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Einführung in die russische Sprachwissenschaft

0919
2007
978-3-8233-7335-3
978-3-8233-6335-4
Gunter Narr Verlag 
Dr. Thomas Bruns

Unter den universitären Studienfächern hat die Slavistik längst ihren Exotenstatus verloren. Entsprechend groß ist die Fülle an spezialisierten Fachpublikationen in allen Forschungs- und Lehrbereichen. Eine aktuelle Einführung in die russische Sprachwissenschaft fehlte jedoch bislang. Diese Lücke schließt die nun vorgelegte Einführung. Die synchrone Darstellung wird ergänzt durch einen separaten historischen Teil, der die Genese und Entwicklung vom Altkirchenslavischen bis zur russischen Sprache der Gegenwart skizziert und verstehen hilft. Beschränkt sich die Einführung im Interesse einer überschaubaren Präsentation auf die russische Sprache, so bettet sie diese doch in den Kontext der anderen Slavinen ein, da eine fundierte Beschäftigung mit dem Russischen erst unter Berücksichtigung der anderen slavischen Sprachen ein Maximum an Erkenntnisgewinn bringt. Ausgehend von Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft leitet die Darstellung über zu den einzelnen Beschreibungsebenen der russischen Sprache und umfasst so neben dem traditionellen Kanon von Phonetik/Phonologie, Morphologie, Wortbildung, Lexikologie/Lexikographie, Syntax und Semantik auch die neueren Forschungsdisziplinen der Pragmatik und Textlinguistik. Zahlreiche Arbeitsaufgaben sowie praktische Hinweise für ein erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten runden die Einführung ab.

<?page no="0"?> narr studienbücher Thomas Bruns Einführung in die russische Sprachwissenschaft <?page no="1"?> narr studienbücher <?page no="2"?> Meinen drei Grazien <?page no="3"?> Thomas Bruns Einführung in die russische Sprachwissenschaft Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Dr. Thomas Bruns ist Dipl.-Übersetzer und Wissenschaftlicher Assistent für Russische/ Slavische Sprachwissenschaft und Altkirchenslavisch an der Universität Trier. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Druck: Gulde, Tübingen Bindung: Nädele, Nehren Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6335-4 <?page no="5"?> Inhalt 1 Vorwort ......................................................................................................................... 1 2 Einleitung ...................................................................................................................... 5 3 Was ist Sprache? ........................................................................................................... 9 4 Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole ....................................... 14 5 Sprachebenen und -varietäten................................................................................... 19 6 Das sprachliche Zeichen............................................................................................. 22 7 Laut und Schrift ......................................................................................................... 28 7.1 Die Entwicklung der Schrift - in aller Kürze ................................................... 28 7.2 Laut und Schriftzeichen .................................................................................... 31 8 Linguistische Notationssysteme................................................................................. 33 8.1 Notation nach der sprachlichen Beschreibungsebene...................................... 33 8.2 Die wissenschaftliche Transliteration .............................................................. 34 9 Kyrillica, Latinica und anderes - slavische Schriftsysteme.................................... 36 10 Kleine Sprachtypologie .............................................................................................. 39 11 Sprachwissenschaftliche Strömungen ...................................................................... 43 12 Philologische Forschungsmethoden .......................................................................... 51 13 Teilbereiche der Sprachwissenschaft........................................................................ 53 13.1 Überblick .......................................................................................................... 53 13.2 Phonetik ............................................................................................................ 56 13.2.1 Erzeugung von Lauten ..................................................................... 57 13.2.2 Klassifizierung der Laute ................................................................. 58 13.2.3 Beschreibung der Konsonanten ....................................................... 59 13.2.4 Beschreibung der Vokale ................................................................. 62 13.2.5 Die Laute im Redefluss .................................................................... 64 13.2.5.1 Assimilation ..................................................................... 66 13.2.5.2 Akkomodation .................................................................. 69 13.2.5.3 Vokalreduktion................................................................. 70 13.2.6 Zum grafischen System des Russischen .......................................... 72 13.3 Phonologie ........................................................................................................ 75 13.3.1 Phonembestand des Russischen ....................................................... 77 13.3.2 Phonemvarianten.............................................................................. 78 13.3.3 Konstitutive Merkmale der Phoneme, Phonemgehalt...................... 80 13.4 Morphonologie ................................................................................................. 82 13.5 Morphologie ..................................................................................................... 85 13.6 Wortbildung .................................................................................................... 100 13.6.1 Derivation....................................................................................... 103 13.6.2 Komposition ................................................................................... 104 13.6.3 Konversion ..................................................................................... 108 13.6.4 Abbreviation................................................................................... 109 13.6.5 Onomatopoetika, Suppletion, retrograde Bildungen und Okkasionalismen ............................................................................ 113 13.6.6 Wortarten ....................................................................................... 115 13.7 Lexikologie...................................................................................................... 123 13.7.1 Zur Entlehnung .............................................................................. 134 13.7.2 Lexikographie ................................................................................ 138 13.7.3 Die wichtigsten Wörterbucharten .................................................. 139 <?page no="6"?> Inhalt VI 13.8 Syntax.............................................................................................................. 144 13.8.1 Wortfügung .................................................................................... 146 13.8.2 Satz ................................................................................................. 148 13.9 Textlinguistik .................................................................................................. 160 13.10 Semantik.......................................................................................................... 166 13.10.1 Lexikalisch-semantische Relationen .............................................. 172 13.10.2 Beziehungen sprachlicher Zeichen ................................................ 179 13.10.3 Semantische Rollen ........................................................................ 180 13.11 Pragmatik ....................................................................................................... 182 13.12 Linguistische Kategorien im Vergleich .......................................................... 187 13.12.1 Morphologische Kategorien........................................................... 187 13.12.2 Morphologisch-lexikalische Kategorien (Wortarten) .................... 195 13.12.3 Syntaktische Kategorien................................................................. 196 13.12.4 Semantische Kategorien................................................................. 201 14 Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen ..................................... 205 14.1 Die slavischen Sprachen................................................................................. 205 14.2 Die russische Sprache .................................................................................... 210 14.3 Russisch-deutsche Sprachkontakte ................................................................... 211 14.3.1 Russizismen im Deutschen ............................................................ 213 14.3.2 Germanismen im Russischen ......................................................... 214 14.3.3 Falsche Freunde ............................................................................. 216 15 Historischer Teil ....................................................................................................... 218 15.1 Vorbemerkung ................................................................................................ 218 15.2 Warum Altkirchenslavisch? ............................................................................ 219 15.3 Slavische Urheimat und slavische Landnahme .............................................. 221 15.4 Quellen zur Geschichte der slavischen Sprachen........................................... 222 15.5 Periodisierung der russischen Sprache .......................................................... 224 15.6 Das Altkirchenslavische ................................................................................. 232 15.6.1 Zur Entstehungsgeschichte ............................................................ 232 15.6.2 Zur Bezeichnung dieser Sprachepoche .......................................... 236 15.7 Zur Genese der kyrillischen, i.e.S. der russischen Schrift .............................. 238 15.8 Graphische Besonderheiten des Altkirchenslavischen ................................... 245 15.9 Anmerkungen zu einigen wichtigen slavischen Lautentwicklungen ............... 248 15.10 Allgemeine Merkmale des Altkirchenslavischen ............................................ 249 15.11 Die ältesten und wichtigsten Schriftdenkmäler des Altkirchenslavischen ........ 253 15.12 Altkirchenslavisch und Latein ........................................................................ 255 16 Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten ............................................... 257 17 Abbildungs- und Quellennachweis ......................................................................... 266 18 Zusätzliche Literatur................................................................................................ 268 18.1 Einführungen in die Sprachwissenschaft (allgemein und russistisch orientiert)........................................................................................................ 268 18.2 Linguistische Wörterbücher ........................................................................... 270 18.3 Grammatiken zur russischen Sprache ............................................................ 271 18.4 Komparatistische Darstellungen (Sprachvergleiche, Etymologien) .............. 272 18.5 Zur Geschichte der Sprachwissenschaft ......................................................... 273 18.6 Spezialwörterbücher zur russischen Sprache ................................................. 273 18.7 Übersetzungswissenschaft................................................................................ 275 18.8 Zum historischen Teil ..................................................................................... 275 19 Sachregister............................................................................................................... 278 <?page no="7"?> 1 Vorwort Die vorliegende Darstellung wendet sich in erster Linie an Studierende und sonstige Interessierte, die noch keinen intensiveren Kontakt mit der slavistischen und im engeren Sinne russistischen Sprachwissenschaft gehabt haben, doch wird sie auch fortgeschrittenen Lernenden bei Stoffwiederholungen und Prüfungsvorbereitungen eine Hilfe sein. Diese einleitende Feststellung scheint banal, hat jedoch ganz erhebliche Auswirkungen auf Inhalt und Darstellungsweise des vorliegenden Buches, das an vielen Stellen Mut zur Lücke aufbringen und an noch mehr Stellen vereinfachen musste, um den Bedürfnissen der Leserschaft gerecht zu werden. Ausgehend von ebenso grundlegenden wie unabdingbaren Aspekten der allgemeinen Sprachwissenschaft - eine i.d.R. zu Studienbeginn besuchte Einführung in eine (Fremd-) Philologie kann nicht davon ausgehen, dass die Studierenden bereits Veranstaltungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft besucht haben -, leitet sie über zu Fragestellungen, die charakteristisch sind für die Beschäftigung mit slavischen Sprachen, schwerpunktmäßig mit dem Russischen als der größten Slavine. Hinsichtlich des Umfangs ist sie so ausgelegt, dass der präsentierte Stoff innerhalb eines Semesters durchgearbeitet werden kann, eventuell unter Auslassung des historischen Teils, der dann, natürlich unter erheblicher inhaltlicher Ausweitung, in eine gesonderte Veranstaltung (evtl. in ein eigenes Modul) verlagert werden könnte. Die in etlichen einführenden Seminaren gesammelten Erfahrungen zeigen, dass eine zeitliche Straffung ggf. auch möglich ist, indem die ersten Kapitel zur allgemeinen Sprachwissenschaft nur in einigen Kernpunkten im Plenum besprochen werden und die KursteilnehmerInnen z.B. die Abschnitte zu den linguistischen Strömungen, zur Sprachtypologie, zum Verhältnis von Laut und Schrift und zu den slavischen Schriftsystemen als Vor- oder Nachbereitung zu den Sitzungen durcharbeiten. Diese Konzeption fügt sich problemlos in die neuen Bachelor-/ Master-Studienmodelle ein, die aus praktisch-administrativen Erwägungen heraus in verstärktem Maße zur (in diesem Falle unbezahlten) Heimarbeit der Studierenden „Zuflucht“ werden nehmen müssen. Eine zeitliche Straffung bedeutet in jedem Fall, dass die Mehrzahl der Themen nur an der Oberfläche betrachtet werden kann, ohne allzu sehr in tiefere Details zu gehen, so wünschenswert dies an vielen Stellen gewesen wäre. Insbesondere heißt dies auch, dass eine Diskussion widerstreitender Forschungsrichtungen, eine ausführliche Gegenüberstellung verschiedener sprachwissenschaftlicher Schulen aus Platzgründen unterbleiben muss. Hier sollen die Literaturhinweise den interessierten Studierenden die Möglichkeit bieten, sich intensiver mit einer solchen Problematik zu befassen. Die für einige Kapitel recht umfangreich ausgefallenen Literaturangaben sollen nicht etwa die Leserinnen und Leser abschrecken, sondern im Gegenteil dazu beitragen, dass ihnen für in den Bibliotheken eventuell nicht vorhandene Werke Alternativen bekannt sind. (Die Anordnung der bibliographischen Hinweise erfolgt auch für slavischsprachige Werke nach dem lateinischen Alphabet; Buchstaben mit diakritischen Zeichen stehen nach dem jeweiligen Grundgraphem.) Litera- <?page no="8"?> Vorwort 2 turangaben zu Einführungen in die allgemeine und in die russistische Sprachwissenschaft sowie zu Grammatikhandbüchern der russischen Sprache finden sich in Kap. 18. Im Gegenzug bietet die Arbeit an zahlreichen Stellen Informationen, bisweilen Marginalien, die in andere Einführungen zur Slavistik bzw. Russistik bislang nicht aufgenommen wurden. So will und kann die vorliegende Einführung per definitionem keine Monographien oder Fachaufsätze zu einem speziellen Vertiefungsgebiet ersetzen, sondern zu deren Lektüre anregen und ihr Verständnis ermöglichen und erleichtern, indem die wichtigsten Bereiche und Beschreibungsebenen der (überwiegend) synchronen Linguistik vorgestellt und in ihren Kernbegriffen behandelt werden. Ein zentrales Anliegen der Darstellung ist daher auch die Vermittlung der für das gesamte Studium so wichtigen sprachwissenschaftlichen Fachterminologie in der deutschen und der russischen Sprache. Aus diesem Grund sind alle wichtigen Termini im Text jeweils mit ihrer russischen Übersetzung versehen (i.d.R. wurde die Singularform gewählt). Zudem sind in viele Kapitel Auszüge aus russischen Fachlexika und Monographien aufgenommen worden, um die Studierenden an die unumgängliche Lektüre von russischsprachigen Fachtexten heranzuführen, da die Erfahrung doch immer wieder gezeigt hat, dass auch russische Muttersprachler vor der Lektüre und Diskussion solcher Texte zurückschrecken. Der mit Bedacht ans Ende dieser Einführung gesetzte historische Teil dient der Ergänzung der ansonsten synchronen Sprachbeschreibung und der Hinführung auf eine eher diachron ausgerichtete Beschäftigung mit den slavischen Sprachen. Er soll zeigen, dass das Russische, wie auch die anderen Slavinen, nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern historische Wurzeln besitzt, die die Grundlage für eine vielhundertjährige Entwicklung bis zur Gegenwart bilden. Viele der einzelnen Kapitel werden nicht nur durch weiterführende Literaturangaben, sondern auch durch Arbeitsaufgaben ergänzt, die es den Leserinnen und Lesern ermöglichen, das theoretisch erworbene Wissen als Transfer in die Praxis umzusetzen. Während sich einige der Aufgaben für eine vertiefte Recherche in der meist zahlreich vorhandenen Fachliteratur eignen, bieten sich andere eher für eine gemeinsame Diskussion unter den SeminarteilnehmerInnen an. Wo es angebracht schien, werden für diese Arbeitsaufträge Lösungen angeboten, die über die Internetseite des Gunter Narr Verlages ( www.narr-studienbuecher.de ) abgerufen werden können. Nicht mitgelieferte Aufgabenschlüssel stellen kein Versehen des Verfassers dar, sondern sind durchaus absichtlich als Ansporn für den Benutzer gedacht, sich nicht in jedem Fall mit vorgegebenen Lösungswegen zufrieden zu geben. Jede Einführung in eine Philologie bewegt sich stets auf einem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen, die da heißen Theorieüberhang und Grammatiklastigkeit. Ein Zuviel an Theorie würde die Sprachpraxis, den Sprachusus aus den Augen verlieren, ein Übermaß an rein grammatischen Erörterungen, und hier insbesondere eine Diskussion des überaus reichen Formenbestandes der russischen Sprache, würde die Einführung - zu ihrem eigenen Nachteil - in eine ganze Phalanx guter und sehr guter (ja, bisweilen auch weniger guter) Grammatikhandbücher zur russischen Sprache stellen. So hat sich der vorliegende Band zum Ziel gesetzt, das Nötige an Theoriewissen mit dem Unabdingbaren an Grammatikfragen zu verschmelzen. Ob dies gelungen ist, wird jede Leserin und jeder Leser für sich selbst zu beantworten <?page no="9"?> Vorwort 3 haben. Jegliche konstruktive Kritik von Studierenden und Lehrenden ist jedenfalls höchst willkommen. Ferner ist es mir ein Anliegen, dem Gunter Narr Verlag für die Aufnahme dieser Einführung in sein Verlagsprogramm zu danken, ebenso wie dem Lektorat des Gunter Narr Verlages, insbesondere Frau Angelika Pfaller, für die konstruktive Zusammenarbeit in inhaltlicher wie administrativer und technischer Hinsicht. Frau PhD Ekaterina Kudrjavceva und Herrn Prof. Dr. Sebastian Kempgen schulde ich Dank für die erwiesene fachliche Unterstützung sowie für die freundliche Überlassung von Materialien für diesen Band. Ebenso gilt mein Dank Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland für die Bereitstellung grafischen Materials. Ohne die Anregungen von Kollegen und Studierenden schließlich wäre das vorliegende Buch nicht in dieser Form erschienen. Trier, im Juni 2007 Thomas Bruns <?page no="10"?> Vorwort 4 Praktischer Hinweis zu den verwendeten Schreibkonventionen Im weiteren Verlauf der Darstellung erfahren Sie u.a. Näheres zu den in der Linguistik üblichen Notationskonventionen. Vorab sei an dieser Stelle auf Folgendes hingewiesen: • Ein hochgestelltes, vor einem Wort oder einer Form stehendes Sternchen (Asterisk: *) zeigt an, dass dieses sprachliche Zeichen entweder als falsch oder - im historischen Kontext - als erschlossen, rekonstruiert markiert werden soll. • Einfache Anführungszeichen (‚...’) geben die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens an. • Doppelte Anführungszeichen („...“) markieren einen Begriff, ein Konzept sowie wörtliche Zitate. • Wichtige Fachtermini sind kursiv bzw. fett-kursiv gedruckt, um sie im Text stärker herauszuheben. • Im Text stehen die Namen von Autoren in K APITÄLCHEN , die Titel von Aufsätzen und Monographien in Kursivschrift. • Internetadressen sind in dieser Schriftart formatiert . • Besonders Wichtiges und Merkenswertes wird durch einen schwarzen Kasten hervorgehoben, weiterführende Literaturhinweise am Ende eines Kapitels oder Abschnitts sind kleiner formatiert , Arbeitsaufgaben sind typographisch durch einen senkrechten Balken am linken Rand markiert. <?page no="11"?> 2 Einleitung „Im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft gibt es nichts, was an Wirksamkeit und Wichtigkeit der Sprache gleichkommt. Es ist daher auch nicht richtig, daß ihr Studium nur Sache einiger Spezialisten sei: in der Tat beschäftigt sich alle Welt mehr oder weniger damit.“ (S AUSSURE 1967: 8) Wie würden Sie jemandem, der Sie fragt, was Slavistik 1 ist, erklären, was Slavistik ist? - Slavistik - oder Slavische Philologie - lässt sich auch als Slavenkunde bezeichnen. Diese in der Tat sehr weit gespannte Benennung umfasst an sich alle Aspekte der Erforschung der slavischen Völker: ihre Geschichte, Kulturen, Sprachen, Literaturen… Das intensivere Interesse an den slavischen Völkern erwachte mit deren Eigenstaatlichkeit, im Wesentlichen im 19. Jh. Eine wichtige Rolle spielte die Zeitströmung der Romantik, die in den Slaven noch unverbrauchte und nicht der westlichen Dekadenz und Degenerierung anheim gefallene Naturvölker sah und deren Lebensweise zum Ideal erhob. Großen Einfluss übte in diesem Zusammenhang der Deutsche J OHANN G OTTFRIED H ERDER (1744-1803) v.a. mit dem Slavenkapitel seines Hauptwerkes Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit aus. Die Beschäftigung mit den Slaven erfolgte zunächst weniger aus rein wissenschaftlichen Gründen, sondern verfolgte andere Ziele: ökonomische, politische etc. Als Vater der wissenschaftlichen Slavistik gilt der Tscheche J OSEF D OBROVSKÝ (1753-1829). 1842 wurde die Slavistik erstmals in den Rang eines universitären Lehrfaches erhoben (in Breslau und Berlin). In diesem Zuge erfolgte eine Einengung des Untersuchungsgegenstandes auf die Aspekte Sprache, Literatur und Landeskunde. Dies sind die Komponenten, die auch heute noch, neben dem reinen Spracherwerb, die wesentlichen Bestandteile des Slavistikstudiums ausmachen. Heute bedient sich die Slavistik derselben fortschrittlichen Methoden wie andere (Fremdsprachen-)Philologien. Gedacht ist hier nicht nur an den Einsatz des Internets als eines zunehmend wichtigen Forschungs- und Publikationsmediums und des Computers als eines mittlerweile unerlässlichen Arbeitsgeräts; insbesondere die Phonetik benötigt in Forschung und Lehre eine ausgereifte Geräteausstattung. Beschäftigt man sich praktisch und/ oder wissenschaftlich mit slavischen Sprachen, so steht man anfangs oft vor dem Problem, ein neues graphisches System er- 1 Nur kurz hingewiesen sei auf die beiden unterschiedlichen Schreibweisen Slavistik und Slawistik, die gleichberechtigt nebeneinander stehen und auf unterschiedliche Traditionen v.a. nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zurückgehen. Während in Ostdeutschland die Variante Slawistik üblich war, bediente man sich im Westen überwiegend, aber nicht ausschließlich, der Schreibung Slavistik. Diese findet auch im vorliegenden Werk Verwendung, sofern nicht aus Arbeiten zitiert wird, die die Variante Slawistik benutzen. <?page no="12"?> Einleitung 6 lernen zu müssen. Die folgende Darstellung gibt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Buchstabeninventar der aktuellen wie der historischen slavischen Sprachen wieder. Kyrillische Buchstaben stehen neben lateinischen, einfache Zeichen finden sich ebenso wie Buchstaben mit diakritischen (unterscheidenden) Zusätzen: ř ј ę š Я й A Ñ ù ± Q ł š ħ č Đ ć Ъ Ė ї q f њ Abbildung 1: Buchstaben aus verschiedenen slavischen Sprachen Die Sprachwissenschaft existiert also als eigenständige Disziplin seit dem 19. Jh. Sie versucht, den Sprachgebrauch zu erklären und war durch die herrschende Forschungsrichtung zunächst ausschließlich diachron(isch) ausgerichtet, d.h. auf die Entwicklung der Sprache(n) von ihren frühesten Zeugnissen bis hin zu ihrem jeweils aktuellen Zustand. Synchron(isch)e Untersuchungen, die nicht eine Entwicklung, sondern einen Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem relativ eng umgrenzten Zeitraum in Vergangenheit oder Gegenwart zum Gegenstand haben, werden erst seit Anfang des 20. Jh. mit dem einflussreichen Wirken des Genfer Linguisten F ERDINAND DE S AUSSURE unternommen, der als Wegbereiter des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus angesehen werden kann. Letzterer überbetonte dann wiederum die Synchronie, während einige Forscher wie der Romanist W ALTHER VON W ARTBURG (1888-1971) das Zusammenspiel von Diachronie und Synchronie als dialektisches Verhältnis der beiden philologischen Forschungsrichtungen verstanden wissen wollten, d.h. als Koexistenz zweier gegensätzlicher Aspekte, die sich in wechselseitiger Abhängigkeit befinden können. Diese allgemeinen Entwicklungen in der Sprachwissenschaft fanden ihren unmittelbaren Niederschlag auch in der Slavistik. In der Folgezeit entwickelten sich aus und auf der Grundlage der strukturalistischen Sprachwissenschaft weitere Strömungen im Kern und an der Peripherie der Linguistik, die zum Teil aufeinander aufbauten, zum Teil aber auch ganz originelle Ansätze verfolgten und die in dieser Arbeit zumindest kurz vorgestellt werden sollen. Mag das Eine oder Andere heute noch als Orchideenfach gelten - morgen ist es vielleicht schon salonfähig und wissenschaftliches Allgemeingut. Wissen Sie beispielsweise, was Ökolinguistik ist? Es geht hier mitnichten darum, dass man keine „schmutzigen Wörter“ benutzen darf... Vielmehr untersucht diese Disziplin das Verhältnis von Sprache(n) und ihrer Umwelt, wobei nicht nur ökologische, soziale <?page no="13"?> Einleitung 7 und psychologische Aspekte von Bedeutung sind, sondern in zunehmendem Maße auch ökonomische Fragen eine Rolle spielen (Wieweit kann sich die Weltgemeinschaft unsere heutige Sprachenvielfalt überhaupt leisten? Dient letztere eher dem Frieden, oder birgt sie vielmehr ein erhebliches Konfliktpotential? ) Als Beispiele für neuere linguistische Forschungsrichtungen seien hier noch die Spracherwerbsforschung genannt, die eine Brücke zwischen der reinen Linguistik und der Entwicklungspsychologie baut (zu diesem Thema hat das Wissensmagazin der Zeit in Heft 01/ 2006 einen sehr interessanten Überblicksartikel veröffentlicht, der online unter http: / / www.zeit.de/ zeit-wissen/ 2006/ 01/ Spacherwerb_Titel.xml? term=Spracherwerb abrufbar ist.), und die Genderlinguistik oder Feministische Linguistik (seit den 60er Jahren des 20. Jh.), die sich mit geschlechtstypischen Sprachverhaltensmustern und Sprachnormen beschäftigt. So kritisiert die Feministische Linguistik als Teil einer politisch-sozialen Bewegung insbesondere die Diskriminierung von Frauen in und mit der Sprache, im Deutschen beispielsweise mittels der Verwendung des sogenannten generischen Maskulinums (im Unterschied zum spezifischen Maskulinum), d.h. der Verwendung der maskulinen Form in Fällen, in denen Männer und Frauen gleichermaßen oder womöglich ausschließlich Frauen bezeichnet werden. Sie entwirft ganz allgemein Richtlinien für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch. Generell ist zu bemerken, dass die Genderlinguistik in westlichen Ländern bislang eine größere Rolle gespielt hat als in Osteuropa, doch wird auch in slavischen Ländern zu diesem Themenkomplex in zunehmendem Maße publiziert. Linguistik oder Sprachwissenschaft? Beschäftigt man sich wissenschaftlich mit Sprache, so liegt es nahe, ganz automatisch von „Sprachwissenschaft“ zu sprechen. Daneben existiert in demselben Kontext die Benennung „Linguistik“. Handelt es sich hier um zwei austauschbare, bedeutungsgleiche Bezeichnungen? Schlägt man auf der Suche nach einer Erklärung beispielsweise das Metzler Lexikon Sprache (G LÜCK 2000) unter dem Stichwort „Linguistik“ auf, so findet man hier nichts weiter als einen Verweis auf den Eintrag „Sprachwissenschaft“. Und auch in diesem stößt man erst recht spät (S. 676) auf eine mögliche Unterscheidung der beiden Termini, nämlich im Hinblick auf eine Differenzierung von sogenannter innerer und äußerer Sprachwissenschaft: „erstere behandelt innersprachl. Sachverhalte und Entwicklungen, letztere die äußeren kulturellen, sozialen, ökonom., polit. usw. Bedingungen der Existenz und der Geschichte von Spr.; mitunter wird erstere als „Linguistik“ letzterer gegenübergestellt.