenen Vorträgen. 14 Ich zitiere nach dem Wiederabdruck Weinrich (1985). <?page no="296"?> Ulrike Haß 296 istisch-methodischen Neuerungen - ein Anspruch, der in den Folgejahren nicht nur, aber eben auch innerhalb des IDS zu einer notwendigen Revision des gesamten überlieferten lexikografischen Methodeninventars führte. Im Jahresbericht 1976 (1977) taucht das Vorhaben mit vorbereitenden Kolloquien, Vorstudien und kritischen Analysen der vorhandenen Wörterbücher erstmals auf (S. 399f.). Ein in der IDS-Reihe „Sprache der Gegenwart“ publizierter Band (Henne/ Mentrup/ Möhn/ Weinrich (Hg.) 1978) und die Jahrestagung 1982 (vgl. Jahresbericht 1982 (1983)) dokumentieren Problematisierungen wie Lösungsvorschläge und stellten in der fachgermanistischen Diskussion einer praktischen, aber theoretisch soliden Lexikologie wichtige Beiträge dar. War zunächst von 20 Bänden mit 200.000 bis 500.000 Stichwörtern des interdisziplinären Wörterbuchs die Rede gewesen, so zeigt sich rasch, dass dadurch der eigentliche Zweck des Werks (Aktualität aufgrund kurzer Bearbeitungsdauer, finanzielle Erschwinglichkeit) zunichte gemacht würde, 15 von Fragen der Finanzierbarkeit ganz abgesehen. Die Schlussfolgerung hieß „besondere Qualität der lexikographischen Reflexion“ in exemplarischer Beschränkung statt „hohe Quantität“ (Mitteilungen 4/ 1977, S. 47). Auf der Jahrestagung 1982 wurde bekannt gegeben, dass der Plan des großen interdisziplinären Wörterbuchs aus finanziellen Gründen fallen gelassen worden war und dem Vorhaben eines Handbuchs der „schweren Wörter“ (schwer im Sinne von ‘schwer verständlich’ in Analogie zu engl. hard words) Platz machte, das hinsichtlich der Differenz von Fach- und Gemeinsprache Ähnliches leisten, ähnliche Relevanz für die Öffentlichkeit haben und die Lexikografie theoretisch modernisieren sollte. (Henne/ Mentrup 1983, S. 7f.). Hierbei wurde die „pragmatische Wende“ in der Linguistik für die Lexikografie fruchtbar gemacht. Das „Handbuch der schweren Wörter“ wurde auf einige exemplarische Kommunikationsbereiche beschränkt (Jahresbericht 1984 (1985), S. 238ff.) und erschien einerseits 1989 als „Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“, 16 andererseits in Form von Einzelstudien zur Wortbildung mit entlehnten Elementen im Projekt „Lehnwortbildung“ (Jahresbericht 1985 (1986), S. 389). 15 In den Arbeitspapieren wurde deshalb bereits die Form der Datenbank angedacht. 16 Auf den von Fritz Hermanns, Heidelberg, geprägten Ausdruck brisante Wörter wurde zurückgegriffen, weil schwer außerhalb der lexikografischen und IDS -Diskussion missverständlich war, vgl. die Einleitung zu den „Brisanten Wörtern“. <?page no="297"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 297 2.4 Die Lexikografie als theoretisches Feld Während der gesamten Erarbeitungszeit der „Brisanten Wörter“ und danach sind am IDS eine ganze Reihe von theoretischen (weniger: methodologischen) Arbeiten zu Lexikografie bzw. eher: zur Lexikologie entstanden, die man im Rückblick auf die Initialzündung der Jahrestagung 1975 und Weinrichs Idee des interdisziplinären Wörterbuchs zurückzuführen geneigt ist. Hatte es in der Anfangsphase des IDS noch geheißen, die Lexikografie sei in linguistischer Hinsicht noch zu unterentwickelt, um sie in den Forschungsplan aufzunehmen (s.o.), so scheint sie nunmehr einen deutlichen Schub für die Entwicklung einer vor allem semantisch adäquaten modernen Lexikologie bedeutet zu haben. Weitere Jahrestagungen 1987 (Das Wörterbuch: Artikel und Verweisstrukturen; vgl. Jahresbericht 1987 (1988)) und 2000 (Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz; vgl. Jahresbericht 2000 (2001)) bezeugen die Kontinuität dieses Potenzials. Aber dies galt nicht nur für die IDS-Forschung, sondern für die germanistische Lexikologie und Lexikografie insgesamt, die seit Mitte der 70er-Jahre im räumlich benachbarten Heidelberg einen ihrer Schwerpunkte besaß und die so auf die IDS-Mitarbeiter ausstrahlende Diskussionsforen anbot. Lexikografische Projekte als solche waren im IDS seit den 70er- und 80er- Jahren fest etabliert, und zwar - abgesehen vom konzeptionell gebundenen Fremdwörterbuch und der Beteiligung des IDS am „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“ seit 1993 und abgesehen auch von der Ost-West-Wortschatzdokumentation 17 - stets in theoretische, vor allem semantische Interessen eingebunden; einige der grammatischen Projekte des IDS, insbesondere die Fortsetzung der Valenzlexikografie, fokussierten nach wie vor die Schnittstellen zwischen Syntax und Semantik. Das Spektrum der Vorträge auf der Jahrestagung 1993 über „Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen“ und das Projekt einer „Erklärenden Synonymik kommunikativer Ausdrücke“ (ESKA) weisen Bezüge zu Theorie und Praxis, Lexikologie und Lexikografie gleichermaßen auf. 17 Dies soll keineswegs heißen, dass Mitarbeiter der genannten Wörterbuchunternehmen nicht etwa in Aufsätzen Forschung mit Theorierelevanz geleistet hätten - diese stellten eine zusätzliche persönliche Leistung der Betroffenen dar; in Planung und Berichtswesen dieser Projekte jedoch existierten keine anderen Aufgabenfelder als „Artikelproduktion“ und evtl. noch Materialsammlung. <?page no="298"?> Ulrike Haß 298 Diese enger werdende Verbindung von Lexikologie und Lexikografie, ebenso die Tatsache, dass neue Wörterbuchprojekte seit dem ‘Fall’ des interdisziplinären Wörterbuchs im IDS nur noch exemplarisch konzipiert wurden, wird nicht zuletzt plausibel im Hinblick auf die spezifische Stellung der IDS- Wortforschung in Abgrenzung von der Akademie-Lexikografie (vor allem zu großen historischen Wörterbüchern) einerseits und von der Verlagslexikografie (ökonomisch auf Nutzergewohnheiten zugeschnitten) andererseits. Die Wörterbuchlandschaft im Ganzen legte dem IDS lexikologische Grundlagenforschung durchgängig im Zusammenhang mit eher kleineren als großen praktischen Wörterbuchunternehmen nahe. Ein Beispiel hierfür ist die Ersterwähnung des Gegenstands Neologie/ Neologismenforschung im Jahresbericht 1993 (1995, S. 376f.), wo von Dokumentation und Analyse, theoretischen und methodischen Aspekten, nicht aber von einem lexikografischen Produkt die Rede ist. 3. Die dritte Phase seit ca. 1995 - von LEDA zu elexiko Der Weg von den „datenverarbeitenden Maschinen“ zum heutigen Einsatz von Internet- und Datenbanktechnologie für linguistische Forschung und Ergebnispräsentation war weit und dornenreich. Das 2004 im Druck erschienene und 2005 in das Hypertextsystem elexiko integrierte Neologismen- Wörterbuch ist ein Beispiel für den Übergang und für die auch inhaltlich neuen Perspektiven (z.B. kategorielle Analysen), die die technologische Entwicklung für die Wortschatzforschung darstellt. 18 1997 regte die Institutsleitung für die Abteilung Lexik ein ähnliches Instrument an, wie es im Rahmen der Grammatik als „Grammis“ seinerzeit existierte. Wie oben sichtbar wurde, war an eine lexikografische Datenbank schon früh und immer wieder gedacht worden; 19 sie wurde mit Durchsetzung von Internet und Hypertext realisierbar. Die Motive eines analog zu „Grammis“ intern zunächst „Lexis“ getauften, dann aus rechtlichen Gründen in „Wissen über Wörter/ WiW“ umbenannten und seit Anfang 2004 unter dem internationaleren Namen elexiko im Internet präsentierten Projekts waren forschungsorganisatorischer bzw. -politischer Art: Durch Vergrößerung und Umstrukturierung des IDS in den 90er-Jahren war die Zahl der Arbeitsvorhaben in den einzelnen Abteilungen so groß geworden, dass eine ‘Bünde- 18 Vgl. dazu den Beitrag von Klosa/ Steffens (in diesem Band). 19 Ausführlich dazu Schmidt (1988). <?page no="299"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 299 lung’ der allesamt exemplarischen Arbeiten zur Lexik ratsam wurde, um das IDS nicht dem Vorwurf sprachwissenschaftlicher Kleinstaaterei auszusetzen: In der Abteilung Lexik werden lexikologische und lexikographische Projekte zu ausgewählten Wortschatzbereichen durchgeführt [...] Die Ergebnisse sollen künftig [...] in das lexikalisch-lexikographische Informationssystem LEXIS eingehen [...]. (Jahresbericht 1997 (1998), S. 377). In der dann folgenden Auflistung sind ausnahmslos alle damaligen lexikologischen und lexikografischen Projekte enthalten, vom Fremdwörterbuch bis zur Korpusentwicklung. Ohne dass diese Bündelungsfunktion des neuen Projekts aufgegeben wurde, fokussierten die Jahresberichte (ebenso die unveröffentlichten Planungstexte) in den Folgejahren jedoch die neuen lexikografischmethodischen Möglichkeiten im Zusammenhang mit der Hypertextstruktur und vor dem Hintergrund des inzwischen erreichten Forschungsstands von Lexikografietheorie, Lexikografiekritik und lexikalischer Semantik. Hier spielte die empirische Bindung des gesamten Informationsangebots an die inzwischen enorm ausgebauten und zunehmend besser nutzbaren Textkorpora des IDS mittels COSMAS I und COSMAS II eine bedeutende Rolle (Stichwort „empirische Überprüfung“). Für die Realisierung beider Ziele, für Bündelung und methodische Modernisierung, musste in der Datenbank quasi als deren ‘Rückgrat’ und als Reservoir aller späteren Verankerungspunkte zuerst eine möglichst umfangreiche Stichwortliste von „250.000 bis 300.000 Stichwörtern“ (Jahresbericht 2001 (2002), S. 407) eingerichtet werden. Dass die ‘Füllung’ nicht anders als exemplarisch und modular zu leisten wäre, wurde gelegentlich übersehen. Dies führte in- und außerhalb des IDS immer wieder zu Diskussionen darüber, ob hier ein ‘Grimm des 21. Jahrhunderts’ entstehen solle und ‘wann man mit dem Wörterbuch denn fertig sein wolle’. Selbstkritisch anzumerken ist auch, dass sich aus unterschiedlichsten (z.B. rechtlichen) Gründen faktisch nicht sämtliche der laufenden Wortschatzprojekte in einem Informationssystem bündeln ließen und dass sich eine eher kategorienbezogene wortsemantische Forschung nicht problemlos in eine lexembezogene Darstellungsform bringen lässt. In der Sicht von Aufsichtsgremien und Evaluatoren scheint das Primat der IDS-Wortforschung grundsätzlich bei irgendeiner wörterbuchartigen Produktform zu liegen, ganz im Sinne der Dokumentationsaufgabe des IDS. Sofern diese Sicht Planung und Praxis der IDS-Forschung nachhaltig bestimmt, stellt sich die Frage, inwieweit die Arbeitsergebnisse auf dem jeweiligen state of the art der zunehmend internationalen Lexikologie und <?page no="300"?> Ulrike Haß 300 Semantik gehalten werden können. Lexikografie, die auf irgendeinem Stand konzeptionell festgeschrieben wird und sich linguistisch nicht entwickeln darf, kann dies jedenfalls nicht. Infolgedessen enthält die Planung der Abteilung Lexik für die Jahre 2003 bis 2008 nicht nur Projekte neben dem zentralen Informationssystem elexiko, sondern integriert in dieses selbst programmatisch jene beiden Aufgabengebiete, die in der abkürzenden Abteilungsbezeichnung Lexik zusammengefasst sind: Lexikologie und Lexikografie. 4. Literatur Ballweg-Schramm, Angelika/ Lötscher, Andreas (Hg.) (1977): Semantische Studien. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 37). Baumgärtner, Klaus (1967): Die Struktur des Bedeutungsfeldes. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 165-197. Engel, Ulrich (1968): Grundsätzliche Bemerkungen zu den Untersuchungen über Tempus, Konjunktiv und Passiv. In: Forschungsberichte (1/ 1968), S. 3-7. Engel, Ulrich (1971): Bericht über das Forschungsunternehmen „Grundstrukturen der deutschen Sprache“. In: Jahrbuch 1970, S. 295-322. Engel, Ulrich (1975): Vorbemerkung. In: Pfeffer, S. 1. Engelen, Bernhard (1971): Referentielle und kontextuelle Determination des Wortinhaltes als Problem der Wortarten. In: Engel, Ulrich/ Vogel, Irmgard (Hg.): Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 6. Mannheim. S. 3-24. Forschungsberichte (1/ 1968-5/ 1970): Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache. Bde. 1-5 hrsg. v. Hugo Moser, Hans Glinz, Paul Grebe und Peter von Polenz. Mannheim. Grebe, Paul (1967): Der semantisch-syntaktische Hof unserer Wörter. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 109-114. Harlass, Gertrude/ Vater, Heinz (1974): Zum aktuellen deutschen Wortschatz. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 21). Harras, Gisela (Hg.) (1988): Das Wörterbuch. Artikel und Verweisstrukturen. Jahrbuch 1987 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 74). Henne, Helmut/ Mentrup, Wolfgang (1983): Zur Jahrestagung 1982 des Instituts für deutsche Sprache. Statt eines Vorworts. In: Henne/ Mentrup (Hg.), S. 7-16. Henne, Helmut/ Mentrup, Wolfgang (Hg.) (1983): Wortschatz und Verständigungsprobleme. Was sind „schwere Wörter“ im Deutschen? Jahrbuch 1982 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 57). <?page no="301"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 301 Henne, Helmut/ Mentrup, Wolfgang/ Möhn, Dieter/ Weinrich, Harald (Hg.) (1978): Interdisziplinäres Wörterbuch in der Diskussion. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 45). Herberg, Dieter/ Kinne, Michael/ Steffens, Doris (2004): Neuer Wortschatz. Neologismen der 90er Jahre im Deutschen. Unt. Mitarb. von Elke Tellenbach und Doris al-Wadi. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 11). Jahrbuch 1965/ 1966 (1967): Satz und Wort im heutigen Deutsch. Probleme und Ergebnisse neuerer Forschung. Jahrbuch 1965/ 1966. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 1). Jahrbuch 1966/ 1967 (1968): Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik. Jahrbuch 1966/ 67. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 2). Jahrbuch 1970 (1971): Sprache und Gesellschaft. Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Jahrbuch 1970. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 13). Jahrbuch 1975 (1976): Probleme der Lexikologie und Lexikographie. Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 39). Jahresbericht 1967/ 1968 (1969): Das Institut für deutsche Sprache in den Jahren 1967/ 68. In: Sprache. Gegenwart und Geschichte. Probleme der Synchronie und Diachronie. Jahrbuch 1968. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 5). S. 246-250. Jahresbericht 1971 (1972): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1971. In: Neue Grammatiktheorien und ihre Anwendung auf das heutige Deutsch. Jahrbuch 1971. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 20). S. 297-318. Jahresbericht 1972 (1974): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1972. In: Gesprochene Sprache. Jahrbuch 1972. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 26). S. 319-345. Jahresbericht 1973 (1975): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1973. In: Linguistische Probleme der Textanalyse. Jahrbuch 1973. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 35). S. 242-276. <?page no="302"?> Ulrike Haß 302 Jahresbericht 1974 (1975): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1974. In: Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Jahrbuch 1974 des Instituts für deutsche Sprache. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 36). S. 351-383. Jahresbericht 1975 (1976): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1975. In: Jahrbuch 1975, S. 372-414. Jahresbericht 1976 (1977): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1976. In: Sprachwandel und Sprachgeschichtsschreibung. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1976. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 41). S. 392-428. Jahresbericht 1982 (1983): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1982. In: Henne/ Mentrup (Hg.), S. 280-322. Jahresbericht 1984 (1985): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1984. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 63). S. 233-278. Jahresbericht 1985 (1986): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1985. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 67). S: 385-429. Jahresbericht 1987 (1988): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1987. In: Harras (Hg.), S. 409-476. Jahresbericht 1993 (1995): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1993. In: Harras, Gisela (Hg.) (1995): Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen. Jahrbuch 1993 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. S. 368-403. Jahresbericht 1997 (1998): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 1997. In: Kämper, Heidrun/ Schmidt, Hartmut (Hg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Jahrbuch 1997 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. S. 372-446. Jahresbericht 2000 (2001): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 2000. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Aktueller lexikalischer Wandel. Jahrbuch 2000 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. S. 322-388. Jahresbericht 2001 (2002): Das Institut für deutsche Sprache im Jahre 2001. In: Haß-Zumkehr, Ulrike (Hg.): Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. S. 397-475. <?page no="303"?> Themen und Motivationen der IDS -Wortschatzforschung 303 Linguistische Studien II (1972): Linguistische Studien II . Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 22 ). Mitteilungen (1/ 1972-11/ 1985): Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache. Mannheim. [Eigenverlag]. Moser, Hugo (1967): Ziele und Aufgaben des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 9-14. Öhmann, Emil (1967): Einige Fälle von Homonymie. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 198-204. Oksaar, Els (1967): Sprachsoziologisch-semantische Betrachtungen im Bereich der Berufsbezeichnungen. In: Jahrbuch 1965/ 1966, S. 205-218. Pfeffer, J. Alan (1975): Grunddeutsch. Erarbeitung und Wertung dreier deutscher Korpora. Ein Bericht aus dem „Institute for Basic German“, Pittsburgh. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 27). Schmidt, Rudolf (1988): Wörterbuchartikel und Ergebnisdatenbank. In: Harras (Hg.), S. 330-350. Seiler, Hansjakob (1968): Zur Erforschung des lexikalischen Feldes. In: Jahrbuch 1966/ 1967, S. 268-286. Strauß, Gerhard/ Haß, Ulrike/ Harras, Gisela (1989): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 2). Weinrich, Harald (1985): Die Wahrheit der Wörterbücher. In: Zgusta, Ladislav (Hg.): Probleme des Wörterbuchs. Darmstadt. S. 248-276. <?page no="305"?> Bruno Strecker Die „Grammatik der deutschen Sprache“ Die Anfänge Eine, wenn schon nicht vollständige, so doch auf Vollständigkeit hin angelegte Grammatik der deutschen Gegenwartssprache zu verfassen, galt von Anfang als an eine der Aufgaben des Instituts für Deutsche Sprache, doch in Anbetracht der Größe des Vorhabens drängte sich zunächst niemand danach, sich darauf einzulassen. Erst Anfang der Achtzigerjahre nahm man - zunächst mehr die Institutsleitung als die Mitarbeiter - sich ernstlich vor, nicht länger nur Einzelbetrachtungen zu speziellen grammatischen Phänomenen anzustellen, sondern ein großes, zusammenhängendes Werk zur deutschen Grammatik zu erarbeiten. Mit dem Erscheinen der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker) im Spätherbst 1997 kam dieses durchaus mutige Vorhaben zu einem, wie wir hoffen, erfolgreichen Ende, auch wenn dies in den ersten Jahren so mancher nicht erwartet hatte. Der Umstand, dass die Initiative zu diesem Vorhaben nicht von einer Gruppe ausging, die sich mit entsprechender Zielsetzung selbst konstituiert hatte, wirkte dabei zunächst nicht unbedingt dynamisierend. Das mag in Anbetracht gewohnter akademischer Eitelkeiten nur natürlich erscheinen, doch tatsächlich waren die zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen über Adressaten, Ausrichtung, Darstellungsformen und Inhalte vor allem sachlicher Natur. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sahen sich verschiedenen wissenschafts- und speziell grammatiktheoretischen Traditionen verpflichtet und waren anfänglich nur schwer dazu zu bewegen, ihre „grundsätzlichen“ Positionen in Frage zu stellen. Wenn es über dem anfänglichen Streit nicht zu einem frühen Ende des gesamten Vorhabens kam, dann hatte dies m. E. vor allem drei Gründe: - der Umstand, dass es auch den Hauptkontrahenten nur um die Sache ging, während ihr persönlicher Umgang jederzeit freundschaftlich blieb; - die Interventionen zweier früher Mitglieder des Beirats, der dem Projekt zugeordnet wurde: Beide hatten - aus verschiedenen Gründen - schwerste Bedenken dagegen, wie das gesamte Vorhaben angegangen wurde, und zogen sich deutlich verstimmt aus diesem Gremium zurück. <?page no="306"?> Bruno Strecker 306 Ungewollt trugen sie dadurch nicht unbeträchtlich zum Entstehen des Wir-Gefühls bei, ohne das die gemeinsame Leistung nicht zu erbringen gewesen wäre; - die kaum zu überschätzende Integrationsleistung der Projektleiterin, Gisela Zifonun, der es gelang, immer wieder das große Ziel in Erinnerung zu bringen. Eine erste Klärung der verschiedenen Ausgangspositionen wurde mit dem programmatisch angelegten Sammelband Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik (Zifonun (Hg.) 1986) erreicht, in dem die künftigen Grammatikschreiber ihre Auffassungen darlegen konnten. Mit dem Erscheinen dieses Bandes war den konzeptionellen Auseinandersetzungen das Grundsätzliche genommen und bald eine Formel gefunden, mit der alle leben konnten: die Doppelperspektivik der Grammatik, auf die noch einzugehen sein wird. Nachdem sich die Projektgruppe erst einmal wirklich als Team verstanden und die Arbeit in Aufgabenpakete aufgeteilt hatte, wirkten die verschiedenen Ausgangspositionen der Gruppenmitglieder und der Mitglieder des inzwischen neu zusammengesetzten Beirats durchaus konstruktiv: Jeder Beitrag hatte sich einer kritischen Leserschaft zu stellen, die zwar nicht von vornherein seine Grundannahmen teilte, sich jedoch nie damit begnügte, ihn zurückzuweisen, sondern stets bemüht war, ihn im Interesse des Ganzen möglichst überzeugend zu gestalten. Eine Grammatik aus zwei Blickwinkeln Wenn man sich zur Aufgabe macht, die Grammatik einer Sprache zu erfassen, ergibt sich ein fundamentales Problem: Aus welchem Blickwinkel soll man die Phänomene beschreiben? Die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, werden oft verkannt. Zwar lernt jeder Linguist gleich im ersten Semester, dass zu Kommunikation Sender und Empfänger gehören, doch die Konsequenzen, die das für die Grammatikschreibung haben müsste, werden selten ernst genommen. Tatsächlich macht es jedoch einen Unterschied, ob man eine Grammatik primär für Sprecher oder für Hörer schreiben will, denn Textproduzenten haben andere Probleme als Textrezipienten: Wer etwas zu sagen hat, geht von den kommunikativen Funktionen aus, die er mit den Mitteln einer bestimmten Sprache zu erfüllen hat. Wer etwas gesagt bekommt, sieht sich hingegen zunächst einmal mit komplexen Ausdrucks- <?page no="307"?> Die „Grammatik der deutschen Sprache“ 307 einheiten konfrontiert, die er nicht en bloc interpretieren kann, sondern als formale Strukturen analysieren muss, anhand derer aus den Bedeutungen rekurrenter Basiseinheiten die Bedeutung des Ganzen zu erschließen ist. In der Grammatik der deutschen Sprache wird versucht, den verschiedenen Problemstellungen für Sprecher und Hörer durch eine doppelte Perspektive Rechnung zu tragen: Grammatisches Wissen erschließt sich dem Benutzer auf zwei Pfaden. Die beiden Betrachtungsweisen schließen sich dabei nicht aus. Sie sind komplementär: a) Einerseits wird von elementaren Aufgaben oder Funktionen ausgegangen, für die sprachliche Mittel ausgebildet sind - so etwa von der Aufgabe, Sachverhalte oder Gegenstände zu entwerfen, zu thematisieren oder thematisch fortzuführen. b) Andererseits wird ausgegangen von Formen und Mitteln - Laute, Wortformen, Wortstellung, Intonation - und dem formalen Aufbau sprachlicher Einheiten - so etwa des Verbalkomplexes, der Nominalphrase - bis hin zu Konstruktionstypen wie Subordination oder Koordination. Den Ansatz bildet hier jeweils eine spezifische Formausprägung oder ein spezifisches Ausdrucksmittel, dessen Struktur zu analysieren und in einen funktionalen Erklärungszusammenhang einzuordnen ist. Die Grammatiktradition hat die Formbetrachtung meist mit semantischen Überlegungen verbunden. Hermann Paul gar geht soweit, die Syntax als Teil der Bedeutungslehre zu bestimmen (Paul 1919, S. 3). Die IDS-Grammatik greift diese Konzeption unter einer doppelten Perspektive auf: - Sie sucht zum einen den Aufbau sprachlicher Ausdrücke semantisch und pragmatisch zu analysieren und setzt dazu an bei semantischen Einheiten wie Proposition, Prädikat, Argument, Modifikation und deren Ausdrucksformen, aber auch unmittelbar bei kommunikativen Funktionen wie Thematisierung, Vergabe des Rederechts oder Gewichtung. Sie beachtet ferner die Rolle sprachlicher Formen und Mittel im situationsgebundenen Diskurs wie im situationsabgelösten Text. Dabei lässt sie sich leiten vom Grundprinzip funktionaler Grammatik, die Form sprachlicher Ausdrücke, so weit dies plausibel zu machen ist, als funktionale Lösung kommunikativer Aufgaben zu begreifen. 1 1 Für Insider sei am Rande vermerkt: Die Grammatik der deutschen Sprache stellte sich damit offen gegen den Anspruch der „herrschenden“ Auffassung, die Syntax sei als auto- <?page no="308"?> Bruno Strecker 308 - Sie sucht zum anderen, Syntax und Semantik im kompositionalen Aufbau sprachlicher Ausdrücke möglichst parallel zu analysieren. Diesem wahrheitsfunktional-kompositionalen Ansatz liegt das sog. ‘Frege-Prinzip’ der Bedeutung zugrunde, das besagt: Die Bedeutung eines Satzes ergibt sich aus den Bedeutungen seiner Teile auf der Basis ihrer syntaktischen Beziehungen. In formbezogen-kompositionaler Perspektive werden Wörter und Wortgruppen entlang einer hierarchischen Ordnung schrittweise miteinander zu größeren Einheiten bis hin zu einer nicht-linearisierten Vorform des Vollsatzes 2 - ‘verrechnet’. Auf diese Vorform werden dann so genannte Wortstellungsregeln 3 und Regeln für die korrekte Intonation angewandt. Den theoretischen Hintergrund bildet dabei die sog. Kategorialgrammatik, wie sie in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts von Ajduciewicz (1935) und - in nun auch schon nicht mehr so neuer Zeit - von Montague (1970) entwickelt wurde. Durch die komplementär angelegte Doppelperspektivik entsteht ein Gesamtbild des kompositionalen Aufbaus und der funktionalen Struktur der deutschen Sprache. Nicht immer freilich ergänzen sich beide Sichtweisen: Manche Phänomene lassen sich sinnvoll nur unter einer der Perspektiven erschließen, so etwa sprechersteuernde Interjektionen mit einem funktionalen Zugriff oder Verbgruppenadverbialia und ihre vielfältigen Bezugsmöglichkeiten mit einem kompositionalen Ansatz. Die perspektivische Anlage führt - vordergründig - zu Mehrfachbehandlungen. So kommen etwa Relativsätze gleich dreifach vor: - bei der Behandlung des kompositionalen Aufbaus der Nominalphrase; nome Strukturebene in keiner Weise bedingt durch die Funktionen, die sie in der Kommunikation zu erfüllen hat. 2 Dass nicht sofort Sätze in korrekter linearer Form komponiert werden, hat mit Besonderheiten der Wortstellung im Deutschen zu tun. Wollte man bei der Verrechnung der verschiedenen Komponenten unmittelbar zu Sätzen in korrekter linearer Form gelangen, müsste man Sätze wie diese jeweils eigens zusammenstellen: Sie hat ihm einen Korb gegeben. Ihm hat sie einen Korb gegeben. Einen Korb hat sie ihm gegeben. Das hätte die unerwünschte Nebenwirkung, dass die fundamentale Gemeinsamkeit dieser Sätze nur sehr umständlich zu zeigen wäre. 3 „So genannte Wortstellungsregeln“, weil es sich genau genommen weniger um Regeln der Wortstellung als um Regeln der Stellung von Satzteilen handelt. <?page no="309"?> Die „Grammatik der deutschen Sprache“ 309 - im Argument-Kapitel, in dem ihr Beitrag zur Konstitution von Argumentausdrücken in funktional-semantischer Sicht dargestellt wird; - im Thema-Rhema Kapitel, in dem sie schließlich unter dem Gesichtspunkt der Themafortführung bzw. Etablierung von Nebenthemen analysiert werden. Würde all das in einem einzigen Kapitel behandelt, müsste man ständig die Perspektive wechseln. Zugleich könnten systematische Zusammenhänge wie Aufbau der Nominalphrase, Subordination, Argument und Argumentausdruck oder Thema/ Rhema nicht in wünschenswerter Weise entwickelt werden. Was neu ist in der Grammatik der deutschen Sprache In Anbetracht der vom Massachusetts Institute of Technology ausgehenden Terminologie der generativen Grammatik mag die Grammatik der deutschen Sprache auf den ersten Blick eher traditionell erscheinen, denn sie bedient sich, soweit dies vertretbar scheint, klassischer griechisch-lateinischer Begrifflichkeit. Dennoch ist gegenüber dem traditionellen Kanon in der Grammatik der deutschen Sprache manches neu. Dies gilt etwa für die Grammatik von Text und Diskurs in Teil C. Phänomene wie Interjektionen (kurze Reaktionen auf Mitteilungen mit Ausdrücken wie ah, oh je, ach), Ellipsen (Auslassungen, oft bei Antworten: Was wünschen Sie? - Drei Brezeln.), Anakoluthe (Brüche in der Satzkonstruktion, etwa dieser Art: Das ging dann, das hätte nie so weit kommen dürfen), thematische Organisation, grammatische Aspekte des Sprecherwechsels werden anderenorts gar nicht oder nur stiefmütterlich behandelt. Solche Besonderheiten vor allem der gesprochenen Sprache spielten in den letzten Jahrzehnten in der Grammatikschreibung kaum eine Rolle. Ferner enthält die Grammatik - parallel zum Phonologiekapitel - eine knappe Darstellung der deutschen Orthographie, die in den letzten Jahren zu einem interessanten Forschungsgebiet geworden ist. 4 In Teil D 5 bietet die Grammatik der deutschen Sprache erstmals eine ausführliche Behandlung des funktionalen Aufbaus von Diktum 6 und Propo- 4 Hier hat uns die Entwicklung durch die - immer noch umstrittene - Rechtschreibreform wohl etwas auf dem falschen Fuß erwischt, doch wer weiß … 5 Funktionale Analyse von kommunikativen Minimaleinheiten und ihren Teilen. 6 Diktum bedeutet in diesem Kontext in etwa soviel wie Satzbedeutung. Ganz zutreffend ist diese Umschreibung allerdings nicht, doch würde es den Rahmen dieser Darstellung sprengen, eine genauere Bestimmung zu geben. <?page no="310"?> Bruno Strecker 310 sition unter Aspekten wie Kommunikationsmodus, Prädikat, Argument, Spezifikationen von Geltungsansprüchen u.a.m. Damit wird eine Fundierung und Präzisierung grammatisch-semantischer Basiskonzepte geleistet. Neu ist in den Teilen E-H 7 der Versuch, syntaktische und semantische Struktur möglichst eng aufeinander zu beziehen und, soweit möglich, zu parallelisieren. Der kombinatorische Aufbau kommunikativer Ausdruckseinheiten wird semantisch fundiert und damit ein Anspruch eingelöst, den auch schon die traditionelle Grammatik in ihrer Inhaltsorientierung erhoben hat. Als Darstellungsmittel dient die so genannte Kategorialgrammatik, da sie am besten geeignet ist, syntaktische und semantische Strukturen parallel zu erfassen, und da sie eine differenzierte Darstellung von Skopusphänomenen erlaubt. Die Analyse des Satzaufbaus geht aus von einem n-stelligen Verbalkomplex, an den dann die geforderten Komplemente (‘Ergänzungen’) angebunden werden. Im Fall 3-stelliger Verben könnte man dies etwa so illustrieren: Durch sukzessive Anbindung der Komplemente wird eine zunehmende „Sättigung“ des Verbs erreicht. Entsprechend ergeben sich Verbgruppen abnehmender Stelligkeit, bis bei vollständiger Sättigung des Verbs die Ebene des Satzes erreicht ist. Die Verbgruppe kann auf den verschiedenen Ebenen der Sättigung durch Supplemente (‘freie Angaben’) erweitert werden. Auf diese Weise gehen auch Grundannahmen der so genannten Valenzgrammatik in die Satzanalyse ein. 7 Kompositionaler Aufbau kommunikativer Minimaleinheiten, Verbalgruppen, Nicht-verbale Phrasen, Subordinierte und koordinierte Strukturen. Komplement 1 Christiane der Händler sie Komplement 2 Hermann dem Käufer ihr Komplement 3 ein Eis einige Bücher den Herd 3-stelliges Verb kauferklärversprech- … <?page no="311"?> Die „Grammatik der deutschen Sprache“ 311 Weiterhin enthält die Grammatik ausführliche Behandlungen der deutschen Wortstellung, der Verbgrammatik, der Struktur komplexer Sätze und vieles andere mehr. Doch so umfangreich die Grammatik ausgefallen ist, endgültig abgeschlossen werden konnte das Thema Grammatik des Deutschen freilich auch mit diesem Opus nicht. Nicht alles konnte bis ins letzte Detail erfasst werden und es bleiben Lücken - teils aus arbeitsökonomischen Gründen, teils, weil nicht jeder lückenhafte Forschungsstand durch eigene Untersuchungen zu kompensieren war. Wie die Grammatik der deutschen Sprache aufgebaut ist Der Text ist in acht mehr oder weniger große Teile gegliedert. Auf die Einführung in Teil A folgt in Teil B eine Bestimmung der verschiedenen, für das Deutsche anzunehmenden Wortklassen. Die mittleren drei Teile - Zur Grammatik von Text und Diskurs, Funktionale Analyse von kommunikativen Minimaleinheiten und ihren Teilen, Kompositionaler Aufbau kommunikativer Minimaleinheiten - mit etwa vergleichbarem Umfang setzen die inhaltlichen Schwerpunkte. Die letzten Teile - Verbalgruppen, Nicht-verbale Phrasen, Subordinierte und koordinierte Strukturen, Subordination: Nebensätze, Koordination - haben spezifizierenden Charakter. Die Darstellungen zeigen in der Regel eine Abfolge vom Allgemeinen zum Besonderen: Auf die Einführung und Illustration eines Phänomens folgen Analyse und Abgrenzung, Festlegung und Definition zu Beschreibungen und Erklärungen von Struktur und Funktion, den Schluss bilden Besonderheiten, Erscheinungen im Umfeld, periphere Vorkommen und dergleichen. Wenn der Text nicht immer leicht zu lesen ist, dann liegt dies in erster Linie an der Komplexität der Sache, manchmal wohl auch an ungewohnten Zugangsweisen und nicht zuletzt an den Vernetzungen im Gegenstandsbereich wie auch in unserer Darstellung. Wer sich einmal bemüht hat, und sei es auch nur ansatzweise, eine fremde Sprache korrekt zu erlernen, wird hier sicher nicht widersprechen, denn was für die Grammatik fremder Sprachen gilt, gilt natürlich im selben Maß für die eigene. Es kommt einem nur nicht so leicht in den Blick, weil man sich von den Mühen des Erwerbs der eigenen Erstsprache zu keiner Zeit Rechenschaft gegeben hat. Generell wird in der Grammatik der deutschen Sprache Wichtigkeit über Verständlichkeit gestellt. Wer mit grammatischen Problemen vertraut ist, wird es leichter haben. Bevor man darin einen ernsthaften Mangel erkennt, <?page no="312"?> Bruno Strecker 312 sollte man jedoch bedenken, dass erfolgreiche Recherchen bei jeder Grammatik eine unabdingbare Voraussetzung haben: Man muss schon eine ganze Menge über die beschriebenen Strukturen und Kategorien wissen, wenn man eine Chance haben will, einschlägige Informationen aufzufinden. Es genügt keinesfalls, einigermaßen gut Deutsch zu können. Was die Grammatik der deutschen Sprache beansprucht Grammatiken waren lange Zeit und sind für manche Kreise noch bis in unsere Tage mit dem Anspruch verbunden, festzuhalten, wie sprachliche Verlautbarungen korrekterweise auszusehen haben. Die Grammatik der deutschen Sprache stellt - wie jede wirklich wissenschaftliche Grammatik - solche Ansprüche nicht. Dabei handelt es sich weder um großzügigen Verzicht, noch, wie engagierte Sprachpfleger beklagen mögen, um feige Kapitulation vor einer, wie sie meinen, immer mehr verludernden Praxis des Sprachgebrauchs, denn jeder Anspruch auf normative Geltung wäre zugleich Ausdruck eines tief reichenden Missverständnisses hinsichtlich der Natur historisch gewachsener Sprachen wie des Deutschen. Solche Sprachen sind wohl Menschenwerk, doch nicht in dem Sinn, dass sie von Menschen geplant oder erdacht wären. Sie gehören zu jenen menschlichen Institutionen, die - wie Adam Ferguson 1767 festhielt - „are the result of human action, but not of human design“ (Ferguson 1767, Part 3, Section 2). Da Sprachen weder Naturprodukte sind noch Kunstprodukte, lassen sich Ansprüche hinsichtlich ihrer Wohlgeformtheit weder durch Berufung auf die Natur noch auf einen Schöpfer rechtfertigen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Sprachen der Willkür jedes Einzelnen preisgegeben wären. Es gibt eine Kraft, die Sprachteilhaber bei der Stange ihrer Sprache hält und zwar weit wirksamer als jede Normierung: der Wunsch ihrer Sprecher, nicht allein verstanden, sondern darüber hinaus auch als jemand anerkannt zu werden, der zu der Gemeinschaft jener gehört, die sich dieser Sprache bedienen. Dieser Wunsch enthebt die grammatische Beschreibung einer Sprache jeder Notwendigkeit, Normen zu setzen, die dann als solche zu rechtfertigen wären. Tatsächlich haben Grammatiken eher den Charakter von Kochbüchern denn von Gesetzestexten. Wenn eine Grammatik etwas beanspruchen kann, dann, dass man von anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft als einer der Sprachteilhaber akzeptiert werden wird, so man sich denn an das hält, was <?page no="313"?> Die „Grammatik der deutschen Sprache“ 313 sie an Regularitäten verzeichnet. Daran jedenfalls wird auch die Grammatik der deutschen Sprache zu messen sein, und in diesem Sinn ist auch zu verstehen, was sie einleitend behauptet. Ihr Gegenstand sei das heutige Deutsch, wie es etwa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesprochen wird. Sie beschränkt sich dabei bewusst auf ein theoretisches Konstrukt: die so genannte Standardsprache, vor allem in schriftlicher Ausprägung. Bevor man die Entscheidung für ein solches Konstrukt als erneuten, verkappten Versuch der Normierung feiert oder denunziert, sollte man in Rechnung stellen, dass die Rede von der Sprache und dem Deutschen immer schon auf ein theoretisches Konstrukt zielt, denn ohne theoretische Aufbereitung ist keine der historisch gewachsenen Sprachen als einheitlicher Untersuchungsgegenstand verfügbar. Deutsche Standardsprache, das heißt so viel wie: überregional akzeptiert und auf „neutraler“ Stilhöhe, verglichen mit dem, was in der so genannten Umgangssprache zu beobachten ist. Was die Grammatik der deutschen Sprache als Standard betrachtet, entspricht allerdings nicht immer dem, was Schulgrammatiken mit behördlichem Segen an Normen setzen. Bei bestimmten Phänomenen zeigte sich in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache, auf die sich die Einschätzungen stützen, ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten. Gelegentlich werden auch Daten aus Substandard-Varietäten herangezogen oder regionale Spezifika erwähnt. Auch spezifische Formen gesprochener Sprache werden berücksichtigt, wo dies erforderlich scheint, ohne dass damit gleich der Anspruch verbunden wäre, eine regelrechte Grammatik der gesprochenen Sprache vorzulegen. Wir waren so realistisch zu erkennen, dass ein solches Vorhaben derzeit nicht zu realisieren ist, wenn es denn überhaupt je realisiert werden kann. Und weiter? Auch nach dem Abschluss eines so mächtigen Werkes wie der Grammatik der deutschen Sprache geht den Grammatikern am Institut für Deutsche Sprache die Arbeit nicht aus. Unter den verschiedenen aktuellen Forschungsprojekten greift eines die Arbeiten an der Grammatik der deutschen Sprache mit den Mitteln der neuen Medien wieder auf: GRAMMIS - das grammatische Informationssystem des Instituts für Deutsche Sprache. Im Rahmen dieses Projekts wurde und wird auf der Grundlage einer Überarbeitung der Grammatik der deutschen Sprache und der Ergebnisse weiterer <?page no="314"?> Bruno Strecker 314 Forschungsarbeiten 8 ein multimedialer Hypertext erstellt, der detaillierte Informationen zur deutschen Grammatik über das Internet weltweit verfügbar macht und dabei die Möglichkeiten dieses neuen Mediums ausgiebig nutzt: - Viele Beispiele sind auch als Tondokumente verfügbar. - Animierte Bilder illustrieren im Text beschriebene Prozeduren. - Ungewohnte Fachausdrücke sind als so genannte Hotwords markiert und öffnen per Mausklick ein kleines Fenster mit kurzen Erklärungen aus einem Terminologischen Wörterbuch. - Ein Grammatisches Wörterbuch, in dem vor allem so genannte Funktionswörter (Präpositionen, Partikeln, Konnektoren) erfasst sind, erlaubt eine vom Wort ausgehende Suche nach grammatischen Informationen; so können etwa Antworten auf Fragen zur Wortstellung in weil-Sätzen aufgefunden werden. - Querverweise und Hinweise auf vertiefende Informationen sind ebenfalls per Mausklick bequem zu erreichen. - Eine bibliografische Komponente erlaubt eine differenzierte Schlagwortsuche, die Literaturhinweise zur deutschen Grammatik aufführt (1965 bis heute). - Eine Funktion mit der Bezeichnung „Persönliche Tour“ erlaubt, in der Komponente Systematische Grammatik Textsequenzen für spätere Nutzung zusammenzustellen und - natürlich unter Verlust der multimedialen Elemente - zusammenhängend für den Druck aufzubereiten. All diese zusätzlichen Informationen und Hilfsfunktionen reichen freilich nicht aus, um jenen Zugang zu grammatischen Informationen zu ermöglichen, denen sie wohl von größtem Nutzen sein könnten, denn es bleibt das Problem, dass man, um eine Grammatik erfolgreich nutzen zu können, zumindest Grundkenntnisse im Bereich grammatischer Kategorisierungen haben sollte. Um dies nicht länger nur zu bedauern, wird GRAMMIS derzeit um eine Komponente Grammatik in Fragen und Antworten erweitert, die Hauptschwierigkeiten und Zweifelsfälle des Deutschen in Form exemplarisch gehaltener Fragen (z.B. Heißt es die oder das E-Mail? Anfang diesen oder dieses Jahres? Weil ich das nicht gewusst habe oder weil das habe ich nicht ge- 8 Hinzugekommen sind in GRAMMIS detaillierte Darstellungen zu den Bereichen Wortbildung, Konnektoren, Genus und Valenz. Zu finden ist GRAMMIS im Internet unter der Adresse http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ grammis/ . <?page no="315"?> Die „Grammatik der deutschen Sprache“ 315 wusst? ) aufgreift und in kurzen Glossen soweit verallgemeinert, dass die generellen Probleme erkennbar werden. Grammatisch nicht oder wenig geschulten Benutzern bleibt dann nur noch das Problem, ihre persönlichen grammatischen Schwierigkeiten in der angebotenen Auswahl wiederzufinden. Damit ihnen das gelingen kann, müssen sie nicht einmal in der Lage sein, ihre Schwierigkeiten selbst als solche grammatischer Natur zu erkennen. Sie müssen lediglich eine Fähigkeit nutzen, ohne die sie niemals eine Sprache hätten erwerben können: die Fähigkeit, Strukturen als gleichartig zu erkennen. Literatur Ajdukiewicz, Kazimierz (1935): Die syntaktische Konnektizität. In: Studia Philosophica 1, S. 1-27. Ferguson, Adam (1767): An Essay on the History of Civil Society. Internet: http: / / socserv2.socsci.mcmaster.ca/ ~econ/ ugcm/ 3ll3/ ferguson/ civil.html (Stand: 20.09.2006). Montague, Richard (1970): Universal Grammar. In: Theoria 36, S. 373-398. Paul, Hermann (1919): Deutsche Grammatik. Bd. 3. Halle. Zifonun, Gisela (Hg.) (1986): Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 63). Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1-7.3). <?page no="317"?> 3. Aktuelle Forschungsperspektiven 3.1 Soziolinguistik und linguistische Diskursanalyse <?page no="319"?> Heinrich Löffler Dialektforschung am IDS ? Vorgeschichte Das Fragezeichen im Titel ist mit Absicht gesetzt. Das Institut für Deutsche Sprache wurde im Jahre 1964 1 von namhaften Vertretern der „Deutschen Philologie“ - so nannte man damals die Germanistische Sprachwissenschaft - gegründet. Philologen waren Vertreter ihres Faches in der ganzen Breite. Ihr Forschungs- und Lehrbereich umfasste Sprachgeschichte, historische Grammatik, (historische) Sprachgeografie und in der Regel auch Mediävistik. Die enge Nachbarschaft von Sprachgeschichte, historischer Sprachgeografie und Mediävistik zeigte sich für Studierende u.a. darin, dass man in der Aufnahmeklausur zu einem mediävistischen Seminar sehr wohl eine Reihe von Wörtern (historisch-)grammatisch bestimmen musste (Stichwort: „Ablautreihen“) und auf höherer Stufe einen vorgelegten Text auf Grund sprachlicher Merkmale datieren und sprachgeografisch ungefähr lokalisieren sollte. Die zeitgenössische Mundartforschung war nur an wenigen Universitäten vertreten. Sie hatte ihr Hauptzentrum am „Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Deutscher Sprachatlas“ an der Universität Marburg. Wer als Student oder Doktorand dialektologisch arbeiten wollte, musste ein paar Semester in Marburg bei Walther Mitzka und später bei Ludwig Erich Schmidt studieren, um das nötige Rüstzeug zu erwerben, oder man ging zu Professor Hotzenköcherle nach Zürich, wo die Technik der „Kleinraumatlanten“ erlernt werden konnte. Manche dieser gelehrigen Schüler erstellten später als Lehrstuhlinhaber Regional-Atlanten als Fortsetzung oder Ersatz des 1 „Am 19. April 1964, anlässlich der dritten Verleihung des Konrad-Duden-Preises der Stadt Mannheim, gibt der Preisträger, Prof. Dr. Jost Trier, in einer kleinen Ansprache der Gründung des Instituts für deutsche Sprache bekannt [...]. Die Urkunde, mit der acht Germanistikprofessoren aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Österreich und der Schweiz eine Stiftung Bürgerlichen Rechts errichten, die den Namen „Institut für deutsche Sprache“ trägt und ihren Sitz in Mannheim hat, wird am 19. April 1964 ausgefertigt.“ (Biere 1989, S. 9). Zu den Gründungspersönlichkeiten gehörten: Paul Grebe, Walter Hensen, Rudolf Hotzenköcherle, Karl Kurt Klein, Friedrich Maurer, Hugo Moser, Jost Trier und Leo Weisgerber. <?page no="320"?> Heinrich Löffler 320 nie zu Ende gekommenen Sprachatlas des deutschen Reiches. Regionalatlanten decken inzwischen fast das ganze deutsche Sprachgebiet ab. 2 Das Institut für Deutsche Sprache wurde von den damaligen Universitäts- Philologen als nicht-universitäres Institut mit der Absicht gegründet, dass dort das gemacht würde, was an den Deutschen Seminaren oder germanistischen Instituten nicht oder kaum betrieben wurde: die Erforschung der deutschen Sprache der Gegenwart. An den Universitäten sagte man dazu philologisch-historisch „neuhochdeutsche Schriftsprache“. 3 Der Ort Mannheim lag für ein solches „neuhochdeutsches“ Institut günstig. Die Nähe zum ebenfalls in Mannheim domizilierten Bibliographischen Institut (Duden) versprach fruchtbare Synergien bei der Erforschung der Gegenwartssprache. 4 Auch der Zeitpunkt kam gelegen. Das Fach Germanistik machte gerade einen Erneuerungsprozess durch. Die „deutsche Philologie“ alter Schule stand im Verdacht, an der unseligen jüngeren politischen Vergangenheit nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. Gleichzeitig drängte eine neue Linguistik aus den USA in Gestalt des vorgeblich ideologiefreien „Strukturalismus“ auf den Markt. Das IDS sollte Brennpunkt und Katalysator der neuen Tendenzen werden. Sein Objekt war die Gegenwartssprache, insbesondere auch die „gesprochene“ (Standard-)Sprache der „idealen Sprecher/ Hörer“. Die Methoden sollten modern sein oder jedenfalls nicht „philologisch“ - auch zu dem Preis, dass man damit zu den Seminaren an den alten Universitäten und auch zur eigenen Vergangenheit der Gründer etwas quer lag. 5 Das Selbstverständnis des IDS Das IDS übernahm recht bald die Funktion eines Treffpunktes und eines germanistisch-linguistischen Informationszentrums. An den Frühjahrstagun- 2 Eine Zusammenstellung bei Löffler (2003, S. 29f.). 3 Das Forschungsziel war in der ersten Satzung so formuliert (Fassung vom 9.11.1984): „Die deutsche Sprache, vor allem in ihrem heutigen Gebrauch, wissenschaftlich zu erforschen“ ( IDS (Hg.) 1989, S. 125). 4 In den Anfängen bestand eine enge „Forschungsgemeinschaft“ zwischen IDS und Duden, indem man nicht nur im selben Haus residierte, sondern auch einen Buch- und Personalaustausch pflegte (Biere 1989, S. 12). 5 Vgl. die übrigen Beiträge dieses Bandes, insbesondere Fiehler/ Schröder/ Wagener, ferner die in den „Forschungsberichten“ und „Jahrbüchern des IDS “ (siehe hierzu den Beitrag von Grosse in diesem Band) abgedruckten einschlägigen Tätigkeits- und Forschungsberichte. <?page no="321"?> Dialektforschung am IDS ? 321 gen und Fortbildungskursen musste man teilgenommen haben, wenn man etwas von neuerer Linguistik verstehen wollte. 6 Dies alles - und vor allem die Tatsache, dass die Dialekte in Marburg gut aufgehoben waren - wird der Grund dafür gewesen sein, dass am IDS nicht nur keine Dialektforschung betrieben wurde, sondern dass das Institut sich gerade als das Gegenteil eines Dialektforschungsinstituts verstand: Gegenstand war die deutsche geschriebene und gesprochene Sprache der Gegenwart in ihrem Kern und ihren Erscheinungsweisen - ausgenommen die Dialekte. Anfänglich waren nicht einmal die Substandards oder die Soziolekte ein Thema. Das breite Themenspektrum der Jahrestagungen gibt die einseitige Ausrichtung der Institutsforschung nicht korrekt wieder, sondern ist eher ein Abbild der zum Teil unerfüllten Wünsche. 7 So steht bereits 1968 die „diachronische und synchronische Betrachtung“ der Sprache auf dem Programm. 8 Beim Tagungsthema von 1974 „Linguistik und Didaktik“ kam auch die Dialektproblematik als soziokulturelles Phänomen zur Sprache. 9 Von der sozialen Gliederung war schon 1968 die Rede, lange bevor eine Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ eingerichtet wurde. 10 Mit den „Varietäten des Deutschen“ (1996) waren dann neben der Umgangssprache alle Dialekte mitgemeint 11 und auch bei der „Standardvariation“ (2004) waren die Dialekte mit im Blick auf der Kontinuum-Skala. 12 Die pragmatische Wende Es dauerte 15 Jahre, bis 1979 am IDS eine Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ gegründet wurde, in der auch Sprachgebrauchsphänomene und deren funktionale Einordnung und Begründung behandelt wurden. Als das Marburger Institut in den Siebzigerjahren über Jahre hin verwaist und von einer wissenschaftlichen Erbengemeinschaft nur verwaltet wurde, 6 Im Frühjahr 1970 fand am IDS ein zweiwöchiger Crash-Kurs in neuerer Linguistik für Germanistik-Assistenten an deutschen Seminaren statt. Mannheim hatte somit auf dem Gebiet der neuere Linguistik die Leader-und Mekka-Funktion angenommen, welche Marburg vorher auf dem Gebiet der Dialektforschung hatte. 7 Vgl. den Beitrag von Debus (in diesem Band). 8 Vgl. IDS -Jahrbuch 1968 (1969). 9 Vgl. IDS -Jahrbuch 1974 (1975). 10 Vgl. IDS -Jahrbuch 1970 (1971). 11 Vgl. Stickel (Hg.) (1997). 12 Vgl. Eichinger/ Kallmeyer (Hg.) (2005). <?page no="322"?> Heinrich Löffler 322 emigrierte die Dialektologie nicht zuletzt unter dem neuen Label „Soziodialektologie“ an die Universitäten. In dieser Zeit konnte auch das Mannheimer Institut einen grossen dialektolgischen Schatz erben, der eigentlich nach Marburg gehört hätte: das „Deutsche Spracharchiv“. Es war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als Fortsetzung früherer Versuche von Eberhard Zwirner aufgebaut worden und enthielt flächendeckend vom ganzen deutschen Sprachgebiet Proben gesprochener Sprache, meistens in Orts-Mundart oder dialektaler Umgangssprache. 13 Die Aufnahmen waren früher in Braunschweig, dann in Münster und zuletzt in Bonn untergebracht und wurden dort seit dem Jahre 1971 14 als Aussenstelle des IDS geführt. 1980 übersiedelte das Archiv nach Mannheim zusammen mit den beiden Betreuerinnen, die neben den tausenden von Tonbändern auch noch die Publikationsreihe „Phonai“ mitbrachten. 15 Dieses Spracharchiv hatte ursprünglich nur Gastrecht am IDS und stand in keinem Kontakt zu einem der dortigen Forschungsprojekte. Es stellte neben dem „Mannheimer Corpus“ eine zweite eigenständige Sammlung deutscher Sprachproben dar. Eine eigentliche dialektologisch-linguistische Auswertung, wie sie für den Teilbereich Südwestdeutschland von der „Arbeitsstelle Sprache im deutschen Südwesten“ in Tübingen unter der Leitung von Arno Ruoff durchgeführt wurde, 16 fand und findet in Mannheim nicht statt. Im Zuge des Ausbaus der elektronischen Spachdatenbank am IDS wurden auch die alten Tonbänder des Spracharchivs digitalisiert; d.h., die analogen Tonbänder wurden auf Speicherplatten „gebrannt“. Dies dauerte mehrere Jahre und bedurfte einer aufwändigen Installation und eines eigenen Tontechnikers. Heute ist das Dialekt-Material des Spracharchivs digital gespeichert und in die Datenbank der Gesprochenen Deutschen Sprache (DGD) integriert 13 Zur Geschichte des Spracharchivs: Knetschke/ Sperlbaum (Hg.) (1983); auch Fiehler/ Schröder/ Wagener (in diesem Band, dort Kap. 5.). 14 Biere (1989, S. 15); vgl. den Beitrag von Fiehler/ Schröder/ Wagener in diesem Band. Gemäss der IDS -Webseiten fand die Übersiedlung nach Bonn 1973 und weiter nach Mannheim 1979 statt ( http: / / www.ids-mannheim.de/ ksgd/ agd/ dsav.html ). 15 Phonai (1969ff.). Ein Inventar der Sammlung: Haas/ Wagener (1992). Die Reihe existierte bereits vor dem Umzug ans IDS ; so auch die abgeschlossene Reihe „Lautbibliothek deutscher Mundarten“ (Lautbibliothek 1958-1964). 16 Die Arbeiten sind in der Reihe „Idiomatica“ publiziert; dazu als methodischer Einführungsband Ruoff (1973). <?page no="323"?> Dialektforschung am IDS ? 323 und über das Programm COSMAS II auch für externe Nutzer erschliessbar. 17 Es ist aber keinem der laufenden IDS-Projekte als Datenbank zugeordnet. Allerdings werden für das Projekt ‘Text-Ton-Alignment’, mit dem man Tonspur und Transkription partiturähnlich simultan darstellen und beide Spuren vice-versa abrufen kann, auch Beispiele aus dem Spracharchiv verwendet. 18 Es handelt sich hierbei um eine Bereitstellung und Pflege eines digitalen Sprach-Korpus. Eine eigentliche linguistische oder dialektologische Auswertung, wie dies in Tübingen geschah, findet am IDS nicht statt. Der Versuch einer Weiterführung des Projekts durch Nach-Erhebungen bei den gleichen Probanden nach über 40 Jahren sah vielversprechend aus, wurde jedoch aus verschiedenen Gründen nicht weiterverfolgt. Bei den Aufnahmen der Fünfzigerjahre wurden pro Ort je eine Person der älteren, mittleren und jüngeren Generation aufgenommen. Über vierzig Jahre später waren die damals Jungen inzwischen fast sechzig und gehörten nun der älteren Sprechergruppe an. Von diesen konnten einige hundert ausfindig gemacht werden. Erste Sprachaufnahmen im Vergleich mit den früheren Proben derselben Person zeigten, dass sich der Dialekt eines Individuums im Laufe des Lebens phonetisch hin zu grossräumigeren Merkmalen entwickelt. 19 Der Wissenschaftliche Beirat kam im Jahre 2001 nach Konsultation von externen Experten zu dem Schluss, dass sich das IDS angesichts der neuen Aufgabenverteilung zwischen Mannheim und Marburg eher auf standardnahe Sprachwandel- und Variations-Phänmomene konzentrieren solle. Somit wurde der Plan fallen gelassen. Er hätte auch trotz einiger Attraktivität zuviel Kapazität in Anspruch genommen. Dialektologische Aspekte Dialekt als Nebenthema und Dialektolgie als Hilfswissenschaft sind jedoch bei manchen IDS-Projekten immer wieder aufgetreten. 17 Näheres darüber auf der IDS -Internetseite http: / / www.ids-mannheim.de/ ksgd/ agd/ dsav.html . 18 Näheres hierzu bei Fiehler/ Schröder/ Wagener (in diesem Band) und in den Projektbeschreibungen des IDS im Internet. 19 Interessant dabei war, dass sich die phonetische Entwicklung (z.B. eine Lenisierung) mit experimentalphonetischen Apparaturen an den alten Sprachproben schon nachweisen liess. Diese lag jedoch unterhalb der auditiv wahrnehmbaren (Hör)-Grenze (Wagener 1997 und 1999). <?page no="324"?> Heinrich Löffler 324 Eines der ersten grösseren Projekte der Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ befasste sich mit der „Kommunikation in der Stadt am Beispiel Mannheims“. Mit den kommunikativen Varietäten, die in einer Stadt nicht zuletzt der sozialen Symbolisierung von Sprechern und Sprechsitationen dienten, bekam man es in Mannheim sogleich und intensiv mit der „Mannemer“ Stadtsprache zu tun. Ein wenig überrascht bemerkte das Forscherteam, dass diese ja ein ausgewachsener Dialekt war. Es gab davon zwar eine grammatische Beschreibung in philologischer Manier, diese war jedoch schon über vierzig Jahre alt. 20 Dialekt wurde als systemfremd und als Störfaktor wahrgenommen. Die Gruppe stellte daraufhin über den begleitenden Beirat den Antrag, man möge doch möglichst bald einen Dialektologen einstellen. Die Erwartung an diesen ging in der Hauptsache in Richtung deskriptiver Phonetik und Phonologie, worin man selbst nicht ausgebildet war. Bald aber bemerkte die Gruppe, dass sie auch ohne Dialektologen-Hilfe Mannheimer Mundartproben aufnehmen, transkribieren und sozio-dialektologisch auswerten konnte. Wenn die Sprecher zwischen Dialekt und Mannheimer Hochdeutsch hin und her shifteten, nahmen sie damit hochsignifikante soziale und situative Zuweisungen vor. 21 Im Projekt DIDA („Diskurs-Datenbank“) 22 wurden standardsprachliche oder halbstandardsprachliche Dialog-Texte transkribiert und mit einheitlichen Markierungen versehen, die eine gesprächsanalytische Auswertung ermöglichen. Hierzu gehörten auch phonetische und insbesondere prosodische Markierungen. Es stellte sich dabei immer wieder die Frage, wie man mit dialektalen Passagen umgehen solle. Eine Zeit lang wurden Dialektausdrücke einfach verhochdeutscht. Das machte sich dann beim „Alignment“, der partiturähnlichen Parallelsetzung von Tonspur und Transkriptionszeile, und der Markierung künftiger Auswertungs-Kategorien störend bemerkbar. Das Programm konnte bei einem verhochdeutschten Wort die dazu gehörende sonagrafisch analysierte Passage auf der Tonspur natürlich nicht finden. 20 Bräutigam (1934). 21 Vgl. Debus/ Kallmeyer/ Stickel (Hg.) (1994/ 1995) (an mehreren Stellen, u.a. Kallmeyer/ Keim 1994). In einem der Schlussbände des Projekts (Bausch 1995) findet sich eine transkribierte Auswahl aus den über 800 angefertigten Sprachaufnahmen, darunter einige in Dialekt. Vgl. auch Fiehler/ Schröder/ Wagener (in diesem Band). 22 Näheres hierzu bei Fiehler/ Schröder/ Wagener (in diesem Band) und im Internet: http: / / www.ids-mannheim.de/ prag/ dida/ . <?page no="325"?> Dialektforschung am IDS ? 325 Es zeigte sich, dass schon beim Transkribieren phonetisch-dialektologische Kenntnisse von Vorteil wären. Sie würden es ermöglichen, Dialektales korrekt, wenn auch nur „literarisch“, also noch gar nicht in phonetischer Umschrift, zu transkribieren. Allerdings ist das Erkennen und Markieren von phonetischen oder prosodischen Merkmalen wie Tonhöhe und Tonkurven keine eigentlich dialektologische Angelegenheit. Solche Kenntnisse sind für jegliches Transkribieren, auch von Standard und standardnahen Varianten, unabdingbar. Auch beim Aussiedlerprojekt („Russlanddeutsche“) machte sich Dialekt - nicht nur als Randphänomen - bemerkbar. 23 Die nur noch rudimentären Deutschkenntnisse der älteren Rücksiedler sind in der Regel dialektal geprägt. Die Wiedereingliederung und Integration in die neue (alte) Sprachgemeinschaft erfolgt dann wiederum in einem (neuen oder anderen) Dialektgebiet. Um hier die Diskrepanzen und Interferenzen zwischen Ausgangssprache (Russisch, antiquiert-dialektalem Basis-Deutsch) und der neuen Zielsprache (Hochdeutsch, aktueller Regionaldialekt) überhaupt wahrzunehmen und adäquat zu beschreiben, bedarf es schon expliziter analytischer Sprachkenntnisse sowohl in der oder den Ausgangssprachen als auch in der Zielsprache. An beiden Polen sind Dialekte oder dialektgefärbte Misch-Varietäten anzutreffen. Dennoch ist auch das Aussiedlerprojekt kein eigentlich dialektologisches. Dialekt ist eines von vielen anderen Themen innerhalb des Problemfeldes „Integration“. Bei der „Stadtsprache“ hatte der Dialekt die Funktion der sozialen Symbolisierung. Beim Rücksiedler-Projekt mussten Dialekte als Störfaktoren und seltener als Vorteil bei der Wiedererlernung der deutschen Standardsprache mit in Betracht gezogen werden. Dass für die Beschreibung solcher Integrationsvorgänge und -probleme spezielle phonematische und morphologische, ja überhaupt Kenntnisse über die grammatische Struktur des Stör- oder Hilfsdialektes nützlich sind, zeigen die differenzierten Analysen. 24 Neben dem Spracharchiv beherbergt das IDS noch andere „Erbschaften“, die nicht zum Kernbereich der gegenwartsbezogenen Aufgaben gehören. Die neue Satzung von 1997 erweitert zwar den Objektbereich „deutsche Sprache“ um die historische Dimension: „in ihrem gegenwärtigen Gebrauch und 23 Berend (1998), Meng (2001) und Reitemeier (2003). 24 Vgl. Berend (1998); ebenso nützlich waren natürlich Kenntnisse über die russische Sprache. Hier waren die eigene Herkunft einerseits (Berend) oder die russische Sprachkompetenz aus ehemaliger DDR -Zeit (Meng) von einigem Nutzen. <?page no="326"?> Heinrich Löffler 326 in ihrer neueren Geschichte“, 25 womit de facto die Entwicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, der Nachkriegszeit und danach der Zeit vor und nach der „Wende“ gemeint war. Durch die Übernahme von Sprachwissenschaftlern aus der ehemaligen Akademie in Ostberlin 26 erfuhr der historische Aspekt der Gegenwartssprache eine merkliche Intensivierung. Dazu passte, dass zwei externe lexikografische Projekte, das Fremdwörterbuch von Schulz/ Basler und das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, am IDS bereits Gastrecht hatten. 27 Beide Lexika arbeiten im Grunde mit historischem Material. Vor allem beim Frühneuhochdeutschen Wörterbuch ist zusammen mit der historischen Dimension auch eine dialektgeografische gegeben. Mit zunehmender Dauer erwiesen sich diese angeblichen Fremdkörper oder Erbschaften als integrierbare Komponenten innerhalb der auf die Gegenwartssprache bezogenen Projekte, die neben systemischen Schwerpunkten zunehmend auch die Vielfalt der Varietäten in den Blick nahmen. Zu deren Erklärung und Deutung ist dann sowohl sprachhistorische als auch sprachgeografische, d.h. dialektologische Faktenkenntnis von einigem Vorteil. Allmählich veränderte sich auf diese Weise der Gegenstand des IDS und rundete sich ab: zu der geschriebenen Standardsprache und deren Struktur kamen die gesprochene Standardsprache und die situativen und arealen Varianten, zu denen auch dialektgefärbte und dialektale Varietäten und deren Gebrauchsformen und -anlässe gehören, hinzu. Mit der Erweiterung des Blicks vom Sprachsystem hin zu den Sprachverwendern und deren Intentionen und ihrem Verhalten in Situationen gelangten alle Facetten des Sprachgebrauchs und deren Deutungsmöglichkeiten ins Visier. Obwohl das IDS also im Besitz des einmaligen deutschen Spracharchivs mit tausenden von Dialektproben aus allen Gegenden des Sprachgebiets ist, gibt es am IDS kein eigentlich dialektologisches Forschungsprojekt. Die Zielsetzung des IDS war ursprünglich ausgesprochen dialekt-frei oder dialekt-fern formuliert. Dennoch sind Dialekte und Dialektales wenn nicht Ziel von Analysen, so doch eine immer mit zu beachtende Komponente der Gesamtsprachwirklichkeit. 25 Satzung vom 10.7.1997, vgl. IDS -Jahrbuch 1997 (Kämper/ Schmidt (Hg.) 1998, S. 440). 26 Vgl. den Beitrag von Grosse (in diesem Band). 27 Deutsches Fremdwörterbuch (1995ff.); Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1986ff.). <?page no="327"?> Dialektforschung am IDS ? 327 Selbst die Grossprojekte der Deutschen Grammatik 28 und das im Stadium der fortgeschrittenen Pilotphase befindliche digitale Wörterbuch elexiko 29 können nicht ganz davon absehen, dass Standardabweichungen sehr schnell einmal ausser der rein stilistischen und situativen Variation auch regionale und dialektale Wurzeln haben, auch wenn diese nicht explizit markiert sind. Das implizite Wissen über dieses dialektale „Rhizom“ 30 auch der deutschen Standardsprache ist zumindest kein Nachteil bei der vollständigen und adäquaten Beschreibung des Deutschen, auch wenn die Arbeitsbereiche und deren Abgrenzung zwischen Mannheim und Marburg inzwischen wieder klarer geregelt sind. Literatur Bausch, Karl-Heinz (1995): Auskünfte über Mannheim. Textausschnitte aus ethnographischen Interviews. In: Debus/ Kallmeyer/ Stickel (Hg.) (1994-1995), Bd. 2, S. 344-511. Berend, Nina (1998): Sprachliche Anpassung. Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Russlanddeutschen. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 14). Biere, Bernd Ulrich (1989): Das Institut für deutsche Sprache: Gründung - Entwicklung - Arbeitsschwerpunkte. In: IDS (Hg.) (1989), S. 7-17. Bräutigam, Kurt (1934): Die Mannheimer Mundart. Heidelberg. Debus, Friedhelm/ Kallmeyer, Werner/ Stickel, Gerhard (Hg.) (1994/ 1995): Kommunikation in der Stadt. (Bd. 1 (1994): Kallmeyer, Werner (Hg.): Exemplarische Analysen des Sprachverhaltens in Mannheim; Bd. 2 (1995): Kallmeyer, Werner (Hg.): Ethnographien von Mannheimer Stadtteilen; Bd. 3 (1995): Keim, Inken: Kommunikative Stilistik einer sozialen Welt „kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Mit zwei Beiträgen von Werner Kallmeyer; Bd. 4 (1995): Schwitalla, Johannes: Kommunikative Stilistik zweier sozialer Welten in Mannheim-Vogelstang.). Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.1- 4.4). 28 Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997). 29 Vgl. hierzu den Beitrag von Haß (in diesem Band). 30 „Der Begriff Rhizom (v. griech.: rhizoma das Eingewurzelte) bezeichnet: • in der Botanik ein Sprossachsensystem, siehe Rhizom (Botanik). • in der Philosophie [z.B. bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, H.L.] eine nichtdichotomische Struktur, siehe Rhizom (Philosophie).“ ( http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rhizom , Stand: September 2006) . <?page no="328"?> Heinrich Löffler 328 Deutsches Fremdwörterbuch (1995ff.): Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler. Bearb. von Gerhard Strauß (Leitung), Elke Donalies u.a. 2. Aufl., völlig neu bearb. im Institut für deutsche Sprache. Berlin/ New York. Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.) (2005): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? Jahrbuch 2004 des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin/ New York. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1986ff.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begr. von Robert R. Anderson. Hrsg. von Ulrich Goebel und Oskar Reichmann. Berlin/ New York. Haas, Walter/ Wagener, Peter (1992): Gesamtkatalog der Tonaufnahmen des Deutschen Spracharchivs. 2 Bde. Tübingen. (= Phonai 38/ 39). IDS (Hg.) (1989): Institut für deutsche Sprache 25 Jahre. Mannheim. IDS -Jahrbuch 1968 (1969): Sprache. Gegenwart und Geschichte. Probleme der Synchronie und Diachronie. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 5) IDS -Jahrbuch 1970 (1971): Sprache und Gesellschaft. Beiträge zur soziolinguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Hans Neumann u. Hugo Steger hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 13). IDS -Jahrbuch 1974 (1975): Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik. Gemeinsam mit Hans Eggers, Johannes Erben, Odo Leys u. Hans Neumann hrsg. von Hugo Moser. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 36). Kämper, Heidrun/ Schmidt, Hartmut (Hg.) (1998): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Jahrbuch 1997 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. Kallmeyer, Werner/ Keim, Inken (1994): Phonologische Variation in der Filsbachwelt. In: Debus/ Kallmeyer/ Stickel (Hg.) (1994-1995), Bd. 1, S. 141-249. Knetschke, Edeltraud/ Sperlbaum, Margret (Hg.) (1983): Deutsches Spracharchiv. 2. Aufl. Mannheim. (= Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 6). Lautbibliothek (1958-1964): Lautbibliothek der deutschen Mundarten. Hrsg. vom Deutschen Spracharchiv. Göttingen. 1(1958)-35(1964), fortgeführt als „Phonai“ (siehe dort). Löffler, Heinrich (2003): Dialektologie. Eine Einführung. Tübingen. Meng, Katharina (2001): Russlanddeutsche Sprachbiografien. Untersuchungen zur sprachlichen Integration von Aussiedlerfamilien. Unt. Mitarb. von Ekaterina Protassova. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 21). <?page no="329"?> Dialektforschung am IDS ? 329 Phonai (1969ff.): Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch. Tübingen. [Untertitel früher: „Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten“, dann ab 1984 „Lautbibliothek der deutschen Sprache“.]. Reitemeier, Ulrich (2003): Sprachliche Integration von Aussiedlern im internationalen Vergleich. Mannheim. (= amades. Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 2/ 03). Ruoff, Arno (1973): Grundlagen und Methoden der Untersuchung gesprochener Sprache. Tübingen. (= Idiomatica 1). Stickel, Gerhard (Hg.) (1997): Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen. Jahrbuch 1996 des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. Wagener, Peter (1997): Nach 40 Jahren. Zu individuellen Veränderungen gesprochener Sprache. In: Stickel (Hg.), S. 291-307. Wagener, Peter (1999): Niederdeutsch im Wandel. Eine Panelstudie zum Wandel des gesprochenen Deutsch in realer Zeit. In: Niederdeutsches Jahrbuch 122, S. 45-66 Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7). <?page no="331"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 1. Die Herausbildung gesprochener Sprache als Untersuchungsgegenstand Überspitzt könnte man sagen, dass der modernen deutschen Sprachwissenschaft seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert nichts ferner lag als die Beschäftigung mit der Erscheinungsform von Sprache, die uns am selbstverständlichsten und vertrautesten ist: ihr spontaner mündlicher Gebrauch im Alltag. Daran konnte auch Otto Behaghel mit seinen programmatischen Aussagen zu gesprochenem und geschriebenem Deutsch 1 als je eigenen gleichwertigen Forschungsgegenständen zunächst nichts ändern. Gemeinhin gliederte die Germanistik ihren Gegenstand weiterhin in Schriftsprache, Mundart und Umgangssprache, und nicht, wie Behaghel vorschlug, in geschriebenes und gesprochenes Deutsch; und Umgangssprache war der Sammelbegriff für alles, was nicht den hochbzw. schriftsprachlichen Normen entsprach, ob es sich nun um Gesprochenes oder Geschriebenes handelte. Zwischen Schriftsprache und gesprochener Hochsprache wurde nicht systematisch unterschieden. ‘Gute’ gesprochene Hochsprache galt faktisch als Schriftsprache und ‘echte’ gesprochene Sprache wurde deutlich negativ ausgegrenzt. Diese Situation, wie sie Eduard Engel in seiner „Deutschen Stilkunst“ von 1911 treffend charakterisierte, galt eigentlich unverändert bis in die Nachkriegszeit: Die Schriftsprache gilt in Deutschland für das eigentliche Ideal der Sprache; durch eine breite tiefe Kluft von ihr geschieden, führt die Sprechsprache, selbst der Gebildeten, ein verachtetes oder mißachtetes Dasein. (Engel 1911, S. 29). Es war also sicher nicht nur die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes, die einer systematischen Erforschung der Strukturen gesprochener Gegenwartsprache im Wege stand. Die technische Möglichkeit zu ihrer Konservierung 1 Vgl. Behaghel in seinem so häufig zitierten Vortrag „Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch“ (Behaghel 1899). Die Einsichten Behaghels wurden dann erst in den 60er-Jahren programmatisch neu formuliert, z.B. von Eggers (1962), Rupp (1965) oder Steger (1967). <?page no="332"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 332 gab es immerhin schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. 2 Hauptgrund für das fehlende Interesse war sicherlich eine germanistische Sprachwissenschaft, die in Forschung und Lehre vor allem an historischen Sprachzuständen interessiert war und an der Geschichte der einzelnen Laute und Formen, eine im Wesentlichen diachrone Sprachwissenschaft also. Das gesprochene Wort war lange Zeit allenfalls Gegenstand der Dialektologie und eine Domäne von Sprecherziehung und Sprechkunde, und hier oft als rezitierte Schrift, nicht als spontane Mündlichkeit. Ferdinand de Saussure mit seinen „Cours de Linguistique Générale“ (Saussure 1916) 3 und der amerikanische Strukturalismus mit ihren Ideen einer synchronen Linguistik, einer Linguistik, die gegenwärtige Sprachen in ihrem System beschreibt, hatten in der Germanistik große Widerstände zu überwinden. Hinzu kam die Abschottung der deutschen Germanistik gegen internationale Entwicklungen und die Isolation in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg. Die ‘neue’ Linguistik setzte sich entsprechend erst langsam in der Nachkriegszeit durch, zunächst in grammatischen Beschreibungen der geschriebenen Sprache. Zu nennen sind etwa Hans Glinz, Hennig Brinkmann oder Johannes Erben. 4 Und erst in den 60er-Jahren entstanden - auf Tonaufzeichnungen basierend - die ersten empirischen Arbeiten zur Syntax der gesprochenen Sprache. 5 Nachdem die Germanistik sich so langsam der Beschäftigung mit natürlicher gesprochener Gegenwartssprache zuwandte und die akustische Konservierung von mündlicher Sprache keinerlei technische Probleme mehr bereitete, musste noch eine weitere Voraussetzung geschaffen werden: Allein die beliebige Reproduzierbarkeit des Gesprochenen - ob in Echtzeit oder zerdehnt - erlaubt noch keine wirklich verlässlichen und überprüfbaren Analysen der vorhandenen Strukturen. So oft man einen Ausschnitt auch zurückspulen und noch einmal hören mag, letztlich muss der Linguist für seine Analyse ‘den Zug anhalten’, um genau hinschauen zu können. Mit anderen Worten: Außer der Tonkonserve braucht er die Verschriftlichung, die Transkription. 2 Edisons Phonograph aus dem Jahre 1877 gilt als eines der ersten funktionsfähigen Tonaufzeichnungsgeräte; vgl. http: / / www.movie-college.de/ filmschule/ filmtheorie/ ton-geschichte.htm (Stand: September 2006). 3 1916 nach dem Tod Saussures als Vorlesungsnachschrift herausgegeben und 1931 ins Deutsche übersetzt. 4 Vgl. Glinz (1952), Erben (1958) und Brinkmann (1962). 5 Vgl. Zimmermann (1965) und Leska (1965). Für einen Überblick über die Entwicklung der Gesprochene-Sprache-Forschung siehe Betten (1977, 1978). <?page no="333"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 333 Entsprechend mussten also für die Analyse der gesprochenen Sprache Transkriptionssysteme entwickelt werden, die eine vergleichbare Notierung und Segmentierung des sprachlichen Kontinuums gewährleisten; die regeln, wie wichtige Aspekte von Mündlichkeit wiedergegeben werden, etwa Intonation oder Satzmelodie, besondere Betonungen und Tonhöhenbewegungen, Variationen in Lautstärke und Tempo, Verschleifungen zwischen Wörtern, Pausen, besondere Tonqualität, simultanes Sprechen bzw. Überlappungen zwischen Beiträgen, dialektale Besonderheiten in der Aussprache, nichtverbale Ereignisse, die zum Verständnis wichtig sind, usw. 6 Nur eine entsprechend verschriftlichte Aufnahme kann dann, immer zusammen mit der Tonaufnahme, wissenschaftlich analysiert werden. 7 Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, über welche Stationen die Analyse gesprochener Sprache dauerhafter Bestandteil der Arbeit des Instituts für Deutsche Sprache wurde. Zunächst werden die Anfänge im Rahmen der Forschungsstelle für gesprochene Sprache in Kiel und Freiburg dargestellt (Kap. 2.). Sodann werden die Arbeit der Abteilung „Gesprochene Sprache - Analyse und Dokumentation“ (Kap. 3.) und die Ansätze zu einer Grammatikschreibung für gesprochene Sprache charakterisiert, die aus dieser Abteilung hervorgegangen sind (Kap. 4.). Abschließend werden die Bemühungen des Instituts um die Dokumentation, Archivierung und Bereitstellung gesprochensprachlicher Daten und Materialien beschrieben, wie sie vor allem im Deutschen Spracharchiv (DSAv) und in der Datenbank Gesprochenes Deutsch (DGD) ihren Ausdruck finden (Kap. 5.). 2. Die Arbeit der Forschungsstelle Freiburg des IDS: Dokumentation und Analyse gesprochener Standardsprache im Projekt „Grundstrukturen der deutschen Sprache“ 2.1 Die Forschungsstelle Freiburg: Anfang und Ende Was als „Freiburger Arbeiten zur gesprochenen Sprache“, als „Freiburger Modell“ oder „Freiburger Ansatz“ in die jüngere Geschichte der Germanistik 6 Vgl. etwa zum gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT Selting et al. (1998) oder das Transkriptionssystem des Instituts für Deutsche Sprache in Fiehler/ Barden/ Elstermann/ Kraft (2004). Zu einer Übersicht über frühe Transkriptionssysteme siehe Ehlich/ Switalla (1976). 7 Eine knappe Erläuterung zu Transkriptionen und in welchem Verhältnis sie zur Aufnahme stehen, findet sich bei Schröder (1997, S. 11ff.). <?page no="334"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 334 eingegangen ist, begann eigentlich in Kiel. Wie eingangs beschrieben, war Mitte der 1960er-Jahre die Zeit reif für die erste systematisch angelegte grammatisch-lexikalische Beschreibung der gesprochenen Gegenwartssprache, und so richtete das IDS bereits im Jahre 1965 - auch auf Initiative des Goethe-Instituts, Hugo Stegers und Werner Winters - eine Außenstelle für gesprochene Sprache an der Universität Kiel ein, deren Aufgaben der Aufbau eines Korpus zur gesprochenen deutschen Gegenwartssprache und ihre grammatische Analyse waren und die ab Herbst 1966 den Auftrag bekam, innerhalb des Projekts „Grundstrukturen der deutschen Sprache“ den Bereich der gesprochenen Sprache zu übernehmen. Werner Winter begleitete die Arbeiten beratend bis zum Umzug der Außenstelle nach Freiburg im Jahre 1968. Hugo Steger hat die Außenstelle (ab 1968: „Forschungstelle Freiburg. Angeschlossen dem Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität“) bis zu ihrer sukzessiven Auflösung und Eingliederung in die Abteilung „Grammatik und Lexik“ der Zentrale in Mannheim Mitte der 70er-Jahre geleitet. So weit die nüchternen Fakten zu einer Einrichtung, die nur knapp eine Dekade Bestand haben sollte, bis sie Rationalisierungsmaßnahmen zum Opfer fiel, und in der Anfang der 70er-Jahre bis zu acht Wissenschaftler und sechzehn studentische Hilfskräfte mit ungeheurem Einsatz, viel Begeisterung, beachtlicher Kreativität und Produktivität sowie viel nationaler und internationaler Beachtung sprachwissenschaftliches Neuland beackerten. Der Einfachheit halber, nachdem die Kieler Anfänge gebührend gewürdigt sind, sprechen wir im Folgenden von „den Freiburger Arbeiten“ oder „dem Freiburger Projekt“. 2.2 Hintergrund des Freiburger Projekts Das Freiburger Projekt war also ein Teilvorhaben innerhalb des Projekts „Grundstrukturen der deutschen Sprache“, 8 das gemeinsam vom Goethe-Institut und vom Institut für Deutsche Sprache ausgearbeitet worden ist. Die Grundidee war die Verbesserung des Unterrichts des Deutschen als Fremdsprache. Ausgangspunkt der Überlegungen war eine verbreitete Unzufriedenheit mit den vorhandenen Lehrwerken (mit ihren oft überholten Grammatikkonzepten) und mit Beispielsätzen und -texten, die sich im Wesentlichen an literarischen Stilnormen vergangener Jahrhunderte orientierten. Autoren des 20. Jahrhunderts und auch Trivialliteratur sollten Eingang finden in die 8 Vgl. dazu in den Beitrag von Ortner/ Ortner/ Wellmann (in diesem Band). <?page no="335"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 335 Lehrwerke, aber genauso Gebrauchsprosa der Gegenwart und eben auch gesprochene Gegenwartssprache und ihre linguistische Beschreibung. Die geschriebene Sprache sollte in Mannheim untersucht werden, die gesprochene in Freiburg, und der didaktischen Arbeitsstelle des Goethe-Instituts in München war es vorbehalten, die Ergebnisse der Mannheimer und Freiburger Forschungen didaktisch aufzubereiten für das Schreiben von Lehrwerken für den Fremdsprachenunterricht. 2.3 Der konkrete Projektauftrag Das Freiburger Projekt hatte innerhalb des Vorhabens „Grundstrukturen der deutschen Sprache“ die Aufgabe, die im Mannheimer Institut durchgeführten grammatischen und stilistischen Analysen zu geschriebener Gegenwartssprache für die gesprochene Gegenwartssprache zu überprüfen, zu modifizieren und gegebenenfalls zu erweitern. Dabei waren die grammatischen Fragestellungen durch den Projektrahmen bereits festgelegt: Passiv, Vergangenheitstempora, präsentische und futurische Tempora, Konjunktiv- und Modusgebrauch, Wortstellung sowie Satzbaupläne. Die Ausrichtung des gesamten Vorhabens war streng empirisch. Erwartet wurden entsprechend neben systematischen Beschreibungen zu den einzelnen grammatischen Phänomenen vor allem auch Aussagen über konkrete Verwendungsweisen und Vorkommenshäufigkeiten grammatischer Formen und Muster in der gesprochenen Standardsprache der Gegenwart. Die gesprochene Sprache nur im Kontrast zur geschriebenen zu sehen und von grammatischen Kategorien auszugehen, die für die Beschreibung des schriftsprachlichen Verbalsatzes herausgebildet worden sind, waren äußerst restriktive Vorgaben für die Freiburger Arbeiten und beeinträchtigten die Möglichkeiten, den grammatischen Organisationsprinzipien von Mündlichkeit wirklich auf die Spur zu kommen, von Beginn an in systematischer Weise. 9 9 Diese Problematik war den am Projekt Beteiligten durchaus bewusst; vgl. Schröder (1973, S. 37ff.). Ähnliche Einschränkungen gelten für Leska (1965); wegweisend hätte schon damals die Arbeit von Zimmermann (1965) sein können, der z.B. - nicht belastet durch die Vergleichs- oder Kontrastperspektive - den schriftsprachlichen Verbalsatz mit seinen Satzgliedern als übergeordnetes Organisationsprinzip auch für mündliche Sprache aufgibt und auf diese Weise zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu Einsichten in das Funktionieren von Mündlichkeit kommt, die auch heute noch gelten. <?page no="336"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 336 2.4 Die Einlösung des Projektauftrags Zunächst einmal: Alles, oder fast alles, war Neuland für die Freiburger: die Beschaffung bzw. das Herstellen von Tonaufnahmen, die Archivierung und Dokumentation von Aufnahmen und Transkriptionen, die Entwicklung eines Transkriptionssystems und das Anfertigen von Transkriptionen - das praktische Transkribieren also -, sowie die analytische Arbeit mit Tonaufnahme und Transkript. Beginnen wir mit den Problemen der Beschaffung bzw. dem Herstellen von Tonaufnahmen. Auftragsbedingt wählten die Freiburger für das Projekt die mündliche Variante des Deutschen, die in mehr oder weniger öffentlichen Situationen verwendet wird: mit dem Anspruch, überregional verstanden und akzeptiert zu werden, mit einer gewissen Toleranz für regionale phonetische, lexikalische und syntaktische ‘Einfärbungen’, soweit diese eben nicht die überregionale Akzeptanz beeinträchtigen - kurz, ein Sprachgebrauch, wie er auch in überregional ausgestrahlten Rundfunk- und Fernsehsendungen oder etwa im Bundestag üblich ist. Standardsprache nannte das Freiburger Projekt diesen Sprachgebrauch und ihre Benutzer Standardsprachensprecher. 