“ Da eine konsenquente Trennung von innerer und äußerer Sprachwissenschaft nicht immer einzuhalten ist, fragt es sich auch, inwieweit eine terminologische Unterscheidung von Linguistik einerseits und Sprachwissenschaft andererseits - zumindest im Rahmen einer einführenden Darstellung - erforderlich ist. In der vorliegenden Einführung werden beide Termini daher ohne durchgehende inhaltliche Unterscheidung verwendet, um nicht mehr Verwirrung zu stiften als nötig. <?page no="14"?> Einleitung 8 Ein Wort zu den Literaturhinweisen in dieser Einführung Umfangreiche Literaturangaben allgemeinerer Art zu den einführenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit finden sich im Kap. 18, gegliedert nach allgemeinsprachlich und slavistisch orientierten Einführungen in die Sprachwissenschaft, Grammatiken und linguistischen Wörterbüchern. So detailliert ein Literaturverzeichnis auch sein mag, es ist einerseits doch nie erschöpfend, und dies nicht nur, weil ständig neue Werke publiziert werden, sondern ebenso weil der aktuelle Markt nicht einmal mehr für einen einzelnen Fachmann zur Gänze und zugleich für mehrere Sprachen als Primär- und Sekundärsprachen zu überschauen ist. Andererseits sollen gerade Studienanfängerinnen und -anfänger nicht durch eine überbordende Menge an Quellenangaben verunsichert werden. So stellen auch die erwähnten Literaturlisten eine durchaus subjektive Auswahl des Verfassers dar, der hier einleitend eine - falls dies möglich ist - noch subjektivere Selektion besonders empfehlenswerter Werke zur Seite gestellt wird. Die Kenntnis - und Nutzung - der nachfolgend genannten Werke dürfte für die meisten Problemfälle während des Studiums völlig ausreichen. An linguistischen Nachschlagewerken in deutscher und in russischer Sprache sei insbesondere verwiesen auf: • B UßMANN , H ADUMOD : Lexikon der Sprachwissenschaft. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 1990 (3., aktual. u. erw. Aufl. 2002). • C RYSTAL , D AVID : Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt/ Main, New York 1995. • G LÜCK , H ELMUT (Hg.) : Metzler Lexikon Sprache. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2000 (3., neu bearb. Aufl. unter Mitarbeit von Friederike Schmöe 2005). • J ARCEVA , V. N. (gl. red.): Jazykoznanie. Moskva 1998 (2-e, reprintnoe izdanie „Lingvisti è esko go ė nciklopedi è eskogo slovarja“ 1990 goda). • K ARAULOV , J U . N. (gl. red.): Russkij jazyk. Ė nciklopedija. Izd. 2-e, pererab. i dopoln. Moskva 1998. An einführenden wie auch vertiefenden Darstellungen speziell für Slavistik- (im engeren Sinne Russistik-) Studierende seien gesondert hervorgehoben: • B OECK , W.; F LECKENSTEIN , C H .; F REYDANK , D.: Geschichte der russischen Literatursprache. Leipzig 1974. • E CKERT , R AINER ; C ROME , E MILIA ; F LECKENSTEIN , C HRISTA : Geschichte der russischen Sprache. Leipzig 1983. • G ABKA , K URT (Hg.): Die russische Sprache der Gegenwart. Band 1: Einführung in das Stu dium der russischen Sprache. Phonetik und Phonologie. Leipzig 1974 / Düsseldorf 1975. - Band 2: Morphologie. Leipzig 1975. - Band 3: Syntax. Leipzig 1976. - Band 4: Lexikologie. Leipzig 1978. • J ACHNOW , H ELMUT u.a. (Hg.): Handbuch des Russisten. Wiesbaden 1984. • J ACHNOW , H ELMUT (Hg.): Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenz disziplinen. Wiesbaden 1999. • M ULISCH , H ERBERT : Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig, Berlin, München 1993. <?page no="15"?> 3 Was ist Sprache? „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Aus dem Johannesprolog (Joh 1,1-18) Ein solches Zitat in einer sprachwissenschaftlichen Einführung zu verwenden, mag gewagt sein, da das Schlüsselwort Gott sowie die Quelle des Textes bereits darauf hindeuten, dass eine Auslegung dieses Textausschnittes die Grenzen der Linguistik verlassen muss oder diese doch nur am Rande berührt. Laut der neutestamentlichen Schöpfungsgeschichte am Anfang des Johannesevangeliums begann die Welt durch das Wort (griech. λόγος logos, lat. verbum, hebr. dvr). Intuitiv glaubt man zu verstehen, dass es sich hier nicht um ein konkret gesprochenes (oder gar geschriebenes! ) Wort handeln kann. Vielmehr liegt hier eine symbolische Verwendung des Wortes „Wort“ vor. In vielen alten Religionen, Mythen und Aberglauben findet sich bereits dieser Wortmythos von der Schöpfung durch Benennung. Ein adäquates Verständnis von „Wort“ in obigem Zitat setzt das Wissen darüber voraus, dass die Bedeutung des griechischen Wortes logos über die des gemeinsprachlichen Wortes Wort (und seine Entsprechungen in anderen Philologien) weit hinaus geht. So kann logos auch für die Sprache, die Rede, einen Beweis, einen Lehrsatz oder eine Lehre und allgemein für die Vernunft oder Wahrheit stehen - und befindet sich somit in direkter Opposition zum Mythos. Eine unreflektierte Übersetzung von logos mit Wort ließe also große Teile des Bedeutungsumfangs außer Acht. Noch ein weiterer, gerade für Linguistinnen und Linguisten wichtiger Aspekt sei im Zusammenhang mit dem Wort erwähnt: Es geht um die Differenzierung von Wort und Begriff, zwei Bezeichnungen, die gerade in der deutschen Sprache gerne gleichbedeutend verwendet werden, dies jedoch zu Unrecht. Während das Wort eine sprachliche Einheit, ein sprachlicher Ausdruck ist, stellt der Begriff eine kognitive Einheit, eine Vorstellung, ein Konzept dar. Die Spracheinheit Wort gibt jedoch der Denkeinheit Begriff eine zum Zwecke der Kommunikation fassbare Gestalt, so dass das Eine nicht zwangsläufig vom Anderen zu trennen ist. Wenn es aber darum geht, dass etwas falsch oder richtig verwendet, verstanden, interpretiert oder übersetzt wurde, meint man immer das Wort als sprachliche Äußerung. 2 Wie lässt sich nun von diesem, um den Logos kreisenden Einleitungsbeginn der Bogen schlagen zu unserem heutigen Verständnis von Wort und Sprache? - Die menschliche Sprache ist in der Lage, sowohl dem Logos als auch dem Mythos zu dienen, da sie vielfältige Mittel zum Ausdruck aller möglichen Gedanken- und Kommunikationsinhalte bereitstellt. Informationen können mitgeteilt, behauptet, bestritten, bezweifelt, erfragt, in Frage gestellt, erwünscht werden. Das hierfür zur Verfügung stehende Formeninventar reicht von kleinsten lautlichen Einheiten bis 2 Näheres hierzu beispielsweise bei V ATER , H EINZ : Referenzlinguistik. München 2005. S. 21-25. <?page no="16"?> Was ist Sprache? 10 hin zu ganzen Texten und Diskursen. Bevor wir uns all diese Formen näher anschauen, verbleiben wir noch etwas bei allgemeineren Aspekten im Hinblick auf den Erscheinungskomplex Sprache. *** Was ist aber überhaupt Sprache? Die Frage scheint banal, da jeder von uns ein gewisses, sozusagen vorwissenschaftliches Verständnis von diesem Aspekt der menschlichen Existenz besitzt und sich ja offensichtlich, stimmt man S AUSSURE zu (vgl. Kap. 2), jeder von uns mit ihr in der einen oder anderen Form beschäftigt. Bei näherer Betrachtung offenbart sich jedoch die Komplexität der Frage. Auch wird die Existenz und das mehr oder weniger reibungslose Funktionieren von Sprache als gegeben hingenommen. Zu einer bewussten Reflexion und Auseinandersetzung mit ihr kommt es erst im Falle von sprachlichen Störungen, die, je nach Fall, medizinisch (Unfallfolgen o.ä.) oder psychologisch (Traumata o.ä.) begründbar sind, oft aber lediglich auf fehlendes Wissen in der eigenen Muttersprache oder einer studierten Fremdsprache („Sagt man ‚14-tägig’ oder ‚14-täglich’? “, „Wie hieß doch gleich Differentialausgleich auf Russisch? “) zurückzuführen sind. Bisweilen erhält man aufschlussreiche Erkenntnisse über das Funktionieren von Sprache bereits durch das Beobachten von kleinen Kindern und deren Umgang mit Sprache. Mögliche, einander keineswegs ausschließende Antworten auf diese für die Beschäftigung mit Linguistik so zentrale Frage nach dem Wesen der Sprache könnten nach diesen einleitenden Bemerkungen sein: Sprache ist • ein soziologisch-historischer Komplex und damit eine Institution, • ein Regelgefüge, das sich aus konstitutiven (notwendigen, gestaltgebenden) Regeln und regulativen (nicht definitorischen, zusätzlichen) Regeln zusammensetzt, • ein System von Zeichen bzw. sich gegenseitig bedingender Glieder, • die Summe der Wortbilder, die bei allen Individuen als kollektives Gedächtnis eingespeichert sind, • ein grammatisches System, das virtuell-abstrakt in jedem Gehirn existiert, • der soziale Teil der menschlichen Rede und unabhängig vom Einzelnen; er realisiert sich in der parole als den konkreten, wahrnehmbaren Äußerungen und besteht aus einem Zeichenvorrat (Lexik) und Verknüpfungsregeln (Grammatik), • ein „Kommunikationsmittel, eine Brücke zwischen Mensch, Mitmensch und objektiver Welt“ (L UCKMANN , T H .: Aspekte einer Theorie der Sozialkommunikation; Lexikon der germanistischen Linguistik. Tübingen 1973. S. 7), • oft synonym zur Sprachfähigkeit (nach S AUSSURE langage) des Menschen gebraucht („seine Sprache verlieren“, d.h. nicht mehr sprechen können). Eine fremde Sprache benutzen bedeutet i.d.R. auch, die Wirklichkeit durch die Brille dieser anderen Sprache zu sehen, in neuen Kategorien zu denken und zu formulieren, und nicht einfach eins zu eins eine eigensprachliche Benennung gegen eine fremdsprachliche auszutauschen (dies funktioniert oft, aber beileibe nicht immer). Sprache ist nicht logisch im mathematischen Sinne. Wohl aber kann man Hypothesen aufstellen, diese verifizieren oder falsifizieren, es existieren viele Regeln (und noch mehr Ausnahmen), doch kann man nicht sagen, diese Sprache sei besser <?page no="17"?> Was ist Sprache? 11 oder schlechter oder logischer als jene. Der Sprachvergleich erlaubt es lediglich, Ähnlichkeiten und Differenzen quantitativ und qualitativ festzustellen, wobei man zwar eine andere Sprache (zunächst) immer mit dem Begriffs- und Bezeichnungsinventar der eigenen Sprache untersucht, aber darauf gefasst sein muss, in dieser fremden Sprache Kategorien vorzufinden, für die es in der eigenen Sprache keine Entsprechung gibt, so dass zwischensprachlich die Bewertungen richtig oder falsch keine Verwendung finden dürfen. Sprachliche Erscheinungen, die in allen oder in den meisten Idiomen vorhanden sein müssen, weil sie zur Charakteristik menschlicher Sprache überhaupt zählen, bezeichnet man als Universalien. Die nicht-universellen Merkmale der Sprachen erlauben es, sie im Vergleich miteinander nach bestimmten, relativ allgemeinen Kriterien zu kategorisieren; man erstellt so eine Sprachtypologie (siehe Kap. 10). Als U niversalien gelten beispielsweise die Existenz von Vokalen im Lautsystem von Sprachen, eine Differenzierung von Subjekt und Objekt sowie der verschiedenen Wortarten usw. usf. Eine andere Frage ist die, wie die einzelnen Sprachen untereinander zusammenhängen, ob sie miteinander verwandt sind im Sinne von Müttern und Kindern, ob sich also ein Stammbaum der sprachlichen Verwandtschaft(en) erstellen lässt (Stammbaumtheorie nach A UGUST S CHLEICHER , 1821-1868), oder ob sich sprachliche Veränderungen in der Form konzentrischer Kreise von einem Stimuluszentrum ausgehend in alle Richtungen gleichzeitig ausgebreitet haben, so, wie sich Wellen von einem ins Wasser fallenden Objekt ausbreiten (Wellentheorie nach J O- HANNES S CHMIDT , 1843-1901). Einige Sprachen fallen weitgehend aus den Verwandtschaftsverhältnissen heraus, wie beispielsweise das Baskische, Griechische oder Albanische, für die frühen Hochkulturen wäre die sumerische Sprache zu nennen, die weder semitisch noch indogermanisch ist. Man spricht hier von isolierten Sprachen, die deshalb so genannt werden, weil sie keine Tochtersprachen hervorgebracht haben. Sie sind wiederum nicht zu verwechseln mit unklassifizierten Sprachen, bei denen eine endgültige Zuordnung zu einem Sprachstamm oder einer Sprachfamilie noch nicht gelungen ist - und eventuell auch nie gelingen wird. In einer weiteren Lesart bezeichnet man solche Sprachen als isoliert, die überhaupt außerhalb jeglicher genetischer Verwandtschaft stehen, von denen also auch keine Vorgängersprachen bekannt sind. Es gibt viele verschiedene Darstellungen eines Sprachstammbaums, der die Filiationen der Sprachengruppen, Sprachen und Dialekte darstellen soll. Ein neueres, sehr anschauliches Beispiel für die Verzweigung der indogermanischen Sprachen, bei dem das Albanische als selbständiger Zweig zu ergänzen wäre, findet sich unter http: / / www.stefanjacob.de/ Geschichte/ Unterseiten/ Sprachgeschichte.php? Multi=5 (tote Sprachen sind kursiv angegeben, Sprachen, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben und die insofern nur rekonstuiert werden können, in eckigen Klammern). Sprachfamilien als Gruppen genetisch miteinander verwandter, also auf eine gemeinsame Grund- oder Protosprache zurückgehender Sprachen werden in der linguistischen Forschung unterschiedlich definiert. Während traditionellerweise auf das Kriterium der Lautentsprechungen und Lautgesetze zurückgegriffen wird, favorisieren andere Forscher das Mittel der lexikalischen Vergleiche. Von der genetischen Klassifikation ist jedenfalls die typologische Klassifikation nach gemeinsamen <?page no="18"?> Was ist Sprache? 12 Sprachmerkmalen wie auch die geographische Klassifikation nach Sprachbünden zu unterscheiden. Die folgende Grafik stellt für die indogermanischen Sprachen das Hierarchieverhältnis der einzelnen Differenzierungsebenen - vom sogenannten Sprachstamm über die Sprachfamilie, die Sprachgruppe und die einzelne Sprache bis hin zum Dialekt - dar (wobei einschränkend anzumerken ist, dass die terminologische Verwendung von Sprachstamm und Sprachfamilie nicht einheitlich ist; nicht selten wird Sprachfamilie auch für die oberste Kategorisierungsebene gebraucht). Sprachstamm Sprachfamilie Sprachgruppe Sprache Dialekt Keltisch Ostgermanisch Nordgermanisch Englisch Germanisch Friesisch Indogermanisch Westgermanisch Niederländisch Niederdeutsch Deutsch Oberdeutsch Slavisch ... Abbildung 2: Ebenen genetischer Verwandtschaft Während Stammbaumdarstellungen oder Grafiken wie die obige in der Regel Forschungsergebnisse repräsentieren, die in der sprachwissenschaftlichen Forschung weitestgehend unumstritten sind, gibt es eine prominente, jedoch äußerst umstrittene Theorie, die Anfang des 20. Jahrhunderts von dem dänischen Linguisten H OL - GER P EDERSEN aufgestellt und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion von V LADISLAV M. I LLI Č -S VITY Č und A CHARON B. D OLGOPOL ’ SKIJ wieder aufgegriffen wurde 3 und der zufolge rund drei Viertel aller bekannten Sprachen zu einer 12000 Jahre alten (jungsteinzeitlichen) Superfamilie (Überfamilie; 3 Literatur zu diesem etwas exotischen Thema u.a.: I LLI Č -S VITY Č , V. M.: Opyt sravnenija nostrati č eskich jazykov, t. 1. Moskva 1971; D OLGOPOL ’ SKIJ , A. B.: Gipoteza drevnejšego rodstva jazykov Severnoj Evrazii. Moskva 1964 (VII Meždunarodnyj kongress antropologi č eskich i ė tnografi č eskich nauk). <?page no="19"?> Was ist Sprache? 13 макросемья языков ) gehören, die auf einer Nostratisch genannten Grundsprache aufbauen. Würde sich diese Theorie bewahrheiten, so käme man einer hypothetischen Ursprache oder Protosprache der Menschheit bedeutend näher, was den besonderen Reiz dieses Denkansatzes auszumachen scheint. <?page no="20"?> 4 Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole Vor einer näheren Beschäftigung mit einer konkreten Einzelsprache ist die folgende Frage zu stellen: Welche Arten von Sprache gibt es überhaupt? Eine erste Grobklassifizierung erbringt folgendes Ergebnis: • natürliche Sprachen: haben sich im Evolutionsprozess der Menschheit herausgebildet und weiterentwickelt; • Kunst- oder Plansprachen (Esperanto, für den slavischen Bereich Slovio 4 etc.); Programmiersprachen; • Gebärdensprachen: imitieren gesprochene / geschriebene Sprache. Bei den natürlichen Sprachen wird nach den Realisierungs- oder Übertragungskanälen unterschieden in gesprochene und geschriebene Sprache. Das Medium der gesprochenen Sprache ist die Luft, bei der geschriebenen Sprache dient jedes Material als Träger, auf dem Schriftzeichen fixiert werden können. In historischer Sicht ist die gesprochene Sprache primär, die geschriebene sekundär, Gebärdensprache tertiär (obwohl sich der Höhlenmensch vielleicht mehr mit Gebärden als mit artikulierten Lauten verständigt hat). Jedenfalls aber ist die Schriftlichkeit der meisten Sprachen eine dem mündlichen Ausdruck nachgeordnete Kulturerrungenschaft. Man spricht deshalb vom Primat der gesprochenen Sprache. Die Schriftsprache stellt ein konventionalisiertes Abbild der gesprochenen Sprache in einem anderen Medium dar. Konventionalisiert bedeutet, dass sich eine Kultur- und damit Sprechergemeinschaft implizit (d.h. mehr oder weniger unbewusst) oder explizit (vgl. die Rechtschreibreformen in Vergangenheit und Gegenwart) darauf geeinigt hat, ihre Sprache in dieser und in keiner anderen Form zu realisieren. Diese Konventionalisierung erfolgte meist nicht punktuell, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg. Sprachen, insbesondere die natürlichen Sprachen, erfüllen für die Menschen mehrere Funktionen. Eine erste grobe Einteilung dieser Funktionen ergibt zwei große Gruppen, die ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit aufweisen: • kognitive Funktion: Die Sprache ist das Mittel der Formierung und des Ausdrucks von Gedanken und Bewusstseinsinhalten im Prozess der menschlichen Erkenntnis (wer nie die menschliche Sprache erlernt hat, kann nie kognitive Fä- 4 T ILMAN B ERGER beschreibt in seinem Aufsatz Vom Erfinden slavischer Sprachen (in: O KUKA , M.; S CHWEIER , U. (Hrsgg.): Germano-Slavistische Beiträge. Festschrift für Peter Rehder zum 65. Geburtstag. München 2004, S. 19-28; dort auch weitere Literaturhinweise zum Thema) noch 12 weitere slavische Plansprachen von sehr unterschiedlicher Ausgereiftheit, zu denen i.d.R. auch Informationen im Internet verfügbar sind. <?page no="21"?> Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole 15 higkeiten entwickeln, allenfalls etwas, dass man wie bei den Tieren Instinkt nennen kann). • kommunikative Funktion: Die Sprache ist das grundlegende Kommunikationsmittel in der menschlichen Gesellschaft. Die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) ist so zu verstehen, dass einerseits ohne vorherige Kognition keine sinnvolle und zweckgerichtete Kommunikation möglich ist, dass aber andererseits auch die realisierte Kommunikation auf das Bewusstsein der Sprecher einwirkt oder einwirken kann und somit deren Bewusstseinsinhalte verändert (was dann wieder zu einer modifizierten Kommunikation führen kann usw.). K ARL B ÜHLER und R OMAN J AKOBSON nehmen eine differenziertere Einteilung der Funktionen der (menschlichen) Sprache vor: • expressive / emotive Funktion / Ausdrucksfunktion: Sprache vermittelt Informationen über den Sprecher (soziale Gruppe, Geschlecht, Seelenlage) und darüber, was er sagen will (senderbezogen); • kognitive Funktion / Mitteilungsfunktion / Darstellungsfunktion: Sprache vermittelt Informationen über Gegenstände, Sachverhalte, Gedanken, über die der Sprecher spricht; • appellative Funktion / Appellfunktion: Sprache macht den Hörer aufmerksam auf das, was der Sprecher sagt und darauf, wie er es sagt (empfängerbezogen) ; • phatische Funktion: Sprache dient der Kontaktaufnahme bzw. der Aufrechterhaltung des Kontakts; • metasprachliche Funktion: mit Sprache über Sprache sprechen (also das, was wir in der Sprach- und in der Literaturwissenschaft ohne Unterlass tun). Kommunikation ist nicht statisch, sondern als ein Prozess aufzufassen. An diesem kommunikativen Prozess sind neben der zu übermittelnden Nachricht und dem Transportmedium (Luft, Papier, Finger etc.) mindestens zwei Partner beteiligt: der Sender einer Nachricht und ihr Empfänger. Hierbei ist der Sender der Verwender von sprachlichen Zeichen (nicht ihr Erzeuger); er gibt verknüpfte Zeichen an den Empfänger weiter. Nach dem verwendeten Medium unterscheidet man: • Sprecher Hörer -- auditive Übertragung (gesprochene Sprache) • Schreiber Leser -- skripturale Übertragung (geschriebene Sprache) • Zeigender Schauender -- visuelle Übertragung (Gebärdensprache) Wenn man eine Sprache verwenden will, muss man sie zunächst erlernen. Bei einem kleinen Kind, das sich seine Muttersprache aneignet, geschieht dies unbewusst und zum großen Teil unreflektiert, weswegen es mühelos erscheint. Der heranwachsende oder erwachsene Mensch lernt eine Sprache anders, nicht mehr spielerisch, sondern bewusst. Aus diesem Grunde ist der Spracherwerb jenseits des Kindesalters mit Mühe verbunden. 5 Wie aber wird eine Sprache grundsätzlich erlernt? Erst wird die Bezeichnung für einen Gegenstand/ Sachverhalt erlernt, danach die innersprachliche Opposition dieser Bezeichnung zu anderen Bezeichnungen im System der je- 5 Mit diesen Aspekten beschäftigen sich die Lehr- und Lernforschung sowie die (Fremd-)Sprachendidaktik. <?page no="22"?> Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole 16 weiligen Sprache. Erst wenn beim Lerner der entsprechende Zeichenvorrat vorhanden ist, kann er innersprachliche Oppositionen ausdrücken. Der genaue Stellenwert eines Sprachelements im System ist der Schnittpunkt seiner paradigmatischen und seiner syntagmatischen Relationen; es ist also erst dann genau definiert, wenn außer den Elementen, zu denen es in semantischer (bedeutungsmäßiger) Opposition steht (paradigmatische Relation), auch noch die Regeln für seine horizontale Verknüpfung in einer Abfolge von Sprachelementen angegeben werden (syntagmatische Relation). Die moderne Sprachwissenschaft fasst Sprache als System auf, wobei jede Sprache weitere Systeme (Subsysteme) umfasst: • Lautsystem (Phonemsystem); realisiert im Phoneminventar, • Alphabet (Graphemsystem); realisiert im Grapheminventar, • Wortsystem (morphologisches System); realisiert im Morpheminventar Diese Systeme stehen in Beziehung zueinander, bilden jedoch keine 1: 1-Entsprechungen. So wird nicht jedes Phonem in einem Graphem realisiert, und nicht jede zulässige Phonemkombination ist im Morpheminventar repräsentiert (Beispiele für nicht existierende Elemente im Deutschen: {glö}, {xet}, {poi}), • Genus- und Flexionssystem, • semantisches System (Inhaltssystem), • syntaktisches System. Die Sprache ist kein Konglomerat von lose nebeneinander existierenden Einheiten. Alle Elemente stehen zueinander in Beziehung und lassen sich nach ihrer Struktur hierarchisch anordnen. Folgende Einheiten und Ebenen der Sprache sind zu unterscheiden, wobei sich jede höhere Ebene aus Elementen der jeweils niedrigeren Ebene zusammensetzt: Spracheinheit Sprachebene sprachwissenschaftliche Disziplin Satz Wortfügung syntaktische Syntax Wort/ Lexem Morphem lexikalischsemantische / morphologische Lexikologie/ Morphologie Phonem phonetische Phonetik/ Phonologie F ERDINAND DE S AUSSURE (1857-1913; wichtigstes Werk: Cours de linguistique générale, 1916; aus Vorlesungsmitschriften entstanden und posthum veröffentlicht) stellte als erster Linguist der Neuzeit richtungweisend die Dichotomie (Zweigestalt) der (menschlichen) Sprache heraus, die er mit den Termini langue und parole kennzeichnete. Vereinfachend lässt sich nach S AUSSURE die langue ( язык ) betrachten als • ein soziales Phänomen („fait / produit social“), also der Sprachbesitz nicht eines Individuums, sondern einer Gruppe (d.h. überindividuell); die Sprache existiert als Gesamtheit der in jedem ihrer Teilhaber durch Erlernen mehr oder weniger <?page no="23"?> Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole 17 identisch eingeprägten Zeichen und kann nicht von einem Individuum geschaffen oder verändert werden, • virtuell oder potentiell, d.h. nicht wahrnehmbar, da es nur in der Theorie, als theoretisches Konstrukt existiert. Demgegenüber ist die parole ( речь ) • die konkrete Verwendung/ Realisierung der langue durch das Individuum in einer aktuellen sprachlichen Äußerung, wodurch hier keine soziale Erscheinung mehr vorliegt, sondern eine individuelle, • historisch gesehen primär (sie führte erst zur Herausbildung der langue). Wie sieht nun das Verhältnis von langue und parole aus? Es lässt sich beschreiben als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis (Interdependenz): parole ist nur auf der Basis der langue möglich, langue wird durch die parole erlernt und weitergegeben, manifestiert / realisiert sich in ihr, ist historisch gesehen aus ihr hervorgegangen (sekundär) und verändert sich letztlich auch durch veränderte Sprechgewohnheiten weiter. Es handelt sich um eine binäre Opposition oder Dichotomie (Zweigestalt). Grafisch lässt sich dieses Wechselverhältnis wie folgt darstellen: langue basiert auf wird erlernt mittels realisiert sich in ist hervorgegangen aus und verändert sich durch parole Abbildung 3: Zum Verhältnis von langue und parole S AUSSURE war ein Meister der anschaulichen Ausdrucksweise. So verglich er die Sprache mit einem Wörterbuch, von dem jeder Sprachteilhaber ein identisches Exemplar in seinem Bücherschrank besitze und dessen er sich je nach Bedarf bediene. Weiten wir diesen Vergleich etwas aus, so kann man in Anlehnung an S AUSSURE sagen, dass die langue als abstraktes, soziales System so aufgefasst werden kann, dass jeder Teilhaber einer Sprechergemeinschaft in seinem Schrank das gleiche Wörterbuch und die gleiche Grammatik stehen hat. Das Wörterbuch repräsentiert die Gesamtheit aller lexikalischen Einheiten einer Sprache, die den Sprechern zur Verfügung stehen, und die Grammatik stellt das Regelwerk aller Verknüpfungen dar, nach denen die lexikalischen Einheiten miteinander kombiniert werden können. Diese beiden Bücher stellen also die gemeinsame Sprachbasis dar, auf deren Grundlage sich die Sprachteilhaber miteinander verständigen können. Allerdings ist diese Vorstellung stark idealisiert, da in der Tat jeder Mensch über einen anderen (aktiven wie passiven) Zeichenvorrat verfügt und auch die Grammatik meist nur in Ausschnitten korrekt beherrscht. Die Benutzung von Wörterbuch und Grammatik in einer gegebenen Kommunikationssituation durch einen individuellen Sprecher oder Schreiber ist dann die Umsetzung in die greifbare Praxis, die Realisierung des abstrakten Systems der langue durch die Auswahl von lexikalischen Einheiten und deren Verknüpfungsregeln in einer konkreten Äußerung, d.h. in der parole. <?page no="24"?> Arten und Funktionen von Sprache - langue und parole 18 Von der Sprache in ihrer doppelten Ausprägung in langue und parole unterschied S AUSSURE wiederum die generelle Sprechfähigkeit (langage), die jedem (gesunden) Menschen eigen ist und ihn vom Tier unterscheidet. N OAM C HOMSKY entwickelte das System S AUSSURES weiter und untergliederte die Sprache in nunmehr drei Bereiche: Kompetenz, Performanz und Norm. Bei C HOMSKY ersetzt der Terminus Kompetenz S AUSSURE s langue; beim idealen Sprachteilhaber fallen nach C HOMSKY Idiolekt, Soziolekt und Sprache zusammen. Kompetenz untergliedert sich in rezeptive Kompetenz (die Fähigkeit, ein von anderen Geäußertes (Gesprochenes, Geschriebenes) zu verstehen) und produktive Kompetenz (die Fähigkeit, sich selbst sprachlich zu äußern, d.h. zu sprechen oder zu schreiben). Produktive Kompetenz bedeutet aktiver Sprachbesitz, aktiver Wortschatz; rezeptive Kompetenz entspricht dem passiven Sprachbesitz, obwohl Verstehen natürlich nichts Passives ist. Beim Gebrauch verschiedener Sprachen liegen mehrere Kompetenzen in demselben Individuum vor, die jedoch Interferenzerscheinungen unterliegen (hierher rühren zahlreiche Schwierigkeiten beim Fremdsprachenerwerb). Bei mehreren Dialekten einer Sprache liegt eher eine gemeinsame Kompetenz mit verschiedenen Varianten vor. Der Terminus Performanz ersetzt S AUSSURE s parole, sie ist individuell und tritt beim Idiolekt auf. Sie bezieht sich sowohl auf das Hervorbringen (aktiv) als auch auf das Verstehen (passiv) sprachlicher Gebilde. Die Kompetenz eines Sprechers liegt seiner Performanz zugrunde oder, anders ausgedrückt: Kompetenz ermöglicht Performanz. Die dritte Ebene, die Norm, befindet sich zwischen den beiden genannten. Sie ist der idiomatisierte Sprachgebrauch und zählt im Grunde zur langue. Die Norm enthält funktionelle, systemhafte Invarianten sowie historische Invarianten, z.B. Lücken im System, sprachliche Konventionen, soziale Zwänge (als Invarianten bezeichnet man unveränderliche, konstitutive Eigenschaften sprachlicher Zeichen). Die Existenz oder Nichtexistenz z.B. einer vom System her möglichen Einheit ist eine Tatsache der Norm. Hinsichtlich ihrer Verwendungsweise kann Sprache schließlich unterschieden werden nach • Objektsprache als dem Gegenstand der Untersuchung und • Metasprache als einem Sprachsystem, mit dessen Hilfe Aussagen über eine (Objekt-) Sprache sowie über sprachliche Einheiten in langue und parole getroffen werden. <?page no="25"?