10 Als Problem erwies sich auch, was als gesprochene Sprache akzeptiert werden sollte. Die Freiburger gingen von einer konsequent medialen Definition aus, nach der Gesprochenes gegenüber Geschriebenem dichotomisch nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen abgrenzt wurde. In der praktischen Projektarbeit aber wurde diese konsequente Trennung wieder zurückgenommen, indem man zusätzliche Kriterien für ‘echte’ Mündlichkeit benutzte; wie etwa, dass vorher Aufgezeichnetes, länger Vor-Memoriertes (für einen Vortrag etwa) oder durch Vers, Reim oder Melodie Gebundenes nicht 10 Vgl. dazu etwa Steger (1971), der noch von „deutscher gesprochener Gebrauchshochsprache“ spricht, Schröder (1973, S. 12ff.) und Schank/ Schönthal (1976, S. 14f.). Obwohl es sicherlich sinnvoll war, sich vom Konzept der Hochsprache mit ihrer Nähe zu einer kodifizierten Hochlautung zu lösen, ist auch das Konzept der Standardsprache nicht unproblematisch. Was wir hier mit einer sehr vorsichtigen Wiedergabe vielleicht verdecken, nämlich wie stark vorurteilsverhaftet auch dieses Konzept ist, kommt in einer Definition von Standardsprache, wie sie Mitarbeiter der Forschungsstelle an anderer Stelle liefern, deutlicher zum Ausdruck: „Standardsprache: Deutsche Gegenwartssprache, die in öffentlichen Kommunikationssituationen von sozial führenden Gruppierungen gesprochen, in bestimmten Fällen von anderen Gruppierungen übernommen, die überregional eingesetzt und verstanden wird.“ (Funk-Kolleg Sprache 2, S. 313f.). <?page no="337"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 337 als „gesprochen“ gelten sollte (vgl. Steger 1967, S. 262). Schröder (1973, S. 9) versuchte zwar, zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansätzen zu vermitteln, konnte aber damit letztlich nicht überdecken, dass das Freiburger Projekt für die Definition seines Gegenstandes zu keiner eindeutigen Lösung gefunden hat. Darüber hinaus entschieden sich die Freiburger, nur Tonaufnahmen solcher mündlicher Situationen ins Korpus aufzunehmen, die nicht eigens für linguistische Zwecke arrangiert waren. 11 Außerdem sollten nur Situationen berücksichtigt werden, in denen die Tatsache der Aufnahme den Beteiligten entweder nicht bewusst oder aber selbstverständlicher Bestandteil der Situation war. All dies bedeutete, dass das Freiburger Projekt nur bedingt auf bereits vorhandene Tonaufnahmen zurückgreifen konnte. Das galt auch für die Aufnahmen in den Archiven der Rundfunkanstalten, die häufig für Sendezwecke geschnitten waren und darüber hinaus oft nicht den Freiburger Kriterien für ‘echte’ Mündlichkeit entsprachen. Entsprechend haben die Projektmitarbeiter dann eine Fülle von Live-Sendungen in Rundfunk und Fernsehen mitgeschnitten und selbst in den unterschiedlichsten Situationen aufgenommen. Insgesamt erwies sich die Beschaffung von Aufnahmen und das Herstellen eigener Aufnahmen als wesentlich aufwändiger als zu Beginn des Projekts angenommen: das Erschließen von Aufnahmemöglichkeiten, die Durchführung der Aufnahmen, das Klären von möglichen rechtlichen Vorbehalten gegenüber wissenschaftlicher Auswertung und Publikation, das Aufspüren von geeigneten Tonaufnahmen in den unterschiedlichen Archiven, die Recherchen zur Qualität und zum Zustandekommen der Aufnahmen, die Verhandlungen und Gespräche mit den für die Aufnahmen Verantwortlichen über Überlassung und Nutzung; ganz zu schweigen von den technischen Herausforderungen, die Mitarbeiter und Studierende der Forschungsstelle zu bewältigen hatten, ohne dafür ausgebildet zu sein. Vollständiges Neuland für das Freiburger Projekt war das Transkribieren oder Verschriftlichen von gesprochener Sprache für grammatische und lexikalische Analysen und entsprechend die Entwicklung eines Verfahrens zur Transkription. Dieses Verfahren sollte vor allem gewährleisten, dass die sprachlichen Realisierungen als Basis für die syntaktischen Beschreibungen und Erhebun- 11 In bewusster Abgrenzung z.B. gegenüber dem sog. Pfeffer-Korpus (vgl. Kap. 5.) oder auch gegenüber Arbeiten von Leska (1965). <?page no="338"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 338 gen zu Vorkommenshäufigkeiten bestimmter Muster und Formen in vergleichbare Einheiten segmentiert werden. Die am schriftsprachlichen Verbalsatz orientierten grammatischen Analysekategorien, wie sie durch den Projektauftrag vorgegeben waren, ließen hier wenig Entscheidungsspielraum: Auch für die Transkription wurde der schriftsprachliche Verbalsatz zur Orientierungsgröße. Trotz eines relativ einfachen Transkriptionsverfahrens, für das sich die Freiburger schließlich entschieden, 12 erwies sich das Transkribieren als sehr zeit- und arbeitsintensiv. Neuland für das Freiburger Projekt waren auch Archivierung und Dokumentation von Tonaufnahmen und Transkripten gesprochener Sprache. Die Entwicklung der Archivierungsprinzipien stand dabei in engem Zusammenhang mit dem, was dann als Freiburger Hypothese in die Literatur eingegangen ist. Den Beteiligten war schon bald nach Beginn des Projekts klar, dass pauschale Aussagen zur gesprochenen Sprache, wie es der ursprüngliche Projektauftrag vorsah, weder sinnvoll noch möglich waren, sondern dass man nach Gesprächsformen differenzieren muss, nach den sozialen und situativen Bedingungen, unter denen gesprochen wird, kurz: den unterschiedlichen Redekonstellationen. Mit einer Reihe von Merkmalen mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen versuchte man die relevanten Erscheinungsformen von Mündlichkeit, wie sie sich in den alltäglichen und umgangssprachlichen Konzepten wie „Diskussion“, „‘small talk’/ Unterhaltung“, „Interview“, „Reportage“, „Bericht/ Erzählung“ oder „Vortrag“ spiegeln, nachvollziehbar und wissenschaftlich handhabbar zu machen. Der jeweiligen, außersprachlich definierten, 13 Redekonstellation entspricht - so die Freiburger Hypothese - auf der sprachlichen Seite das sog. ‘Textexemplar’ mit redekonstellationsabhängigen Verwendungsweisen sprachlicher Muster und Formen, aber vor allem auch mit einer redekonstellationstypischen Verteilung und Vorkommenshäufigkeit dieser Formen und Muster. Entsprechend sprach man von Redekonstellationstypen und Textsorten. Mit dieser Hypothese als Ausgangspunkt entstanden dann Untersuchungen zu präsentischen und futurischen Tempora (Dittmann 1976), zum Passiv (Schönthal 1975), zum Gebrauch von Konjunk- 12 Zu den Transkriptionskonventionen vgl. Bausch (1971) und zum Transkribieren Müller (1971). 13 Es handelt sich um eine aspektuelle Dichotomie von sprachlicher und außersprachlicher Seite; natürlich sind viele der außersprachlichen Dimensionen nur über die sprachlichen Hervorbringungen zu erschließen. <?page no="339"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 339 tiv und Modus (Bausch 1979) und zur Wortstellung (Schröder 1977). Heuristische Funktion für die Freiburger Arbeiten hatten darüber hinaus die Staatsexamensarbeit von Karl-Helge Deutrich zu ‘Kriterien von Spontaneität’ in gesprochenen Texten (Deutrich 1968) und die Magisterarbeit von Ute Elmauer mit einem Vergleich von ‘gesprochenen Texten und deren verschriftlichter Version’ (Elmauer 1969). Im Zusammenhang mit dem Projekt entstanden schließlich zwei weitere Untersuchungen zum Freiburger Ansatz, und zwar zur Verteilung und Funktion von sogenannten Parenthesen (Bayer 1973) und zum Zusammenhang von redekonstellativen Bedingungen und sprachlichen Realisierungen für die Textsorte „Interview“ (Berens 1975). 2.5 Leistungen und Beschränkungen der Freiburger Arbeiten zur gesprochenen Sprache Wenig kritisiert worden - oft sogar gelobt - ist die Entscheidung, sog. Standardsprache zum Gegenstand der Untersuchungen und des Korpus zu machen. Aus heutiger Sicht mit einer noch sensibleren Einstellung zu Fragen der Empirie, zu Authentizität und zu Fragen unbewusster Normierungen stellt sich das Konzept der Standardsprache - trotz der beanspruchten größeren Liberalität im Verhältnis zu früheren Konzepten von Hoch- und Umgangssprache - als künstlich dar, als Konstrukt und als willkürlicher Eingriff in gängige alltägliche Kommunikationspraxis. Niemand spricht Standardsprache und der Standardsprachensprecher existiert allenfalls als Produkt gewisser Rhetorikkurse, wie sie teilweise noch in der Industrie üblich sind. Vielmehr benutzt auch der überregional akzeptabel verbalisierende Sprecher Mundartnahes, Mundartliches oder Fremdsprachliches, 14 benutzt die unterschiedlichsten sozialen Stilniveaus und setzt das Mittel des ‘code-switching’ bewusst ein. Vielleicht war dies ja mit dem Konzept der Standardsprache eigentlich auch gemeint. Die Projektpraxis aber spricht eine andere Sprache: Sie blendete kommunikativ-funktional Relevantes willkürlich aus bzw. markierte es als ‘Besonderheit’ oder ‘Abweichung’. Insgesamt haben die restriktiven Vorgaben für die grammatischen Analysekategorien die Chancen der Freiburger Arbeiten, dem Phänomen Mündlichkeit wirklich auf die Spur zu kommen, stark beeinträchtigt. Es mutet aus heutiger Sicht schon paradox an, dass aus Gründen der Kontrastierbarkeit 14 Alles Phänomene, die in den Freiburger Transkripten markiert wurden, um sie für die Analysen ausschließen zu können. <?page no="340"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 340 mit Schriftsprache genau die Einheiten und Phänomene aus den Beschreibungen ausgeschlossen wurden, 15 die gemeinhin als typisch mündlich gelten, wie Abbrüche, Konstruktionsmischungen, verblose Einheiten, Anreden, Diskurspartikel und Interjektionen oder z.B. sog. Parenthesen, also Einschübe aller Art. Überspitzt könnte man von in Projektform geronnenem Schriftsprachenbias sprechen - und das im Zusammenhang mit dem ersten großangelegten Projekt zur gesprochenen deutschen Gegenwartssprache überhaupt. Hier hatte Zimmermann (1965) bereits einen anderen Weg aufgezeigt. 16 Aus der heutigen Sicht der Autoren erscheint die dichotomische Trennung von Sprachlichem und Außersprachlich-Situationellem und dem entsprechenden korrelativen Konzept von Redekonstellationstyp und Textsorte wenig sinnvoll. Die Freiburger benutzten ein Situationskonzept, das dem Handeln der Beteiligten äußerlich war, statt eines Situationskonzepts, das davon ausgeht, dass kommunikative Situationen von den Beteiligten interaktiv hergestellt und prozessiert werden. Darüber hinaus wurde die sprachliche Seite, das Textexemplar, nicht einmal als etwas in spezifischer Weise Strukturiertes gesehen, wie es z.B. für die Beschreibung schriftlicher Gattungen immer schon üblich war, sondern als eine Ansammlung von sprachlichen Formen und Mustern mit einer spezifischen Verwendungsweise und Distribution der unterschiedlichen Typen. Vom alltäglichen Wissen um die grundsätzlichen Unterschiede zwischen kommunikativen Praktiken wie Erzählung, Diskussion, Unterhaltung, Vortrag, Predigt, Interview oder Reportage ging das Freiburger Projekt ja aus. Dieses Wissen kann nicht näher durch Quantifizierungen zu isolierten sprachlichen Formen und Mustern expliziert werden. Wie gesagt: Es erscheint uns aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, wie man sich so weit von der dynamischen und multimodalen Wirklichkeit kommunikativer Praktiken entfernen konnte, um sie wissenschaftlich zu beschreiben. 17 Als bleibende Leistungen des Freiburger Projekts können festgehalten werden: Der Aufbau eines umfangreichen, nach Gesprächsformen geordneten und sorgfältig dokumentierten Korpus mit Tonaufnahmen und Transkripten 15 Daran ändert auch Bayer (1973) nichts: Die Untersuchung war nicht Teil der Projektarbeit. 16 Vgl. Anm. 9. 17 Aus Gründen historischer Fairness merken wir gerne an, dass statistische Annäherungen an literarische Stile in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchaus Gang und Gäbe waren - Ausdruck eines falschen am herrschenden naturwissenschaftlichen Paradigma orientierten Objektivitätsanspruchs auch an die Humanwissenschaften. <?page no="341"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 341 gesprochener deutscher Gegenwartssprache, das auch heute noch seinesgleichen sucht, 18 und der erste großangelegte empirische Versuch, „grammatische und lexikalische Besonderheiten der gesprochenen Sprache gegenüber der geschriebenen herauszuarbeiten“ (Fiehler/ Barden/ Elstermann/ Kraft 2004, S. 13, Anm. 2). Das Freiburger Projekt hat entsprechend großen Anteil daran, dass sich die grammatische Beschäftigung mit gesprochener deutscher Gegenwartssprache als eigenständiger Bereich in der germanistischen Forschung und Lehre etablieren konnte und dass endlich Beschreibungen und Beispiele von authentischer Mündlichkeit in Grammatiken und Sprachlehrbücher Eingang fanden. 19 Es ist nicht zuletzt auch Hugo Steger und der Forschungsstelle Freiburg zu verdanken, dass die gesprochene Sprache in der germanistischen Linguistik nicht länger eine Domäne von Dialektologie einerseits und Sprecherziehung und Sprechkunde andererseits ist. Darüber hinaus - zwar mit aller Vorsicht formuliert - hatten die Freiburger Arbeiten auch eine soziolinguistische Dimension: Viele der einschlägigen und viel diskutierten Untersuchungen zum Zusammenhang von Sprache, sozialer Schicht und schulischer bzw. gesellschaftlicher Benachteiligung oder Privilegierung, wie sie gerade Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre entstanden sind, bedachten weder in ihren empirischen Versuchen noch in den theoretischen Ansätzen den Einfluss, den die jeweilige soziale Situation (quasi als intervenierende Variable) auf das Sprachverhalten hat und schlossen viel zu generell und undifferenziert auf Zusammenhänge zwischen Sprache und sozialer Schicht. Die Freiburger Arbeiten waren ein starkes Argument, wenn es darum ging, die soziale Situation als vernachlässigte Komponente ins Spiel zu bringen. Entsprechend haben sich die Mit- 18 Ausgewählte transkribierte Tonaufnahmen aus dem Freiburger Korpus wurden in der Reihe „Heutiges Deutsch II“ veröffentlicht (siehe Texte gesprochener deutscher Standardsprache I-IV); 222 transkribierte Aufnahmen des Freiburger Korpus wurden darüber hinaus digitalisiert und 207 von ihnen sind in alignierter Form über die Datenbank Gesprochenes Deutsch ( DGD ) zugänglich (vgl. dazu unten Kap. 5.). 19 Entsprechend schätzt auch die jüngste Forschung zur gesprochenen Sprache die Freiburger Arbeiten ein: „So ist die Karriere des Begriffs „gesprochene Sprache“ in der Bundesrepublik untrennbar mit dem Freiburger Projekt verbunden [...]. Dieses Projekt war zugleich einer der Ausgangspunkte für die so genannte Gesprochene-Sprache-Forschung in der Bundesrepublik, für die eben nicht der Prozess des Sprechens und die Interaktion des Gesprächs im Vordergrund steht, sondern die grammatisch-lexikalische Analyse von Produkten mündlicher Sprachproduktion.“ (Fiehler/ Barden/ Elstermann/ Kraft 2004, S. 13, Anm. 2) <?page no="342"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 342 arbeiter der Forschungsstelle intensiv in die soziolinguistische Diskussion der 1970er-Jahre eingeschaltet und mit dem Freiburger Modell z.B. auch einen zentralen Teil des Kapitels zur Soziolinguistik im „Funk-Kolleg Sprache“ ausgefüllt. 20 Viele der Begrenzungen des Grundstrukturen-Projekts wurden dann überwunden in dem direkten Folgeprojekt „Dialogstrukturen“, ein DFG-Projekt Hugo Stegers zur Linguistik des Dialogs, das Aspekte der Dynamik mündlicher Situationen zu modellieren versuchte und an dem Mitarbeiter des Grundstrukturenprojekts beteiligt waren. Und es überrascht nicht, dass drei ehemalige Freiburger Mitarbeiter 21 am ersten gesprächsanalytischen Projekt des IDS („Beratungsgespräche - Analyse asymmetrischer Dialoge“) beteiligt waren, mit dem sich 1979 die neue Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ im Institut etablierte. Das Ungenügen an einer rein grammatisch-lexikalisch orientierten Gesprochene-Sprache-Forschung stand Pate und natürlich vor allem die gerade in Deutschland frisch rezipierte ethnomethodologische Konversationsanalyse. 3. Die Abteilung „Gesprochene Sprache - Analyse und Dokumentation“ Die Analyse mündlicher Kommunikation und gesprochener Sprache war im Institut für Deutsche Sprache nach der Auflösung der Forschungsstelle Freiburg (und nach einer Übergangsphase, in der die Abteilung „Grammatik und Lexik“ zuständig war) Aufgabe der Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ und wurde dort in einer Reihe von gesprächsanalytisch und soziolinguistisch ausgerichteten Forschungsprojekten betrieben (siehe u.a. die Projekte „Beratungsgespräche“, „Schlichtungsgespräche“ und „Kommunikation in der Stadt“). 22 Nach der Vergrößerung des Instituts (durch die Aufnahme von 22 Sprachwissenschaftler(inne)n des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR) im Jahr 1992 wurde diese Aufgabe organisatorisch entflochten und auf die Abteilung „Verbale 20 Vgl. Steger/ Schütz (1973) und Deutrich/ Schank (1973). 21 Karl-Heinz Bausch, Franz-Josef Berens und Peter Schröder. 22 Zu den Ergebnissen des Beratungsprojekts siehe Nothdurft (1984), Schröder (1985) und Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994). Zum zweiten großen gesprächsanalytischen Projekt „Schlichtung“ vgl. Röhl (1987), Nothdurft (Hg.) (1995), Nothdurft (1996) und Schröder (1997). Die Ergebnisse des Stadtprojekts sind zusammengefasst in Debus/ Kallmeyer/ Stickel (Hg.) (1994/ 1995). <?page no="343"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 343 Interaktion“ und die neu eingerichtete Abteilung „Gesprochene Sprache - Analyse und Dokumentation“ verteilt, wobei die angestrebte Arbeitsteilung schon in der jeweiligen Namenwahl zum Ausdruck kommt. Gegenstand der Arbeiten in der Abteilung „Gesprochene Sprache“ waren - zunächst unter der Leitung von Ludger Hoffmann - die Systematik und die Regularitäten des Gebrauchs der sprachlichen Mittel in der gesprochenen Sprache sowie die arealen, sozialen und funktionalen Varietäten der gesprochenen Sprache. Ab Juni 1994 bis zur erneuten Strukturreform des Instituts im Jahr 1997, bei der die Anzahl der Abteilungen halbiert und die Abteilungen „Verbale Interaktion“ und „Gesprochene Sprache“ zusammengelegt wurden, leitete Reinhard Fiehler die Abteilung. Die Arbeit der Abteilung gruppierte sich um drei Schwerpunkte: - Untersuchungen zu grammatischen Phänomenen, die spezifisch für gesprochene Sprache sind, - Untersuchungen zu einzelnen Varietäten sowie - die Dokumentation und Archivierung der Sprachaufnahmen und Gesprächskorpora des Instituts im Rahmen des Deutschen Spracharchivs (hierzu vgl. Kap. 5.). Nach dem Wechsel in der Abteilungsleitung konzentrierten sich die Arbeiten auf die Projekte „Zur sprachlichen Integration von Aussiedlern“ und „Eigenschaften gesprochener Sprache“. Im Projekt „Zur sprachlichen Integration von Aussiedlern“ wurde untersucht, wie sich russlanddeutsche Aussiedler in die Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft integrieren, die sie in Deutschland vorfinden. Arbeitsschwerpunkte waren dabei (a) phonologische, lexikalische und syntaktische Veränderungen, die in der russlanddeutschen Varietät der Aussiedler auftreten, wenn sie mit den innerdeutschen Sprachvarietäten konfrontiert werden, (b) die Zweisprachigkeit in Aussiedlerfamilien und ihre Auswirkungen auf den Spracherwerb der Kinder sowie (c) sprachliche Mittel und kommunikative Verfahren der Identitätsarbeit, die Aussiedler und ihre Gesprächspartner in Kommunikationssituationen leisten. Die Ergebnisse des Projekts sind in den Monografien Berend (1998), Meng (2001) und Reitemeier (2005) dokumentiert. <?page no="344"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 344 Das Projekt „Eigenschaften gesprochener Sprache“, dessen Ergebnisse in dem Band Fiehler/ Barden/ Elstermann/ Kraft (2004) vorliegen, verfolgte drei Zielsetzungen: - Theoretisches Ziel war die Charakterisierung der Spezifik mündlicher Kommunikation und gesprochener Sprache. - Methodologisches Ziel war die Reflexion grammatischer Analyse- und Beschreibungskategorien und die exemplarische Entwicklung von für die Beschreibung gesprochener Sprache angemessenen Kategorien. - Empirisches Ziel war die Analyse und Beschreibung von speziellen grammatischen Phänomenen der gesprochenen Sprache, insbesondere der Operator-Skopus-Struktur (s.u.). In Auseinandersetzung mit den vielfältigen Ansätzen bei der Erforschung gesprochener Sprache in den letzten dreißig Jahren - selbstverständlich auch mit dem Ansatz des oben behandelten Freiburger Projekts, aber auch mit gesprächsanalytisch-interaktionistischen Positionen - erarbeitete die Projektgruppe eine eigenständige theoretische Konzeptualisierung ihres Gegenstandes „gesprochene Sprache“. Die Kernbestandteile dieses Verständnisses wurden in elf Thesen zusammengefasst: 01) Obwohl „gesprochene Sprache“ ein weit verbreiteter und geläufiger Begriff ist, sind sein Status als linguistische Kategorie und seine theoretischen Implikationen nicht hinreichend reflektiert. 02) Mündliche Verständigung erfolgt in einer Vielzahl unterschiedlicher Grundformen, den kommunikativen Praktiken. Stellt man sich dies vor Augen, so wird deutlich, dass das generalisierende Konzept der gesprochenen Sprache und die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache spezifische Abstraktionen darstellen, die in ihrem Status und ihrer Funktion geklärt werden müssen. 03) Zu konstatieren, dass es gesprochene Sprache - und als Gegenstück dazu: geschriebene Sprache - gibt, birgt die Gefahr der Verdinglichung. Um dieser Gefahr zu entgehen, muss die Tatsache bewusst gehalten werden, dass es sich um eine spezifische Abstraktion handelt. 04) Gesprochene Sprache und geschriebene Sprache sind distributionell wie funktional differenzierte Verständigungsformen. Die Sichtweise, dass sie zwei Formen bzw. Ausprägungen einer Sprache seien, verdunkelt diesen Status. <?page no="345"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 345 05) Ein medial-extensionales Verständnis von gesprochener Sprache und Mündlichkeit ist erforderlich, um Verkürzungen und Verzerrungen zu vermeiden und das Spektrum kommunikativer Praktiken entlang grundlegender Unterschiede differenzieren zu können. 06) Gesprochene Sprache ist gekennzeichnet durch eine große Vielfalt und Varianz. Dies hat zur Folge, dass gesprochene Sprache wegen ihrer Uneinheitlichkeit nicht als Ganzes beschrieben werden kann. Beschrieben werden können einerseits die allgemeinen Eigenschaften, die sich aus den Grundbedingungen mündlicher Verständigung ergeben, und andererseits die Spezifik einzelner kommunikativer Praktiken. 07) Um spezifische Eigenschaften gesprochener Sprache bestimmen zu können, ist es zunächst erforderlich, die Grundbedingungen mündlicher Verständigung herauszuarbeiten. Alle wesentlichen Eigenschaften gesprochener Sprache lassen sich aus diesen Grundbedingungen herleiten. 08) Die Bestimmung spezifischer Eigenschaften gesprochener Sprache ist nicht möglich ohne einen Vergleich. Der Vergleichsgegenstand wie die Operation des Vergleichens bedürfen genauerer methodologischer Reflexion. 09) Das schriftsprachlich dominierte Sprachbewusstsein und am Schriftlichen entwickelte Analyse- und Beschreibungskategorien behindern gravierend eine angemessene Erfassung gesprochener Sprache. 10) Für eine angemessene Analyse gesprochener Sprache bedarf es anstelle einer Produktorientierung einer Prozessorientierung. 11) Die Kategorie Operator-Skopus-Struktur ermöglicht es, ein Phänomen der gesprochenen Sprache gegenstandsangemessen und übergreifend zu beschreiben. Sie fasst Ausdrucksklassen und Konstruktionen unter einem gemeinsamen Dach zusammen, zwischen denen bisher keine Beziehungen gesehen wurden. Ein wesentliches, die theoretische Arbeit leitendes Konzept war das der kommunikativen Praktiken. Kommunikative Praktiken sind Formen sozialer Praxis. Es handelt sich um gesellschaftlich herausgebildete, konventionalisierte Verfahren zur Bearbeitung rekurrenter kommunikativer Zwecke. Jede Gesellschaft verfügt für die Verständigung über ein spezifisches Repertoire solcher kommunikativen Praktiken, das sich historisch herausgebildet hat. <?page no="346"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 346 Dieses Konzept ist die Voraussetzung für eine medial-extensionale Sichtweise, die alle Formen mündlicher Verständigung in den Blick nimmt und sich nicht auf prototypische Formen beschränkt. Kommunikative Praktiken lassen sich auf der Basis der spezifischen Ausprägungen der folgenden Grundbedingungen charakterisieren und vor allem auch gegeneinander abgrenzen: (1) Kurzlebigkeit/ Flüchtigkeit, (2) Zeitlichkeit, (3) Anzahl und Größe der Parteien, (4) Kopräsenz der Parteien und Gemeinsamkeit der Situation, (5) Wechselseitigkeit der Wahrnehmung, (6) Multimodalität der Verständigung, (7) Interaktivität, (8) Bezugspunkt der Kommunikation, (9) Institutionalität, (10) Verteilung der Verbalisierungs- und Thematisierungsrechte und (11) Vorformuliertheit von Beiträgen. Ein besonderes Problem bei der Beschäftigung mit gesprochener Sprache stellten die Analyse- und Beschreibungskategorien dar. Das gesellschaftliche Sprachbewusstsein wie auch die Sprachwissenschaft unterliegen einem „written language bias“ (Linell 1982). Dies bedeutet nicht nur, dass geschriebene Sprache ihr zentraler Untersuchungsgegenstand ist, sondern dass als Folge dieses Bias eine Tendenz besteht, gesprochene Sprache auf der Folie geschriebener zu verstehen. Dies betrifft insbesondere auch die grammatischen Kategorien, die zur Beschreibung und Analyse von gesprochensprachlichen Phänomenen verwendet werden. Diese Kategorien sind für die Beschreibung geschriebener Sprache funktional, für die im Bereich des Mündlichen anzutreffenden Phänomene jedoch nur bedingt geeignet. Die Übertragung der Kategorien führt so vielfach zu der Erfahrung, dass sie den Eigencharakter des Mündlichen nicht erfassen. Sie bedürfen einer Reinterpretation, die prozess- und handlungsorientiert die kommunikative Funktion von sprachlichen Mitteln oder Strukturen rekonstruiert und expliziert. Exemplarisch wurde eine solche Reinterpretation für die Kategorie „Linksversetzung“ (z.B. die brigitte die kann ich schon gar nicht leiden) geleistet. Auch die für die geschriebene Sprache zentrale Kategorie „Satz“ wurde einer Reinterpretation unterzogen und durch die Kategorie „funktionale Einheit“ ersetzt. Dies ist eine Teilnehmerkategorie, die danach fragt, an welchen Stellen die am Gespräch Beteiligten in der online-Prozessierung eines Beitrags zu der Auffassung kommen können, dass etwas auf eine Weise abgeschlossen ist, dass ihm - als Einheit - eine kommunikative Funktion zugeschrieben werden kann. Die Gesprächsbeteiligten betrachten genau das als elementare Einheit, dem sie eine Funktion im und für den Kommunikations- <?page no="347"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 347 prozess zuschreiben können. Funktionale Einheiten sind die kleinsten Bestandteile des Beitrags, denen eine solche (separate) Funktion zukommt. Sie können satzförmig sein, müssen es aber nicht. Im Zentrum der empirischen Analysen standen Operator-Skopus-Strukturen. Operator-Skopus-Strukturen sind - formal betrachtet - spezifische zweigliedrige Einheiten, deren einer Bestandteil, der Operator, aus einem Wort oder einer kurzen Formel besteht, und deren anderer Bestandteil, der Skopus, eine potenziell selbstständige Äußerung darstellt. Inhaltlich qualifiziert der Operator den Skopus in spezifischer Weise. Er gibt - funktional betrachtet - dem Hörer eine Verstehensanleitung oder -anweisung, wie die Äußerung in seinem Skopus aufzufassen ist. In dem Beispiel: kurz und gutwir können uns das * a"benteuer nicht leisten gibt der Operator kurz und gutdem Hörer den Verstehenshinweis, dass die Äußerung in seinem Skopus wir können uns das * a"benteuer nicht leisten ein Resümee ist. Operator-Skopus-Strukturen scheinen in den letzten Jahren stark zu expandieren und zunehmend aus dem Bereich des Mündlichen auch in schriftliche Texte einzudringen. Das Konzept der Operator-Skopus-Struktur stellt den Versuch dar, für Phänomene, die bislang sehr unterschiedlich beschrieben worden sind, auf einer allgemeineren Ebene einen gemeinsamen Beschreibungsrahmen zu finden, wobei die übergreifende Gemeinsamkeit im Konstruktionsprinzip von Operator und Skopus gesehen wird. 4. Grammatik gesprochener Sprache Einen Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Bearbeitung gesprochener Sprache am Institut für Deutsche Sprache stellt das Bemühen dar, den Besonderheiten der gesprochenen Sprache einen größeren und systematischen Stellenwert im Rahmen der Grammatikschreibung zu verschaffen. Diese Bemühungen haben sich zum einen materialisiert in dem Kapitel „Zur Grammatik von Text und Diskurs“ in der „Grammatik der deutschen Sprache“ des IDS, verfasst von Ludger Hoffmann (Hoffmann 1997), und zum anderen in dem Kapitel „Gesprochene Sprache“ in der 7. Auflage der Duden-Grammatik, verfasst von Reinhard Fiehler (Fiehler 2005). Grundlegend für den Ansatz von Hoffmann ist die Unterscheidung von Text und Diskurs und damit von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die in den Abschnitten C2 bzw. C3 des Kapitels bearbeitet werden. Zentral ist dabei seine These der Textbzw. Diskurssensitivität von sprachlichen Mitteln. So wer- <?page no="348"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 348 den im Abschnitt C4 sprachliche Phänomene behandelt, die für die Verwendung in Diskursen oder Texten sensitiv sind. Dazu gehören diskursspezifische Formen wie etwa die Interjektionen, für die spezifische Tonverläufe charakteristisch und funktionsdifferenzierend sind. Deiktische Ausdrücke zeigen unterschiedliche Bedeutungen, je nach Verwendung in Diskursen (mit den Ressourcen der Sprechsituation, gemeinsamer Wahrnehmung usw.) oder in Texten (etwa im Verweis auf Elemente des Textrahmens, vorhergehende oder folgende Textpassagen). Schließlich werden in diesem Abschnitt auch spezifische Konstruktionen behandelt, die sich aus Reparaturversuchen und Planmodifikationen der Sprecher ergeben und in Texten so nicht möglich sind (Ellipsen, Anakoluthe). Eingeleitet wird das Kapitel durch den Abschnitt C1, in dem Sprache unter dem Aspekt kommunikativen Handelns betrachtet wird. Damit wird eine Grundlage für die funktionale Sicht in der Grammatik gelegt. Der Abschnitt C5 behandelt eine zentrale Aufgabe, die im Diskurs zu leisten ist: die Organisation des Sprecherwechsels. Der text- und diskursübergreifende Aspekt der thematischen Organisation wird im Abschnitt C6 bearbeitet. Spezielle Aspekte sind dabei Thema und Rhema, Thematisierung, Themafortführung und Themenentwicklung. Ausgangspunkt für Fiehlers Kapitel „Gesprochene Sprache“ in der Duden- Grammatik ist die Beobachtung, dass die Unterscheidung von gesprochener und geschriebener Sprache üblicherweise für Grammatiken nicht zentral ist, weil sie beanspruchen, „die“ Sprache (bzw. „das“ Sprachsystem) als solche(s) zu beschreiben. Dies bedeutet jedoch in der Regel, dass sie sich unter der Hand auf die Beschreibung konzeptionell schriftlicher Sprache beschränken. Traditionelle Grammatik ist im Wesentlichen eine Grammatik der Schriftsprache. Phänomene der gesprochenen Sprache werden nicht eigenständig, sondern nur punktuell als Ergänzung oder Abweichung von den Verhältnissen in der geschriebenen Sprache thematisiert, wie z.B. lautliche Besonderheiten der gesprochenen Sprache (Wegfall von Lauten, Verschmelzungen), Wortklassen, die überwiegend in der gesprochenen Sprache vorkommen („Diskursmarker“), oder spezielle syntaktische Konstruktionen (z.B. weil/ obwohl/ wobei/ während mit Verbzweitstellung). Behandelt werden also besonders auffällige Einzelphänomene. Sie werden zudem häufig als „ungrammatisch“, „umgangssprachlich“ oder „salopp“ bezeichnet (Hennig 2001). <?page no="349"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 349 Die zentrale Frage, die beantwortet werden muss, wenn man sich einer Grammatik der gesprochenen Sprache annähern will, ist die nach dem Gegenstandsbereich. Betrachtet man vorliegende Grammatiken, so konvergieren die meisten darin, dass sie die Einheiten einer Sprache beschreiben. Sie bearbeiten dabei drei Aufgaben: 1) Sie beschreiben die grundlegenden Einheiten einer Sprache und deren Eigenschaften. 2) Sie beschreiben die Regularitäten des Aufbaus dieser Einheiten. 3) Sie beschreiben die Möglichkeiten der Verknüpfung von Einheiten. Dies wirft die Frage nach den grundlegenden Einheiten der geschriebenen und der gesprochenen Sprache auf. Grundlegende Einheiten der geschriebenen Sprache sind - nach zunehmender Größe geordnet: - Der Buchstabe. Er ist in Alphabetschriften die elementare Konstruktionseinheit. - Das Wort. Es ist das zentrale Element, um sprachlich auf die Welt Bezug zu nehmen. - Der Satz. Er ist die elementare Aussageeinheit. - Der Text. Er ist die in sich abgeschlossene, schriftliche kommunikative Einheit. Während über die grundlegenden Einheiten der geschriebenen Sprache weitgehend Konsens bestehen dürfte, fällt die Antwort auf diese Frage bei der gesprochenen Sprache weit weniger einheitlich aus. Entsprechend sind auch sehr unterschiedliche Grundeinheiten benannt worden. Versucht man eine Parallelisierung der Einheiten von geschriebener und gesprochener Sprache, so entsprechen den Buchstaben dann die Laute, dem geschriebenen das gesprochene Wort und dem Text als kommunikativer Einheit das Gespräch. Diese Parallelisierung erscheint soweit problemlos - bis auf den Punkt, dass das Gespräch nicht in gleicher Weise aus Sätzen besteht, wie der Text. An diesem Punkt entzieht sich die gesprochene Sprache aufgrund ihres Eigencharakters einer einfachen Analogisierung. An die Stelle des Satzes treten der Gesprächsbeitrag, den Sprecher abwechselnd beim Führen eines Gesprächs leisten, und funktionale Einheiten, aus denen sich die einzelnen Gesprächsbeiträge zusammensetzen. Fragt man also nach den <?page no="350"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 350 grundlegenden Einheiten der gesprochenen Sprache, so sind die folgenden zu nennen: - der Laut; - das Wort; - die funktionale Einheit; - der Gesprächsbeitrag; - das Gespräch. Kommt man auf die oben gegebene Aufgabenbestimmung von Grammatik zurück, so hat eine Grammatik gesprochener Sprache die fünf genannten grundlegenden Einheiten zu beschreiben, die Regularitäten ihres Aufbaus darzustellen und die Möglichkeiten ihrer Verknüpfung auszuarbeiten. Eine Grammatik gesprochener Sprache hat damit weitgehend andere Grundeinheiten zu beschreiben als die der geschriebenen Sprache: Es sind dies also der Laut, die funktionale Einheit, der Gesprächsbeitrag und das Gespräch. Bei der gemeinsamen Einheit „Wort“ ist, da in der gesprochenen Sprache aufgrund ihrer lautlichen Struktur andere Regularitäten bestehen, zu prüfen, inwieweit es (u.a. durch Elision und Kontraktion) auf die gesprochene Sprache beschränkte, reguläre Wortformen sowie eine spezifische Ungleichverteilung von Wörtern bzw. Wortklassen gibt. Mit den Kapiteln von Ludger Hoffmann und Reinhard Fiehler sind so wichtige Schritte zur systematischen Berücksichtigung der gesprochenen Sprache in der Grammatikschreibung gemacht worden. 5. Das IDS als zentrale Dokumentationsstelle für gesprochenes Deutsch: Das Deutsche Spracharchiv und die Datenbank Gesprochenes Deutsch 5.1 Das Deutsche Spracharchiv (DSAv) 1970 wurde die Integration des Deutschen Spracharchivs ins Institut für Deutsche Sprache eingeleitet. Zu diesem Zeitpunkt bestand das Archiv schon fast vier Jahrzehnte lang. Begründet im Jahre 1932 in Berlin von dem Psychiater und Phonetiker Eberhard Zwirner hatte es eine wechselvolle Geschichte hinter sich: In den 30er-Jahren wurden erste Sammlungen von Tonaufnahmen angefertigt, von Zwirners psychiatrischen Patienten zum Beispiel, und - in einem Vorgriff auf die Soziolinguistik der 70er-Jahre - von <?page no="351"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 351 Bergleuten in schlesischen Kohlebergwerken. Im 2. Weltkrieg gingen die inzwischen nach Braunschweig verbrachten Bestände in einem Bombenangriff weitgehend verloren. Mitte der 50er-Jahre gelang ein neuer Start: In zwei breit angelegten Aufnahmeaktionen wurden in einer beispielhaften Kooperation zahlreicher Universitäten und Forschungsstätten unter der Federführung des DSAv fast 7.000 Tonaufnahmen deutscher Dialekte aus der damaligen Bundesrepublik und von Migranten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten erhoben. Sowohl für die Aufnahme wie auch für die Dokumentation und Archivierung der Tonbänder wurden hohe Standards festgelegt und über die Jahrzehnte für die meisten Aufnahmen eingehalten. Die Tonaufnahmen erfolgten mit professionellem Equipment in Rundfunkqualität, durchgeführt von einem sprachwissenschaftlich geschulten Aufnahmeleiter und aufgezeichnet von einem Toningenieur; die dokumentarischen Begleitdaten erfassten weitgehend die soziale und persönliche Situation und die Herkunft der Sprecherinnen und Sprecher und die Archivierung erfolgte sachgerecht auf geeigneten Tonträgern in klimatisierten Räumen. Mit der Emeritierung Zwirners als Phonetiker in Köln wurde die Weiterführung des inzwischen in Bonn angesiedelten DSAv als eigenständige Institution problematisch. Es wurde nach Interimslösungen schließlich als Bonner Außenstelle des IDS geführt und 1980 dann nach Mannheim verlegt. 23 Da das IDS zwar die gesprochene Sprache, nicht aber die Dialektologie im engeren Sinne zu ihrem Gegenstandsbereich zählte, 24 verlief die Integration des DSAv ins IDS nicht ohne Reibungsverluste. Erst in den 90er-Jahren gelang es, einen umfassenden Modernisierungsprozess des DSAv in Gang zu setzen, um es zu einem Zentrum für die Bereitstellung von Korpora des gesprochenen Deutsch zu entwickeln, das über ein Instrumentarium zur Erschließung und Analyse sämtlicher Tonaufnahmebestände des IDS auf der Basis von moderner Ton- und Computertechnologie verfügt. 25 Die gegenwärtigen Bestände sind in mehr als dreißig Korpora organisiert; das sind einerseits die Kernbestände des DSAv, die erhoben und eingeworben wurden, um die areale Variation des gesprochenen Deutsch umfassend zu repräsentieren. Zu den wichtigsten Korpora mit binnendeutschen Varietä- 23 Vgl. Bethge (1976) und Knetschke/ Sperlbaum (1983). Eine detaillierte Historiografie des Deutschen Spracharchivs steht noch aus. 24 Vgl. den Beitrag von Löffler (in diesem Band). 25 Vgl. Wagener (2002). <?page no="352"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 352 ten gehören die bereits erwähnten, zwischen 1955 und 1965 aufgenommenen dialektalen Korpora: − ZW (= Deutsche Mundarten: Zwirner-Korpus, ca. 5.800 Tonaufnahmen), 26 − OS (= Deutsche Mundarten: ehemalige deutsche Ostgebiete, 984 Tonaufnahmen), 27 − DR (= Deutsche Mundarten: DDR, 1.625 Tonaufnahmen, zwischen 1960 und 1964 unter der Leitung von Hans-Joachim Schädlich erhoben vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften der DDR); 28 ferner die beiden folgenden Korpora zu überregionalen Varietäten: − KO (= Deutsche Standardsprache: König-Korpus, 43 Tonaufnahmen), 29 − PF (= Deutsche Umgangssprachen: Pfeffer-Korpus, 398 Tonaufnahmen). 30 Neben den binnendeutschen gibt es eine ansehnliche Anzahl von Tonaufnahmen auslandsdeutscher Varietäten (vor allem „Emigrantendeutsch in Israel“, „Deutsch in Nordamerika“, „Brasiliendeutsche Mundarten“, „Russlanddeutsche Mundarten“, „Rumäniendeutsche Mundarten“). Diese Korpora sind in externen Projektzusammenhängen entstanden und dem IDS zur Integration übergeben worden. Eine systematische Erhebung weiterer auslandsdeutscher Varietäten steht noch aus. Im Zuge der Modernisierung wurden die Kernbestände des DSAv zur arealen Variation im Laufe der Zeit erweitert um eine Reihe von Korpora zur verbalen Interaktion, die hauptsächlich im Rahmen von Forschungsprojekten des IDS entstanden und nach Abschluss der Projekte dem DSAv zur Archivierung übergeben wurden. 26 Weitere Informationen zu allen hier exemplarisch aufgeführten Korpora finden sich in der Datenbank Gesprochenes Deutsch (s.u.). Das Korpus ZW wurde in der vor-elektronischen Zeit des DSAv als Korpus I/ ... geführt und ist auch im Gesamtkatalog des DSAv schriftlich dokumentiert, vgl. Haas/ Wagener (1992). 27 Das Korpus OS wurde als Korpus IV / ... geführt, vgl. Haas/ Wagener (1992) sowie Bellmann/ Göschel (1970). 28 Vgl. Schädlich/ Große (1961) sowie Schädlich/ Eras (1964 und 1965). 29 Auf bestimmten Teilen des König-Korpus (Wortlisten) basiert der Ausspracheatlas, vgl. König (1989). 30 Vgl. Pfeffer/ Lohnes (1984). <?page no="353"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 353 Die ältesten und bekanntesten Bestände aus diesem Bereich sind die Korpora − FR (= Grundstrukturen: Freiburger Korpus, 222 Tonaufnahmen fürs Archiv ausgewählt) und − DS (= Dialogstrukturen, 72 Tonaufnahmen), die beide von der Forschungsstelle Freiburg des IDS erhoben und ausgewertet wurden. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die Gesprochene- Sprache-Forschung in Deutschland wurden sie in diesem Beitrag gesondert behandelt (vgl. Kap. 2.). Im Rahmen von Forschungsprojekten der ehemaligen Abteilungen „Sprache und Gesellschaft“ und „Wissenschaftliche Dienste“ des IDS sind die folgenden Korpora entstanden: − BG (= Beratungsgespräche, 134 Tonaufnahmen); 31 − MA (= Stadtsprache Mannheim, 840 Tonaufnahmen); 32 − SG (= Schlichtungs- und Gerichtsverhandlungen, 9 Videoaufnahmen, 197 Tonaufnahmen); 33 − EU (= Genese von „Eurotexten“: Verhandlungen und Interviews in einer EG-Institution, 112 Tonaufnahmen). 34 Noch nicht abgeschlossen sind die Erhebungen für das Korpus − GF (= Gespräche im Fernsehen: Talkshows, Diskussionen, Interviews, annähernd 400 Videoaufnahmen, 34 Tonaufnahmen). Insgesamt summieren sich die Bestände des DSA v auf mehr als 17.000 Tonaufnahmen, die ein ansehnliches Spektrum der gesprochenen Sprachwirklichkeit des gegenwärtigen Deutschen abbilden. Dieses Spektrum ist allerdings nicht repräsentativ, sondern weist clusterhafte Verdichtungen auf, während andere Bereiche nur spärlich oder gar nicht vertreten sind. Angesichts des hohen Aufwands, der für die Herstellung von Tonaufnahmen auch mit verbesserter und handlicherer Technik erforderlich ist, wird der große Wert des Mannheimer Archivs deutlich. Diese Sammlungen konstituieren ein einzigartiges Archiv, dessen Chancen und Möglichkeiten erst allmählich mit der Erschließung durch die jetzt zur Verfügung stehende Technologie einem größeren Nutzerkreis bewusst werden. 31 Vgl. Nothdurft (1984), Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994), Schröder (1985). 32 Vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994), Kallmeyer (Hg.) (1995), Keim (1995), Schwitalla (1995). 33 Vgl. Nothdurft (Hg.) (1995), Nothdurft (1996), Röhl (Hg.) (1987), Schröder (1997). 34 Vgl. Born/ Schütte (1995). <?page no="354"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 354 Unterteilt man den sprachwissenschaftlichen Forschungsprozess - einer „Logik der Forschung“ 35 folgend - in die Phasen Datenerhebung, -aufbereitung, -analyse und -interpretation, 36 lässt sich für das „Projekt“ Deutsches Spracharchiv resümieren, dass die Phase der Datenerhebung insgesamt vorbildlich und mit reichem Ertrag durchgeführt werden konnte, dass aber die von Beginn an vorgesehene Phase der Datenaufbereitung sehr viel aufwändiger und zeitraubender war als erwartet; so dass z.B. für das Zwirner- Korpus „nur“ ca. 4.000 Transkripte angefertigt wurden, davon gut die Hälfte als hochsprachliche Umschriften (die für die Integration in die „Datenbank Gesprochenes Deutsch“ jedoch sehr geeignet sind, s.u.), die anderen als literarische oder phonetische Transkriptionen. Ursprünglich war geplant, für jede der fünfeinhalbtausend Tonaufnahmen drei Transkripte ( ho , lit , pho ) zu erstellen. Von den 989 Tonaufnahmen des Korpus OS wurden gut 600 verschriftet, knapp die Hälfte davon hochsprachlich. Die Phasen der Datenanalyse und -interpretation blieben - gemessen an den weiter gehenden Planungen - in den Ansätzen stecken. 37 Für die ins DSAv integrierten Korpora aus IDS-Forschungsprojekten gilt, dass in der Regel die inhaltlich-analytische Arbeit im Vordergrund stand, insbesondere in den Endphasen der Projekte. Das führte dazu, dass nur eine begrenzte Zahl von aufgenommenen Interaktionen so aufbereitet wurden, dass sie für Archiv- und Servicezwecke verwendet werden können. Für viele Aufnahmen, auch wenn sie für die inhaltliche Arbeit im Projekt eine wichtige Rolle spielten, wurden nur Rohtranskriptionen angefertigt; andere Aufnahmen wurden nur ausschnittweise nach Maßgabe bestimmter Analyseaspekte transkribiert, und für einen mehr oder weniger großen Rest wurden überhaupt keine Verschriftlichungen hergestellt. Besonders im Fall des Projekts „Stadtsprache Mannheim“ ist die Zahl der publizierbaren bzw. servicefähigen Aufnahmen und Transkriptionen gering. Die Publikationen, die mit dem Material des DSAv in verschiedenen Schriftenreihen erschienen, verdeutlichen die Aufwändigkeit dieser Form empirischer sprachwissenschaftlicher Arbeit. Eine Folge davon ist, dass auch Pro- 35 Vgl. Popper (2001). 36 Vgl. Wagener (1988, S. 14 passim). 37 Ein Ergebnis der phonometrischen Messungen ist die auf den Isophonen der Quantität basierende Gliederung der deutschen Dialekte. Vgl. dazu den Überblick und die Bibliografie der einschlägigen Publikationen Zwirners bei Knetschke/ Sperlbaum (1983). <?page no="355"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 355 dukte der Datenaufbereitung als eigenständige Leistungen veröffentlicht wurden. In der „Lautbibliothek der deutschen Mundarten“ (LDM) wurden so zwischen 1958 und 1964 in 35 Heften überwiegend Transkriptionen von DSAv-Tonaufnahmen publiziert und linguistisch-dialektologisch kommentiert. Seit 1965 wurde zunächst das Prinzip der Lautbibliothek fortgeführt in der Reihe Phonai, die in der Regel sehr viel umfangreichere Analysebände bot als die Hefte der LDM. Erst in den 1990er-Jahren erfolgte eine konzeptionelle Öffnung der Reihe, die seitdem den Untertitel „Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch“ führt. Die Erinnerung an die mühselige Arbeit mit analogen Tonbändern macht verständlich, dass die Möglichkeiten der digitalen Ton- und Computertechnik wie eine Erlösung wirkten, auch wenn die erstmalige Digitalisierung analogen Tonmaterials ihrerseits sehr aufwändig ist. Ist der Übergang erst einmal vollzogen, kann die Pflege des digitalen Archivguts weitgehend mit automatischer Unterstützung erfolgen. Dabei muss vor allem darauf geachtet werden, dass zukunftssichere Formate verwendet werden - soweit das prognostizierbar ist - und dass man sich nicht von einer einzigen Datenträgertechnologie abhängig macht. Insofern macht man sich frei von der (allemal begrenzten) Haltbarkeit von Datenträgern - die Suche nach dem „ewig“ haltbaren Datenträger wird ersetzt durch eine wohlgeplante Philosophie des „ewigen“ Datensatzes. Mithin ist der Wechsel von der analogen in die digitale Welt ein Quantensprung - der Übergang von der alten Welt in die neue ist ein Nadelöhr. Der Prozess des Übergangs begann für das DSAv am 1. Juli 1994 mit der Digitalisierung der wichtigsten Tonkorpora. 5.2 Die Datenbank Gesprochenes Deutsch (DGD) Die Digitalisierung der Tonaufnahmen, die bis heute zu den zentralen Aufgaben der Tontechniker des DSAv gehört, markierte erst den Anfang des schon erwähnten umfassenden Modernisierungsprozesses. Ziel dieses Prozesses ist die vollständige Überführung der Bestände des DSAv ins digitale Medium, also eine vollständige digitale Version des DSAv. Sehr bald wurde deshalb auch damit begonnen, die anderen Quellentypen des Archivs - die Transkripte, die dokumentarischen Daten und die protokollarischen Begleitmaterialien - durch Scannen oder Tastatureingabe in digitale Formate zu überführen. 1997 wurde dann im Rahmen eines breit angelegten und von der Volkswagen-Stiftung umfänglich geförderten Projekts die systematische <?page no="356"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 356 „Computergestützte Erfassung und Erschließung der Tonaufnahmen des Deutschen Spracharchivs zum gesprochenen Deutsch“ betrieben. Eine Hauptaufgabe des Projekts bestand darin, die digitalen, als Computerdateien vorliegenden Materialien aller drei Quellentypen (Tonaufnahmen, Transkripte, dokumentarische Daten) so aufeinander zu beziehen, dass die Arbeit mit den Archivmaterialien so weit wie möglich auf die elektronische Ebene verlagert wurde. Da die Materialien des DSAv aus ganz unterschiedlichen Quellen stammen - Korpora und Einzelaufnahmen aus vielen verschiedenen Erhebungs- und Forschungsprojekten, entstanden zwischen 1955 und 2005 - mussten für die disparaten Quellentypen vielseitig verwendbare, zugleich leicht handhabbare und zukunftssichere digitale Archivformate unter dem Dach einer einheitlichen Systematik ausgewählt bzw. entwickelt werden. Damit ist gewährleistet, dass alle Materialien, auch die in Zukunft zu integrierenden, mit den Instrumenten, Prozeduren und Werkzeugen der DGD bearbeitet werden können. Die Basis der Internetpräsentation der DGD sind einige Dutzend manuell erzeugte Webseiten, die allgemeine Informationen über die DGD geben, die Bestände, die Technik, die Nutzungsmöglichkeiten und -rechte, den Service usw. beschreiben. Die eigentlichen Archivalien werden auf einigen zehntausend automatisch aus den Archivformaten erzeugten HTML-Seiten präsentiert, die über die Korpora Auskunft geben und die Korpusbestandteile (Tonaufnahmen, Transkripte und dokumentarische Begleitmaterialien der zu Grunde liegenden Interaktionen) bieten und auf unterschiedlichen Wegen zugänglich machen. Schließlich kann mit Hilfe der Werkzeuge eine im Prinzip unbegrenzte Zahl von Webseiten und Tondateien vom Nutzer selbst erzeugt werden - als Ergebnisse seiner Datenbankrecherche und der Auswahl der Transkript(ausschnitt)e und der dazu gehörigen Tonausschnitte. Die wichtigsten Aufgaben des Projekts und die Lösungen der DGD zur Bewältigung dieser Aufgaben lassen sich der hier gebotenen Kürze wegen wie folgt punktuell gegenüberstellen: - Aufgabe: Verknüpfung der drei Quellentypen Tonaufnahmen, Transkripte, Metadaten. Lösung: Konstruktion der Datenbank, die durch Links in den Navigationsleisten das Springen von der Dokumentation zum Transkript und der damit synchronisierten Tonaufnahme einer Interaktion ermöglicht. <?page no="357"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 357 - Aufgabe: Die Suche in den gedruckten Katalogen und die Recherche mit Hilfe von umfangreichen Registern ersetzen durch schnelle Zugriffsprozeduren. Lösung: Volltextrecherche in den kompletten, digital vorliegenden und in die DGD integrierten Metadaten, gesteuert aus einer Suchmaske mit umfangreichen Auswahloptionen und Voreinstellungen. - Aufgabe: Arbeit mit den Transkripten, insbesondere das Blättern und Suchen in den getippten oder gar handschriftlichen Papierversionen erleichtern. Lösung: Überführung der Papierversionen in Dateien. Darstellung der vollständigen Transkripte am Bildschirm, als Fließtext oder bei gesprächsanalytischen Transkripten auch in Partiturschreibung. Volltextrecherche in sämtlichen Transkripten, soweit digitalisiert und in die DGD integriert, mit einer leistungsfähigen Recherchesyntax und zahlreichen einstellbaren Optionen. - Aufgabe: Abhören der auf Metallkernen oder Kunststoffspulen gelagerten analogen Tonaufnahmen, insbesondere die umständlichen Prozeduren zur Markierung von Fundstellen für Analysezwecke überflüssig machen. Lösung: Abhören von 30-sekündigen Ausschnitten der mit den zugehörigen Transkripten alignierten Tonaufnahmen online möglich, auslösbar durch Mausklick an jeder beliebigen Stelle im Transkript. Abhören der Recherchebelege aus den Transkripten möglich. Herunterladen der Tonausschnitte möglich. Aus personen- und datenschutzrechtlichen Gründen gibt es die DGD in zwei im Internet zugänglichen Versionen mit abgestuften Zugangs- und Nutzungsrechten. Völlig unbeschränkt zugänglich ist die Öffentliche Version, die die volle Funktionalität der Rechercheinstrumente und Werkzeuge bietet, aber nur einen kleinen Teil des Materials. Zehn alignierte Transkripte, bei denen die Tonaufnahme und das Transkript wortweise miteinander verknüpft sind und die so ein stückweises Abspielen der Aufnahme aus dem Transkript ermöglichen, stehen zurzeit als Beispiele in dieser seit Februar 2002 im Internet erreichbaren DGD-Version zur Verfügung. Die Adresse lautet: http: / / dsav-oeff.ids-mannheim.de <?page no="358"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 358 Von hier aus ist auch die Anmeldung für die Wissenschaftlerversion der DGD möglich, die seit April 2003 im Internet zugänglich ist. Die Wissenschaftlerversion enthält zurzeit dokumentarische Daten zu ca. 9.400 Aufnahmen und Transkripte zu mehr als 3.100 Aufnahmen, außerdem - 207 alignierte Transkripte aus dem Freiburger Korpus; - 026 alignierte Transkripte aus dem Korpus Dialogstrukturen; - 009 alignierte Transkripte aus dem Israel Korpus; - 398 alignierte Transkripte aus dem Pfeffer-Korpus; - 941 alignierte Transkripte aus dem Zwirner-Korpus. Die „Bestandsübersicht“ ( http: / / dsav-wiss.ids-mannheim.de/ DSAv/ korporab.htm ) liefert weitere Details. Die alignierten Tonaufnahmen/ Transkripte haben eine Gesamtdauer von mehr als 300 Stunden und enthalten über 2 Millionen Wortformen. Die jetzt im Internet zugänglichen digitalen Transkripte enthalten insgesamt ca. 6 Millionen Wortformen. 5.3 Der internetbasierte neue Service des DSAv Im herkömmlichen Sinne sind Archive Institutionen, die ihre Archivalien systematisch und sachgerecht aufbewahren, dokumentieren, durch Findmittel erschließen und (in der Regel zumindest teilweise) im Archiv auch Nutzern zugänglich machen. Diese Bindung an den Ort und die Beschränkung auf die direkte Nutzung wurde im DSAv schon immer partiell aufgehoben durch die Anfertigung und Verschickung von Kopien der analogen Tonaufnahmen, der Transkripte und der dokumentarischen Protokollbögen. Annähernd 60.000 Kopien von analogen Tonaufnahmen und zahlreiche Papierkopien gingen an Servicekunden im In- und vor allem im Ausland. Real gesprochenes Deutsch auf Tonbändern war schon immer ein willkommenes Mittel z.B. für den Einsatz im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht. Mit der Entwicklung der DGD wurde die Nutzung des Spracharchivs auf eine völlig neue Basis gestellt: Die Herstellung von Kopien von Transkripten und Dokumentationen erübrigt sich, sie können vom registrierten Nutzer der Wissenschaftlerversion der DGD heruntergeladen werden. Die Herstellung von Kopien der Tonaufnahmen kann für eine permanent wachsende Zahl von Korpora durch ein paar Mausklicks von studentischen Hilfskräften durchgeführt werden und wird in naher Zukunft vermutlich ebenfalls in der DGD direkt durch Herunterladen erfolgen können. <?page no="359"?> Analyse und Dokumentation gesprochener Sprache am IDS 359 Zu betonen ist, dass fast alle diese Serviceleistungen kostenlos sind und die Kosten für die digitalen Kopien sehr viel niedriger sind als bisher (sie werden zum Selbstkostenpreis abgegeben). An die Stelle des herkömmlichen Service können auf Grund der frei werdenden Kapazitäten ganz neue, auf den Bedarf des jeweiligen Nutzers abgestimmte Dienstleistungen treten, die auf der Nutzung der computergestützten Technologie basieren: Alternative Formate von Tonaufnahmen und Transkripten können auf Wunsch hergestellt werden, spezielle Anfrageprozeduren, die von der Volltextrecherche gegenwärtig (noch) nicht geleistet werden können, inhaltsorientierte Analysen einzelner Felder der Datenbank sind machbar und Aufträge zur gezielten sprachstatistischen Auswertung der vorhandenen Korpora können erteilt werden. Der Umfang der Serviceleistungen lässt sich u.a. auch an der Zahl der Zugriffe auf die Webseiten des DGD ablesen: mehr als 100.000 Zugriffe konnten seit der Freigabe der Wissenschaftlerversion im März 2003 verzeichnet werden (Stand: Juni 2005) und die Gemeinde der privilegierten Nutzer, die auch das Recht zum direkten Herunterladen von Materialien hat, wächst stetig an. 5.4 Die Perspektive: Referenzkorpus Gesprochenes Deutsch Mit seinen umfangreichen Beständen ist das DSAv das weltweit größte Archiv für gesprochenes Deutsch. Es ist darüber hinaus jetzt das weltweit einzige Spracharchiv, das einen großen Teil seiner Leistungen und Archivalien über das Internet für jedermann direkt und kostenlos zugänglich gemacht hat und das über eine Technologie verfügt, die neue komfortable Nutzungsmöglichkeiten für die Sprachwissenschaft bereit hält. Diese innovative Technologie und die umfangreichen und in dieser Zusammenstellung einzigartigen Archivalien der DGD können als Basis für anspruchsvollere korpuslinguistische Aufgaben wie die Herstellung eines Referenzkorpus des gesprochenen Deutsch dienen. Ein Referenzkorpus ist eine umfangreiche, ausgewogene und repräsentative Sammlung von digitalen Transkripten und Tonaufnahmen des gesprochenen Deutsch der Gegenwart, die im IDS systematisch und korpustheoretisch fundiert zusammengestellt, bearbeitet und online verfügbar gemacht werden könnte. Ein solches Korpus müsste die Vielgestaltigkeit des gesprochenen Deutsch repräsentieren, d.h. die areale, soziale und funktionale Vielfalt des Deutschen mit allen privaten, <?page no="360"?> Reinhard Fiehler/ Peter Schröder/ Peter Wagener 360 öffentlichen und institutionellen Varianten dokumentieren. Die vorhandenen Bestände des DSAv würden einen Teil der für ein Referenzkorpus erforderlichen Tonaufnahmen und Transkripte schon jetzt abdecken. 6. Literatur Bausch, Karl-Heinz (1971): Zur Umschrift gesprochener Hochsprache. In: Texte gesprochener deutscher Standardsprache I, S. 33-54. Bausch, Karl-Heinz (1979): Modalität und Konjunktivgebrauch in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Eine Studie zu Sprachsystem, Sprachvariation und Sprachwandel im heutigen Deutsch. München. (= Heutiges Deutsch I/ 9). Bayer, Klaus (1973): Verteilung und Funktion der sogenannten Parenthese in Texten gesprochener Sprache. In: Deutsche Sprache 1, S. 64-115. Behaghel, Otto (1899): Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: Behaghel, Otto (1967): Von deutscher Sprache. Aufsätze, Vorträge und Plaudereien. Wiesbaden. S. 11-34. Bellmann, Günter/ Göschel, Joachim (1970): Tonbandaufnahme ostdeutscher Mundarten 1962-1965. Gesamtkatalog. Marburg (= Deutsche Dialektgeographie 73). 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Einleitung Die von der DFG von 2000 bis 2004 geförderte Forschergruppe „Sprachvariation als kommunikative Praxis: Formale und funktionale Parameter“ bestand aus Projekten der Universität Mannheim (Bierbach, Gvozdanovic, Müller, Tracy/ Lattey) und dem IDS (Kallmeyer und Kallmeyer/ Keim). 2 Die in der Forschergruppe entwickelte Zusammenarbeit führte - angeregt durch die aktuellen bildungspolitischen Diskussionen im Anschluss an die Pisa- Studie (schlechte Schul- und Ausbildungsergebnisse bei Migrantenkindern, hohe Arbeitslosenquote bei Migrantenjugendlichen) - in den folgenden Praxisbereichen zu einer engen Kooperation zwischen Uni- und IDS-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern: - Gründung der „Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit“ an der Universität Mannheim (Initiative und Leitung: Rosemarie Tracy in Zusammenarbeit mit Inken Keim, Organisation: Vytautas Lemke); - Fortbildungsveranstaltungen für Erziehende und Lehrende zu „Spracherwerb, Mehrsprachigkeit und Migration“; - Entwicklung und Durchführung von Sprach- und Wissensförderung für Migrantenkinder an Mannheimer Schulen; - Gründung eines gemeinnützigen „Vereins für Sprachförderung“ zur Einwerbung von Sponsorengeldern. Im Folgenden werde ich über eine dieser Aktivitäten berichten, und zwar über die Entstehung unserer Initiative zur Sprach- und Wissensförderung von Migrantenkindern. Einige Befunde des im IDS durchgeführten Forschergruppenprojekts „Herausbildung kommunikativer Stile in türkischstämmigen 1 Für kritische Hinweise danke ich Rosemarie Tracy und Ulrich Reitemeier. 2 Vgl. dazu die Internet-Seite der Forschergruppe unter www.ids-mannheim.de/ prag/ sprachvariation/ (Stand: September 2006). <?page no="368"?> Inken Keim 368 Jugendgruppen in Mannheim“ 3 führten zu Fragen, die ich mit Sema Aslan in einer Folgeuntersuchung klären wollte: Uns interessierte, a) ab welchem Alter und unter welchen sozialen und sprachlichen Bedingungen Migrantenkinder deutsch-türkisches Mixing herausbilden, b) über welches sprachlichkommunikative Repertoire sie zu Schulbeginn verfügen und c) welche Formen von Deutsch sie im Kindergarten erwerben. Diesen Fragen wollten wir in einer ethnografschen Studie in einem Kindergarten nachgehen, der in dem von uns bereits untersuchten Migrantenwohngebiet der Mannheimer Innenstadt liegt. Die Beobachtungen und Ergebnisse aus dieser Untersuchung waren dann der Auslöser, zusammen mit Rosemarie Tracy und dem staatlichen Schulamt Mannheim die Initiative zur Förderung von Migrantenkindern ins Leben zu rufen. Ich werde zunächst das untersuchte Stadtgebiet kurz charakterisieren (Kap. 2.), dann aus der Kindergartenstudie das Sprachrepertoire der Kinder vor Schulbeginn skizzieren (Kap. 3.), im Anschluss das Förderprogramm vorstellen (Kap. 4.) und dann den sprachlich-kommunikativen Fortschritt am Ende des Förderprogramms an einem Beispiel vorführen (Kap. 5.). 2. Kurzcharakterisierung des Stadtteils Nach einer Statistik von 2001 haben 21% der Mannheimer Bevölkerung einen Migrationshintergrund; Migrant(inn)en türkischer Herkunft bilden die größte Gruppe (34%). 4 Vor allem zwei Stadtteile der Mannheimer Innenstadt haben einen hohen Anteil nicht-deutschstämmiger Bevölkerung: Der „Jungbusch“ mit fast 65% und der direkt angrenzende Stadtteil „Westliche Unterstadt“ mit ca. 47% Einwohner(inne)n nicht-deutscher Herkunft. Neben der türkischen Gruppe gibt es Migrant(inn)en slawischer, romanischer, arabischer, afrikanischer und asiatischer Sprachen. Die türkische Migrantengemeinschaft hat eine hohe Infrastruktur entwickelt; es gibt türkische Lebensmittelgeschäfte, Bäckereien, Haushaltswaren- und Kleidergeschäfte, türkische Banken und Immobilienbüros, türkische Friseure, Ärzte und Rechtsanwälte. Für alle Lebensbereiche gibt es türkische Angebote und Dienstleistungen, und man kann in diesem Stadtgebiet über Jahre leben, ohne dass Kontakte zu Deutschen notwendig werden. Aufgrund dieser Infrastruktur und der sozialen Verhältnisse werden 3 Zu den Projektpublikationen vgl. die Webseite des IDS unter www.ids-mannheim.de/ prag/ soziostilistik/ tuerkisch.html#publikationen (Stand: September 2006). 4 vgl. Beauftragter für ausländische Einwohner (Hg.) (2001). <?page no="369"?> Von der Forschung zur Praxis 369 die beiden Stadtteile sowohl von Bewohnern als auch von Außenstehenden als „Ghetto“ bezeichnet. Eine junge Informantin, die seit ihrer Kindheit dort wohnt, beschreibt das Stadtgebiet folgendermaßen: SÜ: der jungbusch * der is schrecklich ne ↑ * des is=n ghetto SÜ: (...)jeder nennt des ghetto hier * jeder * die türken auch SÜ: un die deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher SÜ: leben der normal is * wenn er geld verdient ↓ Ein türkischstämmiger Student spricht von den Ghettomenschen mit ihrer Ghettokultur, die abgeschottet in einer Subkultur leben und kaum Kontakte zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft unterhalten. Er betrachtet eine Herkunft aus dem „Ghetto“ als die Hauptursache dafür, dass türkische Jugendliche in der deutschen Schule nicht vorankommen. 5 Doch es werden auch positive Aspekte des Lebens im „Ghetto“ genannt: Die erste Migrantengeneration fühlt sich hier zuhause und auch viele Jüngere heben die Schutzfunktion des „Ghettos“ und das Gefühl, unter gleichen zu leben hervor. Da die Heiratsmigration in türkischen Familien hoch ist, sind in den meisten Familien Türkisch oder deutsch-türkische Mischungen Familiensprache. Nach einer neueren Statistik zur Schulsituation in Mannheim (vgl. Beauftragter für ausländische Einwohner (Hg.) 2001) ist der Anteil von Migrantenkindern in den Grundschulen des Stadtgebiets mit 77-90% sehr hoch. Es gibt Klassen mit Kindern aus 14 Nationen, darunter nur ein oder zwei Deutsche. Diese Situation hat erhebliche Konsequenzen für die Schulkarrieren der Kinder: Im Stadtgebiet schaffen nur ca. 15% den Übergang zu höheren Schulen (Realschule, Fachgymnasium und Gymnasium), obwohl nach Aussage der Lehrenden viele ausgesprochen intelligent sind. Die schulischen Ergebnisse der Hauptschüler sind schlecht: ca. 30% verlassen die Schule ohne Abschluss, bis zu 40% mit schlechten Abschlüssen, und nur sehr wenigen Jugendlichen - 14-15% eines Jahrgangs - gelingt es, eine Lehrstelle zu bekommen. Die jugendlichen Hauptschüler haben kaum berufliche Perspektiven und verstehen sich oft selbst als loser. 6 5 Die Beobachtung des Informanten stimmt mit Ergebnissen aus der Pisa-Studie und erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema überein. 6 Nach einem neuen Memorandum der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Marieluise Beck, bleiben 40% der Migrantenkinder ohne berufliche Qualifikation. Frau Beck bezeichnet den schlechten Bildungsstand der Kinder als „hochalarmierend“ und stellt <?page no="370"?> Inken Keim 370 Das zentrale Problem der Kinder bei Schuleintritt ist die geringe deutschsprachige Kompetenz. Da die Deutschprobleme im Regelunterricht kaum abgebaut werden können und es bisher wenige Zusatzprogramme gab, 7 vergrößern sie sich im Laufe der Zeit, weil sich der fachliche Stoff ständig ausweitet; d.h., die Schere zwischen Kompetenzen und Anforderungen geht immer weiter auseinander. Das hat Konsequenzen in allen Fächern, in denen die Kompetenz im Deutschen Voraussetzung ist. Auch in der 9. Klasse können viele Jugendliche Textaufgaben nicht lösen, weil sie den Text nicht verstehen. In krassem Gegensatz zur schulischen Realität der Kinder stehen die hohen Bildungserwartungen der türkischen Eltern, 8 die wünschen, dass ihre Kinder die Chancen, die das deutsche Bildungssystem bietet, nutzen und auch akademische Abschlüsse erreichen. 3. Untersuchung im multilingualen Kindergarten (Aslan/ Keim) 9 Unsere Untersuchung führten wir von Januar bis Juni 2003 in einer Kindertagesstätte mit damals 100% Migrantenkindern durch. Die fast 40 Kinder aus 9 Nationen, mit türkischen Kindern als der weitaus größten Gruppe, wurden von drei deutschsprachigen Erzieherinnen, darunter eine Halbtagskraft, betreut, die gelegentlich von Praktikantinnen unterstützt wurden. Gemäß dem damaligen Konzept hatten die Kinder viel Freiraum zum selbstbestimmten Spiel in Kleingruppen. Wir machten 2-3 mal pro Woche Ton- und Videoaufnahmen von Kindern, die kurz vor der Einschulung standen, und von Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern. Sema Aslan führte Interfest: „hier bahnt sich eine Katastrophe an“ (zit. nach: Mannheimer Morgen, 7.9.2005, S. 4: „Migrantenkinder zu ungebildet“). 7 Bis vor kurzem gab es in den beiden Grundschulen außer den Vorbereitungsklassen keine Sprachfördermaßnahmen. Seit gut zwei Jahren werden von kommunaler Seite aus Anstrengungen unternommen, die vorschulische und schulische Förderung von Migrantenkindern trotz geringer finanzieller Mittel zu verbessern. 8 Unsere Erfahrungen und auch die Auskünfte der Lehrenden widersprechen der in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Feststellung, dass türkische Eltern wenig Interesse an der Bildung ihrer Kinder hätten. Die von uns befragten Eltern sorgen sich sehr, dass ihre Kinder in der Schule nicht vorankommen, und sie wissen nicht, wie sie ihren Kindern helfen können. 9 Im folgenden Kapitel wird ein kleiner Ausschnitt aus dieser Untersuchung dargestellt; er basiert auf Vorträgen und Fortbildungsveranstaltungen, die Sema Aslan und ich machten. Eine ausführliche Darstellung der Untersuchung und die Analyse der aufgezeichneten Daten erfolgt in Aslans Dissertationsprojekt. <?page no="371"?> Von der Forschung zur Praxis 371 views mit den Müttern der Schulanfänger durch, hatte Gelegenheit Familienkommunikationen zu dokumentieren, und führte auch Gespräche mit den Erzieherinnen. Den zentralen Teil der Untersuchung bilden türkische Kinder. Ein Teil der Mütter sind Heiratsmigrantinnen, d.h., die Kommunikation zuhause verläuft vor allem in Türkisch; andere Mütter gehören zur zweiten Generation, sie sprechen mit den Kindern auch Deutsch oder gemischt. Das Türkisch der Kinder ist nach ersten Ergebnissen von Aslan in allen morphologisch-syntaktischen Bereichen gut entwickelt; die Breite des Wortschatzes hängt von der Wissensvermittlung zuhause ab. Die gute Entwicklung der Kinder im Türkischen zeigt, dass Türkisch als Verkehrssprache im Stadtgebiet sehr präsent ist und die Kinder ausreichend Sprachvorbilder haben. 10 Im Kindergarten gibt es zwei Typen von Spielgruppen: ethnisch homogene Gruppen vor allem unter türkischen und italienischen Kindern und multiethnische Gruppen. Beide Typen von Spielgruppen bilden unterschiedliche Kommunikationsformen aus: - in ethnisch homogenen Spielgruppen türkischstämmiger Kinder bilden sich Formen von Mixing heraus; - in multiethnischen Gruppen bilden unterschiedliche Lernervarietäten des Deutschen die lingua franca. Deutsch-türkisches Mixing in der homogenen Kindergruppe entsteht aus dem Zusammenwirken der Welt der türkischen Kindergruppe eingebettet in den deutschen Kindergarten mit deutschen Bezugspersonen. Häufig werden Zitate der deutschen Erzieherinnen (Aufforderungen, Arbeitsanweisungen, u.Ä.) und deutsche Bezeichnungen aus dem Kindergarten in türkische Äußerungen eingebettet. Die Mischungen sind sehr routiniert und stellen für die Kinder bereits eine „normale Kommunikationsform“ in der Kindergruppe dar. 11 In den folgenden Äußerungen ist in die türkische Struktur eine Anweisung der Erzieherin: Zähne putzen dedi (Zähne putzen hat sie gesagt) bzw. eine von ihr verwendete Bezeichnung: farbenkinderlar yaptılar onu (die 10 Vgl. dazu auch Cindark/ Aslan (o.J. [2004]), die das Türkisch der Jugendlichen im untersuchten Stadtgebiet beschreiben und den Jugendlichen eine gute Kompetenz im morphologisch-syntaktischen Bereich attestieren. 11 Die folgenden Beispiele stammen aus dem Korpus von Aslan; die deutschen Elemente werden fett wiedergegeben. <?page no="372"?> Inken Keim 372 Farbenkinder haben das gemacht) eingebettet. 12 Interessant ist, dass die Kinder oft auch die türkischen Lexeme für Objekte beherrschen, die in den Mischungen mit deutschen Lexemen bezeichnet werden, wie Beobachtungen in den Familien oder gezielte Nachfragen ergeben haben. Der Schrank im Kindergarten z.B., in dem die Spielsachen aufbewahrt werden, wird mit dem Wort „Schrank“ bezeichnet, das in türkische Strukturen eingebettet wird: schranka legen dedi (in den Schrank legen hat sie gesagt). Zuhause verweist dasselbe Kind auf den Schrank in seinem Zimmer, in dem Kleider verstaut sind, mit dem türkischen dolap (Schrank). D.h., mit den Erfahrungen im Kindergarten wird das Lexikon der Kinder lebensweltspezifisch ausdifferenziert: Die Dinge im Kindergarten werden mit deutschen Bezeichnungen benannt und die Dinge zuhause mit türkischen, wobei die jeweiligen Bezeichnungen unterschiedlich konnotiert sein können. Außerdem gibt es Wissen, das nur in Deutsch erworben wird, z.B. Geschichten und Spiele, die die Kinder im Kindergarten kennen lernen; und es gibt Wissen, das nur in Türkisch erworben wird, wie Wissen zu religiösen Ritualen, Festen u.Ä. Die Mixingpraxis bildet sich im Kindergarten in Stufen heraus: Zunächst werden Einwort-Insertionen (Nomina, infinite Verben in Verbindung mit finiten türkischen „tun“-Verben u.a.) oder Zitate der Erzieherinnen in türkische Strukturen eingebettet. Sobald die Kinder auch grammatisch selbstständige Strukturen in Deutsch bilden können, tauchen auch alternierende Wechselmuster auf, in denen türkische mit deutschen Strukturen abwechseln. Als Beispiel für diese Praxis sei eine gemischtsprachliche Äußerung eines sechsjährigen Jungen gegenüber der bilingualen Interviewerin (vereinfachte Transkription) angeführt: 01 TU: weihnachtsmann gelmisti * isch hab zwei cukuladen gekriegt 02 Ü der Weihnachtsmann war gekommen Schokoladen 03 TU: niye biliyon mu * weil=sch der überse/ übersetzer bin * 04 Ü weißt du warum 05 TU: en iyisi benim ya 06 Ü weil ich doch der beste bin Der erste Äußerungsteil weihnachtmann gelmisti, der in die Szene einführt, hat eine türkische Struktur, in die das deutsche Nomen „Weihnachtsmann“ 12 Als „Farbenkinder“ bezeichnen die Erzieherinnen eine Gruppe von Kindern, die mit Farben experimentieren. <?page no="373"?> Von der Forschung zur Praxis 373 eingebettet ist. Im zweiten Teil schildert der Junge das für ihn Besondere (er bekommt zwei Tafeln Schokolade); dies wird auf Deutsch formuliert. Dann folgt in Türkisch die rhetorische Frage an die bilinguale Gesprächspartnerin niye biliyon mu. Die Antwort darauf, in der der Junge das besondere Geschenk des Weihnachtsmanns begründet, besteht aus zwei Teilen: der erste in Deutsch weil=sch der übersetzer bin, der zweite in Türkisch en iyisi benim ya. Die deutschen Segmente folgen den Regeln der deutschen Grammatik (Haupt- und Nebensatzstruktur, Satzklammer, verschiedene Tempora); d.h., der Junge beherrscht bereits wesentliche Regeln des Deutschen, die er im Mixing anwendet. Solche Mixingmuster sind vergleichbar denen, die auch die von uns untersuchten Jugendlichen und jungen Erwachsenen verwenden. 13 Mixing entsteht demnach aus der stabilen Teilhabe an zwei unterschiedlichen Sozial- und Sprachwelten. Dabei dominieren zunächst insertionale Muster mit der Familiensprache als Basissprache. Mit dem Erwerb des Deutschen kommen alternierende Muster dazu. 3.1 Deutsche Lernervarietäten in der multilingualen Spielgruppe 14 Die in der multilingualen Spielgruppe verwendeten Lernervarietäten sind folgendermaßen charakterisiert: kurze, einfach strukturierte Äußerungen mit gelegentlichen Segmentierungsproblemen, Wortnot und Stottern, das Lexikon ist wenig ausgebaut. In frühen Lernervarietäten gibt es keine finiten Formen (z.B. so machen ich, Baby willen Auto spielen), die Satzklammer und die Strukturen von Nominal- und Präpositionalphrase sind noch nicht erworben (z.B. dann kind da rein machen oder haus große, die is puppenecke), Genus, Numerus und Kasus sind instabil (z.B. die macht der Kamera, die gebt die Apfel) usw. Neben solchen lernersprachlichen Formen gibt es auch grammatisch korrekte Formeln, die die Kinder von den Erzieherinnen übernehmen, wie komm wir bauen was, pass auf, mach das so, alle aufräumen. Beim gemeinsamen Spiel funktioniert die Verständigung unter den Kindern sehr gut, solange die Äußerungen sich auf die materielle Ausstattung der Situation oder auf anwesende bzw. bekannte Personen, deren Eigenschaften oder Handlungen beziehen; d.h., wenn die Referenzobjekte aus der Situation erschließbar sind und auf einem geteilten Wissen basieren. 13 Vgl. dazu u.a. Keim (2004). 14 Das im Folgenden präsentierte Material stammt aus einer von mir gemachten Videoaufnahme. <?page no="374"?> Inken Keim 374 Im folgenden Beispiel spielen Berna, ein sechsjähriges türkisches, und Isra, ein siebenjähriges arabisches Mädchen miteinander. Isra schlägt vor, aus Schaumstoffmatten ein Haus zu bauen. Sie beginnt, Matten zusammenzutragen und fordert Berna auf, ihr dabei zu helfen. Damit beginnt der Gesprächsausschnitt (vereinfachte Transkription): 01 IS: Berna * isch will bauen * wir machen des alle aufräumen * 02 IS: un wir bauen was * haus große <jetz komm> wir 03 BE: ok 04 IS: machen eine haus ja ↑ * so geht de haus * guck da 05 BE: isch sitzen hier ↑ 06 IS: nei“n nich jetz ↓ Die Interaktion zwischen den Mädchen ist kontextbezogen (indexikale Verweise, handlungsbegleitendes Sprechen). Berna versteht Isras Aufforderung, wie ihre Reaktionen zeigen: Dem Spielvorschlag stimmt sie zu (ok, 03), dann folgt sie der Aufforderung zum Aufräumen <jetz komm> (02) und hilft Isra beim Aufstellen der Matten. Als sie sich in die Lücke zwischen die Matten, die eine Tür symbolisiert, setzen will isch sitzen hier (05), wird sie von Isra zurückgewiesen nei“n nich jetz ↓ (06) und kommt auch dieser Aufforderung nach. Auch in der folgenden Spielsequenz funktioniert der verbale Austausch zwischen den Kindern: Isra ist weiterhin die Initiierende, macht Vorschläge und gibt Anweisungen, Berna folgt ihr und passt sich in das Spiel ein. Isra führt „am Material“ vor, was sie baut, und kommentiert ihre Handlungen. Die Aufforderungen an Berna werden gestisch und mimisch begleitet, die Referenzobjekte sind situativ erschließbar. Isras Äußerungen sind einfach strukturiert, bestehen meist aus zwei bis drei Elementen und haben z.T. formelhaften Charakter. Das wird in der Äußerung wir machen des alle aufräumen deutlich, in der die Erzieherinnen-Formel alle aufräumen mit einer lokalen Handlungsbeschreibung wir machen des verknüpft wird, im Sinne von ‘wir räumen das auf’. Isra hat zwar Probleme bei der Konstruktion komplexer Nominalphrasen (haus große) und der Verwendung des Genus (eine haus), doch sie hat bereits einiges Grundwissen über die Strukturen des Deutschen erworben: - Subjekt-Verbkongruenz (1. Pers. Sg. und Pl., 3. Pers. Sg.): isch will, wir bauen, so geht de haus; <?page no="375"?> Von der Forschung zur Praxis 375 - Imperativkonstruktionen: jetzt komm, guck da; - Zweitstellung des Finitums isch will bauen und Satzklammer du muss misch fangen; 15 - Struktur der einfachen Nominalphrase (Art.+N): eine haus, de haus. Das Beispiel zeigt auch, dass Berna noch wenig deutschsprachiges Wissen hat: Sie spricht sehr wenig, und Finitheit ist nicht konsistent vorhanden (ich sitzen hier, kurze Zeit später: so machen ich neben ich weiß net). Die Verständigung zwischen den Kindern wird allerdings problematisch, wenn sich die Äußerungsbedeutung nicht mehr aus dem Kontext erschließen lässt bzw. wenn kein geteiltes Kontext- oder Hintergrundwissen vorausgesetzt werden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn eines der Kinder für die Rezipientin unbekannte Sachverhalte oder Ereignisse darstellen will. Im folgenden Beispiel will Isra „Fangeles“ spielen, ein Spiel, dessen Regeln Berna nicht kennt. Bei dem Spiel wird zu Spielbeginn durch Auszählen dasjenige Kind bestimmt, welches das andere fangen muss. Das andere Kind versucht durch Schnelligkeit und geschickte Täuschungsmanöver möglichst lange frei zu bleiben. Wird es eingefangen, erhält es als Zeichen, dass es gefangen ist, von dem verfolgenden Kind einen Schlag auf die Schulter; in der Sprache der Kinder wird es „abgetatscht“. Danach wird das „abgetatschte Kind“ zum Verfolger, und das Spiel beginnt von Neuem. Vor dem Transkriptausschnitt bestimmt Isra mit einem Auszählreim, wer von den beiden „fangen muss“: 19 IS: ok die Berna muss fangen * ja 20 BE: so machen ich ↑ 22 IS: <nei“n> du muss misch fangen * spiel fangeles ** 23 IS: <oh Berna jetzt mach ma> <-fa“ngen * mach ta“tsch-> 24 BE: wa: s ↑ 25 IS: <nei“n du muss fangen un mir tatsch> 26 BE: so ↑ isch weiß net 27 BE: was * >tatsch doch< 28 IN: dann zeig=s ihr * sie weiß nich was 29 IN: sie machen muss 30 IS: <guck ma * isch muss=dsch=schu=muss=rennen 15 Das Beispiel stammt aus dem nächsten Gesprächsausschnitt. <?page no="376"?> Inken Keim 376 31 IS: un sch=muss=disch ta“: tsch ↑ * wnn=sch ta“: tsch ↑ muss=du du ↓ > 32 IS: ja ↑ |so geht | a: h ↓ GEHT ENTTÄUSCHT WEG 33 BE: isch |weiß net| WENDET SICH AB Isras Äußerung ok die Berna muss fangen (19) nennt das Auszählergebnis; Isra muss wegrennen und Berna muss sie fangen. Bernas Frage so machen ich ↑ (20) zeigt, dass sie nicht weiß, was die Anweisung muss fangen bedeutet. Sie versucht es mit einem Handlungsvorschlag, den sie nonverbal vorführt (20). Doch Isra weist den Vorschlag zurück <nei“n> und reformuliert die Handlungsanweisung, du muss misch fangen * spiel fangeles (22). Da Berna nicht in der gewünschten Weise reagiert, wird Isra ungeduldig: <oh Berna jetz mach ma> (23). Die Nachfrage wa: s ↑ (24) zeigt, dass Berna die Anweisung nicht verstanden hat. Isra wiederholt sie und expandiert zu: <fa“ngen * mach ta“tsch -> (23). Berna versteht immer noch nicht und unternimmt einen neuen Versuch so ↑ (26), den Isra wieder zurückweist. Sie wird noch ungeduldiger und wiederholt die Spielanweisung: <nei“n du muss fangen un mir tatsch> (25). Jetzt macht Berna klar, dass sie nichts versteht (isch weiß net was, 26) und gibt die Anweisung an Isra zurück >tatsch doch< (27). Darauf greift die Interviewerin ein, macht klar, dass Berna nichts versteht, und bittet Isra das Spiel zu erklären (28/ 29). Isras Erklärung isch muss=dsch=schu=muss=rennen un sch=muss=disch ta“: tsch ↑ * wnn=sch ta“: tsch ↑ muss=du du ↓ > (30/ 32) besteht aus einer schnell und verschliffen gesprochenen Aneinanderreihung von Beschreibungen von eigenen und fremden Handlungen, die, z.T. verkürzt (isch muss=dsch und muss=du), auch wieder die spielspezifische Vokabel tatsch enthalten, die Berna bisher nicht verstanden hat. Außerdem wechselt Isra die Spielrollen: Jetzt ist sie die Verfolgerin und Berna die Verfolgte. Die Erklärung scheitert, Berna gibt den Versuch, das Spiel zu verstehen, endgültig auf und wendet sich ab (33); Isra ist enttäuscht, ihre Spielinitiative gescheitert (32). Das Verständigungsproblem zwischen den Kindern liegt auf mehreren Ebenen: - auf der Ebene der Perspektivenübernahme: Isra berücksichtigt Bernas Wissensdefizit nicht; d.h., ihre Äußerungen sind nicht auf die Rezipientin zugeschnitten; <?page no="377"?> Von der Forschung zur Praxis 377 - auf der Ebene der Informationsübermittlung: Die Erklärung ist schneller gesprochen und undeutlich artikuliert, außerdem sind die Spielrollen vertauscht; das verkompliziert das Verstehen; - auf der lexikalisch-semantischen Ebene: Isra erklärt das Spiel nur mit Vokabeln, die Berna nicht kennt (fangen und tatsch); - Berna macht ihrer Freundin nicht genügend deutlich, „was“ sie an ihren Anweisungen nicht verstehen kann. Das sprachliche und interaktive Wissen beider Kinder reicht nicht aus, um das Verstehensproblem zu erkennen, es zu formulieren und in angemessener Form zu lösen. In solchen Situationen bräuchten die Kinder Hilfestellung durch Erwachsene, die mit ihnen das Problem klären, ihnen Lösungsstrategien zeigen, und sie dazu bringen, sie anzuwenden. 4. Förderung der Erstklässler: Beschreibung der Initiative Die bisher vorgestellten Kinder standen zum Zeitpunkt unserer Untersuchung kurz vor der Einschulung. Auf Drängen der Eltern, „etwas zu tun, damit die Kinder besser Deutsch sprechen“, entstand die Idee einer Initiative zur Sprach- und Wissensförderung der Kinder. Zusammen mit Rosemarie Tracy und der „Forschungs- und Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit“ nahmen wir Kontakt mit dem staatlichen Schulamt auf und präsentierten den Vorschlag, für die Schulanfänger in den Schulen mit hohem Migrantenanteil Förderkurse einzurichten. Unsere Idee traf auf großes Interesse der Schulen und großzügige Unterstützung des Schulamtes. Ausgehend vom derzeitigen Kenntnisstand der kognitiv orientierten Spracherwerbsforschung, 16 der Untersuchung zu Sprachentwicklung und Interaktion 17 und in Orientierung an neueren Immersionsprogrammen 18 entwarfen wir folgendes Förderprogramm: Wir wollten den Kindern in intensiven Interaktionen mit Erwachsenen auf spielerische, interessante Weise ein stabiles und umfassendes Weltwissen in deutscher Sprache vermitteln, ihnen die Grundstrukturen des 16 Einen guten Überblick über Befunde der Forschung, die sich auf den Erwerb syntaktischer Fähigkeiten beziehen und eine Art Leitfaden für die Diagnose der im Syntaxerwerb erreichten Stufen gibt Tracy (2003); vgl. auch Tracy (2005), Tracy/ Gawlitzek-Maiwald (2000) und Montanari (2002). 17 Hausendorf/ Quasthoff (1996) zeigen eindrucksvoll, wie Kinder in der Interaktion mit Erwachsenen sprachliche Strukturen und komplexe Diskursmuster erwerben. 18 Einen guten Überblick über verschiedene Immersionsprogramme und ihre Erfolge gibt Siebert-Ott (2001). <?page no="378"?> Inken Keim 378 Deutschen beibringen, bei ihnen die Freude am Sprechen und am differenzierten Ausdruck wecken und sie beim Erwerb wesentlicher Diskursmuster unterstützen, deren Beherrschung für Alltags- und Schulkommunikationen notwendig sind. Dabei knüpfen wir an die Interessen der Kinder an (Tiere, Vulkane, Dinos, Ritter, Autos usw.), bieten ihnen altersgemäße Geschichten, Bilder, Rätsel, Spiele, Rollenspiele, Filme usw. an und schaffen Interaktionssituationen, in denen sie viele Anlässe zum Fragen, Erklären, Erzählen, Vorspielen, Diskutieren und Streiten haben. Die Fördergruppen sind mit jeweils 5-6 Kindern klein genug um intensive Interaktionen zwischen den Kindern und den Kindern und der Förderkraft zu ermöglichen, andererseits groß genug, um auch Gruppenspiele durchführen zu können. Um ein möglichst weit gefächertes Strukturangebot zu sichern, werden die Äußerungen der Kinder durch Nachfragen und Expansionen der Erwachsenen reformuliert, detailliert oder es werden Gegenmodelle entworfen. In der Interaktion mit den Erwachsenen lernen die Kinder Diskursformate wie „Erzählen“, „Argumentieren“, „Witze erzählen“, „Streit schlichten“ kennen und beherrschen, indem die Erwachsenen die für die einzelnen Diskursmuster konstitutiven Zugzwänge aufbauen und darauf drängen, dass sie von den Kindern erfüllt werden; oder indem sie vormachen, wie Zugzwänge erfüllt werden können. In den Förderkursen setzen wir Studierende mit guten linguistischen Kenntnissen und Erfahrungen in Mehrsprachigkeit ein, die wir durch Werbung in unseren Seminaren rekrutieren. Die Vorbereitung der Studierenden, die Organisation ihres Einsatzes in den Schulen sowie die regelmäßigen Besprechungen über den Verlauf der Förderkurse übernimmt die Kontaktstelle für Mehrsprachigkeit (Vytautas Lemke, in Zusammenarbeit mit Rosemarie Tracy und mir). In Anknüpfung an den Lehrplan für die erste Klasse werden außerdem Materialien zusammengestellt, mit denen das für den Regelunterricht notwendige Fachvokabular systematisch auf- und ausgebaut und mit den Kindern über Geschichten, Bilder, Spiele usw. eingeübt wird, damit sie am Unterricht besser teilnehmen können. Die Förderung findet zweimal wöchentlich nachmittags für zwei Stunden in den Schulen statt und ist auf das erste Grundschuljahr begrenzt. Sie wird wissenschaftlich begleitet: Seit November 2003 werden in einzelnen Gruppen regelmäßig Sprachaufnahmen gemacht und im Rahmen von Qualifikationsarbeiten, Seminar-, Magister- und Promotionsarbeiten ausgewertet. <?page no="379"?> Von der Forschung zur Praxis 379 Im November 2003 starteten wir mit den Förderkursen an vier Mannheimer Schulen, im November 2004 wurden sie auf zehn Schulen ausgeweitet. Der Förderunterricht ist für die Kinder kostenlos; die Studierenden werden vom Schulamt Mannheim und aus Spendengeldern bezahlt. 19 Die Information der Eltern erfolgt regelmäßig im Rahmen von Elternabenden, die wir bei Bedarf auch in Türkisch oder Italienisch durchführen. Über zweisprachige Förderkräfte, die selbst einen Migrationshintergrund haben, funktionieren der Kontakt und der Austausch mit den Eltern meist sehr gut; die Eltern arbeiten mit und sorgen dafür, dass die Kinder regelmäßig zum Förderunterricht kommen. 5. Entwicklung der Kinder nach 9 Monaten Schule und 7 Monaten Förderung Die interaktiven und sprachlichen Fähigkeiten aller Kinder haben sich gegen Ende des ersten Schuljahres erheblich verbessert: Die Kinder sprechen flüssiger, artikulieren besser und sie haben vor allem Freude daran, miteinander Deutsch zu sprechen, auch in der ethnisch homogenen Gruppe; sie haben die Fähigkeit erworben, spontan zu formulieren, Informationen zu erfragen und Erklärungen zu geben, einem Nichteingeweihten eine Geschichte zu erzählen und Hintergründe verständlich zu machen; sie diskutieren miteinander, necken und streiten sich; sie können Fantasiegeschichten fortspinnen, Sprachrätsel lösen und sie wetteifern miteinander, wer besser Deutsch kann. Der Fortschritt der Kinder wird von den Lehrenden bestätigt; ihnen fällt auch auf, dass einige Kinder, die zu Schulbeginn in der Klasse still und schüchtern waren, jetzt in ihrer Redelust kaum zu bremsen sind. Den sprachlich-kommunikativen Fortschritt werde ich an einem Beispiel vorführen, und zwar anhand der spontanen Erzählung eines Kindes. Die Erzählerin ist die jetzt siebenjährige Berna, die ich oben (Kap. 3.) als Sechsjährige vorgestellt habe, und die jetzt in einer Klasse mit fast 100% Migrantenkindern ist. Berna erzählt der Kursleiterin von einem für sie sehr bedeutsamen Ereignis: Ein gleichaltriger Junge, der noch im Kindergarten ist und den 19 Sponsoren sind die Heinrich-Vetter-Stiftung, der Duden-Verlag, die BASF , der Rotary- Club und der Lions-Club (für Förderprogramme im Kindergarten). Seit März 2006 engagiert sich die Heinrich-Vetter-Stiftung mit einer beachtlichen Spende über 4 Jahre in der Sprachförderung für Erstklässler. <?page no="380"?> Inken Keim 380 sie dort regelmäßig besucht, machte ihr einen Heiratsantrag und schenkte ihr einen goldenen Ring. „Erzählen“ ist eine komplexe kommunikative Aufgabe. Das Diskursmuster gehört zu den rekonstruktiven Gattungen und ist eine innerhalb von Interaktionen abgrenzbare Einheit mit einem primären Sprecher (dem Erzähler). 20 Das dargestellte Ereignis muss „singulär und erzählwürdig“ (Gülich/ Hausendorf 2001, S. 374), für den Erzähler in besonderer Weise relevant und mit Emotionen und Bewertungen verbunden sein. 21 Bei der Herstellung des Diskursmusters „Erzählen“ sind eine Reihe von Aufgaben zu erledigen: - die Erzählung muss interaktiv etabliert, das Ereignis thematisiert, hochgestuft und von den Gesprächsbeteiligten ratifiziert werden; - das Ereignis muss rezipientenspezifisch eingeordnet, der Ereignisverlauf in seiner inneren Logik verständlich und das Unvorhergesehene spannend dargestellt werden; d.h., es müssen Informationen zum Ort der Handlung, den Akteur(inn)en, zum Ereignishintergrund und zu Reaktionen der Akteure/ Betroffenen gegeben werden; - für den Ereignisverlauf wichtige Aspekte müssen fokussiert und detailliert, Höhepunkte durch szenische Darstellungen mit direkter Redewiedergabe ausgestaltet werden und - die Erzählung muss abgeschlossen und ggf. in den turn-by-turn-talk rückgeleitet werden. Bewertungen können in verschiedene Strukturelemente explizit oder implizit eingebettet sein. Vor dem Hintergrund der angeführten Erzählcharakteristika und -anforderungen werde ich im Folgenden zeigen, wie Berna diesen Anforderungen nachkommt, welche Rolle die Kursleiterin bei der Ko-Konstruktion der Erzählung spielt (5.1), und welche sprachlichen Mittel Berna verwendet (5.2). 20 Zur Kommunikationsform „Erzählen“ vgl. u.a. Ehlich (1984), Gülich/ Quasthoff (1986), Gülich/ Hausendorf (2001), Hausendorf/ Quasthoff (1996) und Labov (1972). 21 Ich verzichte hier auf eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Forschung zum konversationellen Erzählen und fasse nur die wichtigsten Kriterien für das Diskursmuster „Erzählen“ zusammen; für einen Forschungsüberblick vgl. Gülich/ Hausendorf (2001); neuere Untersuchungen zum Erzählen von Kindern sind z.B. Meng (1994) und Hausendorf/ Quasthoff (1996). Den Aspekt der interaktiven Herstellung von Alltagserzählungen fassen Hausendorf/ Quasthoff im Begriff der Ko-Konstruktion zwischen Erzähler und Rezipient zusammen. <?page no="381"?> Von der Forschung zur Praxis 381 5.1 Der sequenzielle Verlauf der Erzählinteraktion Zur Situation: Die Interaktion findet in der Pause des Förderkurses statt. Berna zeigt beim Verlassen des Klassenzimmers der Kursleiterin (IN) einen Ring und beginnt mit einer Erzählung, die wegen des Lärms der anderen Kinder nicht zu verstehen ist. Die Kursleiterin nimmt Berna beiseite, damit sie in Ruhe erzählen kann. Der Beginn der Interaktion ist leider wegen des immer noch starken Lärms nicht zu verstehen; d.h., das Transkript startet, nachdem die Interaktion bereits begonnen hat. Die Erzählung, die Berna und die Kursleiterin gemeinsam herstellen, besteht aus folgenden Strukturelementen: a) Thematisieren des besonderen Ereignisses, Ratifizierung und Identifizierung der Personen 01 DURCHEINANDER 02 BE: LACHT <weil ich hab geheiratet ↓ > 03 IN: wen hast du denn geheiratet ↑ 04 BE: Murat ↓ diese nischt ↓ diese nischt ↓ andere Murat 05 IN: du hast mir doch erzählt vorher du hast den ring bekommen ↓ 06 IN: von wem ↑ von |wem ↑ | 07 BE: ja ↓ |von ↑ |eh/ die=s im kindergarten weißt=u gell ↑ 08 IN: ach de“r Murat ja: ↓ 09 BE: a“ndere Murat ↓ ja du kennst ihn gell ↑ 10 IN: den kenn ich aus=em kindergarten ↓ 11 BE: ja de=is türkisch gell ↑ 12 IN: +ja ↓ den kenn ich ↓ |und/ | 13 BE: ↓ ↓ |der | hat mir ring gegeben ↓ 14 BE: aber ring war ganz schö: n ↓ der war aber/ der war gold ↓ [Kurze Unterbrechung durch ein anderes Kind] Der Transkriptausschnitt beginnt mit Bernas Äußerung, die strukturell auf eine Vorgängeräußerung bezogen ist (Anschluss mit weil), und in der sie das außergewöhnliche Ereignis benennt isch hab geheiratet und durch Lachen hochstuft. Damit weckt sie das Interesse der Kursleiterin, die erstaunt nach dem Bräutigam fragt und damit das Thema ratifiziert. Berna nennt den Namen des Jungen Murat und erklärt - selbstinitiiert -, dass es neben dem <?page no="382"?> Inken Keim 382 Klassenkameraden Murat noch einen anderen Murat gibt, ihren Bräutigam: diese nischt ↓ diese nischt ↓ andere Murat (04). Im nächsten Zug zeigt die Kursleiterin, dass der Zusammenhang zwischen dem „Ring“ (auf den Berna vor dem Gesprächsausschnitt aufmerksam machte) und der „Heirat mit Murat“ noch nicht genügend expliziert ist (du hast mir doch erzählt vorher du hast den ring bekommen ↓ , 05) und fragt, von wem der Ring ist (06). Interessant ist Bernas Antwort von eh/ die=s im kindergarten weißt=u gell ↑ a“ndere Murat (07/ 09); sie erklärt, dass „ihr Murat“ im Kindergarten ist und IN ihn von dort her kennt; d.h., sie schneidet die Identifizierungsäußerung auf das Hintergrundwissen von IN zu. Die Identifizierungshilfe ist erfolgreich, denn IN versteht sofort, um wen es sich handelt: ach de“r Murat ja: ↓ (08). Nachdem Berna mehrfach sichergestellt hat, dass IN Murat auch wirklich identifiziert hat (ja du kennst ihn gell ↑ und de=is türkisch gell ↑ , 09/ 11), kommt sie - wiederum selbstinitiiert - der von IN in 03 und 05 etablierten konditionellen Relevanz nach und stellt explizit den Bezug zwischen dem Ring und ihrem Bräutigam her: der hat mir ring gegeben (13). Danach erfolgt die positive Bewertung durch die Hervorhebung der Qualität des Ringes: aber ring war ganz schö: n ↓ der war aber/ der war gold ↓ (14). In dieser Interaktionssequenz zeigt Berna, dass sie wesentliche Interaktionsregeln beherrscht: Sie erkennt und erfüllt konditionelle Relevanzen, schneidet ihre Äußerungen adressatenspezifisch zu, beginnt mit der Klärung der Identität von „Murat“ noch bevor die Rezipientin eine falsche Referenz herstellt und vergewissert sich mehrfach, dass sie die Identifizierung Murats geleistet hat. b) Chronologische Darstellung des Ereignisses, Detaillierungen und Bewertungen Leider wird an dieser Stelle die Interaktion kurz durch das Hinzukommen eines anderen Kindes gestört. Danach leitet IN wieder zum Thema zurück; d.h., sie zeigt ihr Interesse an der Fortführung der Ereignisdarstellung: [Kurze Unterbrechung durch ein anderes Kind] 15 IN: also Murat ↑ 16 BE: der hat mir erst/ wir haben im bau gespielt ↑ 17 IN: ja ↓ 18 BE: im bau" ↓ wir ham was gebaut ↑ dann: eh/ der hat mir 19 IN: der ring war 20 BE: eine ring gegebt ↑ aber des war go“ld ↑ <?page no="383"?> Von der Forschung zur Praxis 383 21 IN: aus gold ↑ und wie groß war der ring ↑ 22 BE: ja ↓ nicht 23 IN: ein bisschen klein ↓ so ↓ 24 BE: groß ↓ ein bisschen klein ↓ 25 IN: für deine kleine hand ↓ * Auf den durch die Rethematisierung von Murat durch IN (also Murat ↑ , 15) implizit etablierten Zugzwang zum Weitererzählen reagiert Berna sofort und beginnt mit der chronologischen Darstellung des Ereignisses: der hat mir erst/ wir haben im bau gespielt ↑ im bau“ ↓ wir ham was gebaut ↑ (16/ 18). Interessant ist die Selbstkorrektur von der hat mir erst zu wir haben im bau gespielt, da sie deutlich macht, dass Berna eine weitere Erzählanforderung beherrscht, und zwar die situative Einordnung des Ereignisses in einer „Orientierungssequenz“ (Labov 1972): Berna bricht die begonnene Ereignisdarstellung ab er hat mir erst/ (16), schaltet die Orientierungssequenz vor wir haben im bau gespielt ↑ im bau“ ↓ wir ham was gebaut (16/ 18) und nimmt dann die Ereignisdarstellung wieder auf: dann: eh/ der hat mir eine ring gegebt ↑ aber des war go“ld ↑ (18/ 20). Auf die nochmalige Hervorhebung der Qualität des Ringes reagiert die Kursleiterin mit großem Interesse der war aus gold ↑ (19/ 21). Mit dieser und der nachfolgenden Frage zur Größe des Ringes (21) zeigt sie Berna, welche Eigenschaften des Ringes für das Verstehen seiner Relevanz wichtig sind: Er ist wertvoll und für die Beschenkte passend gewählt. c) Erster Höhepunkt: szenische Darstellung des Heiratsantrags Nach der Charakterisierung des Ringes setzt Berna - selbstinitiiert - die Erzählung fort und schildert die Entwicklung ihrer Beziehung zu Murat: 26 BE: wir warn wieder in die kindergarten ↑ 27 BE: da hat er gesagt kannst du mich nicht heiraten ↑ * hat/ 28 IN: der Murat hat gefragt darf ich dich 29 BE: hat=a gesagt ↑ 30 IN: heiraten ↑ >ja ↑ < 31 BE: ja ↓ * da hab ich ja gesagt ↓ Dieses Mal schaltet Berna gleich die Einführung in die Situation vor und stellt dann den Heiratsantrag in einer Szene dar. Indem sie den ersten Höhe- <?page no="384"?> Inken Keim 384 punkt durch Rede und Gegenrede im Sinne Goffmans als „replaying“ gestaltet, zeigt sie wieder, dass sie wesentliche Erzählanforderungen beherrscht: Sie formuliert Murats Antrag mit Redeeinleitung und Redewiedergabe: hat er gesagt kannst du mich nicht heiraten ↑ (27) und - nach der Verständnis sichernden Nachfrage von IN (der Murat hat gefragt darf ich dich heiraten ↑ , 28/ 30) - gibt sie ihre Zustimmung wieder: da hab ich ja gesagt ↓ (31). d) Erste Komplikation und Fokusverschiebung Darauf folgt in einer weiteren Szene die Darstellung der ersten Komplikation: Die (vemutlich ältere) Schwester Murats ermahnt die beiden, dass sie, bevor sie die Heirat beschließen, das Einverständnis der Familie einholen müssen. Auch diese Erzählepisode wird szenisch präsentiert: 32 IN: ja ↑ 33 BE: dann/ * wir warn in puppenecke ↑ dann hat sie/ äh sein 34 IN: die schwester ja ↑ 35 BE: schwester=s gekommen * von de=Murat ↑ 36 BE: jadann: hat sie gesagt ihr könnt beide heiraten 37 IN: das is richtig 38 BE: aber ↑ erster seine mutter fragen ↓ 39 IN: erst muss man die mutter fragen ↓ und eh/ und hast 40 IN: du auch dei"ne mutter gefragt ↑ und was sagt 41 BE: mhm ↓ 42 K BESTÄTIGEND 43 IN: deine mutter ↑ deine mutter hat okay gesagt ↑ du 44 BE: okay ↓ 45 IN: kannst ihn heiraten ↑ Vor die szenische Darstellung stellt Berna auch hier wieder eine Situationsbeschreibung dann/ wir warn in puppenecke ↑ (33). Dann beginnt sie eine indexikalisch formulierte Handlungsbeschreibung dann hat sie/ , bricht ab und startet neu mit der expliziten Einführung einer neuen Akteurin, der Schwester von Murat: äh sein schwester=s gekommen * von de=Murat. Danach nimmt sie die vorher abgebrochene Formulierung wieder auf und vervollständigt sie zu einer Redeeinleitung: jadann hat sie gesagt (36). Retrospek- <?page no="385"?> Von der Forschung zur Praxis 385 tiv wird jetzt die Bedeutung der Selbstkorrektur klar: Berna weiß, dass neue Akteure zuerst explizit eingeführt werden müssen und erst danach durch Pronomen auf sie verwiesen werden kann; d.h., sie beherrscht ein wesentliches Vertextungsverfahren. Außerdem kommt sie wieder den Anforderungen des rezipientenspezifischen Zuschnitts von Äußerungen nach: Sie berücksichtigt, dass die Kursleiterin Murats Schwester nicht kennt und führt sie nicht namentlich, sondern kategoriell ein. In dem auf die Redeeinleitung folgenden Zitat erklärt sich die Schwester mit der Heiratsabsicht der Kinder einverstanden, trägt ihnen aber auf, die Erlaubnis der Mutter einzuholen (36/ 38). Nachdem die Kursleiterin die Angemessenheit der schwesterlichen Ermahnung bestätigt hat (38/ 39), lenkt sie den Fokus auf Berna und fragt: und hast du auch dei“ne mutter gefragt ↑ (39/ 40); damit bringt sie Bernas Familie, die Beziehung zu ihrer Mutter und die innerfamiliären Entscheidungsprozesse in den thematischen Fokus. Das ist das erste Mal, dass sie in den Gang der Ereignisdarstellung eingreift und einen Fokus eröffnet, der auf die Innensicht Bernas zielt. Berna reagiert auf die Fokusverschiebung minimal mhm ↓ (41), bestätigt nur, dass sie die Mutter gefragt hat, sagt aber nichts über deren Antwort. Das löst die Nachfrage aus: und was sagt deine mutter ↑ (40/ 43), auf die Berna wieder knapp reagiert (Zustimmungspartikel okay ↓ , 44). Mit diesen minimalen Reaktionen, die in deutlichem Kontrast zur ihrer vorherigen Initiative und Erzählbereitschaft stehen, vermittelt sie den Eindruck, dass sie ausweicht. Damit löst sie weitere Nachfragen aus: deine mutter hat okay gesagt ↑ du kannst ihn heiraten ↑ (43/ 45). Die Folge von Fragen etablieren für sie einen erheblichen Zugzwang, mehr über die Situation zuhause zu offenbaren, dem sie nach einer längeren Pause dann auch nachkommt. e) Zweite Komplikation: Das Familienverbot In der folgenden Sequenz schildert Berna, dass es bei ihr zuhause Widerstand gab. Die Mutter hat zwar dem Heiratswunsch zugestimmt, aber der für solche Entscheidungen maßgebliche ältere Bruder (der Vater war nicht anwesend) lässt nicht zu, dass Berna das Geschenk behält; sie muss den Ring zurückgeben: 45 IN: kannst ihn heiraten ↑ 46 BE: ** aber meine mutter hat mein bruder gefragt ↑ <?page no="386"?> Inken Keim 386 47 IN: ja ↓ 48 BE: kuck mal die hat ein ring gegeben von de=Murat ↑ und und 49 IN: ja ↑ 50 BE: die haben/ eh * ich hab de=ring eh rausgemacht ↑ 51 IN: ja ↓ 52 BE: da hab ich den wieder hingelegt ↑ dann hab ich 53 IN: aha ↓ * und wo ist der ring jetzt ↑ 54 BE: wieder gegebt ↓ In dieser Erzählsequenz geht es um die für Berna unerwartete und schmerzliche Wende im Ereignisverlauf. In der Szene zwischen Mutter und Bruder gibt sie die Rede der Mutter wieder (aber meine mutter hat mein bruder gefragt ↑ guck mal die hat ein ring gegeben [bekommen] von de=Murat, 46/ 48), spart jedoch die Antwort des Bruders aus. Dann beginnt sie, der Chronologie des Ereignisverlaufs folgend, mit einer Handlungsdarstellung von Mutter und Bruder: und und die haben/ eh * (48/ 50), bricht jedoch ab und schildert nur die Konsequenz, die sich aus der häuslichen Auseinandersetzung für sie ergab: ich hab de=ring eh rausgemacht ↑ da hab ich den wieder hingelegt dann hab ich wieder gegebt ↓ (50/ 54). Daraus wird die in der Szene ausgesparte Antwort des Bruders ersichtlich; er hat ihr verboten, Murats Ring zu behalten. Diesen für sie besonders schmerzlichen Teil des Ereignisses spart sie aus, stellt ihre Gefühle nicht explizit und offen dar, sondern zeigt nur durch die Detaillierung in drei Erzählschritten - den Ring abnehmen, ihn hinlegen und ihn dann zurückgeben - welche Bedeutung das Verbot für sie hat, und wie schwer es ihr fällt, sich von dem Ring zu trennen. Darauf greift die Kursleiterin wieder ein aha ↓ * und wo ist der ring jetzt ↑ (52), zeigt Interesse am Fortgang der Geschichte und veranlasst Berna, den noch offenen Teil des Ereignisverlaufs, die Rückgabe des Ringes, darzustellen. f) Ende der Geschichte und Gestaltschließung Durch die Frage nach dem Verbleib des Ringes kommt Murat wieder in den thematischen Fokus; Berna stellt fest, dass er den Ring wieder hat: 52 IN: aha ↓ * und wo ist der ring jetzt ↑ 53 BE: wieder gegebt ↓ 54 IN beim Murat ↓ und was hat der Murat 55 BE: von de=Murat ↓ mhm ↓ <?page no="387"?> Von der Forschung zur Praxis 387 56 IN: gesagt ↑ 57 BE: * mm: - ÜBERLEGT * hier ich will den ring nich 58 BE: haben ↓ ich hab gesagt okay ↓ okay hat sie [er] gesagt ↓ 59 IN: oh ↓ ** der wollte den ring nicht zurück ham ↓ * der wollte 60 IN: dass du ihn behältst 61 BE: ja ↓ Die Rethematisierung Murats nimmt die Kursleiterin zum Anlass, nach seiner Perspektive auf das Ereignis zu fragen: und was hat der Murat gesagt ↑ (54/ 56). Sie macht deutlich, dass Murats Reaktion auf das Ereignis ebenfalls von Interesse ist, und dass Berna diese erzählerische Anforderung noch nicht erfüllt hat. Die Frage nach Murats Perspektive kommt für Berna offensichtlich unerwartet (Pause, Verblüffungsäußerung mm: -, 57); das bedeutet, dass aus ihrer Perspektive mit der Schilderung des für sie schmerzlichen Teils des Ereignisses (das Verbot, den Ring zu behalten) die Erzählung abgeschlossen ist. Sie denkt kurze Zeit nach und führt dann in einer weiteren Szene vor, wie die Kinder die neue Situation verarbeitet haben. Murat weist den Ring zurück: hier isch will den ring nicht haben ↓ (57/ 58). Die folgende Verhandlung der Kinder, die Berna durch ein Eigenzitat ich hab gesagt okay ↓ und ein Zitat Murats okay hat sie [er] gesagt ↓ (58) wiedergibt, kann folgendermaßen gelesen werden: Die Kinder kommen überein, dass Berna (trotz des häuslichen Verbots) den Ring behält. Das würde jedoch ihrer vorherigen Feststellung widersprechen, dass der Ring bei Murat ist (54/ 55). Doch die Kursleiterin meldet an dieser Stelle keinen Klärungsbedarf an; d.h., sie lässt offen, wer den Ring hat bzw. ob Berna das Verbot gebrochen hat, und rekonstruiert Murats Perspektive, wie sie sie verstanden hat: der wollte den ring nicht zurück ham ↓ * der wollte dass du ihn behältst (59/ 69). Sie expliziert das für Berna tröstliche Ende der Geschichte, und Berna stimmt dieser Version zu. Damit ist die Erzählinteraktion beendet. Zusammenfassend: Berna kommt allgemeinen Interaktionsanforderungen nach, erfüllt die für sie etablierten Zugzwänge, berücksichtigt das Hintergrundwissen der Adressatin, schneidet ihre Äußerungen adressatenspezifisch zu und bewertet an zentralen Stellen in expliziter und impliziter Form. In Bezug auf das Diskursmuster „Erzählen“ erledigt sie selbstinitiiert folgende Aufgaben: - die Thematisierung und Hochstufung des Ereignisses; - die Identifizierung der beteiligten Personen; <?page no="388"?> Inken Keim 388 - die chronologische Darstellung des Ereignisverlaufs; - die Detaillierung und szenische Darstellung an Höhepunkten. Bei der Durchführung dieser Aufgaben wird sie von der Kursleiterin unterstützt, bestätigt und zum Weiterführen motiviert. Erst in den letzten Erzählsegmenten greift die Kursleiterin steuernd ein und bringt die innerfamiliäre Situation Bernas und die Reaktion des ebenfalls betroffenen Murat in den Fokus. Sie initiiert damit die Klärung wesentlicher Aspekte des Ereignisses und zeigt Berna, welche Erzählstrukturelemente interessant und wichtig sind und welche Anforderungen sie erfüllen muss, um sie in befriedigender Weise herzustellen. In der Interaktion kann Berna die bereits erworbenen Erzählfähigkeiten anwenden, durch die manifesten Interessensbekundungen der Kursleiterin ihren Erfolg erleben und durch die Zugzwänge, die die Kursleiterin mehrfach für sie etabliert, ihre Erzählfähigkeiten weiter entwickeln. 5.2 Sprachstrukturen Die sprachlichen Fähigkeiten Bernas haben sich im Vergleich zur Situation vor Schulbeginn erheblich verändert; die Äußerungen sind länger und komplexer, der Wortschatz ist größer und differenzierter. In dem kleinen Gesprächsausschnitt sind folgende grammatische Strukturen/ Formen realisiert: - Finitheit (Subjekt-Verb-Kongruenz, verschiedene Tempora wie Präsens und Perfekt), Modal- und Hilfsverben: wir haben im bau gespielt, der hat mir ring gegeben, da hab ich ja gesagt, ihr könnt beide heiraten, kannst du mich nicht heiraten; - Verbstellung (Satzklammer und Inversion): da hab ich den wieder hingelegt, dann hat sie gesagt, ich will den ring nicht haben; - Flexionsparadigmen: ich hab, kannst du, er hat, wir haben, ihr könnt, die haben; - Verbrektion und Pronomina: im Bau gespielt, er hat mir gegeben, kannst du mich heiraten, ich hab den hingelegt; - Struktur von Nominal- und Präpositionalphrasen: seine mutter, den ring, eine ring, im bau, im kindergarten, in puppenecke, von de Murat, diese Murat, bei de Murat; - Beginn der Bildung komplexer Satzstrukturen: weil ich hab geheiratet. <?page no="389"?> Von der Forschung zur Praxis 389 Berna hat wesentliche grammatische Strukturen des Deutschen erworben. Instabil ist noch der Bereich des Genus, der starken Verben (gegebt alterniert mit gegeben) und gelegentlich der Kasusbereich. Notwendig ist der weitere Ausbau komplexer Satzstrukturen und des Wortschatzes. An zwei Beispielen will ich noch zeigen, wie der Erwerb grammatischer Formen in der Interaktion unterstützt werden kann: a) das natürliche Geschlecht: In allen Kindergruppen konnten wir beobachten, dass die Kinder zum Verweis auf Personen meist nur das feminine Genus verwenden; d.h., auch der Verweis auf männliche Personen erfolgt durch feminine Formen. Auch Berna verweist auf Murat zunächst mit femininen Formen: diese Murat nischt ↓ , die=s im kindergarten (04/ 07). Direkt nachdem die Kursleiterin mit der Identifizierung ach de“r Murat (08) die richtige grammatische Form eingeführt hat, verwendet sie auch Berna in der Nachfrage: du kennst ihn gell ↑ (09). Von da an verweist Berna mit maskulinen Formen auf Murat (de=s türkisch, der hat mir ring gegeben, der hat mir eine ring gegeben, da hat er gesagt). Nur in der letzten Äußerung okay hat sie [er] gesagt (58) fällt Berna wieder in die alte Praxis zurück, der Verweis auf Murat erfolgt durch Pronomen sie. Da die Kursleiterin in der nächsten Äußerung korrigiert (oh der wollte nicht…), hat Berna jedoch wieder das richtige Modell. b) Artikel und Genus: Berna hat gelernt, dass die Nominalphrase im Deutschen in der Regel einen Artikel erfordert; in den meisten Fällen setzt sie den Artikel. Doch bei der ersten Erwähnung des Ringes verwendet sie „Ring“ ohne Artikel: der hat mir ring gegeben ↓ aber ring war ganz schön (13/ 14). Kurz darauf konstruiert sie die Nominalphrase mit Artikel, aber mit dem falschen Genus: eh der hat mir eine ring gegebt ↑ aber des war gold ↑ (18/ 20). Die Kursleiterin fragt überrascht nach, korrigiert dabei die falsche Form: der ring war aus gold ↑ (19/ 21) und verwendet sie nochmals in der folgenden Frage: und wie groß war der ring ↑ (21). Anschießend verwendet Berna nur grammatisch richtige Formen: Die Nominalphrase erscheint mit Artikel, und auf „Ring“ wird mit maskulinen Formen verwiesen: kuck mal die hat ein ring gegeben [bekommen] von de Murat (48), ich hab de=ring eh rausgemacht (50), da hab ich den wieder hingelegt (52) und hier ich will den ring nicht haben (57/ 58). <?page no="390"?> Inken Keim 390 6. Fazit Berna war zu Schulbeginn eines der Kinder, das am wenigsten Deutsch konnte. Am Ende des ersten Schuljahres beherrscht sie, ihrem Alter entsprechend, wesentliche Diskursmuster, 22 kann der Rezipientin unbekannte Ereignisse und Sachverhalte verständlich darstellen und hat die Grundstrukturen des Deutschen erworben. D.h., im Laufe des ersten Schuljahres hat das Kind einen enormen Entwicklungsprozess durchlaufen. 23 Die Entwicklung Bernas ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern alle Kinder der Fördergruppen haben nach unserer Einschätzung (und Dokumentation) Fortschritte gemacht. 24 Auf der Basis der Analyse des Sprach- und Kommunikationswissens der Kinder am Ende des ersten Schuljahres können jetzt gezielt die grammatischen Bereiche trainiert werden, in denen die Kinder noch nicht sicher sind (z.B. starke Verben, Genus, Numerus, Verbrektion und Kasus) und neue Entwicklungsstufen beim Erwerb von komplexen Diskursmustern anvisiert werden. Der sprachlich-kommunikative Fortschritt der Kinder zeigt, dass das Förderprogramm im Hinblick auf folgende Aspekte erfolgreich ist: - Die Förderung bietet den Kindern ein Zusatzangebot, das sie als „unterrichtsfreien Raum“ erleben können und das an ihren Interessen anknüpft. - Durch die kleinen Gruppen und das auf intensive Interaktion angelegte Programm werden den Kindern Kommunikationsgelegenheiten in deutscher Sprache geboten, die sie im Regelunterricht und zuhause nicht haben. 22 Ein Vergleich mit den Erzählungen der siebenjährigen monolingualen Kinder, die Hausendorf/ Quasthoff (1996) untersucht haben, zeigt, dass Bernas Erzählfähigkeiten altersgemäß entwickelt sind. 23 Das Ergebnis unserer Untersuchung kontrastiert jedoch mit der Einschätzung der Lehrenden, aus deren Sicht Berna sich sprachlich kaum entwickelt hat, wenig im Unterricht mitarbeitet und wenig spricht. Wir hatten keine Gelegenheit, die Interaktionen im Unterricht zu beobachten und mögliche Hintergründe für die Beurteilungsdivergenz aufzudecken. Doch der Befund macht nachdenklich, da ja die Beurteilungen der Lehrenden für die Schulkarrieren der Kinder maßgeblich sind. 24 Zur Entwicklung von Kindern in weiteren Gruppen vgl. die Magisterarbeiten von Kerstin Mehler, Maren Krempin, Anno Reimann und die Dissertationen von Sema Aslan und Emran Sirim. Auch am anglistischen (Prof. Tracy) und romanistischen Lehrstuhl (Prof. Bierbach) entstanden Qualifikationsarbeiten zur sprachlichen und kommunikativen Entwicklung der Kinder aus den Förderkursen. <?page no="391"?> Von der Forschung zur Praxis 391 - In der Kleingruppe können schüchterne und ängstliche Kinder leichter zum Sprechen und Interagieren motiviert werden als im Klassenverband. - Im Rahmen von Interaktionen wird der Erwerb grammatischer Strukturen unterstützt und das Erlernen komplexer Diskursmuster (z.B. Erzählen, Argumentieren) ermöglicht. - Studierende, die oft selbst einen Migrationshintergrund haben, sind gute sprachliche und soziale Vorbilder für die Kinder. Bedauerlich ist, dass wir aus finanziellen Gründen - obwohl die benötigten Mittel nicht groß sind - die Förderung nur im ersten Schuljahr durchführen können und die Kinder sich anschließend wieder selbst überlassen sind. Für Kinder, die unter den dargestellten sozialen und sprachlichen Bedingungen aufwachsen, wäre eine umfassende Förderung in allen Wissensbereichen (Sach-, Sprach- und Interaktionswissen) während der gesamten Grundschulzeit notwendig, damit ihnen der Übergang zu höheren Schulen erleichtert wird und sich ihre Chancen auf eine qualifizierte Ausbildung erhöhen. 25 7. Transkriptionskonventionen ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang und |nein nie|mals Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert + unmittelbarer Anschluss bei Sprecherwechsel *, ** kurze (bis max. ½ Sekunde) und etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern / Wortabbruch ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit ↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) " auffällige Betonung (z.B. aber ge“rn) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig) 25 Das von der Mercator-Stiftung finanzierte Projekt, das wir seit 2004 an 4 Mannheimer Schulen durchführen, ermöglicht uns, die Kinder von der 4. bis zur 6. Klasse, also am Übergang zwischen Grund- und weiterführenden Schulen zu begleiten und zu fördern. Außerdem können wir über eine weitere Finanzierung jetzt auch die Arbeit mit den Eltern der Erstklässler verstärken und über die Mitarbeit der Eltern die Förderung der Kinder auch in der Herkunftssprache voranbringen. <?page no="392"?> Inken Keim 392 <-immer ich-> langsamer (relativ zum Kontext) > vielleicht < leiser (relativ zum Kontext) < manchmal > lauter (relativ zum Kontext) LACHT nicht-morphemisierte Äußerung auf der Sprecherzeile IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der Gesprächssituation (auf der globalen Kommentarzeile) mutter Übersetzung des Türkischen (auf der Kommentarzeile) 8. Literatur Beauftragter für ausländische Einwohner (Hg.) (2001): Bericht: Ausländer in Mannheim. Statistische Daten. Stadt Mannheim. Mannheim. Cindark, Ibrahim/ Aslan, Sema (o.J. [2004]): Deutschlandtürkisch? Internet: www. ids-mannheim.de/ prag/ soziostilistik/ Deutschlandtuerkisch.pdf (Stand: September 2006). Ehlich, Konrad (Hg.) (1984): Erzählen in der Schule. Tübingen. (= Kommunikation und Institution 10). Gülich, Elisabeth/ Quasthoff, Uta (1986): Story-Telling in Conversation. In: Gülich, Elisabeth/ Quasthoff, Uta (Hg.): Narrative Analysis. An Interdisciplinary Dialogue. (= Poetics. Special issue 15 1/ 2). S. 217-241. Gülich, Elisabeth/ Hausendorf, Heiko (2001): Vertextungsmuster Narration. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik = Linguistics of text and conversation: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/ New York. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1). S. 369-385. Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta (1996): Sprachentwicklung und Interaktion. Opladen. Keim, Inken (2004): Kommunikative Praktiken in türkischstämmigen Kinder- und Jugendgruppen. In: Deutsche Sprache 32, S. 198-226. Labov, William (1972): The Transformation of Experience in Narrative Syntax. 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In diesem Beitrag stelle ich den multimodalen Ansatz als systematische Weiterentwicklung der Konversationsanalyse dar und beschreibe dabei die Rolle des IDS bei dieser Entwicklung. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung des konversationsanalytischen Ansatzes und seiner Fokussierung auf die verbalen Interaktionsanteile (Kap. 2.) und skizziere danach den multimodalen Ansatz hinsichtlich seiner methodischen und methodologischen Spezifik (Kap. 3.). Im Anschluss stelle ich aktuelle multimodale Forschungsaktivitäten der Abteilung Pragmatik sowie Vorarbeiten in diesem Bereich vor (Kap. 4.) und skizziere abschließend in einem kurzen Ausblick Entwicklungslinien eines zukünftigen Verhältnisses von Konversationsanalyse und der Analyse multimodaler Interaktion (Kap. 5.). 2. Konversationsanalyse: Konzentration auf das Verbale 1 Konversationsanalyse ist ein in den 60er-Jahren in der Soziologie in den USA entwickelter Analyseansatz zur systematischen strukturanalytischen Untersuchung der sozialen Ordnung in Gesprächen. Der konversationsanalytische 1 Ich kann im gegebenen Rahmen den konversationsanalytischen Ansatz in seiner methodisch-methodologischen Tiefe und in seinem mächtigen theoretischen Hintergrund auch nicht annähernd angemessen darstellen oder auch nur ansatzweise einschlägige Arbeiten zitieren. Eine nach wie vor sehr lesenswerte Einführung in die konversationsanalytische Methode ist Bergmann (1981), der auf die wesentlichen klassischen Arbeiten verweist; eine wichtige neuere Darstellung ist Deppermann (1999). <?page no="396"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 396 Ansatz wurde in den 70er-Jahren auch in der deutschen Sprachwissenschaft rezipiert und unter der Bezeichnung ‘Gesprächsanalyse’ als genuin linguistischer Untersuchungsansatz etabliert. Die deutsche Variante der Konversationsanalyse entwickelte sich relativ eigenständig und brachte substanzielle Beiträge zur Interaktionstheorie und detaillierte Erkenntnisse im Bereich situationsgebundener und kulturell geprägter Sprachverwendung und Sprachvariation hervor. 2 Konversationsanalyse ist eine komplexe wissenschaftliche Methode zur empirischen Analyse der interaktiven Ordnung von Gesprächen und gründet in der technischen Möglichkeit, Tonbanddokumente authentischer Kommunikationen zu erstellen. Diese Aufnahmen werden nach einem System verschriftlicht, das gewährleistet, dass alle wesentlichen Aspekte und Informationen der verbalen Interaktion für die Analyse erhalten bleiben. Strukturelle Phänomene wie Pausen, Sprecherwechsel und Überlappungen zweier Sprecher werden ebenso detailliert festgehalten wie neben dem konkreten sprachlichen Wortlaut all diejenigen Besonderheiten, die für mündliche Sprache typisch sind (siehe unten). Hierzu zählen beispielsweise Wiederholungen, Korrekturen, Versprecher, Konstruktionsabbrüche und Äußerungsumbauten, Verzögerungen, mit „ähs“ gefüllte Pausen, Intonationsverläufe, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit sowie Betonungen, Dehnungen und Verschleifungen von einzelnen Wörtern - um nur einige zu nennen. 2 Wenn ich mich bei meinen Ausführungen auf die Konversations- und nicht die Gesprächsanalyse beziehe, hat das folgende Gründe: Der Begriff macht den Bezug auf die methodischen Prinzipien des Ansatzes und deren zentrale Bedeutung sowohl für die konkrete Analyse als auch für die konzeptuelle und theoretische Entwicklung deutlich. Die Bezeichnung ‘Gesprächsforschung’ steht dagegen inzwischen für eine Vielzahl von Analyseverfahren, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Tatsache ist, dass aufgezeichnete Gespräche ausgewertet werden, ohne dass in vielen Fällen die für die Konversationsanalyse zentrale Verpflichtung, die Kategorien in der Auseinandersetzung mit den Daten selbst zu gewinnen, noch zu erkennen wäre. Wenn jedoch Gesprächsanalyse nur noch als Auswertungsverfahren (teilweise deduktiv begründeter Forschungsinteressen) angewandt wird und nicht mehr als eigenständiges Forschungsparadigma, werden die spezifisch aufklärerischen Erkenntnismöglichkeiten dieses strukturanalytischen Ansatzes verschenkt. Es entsteht dann die Gefahr, unter dem Begriff ‘Gesprächsanalyse’ eine ‘Scientisierung’ alltagsweltlicher Interpretation zu betreiben und damit einer Deprofessionalisierung Vorschub zu leisten. <?page no="397"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 397 Beispiel für einen Transkriptausschnitt: HA: nehmen wir mal an er wär ~cornered~ der junge *3* HA: |RÄUSPERT SICH| |er wär ~corn~/ | äh er wär in die RA: |er wär | was ↑ SA: |~cornered ↑ ~ | HA: e"cke gedrängt ↓ Der Transkriptausschnitt enthält neben der genauen Wiedergabe des Gesprochenen noch die folgenden Informationen: Kennzeichnung des Sprechers/ der Sprecherin ( SA: ), simultan gesprochene Äußerungen wie bei |RÄUSPERT SICH| und |er wär | , eine Sprechpause von drei Sekunden ( *3* ), Englische Ausdrücke ( ~cornered~ ), steigende Intonation ( was ↑ ), fallende Intonation ( gedrängt ↓ ), eine Wortbetonung ( e"cke ) und einen nicht lexikalisierten Kommentar RÄUSPERT SICH . Ziel der Analyse ist es, schrittweise der Entwicklung des verbalen Geschehens zu folgen und so die von den Beteiligten gemeinsam produzierte interaktive Ordnung und die unterschiedlichen Formen interaktiver Bedeutungskonstitution offen zu legen. Die Konversationsanalyse konzentrierte sich von Beginn an analytisch, theoretisch und konzeptuell auf die verbale Modalität von Interaktion. Die primäre Konzentration auf das verbale Geschehen wurde zunächst durch den gegenstandskonstituierenden Begriff conversation verdeutlicht, 3 der alle verbal definierten Interaktionsformen umfasste und der später durch talk-ininteraction ersetzt wurde, wodurch die Fokussierung des Verbalen als ein Teil der Interaktion noch deutlicher wurde. 4 3 Die folgende Definition von conversation von Schegloff (1972, S. 350) markiert sehr klar die Selbstrestriktion auf den verbalen Teil von Interaktion: „I mean to include chat as well as service contacts, therapy session as well as asking and getting the time of day, press conferences as well as exchanged whispers of ‘sweet nothings’. I have used ‘conversation’ with this general reference in mind, occasionally borrowing the still more general term ‘state of talk’ from Erving Goffman.