> 5 Sprachebenen und -varietäten Sprache realisiert sich normalerweise in verschiedenen Ausprägungen, für die Sprache dann als Oberbegriff betrachtet werden kann. Es lassen sich folgende Sprachebenen unterscheiden: • Standardsprache oder Hochsprache ( литературный язык ): die in Wörterbüchern und Grammatiken kodifizierte Varietät einer Sprache (insofern problematisch, als auch Dialekte in Wörterbüchern und Grammatiken kodifizierte Formen besitzen können); weist eine maximale funktionale Belastung auf und kann somit allen Kommunikationsbedürfnissen einer Sprechergemeinschaft dienen; meist aufgeteilt in verschiedene Register oder Stile; grobe Zweiteilung in Allgemeinsprache und Fachsprache(n); ist zumindest in Teilen als geplant anzusehen, da sie Normierungsbestrebungen unterliegt; weist eine Sprache statt einer gleich mehrere Standardvarietäten auf, so haben wir es mit einer plurizentrischen Sprache zu tun, deren Verbreitungsgebiet über die Grenzen eines einzelnen Staates hinausreicht; so verhält es sich beispielsweise mit dem Englischen und seinen Varietäten britisches, amerikanisches, australisches etc. Englisch, aber auch mit dem Deutschen mit seiner österreichischen, Schweizer und i.e.S. deutschen Varietät, und mit dem Französischen in Frankreich, Belgien, Kanada, den USA etc. 6 • Dialekt oder Mundart ( диалект , наречие ) 7 : regional ausdifferenzierte (horizontale), mehr oder weniger stark kodifizierte Sprachform; i.d.R. mit eigenem Wortschatz und eigener Grammatik, die von der Hochsprache deutlich abweichen können; in einem weiten Verständnis bezeichnet man mit Dialekt jegliche regionale Varietät, worunter dann auch die Standardsprache fiele; üblicherweise wird jedoch klar zwischen Standardsprache und Dialekt unterschieden; zumindest die größeren Dialekte weisen eine oft rege literarische Produktion auf (Dialekt- oder Mundartdichtung), dagegen keine wissenschaftlichen Publikationen, die der Standardsprache vorbehalten sind; da der Terminus Dialekt oft pejorativ konnotiert ist, weicht man in der neueren Forschung oft auf die neutrale Bezeichnung der Varietät aus; Dialekte werden von der Dialektologie untersucht, in der neueren Sprachwissenschaft darüber hinaus auch von der Soziolinguistik. Näheres zur Dialektsituation des Russischen in Kapitel 14.2. 6 Hiervon zu unterscheiden sind Länder mit mehreren Amtssprachen (Schweiz, Belgien, Südafrika, Indien etc.). In Nationalstaaten ist die Sprache der angestammten (Mehrheits-)Bevölkerung, d.h. die Nationalsprache, Amtssprache. In Deutschland haben Dänisch, Friesisch, Niedersächsisch/ Niederdeutsch sowie Sorbisch den Status von Regionalsprachen, die in offizieller Korrespondenz seitens der Behörden der jeweiligen Bundesländer verwendet werden kann. In Österreich haben die Minderheitensprachen Kroatisch, Slowenisch und Ungarisch den Status von Amtssprachen. In einigen Bundesstaaten der USA ist Spanisch neben Englisch zweite Amtssprache. 7 Bisweilen wird auch die dem französischen Sprachraum entlehnte, lange Zeit pejorativ konnotierte Bezeichnung Patois verwendet. <?page no="26"?> Sprachebenen und -varietäten 20 • Soziolekt ( социолект ): milieubedingte, d.h. einer bestimmten Gesellschaftsgruppe eigene, auf gesellschaftlichen Faktoren beruhende (vertikale) Sprachform (Schülersprache, Gefangenensprache, auch Berufssprachen wie Bergmannssprache oder Seemannssprache können hierzu gezählt werden); eine Rolle spielen hier auch die sog. Sprachbarrieren innerhalb ein und derselben Sprache, vor allem zwischen dem elaborierten Code und dem restringierten Code. Näheres zur sozialen Gliederung des Russischen in Kapitel 14.2. • Idiolekt ( идиолект ): die einem Individuum eigene Sprache, die das individuelle Lexikon, die Sprech- oder Ausdrucksweise und Aussprache sowie das gesamte Sprachverhalten eines einzelnen Menschen umfasst. • Ethnolekt ( этнолект ): die Gesamtheit aller einer ethnischen Minderheit eigenen sprachlichen Besonderheiten, die sich im Sprachkontakt (durch muttersprachliche Interferenzen) meist am deutlichsten im Bereich der Aussprache, aber auch der Syntax manifestieren. Vor allem Sprache und Dialekt stehen in einem kritischen Spannungsverhältnis zueinander, in dem nicht nur linguistische Faktoren eine Rolle spielen, wenn es darum geht, einem Dialekt den Status einer eigenständigen Sprache zu verleihen oder umgekehrt eine Sprache zu einem Dialekt herabzustufen. Praktisch keine Rolle spielen rein quantitative Angaben; man vergleiche die Sprecherzahlen für das Ober- und das Niedersorbische (eigene Sprachen) beispielsweise mit dem Moselfränkischen oder dem Westfälischen (Dialekte). Oft sind es rein (macht)politische Faktoren, die bei der Entscheidung über Dialekt oder Sprache in die Waagschale geworfen werden (s.o.). Nicht selten widersprechen sich linguistische und politische Argumente. Es zeigt sich, dass Sprache zu Machtzwecken „wunderbar“ instrumentalisiert werden kann. Von besonderer Brisanz ist die Sprachenfrage - dies zeigt die Geschichte überdeutlich - immer in zerfallenden (und heute bereits zerfallenen) multiethnischen Gebilden: in der k.u.k.-Monarchie, im Russischen Reich, in der Sowjetunion, in Jugoslawien. Hinsichtlich der Sprachvarietäten kann man (u.a. nach E UGENIO C OSERIU : Das romanische Verbalsystem. Tübingen 1976: 27-29) differenzieren in: • diatopisch ( диатопический ): von räumlicher Ausbreitung abhängig; als Kategorien entstehen Dialekte und Regiolekte, • diastratisch ( диастратический ): von sozialer Schicht (und damit meist auch von der Bildung) des Sprechers abhängig; gängige Unterscheidungen sind Frauen-/ Männersprache, Jugendsprache, Idiolekt, Soziolekt, Gruppensprache, • diaphasisch ( диафазический ): von Sprech- oder Kommunikationssituation abhängig (ein wenigstens durchschnittlich gebildeter Sprachteilhaber ist in der Lage, sich einer Sprechsituation anzupassen; so spielt es beispielsweise eine Rolle, ob man mit einem sozial höher oder niedriger Stehenden kommuniziert: der Angestellte spricht mit seinen Kollegen oder mit seiner Frau anders als mit seinem Chef, der Studierende mit seinen Kommilitonen anders als mit seinem Professor); neben der allgemeinen Standardsprache existieren verschiedene Fachsprachen mit ihren jeweiligen Fachwortschätzen, daneben als im Allgemeinen niedriger stehende Variante der Standardsprache die Umgangssprache. Umgangssprache ist insofern nicht zu verwechseln mit Dialekt, Soziolekt, Idiolekt, Gemeinsprache oder Fachsprache, sondern steht im Gegensatz zur Standard- oder <?page no="27"?> Sprachebenen und -varietäten 21 Hochsprache (bisweilen auch Literatursprache genannt), von deren Normiertheit sie mehr oder weniger stark abweicht. Sie wird in erster Linie mündlich verwendet, kann aber auch schriftlich gebraucht werden, wenn z.B. in literarischen Werken bestimmte Effekte erzielt werden sollen. Die beiden Klassifizierungen überschneiden sich teilweise (z.B. Dialekt - diatopische Varietät, Soziolekt - diastratische Varietät). Mit geographischen Fragestellungen beschäftigen sich v.a. die Sprachgeographie oder Areallinguistik 8 und die Dialektologie, mit sozialen und sprachsituationellen Aspekten die Soziolinguistik und die Pragmatik. In funktionaler Hinsicht werden üblicherweise fünf Stile unterschieden: der literarisch-künstlerische Stil, der publizistische Stil, der wissenschaftliche Stil, der offiziell-geschäftliche Stil und der umgangssprachliche Stil, wobei verschiedene Zwischenstile hinzukommen. Der Funktionalstil lässt sich definieren als „die extralinguistisch bedingte systemhafte Realisierung der Sprache in bestimmten Bereichen menschlicher Tätigkeit mit einer spezifischen intralinguistischen (paradigmatischen und syntagmatischen) Organisation, einer statistischen Gesetzmäßigkeit (Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit des Gebrauchs sprachlicher Mittel), mehr oder weniger starker traditioneller Bedingtheit und historischer Motiviertheit.“ (T OŠOVI Ć in: O KUKA 2002: 411) Zu den sog. Registern der modernen russischen Sprache siehe Kap. 14.2. 8 Die Areallinguistik bemüht sich u.a., sprachliche und dialektale Verbreitungsgebiete mit der Festlegung von Isoglossenlinien (Grenzen von Dialektgebieten) auf Sprachkarten und in Sprachatlanten zu markieren. Die sprachliche Identität der befragten Personen (Informanten) muss keineswegs immer mit ihrer ethnischen und nationalen Identität zusammenfallen, und Isoglossen fallen nicht notwendigerweise mit Staats- oder Verwaltungsgrenzen zusammen. <?page no="28"?> 6 Das sprachliche Zeichen Sprache besteht aus Zeichen (geschriebenen, d.h. einer Buchstabenfolge, oder gesprochenen, d.h. einer Lautfolge; знак ). Es gibt verschiedene Arten von Zeichen: • Indizes / Symptome / Anzeichen (der Zusammenhang entsteht durch Erfahrungswerte: Rauch für Feuer, Licht für Energiequelle, rote Punkte auf der Haut für Masern; hier wird der Zusammenhang von der engeren Sprachwissenschaft einerseits und der weiter gefassten Semiotik als der allgemeinen Zeichenlehre besonders deutlich; индекс ), • Ikone (es besteht ein mehr oder weniger enger Zusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, z.B. Onomatopoetika (lautmalerische Ausdrücke), Piktogramme; икона ), • Symbole (konventionalisierte, arbiträre Zeichen; символ ). Indizes: Ikone: ☺ Symbole: Aufgaben: 1. Überlegen Sie: Welche Sachverhalte werden von den oben dargestellten Zeichen vertreten oder können von ihnen vertreten werden? 2. Aus welcher Art von Zeichen besteht die menschliche Sprache? Gibt es Ausnahmen? 3. Suchen Sie für das Russische 20 Onomatopoetika (lautmalerische Ausdrücke). Lassen sich verschiedene Kategorien bilden? Eine strukturierte Menge von Zeichen bildet eine Zeichensystem ( система знаков , семиотическая система ), wie die menschliche Sprache oder künstliche Sprachen (Morsealphabet, Brailleschrift, Programmiersprachen, Plansprachen wie bspw. Esperanto), Verkehrsschilder, Noten etc. Ein System ist eine Menge von (gleichen oder verschiedenen) Einheiten, die mittels Verknüpfungsregeln zueinander in Be- <?page no="29"?> Das sprachliche Zeichen 23 ziehung gesetzt werden, die also nicht in beliebiger Form, sondern nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten (inkl. ihrer Ausnahmen) koexistieren. Zeichen bedeutet, dass etwas auf etwas anderes verweist oder für etwas anderes steht, das es selbst nicht ist. Es wurden in der Vergangenheit sehr unterschiedliche Modelle vom sprachlichen Zeichen entworfen. Das erste Beispiel könnte man ein einfaches Stellvertretermodell nennen: aliquid stat pro aliquo Wort verweist auf Gegenstand Text verweist auf Sachverhalt Große Bekanntheit hat das Modell des Semiotischen Dreiecks (nach C. K. O GDEN und I. A. R ICHARDS : The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, London 1923) erlangt, das bis auf A RISTOTELES zurückreicht: Zeichen Bedeutung (Inhalt; thought or reference) Zeichenkörper Sachverhalt (Ausdruck; symbol) (Bezeichnetes; referent) Abbildung 4: Zeichenmodell nach O GDEN und R ICHARDS Zwischen Symbol / Signifikant / Lautform und Referent / Sache / Gegenstand / Denotat / Designat besteht grundsätzlich keine direkte und keine relevante Beziehung; Zeichen und Dinge lassen sich nur über die Interpretation bzw. den Begriff, die Bedeutung oder den Inhalt aufeinander beziehen. Das Zeichen hat einen Inhalt, eine Bedeutung, die jedoch nicht selbst der Sachverhalt (das Objekt der außersprachlichen Wirklichkeit) ist, der bezeichnet wird. So ist дерево ja nicht selbst der Baum im Wald. Bedeutung ist immer abstrakt, sie ist eine Art Verweismöglichkeit auf die außersprachliche Wirklichkeit. Zeichenkörper ( дерево )  und Bedeutung (‚Baum’) konstituieren gemeinsam das Zeichen. Demgegenüber ist S AUSSURE s Modell binär aufgebaut, besteht also aus nur 2 Komponenten, dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten. Als chose réelle bezeichnet er das Objekt (den Gegenstand) der außersprachlichen Wirklichkeit, das selbst nicht Teil der Sprache ist. ist geknüpft an bezieht sich auf steht für <?page no="30"?> Das sprachliche Zeichen 24 Zeichen ≠ chose réelle (außersprachlich) Abbildung 5: Zeichenmodell nach S AUSSURE Nach S AUSSURE haben sprachliche Zeichen die Grundeigenschaften der Linearität und Arbitrarität. Linear bedeutet, dass sie in einer zeitlichen Abfolge hintereinander (und nicht gleichzeitig) produziert werden. Doch nur der Sprachkörper ist linear angeordnet, die Inhalte weisen oft keine entsprechende lineare Struktur auf, z.B. bei diskontinuierlichen Konstituenten: Der Zug fährt gleich ab besteht aus den morphologisch variierten Wortzeichen der, Zug, abfahren, gleich. Das sprachliche Zeichen ist nach S AUSSURE arbiträr/ willkürlich/ beliebig/ nicht determiniert, die Verbindung von einer Einheit der geistig-begrifflichen Seite mit einer bestimmten Klang-/ Schriftgestalt ist nicht naturbedingt, nicht natürlich notwendig, nicht a priori vorhanden; die sprachlichen Zeichen werden nämlich erst vom Menschen geschaffen. „Beliebigkeit“ bezieht sich auf die Relation zwischen Sprachkörper, Bedeutung und Sachverhalt. Nur bei onomatopoetischen (lautmalenden/ lautimitierenden) Wörtern verweist die Lautfolge auf den Inhalt/ den Referenten. Die Qualifizierungen „willkürlich, beliebig“ sind insofern missverständlich, als die (sprachlichen) Zeichen nicht ständig und nach Belieben des Einzelnen veränderbar sind; sie wurden einmal spontan geschaffen, wurden dann aber sozial verbindlich, wodurch Kommunikation und soziale Interaktion erst möglich wurden. Sprachliche Zeichen sind zwar nicht determiniert, ein neues Zeichen kann aber motiviert sein (S AUSSURE spricht von „relativement motivé“), wenn es auf der Grundlage (durch Einbezug oder Abwandlung, in Analogie) bereits bestehender Zeichen geschaffen wird, vgl. neun, zehn, hundert neunzehn, neunhundert, russ. девять , десять , сто девятнадцать , девяносто , девятьсот . Fassen wir zusammen: Sprachzeichen sind • arbiträr, • institutionalisiert (institutionell), • konventionell (gesellschaftsbezogen veränderlich), • linear angeordnet. Nach S AUSSURE ist das Zeichen zweigeteilt: Es stellt eine dauerhafte Verbindung von einer Vorstellung (concept) mit einem Lautbild (image acoustique) dar. Es ist somit eine Einheit, in der einer Ausdrucksseite (Signal) eine Inhaltsseite (Information) zugeordnet ist; „image acoustique“ ist jedoch kein materieller, sondern ein geistig-psychischer Begriff (eine Abstraktion). Bezeichnendes Bezeichnetes <?page no="31"?> Das sprachliche Zeichen 25 Dem image acoustique entspricht das signifiant (Signifikant, Ausdruck), dem concept das signifié (Signifikat, Inhalt). Bedeutung besteht nach S AUSSURE aus dem solidarischen Verhalten von Ausdruck und Inhalt. Diese Auffassung wurde jedoch schon bald kritisiert. Einen anderen Ansatz verfolgte beispielsweise das Modell C OSERIU s (dargelegt u.a. in Sprache. Strukturen und Funktionen. Tübingen 1979): Zeichen x Zeichen y außersprachlicher Sachverhalt (Denotat) Bezeichnungsfunktion (außersprachlich) Ausdruck Inhalt (beides Sprachinhalte) Bedeutungsfunktion (innersprachlich) Ausdruck Inhalt Abbildung 6: Zeichenmodell nach C OSERIU Der Sprache bzw. dem sprachlichen Zeichen kommt sowohl eine Bezeichnungsfunktion als auch eine Bedeutungsfunktion zu, die jedoch nicht miteinander identifiziert werden dürfen, denn nach C OSERIU entsteht Bedeutung innersprachlich durch die gegenseitige Abgrenzung von zwei oder mehr sprachlichen Zeichen, während die Bezeichnungsfunktion sich aus dem Zusammenhang von Sprachzeichen (als komplexer Entität aus Ausdruck und Inhalt) und außersprachlichem Denotat ergibt. Die Bezeichnungsfunktion verlässt damit die engeren Grenzen der Sprache und setzt diese in Beziehung zur Umwelt. An der Konstituierung der Bedeutung ist wiederum das strukturelle Element der Sprache wesentlich beteiligt. Abschließend sei zu diesem Punkt noch darauf hingewiesen, dass der bilateralen Zeichentheorie S AUSSURE s, die das Zeichen als eine Einheit von Bezeichnendem (signifiant; Form) und Bezeichnetem (signifié; Inhalt, Bedeutung) betrachtet, noch eine unilaterale Zeichentheorie gegenübersteht, der zufolge das Zeichen nur das Bezeichnende, der Zeichenkörper (Form) sein soll. Aufgrund der allseits akzeptierten Komplexität des Sprachzeichens hat diese Theorie jedoch kaum Anhänger. Wie wir gesehen haben, existiert das (sprachliche) Zeichen nicht isoliert, sondern erhält seinen spezifischen Wert erst im Verhältnis zu anderen Zeichen und in Verbindung mit dem vermittelten Inhalt. Letztlich spielt aber auch der Zeichenbenutzer eine Rolle. Dementsprechend lässt sich das Beziehungsgeflecht des Zeichens wie folgt systematisieren: • Beziehung Zeichen - Zeichen: syntaktisch • Beziehung Zeichen - Inhalt: semantisch • Beziehung Zeichen - Benutzer: pragmatisch Diese Systematik spiegelt sich in den sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen und Beschreibungsebenen wider. Eng verbunden mit den vorgestellten Zeichenmodellen sind die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Konzepte von Kommunikationsmodellen, die ohne eine mehr oder weniger konkrete Vorstellung von Wesen und Funktion des (sprachli- <?page no="32"?> Das sprachliche Zeichen 26 chen) Zeichens nicht denkbar wären. Hier seien noch kurz einige Modelle vorgestellt. Der antike griechische Philosoph P LATON (427-347 v. Chr.) nannte die Sprache ein Organon (Werkzeug), das es einer Person ermögliche, einer anderen Person etwas über eine Sache (im weitesten Sinne) mitzuteilen. Auf dieser Grundlage konstruierte K ARL B ÜHLER 1934 [Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart, New York; 2. Aufl. Jena 1965, Neudruck Stuttgart 1992] sein dreigliedriges Organon-Modell der Sprache, demzufolge das sprachliche Zeichen drei Funktionen erfüllt: Es dient mit seiner informationsorientierten Darstellungsfunktion zum Einen als Symbol für Gegenstände und Sachverhalte. Zum Anderen sagt das Zeichen als Symptom für den Sprecher durch seine Ausdrucksfunktion auch etwas über den Sender selbst aus. Als Signal schließlich richtet sich das Zeichen mit seiner Appellfunktion an den Empfänger, den es zu einer bestimmten verbalen oder nonverbalen Reaktion veranlassen will. In graphischer Darstellung sieht das Modell dann so aus: Abbildung 7: Das Organon-Modell nach B ÜHLER Aufbauend auf diesem dreiseitigen Ansatz formuliert J AKOBSON in seinem Aufsatz Linguistics and Poetics (1960) ein Modell, demzufolge an jeder sprachlichen Mitteilung sechs Faktoren und (in Klammern angegebene) Funktionen beteiligt sind. Die dargestellten Elemente sind die folgenden: • der Kontext bildet die Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation eine referentielle Funktion besitzt, indem sie Inhalte vermittelt; • die Botschaft (oder Nachricht) mit ihrer poetischen Funktion; • der Sender, dessen Haltung zur Botschaft oder Nachricht die emotive Funktion ausdrückt; • der Empfänger, der durch die einen Stimulus auslösende, konative Funktion (von lat. c on atus ‚Versuch’) der Botschaft zu einer Reaktion veranlasst werden soll oder kann; • der Kontakt, der durch die phatische Funktion der Botschaft hergestellt und aufrechterhalten wird; Z Gegenstände und Sachverhalte Sender Empfänger Appell Ausdruck Darstellung <?page no="33"?> Das sprachliche Zeichen 27 • der Code als gemeinsame Verständigungsgrundlage mit einer metalingualen Funktion der Botschaft. Kontext (referentielle Funktion) Sender (emotive/ expressive Funktion) Botschaft (poetische Funktion) Empfänger (konative Funktion) Kontakt (phatische Funktion) Code (metasprachliche Funktion) Abbildung 8: Kommunikationsmodell nach J AKOBSON <?page no="34"?> 7 Laut und Schrift „ Слова - это буквы , которым наскучило стоять по алфавиту .“ И ОСИФ А . Б РОДСКИЙ (1940-1996) „Die Schrift ist ein toter Buchstabe, den nur die Einbildungskraft und der Verstand des Lesens beleben kann.“ C HRISTIAN G ARVE (1742-1798) Das Wort Schrift ( письмо , von lat. scriptum < scribere ‚schreiben’) begegnet uns im Alltag in allen zu einer Schriftkultur zählenden Sprachen (und dazu gehören ja die slavischen, germanischen, romanischen etc. Sprachen) in zahlreichen Formen und unterschiedlichen Bedeutungen; es ist also mehrdeutig oder polysem. Aufgaben: 1. Informieren Sie sich über die verschiedenen Lesarten von Schrift. Beachten Sie hierbei auch fachsprachliche Bedeutungen. Gibt es Unterschiede zwischen der russischen und der deutschen Sprache? 2. Schlagen Sie in russischen und deutschen (einsprachigen) Wörterbüchern nach und informieren Sie sich über Wortverbindungen sowie Komposita mit dem Element письмо / Schrift und seinen Ableitungen. 7.1 Die Entwicklung der Schrift - in aller Kürze Die uns heute bekannten Schriften sind ein sekundäres Kommunikationsmittel. Primär diente während vieler Jahrtausende die gesprochene Sprache zur Mitteilung von Kommunikationsinhalten wie zur Tradierung von Wissen zwischen den Generationen. Diese erforderte einerseits einen erhöhten Aufwand zur Memorisierung von Gedankeninhalten und war andererseits relativ fehleranfällig, d.h. das Mit zu teilende konnte durch Auslassungen, Hinzufügungen oder sonstige Verfälschungen leicht sinnentstellt werden. Die Wahrung des kulturellen Erbes war nur durch eine fixierte und fixierbare Form der Inhaltsvermittlung sicherzustellen. Die Erfindung der Schrift kann daher mit Fug und Recht als eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit überhaupt bezeichnet werden. Die Hochkulturen der menschlichen Zivilisation (Sumer [Mesopotamien], Ägypten, Indus-Kultur, China, (Mittel-) Amerika) sind immer im Zusammenhang mit der Schriftkultur zu sehen. Nach archäologischen Funden wird Sumer traditionell als älteste Schriftkultur (4. Jt. v.Chr.; Keilschrift) angesehen, wobei nicht klar ist, ob es sich bei den Schriftfunden tatsächlich um die sumerische Sprache handelt. Auch die deutlich ältere balkanische Vin č a-Kultur (5. Jt. v.Chr., benannt nach dem Hauptfundort Vin č a, einem Dorf an der Donau, östlich von Belgrad) weist Symbolzeichen auf, deren Schriftcharakter in der Forschung jedoch umstritten ist. Einige Wissen- <?page no="35"?> Die Entwicklung der Schrift - in aller Kürze 29 schaftler sehen diese Zeichen bereits als die älteste Schrift der Menschheit an. 9 Die deutlich jüngeren altägyptischen Hieroglyphen (ca. 3200 v.Chr.-300 n.Chr.; variierende Datierungen; Hieratisch und Demotisch) sind eine Bilderschrift, die sich aus Lautzeichen (Phonogrammen), Bildzeichen (Ideogrammen / Piktogrammen) und Deutzeichen (Determinativen, die zur Unterscheidung von Phonogrammen und Piktogrammen dienen) zusammensetzt. Abbildung 9: Zeichen der persischen Keilschrift Auch das logographische Chinesisch (älteste Funde datiert auf ca. 1500 v.Chr.) hat sich aus einer Bilderschrift entwickelt. Jünger als die Vin č a-Schrift und die Keilschrift sind ferner die Silbenschriften Linear A und Linear B (14.-12. Jh. v.Chr. auf Kreta), das Phönizische (11. Jh. v.Chr. bis Spätantike; aus der Alphabetschrift des Phönizischen entwickelten sich etliche unserer heutigen Alphabete), das Aramäische (ab 10./ 9. Jh. v.Chr.), das eng hiermit verwandte Hebräische (ab ca. 10. Jh. v.Chr.) sowie das Arabische (Literatursprache seit 5./ 6. Jh. n.Chr.). Einen weiteren Schriftenkomplex bilden die indischen Schriften. Auch in Mittelamerika scheinen die Maya unabhängig von anderen Kulturen eine eigene vollgültige Schrift erfunden zu haben. Die Leserichtung der genannten wie auch anderer Schriften kann unterschiedlich sein: Manche werden von links nach rechts gelesen, andere von rechts nach links, und wieder andere werden abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links gelesen (Bustrophedon). Betrachtet man die Verteilung der verschiedenen Schriftsysteme auf dem Globus, so fällt eine große Übereinstimmung von Religion und Schrift auf. Etwas vereinfacht lässt sich feststellen, dass sich christliche katholische wie evangelische Kulturen der Lateinschrift bedienen, christlich Orthodoxe des Kyrillischen und Griechischen, islamisch geprägte Kulturen der arabischen Schrift, und mit dem Buddhismus gelangte die indische Schrift nach Südostasien, während chinesische Mönche des Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus die chinesische Schrift nach Korea und Japan exportierten. Der Schrift im engeren Sinne ging die Fixierung von Zeichen in dauerhaften Materialien wie Fels voraus, deren Zweck (Religion, Magie, Wissenschaft? ) von der Forschung noch nicht restlos geklärt ist. Berühmtheit erlangten beispielsweise die aus abstrakten Zeichen wie auch aus bildlichen Darstellungen bestehenden Höhlenmalereien von Lascaux (Frankreich) und Altamira (Spanien), die wohl zwischen 20.000 und 15.000 v.Chr. entstanden. Von einer Schrift spricht man hier allerdings noch nicht; hierfür wäre ein mehr oder weniger fest definiertes System von Zeichen zum Ausdruck von Bedeutungsinhalten nötig gewesen. 9 Die Datierungen der Vin č a-Kultur sind nicht einheitlich, und viele Forscher deuten die in Tongegenständen eingeritzten Zeichen als Töpfer- oder Besitzermarken, nicht jedoch als Schriftzeichen, da ihnen der Bezug zur Sprache fehle. <?page no="36"?> Laut und Schrift 30 Abbildung 10: Frontispiz von C. F AULMANN s Illustrierter Geschichte der Schrift (Wien 1880) Der Buchdruck moderner Form bzw. seine Vorgänger scheinen ebenfalls unabhängig voneinander mehrmals auf der Welt erfunden worden zu sein, so schon in der Antike und recht früh in Asien. Für den gesamteuropäischen Kulturraum - und später in weltweitem Maßstab - ist die Leistung Johannes Gutenbergs entscheidend, der Mitte des 15. Jhs. eine Druckerpresse mit beweglichen, d.h. wiederverwendbaren Lettern entwickelte, welche es gestattete, schnell und kostengünstig auch vergleichsweise große Mengen an Büchern herzustellen, während diese zuvor in mühevoller Handarbeit abgeschrieben werden mussten. Die Kunst des Buchdrucks stellt in der Kulturgeschichte der Menschheit einen bedeutenden, kaum zu überschätzenden Meilenstein dar. 10 Das älteste bisher bekannte gedruckte Buch der Welt, die sogenannte Diamantensutra, soll übrigens 868 n.Chr. in einer Druckerei der Mogao-Höhlen in Gansu (China) hergestellt worden sein. 11 Nach relativ allgemeinen Merkmalen lassen sich die Schriften der Welt in verschiedene Kategorien einordnen. Die gröbste Unterteilung differenziert nach logographischen/ ideographischen Schriften, Silbenschriften und Alphabetschriften. Während die erste Gruppe im Wesentlichen bedeutungsorientiert ist (jedes Schriftzeichen steht für eine bestimmte Bedeutung, einen bestimmten Inhalt), sind die beiden letzten Gruppen überwiegend phonologisch (jedes Schriftzeichen steht für einen bestimmten Laut oder eine bestimmte Lautgruppe). Viele uns heute umgebende Zeichensysteme sind logographisch/ ideographisch: Piktogramme, Verkehrszeichen, die arabischen Ziffern usw. usf. (vgl. Kap. 6). Alphabetschriften umfassen wiederum die folgenden Schrifttypen: • Konsonantenschriften oder Abjad-Alphabete, bei denen lediglich die Konsonanten geschrieben und die Vokale „hinzugedacht“ und mit ausgesprochen werden, • Schriften, in denen die Vokale als obligatorische Begleiter der Konsonanten fungieren und an diese gebunden sind (siehe indische Schriften, Abugida-Schriften), • Alphabetschriften im engeren Sinne, bei denen Konsonanten und Vokale gleichberechtigt sind, da sie jeweils verschiedenen Laute repräsentieren. 10 Weitere solche Meilensteine sind die „Erfindung“ der Sprache und die Oralität, die Erfindung der alphabetischen Schrift(en) (die zumindest teilweise tatsächlich wie von einem Architekten geplant wurde(n)) und die Literalität (Schriftkultur), die Erfindung des Computers sowie die Digitalisierung. 11 Angabe nach H AEF , H ANSWILHELM : Das ultimative Handbuch des nutzlosen Wissens. München 1998. <?page no="37"?> Laut und Schriftzeichen 31 Aufgaben: 1. Informieren Sie sich (z.B. bei H AARMANN 1990, D ANIELS / B RIGHT 1995 oder C OULMAS 1996) über die Verbreitungsgebiete der einzelnen Schriftsysteme auf der Welt, insbesondere der kyrillischen und der lateinischen Schrift. Was fällt im ost- und südosteuropäischen Raum auf? 2. Schlagen Sie nach (z.B. bei H AARMANN 1990, D ANIELS / B RIGHT 1995 oder C OULMAS 1996), welche Schriften auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in Gebrauch waren. Wie hat sich die Situation nach dem Zerfall der Sowjetunion verändert? 3. Zu welchem Schrifttypus zählen Kyrillica und Latinica? Literatur: B REKLE , H ERBERT E.: Vom Rinderkopf zum Abc. In: Spektrum der Wissenschaft. Heft 4/ 2005: Die Evolution der Sprache. S. 44-51. C OULMAS , F LORIAN : The Blackwell Encyclopedia of Writing Systems. New York 1996. C OULMAS , F LORIAN : Writing Systems. An Introduction to Their Linguistic Analysis. Cambridge 2003. D ANIELS , P ETER T.; B RIGHT , W ILLIAM : The World’s Writing Systems. Oxford 1995. D OBLHOFER , E RNST : Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Stuttgart 1993. E KSCHMITT , W ERNER : Das Gedächtnis der Völker. Hieroglyphen, Schriften und Schriftfunde. München 1980. F AULMANN , C ARL : Schriftzeichen und Alphabete aller Zeiten und Völker, 2. Aufl. Wien 1880. Freiburg 2003. F ÖLDES -P APP , K AROLY : Vom Felsbild zum Alphabet - die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift. Stuttgart 1966. F RUTIGER , A DRIAN : Der Mensch und seine Zeichen. Wiesbaden 2006. H AARMANN , H ARALD : Geschichte der Schrift. München 2002. H AARMANN , H ARALD : Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/ Main-New York 1990. R OBINSON , A NDREW : Die Geschichte der Schrift. Düsseldorf 2004. 