“ 4 „This paper has two primary goals. One goal is to display the mode of analysis to which the phenomena of talk in interaction may be subjected, one mode of analysis among several which have been developed within so-called ‘conversation analysis’. In spite of its name, this analytic undertaking is concerned with the understanding of talk in interaction more generally.“ (Schegloff (1987, S. 101). <?page no="398"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 398 Nahezu alle Konzepte, die auf der Grundlage der konversationsanalytischen Methode entwickelt worden sind (wie beispielsweise: turn-taking, overlap, adjacency pair, conditional relevance, repair, side sequence, preference organisation), dienten der Rekonstruktion der verbalen Struktur von Interaktion. Eine der zentralen Säulen der Konversationsanalyse, das System zur Regelung und Verteilung von Redebeiträgen und Sprecher- und Hörerrollen, wie es von Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) vorgestellt wurde, macht diese Konzentration auf den verbalen Anteil bei der Rekonstruktion der sozialen Ordnung im Gespräch besonders deutlich. 5 3. Die Analyse multimodaler Interaktion Mit den heute vorhandenen technischen Möglichkeiten der problemlosen Dokumentation von Interaktionsereignissen mittels digitaler Videokameras haben sich die Voraussetzungen für die Analyse von Interaktion grundlegend geändert. Wir können jetzt nicht nur untersuchen, was die Teilnehmer sagen, sondern nunmehr auch sehen, welche Beiträge sie mit der gesamten Bandbreite ihres körperlichen Verhaltens zum Zustandekommen und zur Aufrechterhaltung von Interaktion leisten. Wenn man Videoaufzeichnungen von Interaktionen analysiert, kann man sehen, dass die von den Beteiligten gemeinsam hervorgebrachte interaktive Struktur um ein Vielfaches komplexer und vielschichtiger ist als das, was auf einer Tonaufnahme zu hören ist. Mit den Worten von Goodwin (2000, S. 1490) können wir jetzt sehen „[...] that the construction of action through talk within situated interaction is accomplished through the temporally unfolding juxtaposition of quite different kinds of semiotic resources, and that moreover through this process the human body is made publicly visible as the site for a range of structurally different kinds of displays implicated in the constitution of the actions of the moment.“ 3.1 Definition Unter der Bezeichnung ‘multimodale Kommunikation’ entwickelt sich in der deutschsprachigen Linguistik seit geraumer Zeit ein Theorie- und Analyseansatz, für den eine - im engeren Wortsinn - veränderte Sicht auf Kommu- 5 Die Konversationsanalyse war jedoch bei aller Fokussierung auf die verbalen Aktivitäten nicht in einem linguistischen Sinne an den Strukturen des Gesprochenen interessiert, sondern von ihrem soziologischen Standpunkt aus an Verbalität als Trägerstruktur der interaktiven und letztlich sozialen Ordnung. <?page no="399"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 399 nikation charakteristisch ist. Diese Sicht hängt unmittelbar mit den Möglichkeiten neuer technischer Dokumentations- und Analysemedien zusammen, welche die Untersuchung der sichtbaren Seite der bislang hauptsächlich als verbaler Austausch untersuchten Kommunikation erlauben. 6 Linguisten, die an der Analyse, Konzeptualisierung und methodologischen Reflexion der multimodalen Qualität und Komplexität von Interaktion interessiert sind, haben mehrheitlich einen konversationsanalytischen Hintergrund und arbeiten auf der Basis der Methodologie und grundlagentheoretischen Ausrichtung dieses Ansatzes. Sie versuchen der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Interaktionsbeteiligte bei der Bedeutungsproduktion und der Konstitution sozialer Strukturen immer gleichzeitig auf unterschiedliche Ausdrucks- und Interpretationsmodalitäten zurückgreifen. Der multimodale Ansatz begreift Interaktion als einen ganzheitlichen und von der Körperlichkeit der Beteiligten nicht zu trennenden Prozess. Ganzheitlich ist der Prozess insofern, als er immer aus dem gleichzeitigen Zusammenspiel mehrerer unterschiedlicher Modalitäten besteht, die jeweils spezifische Möglichkeiten zur Verfügung stellen, sich in kommunikationsrelevanter Weise auszudrücken, Handlungsziele zu erreichen, soziale Bedeutung zu konstituieren und alle möglichen Arten interaktiver Arbeit zu betreiben. Hierzu zählen beispielsweise: Verbalität, Prosodie, Mimik, Gestik, Körperpositur, Körperkonstellation und Blickverhalten, die Positionierung im Raum und die Manipulation von Objekten. Körperlich ist dieser Prozess insofern, als der Körper sowohl das Instrument als auch die zentrale Ressource all dieser unterschiedlichen Ausdrucksebenen darstellt. 3.2 Konsequenzen des multimodalen Ansatzes Der multimodale Ansatz bringt - bezogen auf die Konversationsanalyse - einige klare Konsequenzen mit sich. Dies zeigt sich besonders deutlich hinsichtlich der Gegenstandskonstitution, die mit der Aufgabe der monomodalen Fokussierung des verbalen Geschehens verbunden ist (3.2.1), der Kategorien, die sich aus der multimodalen Analyseperspektive ergeben (3.2.2) sowie bei dem methodischen Umgang mit den audiovisuellen Grundlagen (3.2.3). Auf diese drei Aspekte werde ich nachfolgend kurz eingehen. 6 Siehe beispielsweise die Mannheimer Treffen zu „Fragen der multimodalen Kommunikation“ (Schmitt 2004a und b). <?page no="400"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 400 3.2.1 Gegenstandskonstitution: Interaktion statt Konversation Obwohl der multimodale Ansatz ein starkes Standbein in der Konversationsanalyse hat, ist er doch wesentlich mehr als ein Zusatz oder eine einfache Weiterentwicklung, die fraglos auf der Basis bereits entwickelter Konzepte aufsetzt und diese durch einen nunmehr sichtbaren Gegenstandsanteil ergänzt. Die multimodale Perspektive ist ganz grundlegend mit der Konstitution eines neuen Gegenstandes verbunden, da sie sich nicht nur auf talk-ininteraction, sondern auf Interaktion insgesamt bezieht. Diese Neukonstitution des grundsätzlichen Gegenstandsbereiches wird in einer Vielzahl neuer Untersuchungsgegenstände deutlich, die an das Medium audio-visueller Repräsentation gebunden sind. Ein solcher Gegenstand ist beispielsweise die ‘interpretative Arbeit’ der Interaktionsbeteiligten und deren Bedeutung für die Organisation kooperativer Arbeitsbeziehungen. Interpretative Arbeit ist ein gleichermaßen interessantes wie methodisch anspruchsvolles Phänomen. Es kann zwar auch auf der Grundlage audiovisueller Daten nicht unmittelbar analysiert werden, wird aber in seinen multimodalen Ausdrucksformen beschreibbar. Dieser Aspekt lässt sich beispielsweise in Situationen dokumentieren und untersuchen, in denen bestimmte Beteiligte auf der Grundlage einer professional vision 7 das Interaktionsgeschehen systematisch beobachten und dabei über unterschiedliche körperliche Ausdrucksformen gleichzeitig ihre Verarbeitung des Beobachteten anzeigen. 8 Abb.1: Der Regisseur Marcus Hägg (stehend) bei der Arbeit 7 Vgl. Goodwin (1994). 8 Solche expliziten und konzentrierten Monitoring-Aktivitäten sind in einem Korpus umfangreicher Videoaufnahmen am Set dreier Filmcrews enthalten: Hier kann man beispielsweise die Regisseure sehen, wie sie Proben der Schauspieler konzentriert verfolgen und im Hinblick auf sehr unterschiedliche Bezugspunkte verarbeiten (siehe oben Abb. 1). <?page no="401"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 401 Gleiches gilt allgemein für Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Beteiligungsleistungen von Beteiligten insgesamt. Diese tauchen in den Transkripten bislang primär als Rückmeldeaktivitäten und damit als lokale verbale Reaktionen auf. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen werden solche Aktivitäten in ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen deutlich. Audiovisuelle Grundlagen rücken so zwangsläufig Wahrnehmungsprozesse und deren interaktive Struktur in den Vordergrund. Die Veränderung klassischer konversationsanalytischer Gegenstände und Fragestellungen wird offensichtlich, wenn man Pausen, d.h. solche Phasen in der Interaktion, in denen die Beteiligten verbal nicht aktiv sind, nicht nur als konstitutive Bestandteile der Interaktion, sondern auch als relevante Untersuchungsphänomene betrachtet. Bei einer ausschließlich verbal basierten Analyse interaktiver Zusammenhänge sind Pausen in der Regel Interaktionspausen. Ihre konversationsanalytische Behandlung ist beschränkt auf eine Analyse des Vorher und des Nachher. Zu den interaktiven Implikationen der Pause und zu ihrer internen Struktur hingegen kann nicht viel gesagt werden. Auf der Grundlage audiovisueller Daten erhalten Pausen einen neuen Status. Sie sind nun nur noch Sprechpausen. Sie werden also als interaktive Phänomene behandelt, die zustande kommen, weil Interaktionsbeteiligte für eine gewisse Dauer ihren verbalen Austausch einstellen. Sie stellen jedoch nicht ihre Interaktion ein, sondern sind vielmehr - vor allem in etwas längeren Pausen - ausgesprochen interaktiv. Da Videoaufzeichnungen das interaktive Verhalten der Beteiligten in der Pause sichtbar machen, ist es nun auch möglich, die sequenzielle Struktur dieses Verhaltens zu rekonstruieren. Dabei wird deutlich, dass beispielsweise in den Pausen die turn-taking machinery weiter läuft, zwar nicht hörbar, aber folgenreich und strukturprägend. Zu solch einer Einsicht gelangt man, wenn man auf der Grundlage von Videoaufnahmen den Umgang mit konditionellen Relevanzen während längerer Pausen untersucht. Dann wird deutlich, dass es nicht nur eine Orientierung der Beteiligten an Redegelegenheiten als kostbarem Gut gibt, das geregelt und verwaltet werden muss (beispielsweise über Strukturen des turn-taking). Es wird vielmehr offensichtlich, dass auch der entgegengesetzte Fall von Redegelegenheiten als ‘gefährliches Gut’ existiert, bei dem Interaktionsbeteiligte unter den gegebenen lokalen Bedingungen anzeigen, dass sie den Turn nicht übernehmen wollen. Die nachfolgenden Abbildungen zei- <?page no="402"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 402 gen die von drei Studenten eines vierköpfigen Teams eingesetzten sprachlosen Verfahren, mit denen sie zeigen, dass sie sich nicht als Sprecher/ in etablieren werden. 9 Die interaktive Struktur einer 12-sekündigen Gesprächspause: Abb. 2.1: Alle Studenten blicken zum Dozenten Abb. 2.2: Özkan senkt seinen Blick Abb. 2.3: Silvia blickt zu Martin Abb. 2.4: Silvia führt Hand zum Kinn (Denkerpose) 9 Die interaktive Struktur dieser Pause und die eingesetzten gesprächsorganisatorischen Verfahren der Selbstabwahl sind detailliert analysiert in Schmitt (2004a), woraus auch die Abbildungen entnommen sind. <?page no="403"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 403 Abb. 2.5: Martin führt Hand zum Kinn Abb. 2.6: Özkan führt Hand zum Kinn Videoaufzeichnungen ermöglichen die detaillierte Analyse der Art und Weise, wie von den Beteiligten in sozial akzeptierter und strukturierter Weise verdeutlicht wird, dass sie sich nicht als Sprecher etablieren wollen. Nicht nur die Etablierung als Sprecher ist eine interaktive Leistung, die in Abstimmung mit den anderen Beteiligten und mittels sequenzieller Einpassung in die lokalen Interaktionsstrukturen realisiert werden muss. Auch der situationsangemessene Verzicht auf die Sprecherrolle ist eine interaktive Leistung, zu deren Realisierung bestimmte Verfahren eingesetzt werden, die systematisch beschreibbar sind. Systematische Untersuchungen hierzu aus einer multimodalen Perspektive eröffnen die Chance, die bestehende Systematik der Verteilung von Sprecher- und Hörerrollen zu einer Systematik der Organisation von Beteiligungsweisen weiterzuentwickeln. Am Ende könnte dann beispielsweise eine simplest systematics for not taking verbal turns in conversation 10 stehen, die als multimodale Erweiterung des existierenden Modells der turn-Verteilung eine angemessenere Konzeptualisierung interaktiver Beteiligung darstellen würde. Die audio-visuelle Datengrundlage des multimodalen Analyseansatzes macht jedoch nicht nur ein Mehr an Informationen im Sinne einer höheren Komplexität und einer dichteren Vernetzung unterschiedlicher Konstituti- 10 Dieses Ziel ist in bewusster Anlehnung an Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974), einen der wirkungsgeschichtlich zentralen Aufsätze der Konversationsanalyse, formuliert. <?page no="404"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 404 onsaspekte deutlich. Sie zeigt auch, dass die Art und Weise, in der die Videokamera zu Dokumentationszwecken eingesetzt wird, untrennbarer Bestandteil der hinterher zu analysierenden Daten wird. Die Kamera leistet einen sichtbaren Beitrag zur Gegenstandskonstitution, der weit über das ‘Beobachterparadoxon’ oder Fragen der Authentizität hinausgeht. Durch die Spuren, welche die Kamera in den Aufnahmen hinterlässt, werden Fragen der Gegenstandkonstitution und nach den durch die Kamera geleisteten Konstitutionsbeiträgen in einem unmittelbaren Sinne zum Gegenstand methodisch-methodologischer Reflexion. Anders als bei Tonaufnahmen ist bei Videoaufzeichnungen das Medium selbst beobachtbar und wird somit zum unhintergehbaren Bestandteil der empirischen Daten selbst. In diesem Sinne bekommt das konversationsanalytische Diktum, sich von den Daten leiten zu lassen, eine zusätzliche Implikation. Wenn der Schwenk der Videokamera Teil der Daten ist, wenn das Zoomen des Kameramannes Teil der Daten ist, und selbst die dauerhafte Statik der Kameraführung als Teil der Daten begriffen werden muss, dann verweisen die Daten grundsätzlich auch auf diesen Aspekt als relevante Untersuchungsobjekte. Ein erster Schritt in diese Richtung besteht in einer systematischen Sammlung beobachtbarer Aspekte, in denen solche Konstitutionsbeiträge zum Ausdruck kommen, und deren kategoriale Spezifizierung im Hinblick auf Daten- und Gegenstandskonstitution als relevante Bezugsrahmen. Hier sind dann beispielsweise Einwirkungen zu unterscheiden, die den aufzeichnenden Forscher und seine Technologie in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema machen: - Die Kamera verändert/ beeinflusst sichtbar (d.h. spezifisch und kontrastiv beschreibbar) das Verhalten der Interaktionsteilnehmer im Sinne der klassischen Authentizitäts-Problematik. Ein unabhängig von der Kamera realisiertes Verhalten wird durch die Kamera verändert. - Die Kamera produziert durch ihre Anwesenheit Verhaltensweisen, die ohne ihre Anwesenheit nicht produziert würden (beispielsweise hindert die auferlegte thematische Relevanz durch die Kamera einen Schüler an der konzentrierten Teilnahme am Unterricht; Schüler schaut zur Kamera hin und schützt sich gleichzeitig vor ihr). 11 11 Vgl. hierzu Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier (i.Vorb.) <?page no="405"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 405 - Der Kameramann wählt durch die Kameraführung (beispielsweise durch das Zoomen) bestimmte Ausschnitte oder Personen aus der Gesamtsituation als besonders oder ausschließlich relevant und stuft andere Ereignisse oder Personen damit als nicht relevant zurück oder schließt sie gänzlich aus. Insgesamt macht der dynamische Kameraeinsatz deutlich, dass bereits die Dokumentation unumgehbar analytische Implikationen hat bzw. selbst bereits analytisch ist. Dies zeigt sich besonders dann, wenn die Kamera in Folge der Antizipation des Kameramanns bereits einen der Interaktionsteilnehmer fokussiert und groß ins Bild holt, bevor dieser in das Geschehen eingreift. Hier kann man sehen, dass die Kamerabedienung auf der Grundlage einer intuitiven Analyse 12 funktioniert, die dem Kameramann selbst in der Situation nicht bewusst sein muss. 3.2.2 Multimodal fundierte Kategorialen Die in der Spezifik der empirischen Basis gegründete multimodale Perspektive impliziert letztlich einen wesentlich radikaleren Schritt, der zu einer teilweisen Neukonstitution und Neubewertung etablierter Konzepte der Konversationsanalyse führt. Statt die Rolle sogenannter ‘nonverbaler Aspekte’ für die Organisation der Sprecher- und Hörerrollen zu thematisieren, 13 wird mit der Fokussierung aller sichtbaren Verhaltensaspekte für die Konstitution der interaktiven Ordnung ganz grundsätzlich die Frage nach Formen interaktiver Beteiligung thematisch. Diese umfassen nicht nur verbale Verhaltensweisen, sondern beinhalten auch die Beiträge derjenigen, die aktuell verbal nicht aktiv sind. Deren interaktives Verhalten kann nun systematisch zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Dabei kann eine der zentralen konversationsanalytischen Annahmen, Kommunikationsstrukturen seien immer das Ergebnis des Verhaltens aller Beteiligten, empirisch angemessener überprüft werden. Im Rahmen einer multimodalen Konzeption von Kommunikation - bei der aus theoretischen Gründen alle Modalitäten als prinzipiell gleichwertig betrachtet werden - stellt sich dabei ganz systematisch die Aufgabe, 12 Siehe hierzu erste Überlegungen in Schmitt (i. Vorb.). 13 Dies ist teilweise Gegenstand der „interaktionalen Linguistik“, die v.a. die Rolle von Intonation bei der Konstitution von turns und deren Organisation untersucht; vgl. Selting/ Couper-Kuhlen (2000) und die dort weiterführende Literatur. <?page no="406"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 406 die etablierten verbal definierten Konzepte auf ihre Angemessenheit und Brauchbarkeit für die Integration sichtbaren körperlichen Verhaltens zu befragen. Bereits erste Analysen audiovisueller Interaktionsdokumente produzieren eine beeindruckende empirische Evidenz dafür, dass die Verfahren der Etablierung und Aufrechterhaltung interaktiver Ordnung nicht nur mit den Konzepten untersucht werden können, die ursprünglich ausschließlich für die verbale Modalität entwickelt worden sind. Es wird vielmehr deutlich, dass die ‘visuelle Revolution’ (= Verdrängung der Tonaufnahmen durch Videoaufzeichnungen als empirische Analysegrundlage) und die darauf reagierende Herausbildung einer multimodalen Analyseperspektive für klassische Konzepte der Konversationsanalyse weitreichende Implikationen auf sehr unterschiedlichen Ebenen besitzen. Aus multimodaler Perspektive wird aufgrund der audiovisuellen Qualität interaktiver Realität die Reflexion etablierter konversationsanalytischer Vorstellungen und Konzepte notwendig, die für die Analyse der verbalen Seite entwickelt worden sind und sich hier als ausgesprochen produktiv erwiesen haben. Ziel dieser Reflexion ist die Beantwortung der Frage, ob sich verbal definierte Konzepte auch bei der Analyse audiovisueller Ereignisse einsetzen lassen und ob sie dabei modifiziert, erweitert und letztlich vielleicht sogar aufgegeben werden müssen. Ich will die Notwendigkeit dieser Reflexion exemplarisch an Hand der konversationsanalytischen overlap-Vorstellung zeigen. Overlap ist definiert als eine Zeitspanne, in der die Regel „overwhelmingly, one party talks at a time“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 706) kurzzeitig außer Kraft gesetzt ist und zumindest zwei oder mehr Interaktionsbeteiligte gleichzeitig sprechen. 14 Allgemeiner formuliert ist es ein Konzept zur interaktionstheoretischen Beschreibung und empirischen Analyse simultaner verbaler Aktivitäten. Wenn man an dieser allgemeinen Vorstellung der 14 Overlaps sind konstitutiver Bestandteil des turn-taking-Systems. Die Systematik des interaktiven Umgangs mit solchen eher kurzen Phasen, in denen mehr als ein Beteiligter spricht, sind bereits in Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974, S. 706ff.) skizziert und später beispielsweise in Jefferson (1984) detailliert beschrieben worden. Schegloff hat sich in späteren Arbeiten (2000 u. 2001) systematisch mit der interaktiven Struktur von overlaps beschäftigt, um der Kritik zu begegnen, die empirische Existenz von overlaps sei ein Argument gegen die zentrale turn-taking-Annahme von „one party talks at a time“. <?page no="407"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 407 Simultaneität ansetzt, jedoch die Grundlagen einer ausschließlich auf den verbalen Austausch bezogenen Konzeption verlässt und diese auf ein Modell multimodaler Interaktion überträgt - für welche die Gleichzeitigkeit und die analytische und theoretische Gleichwertigkeit unterschiedlicher Ausdrucksebenen konstitutiv ist -, dann ergibt sich folgendes Bild: Aus einer multimodalen Perspektive ist die gesamte Interaktion ein einziger Zusammenhang von Simultaneität. Zu keinem Zeitpunkt agiert ein einzelner Interaktionsbeteiligter alleine, sondern alle anderen Beteiligten produzieren - wenn auch nicht im Medium der Verbalität - für den gemeinsamen Interaktionszusammenhang relevante Verhaltensweisen. Damit stellt sich die Frage, wie sich das verbal definierte Konzept von overlap zur multimodalen Grundkonstellation permanenter Simultaneität verhält. Ist es sinnvoll, an dem verbalen overlap-Konzept festzuhalten und für die beobachtbare Simultaneität von Aktivitäten auf anderen Ausdrucksebenen neue Konzepte zu formulieren? Oder ist es sinnvoll, dem Aspekt der Simultaneität so zu begegnen, dass er in einer multimodalen Variante neu formuliert wird? Wie könnte eine solche Neukonzeption dann aussehen? 15 Die Auswirkungen der visuellen Revolution auf die Entwicklung der Konversationsanalyse und deren etablierte verbale Konzepte betrifft auch die Kategorien, die wir für die Beschreibung zentraler Beteiligungsweisen von Sprecher und Hörer zur Verfügung haben. Auch die von Goffman (1979) in seiner footing-Konzeption vorgeschlagene Differenzierung und deren Weiterentwicklung von Levinson (1988) sind als verbal definierte Konzepte von der Reflexion betroffen und folglich im Lichte des bislang vernachlässigten sichtbaren Geschehens zu prüfen. 3.2.3 Methodisierung multimodaler Analyseverfahren: Visuelle Erstanalyse Die Analyse von Videodokumenten macht aufgrund der multimodalen Spezifik von Interaktion und aufgrund der theoretischen Egalität der verschiedenen Modalitätsebenen neue Analysemethoden erforderlich. Dies liegt vor allem darin begründet, dass das für die Koordination der verbalen Beiträge unterschiedlicher Sprecher zentrale Prinzip der Sequenzialität (d.h. der Nachzeitigkeit) bei Videoaufzeichnungen durch das Prinzip der Gleichzeitigkeit erweitert werden muss. Da man nicht alle wichtigen Aktivitäten auf 15 Dieser Aspekt wird eingehend behandelt in Schmitt (2005). <?page no="408"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 408 den unterschiedlichen Modalitätsebenen gleichzeitig erfassen kann, ist man gezwungen, sich auf einzelne Ausdrucksebenen zu konzentrieren. Man kann diese Tatsache in methodischer Hinsicht systematisch dadurch nutzbar machen, dass man beispielsweise zur Fokussierung der körperlichen Ausdrucksformen die vokale Ebene motiviert ausschließt. Und man kann dies mit einigem analytischen Gewinn systematisieren, was beispielsweise zur Entwicklung der visuellen Erstanalyse als methodisierte Variante der Modalitätsfokussierung führt. Die Methode der visuellen Erstanalyse 16 besteht darin, das akustisch wahrnehmbare verbale Geschehen in motivierter Weise auszublenden. Wenn ein Videoausschnitt nach allen Regeln der Kunst, jedoch unter Ausschluss der verbalen Anteile, segmentiert und in seiner Struktur beschrieben wird, führt das methodisch induziert zwangsläufig zur Entwicklung von Beschreibungskategorien, die - da sie sich ausschließlich auf das visuelle Geschehen beziehen - nicht auf das Arsenal verbal definierter Kategorien zurückgreifen können. Methodologisch ist ein solches Vorgehen ausgesprochen implikationsreich und erkenntnisgenerierend, weil es unter anderem folgende Fragen aufwirft: - Welche Form deskriptiver Metaphorik entwickelt sich als Folge des methodischen Ausschlusses verbaler Informationen? - Zu welchen Segmenten gelangt man dabei und in welchem Verhältnis stehen sie zu verbal basierten Segmenten? Unterscheiden sich die visuell begründeten Segmente von den verbal definierten und wenn ja: Was sind die Unterscheidungsaspekte (konstituiert man größere/ kleine Einheiten)? - Welchen pragmatischen Gehalt haben solche visuell definierten Segmente und Beschreibungen? Ich möchte diese auf die Systematisierung und Methodisierung visueller Auswertung zielenden allgemeinen Ausführungen an einem konkreten Beispiel exemplifizieren: Bei einem ersten, rein visuellen Durchgang einer Videoaufzeichnung von einem Filmset konnte man sehen, wie die Regisseurin ihre Kamerafrau durch eine Umarmung und eine damit verbundene Drehung 16 Der Begriff ‘visuelle Erstanalyse’ verweist auf die spezifische, durch die Sequenzialität des Forschungsganges definierte methodische Funktionalität: Dieses methodische Verfahren sollte vor der Analyse des verbalen Geschehens durchgeführt werden, weil es vor allem an dieser Stelle in kategorienbildender Hinsicht besonders produktiv ist, da die Analyse noch nicht durch das Wissen um das verbale Geschehen beeinflusst ist. <?page no="409"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 409 umdreht. Dieser Aspekt führte zur Frage, ob sich solche visuell gestützten Beobachtungen wie ‘Regisseurin dreht ihre Kamerafrau um’ in systematischer Weise analytisch weiterführend nutzen lassen und wie weit die bei der visuellen Analyse entstehende deskriptive Metaphorik trägt: Lässt sich - wie dies in dem Videoausschnitt deutlich wird, nachdem man auf der verbalen Ebene eine Auseinandersetzung zwischen den beiden analysiert hat - das Umdrehen nicht nur im Sinne einer physikalisch beschreibbaren Dynamik und Positionsveränderung, sondern auch im Sinne eines gesprächsrhetorischen Zuges verstehen? Also im Sinne von: Jemanden von seiner ursprünglichen Position abbringen? Verweisen solche Beobachtungen auf strukturell wichtige Aspekte oder sind sie nur von ephemerer Qualität und haben keinen Bestand, der über die Phase der ersten visuell gegründeten Auswertung hinausreicht? Welche strukturanalytische Tiefe lässt sich im Rahmen solcher methodisch motivierter Analysezugänge überhaupt erreichen? Solche Fragen verweisen auf ein methodisch-methodologisches Desiderat, das die Notwendigkeit deutlich macht, als Bestandteil und Voraussetzung der Systematisierung und Methodisierung rein visuell gegründeter Analysegänge folgende Aspekte zu entwickeln: - die eigene analytische Sensibilität; - das Ausmaß an Fokussierung auf einzelne relevante Beobachtungsaspekte pro Analysegang; - die damit verbundene aktuelle Ausblendung ebenfalls relevanter Punkte (die in einem nachfolgenden eigenständigen Analysegang zu bearbeiten sind); - die Entwicklung einer fallunspezifischen und analytisch gehaltvollen Beschreibungssprache und deren kategoriale Fixierung und konzeptuelle Aufarbeitung. 4. Entwicklung der Forschung in der Abteilung ‘Pragmatik’ Im Forschungsprogramm der Abteilung Pragmatik des IDS haben konversationsanalytische Projekte seit 1979 (dem Eintritt von Werner Kallmeyer als Leiter der Abteilung) eine bedeutende Rolle gespielt. Die konversationsanalytische Methodologie und Methode stellte bei sehr verschiedenen Forschungsunternehmungen die zentrale Grundlage dar: Einerseits wurden ge- <?page no="410"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 410 sprächstypologische Projekte wie die Analyse von Beratungs- 17 und Schlichtungsgesprächen 18 durchgeführt, andererseits wurden mit einem soziolinguistischen Erkenntnisinteresse soziale und kulturelle Grundlagen von Sprachverwendung und Sprachvariation im Projekt „Kommunikation in der Stadt“ 19 untersucht. Fragen der Zielorientiertheit individueller Sprachverwendung wurden im Projekt „Gesprächsrhetorik“ 20 ebenso verfolgt wie die Herausbildung gruppenstilistischer Besonderheiten im Projekt „Kommunikative soziale Stilistik“. 21 Vor allem in den beiden letztgenannten Forschungsprojekten stellten Videoaufzeichnungen bereits einen Teil der empirischen Grundlage dar. Die Analyse des sichtbaren Verhaltens der Interaktionsbeteiligten war jedoch eher als punktuelle Ergänzung der verbalen Analyse konzipiert, die eindeutig im Mittelpunkt stand. Der visuelle Teil des interaktiven Geschehens trat allerdings schon bei den gesprächsrhetorischen Analysen zum ‘Forcieren’ 22 und ‘Unterstützen’ 23 sowie zum ‘Inszenieren’ 24 wesentlich stärker in den Vordergrund, ohne aber in seiner methodischen und methodologischen Eigenständigkeit und Tragweite thematisch zu werden. Der Aspekt des körperlichen Verhaltens als wesentlicher Teil der Interaktionsstruktur trat punktuell - etwa im Rhetorikprojekt - in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Dies war bei der Beantwortung der Frage der Fall, welche Rolle etwa Schreibhandlungen (Striche ziehen, imaginäre Additionen durchführen) oder die Manipulation von Keksverpackungen als relevante Objekte für die Organisation einer Geschäftsverhandlung besitzen. 25 Gänzlich auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen arbeitete das Projekt „Kooperation in Arbeitsgruppen“, bei dem es unter anderem um die Rekonstruktion unterschiedlicher Stile interaktiven Führungshandelns 26 und der Bedeutung von Hierarchie für den Kooperationsstil unterschiedlicher Ar- 17 Vgl. Nothdurft (1984), Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994). 18 Vgl. Nothdurft (Hg.) (1995). 19 Vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994 und 1995). 20 Vgl. Kallmeyer (Hg.) (1996) 21 Vgl. Keim/ Schütte (Hg.) (2002). 22 Vgl. Kallmeyer/ Schmitt (1996). 23 Vgl. Schmitt (1998). 24 Vgl. Schmitt (2003). 25 Vgl. Kallmeyer/ Streeck (2001) und Streeck (1996). 26 Vgl. Schmitt (2001a), Schmitt/ Heidtmann (2003). <?page no="411"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 411 beitsgruppen 27 ging. Hier wurde beispielsweise der Umgang des Chefs einer Gruppe von Softwareentwicklern mit der Tafel (white board) sowohl als Arbeitsinstrument als auch als Statusrequisite und damit als stilgenerierendes Mittel untersucht. 28 Unter einer konsequent multimodalen Erkenntnisperspektive laufen bereits die Analysen der Videoaufnahmen der Zusammenarbeit verschiedener Filmteams an unterschiedlichen Drehorten im Projekt „Kooperation in Arbeitsgruppen“. Die Rekonstruktion des Filmsets als komplexer, auch räumlich organisierter Kooperationszusammenhang wird überhaupt nur auf der Grundlage von Videoaufnahmen und der Konzentration auf die multimodale Komplexität des interaktiven Geschehens möglich. Nur so wird deutlich, welche zentrale Rolle beispielsweise Monitoring (die intensive Beobachtung des aktuellen Interaktionsgeschehens durch die Beteiligten) und Koordination als konstitutive Voraussetzung für die spezifische Form von Kooperation spielen, die die Filmcrews in Auseinandersetzung mit den besonderen Anforderungen ihrer Profession entwickelt haben. 29 Sowohl Monitoring als auch Koordination sind Aktivitäten, die in der Regel ‘sprachlos’ realisiert werden und daher nur multimodal rekonstruierbar sind. Inzwischen hat sich die multimodale Perspektive auf Interaktion in der Abteilung Pragmatik als fester Bestandteil etabliert und zur Herausbildung eines speziellen Forschungsinteresses geführt, das die komplexe Qualität von Interaktion auch in ihren methodischen und theoretischen Implikationen explizit zum Thema macht. Organisatorischer Ausdruck dieses multimodalen Schwerpunktes sind einerseits die seit 2003 halbjährlich im IDS stattfindenden „Arbeitstreffen zu Fragen der multimodalen Kommunikation“, die inzwischen eine institutionalisierte Form des Austausches mit externen Kooperationspartnern darstellen, die ebenfalls im Bereich Multimodalität Untersuchungen durchführen. 30 Andererseits befindet sich ein konkretes Forschungsprojekt „Multimodale Interpretationspraktiken“ als Teil des neuen Abteilungsschwerpunktes „Verstehen und Intersubjektivität in der verbalen Interaktion“ in Vorbereitung. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen aus sehr unterschiedlichen 27 Vgl. Schmitt (2002) Schmitt/ Heidtmann (2002). 28 Vgl. Schmitt (2001b). 29 Vgl. hierzu Deppermann/ Schmitt (i.Vorb.). 30 Vgl. Schmitt (2004 b). <?page no="412"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 412 Situationen wie Filmsets, verschiedenen Formen von Arbeitssitzungen, Schulunterricht, Präsentationen, Gastreden und Gottesdiensten geht es dabei darum, systematisch zu untersuchen, wie sich die multimodale Komplexität von Interaktion als „situiertes Sprechen“ manifestiert. Situiertes Sprechen bedeutet, dass die bei der Äußerungskonstitution verwendeten Konstruktionen nur als integrierter Teil des gesamten multimodalen Interaktionsereignisses verstanden und angemessen untersucht werden können. Das Projekt geht also davon aus, dass die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen der Form, dem Inhalt und der Funktion bestimmter Äußerungskonstruktionen nur dann adäquat erfasst werden kann, wenn systematisch alle für die Interaktionskonstitution relevanten Aspekte berücksichtigt werden. 31 Sprachverwendung kann nur als integrierter Teil eines insgesamt multimodal konstituierten Interaktionsereignisses und nicht als etwas davon Unabhängiges oder gar als etwas Gegebenes untersucht werden. Faktisch ist die Untersuchung des verbalen Geschehens ohne Berücksichtigung der anderen modalen Aspekte eine Reduktion, die jedoch als solche nicht angemessen reflektiert wird. Die untrennbare Beziehung zwischen sprachlichen Strukturen und allen anderen Formen der Interaktionskonstitution sowie der Einfluss räumlichphysikalischer Situationsgegebenheiten auf den Einsatz bestimmter sprachlicher Konstruktionen wird im Rahmen des Projektes bezogen auf die Dokumentation und den gesprächsrhetorischen Einsatz von Hinweisen auf Interpretation untersucht. Konkret konzentriert sich das Projekt unter einer interaktionstheoretischen Perspektive auf folgende Aspekte: Einerseits soll ein Überblick über die Vielfalt und Varianz der von den Interaktionsbeteiligten produzierten empirischen Hinweise auf interpretative Vorgänge erarbeitet werden. Andererseits soll nach den Funktionen dieser Hinweise auf interpretative Arbeit sowohl für die Bearbeitung lokaler Interaktionsanforderungen als auch für die Interaktionskonstitution insgesamt gefragt werden. Für die Analyse gesprochener Sprache im Rahmen einer multimodalen Vorstellung von Interaktion ist nicht nur die theoretische Gleichrangigkeit aller Modalitätsebenen konstitutiv, sondern auch die Tatsache, dass Interaktion 31 Es existiert das Missverständnis, die Untersuchung gesprochener Sprache und die Analyse multimodaler Interaktion seien Gegensätze bzw. der verbale Teil sei kein konstitutiver Bestandteil im Rahmen einer multimodalen Konzeption von Interaktion. Dies ist - das dürfte aufgrund der bisherigen Ausführungen klar geworden sein - natürlich nicht der Fall! <?page no="413"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 04.12.2006 13: 45 413 immer eine nicht hintergehbare räumliche Dimension besitzt. Verbale Interaktion findet immer nur in konkreten Räumen statt und diese räumliche Interaktionsgrundlage wirkt sich grundsätzlich auf die Verwendung sprachlicher Konstruktionen (beispielsweise bei der Raumreferenz, der Thema- Rhema-Konstitution und der Kontextualisierung von Äußerungen) aus. 32 Einer der thematischen Aspekte, der in diesem Projekt bearbeitet werden soll, ist daher die Frage, welche Ressourcen ihrer räumlichen und physikalischen Umgebung Interaktionsbeteiligte beim Anzeigen und beim gesprächsrhetorischen Einsatz von Interpretationspraktiken nutzen und in welcher Weise die sprachlichen Konstruktionen auf Räumlichkeit als nicht hintergehbare Bedingung von Interaktion reagieren. Das Forschungsprojekt „Multimodale Interpretationspraktiken“ zielt insgesamt darauf ab, grundlagentheoretische Vorarbeiten für eine multimodale Konzeption von Kommunikation zu leisten und sich in methodischer und methodologischer Hinsicht den Problemen zu stellen, die die komplexe multimodale Realität von Interaktion für ihre angemessene Analyse zwangsläufig bereit hält. Im Oktober 2005 wurde im IDS überdies ein zweitägiges Kolloquium „Koordination aus multimodaler Perspektive“ durchgeführt, das sich in internationaler Zusammensetzung erstmals systematisch mit Fragen der Koordination in Interaktion beschäftigte. Koordination ist eine vielschichtige, konstitutive Anforderung an Interaktionsbeteiligte. Dies wird jedoch erst deutlich, wenn sich die Analyse nicht nur auf die Rekonstruktion der Abfolge von Äußerungen unterschiedlicher Sprecher in der Zeit konzentriert, sondern alle Leistungen auf allen Modalitätsebenen berücksichtigt, die erst in ihrem zeitgleichen Zusammenspiel einen geordneten Ablauf der Interaktion ermöglichen. Zum einen zählen hierzu Aktivitäten, die für einen Beteiligten allein gelten und die beispielsweise die Abstimmung und Synchronisierung der verbalen Produktion einer Äußerung mit Mimik, Gestik und Körperpositur betreffen. Auch wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Gegenstand, der vor mir auf dem Tisch liegt, zur Verdeutlichung eines Sachverhaltes in die Höhe halten will, damit die anderen ihn sehen können, muss ich das vorbereitet 32 Räumliche Aspekte spielen für die Interaktionskonstitution auch in solchen Situationen eine Rolle, in denen sich die Interaktionspartner - etwa bei Telefon- oder Internetinteraktion - in getrennten Räumen befinden. <?page no="414"?> Reinhold Schmitt 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 04.12.2006 13: 45 414 haben und mit meinen anderen, gleichzeitig realisierten Aktivitäten (die Fortführung meiner Präsentation) koordinieren. Zum anderen zählen hierzu solche Aktivitäten, die das Miteinander mehrerer Interaktionsbeteiligter betreffen und regeln. So muss ich, will ich zu einem bestimmten Zeitpunkt die Sprecherrolle übernehmen, nicht nur die Interaktionsentwicklung verfolgen, sondern mich so in Position bringen, dass mich die anderen Teilnehmer als für die Übernahme der Sprecherrolle bereit erkennen und ihr eigenes Verhalten dementsprechend mit meinem koordinieren können. Koordination bearbeitet in diesem Fall sowohl das Problem der Zeitlichkeit als auch das Problem der Mehrpersonenkonstellation. 5. Schluss Die multimodale Auseinandersetzung mit der audiovisuellen Realität von Interaktion hat das Ziel - basierend auf konversationsanalytischen Überlegungen und orientiert an ihrer Systematik und ihrem strukturanalytischen Ethos -, der visuellen Seite von Interaktion den ihr gebührenden Platz in Theorie, Methode und Methodologie zu sichern. Nur durch eine systematische Erforschung des Zusammenspiels aller Ausdrucksmöglichkeiten kommt man dem Ziel einen Schritt näher, die faktische Komplexität interaktiver Realität angemessen zu erfassen. Der oben skizzierte multimodale Analyseansatz ist auf diesem Weg ein erfolgversprechender Zugang. Im Augenblick ist noch nicht im Detail prognostizierbar, wie sich dabei die Perspektive auf Interaktion als grundsätzlich multimodales Ereignis in methodischer, methodologischer und theoretischer Hinsicht zur Konversationsanalyse verhalten wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich der konversationsanalytische Ansatz als flexibel genug erweist, die Analyse der visuellen Seite von Interaktion in den bislang entwickelten Rahmen zu integrieren. Die dabei bestehende Notwendigkeit, auf die Spezifik der multimodalen Komplexität von Interaktion mit der Entwicklung neuer Konzepte und Analysemethoden zu reagieren, stellt für die Weiterentwicklung der strukturbezogenen konversationsanalytischen Methodologie eher einen positiven Impuls als eine wirkliche Irritation dar. <?page no="415"?> Von der Konversationsanalyse zur Analyse multimodaler Interaktion 15_Schmitt_Endversion_29-11-06 Volz 01.12.2006 14: 47 415 6. Literatur Bergmann, Jörg R. (1981): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung. Jahrbuch 1980 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 54). S. 9-51. Deppermann, Arnulf (1999): Gespräche analysieren. Opladen. Deppermann, Arnulf/ Schmitt, Reinhold (i.Vorb.): Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen. In: Schmitt, Reinhold (Hg.) (i.Vorb.). Goffman, Erving (1979): Footing. 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In: Human Studies 19, S. 365-384. <?page no="419"?> Heidrun Kämper Linguistik als Kulturwissenschaft Am Beispiel einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs im 20. Jahrhundert 1. Vorbemerkung Wir befinden uns in einer wissenschaftsgeschichtlichen Umbruchzeit, die an den Paradigmenwechsel der pragmatischen Wende Anfang der 70er-Jahre erinnert. Solche Übergangszeiten kennzeichnet ein typisches Phänomen: Einerseits müssen sich heute wie damals neue Forschungsansätze, Methoden und Theorien gegenüber denjenigen der traditionellen Struktur- und Systemlinguistik rechtfertigen und darlegen, warum sie den Anspruch, Sprachwissenschaft zu sein, zu Recht erheben. 