7.2 Laut und Schriftzeichen Wie bereits erwähnt, ist die Lautung der menschlichen Sprache primär, ihre Verschriftlichung als Fixierung in einem anderen Medium sekundär. In Sprachgemeinschaften mit einer eigenen Schriftkultur haben beide Äußerungsformen ihre Berechtigung; sie sind in gewisser Weise dialektisch und beeinflussen sich wechselseitig. Die Schrift unterliegt eher einer Kodifizierung als die Lautung (für die es allerdings auch Regeln gibt, die von der Orthoepie dargelegt werden). In mnemotechnischer Hinsicht wäre eine 1: 1-Entsprechung von Laut und Buchstabe, genauer: von Phonem und Graphem, ideal. Die Phonemschriften des Altgriechischen und des Lateinischen kommen diesem Idealzustand recht nahe, man vergleiche aber mit unseren modernen Sprachen: Russisch, Polnisch, Deutsch, Englisch, Französisch usw., und man wird immer wieder feststellen müssen, dass mehrere Phoneme einem Graphem entsprechen können oder umgekehrt. Trotzdem haben es die LernerInnen von Phonemschriften im Vergleich beispielweise mit einem Chinesischstudierenden sehr leicht, weil sie nur einen sehr überschaubaren Zeichenbestand erlernen müssen (30 als grober Richtwert), während die Studierenden des logographischen Chinesisch einige tausend unterschiedliche Zeichen lernen müssen, die zwar auch miteinander kombiniert werden können, aber doch für sich genommen jeweils andere Inhalte ausdrücken. <?page no="38"?> Laut und Schrift 32 Betrachten wir die russische Sprache mit ihren 33 Buchstaben (inklusive ë), so ist es offensichtlich, dass diesen 33 verschiedenen Buchstaben nicht genau 33 verschiedene Laute entsprechen. Vielmehr werden beispielsweise die an sich stimmhaften Konsonanten wie б , д , ж usw. in einer bestimmten lautlichen Umgebung bzw. an einer bestimmten Position im Wort stimmlos ausgesprochen, während die stimmlosen Konsonanten к , п , с , т usw. nach den geltenden Lautgesetzen in gewissen Fällen stimmhaft realisiert werden müssen. Auch einige der Vokale werden nicht immer so ausgesprochen, wie sie geschrieben werden (hierzu mehr in den Kapiteln zur Phonetik und Phonologie). Zu beachten ist ferner, dass die slavischen Sprachen nicht nur in ihrem lexikalischen Bestand mehr oder weniger große Ähnlichkeiten aufweisen, sondern auch hinsichtlich des Graphem- und Lautinventars. Trotzdem hat sich jede slavische Sprache so viele lautliche Besonderheiten bewahrt, dass es teilweise gerade für slavische Muttersprachler besonders schwierig ist, eine andere Slavine zu erlernen. Ein typisches Beispiel sind die Akzentverhältnisse, die beispielsweise im Russischen und im Polnischen stark differieren, was insbesondere den polnischen Studierenden in der mündlichen Kommunikation erhebliche Probleme bereiten kann. <?page no="39"?> 8 Linguistische Notationssysteme Dieses kurze Kapitel gibt Ihnen einige praktische Hinweise zur Notation in wissenschaftlichen Arbeiten, die Sie aktiv wie passiv beherrschen müssen. 8.1 Notation nach der sprachlichen Beschreibungsebene Jede Ebene der Sprache und damit jeder spezifische Typ von sprachlichem Zeichen wird in wissenschaftlichen Texten auf eine unverwechselbare Art und Weise notiert. Klar voneinander zu trennen sind folgende Ebenen: zu bezeichnendes Element wird notiert • Phon (reiner Laut) in eckigen Klammern [ ] (phonetische Umschrift gemäß der API / IPA 12 ) • Phonem (Laut mit seinen bedeutungsunterscheidenden Merkmalen) in Schrägstrichen / / (phonologische Umschrift) • Graphem (Buchstabe) in spitzen Klammern < > (reine Buchstabenfolge) • Morphem (kleinste bedeutungstragende Einheit des Wortes) in geschweiften Klammern { } (morphematische Umschrift) • Wortbeispiel in Kursivschrift oder unterstrichen (gemeint sind das Wort (signifiant) und seine Bedeutung (signifié)) • Bedeutung/ Übersetzung eines Beispiels in ‚einfachen Anführungsstrichen’ (gemeint ist nur die Bedeutung (signifié)) • nur benanntes Wirkliches in Normalschrift, recte („chose réelle“ bei S AUSSURE ) • falsche oder erschlossene Form mit vorangestelltem * (Asterisk) Man beachte besonders die in der Phonetik / Phonologie zahlreich anzutreffenden Sonderzeichen! Grundsätzlich sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen zu trennen: • graphische Notation, • phonetische Umschrift (Lautschrift), • phonologische Umschrift. Hiervon wiederum abzusetzen sind die Transliteration und die Transkription. 12 Association Phonétique Internationale bzw. International Phonetic Association. <?page no="40"?> Linguistische Notationssysteme 34 Näheres zur Unterscheidung von phonetischer und phonologischer Umschrift folgt in den entsprechenden Kapiteln zur Phonetik und Phonologie. 8.2 Die wissenschaftliche Transliteration Zum unabdingbaren Handwerkszeug des Slavisten/ der Slavistin und im engeren Sinne des Russisten/ der Russistin gehört neben den oben dargestellten Notationssystemen auch der korrekte Umgang mit der sogenannten wissenschaftlichen Transliteration ( транслитерация ), die nicht mit anderen Systemen wie beispielsweise der sogenannten Duden-Transkription verwechselt werden darf. Bei der Transliteration gilt das Prinzip einer möglichst weitgehenden 1: 1-Entsprechung von kyrillischen und lateinischen Buchstaben, das aber, wie Sie sehen, nicht ganz durchgehalten werden kann. Demgegenüber soll es die Transkription ( транскрипция ) auch dem der fremden Sprache und ihrem Alphabet Unkundigen ermöglichen, einen Namen oder eine Sachbezeichnung möglichst originalgetreu auszusprechen, wobei ausschließlich einheimische Buchstaben und Buchstabenfolgen Gebrauch finden. In wissenschaftlichen Arbeiten darf ausschließlich die Transliteration verwendet werden. Die folgende Tabelle muss daher für ein Slavistikbzw. Russistikstudium unbedingt beherrscht werden. russ. а б в г д е ё ж з и й к л м н о п р с т у ф х ц ч ш щ ъ ы ь э ю я dt. a b v g d e e ž z i j k l m n o p r s t u f ch c è š šè "/ y ' ė ju ja Leider ist diese Transliteration nicht international gültig, sondern länderspezifisch. Der oben abgedruckten Tabelle für den deutschen Sprachraum soll daher zu Kontrastzwecken - und in der berechtigten Annahme, dass neben russischer und deutscher vor allem englisch- und französischsprachige Literatur im Rahmen des Slavistik-/ Russistikstudiums herangezogen wird - auch die englische und französische Transliteration gegenübergestellt werden. russ. а б в г д е ё ж з и й к л м н о п р с т у ф х ц ч ш щ ъ ы ь э ю я engl. a b v g d e e zh z i i k l m n o p r s t u f kh ts tch sh shch n ui ' e yu ya frz. a b v g d e e j z i ї k l m n o p r s t ou f kh ts tch ch chtch n y n e iou ia Anmerkungen zu obiger Tabelle: n bedeutet, dass das kyrillische Zeichen in der transliterierenden Sprache nicht bezeichnet wird. Im amerikanischen Englisch wird ы mit y transliteriert, ъ mit ″ . Die Übernahme von й durch frz. ї ist nicht einheitlich; man findet auch i. Zum Vergleich folgt nun die Wiedergabe einiger russischer Schriftstellernamen im Deutschen, Englischen und Französischen: <?page no="41"?> Die wissenschaftliche Transliteration 35 russ. Пушкин Горький Тургенев Чехов Цветаева Солженицын dt. Puškin Gor’kij Turgenev Č echov Cvetaeva Solženicyn engl. Pushkin Gorky* Turgenev Chekhov Tsvetaeva Solzhenitsyn frz. Pouchkine Gorki* Tourguéniev Tchekhov Tsvetaieva Soljenitsine * Man beachte die bei (den Endungen von) Eigennamen häufigen Abweichungen zur üblichen Transliteration. Aufgaben: 1. Transliterieren Sie aus dem Russischen ins Deutsche: Михаил Александрович Шоло хов , Гавриил Романович Державин , Владимир Иванович Даль , Иван A л e ксандрович Гончаров , Евгений Александрович Евтушенко , Вильгельм Карлович Кюхельбекер . 2. Transliterieren Sie aus dem Englischen ins Russische: Aleksey Konstantinovich Tolstoy, Fyodor Tyutchev, Mikhail Yevgrafovich Saltykov-Shchedrin, Valery Bryusov, Mikhail Sholokhov, Vasily Aksyonov, Korney Ivanovich Chukovsky. 3. Transliterieren Sie aus dem Französischen ins Russische: Vélimir Khlebnikov, Vladimir Vladimirovitch Maïakovski, Konstantin Batyouchkov, Evguéni Baratynski, Sergueï Essénine, Lïoudmila Oulitskaïa, Youri Rytkhéou. Ein praktischer Hinweis: Mittlerweile bieten etliche Dienste im Internet eine automatisierte und kostenlose Umsetzung Latinica Kyrillica an, die unter Umständen die Nutzung von Spezialsoftware entbehrlich macht. Diese Dienste orientieren sich jedoch nicht zwangsläufig an der wissenschaftlichen Transliteration; es ist also etwas Vorsicht sowohl bei der Eingabe als auch bei den ausgegebenen Resultaten geboten. Eine sehr empfehlenswerte Seite mit zahlreichen Zusatzangeboten ist www. translit.ru . <?page no="42"?> 9 Kyrillica, Latinica und anderes - slavische Schriftsysteme Für den Bereich der Slavia ist keineswegs nur das graphische System der kyrillischen Schrift (Kyrillica) charakteristisch. 13 Vielmehr gibt es etliche Länder, die das lateinische Alphabet (Latinica) verwenden. Hinzu kommt, dass eine einmal getroffene Entscheidung zugunsten der kyrillischen oder der lateinischen Schrift keineswegs unwiderruflich war und es im Laufe der Sprachgeschichte durchaus zu einem oder sogar mehreren, bewusst herbeigeführten und meist politisch motivierten Wechseln des Alphabets kommen konnte. 14 Auch kann man nicht von dem lateinischen oder dem kyrillischen Alphabet sprechen. Wohl gibt es einen gewissen Grundstock an verfügbaren Zeichen, dieser kann jedoch in Abhängigkeit von den lautlichen Gegebenheiten einer individuellen Sprache variieren bzw. ergänzt werden. So ist beispielsweise das russische graphische System nicht identisch mit dem tatarischen, obwohl auch die Tataren (inzwischen) die Kyrillica verwenden. Die Unterschiede zwischen dem russischen und dem tatarischen Alphabet (hier in eckigen Klammern mit den Lautwerten für die vom Russischen abweichenden Buchstaben) sind offensichtlich: Аа Əə [ æ ] Бб Вв Гг Дд Ее Жж Җҗ [d ¿É ] Зз Ии Йй Кк Лл Мм Нн Ңң [ Ž ] Оо Өө [ n ] Пп Рр Сс Тт Уу Үү [ù] Фф Хх Һһ [h] ( Цц ) Чч Шш ( Щщ ) Ъъ Ыы Ьь Ээ Юю Яя Ёё Abbildung 11: Tatarisches kyrillisches Alphabet Zu Beginn unseres 3. Jahrtausends zeigte die Diskussion in den Medien, dass die Verbindung des Tatarischen mit der Kyrillica keineswegs unumstritten war und ist. So fühlte sich einmal mehr die hohe Politik berufen, diese Frage administrativ-juristisch zu entscheiden. Die Verteilung der lateinischen und der kyrillischen Schrift auf die „großen“ slavischen Sprachen (die sog. makroslavischen Systeme) sieht aktuell und vereinfacht wie folgt aus: Latinica Kyrillica • Polnisch • Russisch • Tschechisch • Weißrussisch 13 Das von M ILOŠ O KUKA herausgegebene und von profunden Kennern verfasste, äußerst umfangreiche Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 10, Klagenfurt 2002) gibt einen erschöpfenden Überblick über die Sprachen Osteuropas (auch die nicht-slavischen) und beschreibt insgesamt 110 lebende und ausgestorbene Idiome. 14 Vgl. z.B. das Moldawische, das mehrmals das Schriftsystem wechselte (H AARMANN , H ARALD : Originalschriften und Schriftimporte in [sic] des östlichen Europa. In: O KUKA 2002: 971-978). <?page no="43"?> Kyrillica, Latinica und anderes - slavische Schriftsysteme 37 • Slowakisch • Ukrainisch • Obersorbisch und Niedersorbisch • Bulgarisch • Kroatisch • Serbisch (neben Latinica) • Bosnisch (überwiegend) • Mazedonisch • Slowenisch Während also das Bild in der Westslavia mit der Latinica und in der Ostslavia mit der Kyrillica relativ einheitlich ist, weist die Südslavia traditionell ein sehr gemischtes Bild auf. Zu diesen slavischen Makrosprachen kommen die so genannten Mikrosprachen (mikroslavische Systeme), wie Burgenlandkroatisch (Latinica), Rus(s)inisch oder Ruthenisch 15 (Kyrillica), Vi č sch (Latinica), Halschanisch (Latinica) u.a., die z.T. nur noch sehr wenige Sprecher besitzen und deshalb in ihrer Existenz gefährdet sind, z.T. aber auch noch eine beachtliche kulturelle Vitalität aufweisen. Der Status des in der obigen Liste ebenfalls nicht aufgeführten Kaschubischen (Latinica) ist umstritten: Handelt es sich um eine eigene Sprache oder um einen Dialekt des Polnischen? Die Angaben über die in den slavischen Sprachen vorhandenen Grapheme schwanken je nach Autor und in Abhängigkeit davon, ob man auch die bereits ausgestorbenen Sprachen in die Zählung mit einbezieht. Nach B. T OŠOVI Ć ( http: / / www-gewi. kfunigraz.ac.at/ gralis/ ) umfasst das slavische graphische System insgesamt eine relative Menge von 436 Buchstaben (490, wenn man das Altkirchenslavische mitrechnet). Relativ bedeutet, dass in einigen slavischen Sprachen die gleichen Buchstaben sowohl aus der Latinica als auch aus der Kyrillica vorhanden sind. Rechnet man diese homoformen Grapheme nur je einmal, so ergibt sich eine absolute Anzahl von 108 Buchstaben, davon sind 63 Latineme (lateinische Grapheme) und 45 Kyrilleme (kyrillische Grapheme). Das slavische kyrillische System besitzt 244 relative Grapheme, von denen 190 noch in Gebrauch und 54 (die altkirchenslavischen Buchstaben) ausgestorben sind. Die zahlenmäßige Verteilung sieht im Überblick wie folgt aus (Zahlen nach T OŠOVI Ć ): 15 Die Bezeichnung Ruthenisch in dieser Verwendung ist nicht zu verwechseln mit der ostslavischen Schriftsprache gleichen Namens, die zunächst im Großfürstentum Litauen und ab dem 16. Jh. in den ostslavischen Gebieten der polnisch-litauischen Adelsrepublik Verwendung fand. Das historische Ruthenisch gilt als der Vorläufer des heutigen Ukrainischen, Weißrussischen und Rus(s)inischen. Siehe ferner S TEGHERR , M ARC : Rusinisch. In: O KUKA 2002: 399-408. <?page no="44"?> Kyrillica, Latinica und anderes - slavische Schriftsysteme 38 Literatur: H AARMANN , H ARALD : Originalschriften und Schriftimporte in [sic] des östlichen Europa. In: O KUKA 2002. S. 971-978. O KUKA , M ILOŠ (Hrsg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 10). Klagenfurt 2002. Sprache Anzahl der Buchstaben Slowenisch 25 Bulgarisch 30 Serbisch [/ Bosnisch / Kroatisch] (kyrillisch) 30 Serbisch / Bosnisch / Kroatisch (lateinisch) 30 Makedonisch 31 Ukrainisch 32 Polnisch 33 (43) Russisch 33 Weißrussisch 33 Obersorbisch 35 Niedersorbisch 36 Tschechisch 42 Altkirchenslavisch 43 (52) Slowakisch 46 zum Vergleich: Deutsch 30 (inkl. Umlaute) <?page no="45"?> 10 Kleine Sprachtypologie Auf der Erde finden wir eine für den Laien nicht zu überschauende Sprachenvielfalt. Die Zahl der heute noch existierenden, d.h. lebenden Sprachen variiert je nach Studie erheblich. 6000 scheint ein recht realistischer Mittelwert zu sein, wobei diese in mehr als 180 Sprachfamilien eingeteilt werden können. In die 13 größten Sprachfamilien fallen fast 99% der muttersprachlichen Sprecher der Menschheit (nach E. K LAUSEN 2005) 16 . Nicht von der Zahl 6000 17 erfasst sind die ausgestorbenen oder toten Sprachen, also Sprachen, deren letzte noch lebende Sprecher (Muttersprachler) in der jüngeren oder ferneren Vergangenheit gestorben sind und ihre Sprache mit ins Grab genommen haben. 18 Weitsichtigen Forschern ist es in etlichen Fällen gelungen, die vom Aussterben bedrohten Sprachen 19 quasi im letzten Augenblick zu dokumentieren und so als Kulturzeugnisse für die Nachwelt zu erhalten. Die Frage, wie es auf der Erde zu einer solchen Vielzahl von Sprachen kommen konnte, lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln zu beantworten versuchen. Immer wieder begegnet in diesem Zusammenhang die mythische Bibelgeschichte (Genesis 11, 1-9) des Turmbaus zu Babel ( вавилонское столпотворение ). Gott bestrafte die Hybris der Menschen, die ihm mit ihrem gigantischen Turm nahe kommen wollten, indem er die ursprüngliche Sprachgemeinschaft zerstörte und sie fortan in vielen verschiedenen Sprachen sprechen ließ, so dass sie sich nicht mehr verstehen konnten (dies war die Geburtsstunde des Übersetzer- und Dolmetscherberufs...). Bekannt wurde dieser unerfreuliche Zwischenfall unter dem Namen „Babylonische Sprachverwirrung“. Der Name Babel, der wohl als Anspielung auf die Stadt Babylon zu sehen ist, bedeutet soviel wie „Geplapper“ oder „Gebrabbel“. Unten sehen Sie die vielleicht bekannteste Darstellung dieses Ereignisses auf einem 16 Diese Sprachfamilien sind (die hinsichtlich der Sprecherzahlen größten zuerst): Indogermanisch (Indoeuropäisch), Sino-Tibetisch, Niger-Kongo, Afroasiatisch, Austronesisch, Drawidisch, Turkisch (nicht Türkisch! ), Japanisch, Austroasiatisch, Tai-Kadai, Koreanisch, Nilo-Saharanisch, Uralisch. 17 H AARMANN (2001: 40) nennt die konkrete Zahl von 6417 Sprachen. Es finden sich jedoch auch Angaben von bis zu 7000, in neueren Forschungen sogar bis zu 15000 Sprachen. Unabhängig von der tatsächlichen Größenordnung muss man feststellen, dass die Zahl rapide abnimmt. 18 Nicht zu verwechseln mit dem - natürlichen - Sprachtod ist der sog. Linguizid (Sprachmord), der die geplante und systematische Vernichtung einer Sprache oder zumindest die bewusste Inkaufnahme ihrer Vernichtung bezeichnet. Hierzu zählt nicht nur die Ausrottung der Sprecher selbst, sondern alle Maßnahmen, die geeignet sind, die Sprache eines (meist militärisch, aber auch ökonomisch) unterlegenen Volkes mittel- und langfristig aus dem Bewusstsein ihrer Sprecher zu tilgen und so möglichst endgültig auszumerzen. 19 Von einer bedrohten Sprache spricht man dann, wenn aufgrund der sehr geringen Zahl und/ oder der Altersstruktur muttersprachlicher Sprecher sowie der gesellschaftspolitischen Umstände, die beispielsweise die Praktizierung der Sprache behindern oder ausschließen können, für die nähere Zukunft davon auszugehen ist, dass diese Sprache außer Gebrauch kommt. Die Schätzungen bezüglich der Anzahl der noch im 21. Jahrhundert vom Aussterben bedrohten Sprachen sind extrem heterogen und reichen von 30% bis 90% der heute existierenden Idiome. Im Internet finden Sie die Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. unter http: / / www.uni-koeln.de/ gbs/ . <?page no="46"?> Kleine Sprachtypologie 40 Gemälde aus dem 16. Jh. von Pieter Brueghel d.Ä. In diesem Zusammenhang spielen Fragen eine Rolle, wie: „Woher stammt der Mensch überhaupt geographisch? “, „Und woher stammt er biologisch? “, „Gehen unsere Sprachen wissenschaftlich beweisbar tatsächlich auf eine gemeinsame Ursprache oder Protosprache zurück (Monoglottogenese), oder hat sich die Sprache (bzw. haben sich die Sprachen unabhängig voneinander) an verschiedenen Stellen der Erde und eventuell in verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte gebildet? “ 20 Wissenschaftlich (archäologisch, ethnologisch, linguistisch etc.) wird man jeweils andere Antworten finden. Natürlich fühlen sich auch die Theologen und die Philosophen aufgerufen, ihre Sichtweise kund zu tun, so dass sich insgesamt ein äußerst heterogenes Meinungsspektrum hinsichtlich der Entstehung Abbildung 12: Der Turmbau zu Babel der menschlichen Sprache (Glottogenese) ergibt. Versuche, die existierenden wie die mittlerweile ausgestorbenen Sprachen zu zählen und in einer Sprachtypologie zu erfassen, wurden bereits vor einigen Jahrhunderten unternommen und erhielten durch die Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert neuen Auftrieb. Charakteristisch für diese sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung war, dass sie den Blick in die Vergangenheit, auf die Genese und Entwicklung der untersuchten Sprachen richtete. Insofern verdankt ihr die moderne Linguistik entscheidende Erkenntnisse, wenngleich einige der Forschungsresultate mittlerweile revidiert oder relativiert werden mussten. Die Sprachen der Welt lassen sich nach übereinzelsprachlichen Kriterien in große Gruppen von Sprachtypen einteilen, wobei die Sprachen einer Gruppe nicht zwangsläufig genetisch miteinander verwandt sein müssen. Auch sind die meisten Sprachen nicht zur Gänze in die eine oder die andere Kategorie einzuordnen, sondern weisen oft Charakteristika aus verschiedenen Gruppen auf, so dass man anstelle einer Verabsolutierung eher von sprachstrukturellen Tendenzen sprechen sollte. Ein großer Teil der sprachtypologischen Terminologie stammt von W ILHELM VON H UMBOLDT und A UGUST W ILHELM S CHLEGEL (1767-1845). 21 Als Sprachtyp ( тип языка ) bezeichnet man eine mit den Verfahren der Sprachtypologie aufgrund eines von genetischen Fragestellungen unabhängigen Sprachver- 20 Ein bedeutender Vertreter der Theorie von der Monoglottogenese im Rahmen der Paläolinguistik ist der deutsche Linguist R ICHARD F ESTER (*1910). 21 Die folgenden Definitionen orientieren sich, bei einigen Ergänzungen und Auslassungen, am Metzler Lexikon Sprache. <?page no="47"?> Kleine Sprachtypologie 41 gleichs gewonnene Gruppe einzelner Sprachen (Klassifikation). Die geläufigen Bezeichnungen für Sprachtypen beziehen sich sämtlich auf den Umfang und die Ausgestaltung der morphologischen Systeme der subsumierten Sprache. Eine erste Grobeinteilung der einzelnen Sprachtypen kann in analytische und synthetische Sprachen vorgenommen werden. • Analytische Sprache ( аналитический язык ) Sprachtyp, der die Tendenz zeigt, grammatische Beziehungen außerhalb des Worts durch Partikeln und Wortstellungsregularitäten auszudrücken, vgl. lat. canis, russ. собаки , frz. du chien, engl. of the dog ‚des Hundes’ (Genitiv). Hier wird nicht auf die Verfahren der Agglutination (siehe unten agglutinierende Sprache) oder Flexion zurückgegriffen (unter Flexion (Beugung) versteht man die Veränderung eines Wortes zum Ausdruck der grammatischen Beziehungen im Satzgefüge. Sie umfasst die Deklination der Nomina (Substantive, Adjektive, Pronomen und Zahlwörter), die Konjugation der Verben und die Komparation (Steigerung) der Adjektive und Adverbien). Der Unterschied analytisch vs. synthetisch erweist sich als graduell. Ein Höchstmaß an Analyzität weisen die isolierenden Sprachen auf. • Synthetische Sprache ( синтетический язык ) Bezeichnung für Sprachen, die syntaktische Verhältnisse im Satz mindestens zum Teil durch Affigierung (d.h. durch das Anfügen von Präfixen, Suffixen oder anderen Affixen an den Wortstamm) ausdrücken. Zu diesem Klassifikationstyp gehören flektierende (fusionierende), agglutinierende und polysynthetische Sprachen; Gegensatz: analytische bzw. isolierende Sprachen. Die folgenden Sprachtypen sind Untergruppen des analytischen bzw. synthetischen Sprachmusters: • Flektierende Sprache ( флективный язык ) (auch: fusionierende Sprache) Synthetischer Sprachtyp, der durch die enge, oft zu einer Verschmelzung führende Verbindung zwischen Wortstamm 22 und Affix gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu Affixen in agglutinierenden Sprachen üben Flexionsaffixe häufig einen phonologischen Einfluss aufeinander und auf den Wortstamm aus. Darüber hinaus vertritt das Affix in einer flektierenden Sprache in der Regel mehr als eine grammatische Kategorie, z.B. lat. casam ‚die Hütte’ ({-m} drückt Akkusativ und Singular aus), Spanisch hablo ‚ich spreche’ ({-o} drückt 1. Pers. Sg. Präs. Ind. aus), hablé ‚ich sprach’ ({-e} drückt 1. Pers. Sg. Perf. Ind. aus). In flektierenden Sprachen werden grammatikalische Beziehungen zwischen den einzelnen Satzgliedern (v.a. zwischen Verben und Nominalausdrücken) überwiegend mittels der Rektion zum Ausdruck gebracht. Veränderungen des Wortstamms können durch Ablaut, Umlaut oder Konsonantenwechsel stattfinden. Insofern weist auch die deutsche Sprache flektierende Züge auf. 22 Der Wortstamm (andere Bezeichnungen: Stamm, Wurzel, Wurzelwort, Stammmorphem, Grundmorphem, lexikalisches Morphem) ist der nicht weiter zerlegbare lexikalische Kern eines Wortes und somit Träger der (wesentlichen) lexikalischen Bedeutung des Wortes. <?page no="48"?> Kleine Sprachtypologie 42 • Agglutinierende Sprache ( агглютинирующий язык ) Synthetischer Sprachtyp, der durch die Ankettung von Affixen an den Wortstamm v.a. des Verbs und/ oder des Nomens gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu fusionierenden (flektierenden) Sprachen sind agglutinierende Sprachen in der Regel leicht zu segmentieren, d.h. Wortstamm und Affix bzw. Affixe haben klar erkennbare Formen und Grenzen, und die Affixe tragen jeweils meist nur eine grammatische Bedeutung, z.B. Swahili ni-na-soma (ich-PRÄS.-lesen) ‚ich lese’, ni-li-soma (ich- PRÄT.lesen) ‚ich las’, a-na-soma (er-PRÄS.-lesen) ‚er liest’, a-li-soma (er- PRÄT.-lesen) ‚er las’. Zu den agglutinierenden Sprachen zählen u.a. Baskisch, Türkisch, die finno-ugrischen Sprachen und die Plansprache Esperanto. • Isolierende Sprache 23 ( изолирующий язык ) (auch: amorphe Sprache, Wurzelsprache) Sprache, in der die Wörter unveränderlich sind, d.h. keine Modifikation morphologischer Art durch Affixe, Flexion und dergleichen erfolgt. Grammatische Beziehungen werden durch selbständige Wörter mit grammatischer Bedeutung und durch Wortstellungsregularitäten ausgedrückt. Informationen wie „Plural“ oder „weiblich“ werden also nicht durch Affixe und/ oder Endungen vermittelt, sondern durch eigene, isolierte Elemente im Satz. Im Idealfall soll in einer isolierenden Sprache jedem einzelnen lexikalischen oder grammatischen Morphem jeweils ein Wort entsprechen. Als typische Beispiele für isolierende Sprachen gelten das klassische Chinesisch und das Vietnamesische, aber auch das Englische besitzt kaum noch Flexionsmerkmale (mit Ausnahme z.B. der Pronomen). Deshalb ist die Satzstellung im Englischen sehr rigide, im Deutschen und erst recht in den slavischen Sprachen dagegen relativ frei, weil hier die syntaktische Funktion eines Elementes im Satz nicht durch seine Position ausgedrückt wird, sondern durch seinen Formenbestand (Suffixe und Endungen). • Polysynthetische Sprache ( полисинтетический язык ) (auch: einverleibende Sprache, inkorporierende Sprache) Synthetischer Sprachtyp, der durch eine hohe Komplexität der Morphologie gekennzeichnet ist. Dies bezieht sich v.a., aber nicht ausschließlich auf die Fähigkeit vieler altamerikanischer Sprachen, Subjekt- und Objektverhältnisse im Verb ausdrücken zu können, so dass das Verb einem vollständigen Satz entsprechen kann, z.B. Aztekisch nimitzitta ‚ich sehe dich’, tinechitta ‚du siehst mich’. 23 Diese Bezeichnung ist nicht mit einer isolierten Sprache zu verwechseln (vgl. Kap. 3). <?page no="49"?> 11 Sprachwissenschaftliche Strömungen Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich in Ansätzen mit den wichtigsten linguistischen Forschungsrichtungen vor allem des 19. und des 20. Jh. 24 Die moderne Sprachwissenschaft ist keine Disziplin, die ex nihilo entstanden ist; sie geht vielmehr auf eine jahrhundertelange, ja: jahrtausendelange Geschichte der Beschäftigung mit der eigenen Sprache und fremden Sprachen zurück. Nachdem bereits im alten Indien (ca. 350 v.Chr.) die erste kodifizierte Grammatik des Sanskrit von einem gewissen P ANINI ausgearbeitet wurde, nahm die Erforschung der Sprache in der griechischen Antike - und in deren Folge auch in der römischen - größere Ausmaße an. Die Beschäftigung mit der Grammatik verband sich weithin mit philosophischen Fragestellungen und führte darüber hinaus zu dem Grundinventar heute noch gebräuchlicher linguistischer Termini. A RISTOTELES (384-322 v. Chr.) gilt als der Begründer der europäischen Grammatik. Im Mittelalter konzentrierte man sich überwiegend unter religiösen Fragestellungen auf das Studium der jeweiligen heiligen Sprachen (Latein und Griechisch im westlichen, christlichen Kulturraum, Hebräisch für die Juden, Arabisch für den mohammedanischen Kulturkreis), man erkannte jedoch auch schon die Existenz verschiedener Sprachfamilien (romanisch, germanisch, griechisch u.a.). Großen Einfluss auf den (west-)europäischen Kulturraum übte die Grammatik von Port Royal (Zisterzienserkloster bei Paris; 1660) aus. Ebenfalls ab dem 17. Jh. nahm das Interesse an den verschiedenen Volkssprachen (in Abgrenzung zu den klassischen Sprachen) deutlich zu, nachdem man sich bereits seit dem Hochmittelalter mit diesen beschäftigt hatte; auch exotische, d.h. nichtindoeuropäische Sprachen wurden untersucht. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprachen als Selbstzweck fand in der westlichen Moderne kaum vor dem 19. Jh. statt (die Inder wie auch die Araber hatten hier einen Vorsprung von etlichen hundert Jahren). Als Begründer der Historischen Sprachwissenschaft, der ersten bedeutenden linguistischen Forschungsrichtung der Moderne - genauer: des beginnenden 19. Jhs. -, gelten gemeinhin der Däne R ASMUS K RISTIAN R ASK (1787-1832; erstes wichtiges Werk: Undersögelse om det gamle Nordiske eller Islandske Sprogs Oprindelse, Kopenhagen 1818) und der Deutsche J AKOB G RIMM (1785-1863; einer der Brüder Grimm; Deutsche Grammatik, Göttingen 1819). Zusammen mit F RANZ B OPP (1791-1867; Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gothischen und Deutschen, Berlin 24 Einen chronologisch geordneten Abriss der Geschichte der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie seit ihren fassbaren Anfängen hat C HR . L EHMANN unter http: / / www.uni-erfurt.de/ sprachwissen schaft/ personal/ lehmann/ CL_Lehr/ Gesch_SW/ Gesch_SW_Index.html veröffentlicht. Es wird von Studierenden im Grundstudium in der Regel nicht erwartet, einen (fundierten) Überblick über alle wichtigen sprachwissenschaftlichen Strömungen, Schulen und Forscher zu erwerben. Dies bleibt, wenn überhaupt, meist dem Hauptstudium vorbehalten. Wer die vorliegende Einführung zum Selbststudium verwendet, kann daher dieses Kapitel kursorisch behandeln. <?page no="50"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 44 1868, 1870, 1872), der durch seine Untersuchungen zu den Konjugationssystemen des Sanskrit, Altgriechischen, Lateinischen und Gotischen (1816) die Annahme einer diesen Idiomen gemeinsamen Vorstufe oder Grundsprache untermauerte, hoben sie die Indogermanistik aus der Taufe. Dieser Name bezeichnet die nach dem damaligen Wissensstand östlichsten und westlichsten Vertreter dieser Grundsprache, für die keine eigensprachliche Bezeichnung erhalten ist. In anderen Sprachkulturen bevorzugt man die synonyme Benennung Indoeuropäistik. Die historisch ausgerichtete, vergleichende Sprachwissenschaft war zunächst gleichbedeutend mit der Indogermanistik; erst später „emanzipierte“ sich die Vergleichende Sprachwissenschaft. Generell bedient sich die vergleichende Sprachuntersuchung dreier Hauptmethoden (nach E. K LAUSEN 2005): • Wortvergleich (als problematisch haben u.a. die Zufallsähnlichkeit von Wörtern, Lehn- und Wanderwörter und Onomatopoetika zu gelten), • Formenvergleich (vergleichende Morphologie; problematisch sind typologische Veränderungen von Sprachen), • Erkennen von Lautgesetzen. Die Wende vom 19. zum 20. Jh. brachte den Übergang von der junggrammatischen zur strukturalistischen Forschungsrichtung. Während im 19. Jh. die historisch-vergleichende Ausrichtung mit ihrer Maxime „zurück zu den Ursprüngen“ dominiert hatte, kam mit der (Zeiten-)Wende zum 20. Jh. die strukturalistische Sicht auf: Sprache wurde im Hier und Jetzt untersucht, als System, als Funktionsträger, und es etablierte sich die sog. Systemlinguistik. Das 20. Jh. wurde dann Zeuge etlicher entscheidender Impulse für die Weiterentwicklung der Slavistik: Die „kommunikativpragmatische Wende“ und die Frage nach dem Wie und Warum zeichnete sich ab; neue Forschungsrichtungen griffen Raum - Textlinguistik, Pragmatik, Sprechakttheorie, Gesprächsanalyse. Das Schlagwort „Interdisziplinarität“ machte die Runde und äußerte sich konkret in den rezenten Disziplinen der Ethnolinguistik, Soziolinguistik, Psycholinguistik, Kulturwissenschaft etc. Bleiben wir noch einen Augenblick im 19. Jh., für das die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft oder Komparatistik die charakteristische Strömung war. Sie nahm breiten Raum rein, es erwachte jedoch auch zunehmend das Interesse für die (eigene) Nationalsprache sowie für nichtindoeuropäische Sprachen und Sprachengruppen. Herausragende Sprachwissenschaftler des 19. Jh. waren - für die allgemeine und speziell die slavistische Linguistik - A UGUST S CHLEICHER (gilt als Begründer der Stammbaumtheorie und gemeinsam mit F RANZ B OPP als Wegbereiter der Indogermanistik; 1821-1868), W ILHELM VON H UMBOLDT (gilt als Begründer der Allgemeinen Sprachwissenschaft; 1767-1835; eines seiner bedeutenden, vielzitierten Werke ist Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und seinen Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, 1836), J AKOB G RIMM (gilt als Begründer der deutschen Sprachwissenschaft; 1785-1863), F RANZ B OPP (gilt als Begründer der Vergleichenden Sprachwissenschaft; 1791-1867), G E- ORG C URTIUS (1820-1865), F RIEDRICH D IEZ (gilt als Begründer der romanischen Sprachwissenschaft; 1794-1 8 76), der Tscheche J OSEF D OBROVSKÝ (gilt als Begründer der slavistischen Sprachwissenschaft und der modernen tschechischen Schriftsprache; 1753-1829), der Russe A LEKSANDR C HRISTOFOROVI Č V OSTOKOV (eigent- <?page no="51"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 45 lich O STENECK ; u.a Arbeiten zum Altkirchenslavischen; 1781-1864), der Slowene F RANZ M IKLOSICH (F RANC M IKLOŠI Č ; 1813-1891), A UGUST F RIEDRICH P OTT (gilt als Begründer der Etymologie; 1802-1887). Etymologie und Dialektologie waren die am intensivsten betriebenen Teildisziplinen des linguistischen Kanons, Syntax und Semantik kamen verstärkt erst im 20. Jh. auf, ganz zu schweigen von den zahlreichen „Randdisziplinen“ der Sprachwissenschaft. Als Junggrammatiker 25 bezeichnet man eine Gruppe von überwiegend Leipziger Linguisten (u.a. F RIEDRICH K LUGE (1856-1926), H ERMANN P AUL (1846-1921), K ARL V ERNER (1846-1896), A UGUST L ESKIEN (1840-1916), K ARL B RUGMANN (1849-1918), B ERTOLD D ELBRÜCK (1842-1922)), die seit den 70er Jahren des 19. Jh. nach den Maximen des Positivismus grundlegende Arbeiten zur traditionellen Sprachwissenschaft verfassten. Sie richteten ihr Hauptaugenmerk auf die Lautlehre, wobei sie den untersuchten Lautgesetzen eine weitgehende Ausnahmslosigkeit in ihrer Durchführung unterstellten und von diesen Gesetzmäßigkeiten wiederum auf eine mechanische Gesetzmäßigkeit der Sprachentwicklung insgesamt schlossen. Durch die Hervorhebung der Lautlehre beschäftigten sich die Junggrammatiker überwiegend mit der gesprochenen Sprache und den Dialekten. Für die Indogermanistik und die weitere Sprachwissenschaft bahnbrechend waren die Werke Grundriß der Vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von B RUGMANN und D ELBRÜCK sowie die Indogermanische Syntax von D ELBRÜCK . Auch der französische Linguist A NTOINE M EILLET (1866-1936; Introduction à l’étude comparative des langues indo-européennes, 1922) trug erheblich dazu bei, das Verständnis von zwischensprachlichen Zusammenhängen und Entwicklungslinien herzustellen. Von Bedeutung war ferner die Übertragung der in der Indogermanistik entwickelten Forschungsmethoden und gewonnenen Forschungsergebnisse auf andere Sprachfamilien (uralisch, altaisch, sino-tibetisch, dravidisch). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. bildeten sich auch in Osteuropa zahlreiche linguistischen Zirkel und Schulen heraus, deren Wirken sich gerade dem Anfänger nicht ohne weiteres erschließt, ohne deren Erwähnung und Kurzvorstellung eine Einführung in die russische Sprachwissenschaft jedoch unvollständig wäre. Von den zahlreichen beteiligten Personen werden jeweils nur die bekanntesten Namen genannt. In vielen Ansichten ihrer Zeit voraus waren die beiden Polen J AN N IECISŁAW I GNACY B AUDOUIN DE C OURTENAY (I. A. B ODU Ė N DE K URTEN Ė , 1845-1929) und sein Schüler M IKOŁAJ K RUSZEWSKI (1851-1887), neben den Russen V. A. B OGO- RODICKIJ (1857-1941) und S. K. B ULI Č (1859-1921), als Köpfe der Kasaner Schule. Ihr ist die heute noch gültige Verwendung des Phonembegriffs zu verdanken, welcher der wissenschaftlichen Disziplin der Phonologie zugrunde liegt. 26 Die Kasaner Linguisten hatten bedeutenden Einfluss auf S AUSSURE und seine Genfer Schule (v.a. C HARLES B ALLY , A. S ECHEHAYE und S. O. K ARCEVSKIJ ) sowie auf die Prager Schule (1926-1939) um V. M ATHESIUS und R. J AKOBSON . Als führender Geist der Prager Schule gilt N IKOLAJ S. T RUBECKOJ (T RUBETZKOY ), wichtige Mit- 25 Die Bezeichnung Junggrammatiker war wohl ursprünglich abwertend gemeint, wurde jedoch später von den Vertretern dieser Strömung selbst aufgenommen. 26 Mehr hierzu wie auch zu den anderen wichtigen (slavistischen) Linguistenschulen unter http: / / www.uni-potsdam.de/ u/ slavistik/ vc/ unger/ nsling/ schulen.htm . <?page no="52"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 46 glieder waren ferner B. H AVRÁNEK , A. V. I SA Č ENKO u. a. Die Prager strukturalistische Schule übte mit ihrer funktionalen Sprachbetrachtung (vgl. weiter unten die Definition des Phonems) einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die europäische Linguistik und ihre Vertreter wie beispielsweise K ARL B ÜHLER , S. K AR - CEVSKIJ , A NDRÉ M ARTINET , L UCIEN T ESNIÉRE , W. D OROSZEWSKI aus. Die Prager Linguisten orientierten sich verstärkt an der Dichotomie von Synchronie und Diachronie sowie an den namengebenden strukturellen Eigenschaften der Sprache. In Russland existierten ferner eine Petersburger Schule und eine Moskauer Schule, die jeweils bedeutende Linguisten hervorbrachten. Die Moskauer Schule, genauer gesagt die Moskauer Fortunatov-Schule unter F ILIPP F. F ORTUNATOV (1848-1914), die sich in erster Linie aus russischen und polnischen Linguisten zusammensetzte, existierte von 1876-1925. Methodologisch orientierte sie sich an der Leipziger Schule der Junggrammatiker. Die bekanntesten Vertreter waren als Schüler F ORUNATOV s W IKTOR J AN P ORZEZSI Ń SKI (1870-1929), A LEKSEJ A. Š ACHMA - TOV (1864-1920), M ICHAIL N. P ETERSON (1885-1962), A LEKSANDR M. P EŠKOVSKIJ (1878-1933) und D MITRIJ N. U ŠAKOV (1873-1942) (vgl. K ARAULOV 1998: 250- 252). Besonders hervorzuheben ist ihr Wirken im Bereich der Syntax (u.a. stammt von ihnen die Bezeichnung der Wortverbindung bzw. Wortfügung). Die Petersburger Schule wurde im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. von den Schülern B AUDOUIN DE C OURTENAY s L EV V L . Š Č ERBA (1880-1944), E VGENIJ D. P OLI - VANOV (1891-1938), L EV P. J AKUBINSKIJ (1892-1945) u.a. gegründet. Sie fasste Sprache im Sinne einer kollektiven Erscheinung nicht als statisches System auf, sondern als einen in ständiger Bewegung befindlichen Prozess, als ununterbrochene Weiterentwicklung durch die sprachliche Tätigkeit der Menschen. Sie beschäftigte sich darüber hinaus mit der funktionalen Vielfalt der Rede und unternahm eine richtungsweisende Abgrenzung von historischer und gegenwartsbezogener Linguistik (vgl. K ARAULOV 1998: 336-338). Nicht mit der Petersburger Schule zu verwechseln ist die Leningradskaja bzw. Peterburgskaja fonologi č eskaja škola unter L EV V L . Š Č ERBA , die sich, wie ihr Name vermuten lässt, v.a. mit der lautlichen Seite der (russischen) Sprache beschäftigte. Š Č ERBA definierte 1912 das Phonem als kleinste bedeutungsdifferenzierende Einheit der Sprache, seine Schule forschte zum Status und zu den Charakteristika der Phoneme und ihrer Varianten (vgl. K ARAULOV 1998: 214f). Neben der Petersburger gab es eine Moskovskaja fonologi č eskaja škola, die von R UBEN I. A VANE- SOV (1902-1982), P ËTR S. K UZNECOV (1899-1968), A LEKSANDR A. R EFORMATSKIJ (1900-1978) u.a. Ende der 20er Jahre des 20 Jhs. gegründet wurde (vgl. K ARAULOV 1998: 248-250). Daneben existierte bereits seit 1915 der Moskovskij lingvisti č eskij kružok, dem nacheinander die bedeutenden Linguisten P. O. J AKOBSON , M. N. P ETERSON , A. A. B USLAEV , G. O. V INOKUR und N. F. J AKOVLEV vorstanden. Dieser Kreis beschäftigte sich gleichermaßen mit Linguistik, Folklore und Ethnographie; phonologische Fragestellungen waren ebenso wie Dialektforschung, die Klärung der ästhetischen Funktion von Sprache und die Erforschung schriftloser Sprachen Gegenstand seiner Tätigkeit. Die überwiegend noch sehr jungen Mitglieder des Kreises hatten sich die Vulgarisierung (im Sinne einer allseitigen Bekanntmachung) linguistischer Forschungsmethoden und -ergebnisse auf ihre Fahnen geschrieben. Auch schlugen sie in vielen Bereichen eine Brücke zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Ein <?page no="53"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 47 prominentes Beispiel für diesen Brückenschlag ist die Herausarbeitung einer sog. poetischen Funktion von Sprache durch J AKOBSON (vgl. K ARAULOV 1998: 252f). Eine an der Moskauer Universität angesiedelte Obš č estvo ljubitelej rossijskoj slovesnosti (OLRS, 1811-1930) stellte die Aktivitäten ihrer zahlreichen Mitglieder in den Dienst der Förderung der russischen Philologie. Neben einer regen Herausgebertätigkeit sollten v.a. eine systematische, grundlegende Grammatik erarbeitet und der Wortschatz der russischen Sprache intensiver erforscht werden. Beides zielte letztlich auf eine Normierung und damit Erhöhung der Sprachkultur des Russischen ab. Die OLRS wurde 1992 neugegründet und ist im Internet unter http: / / www.slovesnost. narod.ru/ präsent (vgl. K ARAULOV 1998: 278f). Ebenfalls eher informellen Charakter trug die 1916 in Petrograd von u.a. R. O. J AKOBSON gegründete Obš č estvo po izu č eniju po ė ti č eskogo jazyka (OPOJaZ), die jedoch stärker, wenngleich nicht ausschließlich, literaturwissenschaftlich orientiert war und als Begründer des russischen Formalismus angesehen wird. Im Zuge der Erforschung der russischen Poetik war eine der grundlegenden Voraussetzungen die Beschäftigung mit der lautlichen Struktur der Sprache, wobei die OPOJaZ stärker zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft trennte als der Moskauer Linguistische Zirkel und die Prager Schule (vgl. K ARAULOV 1998: 291f). Die Moskauer Vinogradov-Schule unter V IKTOR V L . V INOGRADOV (1894-1969) war stark von den Ideen Š ACHMATOV s und Š Č ERBA s beeinflusst. V INOGRADOV arbeitete einen neuen Katalog sprachwissenschaftlicher Forschungsdisziplinen aus und entwickelte eine neue Systematik der Wortarten, indem er diesen die sog. Redepartikeln, Modal- und Zustandswörter hinzufügte, eine Kategorisierung, die im Wesentlichen bis heute Bestand hat. Hervorzuheben ist ferner seine frühe Beschäftigung mit dem Text als linguistischer Beschreibungsebene (vgl. K ARAULOV 1998: 69-71). Neben den beiden kulturellen Zentren Russlands bzw. der Sowjetunion, Moskau und Sankt Petersburg/ Leningrad, war nur wenig Raum für die Herausbildung von Schwerpunkten linguistischer Forschung in anderen Städten. Eine Ausnahme bildet die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegründete Char’kovskaja lingvistič eskaja škola um A LEKSANDR A. P OTEBNJA (1835-1891). Wie auch andere sprachwissenschaftliche Schulen ihrer Zeit in Ost und West war sie historisch-vergleichend ausgerichtet, d.h. Sprache wurde in einem breiten kulturellen Kontext in der historischen Perspektive ihres Entstehens und Entwickelns betrachtet, wobei der Folklore und der Ethnographie besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Sprachgebrauch wurde, im Gegensatz zu anderen Richtungen der russischen und westlichen Linguistik, als individuell-schöpferischer Akt aufgefasst. Großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Sprachwissenschaft übten die vergleichenden Betrachtungen der ostslavischen Sprachen sowie die Dialektforschungen der Charkover Schule aus (vgl. K ARAULOV 1998: 613-615). Der Wechsel vom 19. zum 20. Jh. brachte das Aufkommen neuer wissenschaftlicher Methoden mit sich, die naturgemäß auch in der Sprachwissenschaft ihren Niederschlag fanden. Die bedeutendste neue Richtung in der Linguistik war der Strukturalismus. 27 27 Die folgenden Darstellungen sind aus praktischen Erwägungen heraus nur sehr summarisch. <?page no="54"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 48 Der Strukturalismus sieht als zentrales Grundaxiom Sprache als ein System (bzw. ein System von Systemen, ein System mit Subsystemen). Der Strukturalismus untergliedert sich wiederum in verschiedene Teilströmungen, die im Folgenden nur jeweils kurz vorgestellt werden können. Die Knappheit der Darlegungen resultiert auch aus der Tatsache, dass in einführenden Veranstaltungen zur Sprachwissenschaft i.d.R. kein Raum ist für eine intensivere und vergleichende Behandlung einzelner linguistischer Strömungen. • Der Funktionalismus (auch Funktionale Linguistik genannt) der Prager Schule ist eine Richtung des europäischen Strukturalismus, in der Sprache primär als System, als funktionierendes Kommunikationsmittel betrachtet wird, dessen strukturelles Zeichensystem durch Beobachtung an konkretem Sprachmaterial in Verwendungssituationen zu beschreiben ist. Man verzichtet auf die strikte Trennung von langue und parole und betreibt gleichermaßen eine synchrone wie diachrone Sprachbetrachtung. Die Sprachwissenschaft wird als eine autonome Wissenschaft betrachtet. Funktionalismus als zentraler Begriff bedeutet, dass eine Analyse von der Funktion einer sprachlichen Äußerung ausgeht, um ihre Form zu beschreiben. Wichtige Vertreter des Funktionalismus waren K ARL B ÜHLER (Psychologe und Sprachtheoretiker; 1879-1963; Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache 1934, darin das bekannte Organon-Modell); R OMAN O SIPOVI Č J AKOBSON (russischer Philologe, Linguist und Semiotiker; 1896-1982; Moskauer Linguistenkreis (Russischer Formalismus), ab 1926 Prager Linguistenkreis), N IKOLAJ S ERGEEVI Č T RUBECKOJ (russischer Linguist und Ethnologe, gilt als Begründer der modernen Phonologie; 1890-1938; Grundzüge der Phonologie 1939), A NDRÉ M ARTINET (wendet erstmals den Funktionalismus auf die Syntax an; 1908-1999; Éléments de linguistique générale 1960). Wichtige Arbeiten besonders im Bereich der Phonologie stammen von J AKOB- SON und T RUBECKOJ . Die wichtigste Funktion der Sprachlaute ist (nach T RUBEC - KOJ ) ihre distinktive/ bedeutungsunterscheidende Schallfunktion. Grundlegend für den Begriff der Unterscheidung ist die Opposition: Zwei Dinge können nur miteinander verglichen werden, wenn sie in einem Gegensatzverhältnis zueinander stehen, wenn sie sich also in gewissen Eigenschaften voneinander unterscheiden (vgl. Kap. 13.3). Der Funktionalismus übte einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der generativen Transformationsgrammatik aus. • Im amerikanischen Distributionalismus sollen Phoneme und Morpheme nur durch die Feststellung ihrer möglichen Umgebung definiert werden, wobei die Bedeutung ausgeschaltet bleibt. Segmentierung und Klassifizierung sind hier die zentralen Aufgaben. Ein wesentliches Problem der Distributionsanalyse besteht darin, dass Gleichheit der Distribution nicht zwangsläufig auch Gleichheit der Bedeutung heißt. Im distributionalistischen Strukturalismus ging es vor allem darum, die Distribution von Elementen zu entdecken und deren Klassifikation in der Beschreibung des Sprachsystems vorzunehmen. In Anlehnung an den Behaviorismus sollen Verhaltensweisen nur unter Berücksichtigung von externen, objektiv beobachtbaren und verifizierbaren „Fakten“ beschrieben werden, wobei „mentalistische“ Aussagen über interne Denkvorgänge beim Sprechen, über die Inhalte der Sprachzeichen, über Bedeutungen als spekulativ abgelehnt werden; <?page no="55"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 49 die Arbeit soll an beobachtbarem Sprachmaterial streng empirisch erfolgen. Herausragende Vertreter sind Z ELLIG S. H ARRIS ; L EONARD B LOOMFIELD (1887- 1949; Language, 1933). Die grundlegende Lehre des Distributionalismus ist die Taxonomie, nach der die Stellung der einzelnen Elemente im Sprachsystem einer bestimmten (An-) Ordnung entspricht, die durch die Grundoperationen der Segmentierung und der Klassifizierung gefunden wird. • Ebenfalls dem Strukturalismus wird die Kopenhagener Schule mit L OUIS H JELMSLEV (1899-1965) und V IGGO B RØNDAL (1887-1942) zugerechnet, die aus dem Kopenhagener Linguistischen Zirkel hervorgegangen war. H JELMSLEV entwickelte die in ihrem Ansatz stark abstrahierende und deswegen oft kritisierte Glossematik, die mit mathematischen Methoden nicht nur die menschliche Sprache untersuchte, sondern auch andere Zeichensysteme wie beispielsweise Verkehrszeichen etc. Diese Forschungsrichtung näherte sich damit einerseits sehr der Allgemeinen Zeichenlehre, der Semiotik, und andererseits der generativen Transformationsgrammatik an. Kennzeichnend für H JELMSLEV war die Unterscheidung von Ausdruck und Inhalt. Einfluss hatte er u.a. auf die Erforschung von Verfahren der maschinellen Übersetzung und auf die Abgrenzung der lexikalisch-semantischen Erscheinungen von Homonymie und Polysemie. • Die generative Transformationsgrammatik (generative Grammatik, gTG) geht zurück auf C URRY und F ILLMORE . Als ihr bedeutendster Vertreter im Westen gilt N OAM C HOMSKY (*1928). Die generative Grammatik sieht die Syntax als zentrale und konstituierende Komponente der Sprache an, die die interpretativen Komponenten Phonologie (lautliche Seite der Sprache) und Semantik (Bedeutungsseite der Sprache) miteinander in Verbindung bringt. Sie zielt letzten Endes darauf ab, das Sprachvermögen eines idealen Sprechers/ Hörers zu beschreiben und dabei Regeln anzugeben, nach denen sich die Sprecher/ Hörer einer Sprachgemeinschaft richten, wenn sie wohlgeformte Sätze ihrer Sprache produzieren und verstehen. Sie will durch ein axiomatisches System von expliziten Regeln das implizite Wissen von Sprache (das dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegt) abbilden. Mit dem Ausbau des Konzepts der „angeborenen Ideen“ wendet sich C HOMSKY gegen die behavioristische Sprachauffassung des amerikanischen Strukturalismus. Bei der Theorie des Sprachenerwerbs hat die Theoriebildung Vorrang vor der Datenanalyse, d.h. man betreibt ein deduktives Vorgehen, indem die Transformationsgrammatik Hypothesen aufstellt. • Die Applikativ-generative Grammatik hat als bedeutendsten Vertreter den ebenfalls dem Strukturalismus verpflichteten georgischen Linguisten S EBASTIAN K. Š AUMJAN (*1915). Er entwickelte ein sehr abstraktes Beschreibungsmodell von Sprache, das wiederum einherging mit einer neuen Terminologie. In dieser zweistufigen Grammatik wird streng unterschieden „zwischen den abstrakten Repräsentationen der tieferen Sprachzusammenhänge (den Genotypen) und den sprachl. Phänomenen, die der unmittelbaren Beobachtung zugängl. sind (den Phänotypen).“ (G LÜCK 2000: 53) Die Wortstellung, d.h. die lineare Anordnung von Spracheinheiten, ist somit eine phänotypische Erscheinung. • Die Phrasenstrukturgrammatik oder Konstituentenstrukturgrammatik, IC- Grammatik gehört zu den generativen Grammatikmodellen. Sie arbeitet mit Ersetzungsmodellen, „durch die jeweils für ein Symbol ein oder mehrere andere <?page no="56"?> Sprachwissenschaftliche Strömungen 50 Elemente substituiert werden; den generierten Ketten wird dadurch automatisch eine syntaktische Charakteristik [...] zugeordnet [...] Die P. ist nicht in der Lage, alle in natürlichen Sprachen möglichen syntaktischen Strukturen adäquat zu beschreiben“ (C ONRAD 1984: 200). • Die Kasusgrammatik C HARLES J. F ILLMORE s (*1929) gehört ebenfalls zu den generativen Grammatikmodellen. Sie entwarf ein System von semantischen Kasus, die nicht mit den traditionellen, morphologischen Kasus (Oberflächenkasus) verwechselt werden dürfen, da sie tiefenstruktureller, im Wesentlichen syntaktischer Art sind (Tiefenkasus). Diese Kasus beschreiben das Verhältnis zwischen dem Verb und den nominalen Elementen, die sich beide im propositionalen Kern des Satzes befinden. Die Anzahl der unterscheidbaren Kasusrollen und die mit ihnen verbundene Terminologie werden keineswegs einheitlich gesehen; weit verbreitet ist die Annahme der Kasusrollen Agent, Patient, Instrumental, Objektiv, Lokativ, Quelle, Ziel. Der Vollständigkeit halber seien wenigstens folgende andere Ansätze namentlich erwähnt: die von F ILLMORE als Weiterentwicklung der Kasusgrammatik entworfene Framesemantik, die das Weltwissen des Sprechers zur Bestimmung der Bedeutung sprachlicher Einheiten heranzieht; die Tagmemik nach K ENNETH L EE P IKE (1912- 2000), die vorwiegend in den USA Anhänger fand und zunehmend von der generativen Grammatik verdrängt wurde; die Stratifikationsgrammatik von S. L AMB , die von der maschinellen Übersetzung bestimmt wurde und deren Einteilung der Sprache in Ebenen (Stratum = (Struktur-)Ebene) nur zum Teil mit der traditionellen Einteilung in Hierarchieebenen übereinstimmt; die auf der Theorie L EO W EISGERBER s über eine sprachliche Zwischenwelt fußende inhaltsbezogene Grammatik oder Sprachinhaltsforschung: Sprache, genauer: die Muttersprache, wird weniger als Kommunikationsmittel aufgefasst, sondern als eine „Kraft geistigen Gestaltens“, die Grammatik soll die Bildungsgesetze der Sprachinhalte erforschen und so zur Darstellung des „Weltbildes“ einer Sprache führen; die Kategorialgrammatik, die ein System von Bedeutungskategorien erstellte und sich wiederum in Unterströmungen aufteilte, wobei u.a. Prinzipien der mathematischen Mengenlehre Anwendung fanden; die Abhängigkeitsgrammatik nach D. G. H AYS , die für das Verhältnis sprachlicher Einheiten Abhängigkeitsregeln aufstellte. Literaturangaben speziell zur Geschichte der Sprachwissenschaft und ihrer Forschungsrichtungen, und hier wieder mit dem Schwerpunkt Strukturalismus, finden sich in Kap. 18. <?page no="57"?> 12 Philologische Forschungsmethoden Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte hat jede Forschungsrichtung ihr eigenes Methodeninventar entwickelt, so auch die Linguistik. Die Sprachwissenschaft sieht sich, praktisch in allen Philologien, mit einem alten Streit um ihre Aufgaben konfrontiert: Soll sie deskriptiv (beschreibend) oder präskriptiv (vorschreibend) / normativ wirken? Die Entscheidung für die eine oder die andere Methode hat erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Gang der wissenschaftlichen Untersuchung, angefangen bei der Fragestellung über die Forschungsmethodik bis hin zur Form der Ergebnisdarstellung. Mit anderen Worten: Sowohl im wissenschaftlichen als auch im sprachpraktischen und sprachdidaktischen Bereich schlägt sich diese grundsätzliche Differenzierung nieder. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob ich mit einem deskriptiven Grammatikhandbuch arbeite oder mit einem präskriptiven, normativen. Während nämlich die deskriptive Grammatik möglichst wertneutral den Status quo einer Sprache zu beschreiben bemüht ist und insofern in weiten Teilen dem Benutzer die Entscheidung überlässt, was richtig und was falsch ist, versucht die normative Grammatik, dem Benutzer klare Hinweise auf Regeln und Regelverstöße an die Hand zu geben, ihm also, analog den Verkehrszeichen, zu sagen, was er - sprachlich - zu tun und was er zu lassen hat. Eine ähnliche Unterscheidung ist im Bereich der Wörterbücher zu treffen; auch hier gibt es eher deskriptive und eher präskriptive Werke. Einführungen in eine Philologie wie die vorliegende sind i.d.R. deskriptiv orientiert, da sie versuchen, einen Zustand oder bestimmte - nicht selten einander widersprechende - Entwicklungen zu dokumentieren, um so dem Leser eine Grundlage für seine eigene Urteilsfindung zu bieten. Die Sprachwissenschaft kann ferner, wie bereits angedeutet, synchron oder diachron vorgehen. Was versteht man hierunter? Die Synchronie betrachtet Sprache zu einer gegebenen Zeit für eine gegebene Sprachgemeinschaft. Sie ist dabei nicht auf die Gegenwartssprache beschränkt, sondern auch auf jeden dokumentierten Sprachzustand der Vergangenheit anwendbar. Grafisch lässt sich diese Untersuchung veranschaulichen durch die Schnitte x 1 , x 2 ... x n auf der Zeitachse: Abbildung 13: Synchronie Sprachliche Quellen, egal aus welcher Epoche, zeigen in isolierter Betrachtung immer einen Sprachzustand auf, keine Entwicklung. Die Entwicklung wird erst aus dem Vergleich zweier oder mehrerer, zeitlich unterschiedlich einzuordnender Zustände ersichtlich. Daher ist in wissenschaftsmethodischer Hinsicht die synchrone x 1 x 2 x 3 x n <?page no="58"?> Philologische Forschungsmethoden 52 Sprachuntersuchung primär, die diachrone sekundär, obwohl faktisch die Entwicklung dem Zustand vorausgeht (sieht man einmal von einem oft nur hypothetisch zu veranschlagenden Urzustand ab). Bei der direkten Synchronie sind Sprachteilhaber für Studien verfügbar, oder der Untersuchende gehört der untersuchten Sprachgemeinschaft sogar selbst an; bei der indirekten Synchronie sind nur noch Texte (sogenannte Sprachdenkmäler), jedoch keine Sprachteilhaber mehr vorhanden. Die Diachronie betrachtet den Gesamtkomplex oder einzelne Einheiten und Strukturen der Sprache hinsichtlich ihrer Herkunft und historischen Entwicklung. Es werden also letztlich synchrone Stadien y 1 , y 2 ... y n miteinander verglichen, grafisch darstellbar als: Abbildung 14: Diachronie Synchronie und Diachronie haben ihren Niederschlag in den Teilgebieten der Vergleichenden Sprachwissenschaft gefunden, und zwar einmal in der Kontrastiven Linguistik, die Sprachen synchron-vergleichend untersucht, und ferner in der Historischen Sprachwissenschaft, die Sprachen diachron-vergleichend erforscht. Sprachwissenschaft kann deskriptiv oder präskriptiv vorgehen; in zeitlicher Hinsicht kann sie diachron oder synchron forschen. Nach diesen ersten Kapiteln mit einleitendem Charakter können wir uns nun den Beschreibungsebenen der russischen Sprachwissenschaft im Detail zuwenden. y 1 y 2 <?page no="59"?> 13 Teilbereiche der Sprachwissenschaft 13.1 Überblick Die Sprachwissenschaft steht in gewisser Weise zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften. Sie kann auf verschiedenen Abstraktionsebenen betrieben werden: als allgemeine, einzelsprachenübergreifende Linguistik und als spezifische, sprachfamilien- oder einzelsprachenorientierte Linguistik (slavistische / romanistische / germanistische Linguistik, in weiterer Verengung z.B. polnische / französische / deutsche Linguistik). Folgende Teildisziplinen werden unstrittig zum engeren Kreis der Sprachwissenschaft gezählt und in der vorliegenden Darstellung ausführlicher behandelt: • Phonetik oder Lautlehre ( фонетика ) ist zum einen allgemeine, sprachübergreifende Sprachlehre (v.a. im akustischen und auditiven Bereich) und untersucht zum anderen den Lautbestand einer konkreten Sprache, die Lautbildung (artikulatorischer Bereich); • Phonologie ( фонология ) untersucht die Funktion der Laute in einer konkreten Sprache (und arbeitet aus diesem Grund einzelsprachlich); • Morphologie oder Formenlehre ( морфология ) ist die grammatische Lehre vom Wort und von der Flexion (Beugung) der Wörter (Formenbildung, im Gegensatz zur Wortbildung); • Wortbildung ( словообразование ) weist in der Sprachwissenschaft einen nicht allseits akzeptierten Status auf: Einige Forscher fassen sie unter die Morphologie, andere unter die Lexikologie, wieder andere gestehen ihr eine weitgehende Eigenständigkeit zu. Hier geht es um die Bildung neuer lexikalischer Einheiten mit den Mitteln, die eine Sprache selbst zur Verfügung stellt (im Gegensatz zur Entlehnung fremdsprachigen Materials); • Lexikologie ( лексикология ) ist die Lehre vom Wortbestand (Lexik) einer Sprache und seiner Entwicklung, die Lehre von der Bedeutung der Wörter, wie sie im Wortschatz organisiert sind; sie umfasst als Teilgebiete die Etymologie (die Sprachgrenzen überschreitende Lehre von der Herkunft der Wörter), die Wortgeschichte (arbeitet sprachimmanent), die Semasiologie (Lehre von den Bedeutungsstrukturen lexikalischer Einheiten) und die Phraseologie (Lehre von den Phraseologismen, d.h festen, ohne Bedeutungsverlust nicht in ihre Einzelteile zerlegbaren Wortgruppen); in methodischer Hinsicht stehen sich die diachrone und die synchrone Betrachtungsweise gegenüber; sie kann als „theoretische“ Grundlage der Lexikographie betrachtet werden; • Lexikographie ( лексикография ) ist die Wissenschaft von der Erstellung von Wörterbüchern und somit die praktische Anwendung der Lexikologie, beeinflusst diese aber wiederum selbst durch ihre eigenen Forschungsergebnisse; <?page no="60"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 54 • Syntax oder Satzlehre ( синтаксис ) beschreibt den Aufbau von Sätzen und Wortgruppen / Wortverbindungen (Syntagmen) sowie die Formmittel, die zur Bildung von Sätzen und Wortgruppen dienen; sie beschreibt allgemein die Beziehungen zwischen sprachlichen Zeichen und wird auch Wortkombinationslehre genannt; • Textlinguistik ( лингвистика текста ) zählt zu den jüngsten Teildisziplinen der Sprachwissenschaft. Sie beschäftigt sich mit dem Text als der größten sprachlichen Ebene, mit Aufbau, Funktions- und Wirkungsweise von Texten, die sich für gewöhnlich aus Sätzen als nächstkleinerer Einheit konstituieren. Ein Forschungsschwerpunkt liegt in der Texttypologie, d.h. in der Definition und Abgrenzung verschiedener Textsorten. Die Textlinguistik ist eng verzahnt mit Syntax, Semantik, Pragmatik sowie den Kommunikations- und Kognitionswissenschaften im Allgemeinen; • Semantik oder Bedeutungslehre ( семантика ) untersucht auf verschiedenen Beschreibungsebenen die Bedeutung sprachlicher Zeichen oder Zeichenketten, allgemein gesagt: sprachlicher Einheiten; sie wird unterteilt in Wortsemantik und Satzsemantik; • •• • Pragmatik oder Pragmalinguistik ( прагматика ) ist als Teilgebiet der Semiotik (allgemeinen Zeichenlehre) ebenfalls eine relativ neue Disziplin; sie untersucht die Zeichenverwendung durch den Zeichenbenutzer, d.h. das Sprachverhalten, und verlässt somit die Grenzen der reinen Sprache, indem sie diese in Bezug setzt zu außersprachlichen Faktoren; ein wichtiges Teilgebiet ist die Sprechakttheorie. Weitere, in der vorliegenden Einführung aus Raumgründen nicht näher besprochene Teilgebiete sind Psycholinguistik (Verarbeitung von Sprache im menschlichen Gehirn; психолингвистика ), Kognitive Linguistik (Zusammenhang von Sprache und Denken; когнитивная лингвистика ), Soziolinguistik (Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft; социолингвистика ), Computerlinguistik ( вычислительная лингвистика ), Interlinguistik (internationale Kommunikation, Sprachpolitik, Plansprachen; интерлингвистика ), Paläolinguistik (Ursprung und Entstehung menschlicher Sprache; палеолингвистика ), Korpuslinguistik ( корпусная лингвистика ), Graphemik (Schrift als Sprachsystem; графемика ), Dialektologie ( диалектоло гия ), Sprachphilosophie ( лингвистическая философия ), Geolinguistik oder Sprachgeographie (räumliche Ausbreitung von Sprachen; лингвистическая гео графия , ареальная лингвистика ; verwandt mit Dialektologie) u.a. Affinitäten bestehen ferner zu den Kommunikationswissenschaften ( наука о ( языковой ) комму никации ) und den Medienwissenschaften ( наука о средствах массовой информа ции ). Die Grammatik ( грамматика ) gehört als solche nicht in die obige Systematik. Sie beschreibt die Bildung verschiedener Formen gleicher Wörter und ihre Verknüpfung zu Wortgruppen und Sätzen. Traditionellerweise umfasst sie vor allem Morphologie und Syntax (wenn man sich die Mehrzahl der Grammatikhandbücher anschaut, so findet man i.d.R. darüber hinaus noch Phonetik / Phonologie als eigene <?page no="61"?> Überblick 55 Abschnitte, nicht jedoch Semantik, Lexikologie und Pragmatik 28 ). Sie stellt die Art und Weise dar, wie Elemente des Wortschatzes kombiniert bzw. nicht kombiniert werden können oder dürfen. Grammatische Regeln sind im Laufe der Sprachentwicklung zum großen Teil spontan entstanden und wurden nicht von Grammatikern entwickelt (es gibt jedoch in vielen Sprachen Ausnahmen 29 ). Die traditionelle Grammatik umfasst die Theorie der Wortarten, die grammatischen Morpheme (nicht die lexikalischen) mit ihren Funktionen und die drei elementaren syntaktischen Kategorien Serialisierung (Wortstellung; порядок слов ), Kongruenz (formale Übereinstimmung von zusammengehörigen Satzelementen nach Genus, Numerus und/ oder Kasus; согласование ), Rektion (Bestimmung der Kasusform eines Satzelementes durch das ihm syntaktisch übergeordnete Wort; управление ). Grammatik wird definiert als: • das Regelhafte an der Sprache selbst, d.h. ihr Regelsystem; • die Beschreibung der Regularität einer Sprache (ein Abbildungsmodell der deskriptiven Grammatik); • die Beschreibung der festgestellten Regularitäten mit dem Ziel, das Regelhafte an der Sprache zu beeinflussen (präskriptive / normative Grammatik). Der Terminus „Grammatik“ ist also polysem, d.h. mehrdeutig (dazu mehr im Abschnitt „Semantik“ weiter unten), zumal er ja auch das konkrete Grammatikhandbuch ( учебник грамматики ) bezeichnet. Im Gegensatz zur Lexikologie als der Lehre vom Wortschatz, d.h. von den einzelnen Einheiten einer Sprache, beschreibt die Grammatik all jene Verknüpfungsregeln, die bei der Verbindung der einzelnen Sprachelemente miteinander Gültigkeit besitzen. 28 Eine sehr weite Definition von Grammatik bezieht auch Phonologie und Semantik mit ein, wobei als Syntax der gesamte dazwischenliegende Bereich bezeichnet wird. Diese Definition hat jedoch keine allgemeine Akzeptanz gefunden. 29 Vgl. hierzu nicht nur die gegenwärtigen Diskussionen zur Reform der deutschen wie auch der russischen Rechtschreibung. <?page no="62"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 56 13.2 Phonetik Die Lautlehre wird im Gegensatz zur Phonologie als naturwissenschaftliche Hilfsdisziplin der Sprachwissenschaft betrachtet und gehört daher eigentlich nicht selbst zur Sprachwissenschaft. Sie beschäftigt sich mit den physikalischen (akustischen) und physiologischen (artikulatorischen) Eigenschaften der Laute und Lautgebilde, nicht mit der Funktion der Laute im sprachlichen System (dies leistet wiederum die Phonologie). Es existieren drei Forschungsrichtungen der Phonetik: • die artikulatorische Phonetik ( артикуляторная фонетика ) erklärt die Lautbildung mittels des Sprechapparates (des Senders). Sie gilt gemeinhin als der wichtigste Zweig der Phonetik und untersucht physiologische Merkmale; • die akustische Phonetik ( акустическая фонетика ) beschäftigt sich mit den messbaren physikalischen Eigenschaften der Laute. Sie untersucht beispielsweise die Übertragung der Schallwellen und ist damit auf physische Merkmale orientiert; • die auditive Phonetik ( аудитивная фонетика ) setzt den Akzent auf den Höreindruck (beim Empfänger) und untersucht die Hörvorgänge (z.T. mit sehr komplexen Messapparaten), forscht also wiederum nach physiologischen Merkmalen. Auf der Ebene der kleinsten sprachlichen Einheiten sind, in A b hängigkeit von der Realisierungsvariante der Sprache, Laut ( звук ) und Graphem (Buchstabe; графе ма ) voneinander zu unterscheiden: лампа vs. лист , бог vs. бок . Ebenfalls nicht zu verwechseln sind (phonetische) Transkription ( транскрип ция ) und (phonetische) Transliteration ( транслитерация ). Zur Phonetik gehört der Teilbereich der Orthoepie ( орфоэпия ) als der Lehre von der richtigen Aussprache. Sie hat auf dem Gebiet der Schrift die Entsprechung der Orthographie (Rechtschreibung; орфография ). Das Phon ( фон ) als zentrale Untersuchungseinheit der Phonetik wird definiert als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der Sprache, die noch nicht klassifiziert ist. Es ist wahrnehmbar und daher eine konkrete Einheit der parole. Gleichzeitig ist es die Realisierung eines Phonems als abstrakter Einheit der langue. Fassen wir die Darstellungsbereiche der Phonetik zusammen: • physikalische (akustische) und physiologische (artikulatorische) Eigenschaften der Laute, • graphisches System, d.h. z.B. das russische Alphabet und das Verhältnis zwischen den Buchstaben und den Lauten bzw. Phonemen („Schreiblehre“), • Kombinationslehre, d.h. die Lehre von den gesetzmäßigen Lautbzw. Phonemveränderungen bei ihrer Verbindung (s.u. bei „Die Laute im Redefluss“), • Orthoepie oder Rechtlautung, d.h. die Normen für die richtige, normgerechte Aussprache. Wenden wir uns nun zentralen Fragestellungen der Phonetik zu. <?page no="63"?> Phonetik 57 13.2.1 Erzeugung von Lauten Unter phonetischem Gesichtspunkt bedeutet Kommunikation zunächst die Äußerung von Lauten auf Seiten eines Sprechers oder Senders. Die Umwandlung von kognitiven Inhalten in physikalisch messbare Laute kann man als Kodierung bezeichnen. Diese Laute werden in einem zweiten und dritten Schritt mittels eines Mediums übertragen und vom Hörer oder Empfänger rezipiert und dekodiert, d.h. die Laute werden wieder zu kognitiven Inhalten umgewandelt. Für die Produktion von Lauten (Artikulation) sind erforderlich: 1. Atmungsorgane Aus den Lungen wird die Luft (als Medium) durch die Luftröhre, den Kehlkopf und das Ansatzrohr (s.u.) gepresst. Die entweichende Luft bezeichnet man als Phonationsstrom. 2. Stimmbildungsorgane Der Kehlkopf wandelt ausgeatmete Luft in Schall um, wodurch der Primärklang entsteht. Im Kehlkopf wird der sogenannte Stimmeinsatz (Versetzen der Stimmbänder im Kehlkopf aus der Ruhestellung in Schwingungen) gebildet. 3 Arten des Stimmeinsatzes sind zu unterscheiden: • fester Stimmeinsatz: ausgehend von geschlossenen Stimmbändern, die vom einsetzenden Phonationsstrom auseinandergedrückt werden, ehe sie zu vibrieren beginnen Glottisschlag (Knacklaut) entsteht vgl. Spiegel  ei vs. Spiegelei typisch für das Deutsche; im Russischen existiert im Allgemeinen kein Knacklaut (nur in sehr wenigen affektierten Wörtern wie эх ! , ах ! ); • gehauchter Stimmeinsatz: die Ausatmungsluft reibt sich nur an den Stimmbändern, die Stimmbänder schwingen jedoch nicht; • weicher Stimmeinsatz: weder Hauchen noch Knacken ist zu beobachten; die Stimmbänder befinden sich bereits in der für die Artikulation des nächsten Lautes nötigen Position und beginnen mit dem Einsetzen des Phonationsstromes zu schwingen; typisch für das Russische! 3. Lautbildungsorgane (Artikulationsorgane) Sie befinden sich im Ansatzrohr, d.h. im Bereich oberhalb des Kehlkopfs (Rachenraum, Mundraum, Nasenraum), und modifizieren den Laut aus dem Kehlkopf (Primärklang). • Der Resonanzraum (= Ansatzrohr) wird modifiziert Bildung der Vokale • Schaffung neuer Schallquellen (Sekundärklang) durch Einsatz der Artikulationsorgane Bildung der Konsonanten Es gibt 2 Arten von Artikulationsorganen: aktive (bewegliche, verformbare) vs. passive (unbewegliche) (vgl. unten Abb. 15) . 3.1 Mundraum (Bildung der Orale) • Mundvorhof: Bereich vor den Zähnen <?page no="64"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 58 • Mundhöhle: Bereich von den Zähnen bis zum Rachen Alveolen (Zahnfleisch) - vorderer, harter Gaumen (Palatum) - hinterer, weicher Gaumen (Velum) - Gaumensegel + Zäpfchen (Uvula) • Zunge 3.2 Nasenraum (Bildung der Nasale) Das Gaumensegel gibt den Weg der Atemluft zur Nasenhöhle frei. Die folgende Zeichnung stellt die beteiligten aktiven und passiven Sprechorgane im Querschnitt dar. Dabei sind die Artikulationsorgane die Nummern 2b, 10, 11, 12 und 18, während die Artikulationsstellen durch die Nummern 1, 2a, 3a, 3b, 4, 5, 6, 7, 8, 14 und 16 angegeben werden. Die aktiven Sprechorgane sind die Lippen, die Zunge und der Unterkiefer, die passiven Sprechorgane sind die Zähne, die Alveolen sowie der vordere, harte Gaumen. Der hintere, weiche Gaumen mit dem Gaumensegel nimmt insofern eine Zwischenstellung ein, als dieses Organ im Prinzip zwar fest mit dem vorderen Gaumen verbunden ist, sich das Gaumensegel aber absenken kann, also bis zu einem gewissen Grad beweglich ist. Die lateinische Terminologie ist zusätzlich angegeben, weil die Bezeichnung der einzelnen Laute auf sie zurückgreift. 1. Nasenraum oder Nasenhöhle (cavum nasi) 2. Lippen (labia) mit 2a. Oberlippe (labium superiore) und 2b. Unterlippe (labium inferiore) 3. Zähne (dentes) mit 3a. Oberzähne (dentes superiores) und 3b. Unterzähne (dentes inferiores) 4. Zahndamm oder Zahnfach (alveolum) 5. harter Gaumen (palatum) 6. weicher Gaumen (velum) 7. Zäpfchen (uvula) 8. Mundraum oder Mundhöhle (cavum oris) 9. Zunge (lingua) 10. Zungenspitze (apex) mit Vorderzunge oder Zungensaum (corona) 11. Zungenrücken (dorsum) 30 12. hinterer Zungenrücken (postdorsum) mit Zungenwurzel (radix linguae) 13. Kehlkopfdeckel (epiglottis) 14. Rachen oder Rachenraum (pharynx) 15. Luftröhre (trachea) 16. Kehlkopf (larynx) 17. Speiseröhre (oesophagus) 18. Stimmlippen oder Stimmbänder (ligamenta vocales) mit Stimmritze (glottis) Abbildung 15: Die Sprechorgane 13.2.2 Klassifizierung der Laute Eine erste große Differenzierung der Laute lässt sich üblicherweise vornehmen in die Gruppen der Vokale und der Konsonanten. Bei der Bildung von Vokalen erzeugt der Kehlkopf den sogenannten Primärklang. 30 Der Zungenrücken kann ferner unterschieden werden in vorderer (Prädorsum), mittlerer (Mediodorsum) und hinterer Zungenrücken (Postdorsum, siehe Punkt 12). 18 1 2a 3a 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 2b 3b <?page no="65"?> Phonetik 59 Gelangt die Ausatmungsluft relativ ungehemmt durch den geöffneten Mundraum, dann entsteht ein Vokal. Bei der Bildung von Konsonanten werden im Mundraum Hemmstellen aufgebaut, die als Sekundärklangquelle dienen. Wird die Ausatmungsluft an einer bestimmten Stelle des Ansatzrohres auf spezifische Weise gehemmt, dann entsteht ein Konsonant. 13.2.3 Beschreibung der Konsonanten Zunächst sollen die Konsonanten der russischen Sprache im Überblick dargestellt werden (Tabelle nach K ARAULOV 1998: 520, ergänzt um die deutschen Bezeichnungen): Губные (Labiale) Переднеязычные (Prädorsale) Заднеязычные (Postdorsale) Способ образова ния (Artikulationsmodus) Активный действующий орган (Artikulationsstelle) твёрдые (harte) мягкие (weiche) твёрдые мягкие Средне язычные (Mediodorsale) твёрдые мягкие Взрывные (Plosive) п б п ’ б ’ т д т ’ д ’ к г к ’ г ’ Одно фокусные ц Аффри каты (Affrikaten) Двух фокусные ч Смычные (Klusile) Носовые (Nasale) м м ’ н н ’ Однофокусные (mit einer Artikulationsstelle) ф в ф ’ в ’ с з с ’ з ’ j Срединные (Mediallaute) Двухфокусные (mit zwei Artikulationsstellen) ш ж т ’ х х ’ Щелевые (Frikative) Боковые (Laterale) л л ’ Дрожащие (Vibranten) р р ’ Abbildung 16: Konsonantensystem der russischen Sprache Anmerkungen: In anderen Darstellungen wird für „ Активный действующий орган “ die Bezeichnung „ Место образования “ verwendet. Auch lässt sich noch weiter nach stimmhaften und stimmlosen Konsonanten differenzieren, die in obiger Grafik in einem gemeinsamen Tabellenfeld angeordnet sind (stimmlose Konsonanten stehen jeweils in der linken, stimmhafte in der rechten Hälfte des Feldes). Und schließlich ist leider der Hinweis angebracht, dass es kaum zwei Übersichten über die russischen Konsonanten gibt, die in ihrer Darstellung, Einteilung und Benennung einheitlich sind. Weiteres zur terminologischen Bezeichnung der Laute im Russischen siehe bei M ULISCH 1993: 46f. <?page no="66"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 60 Aufgaben: 1. Machen Sie sich (z.B. bei G ABKA 1975: 28-35 oder M ULISCH 1993: 38-41) mit der phonetischen Umschrift nach der API / IPA und der auf dem russischen Alphabet basierenden Notation nach A VANESOV vertraut und vergleichen Sie die beiden Systeme. Gibt es signifikante Unterschiede? Zentral ist die Unterscheidung nach folgenden Kriterien: 1. Artikulationsart / -modus ( способ артикуляции ; Beschreibung der Hemmstelle); 2. Überwindungsmodus ( способ преодоления преграды ; Wie überwindet die Ausatmungsluft die Hemmstelle? ); er hängt mit dem Artikulationsmodus zusammen; 3. Artikulationsstelle ( место артикуляции ; Wo wird der Laut im Ansatzrohr gebildet? Welche passiven Organe sind an der Lautbildung beteiligt? ); 4. Artikulationsorgan ( артикуляторный / активный орган ; Organ, das aktiv an der Lautbildung beteiligt ist). Konsonanten werden generell unterteilt in: • Sonorlaute (Sonoranten): dies sind die Labiale m, n sowie die Liquida l, r; j (im Russischen stets stimmhaft! ) • Geräuschkonsonanten: dies sind die übrigen Konsonanten, entweder stimmhaft oder stimmlos Beispiele zu 1. Artikulationsart/ -modus: [b d g p t k] [b’ d’ ´ g ´ p t’ k’] Artikulationsmodus: Verschluss Verschlusslaute, Klusile [t ¿ s (< ц >) t’ ¿∫ ‘ (< ч >) d ¿ z d’ ¿É ‘] ([ ∫ ] = < ш > [ É ] = < ж >) Artikulationsmodus: Verschluss und zentrale Enge [r ´r] Artikulationsmodus: unterbrochener Verschluss [J l’] Artikulationsmodus: seitliche Enge Seitenenge Laute, Laterale [m n ´ m ´ n] Artikulationsmodus: Nasenöffnung Nasale [f v s z ∫ É x j] ([ ∫ ] = < ш > [ ∫ ‘: ] = < щ >) [f’ ´ v ´ s ´ z ∫ ‘: ´É : ´ x] ([ É ] = < ж > [ ´É : ] = < жж >, < зж > (Assimilation)) Artikulationsmodus: Enge Beispiele zu 2. Überwindungsmodus: [b d g p t k] [b’ d’ ´ g ´ p t’ k’] Überwindungsmodus: Explosion Explosivlaute, Explosive, Plosive <?page no="67"?> Phonetik 61 [t ¿ s (< ц >) t’ ¿∫ ‘ (< ч >) d ¿ z d’ ¿É ‘] Überwindungsmodus: Explosion und Reibung Affrikaten [r ´r] Überwindungsmodus: Vibrieren Vibranten [J l’] Überwindungsmodus: Fließen Liquidlaute [m n ´ m ´ n] Überwindungsmodus: Fließen Liquidlaute [f v s z ∫ É x j] [f’ ´ v ´ s ´ z ∫ ‘: ´É : ´ x] Überwindungsmodus: Reibung Reibelaute, Frikative Beispiele zu 3. Artikulationsstelle: [p ´ p b b’ m ´ m] Oberlippe Labiale [t d t ¿ s d ¿ z f f’ v ´ v J n] Zähne Dentale im Russ. werden [t, d] weiter vorne gesprochen als im Dt. [t’ d’ l’ ´ n] Übergang Zähne/ Alveolen dental-alveolare Laute Zungenspitze hinter unteren Schneidezähnen, vorderer Zungenrücken drückt gegen Palatum [r ´ r s z ∫ É] oberes Zahnfleisch Alveolare ´[ s ´ z t’ ¿∫ ‘ d’ ´¿ É ∫ ‘: ´É : ] oberes Zahnfleisch / vorderer Teil des Palatums alveolar-präpalatale Laute [j] mittlerer Bereich des Palatums mediopalataler Laut [k’ ´ g ´ x] hinterer Bereich des Palatums postpalatale Laute [k g x] weicher Gaumen (Velum) Velare Beispiele zu 4. Artikulationsorgan: [p b m f v ´ p b’ ´ m f’ ´ v] [p b m] Unterlippe aktiv (Oberlippe passiv) Bilabiale Labiale [f v] Unterlippe aktiv (Oberzähne passiv) Labio-dentale [t d t ¿ s d ¿ z J n ∫ É s z] Vorderzungenrand (Korona) Koronale [r] Zungenspitze Apikale [d’ t’ l’ ´ n ´ r ´ s ´ z t’ ¿∫ ‘ d’ ´¿ É ∫ ‘: ´É : ] vorderer Teil des Zungenrückens (Prädorsum) Prädorsale [j k’ ´ g ´ x] mittlerer Teil des Zungenrückens Mediodorsale [k g x] hinterer Teil des Zungenrückens Postdorsale • Ein stimmloser Laut ( глухой звук ) entsteht nur aus dem Sekundärschall an der Hemmstelle; die Stimmlippen im Kehlkopf schwingen nicht, lassen aber Luft durch. <?page no="68"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 62 • Ein stimmhafter Laut ( звонкий звук ) entsteht aus dem Primärschall am Kehlkopf und aus dem Sekundärschall an der Hemmstelle; die Stimmhaftigkeit entsteht aus den Vibrationen der Stimmlippen (bis zu mehrere hundert Mal pro Sekunde). • Ein palataler / weicher Konsonant ( палатализованный / мягкий согласный ) entsteht, im Gegensatz zu einem nichtpalatalen / harten Konsonanten ( непалата лизованный / твёрдый согласный ), dadurch, dass sich bei der Artikulation die Zunge als Ganzes im Mundraum weiter nach vorne schiebt und in Richtung auf den vorderen, harten Gaumen (Palatum) anhebt. Je nach Konsonant fällt diese nach vorne gerichtete Aufwärtsbewegung jedoch immer minimal anders aus (Näheres hierzu bei G ABKA 1975: 64). • Der Knacklaut (Verschlusslaut; гортанная смычка , кнаклаут ) entsteht, wenn die Stimmlippen geschlossen werden und die so gestaute Luft dann plötzlich freilassen (im Deutschen typisch vor einem vokalisch anlautenden Wort oder einer vokalisch anlautenden Silbe: in ║ einer ║ Injektion, auf ║ erstehen, an ║ eignen). Eine für das Russische (wie auch für das Deutsche, nicht jedoch für alle slavischen Sprachen! ) typische lautliche Erscheinung ist die Entstimmlichung im absoluten Wortauslaut (Auslautverhärtung, Stimmtonverlust; оглушение ( в абсолютном конце слова )). Hierbei werden stimmhafte Konsonanten (v.a. stimmhafte Geräuschkonsonanten) im Auslaut stimmlos, d.h. sie verlieren ihr (distinktives) Merkmal der Stimmhaftigkeit (Bsp.: хлеб [~p], нов [~f], город [~t]). Dies gilt auch für Gruppen von aufeinander folgenden stimmhaften Konsonanten, in denen die sog. Assimilation der Stimmhaftigkeit wirkt (Bsp.: поезд [~st], дождь [~ ‰ t’]; mehr hierzu weiter unten im Kap. „Assimilation“). Entstimmlichung tritt auch ein in Wortverbindungen, wenn das folgende Wort mit Vokal oder Sonorlaut beginnt (Bsp.: против , близ , сквозь , вокруг ; ведь , уж : против этого [~f~], близ автобуса [~s~]; Sonorlaute sind die Nasale m und n, die Liquida l und r sowie das j) . Werden zwei Wörter mit eigenständiger lexikalischer Bedeutung (wie Substantive, Verben, Adjektive) miteinander verbunden, so tritt stets Entstimmlichung ein, wenn das zweite Wort mit einem Vokal oder Sonorlaut oder [v/ ´ v] beginnt (Bsp.: голубь улетел [~pu]). 13.2.4 Beschreibung der Vokale Bei der Bildung von Vokalen wird der Resonanzkörper durch Zungen und Lippen verändert. Die Unterteilung der Vokale erfolgt gemäß den folgenden Faktoren: 1. horizontale Zungenbewegung: Vokale der vorderen (helle Vokale) - mittleren - hinteren (dunkle Vokale) Reihe 2. vertikale Zungenbewegung: hohe - mittlere - tiefe Zungenlage 3. Lippentätigkeit: ungerundete Vokale (a, e, i), illabiale Vokale - gerundete Vokale (o, u), labiale Vokale 4. Öffnungsgrad (Zahnreihenabstand): geschlossene / gespannte Vokale (geringer Öffnungsgrad, Artikulationsmuskulatur angespannt) - offene / ungespannte Vokale (größerer Öffnungsgrad, Artikulationsmuskulatur nur schwach angespannt) <?page no="69"?> Phonetik 63 Diphthonge ( дифтонг , двугласный ; Gegenteil: Monophthonge, монофтонг ) sind vokalische, artikulatorisch untrennbare (d.h. nicht auf zwei Silben verteilbare) Doppellaute mit der Betonung auf dem 1. Element (fallender Diphthong; Bsp. [a I ] in dt. Mais) oder auf dem 2. Element (steigender Diphthong; Bsp. [wa] in frz. trois); selten ist eine auf beiden Elementen gleich starke Betonung (schwebender Diphthong). 31 Der Status der Diphthonge ist umstritten: Handelt es sich um ein oder zwei Phoneme? Aufgaben: 1. Gibt es in der russischen Sprache der Gegenwart Diphthonge, und wenn ja, welche? Was passierte mit den im Indogermanischen vorhandenen Diphthongen? Vergleichen Sie die Situation mit der aktuellen deutschen Sprache. Zur grafischen Veranschaulichung der in einer Sprache vorhandenen Vokale zieht man üblicherweise das sog. Vokaltrapez oder Vokalviereck heran, das die Artikulationsstelle der einzelnen Vokale (Monophthonge) zeigt. Das im Folgenden abgebildete Vokalinventar (Grafik adaptiert nach http: / / www.linguiste.org/ phonetics/ ipa/ chart/ ) ist umfangreicher als das im Russischen (und im Deutschen) vorhandene. Es kann insofern eine gewisse Universalität beanspruchen, als es auch für andere slavische, germanische, romanische etc. Sprachen Gültigkeit besitzt. Abbildung 17: Allgemeines Vokaltrapez Für die russische Sprache soll hier eine vereinfachte Version mit sechs Lauten ausreichen. Die Laute [o] und [y] der hinteren Vokalreihe sind labialisiert, d.h. werden mit gerundeten Lippen ausgesprochen, während [e] und [ и ] in der vorderen Reihe mit gespreizten Lippen realisiert werden. Der Laut [a] nimmt in dieser Hinsicht eine Mittelposition ein. Der Laut [ ъ ] ist der dumpfe Zentralvokal: 31 Vom Diphthong zu unterscheiden ist der Hiat(us) ( хиатус ), der das Aufeinandertreffen zweier gleicher oder verschiedener Vokale an einer Silben- oder Wortgrenze bezeichnet: эта ║ органи зация , ко║операция . vordere mittlere hintere geschlossene halbgeschlossene halboffene offene i y G À P u I Æ Á e n 5 V B o 6 8 œ 9 = à 1 æ a W # $ % <?page no="70"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 64 Abbildung 18: Vokaltrapez der russischen Sprache Um allen nur möglichen Lautrealisierungen der russischen Sprache Rechnung zu tragen, müsste die obige Grafik noch differenziert werden nach betonten und unbetonten Vokalen sowie nach deren lautlicher Umgebung, die zusätzliche, bisweilen minimale Ausspracheveränderungen hervorrufen kann (Näheres hierzu u.a. bei G ABKA 1975: 94). 13.2.5 Die Laute im Redefluss Laute erscheinen in der gesprochenen Sprache nicht isoliert, sondern in Kombination mit anderen Lauten, die sie artikulatorisch beeinflussen und von denen sie selbst beeinflusst werden. In der Redekette werden die einzelnen Laute, je nach Position, unterschiedlich stark betont und mit unterschiedlicher Stimmführung realisiert. Man spricht hier von prosodischen Elementen ( просодические элементы ). Zur Prosodie gehören: • Betonung ( ударение ; Haupt- und Nebenbetonungen, Unbetontheit, Vor- und Nachtonigkeit, d.h. die lautliche Veränderung unbetonter, vor oder nach dem Akzent stehender Vokale), • Tonhöhe ( высота тона ; ist im Deutschen wie im Russischen als nicht-tonale Sprachen phonologisch irrelevant, im Gegensatz zu sogenannten tonigen oder tonalen Sprachen wie dem Chinesischen, wo eine Tonhöhenveränderung eine Bedeutungsveränderung bewirken kann). Vergleiche bei den folgenden Beispielen Graphie und Lautung: через поле [t' ‰ 'IrIsp"Ol'I], через [t' ‰ 'erIs]. Die Akzentstelle sorgt für eine veränderte Aussprache (Reduktion unbetonter Volale; s.u.). Zur Kombinationslehre: Es existieren drei wichtige phonetische Erscheinungen, die nur jenseits der Grenze eines isolierten Lautes einen Sinn ergeben: • Silbe, • Wortakzent / Wortbetonung, • Koartikulation. hohe mittlere Zungenlage tiefe vordere mittlere hintere Vokalreihe a и e y o ъ <?page no="71"?> Phonetik 65 Jede Silbe ( слог ) weist einen Silbengipfel oder Silbenkern (einen Silbenträger; вер шина слога ) auf, der aus dem Laut mit der größten Schallfülle besteht. Dies ist für gewöhnlich ein Vokal, es gibt jedoch (auch slavische) Sprachen, in denen silbische Konsonanten den Silbengipfel bilden können. 32 Es gibt offene Silben (enden auf einen Vokal; открытый слог ) und geschlossene Silben (enden auf einen Konsonanten; закрытый слог ). Der Wortakzent ( словесное ударение ) betont eine Silbe des Wortes; man spricht daher auch von der Wortbetonung. • Im Russischen wie im Deutschen überwiegt der dynamische Akzent ( динами ческое ударение ), d.h. die Hervorhebung der betonten Silbe erfolgt im Vergleich zur unbetonten Silbe durch eine größere Exspirationsstärke (Druckstärke; die Luft wird also mit höherem Druck aus den Lungen durch das Ansatzrohr gepresst). • In längeren, zusammengesetzten Wörtern kann neben dem Hauptakzent ( глав ное ударение ) noch ein schwächerer Nebenakzent ( побочное ударение ) auftreten. Eine Kennzeichnung des Hauptakzents erfolgt bei Bedarf durch den Akut ( ´ ), die des Nebenakzents durch den Gravis ( L ). Bsp.: сл Lовообразов´ание . • Charakteristisch für die russische Sprache ist die regelhafte (d.h. nicht im Ermessen des einzelnen Sprechers liegende) Akzentmobilität ( разноместность ударения bzw. подвижность ударения ), die bewirkt, dass die Betonung nicht immer auf eine feste Silbe fallen muss. Diese Akzentmobilität äußert sich zum Einen als freier Akzent und zum Anderen als beweglicher Akzent, was voneinander zu unterscheiden ist: • Der freie Akzent ( свободное ударение , разноместность ударения ) bedeutet, dass die Betonung theoretisch (und praktisch) auf jede Silbe eines Wortes fallen kann, im Gegensatz zum gebundenen Akzent beispielsweise des Türkischen oder Französischen (wenn nicht durch Akzent anders kenntlich gemacht, wird stets die letzte Silbe eines Wortes bzw. eines phonetischen Wortes [Gruppe von lautlich zusammengezogenen Wörtern] betont) oder des Tschechischen, Ungarischen, Slowakischen (die Betonung liegt hier stets auf der ersten Silbe). • In der Formenbildung existiert sowohl der feste Akzent ( постоянное ударение ) als auch der bewegliche Akzent ( подвижное ударение , подвижность ударе ния ). Beim festen Akzent bleibt die Betonung in allen Formen des Paradigmas auf derselben Silbe, beim beweglichen Akzent kann sie im Wort nach vorne oder hinten wandern. Bsp. für den festen Akzent: сид ´еть , ( я ) сиж´у , ( ты ) сид´ишь , ... ( они ) сид ´ят , сид´ящий , сид´евший ; Bsp. für den beweglichen Akzent: стон´ать , ( я ) стон ´у , ( ты ) ст´онешь , ... ( они ) ст´онут , ст´онущий , стон´авший . • Im Russischen wie auch in vielen anderen Sprachen besitzen die sogenannten Synsemantika (Hilfswörter; служебное слово ; vgl. Kap. 13.10) i.d.R. keinen eigenen Wortakzent; verschmelzen sie mit dem zugehörigen Autosemantikon 32 Beispiele aus dem Serbischen/ Kroatischen/ Bosnischen für den silbenbildenden Liquidlaut r: brz ‚schnell’, prst ‚Finger’, zvrk ‚Kreisel’, aus dem Tschechischen: první ‚erster’, für das silbenbildende l im Tschechischen: plný ‚voll’, vlk ‚Wolf; Kreisel’. Der silbenbildende Charakter der Laute l und r wird in der phonetischen Umschrift wie folgt markiert: [ ° l , ° r]. <?page no="72"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 66 (Begriffswort mit eigener lexikalischer Bedeutung; знаменательное слово 33 ; vgl. Kap. 13.10) zu einem phonetischen Wort ( фонетическое слово ), so spricht man von Klitika (Sg. Klitikon; von griech. egklínein ‚(sich) neigen’; клитика ), die in dieser Funktion nie isoliert auftreten: als Proklitikon ( проклитика ) schließen sie sich dem folgenden Wort an (Bsp.: он стоит | на горе ) oder als Enklitikon ( энклитика ) dem vorausgehenden (Bsp.: я же | говорил ). Zu beachten sind jene Fälle, in denen eine an sich klitische Form die Betonung auf sich zieht, wie etwa bei умереть с ´о смеху ,sich totlachen’, поднять кого л . н´а смех ‚jn. auslachen’, ходить п ´о воду ‚Wasser holen gehen’, сделать что л . н´а спор ‚etw. tun, um eine Wette zu gewinnen’. Bei der Koartikulation ( коартикуляция ) überlagern sich im Redefluss die Artikulationsbewegungen der Sprechorgane, indem die Artikulation des nächsten Lautes bereits einsetzt, bevor die Bildung des vorangehenden Lautes abgeschlossen ist. So entsteht eine flüssige Aneinanderreihung der einzelnen Laute. Die Lautbildung gliedert sich in drei Phasen: • Lauteinsatz / Anglittphase: die Sprechwerkzeuge bewegen sich aus ihrer aktuellen Position in diejenige Stellung, die zur Artikulation des Folgelautes erforderlich ist, • Mittelphase / Haltephase: die Sprechwerkzeuge halten für eine gewisse Zeit ihre Stellung, • Lautabsatz / Abglittphase: die Sprechwerkzeuge verlassen ihre Stellung (um sich in eine neue Position zu begeben). Vergleiche diese 3 Phasen z.B. bei den Verschlusslauten: 1) Verschlussbildung (Implosion), 2) Verschlusshalten (Plosion), 3) Verschlusslösen (Explosion). 