1 Damals wie heute muss sich die neue Forschungsrichtung gegenüber Nachbardisziplinen abgrenzen und eine entschlossene Disziplinierung betreiben. Andererseits: ‘Sprachwissenschaft ist Kulturwissenschaft’ - für die wenigstens theoretische Anerkennung dieser Gleichung muss heute scheinbar nicht mehr geworben werden. Die „Entscheidung traditioneller Fächer wie Germanistik, Anglistik, Romanistik etc. für eine kulturwissenschaftliche Ausweitung ihrer Erkenntnisinteressen und -gegenstände bzw. für eine Rephilologisierung des Fächerprofils“ (Warnke 2002, S. 15) muss heute nicht mehr im Sinn einer Forderung, sondern kann im Sinn einer Feststellung vorgebracht werden. Die zahlreichen Publikationen, die allein in den letzten Jahren unter dem Zeichen ‘Kulturwissenschaft’ erschienen sind, lassen den Eindruck entstehen, dass sich die Linguistik längst dem neuen Paradigma geöffnet hat. 2 1 Drastisch formuliert Dietrich Busse, dass die Öffnung zu dem neuen Paradigma „bei vielen Linguisten nachgerade eine Schockstarre [bewirkt], die sie anscheinend unfähig macht, sich mit solchen neueren Ansätzen intensiver zu befassen und z.B. argumentativ auseinanderzusetzen“ (Busse 2003, S. 18). Insofern sei die Position dieser neueren Forschungsansätze „innerhalb der germanistischen Gesamtsprachwissenschaft keineswegs gesichert, sind ihre Ansätze keineswegs allseits gleichmäßig als unterstützungswürdig anerkannt“, mit dem Ergebnis, „die Förderungswürdigkeit und damit auch die Ergebnisträchtigkeit und gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungsvorhaben stets neu unter Beweis stellen zu müssen“ (ebd., S. 11). 2 Vgl. Gardt/ Haß-Zumkehr/ Roelcke (Hg.) (1999), Auer (2000), Schröder/ Kumschlies/ Gonzalez (Hg.) (2001), Cherubim/ Jakob/ Linke (Hg.) (2002), Gardt (2003), Linke (2003), <?page no="420"?> Heidrun Kämper 420 In diesem Übergangsstadium der allmählichen Etablierung des neuen Paradigmas kulturwissenschaftlich angelegter Linguistik (das ja eigentlich gar nicht so neu ist) soll der folgende Beitrag als ein Plädoyer gelesen werden. Dieses Plädoyer hat die Gestalt eines Konzepts zu einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs im 20. Jahrhundert. Zuvor soll danach gefragt werden, wiefern der heutige kulturwissenschaftliche Ansatz auf einem neuen Kulturbegriff gründet. 2. Das neue Paradigma Trotz einer Vorgeschichte, die ‘Kultur’ und ‘Sprache’ zusammendenkt, die die Zusammenlegung von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft in eine zweihundertjährige Tradition stellt, müssen wir von einem neuen Paradigma sprechen, welches die kulturwissenschaftliche Linguistik erschließt, und das in einer weiteren Neudeutung des Kulturbegriffs um 1900 begründet ist. ‘Kultur’ und ‘Sprache’ können von dem Moment an zusammengedacht werden, da sich ein neuer Kulturbegriff profiliert, der nicht mehr einen Zustand, sondern eine Entwicklung mit einer historischen Perspektive beschreibt. 3 Johann Gottfried Herder versteht Kultur als eine Lebensgestalt und Lebensform von Nationen oder Völkern, die einen Beginn hat, die sich wandelt, entwickelt und vollendet, zu der Sprache gleichsam die Basis ist. In seiner Preisschrift ‘Abhandlung über den Ursprung der Sprache’ parallelisiert Herder den Gang der Sprachentwicklung mit dem der Menschheits-, der Kulturgeschichte: So wie Kultur ein Phänomen mit einer historischen Entwicklung ist, so ist Sprache, als Element der Kultur, progressiv-prozessualen Einflüssen unterworfen. Sie ist ein Produkt stetiger Fortentwicklung. Der Beginn der Kulturgeschichtsschreibung datiert mit dem Sprachhistoriker, Lexiko- Wengeler (Hg.) (2003), Busse/ Niehr/ Wengeler (Hg.) (2005). Es kann festgestellt werden: „Nach Jahrzehnten der Dominanz formalistischer Methoden und des Dogmas einer strikten Trennbarkeit von sprachlicher Form und geistigem Inhalt wenden sich jüngere Sprachwissenschaftler neuerdings wieder (wie schon in der Historischen Semantik in ihrer ersten Blütezeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) einer Form der Erforschung der Sprache zu, die die in Sprache vermittelten Inhalte nicht ausklammert, wie es jahrelang striktes Gebot der sich als modern verstehenden Linguistik war, sondern im Gegenteil diese Inhalte selbst (und ihre Beziehung zu den sprachlichen Ausdrucksmitteln) zum eigentlichen Ziel und Gegenstand der Sprachforschung macht.“ (Busse 2003, S. 18). 3 Vgl. HWbPh (1976), S. 1309ff. Einen knappen Überblick über die ‘Geschichte der Kulturgeschichte’ gibt Daniel (2001, S. 195ff.). <?page no="421"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 421 graphen und Grammatiker Johann Christoph Adelung. Er hat vermutlich auch den Terminus ‘Geschichte der Kultur’ eingeführt: „Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts“ nennt er seine Abhandlung aus dem Jahr 1782. Wie Herder betrachtet Adelung Kulturgeschichte nicht als die Geschichte „wichtiger Staats- und Kriegsbegebenheiten“, als die „Geschichte der Beherrscher und ihrer Kriege und Staatshandlungen“, sondern als die „Geschichte des Volkes“: „Wer das Pragmatische bloß in der Entwickelung der Ursachen wichtiger Staats- und Kriegsbegebenheiten setzet, macht die Geschichte und ihren Nutzen zu einseitig und eingeschränket, und kann eine sehr gute Geschichte der Beherrscher und ihrer Kriege und Staatshandlungen schreiben, aber nicht des Volkes, welches sie beherrschen. Billig sollte daher [...] die so genannte Universal-Geschichte [...] nichts anderes seyn als eine sorgfältige Geschichte der Cultur.“ (Adelung 1782b, Vorwort). Und da Sprache „mit der Cultur eines jeden Volkes in dem genauesten Verhältnisse“ steht, lässt sich die Geschichte der Sprache „nie ohne beständige Rücksicht auf den jedesmahligen Zustand und Fortschritt der Cultur begreifflich machen“ (Adelung 1782c, S. 14). In diesem Sinn legt Adelung in seinem Aufsatz ‘Was ist Hochdeutsch? ’ die Entstehung der allgemeinen Mundart und der Schriftsprache als Produkt kultureller Höherentwicklung dar: Sobald das Volk „in eine allgemeine engere Verbindung tritt, so bald es zu einigem Wohlstand gelanget, so bald Künste und Wissenschaften in demselben aufblühen, kurz, so bald es einigen Fortschritt in der höhern Cultur macht, bildet sich in demselben eine allgemeine Mundart für die höheren Classen der Nation, welche denn gemeiniglich auch in Schriften gebraucht wird, und daher die Schriftsprache eines solchen Volkes heißt.“ (Adelung 1782a, S. 5). Diesen Zusammenhang von Sprache und Kultur beschreibt Adelung in seiner Geschichte der deutschen Sprache: ‘Über die Geschichte der Deutschen Sprache, über Deutsche Mundarten und Deutsche Sprachlehre’ (1781), der ersten deutschen Sprachgeschichte, in der dieser Konnex zwischen Sprache und Kultur hergestellt wird. In dieser Sprachgeschichte legt Adelung den historischen Prozess dar, der die kulturelle Höherentwicklung, die also auch eine sprachliche ist, zur Folge hat. Der neue Kulturbegriff steht wissenschaftsgeschichtlich im Kontext mit dem von Max Weber formulierten Kulturbegriff: „‘Kultur’ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ (Weber 1904, S. 180) Dieser Begriff der Kultur, der in der Gegenwart z.B. von Clifford <?page no="422"?> Heidrun Kämper 422 Geertz fortgeführt wird (Kultur ist ein vom Menschen „selbstgesponnene[s] Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1987, S. 9)), hat also eine weite Semantik: Kultur ist der Sammelbegriff für jegliche geistige Ausdrucksformen, er ist eine die gesamte menschliche Existenz mit allen ihren Erscheinungsformen und Hervorbringungen bezeichnende umfassende Kategorie. Forschungstheoretisches und forschungspraktisches Wandelphänomen ist der Begriff von Sprache nicht nur als kulturelle Hervorbringung, sondern innerhalb der symbolorientierten Kulturwissenschaften zunächst einmal als Faktor der kulturellen Entwicklung. Diese Grundthese, die den so genannten ‘linguistic turn’ der Kulturwissenschaften ausdrückt, 4 steht in engem Zusammenhang mit einem kulturwissenschaftlichen Axiom, welches ein neues Forschungsparadigma etablierte. Dieses neue Forschungsparadigma ist entstanden aus dem Axiom von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger/ Luckmann 1965/ 1999). Unter dieser Voraussetzung versteht Kulturwissenschaft Kultur als mit Sinn und Bedeutung versehene Wirklichkeit, als Komplex unterschiedlicher Bedeutungssysteme, die ohne Sprache nicht zu denken ist: Sinn und Bedeutung verleihen ist allererst ein sprachlicher Vorgang, insofern Kultur auf Kommunikation angewiesen ist und durch Sprache in der Funktion von „Wirklichkeitsdeutung“ (Hansen 2000, S. 391) vermittelt wird. Vor diesem Hintergrund ist das Diktum von der ‘gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit’ zu spezifizieren: ‘Gesellschaftlich’ bedeutet ‘sprachlich’, so dass aus linguistischer Sicht von der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit zu sprechen ist. Indem über Wirklichkeit in einer bestimmten Art und Weise gesprochen wird, wird sie existent - in dieser bestimmten Art und Weise: „Die wirklichkeitsstiftende Macht des Gesprächs ist mit der Tatsache der Objektivation durch die Sprache bereits vorgegeben.“ (Berger/ Luckmann 1965/ 1999, S. 164). Mit anderen Worten: Sprache schafft Wirklichkeit als die, wie sie den Menschen erscheint. Mit Sprache übernehmen wir immer auch Interpretationen von Welt. Sprache ist Medium und Ort der Konstitution von Wirklichkeit und Weltwissen „als so und so typisch geordnet[...] und zusammengefaßt[...]“ (Knobloch 1992, S. 19). Mit der „Konstitution von Sinn [...] wird die Wirklichkeit [...] gesellschaftlich erst geschaffen“ (Busse 1987, S. 283) durch die Art und Weise, die Modalität der Verständigung über diese Wirklichkeit. So 4 Einen guten Forschungsüberblick gibt Wengeler (2003, S. 99ff.). <?page no="423"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 423 unbestimmt der Kulturbegriff geworden ist 5 - das lässt sich sagen: Sprache schafft Kultur, sie ist konstitutiv für Kultur als die Gesamtheit von Objektivationen, die Ergebnisse von Deutungsprozessen darstellen. Indem mittels Sprache Bedeutungen konstituiert werden, ist Sprache also nicht nur Indikator, sondern auch Faktor historisch-sozialer Prozesse (Koselleck 1979, S. 29) - die berühmte Formulierung des Historikers Reinhart Koselleck. Damit ist die kulturwissenschaftliche Perspektive der Sprachwissenschaft umrissen: Sprachwissenschaft ist dann eine Kulturwissenschaft, wenn sie sich versteht als interpretierende Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung und Erklärung von Sprache und sprachlichem Ausdruck als Form sozialen kulturellen Handelns beschäftigt. 3. Disziplinäre Abgrenzungen Unter dieser Voraussetzung ist das Problem der Disziplinierung und der Entdisziplinierung der Kulturwissenschaften zu betrachten, genauer: das Problem der methodisch-theoretischen Abgrenzung kulturwissenschaftlicher Linguistik von anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Situation der Kulturwissenschaften ist gekennzeichnet von dem Erfordernis der Abgrenzung. Dieses Erfordernis resultiert aus der Tatsache, dass sich kulturwissenschaftliche Disziplinen in identischen Gegenständen, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen treffen. So sind etwa auch Historiker im Zuge des ‘linguistic turn’ z.B. an Phänomenen interessiert, die genuin sprachwissenschaftliche sind. 6 Das ist mit Entdisziplinierung gemeint: parallele Erkenntnisinteressen und Forschungsgegenstände unterschiedlicher Dis- 5 Vgl. etwa die Definition von Kultur als „die Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs“ (Hansen 2000, S. 17f.). Ute Daniel erkennt als eine Tatsache, dass wenig oder eigentlich gar keine „Möglichkeiten noch übrig sind, Kultur als Gegenstand der Kulturwissenschaften zu umreißen“ (Daniel 2001, S. 447). 6 Der Historiker Otto Gerhard Oexle z.B. untersucht u.a. „emotionell hoch besetzte Schlüssel-Wörter [...], in denen sich .. ‘Haltungen’, ‘Dispositionen’ und ‘Lebensrichtungen’ konkretisierten“ (Oexle 2000, S. 8). Edgar Wolfrum, ein anderes Beispiel, möchte „Argumentationsweisen, Sprachmuster und Schlüsselbegriffe anhand einiger diskursgeschichtlicher Überlegungen [...] ergründen“ (Wolfrum 1999, S. 8f.). Die Sprachwissenschaft tut das per se, sie analysiert immer schon Schlüsselwörter, Argumentationsweisen und Sprachmuster. <?page no="424"?> Heidrun Kämper 424 ziplinen, die einer Expansion dieser Forschungsgegenstände in den Einzeldisziplinen entspricht, die deren Topologie bereichert und diversifiziert. 7 Diese wissenschaftstheoretisch bedingte Entdisziplinierung der Analysegegenstände, die Bearbeitung identischer Themen erfordert gleichzeitige Disziplinierung der fachbezogenen methodischen und erkenntnismäßigen Ausformung. 8 Indem sich kulturwissenschaftliche Linguistik in der Nachbarschaft zu anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen befindet, muss sie sich, als eigenständige Disziplin, methodisch profilieren - erst recht in der Übergangszeit, in der legitimierende Argumente bereit zu halten sind. Der Untersuchungsgegenstand ‘Diskurs’ ist z.B. eine solche Schnittstelle dieser kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Diskursanalyse ist ein in den Kulturwissenschaften insgesamt etablierter Gegenstand. 9 Er erfordert die Auseinandersetzung auch mit der Zeit- und Sozialgeschichte und der Wissenssoziologie, um sie in einen linguistischen argumentationstheoretischen und lexikologisch-semantischen Forschungsansatz der Sprachgeschichte zu implementieren. In linguistischem Verständnis ist Diskurs eine komplexe sprachliche Einheit oberhalb der Textebene (vgl. z.B. Warnke 2002), deren Komponenten sich durch thematische Kohärenz auszeichnen. Er ist zu definieren als eine sämtliche gesellschaftliche Daseins- und Ausdrucksformen betreffende und in ganz unterschiedlichen Texten und Kommunikationssituationen präsente gesellschaftliche Sinngebungsinstanz, der als kollektiver kommunikativer Akt einer unbestimmten Zahl von Diskursbeteiligten über einen unbestimmten Zeitraum realisiert wird. Aufgabe der linguistischen Diskursanalyse bzw. Diskursge- 7 Die Folgen einer solchen Expansion formuliert Böhme (1995, S. 55) für die Germanistik, die „so leistungsstark ist wie niemals zuvor. [...] Die Germanistik verdankt ihre Vielfalt und Produktivität auch der Tatsache, daß sie sich den Theorien und Verfahren von Nachbarwissenschaften geöffnet hat. Sie ist dadurch jedoch eine Art Importwissenschaft geworden und zahlt den Preis, der für Modernisierung durch Anpassung an externe Standards zu zahlen ist: dieser Preis ist der Kontaktverlust zu Traditionen des Faches und seinen Gegenständen. D.h. hier: ein Verdrängen des hermeneutisch-kulturwissenschaftlichen Ursprungs [sic! ] der Linguistik zwischen Herder und Humboldt sowie der Ästhetik und Hermeneutik als Grundlagen wissenschaftlicher Analyse von Literatur“. 8 Der Historiker Oexle optiert für eine „entschlossene[...] Entdisziplinierung“ kulturwissenschaftlicher Fächer. Gleichzeitig fordert er das Gegengewicht einer Disziplinierung „in dem Sinne [...], daß die einzelnen kulturwissenschaftlichen Fächer sich ihrer historisch gewordenen, spezifischen Leistungen bewußt sind und sie zur Geltung bringen“ (Oexle 1996, S. 31). 9 Historiker wie Politologen, Literaturwissenschaftler wie Soziologen sind diesem Gegenstand zugewendet. Vgl. die Beiträge in Keller et al. (Hg.) (2001 und 2003) und Keller et al. (2003). <?page no="425"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 425 schichte ist es darzustellen und zu beschreiben, welcher historische Sachverhalt, welches Ereignis und/ oder welche Befindlichkeit eine Gesellschaft einer bestimmten Epoche diskursiv bearbeitet (Thema), wie diese Gesellschaft das jeweilige Diskursthema in Sprache fasst und damit konstituiert (Lexik, Stilistik, Kommunikationsformen), 10 und warum sie dies so tut (Argumentationsmuster). Damit steht linguistische Diskursanalyse in dem komplexen Forschungsfeld ‘Sprache und Gesellschaft’. Kulturwissenschaftliche Linguistik ist ohne die Vorstellung von sprachlicher Gesellschaftlichkeit nicht zu denken. Zwar ist diese Vorstellung ein Grundelement jeglichen linguistischen Analyseansatzes - auch einer Grammatik oder einem Wörterbuch, jeder systemorientierten Zielsetzung liegt dieses Axiom zugrunde. Kulturwissenschaftliche Linguistik indessen bezieht - eigentlich die pragmatische Traditionslinie der Linguistik fortsetzend - die Gesellschaftlichkeit von Sprache explizit in ihre Analyse ein, als Konstituente des zu untersuchenden sprachlichen Ausdrucks. Gesellschaftlichkeit wird also als jeweilige Bedingung für Sprachgebrauch thematisiert. 11 Man kann verallgemeinernd sagen: In Bezug auf die interdisziplinäre Beschäftigung mit sprachlichen Verwendungsweisen hat die kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik ein umgekehrtes Erkenntnisinteresse als die Geschichtswissenschaft. Sprachwissenschaft ist nicht dem sprachlich vermittelten historischen Gegenstand zugewandt, sondern der diesen Gegenstand erfassenden Sprache. Ihr Interesse gilt der Untersuchung von Sprache, dem Verstehen von Sprachgebrauch und seiner Erklärung unter den jeweils spezifischen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. 12 Festzuhalten ist: Eine kulturwissenschaftlich angelegte Linguistik beschreibt Sprachgebrauch, eine kulturwissenschaftlich angelegte Sprachgeschichte ist Sprachgebrauchsgeschichte, die nach den historischen und gesellschaftlichen 10 Peter Auer hat kulturwissenschaftliche Linguistik als „Differenzwissenschaft“ beschrieben und reklamiert das ‘Wie’ als einen ihrer zentralen Gegenstände (Auer 2000, S. 67f.). 11 Vgl. Jäger (1993), der strukturorientierte „Chomsky-Theorien“ von funktionsorientierten „Mead-Theorien“ unterscheidet, welch letztere „die gesellschaftliche [...] als Grundbedingung für Sprache“ erkennt (ebd., S. 79). Zur Gesellschaftlichkeit von Sprache vgl. außerdem u.a. Hermanns (1995), Mattheier (1995), Linke (1998), Wichter (1999). 12 In diesem Sinn grenzt Reinhart Koselleck Begriffs- und Sozialgeschichte voneinander ab: Begriffsgeschichte beschäftigt sich „in erster Linie mit Texten und mit Worten“, Sozialgeschichte bedient sich „nur der Texte [...], um daraus Sachverhalte abzuleiten und Bewegungen zwischen Gruppen, Schichten, Klassen“ (Koselleck 1979, S. 19). <?page no="426"?> Heidrun Kämper 426 Bedingungen und Veränderungen von Sprache als Erzeugerin von Wirklichkeit fragt. 13 Aus dieser spezifischen Vorstellung der Gesellschaftlichkeit von Sprache resultieren gegenwärtig typische Themen und Gegenstände kulturwissenschaftlicher Linguistik. Sie lassen sich zusammenfassen unter der Überschrift ‘Zeitgeschichtlicher Diskurs’ - es sind Analysen öffentlichen Redens der Politik und Gesellschaftskritik und damit eines Redens, bei welchem die sprachliche Konstruktion nicht selten ein funktionales Moment, im Bereich der politischen Rhetorik etwa das der Persuasion, erhält. Sprachgeschichte als Zeitgeschichte ist eine Forschungsperspektive, die der Gesellschaftlichkeit von Sprache einen besonderen Akzent verleiht. Zeitgeschichte als die Geschichte der lebenden Generationen (Hans Rothfels) bedeutet als linguistische Perspektive die Darstellung und Beschreibung eines Sprachstadiums in dem gesellschaftlichen, historisch-politischen Raum, in dem Sprache stattfindet und die sich unserer Gegenwart zuneigt. Das Konzept einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs, das im Folgenden vorgestellt wird, steht unter diesem Zeichen einer zeitgeschichtlichen Diskursanalyse. 13 Vgl. Kämper (2005a, S. 233ff.). An dieser Stelle ist auf das Plädoyer Jägers (1993) für eine „Rückgewinnung eines theoretischen Zentrums der Sprachwissenschaft“ zu verweisen. Dieses Zentrum solle „die Einheit der philologischen Wissenschaften durch eine Theorie begründe[n], die die strukturalen und funktionalen, die systematischen und medialen Eigenschaften der Sprache in einer genuinen Sprachidee entfaltet“ (Jäger 1993, S. 98). Eine solche Sprachwissenschaft hätte vor allem „(1) die Historizität der Sprache [...] wieder zur Geltung zu bringen [...] (2) die Idee des sich in einer sozialen Bildungsgeschichte entfaltenden Individuums [...] zu begründen; es wäre ihr aufgegeben (3) die Dimension des Dialogischen, der Individualität von Rede und Verstehen [...] nachdrücklich in Erinnerung zu rufen; sie hätte insgesamt (4) den Mythos der strukturalistischen Trennung von strukturalem Kern und funktionaler Peripherie der Sprache zu destruieren und die Ausbürgerung der ästhetischen, der medialen und der kommunikativen Sprachdimensionen rückgängig zu machen“ (ebd., S. 98f.). Im nämlichen Sinn optieren Ortner/ Sitta (2003) für „einen reflektierten, gut begründeten und vor allem reichen und lebendigen Begriff von Sprache, in dem neben dem sprachlichen System auch das sprachliche Verhalten aufgehoben ist“ (S. 12). Eine solche Orientierung könne „zur theoretischen Profilierung einer Sprachwissenschaft bei[...]tragen, die die Analyse von Sprache und Sprachverhalten auch in der Absicht von Kultur- und Gesellschaftsanalyse betreibt“ (ebd., S. 13). <?page no="427"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 427 4. Die Geschichte des sprachlichen Umbruchs als kulturwissenschaftlich angelegter Forschungsplan einer deutschen Sprachgeschichte Die Darstellung und Beschreibung zeitgeschichtlicher Diskurse gehört (bisher) nicht zu den Kernaufgaben des Instituts für Deutsche Sprache. Der Forschungsbereich wird repräsentiert von den abgeschlossenen Institutsprojekten ‘Brisante Wörter’ (Strauß/ Haß/ Harras 1989) und ‘Schlüsselwörter der Wendezeit’ (Herberg et al. 1997), sowie von zwei Drittmittelprojekten, einem abgeschlossenen und einem Anschlussprojekt, mit dem am 1. Oktober 2005 begonnen wurde und über die im Folgenden zunächst berichtet wird. 4.1 Das Projekt ‘Zeitreflexion’ Das Projekt, das unter dem Titel ‘Zeitreflexion 1945 bis 1955’ stand, wurde von April 2000 bis März 2002 von der DFG gefördert. Es bestand im Wesentlichen in der Erstellung eines Korpus 14 und in dessen Strukturierung im Sinn typischer Nachkriegsdiskurse. Grundlage waren Texte, die in den Jahren 1945 bis 1955 veröffentlicht bzw. verfasst wurden und die Vergangenheits-, Gegenwarts- oder Zukunftsaspekte, jeweils in Bezug auf den Nationalsozialismus, thematisieren. Die Perspektive der drei Zeitdimensionen war nicht nur Strukturelement des Korpus, sondern wurde darüber hinaus sprachlich als einer von mehreren Umbruchfaktoren gewertet und beschrieben. Ein weiteres diskursives Strukturelement ist die Zusammensetzung der Diskursbeteiligten. Die Texte wurden nach Perspektiven ihrer Autoren unterschieden. Diese Perspektiven entsprechen den Beteiligungsrollen, die die Autoren zur Zeit des Nationalsozialismus innehatten: Opfer, Täter und Nichttäter. Ergebnisse dieses Projekts sind als ‘Schulddiskurs’ dargelegt (Kämper 2005b), der als sprachlicher Umbruch zu bewerten ist: Zum ersten Mal in der Geschichte des Neuhochdeutschen seit 1945 besteht die sprachliche Wirklichkeit in der Existenz eines Opfer-, eines Täter- und eines Nichttäterdiskurses. Zum ersten Mal in der Geschichte des Neuhochdeutschen wird die sprachliche Wirklichkeit von der Ablösung einer Epoche der Diktatur durch eine vordemokratische und dann demokratische und pluralistische Gesellschaft bestimmt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Neuhochdeutschen ist ein politisches System Anlass für einen Schulddiskurs, der industrielle Menschenvernichtung massenhaften Ausmaßes zum Thema hat. Zum ersten Mal in der 14 Es umfasst ca. 14 MB , das entspricht knapp zwei Millionen Wörtern. <?page no="428"?> Heidrun Kämper 428 Geschichte des Neuhochdeutschen wird die sprachliche Wirklichkeit durch die Existenz von zwei, unterschiedlichen Systemen verbündeten, deutschen Staaten geprägt. 15 Das Konzept dieser Untersuchung wird kritisch weiter verfolgt im Rahmen eines Vorhabens, das unter dem Titel ‘Zeitreflexion 1967/ 1968’ geführt und ebenfalls von der DFG unterstützt wird. Dabei geht es um die linguistische Darstellung und Beschreibung der Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im gesellschaftlich-politischen Kontext der Jahre um 1968 aus der Perspektive der ersten Folgegeneration. Textbasis sind in den Jahren um 1968 erschienene bzw. verfasste Texte und Textfragmente. Zugrunde gelegt werden zeit- und sozialkritische Texte sowie Reden zu historisch bedeutenden Anlässen, außerdem Tagebücher, Briefe, Flugblätter, Texte anlässlich von Vollversammlungen, Podiumsdiskussionen, Teach-ins etc., schließlich programmatische Texte (z.B. von Parteien) und fiktionale Texte der schönen Literatur (Romane, Gedichte). Auszuwerten sind darüber hinaus Artikel aus diskursgeschichtlich wichtigen Zeitschriften. 16 Die analytischen Leitfragen dieses wie des vorangegangenen Vorhabens lauten: - Welche Themen bestimmen den Diskurs? - Welches Argumentationsziel verfolgen die Diskursteilnehmer? - Welches lexikalisch-semantische Instrumentarium (Schlüsselwörter, Stereotype, Begriffe, Deutungsmuster, Syntagmen) gebrauchen die Diskursteilnehmer zur Realisierung ihrer Argumentationen? Dieses Projekt ‘Zeitreflexion’, zum einen bezogen auf die erste Nachkriegsdekade, zum andern bezogen auf die Jahre 1967/ 1968, auf die Zeit also der zweiten Zäsur nach 1945, ist sowohl ein sprachgeschichtlicher Beitrag zur Diskursgeschichte, als auch, hinsichtlich seiner lexikalisch-semantischen Befunde, ein lexikologisch-lexikalischer Beitrag zur Sprachgebrauchsgeschichte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinn sind die Befunde außerdem in eine sprachliche Umbruchgeschichte einzuordnen. 15 Die sprachlichen Einzelergebnisse sollen hier nicht dargestellt werden, vgl. detailliert Kämper (2005b), zusammenfassend Kämper (2005a). 16 Das Projekt ist skizziert unter http: / / ww.ids-mannheim.de/ ll/ Zeitreflexion68/ (Stand: November 2006). <?page no="429"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 429 4.2 ‘Sprachliche Umbruchgeschichte’ Die Befunde der Untersuchung, die unter dem Titel ‘Schulddiskurs’ vorgelegt wurden, und die zu erwartenden Befunde des anschließenden Projekts, lassen die Projektierung einer größer dimensionierten institutionellen Verankerung derartiger zeitgeschichtlich orientierter kulturwissenschaftlicher Linguistik als eine Forschungsperspektive des Instituts für Deutsche Sprache prima vista als berechtigt erscheinen, und Evaluatoren urteilen eindeutig: Auf Zeitgeschichte bezogene Linguistik als Forschungsgegenstand des IDS ist willkommen und sinnfällig. 17 Eine Institutionalisierung setzt eine umfassendere Konzeptionierung, die allerdings in ihren Grundzügen in den zwei Pilotprojekten bereits erprobt wurde bzw. wird, voraus. Das Konzept einer sprachlichen Umbruchgeschichte setzt voraus, 1) dass sprachhistorische Veränderungen durch die politische, kulturelle, wissenschaftliche, gesellschaftliche Ereignisgeschichte verursacht werden, 2) vice versa dass Sprache Spiegelung der Ereignisgeschichte ist, 3) dass gesellschaftlich relevante Diskurse in Umbruchzeiten Zeitreflexionen sind, da Gesellschaften besonders in Umbruchzeiten je spezifische Deutungsmuster realisieren a) von Vergangenheit (woran und wie erinnert sich die Gesellschaft einer bestimmten Umbruchzeit? ), b) von Gegenwart (welche Selbstbilder vermittelt die Gesellschaft einer bestimmten Umbruchzeit? ) und c) von Zukunft (welche Zukunftsentwürfe konzeptioniert die Gesellschaft einer bestimmten Umbruchzeit? ). 18 17 „Begrüßt wird das im April 2000 neu aufgenommene Projekt Zeitreflexion in der frühen Nachkriegszeit“ (Protokoll der Evaluierung der Abt. Lexik 22./ 23. November 2001, S. 2); „Die sprachpolitische und zeithistorische Forschung gehört nicht zu den Kernaufgaben des IDS . Um so mehr ist positiv herauszuheben, dass die Leistungen zur ‘Sprachgeschichte als Zeitgeschichte’ am IDS ausgezeichnet und gesellschaftlich von hoher Relevanz sind.“ (Bewertungsbericht Senatsausschuss Evaluierung 23.12.2003, S. B-5). 18 Eine solche auf Referenzen zeitbezogener sprachlicher Äußerungen orientierte Sprachbetrachtung ordnet sich ein in die neuere kulturwissenschaftliche Forschungsperspektive, die die Konstitution und Konstruktion von Identität zum Gegenstand hat. Denn vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogene sprachliche Referenzen sind solche, die die Fra- <?page no="430"?> Heidrun Kämper 430 Sprache ist der Ort, wo Geschichte stattfindet. 19 Sprache ist auch der Ort der Zeitgeschichte, und sie stellt der Sprachgeschichte die Aufgabe, zeitgeschichtlich relevanten, auf unsere Gegenwart in spezifischer Weise bezogenen Sprachgebrauch zu erklären und zu beschreiben vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten. Die Einbeziehung dieser Gegebenheiten ist unabdingbare Voraussetzung für die Erklärung von Sprachgebrauch - nämlich als ‘Folge’ und ‘Faktor’ dieser Gegebenheiten. 20 Damit ist eine solche Untersuchung der äußeren Sprachgeschichte, die der „‘geistigen’ oder besser gesellschaftlich-kulturellen Seite der Sprache unter den externen Bedingungen des konkreten Sprachgebrauchs“ zugewendet ist (Mattheier 1995, S. 8), zuzuordnen, der pragmatischen Sprachgeschichte, in deren „Zentrum [...] immer die Frage nach den Möglichkeiten und der Praxis sprachgebundenen sozialen Handelns unter bestimmten historischen Bedingungen“ (Cherubim 1998, S. 544) steht. Sprachgebrauch ist erklärbar nur in dem gesellschaftlichen, historisch-politischen Raum, in dem er stattfindet. Das sind nicht nur die „Voraussetzungen [...], die das in einem gegebenen Zeitpunkt Sagbare und Denkbare überhaupt erst möglich machen“ (Busse 2003, S. 27), sondern auch das einen Diskurs Bedingende. Dieser Raum ist beides, Teil der methodisch-theoretischen Orientierung pragmatischer Sprachgeschichtsschreibung ebenso wie Gegenstand der Darstellung insofern, als er als Bedingung von Sprachgebrauchsweisen ein Explikativ darstellt. Nicht nur hängt die „Frage nach dem Charakter eines politischen Systems, einer politischen Ordnung [...] eng zusammen mit der Frage, wie in dieser Ordnung kommuniziert wird, wie kommuniziert werden kann“ (Grünert 1984, S. 29), sondern auch vice versa: Die Frage nach dem Charakter einer Sprache hängt natürlich auch eng damit zusammen, in welcher politischen Ordnung kommuniziert wird. gen: woher kommen wir? , wo sind wir? , wohin gehen wir? - es sind dies die Fragen nach Identität - beantworten. Dieses Thema hat Konjunktur: Aus linguistischer Perspektive vgl. Link/ Wülfing (Hg.) (1991), Teubert (1992), Fraas (1996), Wodak et al. (1998), Kämper (2003). Nichtlinguistische Identitätsforschung repräsentieren u.a. Papcke (1983), Weidenfeld (Hg.) (1983), Jeismann (1991), Hall (1994), Platt/ Dabag (Hg.) (1995), Assmann (1997), Assmann/ Friese (Hg.) (1999), Wagner (1999), Giesen (1999), Niethammer (2000). 19 „ce lieu où se passe l'histoire“ (Greimas 1958, S. 112). 20 Eine „historische Semantik [ist] ohne sozialhistorische Fundamentierung und Zielsetzung schlechterdings undenkbar“ (Busse 2003, S. 10). <?page no="431"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 431 Solch eine pragmatisch fundierte, den historischen Sprachgebrauch in Beziehung zu den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen setzende sog. äußere Sprachgeschichte kann zwei Perspektiven haben: zum einen die Perspektive des - diachronisch darzustellenden - Sprachwandels, zum andern die Perspektive des - synchronisch darzustellenden - Sprachumbruchs. Sprachwandel - bereits der Terminus lässt darauf schließen, dass es sich um Prozesse allmählicher sprachlicher Veränderungen handelt. Hermann Paul spricht vom allmählichen Übergang okkasioneller in usuelle Gebrauchsweisen (vgl. Paul 1920, S. 75), Rudi Keller (1994) gebraucht das Bild des durch häufiges Begehen allmählich entstehenden Trampelpfads. Der Forschungsgegenstand ‘Sprachumbruch’ ist ein Aspekt von Sprachgeschichte, der nicht auf der Zeitebene, also diachronisch, sondern auf der Ereignisebene, also synchronisch zu beschreiben ist. In Relation zu Sprachwandel gesetzt, kann man sagen: Ein sprachlicher Umbruch ist der Beginn von sprachlichen Veränderungen, die, wenn sie von der Ereignisauf die Zeitebene übergehen, Sprachwandel zur Folge haben können. Umbruch setzt also Entwicklungen in Gang, ist als Beginn von Entwicklungen, als Anstoß, als Motiv von Sprachwandel zu verstehen. Kollektive Umbruchsituationen „[eröffnen] ein Fenster auf den Prozeß des Sprachwandels“ (Dittmar 1997, S. 3), sind aber nicht der Prozess selbst. Welches sind solche kollektiven Umbruchsituationen? Im Rahmen einer pragmatischen, sozialgeschichtlich angelegten Sprachgeschichte sind es plötzliche gesellschaftliche oder politische Veränderungen. Sprachlich manifeste Umbruchphänomene sind insofern ohne Interferenz zwischen ihnen und Daten der politischen Geschichte, der Gesellschaftsgeschichte nicht zu denken. 4.3 Daten einer sprachlichen Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts Eine im Horizont der Zeitgeschichte stehende sprachliche Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts, dieses „Zeitalter[s] der Extreme“ (Hobsbawm), kann man berechtigterweise mit der Nationalstaatsgründung 1871 beginnen lassen. Die Jahre 1870/ 71 bis 2000 21 sind gekennzeichnet von je spezifischen politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Ereignissen innerhalb 21 Ob dieses Jahr tatsächlich das Ende des 20. Jahrhunderts markiert, ob dieses Ende früher (etwa 1989/ 90) oder später anzusetzen ist, muss sich erst noch erweisen. Deshalb ist die Jahreszahl 2000 hier nur als Symbol, welches das Ende des 20. Jahrhunderts anzeigen soll, zu verstehen. <?page no="432"?> Heidrun Kämper 432 der jeweiligen Umbruch-Phasen, die als Einflussfaktoren der Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts zu bewerten sind. Zäsuren der Umbruchgeschichte seit 1870/ 71 und ihre Einflussfaktoren könnten in diesem Sinn etwa sein: - 1870/ 71 (Reichsgründung und zunehmender Nationalismus); - 1900 (Industrialisierung und ihre Folgen, Kolonialismus, Rassismus und Nationalismus, Verwissenschaftlichung des Wissens/ der Gesellschaft, Zivilisationskritik und Reformbewegung, abgesehen davon, dass der Jahrhundertwechsel an sich Anlass für die Konstituierung eines Umbruchsbewusstseins ist); - 1914 (Erster Weltkrieg, Ende des Kaiserreichs); - 1918/ 19 (Vertrag von Versailles, Revolution, Rätedemokratien, Weimarer Verfassung/ Republik, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit); 22 - 1933 (Nationalsozialismus, radikalisierter und pervertierter Nationalismus und Antisemitismus, Diktatur und Terror, Zweiter Weltkrieg, Industrialisierung der Menschenvernichtung, Kapitulation); - 1945 (Kriegsende, Ende der Naziherrschaft, alliierte Besatzung, Wiederaufbau der Gesellschaft/ der Demokratie, Staatsgründungen, Schulddiskurs 23 ); - 1968 (Protestbewegungen, Neue Linke/ APO, Dominanz der Gesellschaftswissenschaften, Zunahme der Massenmedien, Ablösung der restaurativ-integrativen Adenauer-Zeit durch die innovative, kontroverse, pluralistische politische Sprachkultur der sozialliberalen Koalition (v. Polenz)); 24 22 Für die Zeit von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik verweist Peter von Polenz auf „Entwicklungsschübe der Kommunikations- und Sprachgeschichte [...] besonders in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung (1871) und in der späteren Nachkriegszeit, wobei darauf hinzuweisen ist, dass für eine solche Schwerpunktbestimmung die Zeit der Weimarer Republik noch zu wenig erforscht ist“ (v. Polenz 1999, S. 6). 23 Vgl. Kämper (2005b). 24 Hugo Steger hat in einem sprachgeschichtlichen Überblick die Jahre 1945 bis etwa Mitte 1980 in folgende Phasen geteilt: Abgesehen von 1945 als „Epochenjahr“, „1947/ 50 bis 1960/ 65. Wirtschaftswunder und Sprachausgleich“, „nach 1960/ 65 bis 1972/ 74. Vom Pluralismus zur Sprache der Entzweiung“, „nach 1972/ 75 bis 1980/ 81. Sozialromantik im Jahrzehnt der Realpolitik“, „Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein kommunikationsgeschichtlicher Einschnitt? “ (Steger 1989). <?page no="433"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 433 - 1989/ 90 (Wiedervereinigung und politisch-gesellschaftliche Wende, deutsch-deutsche Annäherungen, sprachlicher Umbruch in der DDR 25 ); - 2000 (Umbruchbewusstsein hervorrufende Jahrtausendwende). Sprachgeschichte im Horizont politischer bzw. gesellschaftlicher Umbrüche beschreibt die Interdependenz von gesellschaftlichen Prozessen und sprachlichen Veränderungen synchronisch im Sinn von Ereignissen. Sie beantwortet die Frage nach neuen sprachlichen Erscheinungen vor dem Hintergrund der jeweils herrschenden politisch-gesellschaftlichen Bedingungen. Eine solche synchronische sprachliche Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich von einer diachronischen Sprachgeschichte aufgrund der unterschiedlichen Akzentsetzung. Zwar beschreibt eine sprachliche Umbruchgeschichte die Zäsurhaftigkeit eines sprachlichen Umbruchs auch durch die Einbeziehung der sprachlichen Merkmale der vorhergehenden Epoche - so wird die Veränderung als solche erkennbar -, ebenso wie durch die Einbeziehung der Fortwirkung dieser neuen sprachlichen Merkmale - mit einem solchen Fortwirken rechtfertigt sich die Rede von einer Zäsur - und insofern hat auch eine sprachliche Umbruchgeschichte eine diachronische Dimension. Während eine allgemeine Sprachgeschichte die Linien von sprachlichen Entwicklungen bzw. Veränderungen im Sinn von Epochen zwar, aber kontinuierlich gleichsam im Fluss der Zeit beschreiben, ist jedoch die Aufmerksamkeit und das Erkenntnisinteresse einer sprachlichen Umbruchgeschichte auf Zäsuren und deren punktuelle Beschreibung als solche gerichtet. Dabei wird deutlich, dass eine sprachliche Umbruchgeschichte auch einer sprachgeschichtlichen Periodisierung gleichkommt. Denn sprachgeschichtliche Phasengrenzen - Beginn bzw. Ende einer Phase - sind immer auch Umbruchmomente. Dass die Summe dieser durch synchronische Analysen erlangten Befunde der sprachlichen Umbruchgeschichte eine zuverlässige Grundlage einer diachronischen Sprachwandelgeschichte bildet, ist evident. 5. Fazit Verkürzt gesagt soll die Geschichte sprachlicher Umbrüche einen Beitrag leisten zur pragmatisch orientierten Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage eines kulturgeschichtlich ausgerichteten diskurs- und 25 Vgl. Herberg et al. (1997). <?page no="434"?> Heidrun Kämper 434 argumentationsanalytisch sowie lexikologisch-lexikalisch angelegten Ansatzes. Das Erkenntnis- und Darstellungsziel dieser Sprachgeschichte besteht in der Beantwortung der Frage, welche sprachlichen (textuellen, argumentativen, lexikalischen) Mittel Träger der je unterschiedlichen Umbruch-Phasen des 20. Jahrhunderts sind. In kontextbezogenen quellennahen Analysen von zeitgeschichtlich und damit sprachgeschichtlich zentralen Texten werden so Zeitgeschichte und ihre sprachlichen Repräsentanten zueinander in Beziehung gesetzt, beschrieben und dargestellt. Diese Sprachgeschichte integriert also Forschungsergebnisse verschiedener diskursanalytisch ausgerichteter kulturwissenschaftlicher Disziplinen, ohne interdisziplinär im engeren Sinn zu sein. 26 Eine solche sprachliche Umbruchgeschichte ist nicht zu verstehen als isoliertes solitäres Einzelprojekt, sondern ist eingebunden in einen größeren Forschungszusammenhang des IDS, und zwar in zweierlei Hinsichten: hinsichtlich der IDS-Korpora und hinsichtlich des Informationssystems elexiko. - Die projektspezifischen Quellentexte sind ein kritisch ausgewähltes historisches Spezialkorpus. Als solche sind die Texte in die IDS-Korpora integrierbar und dann mit COSMAS recherchierbar (vgl. http: / / www. ids-mannheim.de/ cosmas2/ ). Damit besteht ein wesentlicher Ertrag einer aus Textdokumenten erarbeiteten sprachlichen Umbruchgeschichte in der dringend nötigen Ergänzung der IDS-Korpora um kritisch ausgewählte zentrale Texte der neueren deutschen Sprachgeschichte. - Die lexikalisch-semantischen Ergebnisse der Untersuchung sind darüber hinaus laufend zur Einarbeitung in das sprachgeschichtliche Modul des Informationssystems elexiko (vgl. http: / / www.elexiko.de ) aufzubereiten. Dass dies möglich ist, zeigen die Erfahrungen mit der Implementierung der lexikalisch-semantischen Befunde des Projekts ‘Zeitreflexion’/ ‘Schulddiskurs’. 27 26 Ortner/ Sitta fordern eine Erweiterung des linguistischen Forschungsgegenstandes ‘Sprache’: „Wenn dabei die Grenzen der Sprachwissenschaft zu ihren Nachbarwissenschaften tangiert (und geöffnet) werden, also etwa zur Psychologie, zur Soziologie, zur Medienwissenschaft, zur Didaktik, zur Sozial- und Zeitgeschichte, so liegt das durchaus in unserer Absicht.“ (Ortner/ Sitta 2003, S. 13). 27 Die Ergebnisse dieser Implementierung werden voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2007 zugänglich sein. Vgl. zu elexiko die Beiträge von Ulrike Haß und von Annette Klosa/ Doris Steffens (in diesem Band). <?page no="435"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 435 6. Literatur Adelung, Johann Christoph (1781): Über die Geschichte der Deutschen Sprache, über Deutsche Mundarten und Deutsche Sprachlehre. Leipzig. Adelung, Johann Christoph (1782a): Was ist Hochdeutsch? In: Magazin für die Deutsche Sprache. Ersten Jahrganges erstes Stück. S. 1-31. Adelung, Johann Christoph (1782b): Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts. Leipzig. Adelung, Johann Christoph (1782c): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. Zwei Bde. Leipzig. Assmann, Aleida/ Friese, Heidrun (Hg.) (1999): Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. 