13.2.5.1 Assimilation Assimilation ( ассимиляция ) bedeutet Angleichung oder Ähnlichmachung von zwei oder mehr benachbarten Lauten nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Zu unterscheiden sind: • nach der Wirkungsrichtung der Assimilation die für das Russische charakteristische o regressive Assimilation ( регрессивная ассимиляция ; wirkt vom folgenden auf den vorausgehenden Konsonanten): „ Р . [ Регрессивная - T.B.] фонети ческая ассимиляция , в отличие от сравнительно редкой прогрессивной ассимиляции ( см .) встречается в индоевропейских языках очень часто . Примеры Р . фонетической ассимиляции по деятельности голосовых свя зок : говорится лотка вместо лодка ( глухое к уподобляет предшест вующее ему первично звонкое д и обращает его в глухое , лишенное голо сового тона т ), здача вместо сдача ( звонкое д уподобляет себе глухое с , придавая ему голосовой тон и обращая его в звонкое з ).“ ( Энциклопе дический словарь Брокгауза и Ефрона , Eintrag „ Регрессивная фонети - 33 Hierzu zählen v.a. Substantive, Verben, Adjektive. Im Gegensatz hierzu ist ein Synsemantikon ein Wort ohne eigene bzw. mit stark eingeschränkter, abstrahierter lexikalischer Bedeutung, v.a. Präpositionen, Artikel. <?page no="73"?> Phonetik 67 ческая ассимиляция “, zit. nach http: / / www.vashpereezd.ru/ word_86133.html ); und daneben die vergleichsweise selten anzutreffende o progressive Assimilation ( прогрессивная ассимиляция ; wirkt vom vorausgehenden auf den folgenden Konsonanten): „ Примерами П . [ Прогрессивной - T.B.] фонетической ассимиляции по деятельности голосовых связок могут служить случаи вроде летописного Тферь вместо Тверь ( уже в XIV в .), наших областных форм вроде фост , фастать , фатера вместо хвост , хвастать , квартира , сербск . фалим = хвалим и т . д .“ ( Энциклопедический словарь Брокгауза и Ефрона , Eintrag „ Прогрессивная фонетическая асси миляция “, zit. nach http: / / www.vashpereezd.ru/ word_83273.html ). Die für einen Überblick über phonetische und phonologische Erscheinungen zu empfehlende Seite http: / / www.tula.net/ tgpu/ resources/ yazykozn/ jaz_zn_7.htm führt ein deutsches Beispiel an: „ Так , немецкое существительное Zimmer образовалось от старого слова Zimber: предшествующее m уподобило себе последующее b, обра зовав два одинаковых звука .“; • nach dem Umfang der Assimilation die o partielle Assimilation ( частичная ассимиляция ): der vorausgehende Konsonant übernimmt ein Merkmal des folgenden; Bsp.: сдать ( с wird stimmhaft durch den Einfluss von д ), und die o völlige Assimilation ( полная ассимиляция ): der vorausgehende Konsonant gleicht sich dem folgenden an; Bsp.: подтирать ( д wird durch den Einfluss von т stimmlos und palatalisiert: Aussprache von дт ’ т ’ т ’ [ t’: ]), выезжать ( з wird durch Einfluss von ж selbst zum ж , ändert also seinen Lautwert komplett: Aussprache von зж жж [ É: ]), • nach der Entfernung der von der Assimilation betroffenen Laute zueinander die o Kontaktassimilation ( контактная ассимиляция ): Die einander beeinflussenden Laute stehen in unmittelbarer Abfolge. Bsp.: lat. ad-simulare assimilare, russ. Beispiele s.o., und die o Fernassimilation ( дистантная ассимиляция ): Die einander beeinflussenden Laute sind durch einen oder mehrere andere Laute voneinander getrennt. Bsp.: lat. ad-simulare assimilare, russ. хулиган прост . хулюган , сейчас прост . ч ичас (russ. Beispiele nach J ARCEVA 1998: 48). Bei der Assimilation werden generell folgende Erscheinungsformen gegeneinander abgegrenzt: • regressive vs. progressive Assimilation; • partielle vs. völlige Assimilation; • Kontaktassimilation vs. Fernassimilation. Hinsichtlich der Qualität der Assimilation werden unterschieden: • Assimilation der Stimmhaftigkeit (Stimmassimilation; ассимиляция по глу хости звонкости ) Der assimilierte Laut - betroffen sind alle Geräuschkonsonanten außer [v / ´ v] - verliert sein Merkmal der Stimmhaftigkeit bzw. Stimmlosigkeit. <?page no="74"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 68 o stimmhaft + stimmlos stimmlos + stimmlos улыбка [~pk~], лавка [~fk~], из села [~ ´ s : ~], перед тобой [~t : ~] o [r / l / (m)] + stimmlos stimmlos + stimmlos рта [ ° rt~] , льстить [ ° ls~] o stimmlos + stimmhaft (außer [v, ´ v]) stimmhaft + stimmhaft отбор [~db~], к жене [g É ~] Folgendes ist im Hinblick auf v / ´ v zu beachten: o [v, ´ v] besitzen keine eigene Assimilationskraft, können aber selbst assimiliert werden! Bsp.: с воза [sv~], от Веры [~tv~] (keine Assimilation! ), aber лавка [~fk~] (Assimilation! ); vor [v, ´ v] stehen Konsonanten also in der sog. starken Position, d.h. sie verlieren nicht ihre distinktiven Phonemmerkmale, in diesem Fall also die Stimmhaftigkeit (hierzu mehr weiter unten) o [v, ´ v] bilden keine Assimilationsgrenze, d.h. über sie hinaus kann Assimilation stattfinden! Bsp.: от вдовы [~dvd~], путь в бой [~d’vb~] o wie auch [v, ´ v] besitzen [r, ´ r, l, l’, m, ´ m] keine eigene Assimilationskraft, können also einen vorstehenden Konsonanten nicht stimmhaft machen • Assimilation der Palatalisierung (Palatalisierungsassimilation; ассимиляция по мягкости , палатальная ассимиляция ) Der assimilierte Laut verliert sein Merkmal der Palatalität/ Weichheit bzw. Nichtpalatalität/ Härte bei folgenden Lautkombinationen: o [t, d] vor [t’, d’, ´ n, l’] отт енок [~t’ : ~]; идти [~t’ : ~] (Stimmass. + Palatalisierungsass.) o [s, z] vor [t’, d’, ´ s, ´ z, ´ n, l’] ст ирать [ ´ st’~] o [n] vor [t’, d’, ´ s, ´ z, ´ n] инт ерес [~ ´ nt’~] o [n] vor [t’ ¿‰ ’, ‰ ’ : ] стаканч ик [~ ´ nt’ ¿‰ ’~], бетонщик [~ ´ n ‰ ’ : ~] (in diesen Fällen ist nur Palatalisierung möglich, Ausnahme! ) o [t, d, s, z] vor ´[ p, b’, ´ m, f’, ´ v] четв ерть [~t ´ v~ / ~t’ ´ v~] (palatale und nichtpalatale Aussprache möglich! ) o [v] vor [ ´ v, f’] вв язываться [ ´ v : ~]; в фигуре [f’ : ~] (Stimmass. + Palatalisierungsass.) o harter Konsonant vor [j] с юга [s~ / ´ s~] (beide Varianten möglich) Merke: o Verben in der 2. Pers. Sg. auf шь sind immer hart: [ ‰ ] o шесть entweder [ ‰8·´st’ ] oder [ ‰8st ] ( ш ist dagegen immer hart! ) o reflexive Infinitivendung ться [t : ¿s6 ], т = hart, ь entfällt in der Aussprache • Assimilation der Artikulationsstelle ( ассимиляция по месту артикуляции ) Der assimilierte Laut, ein dentaler Engelaut, verliert seine konstitutiven Merkmale und gleicht sich völlig dem assimilierenden Laut, einem Postalveolar, an, wo- <?page no="75"?> Phonetik 69 durch es zur Bildung von Langkonsonanten kommt. Die möglichen Lautkombinationen sind: o [s, z] vor [ ‰ , É , t ¿‰ ’, ‰ ’ : ] сж еть [ É: 8· t ¿‰ ’] (Stimmass. + Ass. der Artikulationsstelle) рассказч ик [r à sk ûa·‰ ’ : I k] (Stimmass. + Palatalisierungsass. + Ass. der Artikulationsstelle) Bei der Qualität der Assimilation werden unterschieden: • Assimilation der Stimmhaftigkeit; • Assimilation der Palatalisierung; • Assimilation der Artikulationsstelle. Das Gegenteil der Assimilation ist die Dissimilation ( диссимиляция , расподобле ние ), bei der sich zwei Laute noch weiter voneinander entfernen: мяг кий , лёг кий , лег че [ « ], конеч но [ ‰ ], ч то [ ‰ ]. In der Online-Ausgabe des Ė nciklopedi č eskij slovar' von F. A. B ROKGAUZ und I. A. E FRON heißt es hierzu unter http: / / www.workmach.ru/ word_36352.html : „ Диссимиляция или расподобление - фонетическое изменение , относящееся к классу комбинаторных ( см .) изменений . [...] Условия , необходимые для на ступления процесса Д .: 1) смежные согласные гомоорганны ( произносятся одними и теми же органами речи ) и притом тожественны или почти то жественны по способу образования . Так , в сочетаниях гомоорганных , взрывных : дт , тт , гк , кк первый взрывной превращается в спирант ( при дувной ) того же органа , так что получаются сочетания cm, хк ( веду - вести , мету - мести , легок - лехкий , мякиш - мяхкий и т . д .). 2) Смежные согласные хотя и не гомоорганны , но тожественны в отношении способа образования ( на пример оба взрывные ). Так , сочетания из гетероорганных звуков к , г + т , д ( первые - заднеязычные , вторые - переднеязычные ) представляют диссимиля цию первых членов в спиранты в следующих случаях : кто произносится часто хто , когти - как кохти , всегда - как всеγда ( со звонким х , т . е . γ ) и т . д . Д . подвергаются и сложные согласные : чн = тшн дает шн ( конечно произносится часто как конешно ), чт = тшт дает шт ( что произносится как што ), и т . д .“ 13.2.5.2 Akkomodation Als Akkomodation ( аккомодация ) bezeichnet man die Anpassung betonter Vokalphoneme an ihre benachbarten harten bzw. weichen Konsonanten, d.h. die Beeinflussung betonter Vokale hinsichtlich der Palatalität durch ihre Konsonantenumgebung. So steht beispielsweise nach hartem Konsonant kein [i], sondern nur [ G ] (s.o.) Die Artikulation der betroffenen Vokale verschiebt sich mehr nach vorne oder mehr nach hinten, sie gelangen also in eine andere Reihe (vgl. das Vokalviereck). Die entstehenden Laute sind stellungsbedingte Varianten ( позиционный ва риант ) des jeweiligen Phonems, da nur das phonologisch redundante Merkmal der Reihe betroffen ist. Je nach ihrer Stellung unterteilt man Vokale generell in betonte und unbetonte. <?page no="76"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 70 Unbetonte Vokale werden „reduziert“, d.h. sie behalten nicht mehr ihren vollen Lautwert (siehe folgendes Kap.). Bei den betonten Vokalen gibt es für jedes Vokalphonem vier Varianten, zu deren Notation ein Punkt die Position des weichen Konsonanten zum Vokal angibt. Es gelten folgende Akkomodationsregeln: • Vokal zwischen harten Konsonanten (im Wesentlichen progressive Akkomodation): [ a 8 G 1 u] (nach hartem Kons. steht kein [i]; zur Erinnerung: Graphie und Lautung dürfen nicht verwechselt werden, s. das Bsp. цирк : geschrieben <i>, gesprochen [ G ]) Bsp.: пыл [p GJ ] • Vokal nach hartem und vor weichem Konsonanten (im Wesentlichen progressive Akkomodation): [ a· 8· G· 1· u·] Bsp.: пыль [p G· l’] • Vokal nach weichem und vor hartem Konsonanten (progressive Akkomodation): [ ·a ·8 i ·1 ·u] Bsp.: идёт [ I d’ û·1t ] • Vokal zwischen weichen Konsonanten (gleichzeitig progressive und regressive Akkomodation): [ ·a· e i· ·1· ·u·] (eine alternative Schreibweise notiert [ä, ê, î, ö, ü]) Bsp.: пить [ ´ p i· t’] Aufgaben: 1. Warum notiert man für die Phoneme / e/ und / i/ sowohl [ 8 ] und [ G ] als auch [ e ] und [ i ]? Warum kann in bestimmten Fällen (und in welchen Fällen? ) auf die Setzung des Punktes auf der Seite des palatalen Konsonanten verzichtet werden? 13.2.5.3 Vokalreduktion Die Vokalreduktion ( редукция гласных ) betrifft nur die unbetonten Vokalphoneme (alle betonten Vokale werden mit ihrem vollen Lautwert, wie er auch grafisch repräsentiert wird, ausgesprochen). Während sich unter dem Ton stehende Vokale in starker Position befinden, spricht man für die unbetonten Vokale von einer schwachen Position, da sie einen Teil ihres Lautwertes verlieren. Es wird zunächst differenziert nach quantitativer Reduktion und qualitativer Reduktion: • quantitative Reduktion ( количественная редукция ): betrifft die Länge aller Vokale / a/ , / 8 / , / 1 / , / i/ und / u/ Es existieren 2 Reduktionsstufen (im Verhältnis zur Länge eines betonten Vokals): 34 o 1. vortonige Silbe: I. Reduktionsstufe = ½ Vokallänge o 2., 3., ... vortonige Silbe (wenn nicht Anlaut): II. Reduktionsstufe = ¼ Vokallänge o nachtonige Silben: II. Reduktionsstufe = ¼ Vokallänge 34 API und die russische phonetische Notation verwenden auch hier unterschiedliche Zeichen. Für die russische Notierung vgl. u.a. K UDRJAVCEVA (2006: 14). <?page no="77"?> Phonetik 71 o Anlaut (unabhängig von der Stufe der Vortonigkeit): I. Reduktionsstufe = ½ Vokallänge (die Vokalbuchstaben я , ю , е , ё bezeichnen im Wortanlaut das Konsonantphonem / j/ + das entsprechende Vokalphonem / a / , / u / , / 8 / , / 1 / ) Beispiele: Wortbeispiel погов´орка изуч´аем высып´авший тридцатил´етний Reduktionsstufe II I 0 II I I 0 II II I 0 II II II I 0 II Vokallänge ¼ ½ 1 ¼ ½ ½ 1 ¼ ¼ ½ 1 ¼ ¼ ¼ ½ 1 ¼ phonet. Umschrift [p 6 g à v û ork 6 ] [ I zu t¿‰’ûaçII m] [v I s I p û af ‰IçI ] [tr It¿s6 t I l’ û et ´ n IçI ] Wortbeispiel м´ясо мясн´ой молок´о мол´ очный Reduktionsstufe 0 II I 0 II I 0 I 0 II Vokallänge 1 ¼ ½ 1 ¼ ½ 1 ½ 1 ¼ phonet. Umschrift [m’ ûa s 6 ] [m’ I sn û o çI ] [m 6 l à k û o] [m à l û o t¿‰’ n IçI ] • qualitative Reduktion ( качественная редукция ): bezieht sich auf die Klangfarbe gilt nur für / a/ , / 8 / , / 1 / ; dagegen werden / i/ und / u/ nicht qualitativ reduziert! In Abhängigkeit von den betroffenen Vokalphonemen und dem Ergebnis der Reduktion spricht man von Akanje und Ikanje. a) Akanje (Akan’e; ак a нье ) tritt auf nach harten Konsonanten Zusammenfall des Vokalphonems / o/ mit dem Vokalphonem / a/ in unbetonter Stellung, d.h. / a/ , / 1 / werden wie [ à , 6] gesprochen (gleiches gilt in einigen Fällen für / 8 / im Auslaut nach ж , щ , ц ) in I. Reduktionsstufe [ à ] (1. vortonige Silbe oder Anlaut) in II. Reduktionsstufe [ 6 ] b) Ikanje (Ikan’e; ик a нье ) tritt auf nach weichen Konsonanten / a / , / 8 / werden wie [ I] gesprochen in I. Reduktionsstufe [ I ] in II. Reduktionsstufe [ I ] auslautendes e [ I ] м ´оре [m û1·´rI ] auslautendes я (bzw. a nach щ , ч ) [ 6 ] -л ´а [ J a] м´а [ma] -л ´я [l’ · a] м´я [ ´ m · a] ль ´я [l’j û· a] мь´я [ ´ mj û· a] ’…лья [l’ çI6 ] ’…мья [ ´ m çI6 ] <?page no="78"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 72 Reduktion in Wörtern mit Nebenakzent Der Wortteil mit Nebenakzent wird wie ein selbständiges Wort behandelt. Bsp.: самолёто | стро ´ ение , п Lосле | во´енный , кLонтр | револ´юция [ 6 à ·1 6 à j · e · IçI6 ] Betroffen sind v.a. längere Kompositionsbildungen sowie Präfixbildungen. Viele allgemeingebräuchliche zusammengesetzte Wörter haben keinen Nebenakzent. Bsp.: водопров´од , паров´ оз , пылес´ос , профсо´юз Unbetonte Vokale in Fremdwörtern In Fremdwörtern oder Eigennamen aus nichtrussischen Sprachen unterbleibt die Reduktion unbetonter Vokale bzw. es findet nur eine quantitative Reduktion statt: • Aussprache [ 8 ] für / 8 / im Anlaut oder nach Vokal (Vokalbuchstabe э ): э кран , э волюция , э кономика , коэ ффициент • Aussprache [ 8 ] für / 8 / nach harten Konsonanten (Vokalbuchstabe е ): альте рнатива , инте рвью , Гёте • Aussprache [ 1 ] für / 1 / (Vokalbuchstabe о ): О телло , радио Bei der Reduktion unbetonter Vokale wir d zwischen qualitativer und quantitativer Reduktion unterschieden. 13.2.6 Zum grafischen System des Russischen Das Russische verfügt über eine Buchstabenschrift; bei der, im Gegensatz zur Silben- oder Wortbildschrift, die graphischen Zeichen (Grapheme) Sprachlaute bezeichnen. Das russische Alphabet der Gegenwart besteht aus 10 Vokalbuchstaben und 21 Konsonantbuchstaben (davon 15 zur Bezeichnung der paarig harten bzw. weichen Konsonanten und 6 zur Bezeichnung der unpaarig harten bzw. unpaarig weichen Konsonanten), 2 Grapheme (das Weichheits- und das Härtezeichen: ь , ъ ) besitzen keinen eigenen Lautwert (sie dienen nur der Modifizierung des Lautwerts andere r Buchstaben). Folgende unpaarig harte bzw. unpaarig weiche Konsonanten existieren im Russischen: ж , ш , ц bzw. ч , щ , й . Bei der Realisierung der kyrillischen Grapheme werden, wie auch in anderen Buchstabensprachen, Groß- und Kleinbuchstaben, Druck- und Schreibbuchstaben, Kursiv- und Fettbuchstaben unterschieden und als Allographe eines Graphems betrachtet. Die russische Orthographie verfährt überwiegend nach dem morphologischen Prinzip, demzufolge ein Morphem als kleinster bedeutungstragender Bestandteil eines Wortes in jeder Position seine Schreibung beibehält, wodurch lautlichen Veränderungen wie einer Akzentverlagerung und dadurch wechselnden Ausspracheverhältnissen der unbetonten Vokale keine Rechnung getragen wird: молок ´о - мо л´очный - молокос´ос . Dem morphologischen steht das phonetische Prinzip gegenüber, welches bewirkt, dass unter dem Einfluss der lautlichen Umgebung statt des zugrunde liegenden Phonems als kleinster bedeutungsunterscheidender Einheit der Sprache eine <?page no="79"?> Phonetik 73 Variante dieses Phonems gesprochen - und geschrieben - wird, beispielsweise die stimmlose Variante eines stimmhaften Konsonanten: бесп омощный , бескостный , im Gegensatz zu безг раничный , безответственный . Zu erwähnen sind ferner einige Fälle von historischer Schreibung, z.B. in den Endungen des Genitiv Sg. maskuliner Adjektive und Pronomina, die trotz ihrer modernen Aussprache [v] traditionell ого / его geschrieben werden. Groß- und Kleinschreibung ( прописные и строчные буквы ) Das Russische verfährt hinsichtlich der Verteilung von Groß- und Kleinbuchstaben so wie die anderen slavischen und die meisten westeuropäischen Sprachen. Groß geschrieben wird grundsätzlich am Satzbeginn, unabhängig von der in Anfangsposition des Satzes stehenden Wortart. Dies gilt üblicherweise auch für den Beginn einer Gedichtzeile. Ebenso werden Eigennamen von Personen, Einrichtungen, Organisationen, geographischen Orientierungspunkten (Städte, Flüsse, Gebirge, Landschaften, Länder etc.) stets groß geschrieben. Bei mehrgliedrigen Namen von Organisationen und Einrichtungen ist das erste Element unbedingt groß zu schreiben: М осковский Художественный академический театр ( МХАТ ) ‚das Moskauer Akademische Künstlertheater’ neben М осковский художественный а кадемический театр , Организация Объединенных Наций ( ООН ) ‚die Vereinten Nationen’, Л енинградский государственный Большой драматический т еатр имени М . Горького ( ГБДТ ) ‚das große staatliche Leningrader Gor’kij- Theater’, С оциал демократическая партия Германии ( СДПГ ), ‚die Sozialdemokratische Partei Deutschlands’. T AUSCHER / K IRSCHBAUM verweisen auf den Usus, die höchsten Dienstbezeichnungen und Ehrentitel des Staates in allen Teilen groß zu schreiben: Председатель Президиума Верховного Совета СССР ‚Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR’, Герой Социалистического Труда ‚Held der Sozialistischen Arbeit’. Ferner sind von Personennamen abgeleitete Possessivadjektive (besitzanzeigende Adjektive) auf ов / ев oder ин / ын groß zu schreiben, wenn sie tatsächlich in possessiver Bedeutung verwendet werden: Далев " Словарь " (neben Словарь Даля ), außerdem Possessivadjektive auf ский im Sinne von ‚ имени ’ und ‚ памяти ’: Ломоносовские чтения (Beispiele nach M ULISCH 1993: 78), so auch bei Международные Бодуэновские чтения . Possessivadjektive auf ский werden ansonsten regelmäßig klein geschrieben: тургеневские сочине ния ‚Turgenevs Werke’. Im Satz werden dann, mit der genannten Ausnahme der Eigennamen, alle Wörter klein geschrieben, also auch die Substantive. Zusammen- oder Getrenntschreibung ( слитное или раздельное написание ) Werden ehemals eigenständige lexikalische Einheiten zu einem neuen Wort zusammengefasst, so endet dieser Prozess für gewöhnlich mit der Zusammenschreibung. Hier verhält sich die russische Sprache wie die deutsche. Ebenfalls ähnlich wie im Deutschen gibt es die Möglichkeit der Bindestrichschreibung ( дефисное написа ние ), die im Russischen jedoch nicht so flexibel (und bisweilen übertrieben) gehandhabt werden kann, sondern vielmehr auf eine überschaubare Anzahl von Fällen angewandt wird, nämlich i. W. bei Appositionen, ungenauen Zahlenangaben, Bildungen mit по -... ски ( по -... цки ), Wiederholungen (Iterativkomposita), Bildungen mit кое -, то , либо , нибудь , ка , Abkürzungen. Einige Beispiele: Москва река , <?page no="80"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 74 социал демократ , пол литра (neben поллитра ), два три , по русски , из за , чуть чуть , что либо , дай ка посмотреть , 5летний , 10й , г н ( господин ), м р ( майор , мистер ). Interpunktion ( пунктуация ) Das Russische verfügt prinzipiell über dieselben Interpunktionszeichen ( знаки пре пинания ) wie das Deutsche, die in gleicher Weise verwendet werden. Dass unterschiedliche Sätze durch Interpunktionszeichen (. ! ? ...) voneinander getrennt werden, war im slavischen Schriftkreis keineswegs von Anfang an der Fall, wie das Altkirchenslavische zeigt (siehe hierzu den Historischen Teil). Im Satzinneren werden Sinnabschnitte ebenfalls kenntlich gemacht (, ; : -). Statt der im Deutschen üblichen Anführungzeichen („...“) verwendet das Russische, wie das Französische, spitze Anführungszeichen («...»). Silbentrennung ( слогоделение ) „ Особенность русского языка [...] в плане слоговой структуры заключается в тесной связанности согласного с последующим согласным и , наоборот , в слабом примыкании согласного к предшествующему гласному . Поэтому для русского языка характерны слоги типа СГ ( открытые ) и нехарактерны слоги типа ГС ( закрытые ).“ (B ULANIN 1970: 151f) Geschlossene Silben existieren mithin nur im Wortauslaut: спор , хвост , ре монт . Dieses letztlich auf das Altkirchenslavische zurückgehende Prinzip spiegelt sich in der tatsächlichen Silbentrennung wider: мо ло ко , ра ма , про да ю . So gilt auch für intervokalische Konsonantengruppen, dass nach dem ersten Vokal getrennt wird, um eine offene Silbe zu erhalten. 35 Die sich anschließende Konsonantengruppe zählt damit komplett zur Folgesilbe: ка пля , лы жня , ко ньки , па льто , то нна , ви лла , ра мка (Beispiele nach B ULANIN 1970: 152). Eine Ausnahme bilden Lautgruppen mit j, da dieses Element immer zur vorausgehenden Silbe gezogen wird: май ка , вой на , за знай ство . Pragmatisch formuliert V. V. R EPKIN ( http: / / nsc.1september.ru/ 2004/ 16/ 4.htm ): „ В соответствии с охарактеризованной выше природой слога (" волна сонор ности ") для русского языка характерны открытые слоги . Но есть исключения : когда согласный звук ( или группа согласных ) находится в конце слова ( рак , куст ), а также когда сонорный согласный после гласного оказывается перед согласным ( ср .: мо ре , но мор ской ; бо ец , но бой цы ). Учитывая последнее из указанных исключений , целесообразно в сугубо методических целях " догово риться " о едином способе слогораздела при наличии в слове сочетания соглас ных между гласными : часть из них относится к предыдущему слогу , остальные - к последующему ( кос тер , резь ба , лист вен ный ). Такой способ существенно упрощает задачу слогоделения . В то же время он не противоречит правилам пе реноса слов , которые , как известно , ориентированы на свободное слогоделе ние .“ 35 Vokale besitzen die größte Sonorität und haben deshalb nach dem Gesetz der steigenden Sonoritätswelle ( закон возрастающей звучности ) jeweils am Ende einer Silbe zu stehen; stimmlose Konsonanten haben die geringste Sonorität. <?page no="81"?> Phonologie 75 Die genannten Regeln sind nicht unumstritten. Dies ergibt sich aus der Konkurrenz von zwei einander widersprechenden Prinzipien: der phonetischen Wortgliederung nach Sprechsilben und der morphematischen Gliederung als einer Trennung nach Sinneinheiten im Wort. Man vergleiche бе зумный (phonetisches Prinzip) und без умный (morphematisches Prinzip). Auch bei Konsonantenhäufungen bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. So bemerkt beispielsweise M ULISCH (1993: 79): „Wenn mehrere Konsonanten vor einem Vokal stehen, sind mehrere Silbentrennungen möglich, z.B. сест ра , сес тра , се стра ; шум ный , шу мный . In solchen Fällen wird empfohlen, die Morphemgliederung zu berücksichtigen: шум ный .“ Aufgaben: 1. Suchen Sie weitere Beispiele für die Bindestrichschreibung im Russischen und versuchen Sie, die gefundenen Wörter nach den o.g. inhaltlichen und/ oder formalen Kriterien einzuteilen. 2. Versuchen Sie anhand von aktueller Literatur sowie Zeitungstexten herauszufinden, ob die moderne russische Orthographie im Hinblick auf die Silbentrennung eher nach dem morphematischen oder eher nach dem phonetischen Prinzip verfährt. Literatur: A VANESOV , R. I.: Russkoe literaturnoe proiznošenie. Moskva 1972. B ULANIN , L. L.: Fonetika sovremennogo russkogo jazyka. Moskva 1970. G ABKA , K URT (Hg.): Die russische Sprache der Gegenwart. Band 1: Einführung in das Studium der russischen Sprache. Phonetik und Phonologie. Leipzig 1974 / Düsseldorf 1975. G ABKA , K URT (Hg.): Russische Sprache der Gegenwart. Band 1: Phonetik und Phonologie. Leipzig 1987. G ABKA , K URT (Hg.): Russische Sprache der Gegenwart. Kommentare und Aufgaben zur Phonetik und Phonologie. Leipzig 1988. G RANIK , G. G.; B ONDARENKO , S. M.; K ONCEVAJA , L. A.: Sekrety orfografii. Moskva 1991. K EUNECKE , E DITH u.a.: Russische Phonetik. Intensivkurs für Anfänger. Hamburg 3 1995. M ULISCH , H ERBERT : Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig, Berlin, München 1993. N EPPERT , J OACHIM ; P ÉTURSSON , M AGNÚS : Elemente einer akustischen Phonetik. 3., durchges. Aufl. Hamburg 1992. S TEINITZ , W OLFGANG : Russische Lautlehre. Berlin 1970. 13.3 Phonologie Im Gegensatz zur Phonetik ist die Phonologie eine Disziplin der Sprachwissenschaft. Sie wurde wesentlich beeinflusst von N. S. T RUBECKOJ (1890-1938; Mitglied des Prager Linguistischen Kreises) und erforscht die Funktion und die Bedeutung der Sprachlaute in einem bestimmten sprachlichen System. Sie hat mit den Phonemen nur bedeutungsunterscheidende, aber keine bedeutungstragenden Elemente zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Das Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der Sprache (eine abstrakte Einheit der langue; eine Lautvorstellung, nicht die Lautrealisierung! ). Im Gegensatz zum Phon ist es bereits klassifiziert, d.h. ihm wurde eine bestimmte bedeutungsdifferenzierende Funktion zuerkannt. <?page no="82"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 76 Ein Phonem ist die Klasse aller Laute/ Phone mit der gleichen distinktiven Funktion, ein abstraktes Muster, das den realisierten Phonen zugrunde liegt. Es wird in Schrägstrichen / / notiert und umfasst die Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigenschaften eines Lautes. Die Summe seiner distinktiven Merkmale ist der Phonemgehalt; ein Phonem steht nur hinsichtlich seiner distinktiven Merkmale in Opposition zu allen anderen Phonemen, nicht hinsichtlich aller seiner artikulatorischen Merkmale, die ja teilweise mit denen anderer Phoneme zusammenfallen können. So sind beispielsweise die verschiedenen Realisierungsmöglichkeiten des / r/ im Deutschen und Russischen phonologisch irrelevant (redundant). Das Phonem ist nicht selbst bedeutungstragend und wird in einzelnen Sprechakten realisiert, d.h. es sind nicht Phoneme, sondern Phonemrealisierungen (Phone) beobachtbar. Die Anzahl der Phoneme variiert von Sprache zu Sprache. Während das Hawaiianische mit 13 Phonemen als die phonemärmste Sprache gilt, gibt es andererseits Sprachen mit bis zu 80 Phonemen. Das Deutsche und das Russische nehmen mit 40 bzw. 39 Phonemen eine Mittelstellung ein. In keiner Sprache der Welt sind alle mathematisch errechenbaren Kombinationen artikulatorischer Merkmale als Laute realisiert. Die Auswahlmöglichkeiten sind jeweils begrenzt und charakterisieren die Laute der Einzelsprache. So existiert im Deutschen nicht der apikale bidentale Frikativlaut [ ª ] (stimmlos) und [ Ÿ ] (stimmhaft), im Englischen dagegen gibt es keinen Ach-Laut [ « ]. Im Russischen existieren u.a. nicht die Laute [ n : ] (Höhle), [ d ] (Hölle), [y: ] (Hüte), [ v ] (Hütte) sowie keine Langvokale. Ermittlung des Phonembestandes einer Sprache Jede Sprache besitzt ein (für sie charakteristisches) Phoneminventar, das durch die Bildung von Minimalpaaren ermittelt wird. Als Minimalpaare gelten Wörter, die sich nur in einem Laut unterscheiden: • gleiche Betonung, aber unterschiedliche Lautqualität (d.h. unterschiedliche Konsonanten oder Vokale; Bsp.: том - там ; том - дом ) • [ein Phonem fehlt bzw. ist vorhanden; пакт - акт , бритва - битва ] (als Kriterium nicht unumstritten) • [gleiche Phoneme, aber unterschiedliche Reihenfolge; ток - кот ] (ebenfalls nicht allseits akzeptiert) Die Ermittlung von Minimalpaaren bezeichnet man als Segmentierung (Zerlegung in Einzelelemente: aus einer Lautkette wird ein Laut herausgelöst, segmentiert). Die segmentierten Einheiten werden dann nach gemeinsamen Eigenschaften klassifiziert. Es folgt die Kommutation oder Austauschprobe der Segmente: Der segmentierte Laut wird durch einen phonetisch verwandten Laut ersetzt. Wenn die Kommutation erfolgreich ist (d.h. wenn mit der neuen Lautkette eine andere Bedeutung bzw. keine Bedeutung mehr gegeben ist), liegen Phoneme vor; ändert sich dagegen die Bedeutung nicht, handelt es sich um Varianten ein und desselben Phonems. Ein Laut ist ein Phonem, wenn er in jeder Umgebung austauschbar ist und damit eine Bedeutungsdifferenzierung bewirkt. <?page no="83"?