3: Identitäten. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Assmann, Jan (1997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2., durchges. Aufl. München. Auer, Peter (2000): Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft? In: Freiburger Universitätsblätter 147, S. 55-68. Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas (1965/ 1999): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 16. Aufl. Frankfurt a.M. Böhme, Hartmut (1995): Die umstrittene Position der Germanistik im System der Wissenschaften In: Jäger, Ludwig (Hg.): Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Weinheim. S. 46-55. Böhme, Hartmut/ Matussek, Peter/ Müller, Lothar (2000): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek. Busse, Dietrich (1987): Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart. Busse, Dietrich (2003): Historische Diskursanalyse in der Sprachgermanistik - Versuch einer Zwischenbilanz und Ortsbestimmung. In: Wengeler (Hg.), S. 8-19. Busse, Dietrich/ Niehr, Thomas/ Wengeler, Martin (Hg.) (2005): Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen. Cherubim, Dieter (1998): Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen Pragmatik. In: Besch, Werner/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Berlin/ New York. S. 538-550. <?page no="436"?> Heidrun Kämper 436 Cherubim, Dieter/ Jakob, Karlheinz/ Linke, Angelika (Hg.) (2002): Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin/ New York. Daniel, Ute (2001): Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a.M. Dittmar, Norbert (1997): Sprachliche und kommunikative Perspektiven auf ein gesamtdeutsches Ereignis in Erzählungen von Ost- und Westberlinern. In: Barz, Irmhild/ Fix, Ulla (Hg.): Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag. Heidelberg. S. 1-32. Fraas, Claudia (1996): Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit. Tübingen. Gardt, Andreas (2003): Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Haß-Zumkehr, Ulrike/ König, Christoph (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Göttingen. S. 271-288. Gardt, Andreas/ Haß-Zumkehr, Ulrike/ Roelcke, Thorsten (Hg.) (1999): Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin. Gardt, Andreas/ Mattheier, Klaus J./ Reichmann, Oskar (Hg.) (1995): Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. Giesen, Bernhard (1999): Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a.M. Greimas, Algirdas (1958): Histoire et Linguistique. In: Annales, S. 110-114. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg. Hansen, Klaus P. (2000): Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen/ Basel. Herberg, Dieter/ Steffens, Doris/ Tellenbach, Elke (1997): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/ 90. Berlin/ New York. Hermanns, Fritz (1995): Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik. In: Gardt/ Mattheier/ Reichmann (Hg.), S. 69-101. HWbPh (1976): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd 4. Darmstadt. <?page no="437"?> Linguistik als Kulturwissenschaft 437 Jäger, Ludwig (1993): „Language, What Ever That May Be.“ Die Geschichte der Sprachwissenschaft als Erosionsgeschichte ihres Gegenstandes. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 12, 1, S. 77-106. Jeismann, Michael (1991): Was bedeuten Stereotypen für nationale Identität und politisches Handeln? In: Link/ Wülfing (Hg.), S. 84-93. Kämper, Heidrun (2003): Von zeitbedingten und ewigen Deutschen. Der Identitätsdiskurs in der frühen Nachkriegszeit und seine argumentative Struktur. In: Wengeler (Hg.), S. 338-363. Kämper, Heidrun (2005a): 1945: Sprachgeschichte - Zeitgeschichte - Umbruchgeschichte am Beispiel. In: Busse/ Niehr/ Wengeler (Hg.), S. 233-248. Kämper, Heidrun (2005b): Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945. Berlin/ New York. Keller, Reiner/ Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (2003): Die vielgestaltige Praxis der Diskursforschung - Eine Einführung. In: Keller et al. (Hg.), S. 7-18. Keller, Reiner/ Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.) (2001): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen. Keller, Reiner/ Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.) (2003): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis. Opladen. Keller, Rudi (1994): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand der Sprache. 2. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen. 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Beide Funktionen von elexiko sind in seiner Konzeption, insbesondere in der Datenstruktur, von Anfang an gleich gewichtet und berücksichtigt worden“ (Haß 2005c, S. 2). Das Projekt ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass es als Präsentationsmedium (so genanntes Portal) der Arbeiten der Abteilung Lexik am IDS dient: Im elexiko-Portal werden die lexikografisch-lexikologischen Arbeitsergebnisse (organisatorisch und inhaltlich) weitgehend eigenständiger Projekte veröffentlicht. Von einem dieser „Modulprojekte“, dem Modulprojekt Neologismen, das für die Integration der Wortschatzbeschreibungen aus anderen Projekten Pilotfunktion übernommen hat, handelt der dritte Teil dieses Beitrages. Zugleich ist elexiko selbst ein lexikografisch-lexikologisches Projekt mit dem Ziel, weite Teile des Wortschatzes der deutschen Gegenwartssprache korpusbasiert, aktuell und nach einer neuen lexikografischen Konzeption zu beschreiben, wobei von Anfang an keine gedruckte Publikation, sondern ausschließlich die Publikation im Internet geplant war. Gegenstand dieses elexiko-Wörterbuches ist dabei der Wortschatz der deutschen Standardsprache in ihrer öffentlichen Verwendung. Der Wortschatz wird in diesem Pro- 1 Vgl. den Beitrag von Haß (in diesem Band). Das Informationssystem elexiko kann unter http: / / www.elexiko.de kostenlos genutzt werden. <?page no="444"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 444 jekt modular bearbeitet, und zwar einerseits horizontal, d.h. mit „flachen“ und überwiegend automatisch gewonnenen Informationen über den überwiegenden (niedrig frequenten) Teil der Gesamtlemmastrecke und andererseits vertikal, d.h. mit „tiefen“ Informationen zu lexikologisch begründeten Teilwortschätzen. Diesen Aspekt von elexiko behandelt der zweite Teil dieses Beitrages. Die Publikation der Ergebnisse der Modulprojekte unter dem (organisatorischen und informationstechnologischen) Dach des elexiko-Portals bedingt zugleich, dass neben die Ergebnisse, Methoden und Darstellungsformen des elexiko-Wörterbuches als eigenes lexikografisches Projekt jeweils modulspezifische Methoden und Darstellungsformen treten. Die Bindung an die lexikografische Konzeption des elexiko-Wörterbuches kann dabei, je nach Sachlage und je nach Nutzerinteresse, unterschiedlich eng sein. Eine große Herausforderung für das Projekt als Ganzes stellt damit auch die Verbindung der verschiedenen lexikologisch-lexikografischen Ergebnisse in einer für die Nutzer verständlichen und gut zu benutzenden Oberfläche dar. Dies soll im vierten Teil dieses Beitrages kurz diskutiert werden. Zusammengefasst lässt sich sagen: Das Projekt elexiko soll - die Möglichkeiten des hypertextuellen Mediums Internet konsequent und innovativ lexikografisch umsetzen; - allgemein verständliche Wortschatzinformationen zusammen mit lexikologisch-semantischer Fachinformation, wie sie in der Abteilung Lexik des IDS erarbeitet wurde und wird, in einem flexibel nutzbaren Präsentationsmedium dauerhaft zugänglich machen; - mit dem Teilwörterbuch ein von der Verlagslexikografie heute nicht mehr leistbares Gegenwartswörterbuch „aus den Quellen“, d.h. korpusbasiert, neu erarbeiten. Die Überlegung, nicht nur ein gegenwartssprachliches Wörterbuch am IDS neu zu erarbeiten, sondern zugleich eine lexikalische Datenbank zu schaffen, wurde in einer ersten Projektskizze im Jahr 1997 festgehalten. 2 In der Folge wurde eine Arbeitsgruppe (damals noch unter dem Namen „LEKSIS“) aufgebaut, die sowohl die computertechnologischen Möglichkeiten testete als auch eine Wortartikelstrukur linguistisch entwickelte und texttechnolo- 2 Vgl. hierzu insbesondere Fraas/ Haß-Zumkehr (1998). <?page no="445"?> Deutscher Wortschatz im Internet 445 gisch realisierte. 3 Diese sehr komplexe XML-DTD (s.u.) wurde in der folgenden Phase gründlich getestet und überarbeitet. 4 Anfang 2003 war die linguistisch-lexikologische Konzeptionsphase (unter dem Projektnamen „Wissen über Wörter“) weitgehend abgeschlossen sowie eine mittelfristig stabile Softwarearchitektur errichtet. Damit konnte das Projekt zur Realisierungsphase übergehen, also dazu, zunächst die elexiko-Stichwortliste mit ihren ca. 300.000 Einträgen zu erarbeiten, Wortartikel zu verfassen und mit der Integration der Ergebnisse aus den Modulprojekten zu beginnen. Seit Januar 2004 ist die elexiko-Stichwortliste inklusive orthografischer Angaben zu allen Stichwörtern online zu benutzen; 5 im Juni 2004 wurde ein erster Teilwortschatz (der im elexiko-Projekt erarbeitete so genannte Demonstrationswortschatz) veröffentlicht. In wechselnder personeller Besetzung innerhalb der elexiko-Projektgruppe und in ständigem Kontakt mit den Modulprojekten, zu denen grundsätzlich auch externe Projekte werden könnten, ist so der Anfang für ein wissenschaftlich fundiertes und langfristig angelegtes Nachschlagewerk zum deutschen Gegenwartswortschatz gemacht, dessen weitere Entwicklung nicht nur für die Projektmitarbeiter spannend bleibt. 2. Das elexiko-Wörterbuch (Annette Klosa) Das elexiko-Wörterbuch ist ein einsprachiges Wörterbuch des Deutschen, wobei alle nationalen Varianten behandelt werden: „Wörterbuchgegenstand ist die geschriebene deutsche Standardsprache der Gegenwart seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wie sie in überregionalen und regionalen Zeitungen verwendet wird“ (Haß 2005c, S. 2). Der Beschreibung liegt das elexiko-Korpus 6 zu Grunde, das ausschließlich Zeitungs- und Zeitschriftentexte enthält, die aus dem gesamten deutschen Sprachraum stammen. Durch die ständige Aktualisierung des Korpus kann die Beschreibung zeitnah erfolgen. „Wissenschaftliches Ziel des Projekts ist, auf dem aktuellen Stand der lexikografischen, lexikologischen und korpuslinguistischen Forschung und Methodik ein langfristig angelegtes Nachschlageinstrument zu Fragen des deutschen Gegenwartswortschatzes zu entwickeln, es auszubauen und immer wieder zu aktualisieren“ (Haß 2005c, S. 1). 3 Vgl. hierzu Müller-Landmann (2001). 4 Vgl. zu den nötigen Überarbeitungen Müller-Spitzer (2005). 5 Zur Entwicklung der elexiko-Stichwortliste und zum Stichwortansatz in elexiko vgl. Schnörch (2005). 6 Zum elexiko-Korpus vgl. Storjohann (2005a). <?page no="446"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 446 2.1 Adressaten Das elexiko-Wörterbuch wendet sich sowohl an linguistische Laien und Studierende wie an linguistisch Vorgebildete. 7 Es kann von ihnen in sehr verschiedenen Benutzungssituationen, nämlich der Textproduktion, der Textrezeption oder dem Wortschatzerlernen, und daher mit sehr unterschiedlichen Nachschlagebedürfnissen konsultiert werden. So kann man das Wörterbuch etwa als Bedeutungswörterbuch, als Kollokationswörterbuch, als rückläufiges Wörterbuch, als Rechtschreibwörterbuch, als grammatisches Wörterbuch, als Wortbildungswörterbuch, als onomasiologisches Wörterbuch, als phraseologisches Wörterbuch und/ oder als Belegwörterbuch nutzen. Dies bedeutet für unser Projekt einerseits die Chance, ein Wörterbuch zu erarbeiten, das im gedruckten Medium so nicht zu realisieren wäre, und andererseits das Problem, bei der Auswahl der lexikografischen Angaben, bei ihrer Formulierung und schließlich bei ihrer Präsentation am Bildschirm alle diese Möglichkeiten zu berücksichtigen. Das Projekt geht etwa bei der Frage der adressatenspezifischen Formulierung so vor, „dass alle narrativen Angabearten, von der semantischen Paraphrase über diverse Kommentare bis hin zu Hinweisen […] so geschrieben [sind], dass Sprachinteressierte sie mühelos verstehen, wohingegen die zahlreichen linguistischen Kategorien entweder durch ein reines Zuweisungsverfahren markiert oder in linguistischer Terminologie vermittelt werden“ (Haß 2005c, S. 3). Derzeit wenden sich die innerhalb der elexiko-Projektgruppe erarbeiteten Wortartikel in der Online-Ansicht (vgl. hierzu und zum Folgenden Abb. 1) vornehmlich an interessierte Laien, die manches aus gedruckten Wörterbüchern Vertraute in den Wortartikeln wiederfinden, aber auch Neues entdecken können. Schwer verständliche linguistische Termini werden mithilfe von Erläuterungstexten, die über „Info“-Knöpfe aufgerufen werden können, erläutert. Für linguistisch Vorgebildete werden einige ausgewählte Informationen in der Artikelansicht angeboten, z.B. die Zuordnung bestimmter Lesarten (d.h. Einzelbedeutungen) zu bestimmten Prädikatorenklassen. Die elexiko-Recherche hingegen bietet eher den linguistisch vorgebildeten Nutzern die 7 Das elexiko-Wörterbuch wendet sich aber nicht gezielt an Lerner des Deutschen als Fremdsprache, weil für ein spezielles DaF-Wörterbuch eine andere Korpuszusammenstellung, eine andere Stichwortauswahl, ein anderes Beschreibungsvokabular usw. nötig wäre. „Für fortgeschrittene Deutschlerner, die den Zugang zu aktuellen Medien des deutschsprachigen Raums suchen, dürfte elexiko hingegen sehr hilfreich sein, da der Mediensprachgebrauch sehr explizit erläutert wird.“ (Haß 2005a, S. 7). <?page no="447"?> Deutscher Wortschatz im Internet 447 (noch weiter zu entwickelnde) Möglichkeit, den Artikelbestand mit linguistischen Fragestellungen zu durchsuchen. Zukünftig sollen aber mindestens zwei verschiedene Zugänge zum Wörterbuch bzw. mindestens zwei verschiedene Wortartikelansichten geschaffen werden, nämlich eine für Laien und eine für Linguisten. Abb. 1: Lesartenbezogene Angaben im Wortartikel Bevölkerung 2.2 Grundlagen und Methoden Wichtigstes Prinzip bei der Erarbeitung aller Angaben in den elexiko-Wortartikeln ist das Prinzip der Korpusbasiertheit. Jede Angabe, die die Nutzer vorfinden, beruht nicht auf der individuellen Sprachkompetenz des Lexikografen, sondern auf der systematischen Auswertung der Korpusdaten. Alle Angaben sind daher für die Nutzer transparent und nachvollziehbar. Um die Nachvollziehbarkeit für die Nutzer vollständig zu gewährleisten, muss allerdings noch eine direkte Anbindung an das elexiko-Korpus realisiert wer- <?page no="448"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 448 den. Das elexiko-Wörterbuch ist damit ein beschreibendes, kein vorschreibendes Nachschlagewerk. 8 Umfangreiche Korpora werden in der Lexikografie traditionellerweise genutzt, um zuvor aufgestellte Hypothesen bzw. eigene Annahmen zu verifizieren oder zu widerlegen bzw. um Antworten auf Fragen wie „Kommt dieses Wort vor und, wenn ja, wie häufig? “ oder „Wann ist dieses Wort zum ersten Mal belegt? “ zu erhalten. Das Korpus wird natürlich auch als Belegsammlung im klassischen Sinne genutzt, d.h., man sucht darin nach besonders guten Beispielen. Das Prinzip der Korpusbasiertheit im elexiko- Wörterbuch geht aber darüber hinaus, indem wir systematisch Ausschnitte aus der deutschen Sprache analysieren. Wir suchen nicht nur nach Beweisen für unsere Hypothesen bzw. nach Belegen im Korpus, sondern analysieren es und versuchen, im Sprachgebrauch Gesetzmäßigkeiten, Regeln, Muster und Auffälligkeiten zu erkennen, die wir dann interpretieren und darstellen wollen. Voraussetzung hierfür ist einerseits ein wirklich umfangreiches Korpus (das elexiko-Korpus umfasst derzeit etwa 1,3 Milliarden Wortformen) und ausgefeilte Korpusrecherche- und -analysewerkzeuge, wie sie das IDS mit der Softwareplattform COSMAS II 9 anbietet. Charakteristisch für das elexiko-Wörterbuch ist, wie im Übrigen für elexiko als Portal, dass nicht alle Wörter von A bis Z lexikografisch bearbeitet werden, bevor das Wörterbuch publiziert wird, sondern dass die Wortschatzbeschreibungen in kleineren Mengen gleicher oder ähnlicher Arten von Wörtern, so genannten Modulen, erfolgen. Damit wollen wir erreichen, dass elexiko im Internet schon nutzbar ist, bevor es komplett mit Informationen gefüllt ist. Die elexiko-Projektgruppe beschäftigt sich zurzeit mit zwei Modulen: Zum einen wird an der Füllung solcher Stichwörter, die im elexiko- Korpus weniger als 500-mal belegt sind, mit automatisch generierten Angaben (z.B. Belege, grammatische Angaben) gearbeitet. Zum anderen wird ein „Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“ erarbeitet, in dem der allgemein geläufige Wortschatz rund um wichtige politische und gesellschaftliche Themen beschrieben wird. Damit sind zwei mögliche Kriterien für die Aus- 8 Trotzdem werden Nutzer im elexiko-Wörterbuch auch über Normfragen informiert, und zwar explizit und nicht-wertend, sodass sie sich eine eigene Meinung bilden können; vgl. hierzu Klosa (2005c). 9 Vgl. hierzu http: / / www.ids-mannheim.de/ cosmas2/ . Innerhalb dieser Werkzeuge benutzen wir insbesondere das Tool „Statistische Kollokationsanalyse und Clustering“ (Belica 1995). <?page no="449"?> Deutscher Wortschatz im Internet 449 wahl bestimmter Wortschatzmengen genannt: Frequenz und diskursiver Zusammenhang. Aufgabe des elexiko-Wörterbuches ist es auch, solche (und weitere) Auswahlverfahren zu testen und außerdem zu prüfen, ob eine ununterbrochene, praktisch tägliche Publikation fertiger Wortartikel oder eine Publikation in größeren abgeschlossenen Mengen für die Nutzer sinnvoll erscheint. Die Publikation des elexiko-Wörterbuches im Internet bedingt nicht nur, dass neue Bearbeitungsverfahren möglich sind, sondern auch, dass die Art, wie die lexikografischen Daten erfasst werden, sich von dem für gedruckte Wörterbücher Möglichen und Nötigen unterscheidet. Im elektronischen Medium besteht gerade die Möglichkeit, nicht immer den gesamten Wörterbuchartikel lesen zu müssen, sondern einzelne Angaben herauszusuchen und anzeigen zu lassen bzw. parallel für unterschiedliche Nutzergruppen unterschiedliche Artikelansichten zu präsentieren (s.o.). Hierfür müssen die Angaben explizit inhaltlich ausgezeichnet werden. Dies geschieht in unserem Projekt mithilfe der Auszeichnungssprache XML (eXtensible Markup Language). 10 XML kann allgemein dazu genutzt werden, Daten inhaltlich auszuzeichnen und ihr Layout separat dazu festzulegen; es ermöglicht außerdem eine medienneutrale Datenhaltung. Die für das elexiko-Wörterbuch entwickelte Artikelstruktur ist in Form einer XML-Dokumenttypdefinition (= DTD) festgehalten. 11 2.3 Inhalte Das elexiko-Wörterbuch enthält eine Vielzahl an lexikografischen Angaben, die „von der Semantik und Pragmatik über Wortbildung und Grammatik bis zur Orthografie alles ab[decken], was von einem einsprachigen gegenwartsbezogenen Wörterbuch erwartet werden kann, das nicht nur Fragen von Laien, sondern auch von Linguisten beantworten will“ (Haß 2005c, S. 10). Dabei verteilen sich die Angaben grundsätzlich auf solche, die sich auf das Lemmazeichen selbst beziehen, und auf solche, die sich nur auf Lesarten des Stichwortes beziehen. Entsprechend zweigeteilt stellt sich auch die Online- Ansicht unserer Artikel dar: Ausgehend von der Bildschirmseite mit den lesartenübergreifenden Angaben (vgl. Abb. 2) können einzelne Lesarten mit ihren jeweils spezifischen Angaben aufgerufen werden (vgl. oben Abb. 1). 10 XML ist eine international standardisierte Metasprache zur Auszeichnung von Daten. 11 Zu den Prinzipien der Datenmodellierung im elexiko-Wörterbuch vgl. Müller-Spitzer (2005). <?page no="450"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 450 Zu den lesartenübergreifenden Angaben zählen die orthografischen Informationen (Schreibung des Stichwortes mit möglichen Rechtschreibvarianten, Angaben zur Worttrennung) 12 und beispielsweise die Angabe der Verteilung auf den bundesdeutschen, österreichischen und den schweizerdeutschen Sprachraum. Hier ist auch die Darstellung des Lesartenspektrums und die Erläuterung des semantischen Zusammenhangs der einzelnen Lesarten innerhalb der so genannten Konzeptfamilienangabe platziert. 13 Abb. 2: Lesartenübergreifende Angaben im Wortartikel Anerkennung Innerhalb der einzelnen Lesarten wird grundsätzlich zunächst die Bedeutungserläuterung gegeben, bevor die semantische Umgebung des Stichwortes in der jeweiligen Lesart mithilfe von Sets typischer Mitspieler geschildert wird. 14 Teil der semantischen Beschreibung sind schließlich die umfangreichen, jeweils durch Belege gestützten Informationen zu paradigmatischen Partnern. 15 12 Zu den orthografischen Angaben vgl. Klosa (2005b). 13 Zum Bedeutungsspektrum allgemein und der Konzeptfamilienangabe vgl. Haß (2005b). 14 Zu diesem neuen lexikografischen Angabetyp vgl. Haß (2005d). 15 Vgl. hierzu Storjohann (2005b). <?page no="451"?> Deutscher Wortschatz im Internet 451 Informationen zu typischen Verwendungen, 16 zur Verwendungsspezifik 17 und zur Grammatik 18 runden die vielfältigen Angaben zu einer Lesart ab. 3. Das Modulprojekt Neologismen (Doris Steffens) Neologismen im Internet: Für diesen sich schnell verändernden Wortschatzbereich bedeutet das neue Medium allein schon deshalb einen Gewinn, weil Stichwörter und Daten jederzeit problemlos ergänzt und aktualisiert werden können. Bevor das Projekt Neologismen, zugleich Modul- und Pilotprojekt von elexiko, vorgestellt wird, sei ein kurzer Rückblick gestattet. 3.1 Zur Vor- und Frühgeschichte des Projektes Neologismen Die Neologismenlexikografie gilt im Deutschen als unterentwickelt (vgl. Herberg 1988a, Kinne 1996). Im Unterschied zu vielen anderen europäischen und außereuropäischen Sprachen gibt es für das Deutsche keine Neologismenwörterbücher, denen Prinzipien der wissenschaftlichen Lexikografie zu Grunde liegen. Neuer Wortschatz findet sich lediglich in kleineren Trend- und Szenewörterbüchern. Gleichwohl gab es vielversprechende Ansätze, den Aspekt des Aufkommens von Lexemen als Ausdruck für die Dynamik des Wortschatzes lexikografisch darzustellen. Für das Gegenwartsdeutsche 19 war es das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG 1964-1977), das als großes allgemeinsprachliches Wörterbuch Markierungen zur Kennzeichnung neuer sprachlicher Einheiten einführte und damit die Möglichkeit eröffnete, Neologismen innerhalb der Gesamtzahl der Stichwörter zu identifizieren, eine „Pionierleistung“, die „bisher in der deutschsprachigen Lexikografie keine Nachfolge gefunden hat“ (Herberg 1988b, S. 454). Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht auch in anderen allgemeinsprachlichen Wörterbüchern neuer Wortschatz findet - im Gegenteil: Jede Neuauflage kündigt eine große Zahl von neu aufgenommenen Wörtern an, nennt werbewirksam stets einige besonders bekannte Neologismen, ohne sie aber dann im Wörterbuchteil als neu auszuweisen. 16 Zu Ermittlung und Darstellung typischer Verwendungen vgl. Storjohann (2005c). 17 Zu den Angaben zu Besonderheiten des Gebrauchs vgl. Haß (2005a). 18 Zu den grammatischen Angaben im elexiko-Wörterbuch vgl. Klosa (2005a). 19 Auf Joachim Heinrich Campes frühen Versuch im 19. Jahrhundert kann hier nicht eingegangen werden. <?page no="452"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 452 Um die Lücke auf dem Gebiet der Neologismenlexikografie im Deutschen schließen zu helfen, war bereits Mitte der 80er Jahre unter Leitung von Dieter Herberg am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin ein Neologismenwörterbuch konzipiert und mit der Untersuchung der in der Allgemeinsprache der DDR gebräuchlichen, insbesondere in den 70er und 80er Jahren aufgekommenen Neologismen begonnen worden. Die Beschränkung auf den Sprachgebrauch in der DDR war den damaligen politischen Verhältnissen geschuldet. Die Stichwortliste und ein Teil der Wortartikel lagen bereits vor, als die Veränderungen der Wendezeit das Aus auch für dieses Projekt brachten. „Es gab sicherlich gute Gründe, dieses Unternehmen aufgrund seiner makrostrukturellen Vorgaben mit dem Ende der DDR abzubrechen. Die Bemühungen um das erste deutsche Neologismenwörterbuch blieben damit zunächst allerdings auf der Strecke“ (Kinne 1996, S. 330). Wiegand richtete vor dem Hintergrund, dass das erste (DDR-)deutsche Neologismenwörterbuch nicht beendet worden war, an germanistische Forschungseinrichtungen indirekt die Aufforderung, sich dieser Aufgabe anzunehmen: „Eine germanistische Neologismenlexikographie von wissenschaftlichem Rang wird sich als Verlagslexikographie in Kürze wohl kaum entwickeln. Sie ist aber notwendig, und zwar u.a. auch deswegen, weil ihre Ergebnisse im lexikographischen Gesamtprozeß, der zu zweisprachigen Wörterbüchern mit Deutsch führt, dringend benötigt werden“ (Wiegand 1990, S. 2187). Einige der Mitarbeiter, die 1992 nach der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften der DDR und gleichzeitig positiver Evaluierung durch den Wissenschaftsrat an das IDS wechselten, waren schon am Projekt DDR-Neologismen bzw. am WDG und dessen Nachfolger, dem „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (HDG 1984) beteiligt gewesen. So sprach manches dafür, das Projekt eines Neologismenwörterbuches nunmehr in Mannheim vor gesamtdeutschem Hintergrund mit überarbeiteter Konzeption erneut in Angriff zu nehmen, fand sich doch mit dem IDS eine Institution, die bereits mehrere größere Untersuchungen zur aktuellen Sprachentwicklung durchgeführt hatte und in der zudem langjährige Erfahrungen im Umgang mit einem umfangreichen elektronischen Textkorpus bestanden. Dass dies am IDS aber nicht sofort geschah, sondern noch Jahre vergingen, hatte v.a. den Grund, dass es erst einmal vorrangig war, den Wortschatz der Wen- <?page no="453"?> Deutscher Wortschatz im Internet 453 dezeit zu beschreiben. Als der Abschluss dieser Forschungsaufgabe 20 absehbar war, wurde das Projekt Neologismen 21 im Forschungsplan des IDS verankert und damit die Konsequenz aus der nach wie vor defizitären Situation im Bereich der Neologismenforschung gezogen. „Vorbereitet wurde 1997 ein Projekt, das […] die deutschen Neologismen […] der Neunzigerjahre erfassen, beschreiben und dokumentieren soll, soweit sie sich im allgemeinsprachlichen Teil des Wortschatzes der deutschen Standardsprache in den Neunzigerjahren etabliert haben“ (IDS (Hg.) 1998, S. 7). Ziel dieses Projektes war die Erarbeitung des ersten genuinen, auf Prinzipien der wissenschaftlichen Lexikografie basierenden Neologismenwörterbuches für das Deutsche. 22 Für den Untersuchungsgegenstand wurde folgende Begriffsbestimmung zu Grunde gelegt: Unter einem Neologismus wird eine neue lexikalische Einheit bzw. die neue Bedeutung einer etablierten lexikalischen Einheit verstanden, die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft aufkommt, sich ausbreitet, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und von der Mehrheit der Sprachbenutzer eine gewisse Zeit lang als neu empfunden wird. Die Wahl des Zeitraums der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ließ sich in verschiedener Hinsicht gut begründen: Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts/ Jahrtausends erschien der Projektgruppe als sowohl kalendarisch markanter wie auch ausreichend langer Zeitraum, und nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 bestand nun wieder eine einheitliche staatliche Kommunikationsgemeinschaft, sodass sich 1991 als das erste Jahr des Erfassungszeitsraums anbot. 3.2 Zur Neuausrichtung des Projektes Neologismen In der Abteilung Lexik, der Abteilung, in der das Neologismenprojekt angesiedelt ist, wurde, wie oben ausgeführt, seit Ende 1997 das Konzept für ein 20 Vgl. Herberg/ Steffens/ Tellenbach (1997). 21 Das Projekt wurde wiederum von Dieter Herberg bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 2002 geleitet. 22 Zur Funktion von Neologismenwörterbüchern vgl. v.a. Herberg (1988a). Hier nur so viel: „Ihre Nützlichkeit erweisen Neologismenwörterbücher […] nicht nur als aktuelle Nachschlagewerke in Form von Vorlaufbzw. Ergänzungswörterbüchern zu den großen allgemeinen Wörterbüchern der jeweiligen Standardsprache, sondern auch als wichtige wortgeschichtliche Quelle im Rahmen der Sprachgeschichtsschreibung.“ (Herberg 2004, S. 336). <?page no="454"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 454 lexikalisch-lexikologisches korpusbasiertes Informationssystem zur deutschen Gegenwartssprache entwickelt. So bot es sich an, das Projekt Neologismen Ende 1999 als dessen Pilotprojekt zu etablieren. Welche Chancen (und Schwierigkeiten) taten sich mit dieser Entscheidung auf? Für die Darstellung im Internet sprach und spricht, dass im Vergleich zu einem Printwörterbuch die Informationen zu den Wörtern wesentlich breiter und tiefer dargestellt und die Daten jederzeit ergänzt und korrigiert werden können, dass sich durch mehrdimensionale Vernetzung neue facettenreiche Möglichkeiten des Zugriffs eröffnen und dass sich damit letztlich auch benutzerdifferenzierte Angebote für Linguisten bzw. für sprachlich interessierte Laien entwickeln lassen. Großer Wert wird auf das Angebot von Abfragemöglichkeiten gelegt. Dabei kann im gesamten Datenbestand oder jeweils differenziert innerhalb der einzelnen Teilwörterbücher recherchiert werden. Denkbare Abfragen speziell bei Neologismen sind: - Welche Neulexeme haben mehr als ein Genus? - Welche Neulexeme sind Scheinentlehnungen? - Welche Anfang der 90er Jahre aufgekommenen Neologismen sind in noch keinem in den 90er Jahren erschienenen Wörterbuch gebucht? - Welche Verben haben Neubedeutungen? Aus der Beobachtung des entsprechenden Benutzerverhaltens lassen sich in Zukunft gewiss Schlussfolgerungen in Hinblick auf eine Verbesserung dieses Angebotes ziehen. Dabei ist zu erwarten, dass Benutzerkreise erreicht werden, die Printwörterbücher eher nicht benutzen. 3.3 Zu einigen Aspekten des Internetwörterbuches Der Reiz der Pilotfunktion bestand für die Projektmitarbeiter darin, dass sie ihre eigene, fast fertige - wenn auch auf ein Printwörterbuch zugeschnittene - Konzeption für die Bearbeitung des relativ abgeschlossenen und überschaubaren Wortschatzbereiches der Neologismen der 90er Jahre anhand der neuen Möglichkeiten eines hypertextuellen Informationssystems erproben konnten. Dabei erbrachte das Testen der ursprünglich für das elexiko-Wörterbuch entwickelten DTD (s.o.) im Zuge der Erarbeitung von Neologismen- Wortartikeln durch mehrere neologismusunabhängige Änderungen besonders im Bereich Wortbildung und Entlehnung auch für das elexiko-Wörterbuch einen „Mehrwert“. <?page no="455"?> Deutscher Wortschatz im Internet 455 Abgesehen von den bisher nicht gekannten Vernetzungsmöglichkeiten eröffneten insbesondere die in der DTD von elexiko präsentierten Datentypen, die weit über die Zahl der herkömmlichen Datentypen in einem einsprachigen Bedeutungswörterbuch hinausgehen und die bei aller Strukturiertheit an vielen Positionen eine narrative Beschreibung erlauben, neue Wege der Informationsvermittlung. Gestützt wird diese durch das Korpusprinzip, d.h., die Angaben in den Wortartikeln basieren auf dem elektronischen IDS-Textkorpus. Neologismus- und damit projektspezifisch sind die Datentypen, die Typ und Aufkommen des Neologismus betreffen sowie seine Buchung in Wörterbüchern (die zu einem Kanon von Wörterbüchern gehören, die im jeweiligen Erfassungszeitraum erschienen sind). Zu den Datentypen, die in der elektronischen Fassung im Vergleich zu einem traditionellen Wörterbuch erstmals berücksichtigt bzw. erstmals ausführlich dargestellt werden können, gehören Angaben zu morphologischer und (auch nichtnormgerechter) orthografischer Varianz, zu Wortbildung und Wortbildungsproduktivität 23 , zur Wertung sowie weiterführende Informationen sprachlichen und enzyklopädischen Inhalts. Kommentare und Hinweise treten an unterschiedlichen Positionen ergänzend hinzu. Sie gewähren auch bei Datentypen, die vom traditionellen Wörterbuch her vertraut sind, z.B. in der Grammatik, Raum für zusätzliche Angaben, die sich häufig auf Daten aus dem elektronischen Textkorpus beziehen. Am Beispiel hypen und dem Kommentar zum Präteritum hypte kann dies verdeutlicht werden (vgl. Abb. 3): Anhand des Korpus sind bei aus dem Englischen entlehnten Verben unterschiedliche Schreibungen von Flexionsformen zu Tage gefördert worden. Das basiert darauf, dass ihnen entweder ein Verbstamm zu Grunde gelegt wird, der - wie im Deutschen üblich - auf einen Konsonanten endet (hyp), oder ein Verbstamm, der das am Wortende des englischen Lexems stehende stumme -e beibehält (hype). Die verschiedenen, dieses Phänomen beschreibenden Kommentare sind so konzipiert, dass sie sich bei Bedarf durch Anklicken des Knopfes Kommentar(e) öffnen 23 Hier wird das Vorkommen der Stichwörter in (allesamt im elektronischen IDS -Textkorpus belegten) Wortbildungsprodukten, die durch Ableitung, Kurzwortbildung, Präverbfügung oder Zusammensetzung entstanden sind, gezeigt und die Häufigkeit, mit der das Stichwort als Grundbzw. Bestimmungswort in neuen Zusammensetzungen auftritt, angegeben. <?page no="456"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 456 lassen - was einen Schritt hin zu einem benutzerdifferenzierten Angebot bedeutet (die Bildschirmansicht stammt aus der Testphase). Abb. 3: Bildschirmansicht des Wortartikels hypen (hier mit grammatischen Angaben) Ohne ein entsprechendes elektronisches Textkorpus ebenfalls nicht denkbar sind neben den Angaben typischer Verwendungen des Stichwortes insbesondere die Belege, die in den Neologismenwortartikeln nach Zahl und Umfang großzügig bemessen sind und unter Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte sorgfältig ausgewählt wurden. 24 In Anschluss an die Bedeutungsangabe folgt jeweils ein Belegblock, der fakultativ zu öffnen ist. Zusätzlich können an verschiedenen anderen Positionen Belege folgen. 25 Diese illustrieren meist bestimmte sprachliche Auffälligkeiten wie den Gebrauch eines bestimmten Genus oder einer bestimmten Flexionsform als Ausdruck von Gebrauchsunsicherheiten der Sprecher. Darüber hinaus transportieren Belege auch sprachliche Informationen und Sachinformationen (vgl. Abb. 4). 24 Fehlende Belegbeispiele sind „gerade für ein Neologismenwörterbuch eine empfindliche Lücke im Mikrostrukturenprogramm. Besonders wünschenswert […] sind Angaben von Frühbelegen.“ (Wiegand 1990, S. 2187). 25 Das Beispiel hypen macht deutlich, dass auch bei verschiedenen Schreibungen für das Präteritum (fakultativ zu öffnende) Belege angeboten werden. <?page no="457"?> Deutscher Wortschatz im Internet 457 Abb. 4: Bildschirmansicht des Wortartikels Buschzulage (hier mit enzyklopädischen und sprachreflexiven Angaben) Neologismenprojektspezifisch ist in diesem Zusammenhang, dass auch Belege, die aus der projekteigenen Zettelkartei stammen, verwendet werden. 26 Belege aus dem Internet kommen dann zum Einsatz, wenn einzelne Daten, z.B. flektierte Wortformen, weder im elektronischen Textkorpus noch in der Projektkartei adäquat vertreten sind. Bei bestimmten Autosemantika in Stichwortfunktion wird der bezeichnete Sachverhalt mit Hilfe von Abbildungen illustriert (z.B. Saisonkennzeichen). Langanke bezeichnet diese als „Link-gesteuerte Redundanzen“, die eingesetzt werden, „um so die Verbindung zwischen lexikalischem Material und relevanten außersprachlichen Zusammenhängen zu intensivieren“ (Langanke 2004, S. 390). 26 Diese Kartei entstand, um Kandidaten für Neologismen durch eigene Exzerption von Texten, besonders Zeitungs-, vereinzelt Hörtexten, sowie von Sekundärliteratur zu ermitteln. <?page no="458"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 458 3.4 Das erste Ergebnis: ein gedrucktes Wörterbuch Die Kehrseite der Entscheidung für die Umorientierung auf eine XMLbasierte Wortartikelarbeit war, dass im Zuge der Umsetzung zeitliche Verzögerungen auftraten - was für den Wortschatzbereich Neologismen mit seinem relativ schnellen „Verfallsdatum“ problematisch ist. 2002 war es dann aber soweit, dass alle Neologismen-Wortartikel in der DTD-Struktur ausgearbeitet vorlagen. Da zu diesem Zeitpunkt die Online-Freischaltung von elexiko noch nicht absehbar war, der Wortschatz aber möglichst zeitnah veröffentlicht werden sollte, griff die Projektgruppe das ursprünglich geplante Vorhaben einer Buchpublikation wieder auf und begann, die als XML-Instanzen gespeicherten Informationen für die Printversion aufzubereiten. Im Jahr 2004 erschien dann als Ergebnis das erste größere Neologismenwörterbuch für das Deutsche (Herberg/ Kinne/ Steffens 2004). Für gedruckte Neologismenwörterbücher gelten sowohl die schlechte Aktualisierbarkeit als auch die relativ lange Herstellungszeit als Nachteil. Zeitschriften und insbesondere das Internet werden als Veröffentlichungsmedien für sinnvoller gehalten (vgl. Engelberg/ Lemnitzer 2001, S. 52f.). Wie schwer aber die Nachteile wiegen, ist immer auch von der Neologismusdefinition und dem Ziel des Projektes abhängig. Eine Buchpublikation ist tatsächlich kaum geeignet, wenn auch Erst- und Einmalbildungen als Neologismen bezeichnet werden und der schnellen, knappen (auch kostensparenden) Information Vorrang eingeräumt wird. Die Nachteile schlagen dagegen weniger zu „Buche“ bei einer Konzeption wie der unsrigen, die neue sprachliche Einheiten nur dann als Neologismen bezeichnet, wenn sie nicht nur neu, sondern auch in die Allgemeinsprache eingegangen und an das deutsche Sprachsystem angepasst sind. Insofern durchlaufen die Neologismenkandidaten in der Regel eine Phase der Beobachtung durch die Lexikografen, und es können durchaus einige Jahre vergehen, bis eine sprachliche Einheit entsprechend dieser Konzeption als Neologismus bezeichnet werden kann und Eingang in die Stichwortliste findet. Unter diesen Umständen kann auch ein Printwörterbuch seinen eigenständigen Platz neben der Onlinepublikation behaupten - und dabei Benutzer erreichen, die zu einem Internetwörterbuch keinen Zugang haben oder das Medium „Buch“ bevorzugen. Für die Zukunft wird zu gegebener Zeit neben der Buch- und Onlinepublikation als Mittelweg auch erwogen, kurz kommentierte Wortlisten, z.B. in Zeitschriften, zu veröffentlichen. <?page no="459"?> Deutscher Wortschatz im Internet 459 3.5 Fazit Die XML-Datenmodellierung ist die Basis sowohl für das Printals auch für das Internetwörterbuch. Deshalb konnte bereits der gedruckte Band von den Vorteilen wie einer Vielzahl von Datentypen und einer breiten „Erzähl“struktur profitieren. Insofern war es weniger das Problem, für die Internetpräsentation die traditionellen lexikografischen Standards, die auch von platzmangelbedingter Formalisierung und Beschränkung geprägt sind, aufzubrechen, als vielmehr die Vorteile des neuen Mediums, die insbesondere in den Verlinkungs- und Abfragemöglichkeiten liegen, auszuschöpfen und in eine übersichtliche, leicht zu handhabende und neugierig machende Form umzusetzen. Das Ergebnis kann unter http: / / www.elexiko.de in Augenschein genommen werden. Angesichts der Onlinepräsentation der Neologismen der 90er Jahre sei ein Blick auf folgende These gestattet, die vor nunmehr zehn Jahren aufgestellt wurde: „Selbst in einem vergleichsweise reichen Land wie der BRD reichen die lexikographischen Ressourcen nicht aus, um z. B. ein Neologismenwörterbuch zu erarbeiten, das auch in einer elektronischen Version verfügbar ist und laufend gepflegt wird“ (Wiegand 1995, S. 212). Gemessen an dem bis heute erreichten Stand der Arbeiten im Projekt Neologismen ist zu konstatieren: Ein erstes größeres Neologismenwörterbuch ist publiziert. Seine elektronische Version ist freigeschaltet. Den Beweis, dass es darüber hinaus auch möglich ist, die elektronische Version kontinuierlich zu pflegen, müssen wir derzeit noch schuldig bleiben. Wir sind aber optimistisch, dass es gelingt. 4. Die Zukunft von elexiko (Annette Klosa) Die Integration der Neologismen in das elexiko-Portal hatte Pilotfunktion für den weiteren Ausbau dieses lexikalisch-lexikologischen Informationssystems, der eben nicht nur durch die Erarbeitung neuer Wortartikel innerhalb des elexiko-Wörterbuches, sondern auch durch den Einbezug lexikologischlexikografischer Arbeitsergebnisse aus weiteren Modulprojekten erfolgen soll. Dabei wurde mit der Veröffentlichung der Neologismen-Wortartikel ein Vorgehen erprobt, das relativ eng mit der Konzeption des elexiko-Wörterbuches verknüpft ist, indem die Wortartikelstruktur der Neologismen diejenige der elexiko-Wortartikel fortentwickelte und die Online-Präsentation der Neologismen-Wortartikel sich an derjenigen der elexiko-Wortartikel orientierte. So lag der Einbezug der Neologismen-Artikel sowohl in die elexiko-Stich- <?page no="460"?> Annette Klosa/ Doris Steffens 460 wortliste wie auch in bestimmte Rechercheangebote nahe. Zugleich musste aber den Spezifika des Neologismenwortschatzes Rechnung getragen werden durch die Möglichkeit, sich ausschließlich in diesem zu bewegen und ausschließlich in ihm zu rech