> Phonologie 77 Ist ein Laut in jeder Umgebung gegen einen anderen, verwandten Laut austauschbar, ohne dass eine Bedeutungsdifferenzierung entsteht, handelt es sich um freie Varianten (Allophone, d.h. Realisierungen ein und derselben abstrakten Phonemklasse) ein und desselben Phonems; Bsp.: [r] : [R] / r/ : „ Напр ., во фр . яз . [ фран цузском языке - T.B.] существует два варианта / r/ переднеязычный ( ви брирующий ) как в русском языке и увулярный ( грассирующий ). Последний вариант нормативный , но первый вполне допустим .“ ( http: / / www.langust.ru/ review/ lang_h04.shtml ) Sind zwei phonetisch verwandte Laute nicht in jeder Umgebung austauschbar, handelt es sich um kombinatorische Varianten eines Phonems in komplementärer Distribution; die komplementäre Distribution ist durch die lautliche Umgebung zu erklären, die Positionsbeschränkungen bewirkt: Es gibt Umgebungen, in denen ein bestimmter Laut nach den Regeln einer gegebenen Sprache nicht vorkommen darf, z.B. die russischen Vokalphoneme mit ihren jotierten und nichtjotierten Varianten: Die jotierten Varianten stehen nur nach palatalen Konsonanten und gehen, genau wie die nichtjotierten Varianten, zurück auf die Phoneme / a, 8 , i, 1 , u/ . 13.3.1 Phonembestand des Russischen Im modernen Russisch existieren 39 Phoneme (nicht zu verwechseln mit den Graphemen! ), davon sind 34 Konsonantphoneme (25 Geräuschkonsonanten und 9 sonore Konsonanten) und 5 Vokalphoneme (zum Vergleich: im Deutschen gibt es 34 Phoneme, davon 19 Konsonantphoneme und 15 Vokalphoneme). Das Phoneminventar hat sich seit dem Altkirchenslavischen bis hin zu den heutigen slavischen Einzelsprachen unterschiedlich entwickelt (vgl. hierzu den Historischen Teil). Die russischen Vokalphoneme: / a/ / 8 / / i/ / 1 / / u/ werden graphisch repräsentiert durch die 5 nichtjotierten Vokalbuchstaben а , э , ы , о , у sowie die 5 jotierten Vokalbuchstaben я , е , и , ё / е 36 , ю . Die Laute [i] (grafisch < и >) und [ G ] (grafisch < ы >) sind Varianten des Phonems / i/ : • [ G ] steht nach harten Konsonanten und nie im Anlaut • [i] steht nach weichen Konsonanten, im Anlaut und nach Vokal [i] und [ G ] können nicht gegeneinander ausgetauscht werden, sie sind komplementär distribuiert (kombinatorische Varianten), d.h. sie kommen niemals in derselben Lautumgebung vor Bsp.: пыл : пил phonetisch: [p GJ ] : [ ´ pi J ] phonologisch: / pi J / : / pi J / Varianten eines Phonems werden in der phonologischen Umschrift nicht notiert! 36 Die Parallelform ё ist fakultativ und wird v.a. zur Disambiguierung bzw. zur sog. Homonymendifferenzierung ( узнаем / узнаём ; небо / нёбо ) sowie in Russischlehrwerken zur Kennzeichnung der Betonung gebraucht . <?page no="84"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 78 vgl.: есть : ест phonetisch: [je ´ st’] : [j ·8 st] phonologisch: / j 8´ st’/ : / j 8 st/ Bsp.: Иван Иванович phonetisch: [-n G v û an 6 -] ( н in Иван = hart) phonologisch: / -niv û an 1 -/ Bsp.: в институт phonetisch: [v G n-] ( в = hart) phonologisch: / vin/ Bsp.: ваза : вяза phonetisch: [ û vaz 6 ] : [ û´ v · az 6 ] phonologisch: / vaza/ : / ´ vaza/ / k/ ist vor / 8 / und / i/ immer weich ([k’]) / ki/ = [k’i] (wenn [i] vor hartem Konsonanten; sonst [k’i · ],wenn [i] vor weichem Konsonanten; s.o.) vgl. hierzu: / si/ = [s G ] (hartes s) und / ´ si/ = [ ´ si] (weiches s) Beachte: Die Notation v.a. der Vokalphoneme ist, wie auch die phonetische Umschrift, nicht immer einheitlich; man findet statt / 1 / auch / o/ , statt / 8 / auch / e/ . Neben der API-Transkription wird gerade in russischen Lehrbüchern häufig die Notation nach A VANESOV verwendet. Die Palatalität von Konsonanten ist phonologisch relevant und wird deshalb in der phonologischen Umschrift notiert (Ausnahmen: [k, g, x] sowie [k’, g’, x’] als Allophone, d.h. positionsbedingte, kombinatorische Varianten der Phoneme / k/ / g/ / x/ ; s.u.). Palatale und nicht-palatale Vokale sind dagegen nur Varianten ein und desselben Phonems (also Allophone oder Elemente einer Phonemklasse), weshalb die Palatalität in der phonologischen Umschrift nicht notiert zu werden braucht. Gegenüberstellung von (bedeutungsunterscheidendem) Phonem und Allophon (Phonemvariante ohne eigene bedeutungsdifferenzierende Funktion): Phonem: abstrakt ---------invariant ------- Klasse ---------langue Allophon: konkret ---------variant ---------- Realisation ----parole 13.3.2 Phonemvarianten Wie oben bereits erwähnt, gibt es verschiedene Arten von Phonemvarianten: • freie / fakultative ( факультативный вариант ): zwei Laute treten in derselben Umgebung ohne Unterschied in der Bedeutung des betreffenden Wortes auf. Im Deutschen sind freie Varianten das Zungen-R und das Zäpfchen-R, ferner [s] und [ ‰ ] für <s>; im Russischen ist nur Zungen-R zulässig; dagegen ist beispielsweise gelispeltes s eine individuelle Variante, die von der Aussprachenorm abweicht. • kombinatorische / obligatorische ( комбинаторный вариант ): zwei verwandte Laute kommen niemals in derselben Umgebung vor und können daher nie in Op- <?page no="85"?> Phonologie 79 position zueinander stehen; Beispiel: der deutsche palatale Frikativlaut [ç] ‘ich’ und der gutturale Frikativlaut [ « ] ‘ach’ stehen in komplementärer, positionsbedingter Distribution: der ich-Laut wird nach den vorderen, hellen Vokalen, nach Konsonanten und am Anfang von Wörtern/ Morphemen realisiert, der ach-Laut nach den hinteren, dunklen Vokalen. Von kombinatorischen, positionsbedingten Varianten kann man auch im Falle der Realisierung der betonten bzw. unbetonten russischen Vokalphoneme sprechen. Man vergleiche beispielsweise die Aussprache des vokalischen Stammphonems / o/ in den wurzelidentischen Wörtern во дный [-o-], вода [- à -] und водяной [- 6 -]. Als weiteres Beispiel lässt sich die Auslautverhärtung im Deutschen und Russischen anführen: dt. Rad [-t] vs. Räder [-d-], russ. год [-t] vs. года [-d-]. Bei den Phonemvarianten (Allophonen) ist zu trennen nach einerseits freien oder fakultativen und andererseits kombinatorischen oder obligatorischen Varianten. Der folgende Vokal bezeichnet die Palatalität des vorstehenden Konsonanten ( нос : нёс ), ansonsten wird die Palatalität von Konsonanten im Schriftbild nur im Auslaut durch Weichheitszeichen markiert. Besonderheiten der phonologischen Notation: • Die regressive Assimilation der Palatalität wird gekennzeichnet durch tiefgesetzten kleinen Strich hinter dem jeweiligen Phonem. Bsp.: / É iz ü´ n/ жизнь , / v ü´ v 8 rx/ вверх , / in ü t’ 8´ r 8 s/ интерес • Die regressive Assimilation der Stimmhaftigkeit wird gekennzeichnet durch Großbuchstaben des jeweiligen Phonems. Bsp.: / Zzad’i/ сзади Erinnern Sie sich: In der phonologischen Umschrift werden nur die 34 Phoneme der russischen Sprache notiert, keine Phonemvarianten! Beachte: [k, g, x] sowie [k’, g’, x’] sind Allophone der Phoneme / k/ / g/ / x/ (in komplementärer Distribution), denn [k, g, x] stehen nur vor / a/ , / 1 / , / u/ und im Auslaut, [k’, g’, x’] stehen nur vor / i/ , / 8 / und nicht im Auslaut (vgl. o.). 37 Ebenso sind [ · a, a · , ·1 , ...] positionsbedingte Varianten der Vokalphoneme / a/ / 8 / / i/ / 1 / / u/ und werden deshalb phonologisch nicht notiert (s.o.). Die positionsbedingten Varianten (Allophone) befinden sich in komplementärer Distribution, d.h. sich ergänzender Verteilung, und decken somit 100% aller Vorkommensmöglichkeiten ab. Allophone besitzen keine bedeutungsdifferenzierende Funktion. Die Endung der 2. Person Sg. ist immer hart: / u ´ vid’i ‰ / увидишь ; die Reflexivendung kann hart sein: / ostano ´ vimsa/ oder / ostano ´ vim ´ sa/ остановимся ; die Infinitivendung 37 Bezüglich der Gutturale / g, k, x/ vertreten die Moskauer und die Leningrader Phonetische Schule unterschiedliche Ansichten. Während die Moskauer Phonetiker die palatalen und nichtpalatalen Realisierungen zu den paarigen Konsonanten mit je einem palatalen und nichtpalatalen Allophon zählen, ordnen sie ihre Leningrader Kollegen unter die unpaarigen Konsonanten ein, denen dann jeweils ihre palatale bzw. nichtpalatale Entsprechung fehlt. <?page no="86"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 80 ist immer hart: / ostano ´ vit ¿ sa/ остановиться ; / j/ steht nur im Anlaut und nach Vokal: / j 8‰’: 1 / ешё , / vijd’ 8 m/ выйдем . 13.3.3 Konstitutive Merkmale der Phoneme, Phonemgehalt a) Vokalphoneme • Zungenlage • Labialität / i/ hohe Zungenlage, illabial (Lippen nicht gerundet) gespreizt / u/ hohe Zungenlage, labial gerundet / a/ tiefe Zungenlage, (illabial: Merkmal ist nicht konstitutiv, da / a/ das einzige Phonem mit tiefer Zungenlage ist) / 1 / mittlere Zungenlage, labial gerundet / 8 / mittlere Zungenlage, illabial gespreizt b) Konsonantphoneme • Geräuschkonsonant oder Sonorlaut (l, m, n, r, j) • stimmhaft oder stimmlos • Artikulationsorgan, Artikulationsstelle, Artikulationsmodus • palatal/ weich oder nichtpalatal/ hart Die Oppositionspaare der folgenden Korrelationsreihen 38 unterscheiden sich immer nur in einem konstitutiven / distinktiven Merkmal: 1. Korrelationsreihe stimmhaft - stimmlos Diese Korrelationsreihe umfasst die folgenden 11 russischen Konsonantphonempaare: / p/ : / b/ / f/ : / v/ / t/ : / d/ / s/ : / z/ / ‰ / : / É / / k/ : / g/ / ´ p/ : / b’/ / f’/ : / ´ v/ / t’/ : / d’/ / ´ s/ : / ´ z/ / ‰: ’ / : / ´É: / Beachte: Es gibt keine Phoneme / k’/ : / ´ g/ , da es sich um Allophone eines Phonems in komplementärer Distribution handelt! (vgl. oben) 2. Korrelationsreihe palatal - nicht palatal Diese Korrelationsreihe umfasst die folgenden 12 russischen Konsonantphonempaare: / p/ : / ´ p/ / f/ : / f’/ / t/ : / t’/ / s/ : / ´ s/ / m/ : / ´ m/ / J / : / l’/ / b/ : / b’/ / v/ : / ´ v/ / d/ : / d’/ / z/ : / ´ z/ / n/ : / ´ n/ / r/ : / ´ r/ 38 Der Terminus Korrelation geht zurück auf N. S. T RUBECKOJ und beschreibt das Verwandtschaftsverhältnis zwischen phonologischen Oppositionspaaren. Als Korrelationsreihe bezeichnet man die Gesamtheit von Korrelationspaaren, die durch das gemeinsame Vorhandensein oder Fehlen eines phonologisch relevanten/ distinktiven/ bedeutungsunterscheidenden Merkmals gekennzeichnet sind. <?page no="87"?> Phonologie 81 Realisierung der Phoneme im Sprechakt Unter bestimmten phonetischen Bedingungen können die Phoneme ihre distinktive Funktion verlieren. Man unterscheidet deshalb hinsichtlich der Stimmhaftigkeit/ Stimmlosigkeit und der Palatalität/ Nichtpalatalität eine starke und eine schwache Position des Phonems. • schwache Position eines Phonems: Die konstitutiven/ distinktiven Merkmale der Stimmhaftigkeit/ Stimmlosigkeit und der Palatalität/ Nichtpalatalität werden durch phonetische Regeln beeinflusst/ beeinträchtigt, so dass zwei oder mehr Phoneme zusammenfallen und damit ihre bedeutungsunterscheidende Funktion geschwächt ist; eine phonologische Opposition wird dann neutralisiert. Dies ist im Russischen der Fall bei o den unbetonten Vokalen, o den stimmlosen und stimmhaften Geräuschkonsonanten im absoluten Wortauslaut, wo stets stimmlose Geräuschkonsonanten gesprochen werden (Auslautverhärtung). schwache Position der Phoneme aus der 1. Korrelationsreihe stimmhaft - stimmlos: 1) im absoluten Auslaut (Auslautverhärtung/ Entstimmlichung): год , кос : коз 2) vor stimmlosen Geräuschkonsonanten (Entstimmlichung durch regressive Assimilation): книжка , трубка , в комнате 3) vor stimmhaften Geräuschkonsonanten (Stimmhaftwerden durch regressive Assimilation): к дому , сдать Diese Regeln gelten auch für unpaarige Phoneme, d.h. Sonorlaute und / t ¿ s/ , / t’ ¿ S’/ , / x/ , die nicht in der 1. Korrelationsreihe stehen. schwache Position der Phoneme aus der 2. Korrelationsreihe palatal - nicht palatal: 1) vor / 8 / : steht eigentlich nur die weiche Variante, in Fremdwörtern jedoch auch die harte Variante; э ist ansonsten praktisch nur im Anlaut anzutreffen 2) vor / ‰ / / É / / t ¿ s/ : steht nur die harte Variante; Ausnahme: auch / l’/ / ´ n/ sind hier möglich; левша 3) vor / t’ ¿‰ ’/ / ‰ ’ : / / j/ : steht nur die weiche Variante; Ausnahme: auch / t/ ist hier möglich; отъехать 4) vor weichen Dentallauten: nur die weiche Variante; здесь , советник • starke Position eines Phonems: Die konstitutiven / distinktiven Merkmale werden nicht beeinflusst / beeinträchtigt, und der Phonemgehalt kommt voll zur Geltung, so dass das Phonem über eine maximale Differenzierungsmöglichkeit verfügt; das Phonem steht in Opposition zu allen anderen Phonemen des Systems. Dies ist der Fall bei o den russischen Vokalphonemen, wenn sie den Hauptakzent tragen, o den stimmlosen und stimmhaften Geräuschkonsonanten, wenn sie zwischen Vokalen stehen. starke Position der Phoneme aus der 1. Korrelationsreihe stimmhaft - stimmlos: 1) vor Vokalen: ток : док 2) vor Sonorlauten: икра : игра , плеск : блеск , пью : бью 3) vor / v/ / ´ v/ + Sonorlaut oder Vokal: твоё : двое , Тверь : дверь starke Position der Phoneme aus der 2. Korrelationsreihe palatal - nicht palatal: <?page no="88"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 82 1) im absoluten Auslaut: брат : брать 2) vor Vokalphonemen außer / 8 / : мать : мять , вод ´а : в´одя 3) (für Vorderzungenlaute) vor [k k’ g ´ g x ´ x p b m v]: редко : редька , изба : резьба 4) (für / J / / l’/ ) vor allen Konsonantphonemen außer / j/ : молча : мальчик 5) (für / n/ / ´ n/ ) vor / ‰ / : траншея : раньше Innerhalb ein und desselben Paradigmas (d.h. der Gesamtmenge aller Erscheinungsformen eines Wortes) können sich starke und schwache Position eines Phonems abwechseln: Bsp.: / g/ книг а [g] (starke Position) книг [k] (schwache Position; konstitutives Merkmal der Stimmhaftigkeit geht verloren) книг и [ ´ g] (starke Position) Beachte: Beim letzten Beispiel liegt starke Position vor, da die Härte zwar verloren geht, dieses Merkmal jedoch nicht konstitutiv ist. Die Laute werden in den genannten Beispielen in der phonetischen Umschrift notiert und nicht in der phonologischen, weil hier auch Allophone betroffen sind, die in der phonologischen Umschrift nicht notiert werden. Aufgaben: 1. Diskutieren Sie alle phonetischen und phonologischen Unterschiede in dem Wortpaar Wortendstellung und Wortentstellung. Literatur: K ASEVI Č , V. B.: Fonologi č eskie problemy obš č ego i vosto č nogo jazykoznanija. Moskva 1983. L OMTEV , T. P.: Fonologija sovremennogo russkogo jazyka (na osnove teorii množestv). Moskva 1972. Š AUMJAN , S. K.: Problemy teoreti č eskoj fonologii. Moskva 1962. 13.4 Morphonologie Der Status der auf den Prager Linguistischen Zirkel zurückgehenden Morphonologie - eine andere Bezeichnung für die Morphonologie ist Morphophonologie ( мор фо ( фо ) нология ) - als eigenständiger sprachwissenschaftlicher Disziplin ist umstritten. Mal wird sie als autonomes Bindeglied zwischen Phonologie und Morphologie betrachtet, mal als Bestandteil der Grammatik oder der Morphologie i.e.S. Von der Phonologie wird die Morphonologie dadurch abgegrenzt, dass die morphonologischen Erscheinungen zwar einen phonologischen Ursprung besitzen, jedoch nicht allein durch diesen Ursprung zu erklären sind. Komplexer gestaltet sich gemeinhin die Differenzierung von Morphonologie und Morphologie. In einer Lesart umfasst die Morphonologie alle sich morphologisch auswirkenden Lautalternationen, darunter auch die sogenannte innere Flexion (Bsp. набирать - набрать ) und den Lautwechsel mit wortformendifferenzierender Funktion. Eine andere Lesart schränkt die Morphonologie ein auf Lautwechsel mit Hilfsfunktion ( вспомогательные чередования , vgl. K ARAULOV 1998: 247) und schließt die innere Flexion aus- <?page no="89"?> Morphonologie 83 drücklich aus. Die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen Disziplinen wird zu einem guten Teil von den zugrunde gelegten Definitionen von Phonem und Morphem bestimmt, die in den jeweiligen sprachwissenschaftlichen Schulen unterschiedlich ausfallen können. Zumindest zwei bedeutende Forschungsrichtungen existieren in diesem Bereich, nämlich die Moskovskaja fonologi č eskaja škola um A VANESOV , K UZNECOV , R EFORMATSKIJ u.a. sowie die Leningradskaja fonologi č eskaja škola um Š Č ERBA . Weigehender Konsens besteht darüber, dass die Morphonologie die Beziehungen zwischen der Phonologie und der Morphologie untersucht, insbesondere die phonologische Struktur der Morpheme und Wörter und die Verwendung der Phoneme auf der morphologischen Ebene: „ Согласно более узкому пониманию , М . имеет объектом варьирование фонем в составе морфов одной морфемы , т . е . их альтернации ( чередования ), ср .: друг - друзья - дружить , рука - ручка . Согласно более широкой и распространённой точке зрения , объектом М . считается исследование : звукового ( фонологическо го ) состава морфем разных типов и способов их противопоставления и их различия [...]; преобразований морфем при их объединении в морфемные после довательности в процессах формо и словообразования ; пограничных сигналов и разных явлений на стыке морфем .“ (K ARAULOV 1998: 246) Zentrale Untersuchungsbereiche der Morphonologie sind also: • die Verwendung von Phonemen in Morphemen (Verteilung/ Variierbarkeit der Phoneme), • die Alternation von Phonemen (innerhalb eines Morphems), der historische Phonem- / Lautwechsel. Ein Lautwechsel kann phonetisch sein, d.h. aufgrund lautlicher Gesetzmäßigkeiten der Gegenwartssprache eintreten, oder er kann historisch sein, d.h. auf Lautgesetze zurückgehen, die irgendwann in der Sprachgeschichte Gültigkeit besaßen. Um eine Grenze zwischen der Phonologie und der Morphonologie zu ziehen, kann man schematisch sagen, dass alles rein lautlich Bedingte zur Phonologie gehört, während die Morphonologie „alles morphologisch Bedingte, sich lautlich nur Auswirkende“ (P ANZER 1995: 71) untersucht. T RUBECKOJ fasste unter die Morphonologie, deren Grenzen er als erster abzustecken und deren Inhalte er zu definieren bemüht war (vgl. P ANZER 1995: 71): • die Lehre von der phonologischen Struktur der Morpheme, • die Lehre von den kombinatorischen Lautveränderungen, welche die Morpheme in den Morphemverbindungen erleiden und die zur Bildung von Allomorphen (Varianten eines Morphems) führen, • die Lehre von den Lautwechselreihen, die eine morphologische Funktion erfüllen: „Die Reihe der in den Varianten eines Morphems wechselnden Phoneme wird von manchen Sprachwissenschaftlern als Morphonem [nach T RUBECKOJ - T.B.] bezeichnet.“ (G ABKA 1975: 43) <?page no="90"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 84 Die folgenden Tabellen (nach K UDRJAVCEVA 2006: 23f) geben einen Überblick über die im Russischen vorkommenden Lautwechsel. Wechselnde Konsonanten Wortbeispiele с - ш х - ш к - ш г - ж г - з - ж д - ж з - ж к - ч к - ч - ц к - ч д - с ( т ) т - ч ц - ч т - щ ст - щ ск - щ д - жд б - бл , в - вл , м - мл , п - пл , ф - фл писать - пишу - пишущий 1) , высокий - выше 8) махать - машу - машущий 1) , тихий - тише - тишайший 7) , ухо - уши - ушастый , ушной 9) далёкий - дальше 8) ( мочь ) - могу - можешь 5) , тугой - туже - тужайший 7) , нога - ножка , ножища 10) , визг - визжать - визжащий 11) друг - друзья - дружить 12) сидеть - сижу 6) , сад - сажать ( посадить ) - сажающий 11) сказать - скажу 4) , близкий - ближе - ближайший 7) плакать - пл á чу - плачущий 1) , лёгкий - легче - легчайший 7) , сук - сучья - сучковатый 9) , рука - ручка , ручища 10) ; крик - кричать - кричащий 11) казак - казачий , казацкий пеку - печёшь заводить - завести платить - плач ý 6) , крутой - круче 8) улица - уличный 13) осветить ( освещать ) - освещу - освещённый 3) , освещение 14) простить ( прощать ) - прощу - прощённый 3) , простой - проще 8) искать - ищу - ищущий 1) родить ( рожать ) - рожу - рождённый 3) , рождение 14) любить - люблю 6) , ловить - ловлю 6) , знакомить - знакомлю 6) , лепить - леплю 6) , графить - графлю 6) Kommentar: Bei Verben: 1) Konsonantenwechsel im ganzen Paradigma, inkl. Partizip Präsens Aktiv. 2) Konsonantenwechsel im ganzen Paradigma, inkl. Partizip Präteritum Passiv. 3) Konsonantenwechsel in der 1. Person Singular vollendeter Verben und in dem Partizip Präteritum Passiv. Die dazu gehörenden unvollendeten Verben werden immer mit Zischlauten geschrieben. 4) Konsonantenwechsel im ganzen Paradigma. 5) Konsonantenwechsel im ganzen Paradigma, mit Ausnahme der 3. Person Plural. 6) Konsonantenwechsel nur in der 1. Person Singular. Bei Adjektiven: 7) Konsonantenwechsel in allen Steigerungsformen (Positiv, Komparativ, Superlativ). 8) Konsonantenwechsel nur im Komparativ. Bei Substantiven: 9) Konsonantenwechsel in der Pluralform des Substantivs und in dem von ihm abgeleiteten Relativadjektiv 10) Konsonantenwechsel in den Verkleinerungs-/ Vergrößerungsformen. 11) Konsonantenwechsel in dem vom Substantiv abgeleiteten Verb + in seinem Partizip Präsens Aktiv. 12) Konsonantenwechsel in der Pluralform des Substantivs und in dem von ihm abgeleiteten Verb. 13) Konsonantenwechsel in den Relativadjektiven, die von Substantiven abgeleitet sind. 14) Konsonantenwechsel in den abstrakten Substantiven, die von Verben abgeleitet sind. Wechselnde Vokale (in der Wurzel) Wortbeispiele und Regeln кос - - кас - лож - - лаг - гор - - гар коснуться - касаться (Suffix -anach der Wurzel) положить - полага ть (Suffix -anach der Wurzel) загор á ть - заг á р (Betonung) <?page no="91"?> Morphologie 85 рос - - раст - плов - - плав - - плыв - вод - - вест - бер - - бир - стел - - стил - о - - -Ø- ё - - -Øр ó ст - раст é ние ( но - Рост ó в , ростовщи\ к ) (Betonung und ст in der Wurzel) пловец , пловчиха - пл á ва ть - плывунец разводить - развести наберу - набира ть (Suffix -anach der Wurzel) расстелить - расстила ть (Suffix -anach der Wurzel) рот - рта пёс - пса Wechselnde Vokale und Konsonanten (im Präfix) Wortbeispiele und Regeln пре - - при не - - ни без - - бес раз - - рас воз - - вос прекратить , предать , пребывать - придать , прибыть , присесть некто - никто безз лобный - бессердечный разв од - расход возд ать - восходить Literatur: A CHMANOVA , O. S.: Fonologija, morfonologija, morfologija. Moskva 1966. D RESSLER , W. U.: Grundfragen der Morphonologie. Wien 1977. K UBRJAKOVA , E. S.; P ANKRAC , J U .: Morfonologija v opisanii jazykov. Moskva 1983. M AKAEV , Ė . A.; K UBRJAKOVA , E. S.: Edinicy raznych urovnej grammati č eskogo stroja jazyka i ich vzaimodejstvie. Moskva 1969 (insbes. Kap. O statuse morfonologii i edinicach ee opisanija). R EFORMATSKIJ , A. A.: Voprosy grammati č eskogo stroja. Moskva 1955 (insbes. Kap. O sootnošenii fonetiki i grammatiki (morfologii)). T RUBECKOJ , N. S.: Pražskij lingvisti č eskij kružok. Moskva 1967 (insbes. Kap. Nekotorye soobraženija otnositel’no morfonologii). 13.5 Morphologie Der Terminus Morphologie ( морфология ) geht zurück auf gr. ìïñöç , was soviel bedeutet wie ‚(schöne) Gestalt’, ‚von dem Zufälligen befreite echte Form’, ‚Idee’. Er wurde 1796 von J. W. V . G OETHE für den biologischen Bereich der Struktur von lebenden Organismen geprägt und dann 1859 von A UGUST S CHLEICHER im Rahmen seiner Sprachtypologie für die Wortstruktur übernommen. Diese auch Formenlehre genannte Teildisziplin der Linguistik, deren Gegenstandsbereich die Gestalt sprachlicher Zeichen und Zeichenketten ist, beschäftigt sich mit der Formenbildung, mit der Erfassung und Systematisierung der Wortformen, mit den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Sie ist semasiologisch ausgerichtet, d.h. sie geht von der Form aus und ermittelt auf dieser Grundlage den Inhalt. Die zentralen Untersuchungsbereiche der Morphologie sind: • die Wortarten, • die grammatischen Kategorien der Wortarten, • die grammatischen Wortformen (Formenbildung), • der Morphembestand der Wörter. <?page no="92"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 86 Versetzt man sich in die Situation eines Wissenschaftlers, der eine ihm fremde Sprache erforscht, so muss er auch im Bereich der bedeutungstragenden Einheiten - analog zu den Phonemen als den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten - das vorgefundene Sprachmaterial analysieren und in kleinste beobachtbare, d.h. in dieser Form realisierte Einheiten mit einer eigenen Bedeutung zerlegen, um hieraus ein Inventar zu erstellen. Der erste Schritt der Untersuchung besteht in der Festlegung eines Textkorpus, aus dem das Sprachmaterial entnommen werden soll. In einem zweiten Schritt werden wieder sog. Minimalpaare gebildet, d.h. sprachliche Einheiten, die sich möglichst nur in einem Element voneinander unterscheiden. Die nächste Etappe der Analyse ist die Segmentierung der Einheiten in ihre jeweiligen konstitutiven Elemente, die auf der Bedeutungsebene (nicht auf der lautlichen Ebene! ) nicht weiter zerteilbar sind. Diese so ermittelten kleinsten Einheiten sind die Morphe. Es sind Lautfolgen, die eine bestimmte, gegenüber den benachbarten Lautfolgen abgrenzbare Bedeutung tragen, die selbst zunächst noch unklar, noch nicht klassifiziert ist. Erst durch den Vergleich einer Einheit mit anderen Einheiten kann es gelingen, einem Morph eine konkrete Bedeutung lexikalischer oder grammatischer Art zuzuschreiben. Durch diese Klassifizierung wird aus dem konkreten Morph als Element der parole ein abstraktes Morphem als Teil der langue. Zeigt sich, dass zwei oder mehr Morphe eine identische Bedeutung tragen, so handelt es sich nicht um je eigenständige Morpheme, sondern um Realisierungsvarianten, um Allomorphe ein und desselben Morphems. Das Morpheminventar einer Sprache ist also, wie die Darstellung gezeigt hat, nicht naturgegeben und dem Beobachter sofort einsichtig, sondern es muss durch Morphemanalysen ermittelt werden, wie ja auch das Phoneminventar einer Sprache durch eine Abfolge von Arbeitsschritten festgestellt werden muss. Ein Morph ( морф ) ist die kleinste Lautfolge, der eine Bedeutung zugeordnet werden kann, die jedoch noch nicht klassifiziert ist. Im Gegensatz zum Morphem ist es ein Element der parole. Ein Morphem ( морфема ) ist die kleinste bedeutungstragende, bereits klassifizierte Einheit der Sprache (langue), die kleinste, nicht mehr untergliederbare Einheit von Formativ und Bedeutung. Es kann durch phonematisch verschiedene Allomorphe realisiert werden und lässt sich in Phoneme als die nächstkleineren Einheiten zerlegen, durch die es lautlich repräsentiert wird. Es kann mit einem Wort (d.h. mit einer Wortform) zusammenfallen, ist i.d.R. jedoch kleiner als eine Wortform; mehrere Morpheme bilden also gemeinsam eine Wortform. Lautlich wird es durch eine Phonemfolge, schriftlich als Graphemfolge realisiert. Bei K ARAULOV (1998: 241) heißt es über das Morph: „ М . и морфема - соотноси тельные языковые единицы : М . - линейная единица , может быть непо средственно вычленена в потоке речи ; морфема - обобщённая единица , кон кретными представителями к рой являются М .“ A NDRÉ M ARTINET (Eléments de linguistique générale, Paris 1970: 13ff) spricht von der double articulation du langage oder doppelten Artikulation, der zweifachen Gegliedertheit der (menschlichen) Sprache, die sich in den Ebenen von Morphem (1. Artikulation) und Phonem (2. Artikulation) manifestiert. <?page no="93"?> Morphologie 87 Während die Phonemklasse einer Sprache als geschlossen betrachtet werden kann, ist die Morphemklasse als offen anzusehen. Gegeneinander abzugrenzen sind zunächst rein schematisch: • grammatisches Morphem und lexikalisches Morphem, • Wortbildung und Formenbildung, • Endungsmorphem und Stammmorphem, • freie und gebundene Formen, • Wurzel und wort- / formenbildende Affixe. Was bedeuten diese Gegensatzpaare konkret? Gebundene (Wortbildungs- / grammatische) Morpheme treten nur in Verbindung mit einem Basismorphem auf, das seinerseits ohne Ergänzung vorkommen kann. Die Unterscheidung von lexikalischen Morphemen und grammatischen Morphemen ist jedoch nicht synonym mit der Unterscheidung von freien Morphemen und gebundenen Morphemen (Bsp.: Lehr- = lexikalisches Morphem [Autosemantikon], kommt aber nur gebunden vor; dass = grammatisches Morphem [Synsemantikon], kommt aber nur frei vor). Grammatische Morpheme lassen sich unterteilen in derivative (zur Änderung der Wortklassen) und flexive Morpheme (zur Beugung der Wörter). Zu den grammatischen Morphemen lassen sich Präpositionen und Konjunktionen sowie - in den entsprechenden Sprachen - die Artikel zählen. 39 M ARTINET führte eine teilweise neue Terminologie ein: lexikalische Morpheme bezeichnet er als Lexeme, grammatische Morpheme als Morpheme im engeren Sinn. Als Oberbegriff für Lexeme und Morpheme fungiert bei ihm das Monem ( мо нема ), das wiederum aus Inhalts- und Ausdrucksseite besteht. Russ. имею / imeju/ besteht demnach aus zwei Monemen: / ime-j/ als Träger des lexikalischen Gehalts (lexikalisches Monem = Lexem) und / u/ als Personenmarkierung (grammatisches Monem = Morphem). Diese terminologische Differenzierung hat keine durchgehende Anerkennung und Anwendung gefunden. Morpheme können 4 verschiedene Funktionen besitzen: 1. referentielle Funktion: Unabhängig von der Redesituation verweist ein Morphem auf Gegenstände oder Sachverhalte der Umwelt: дом , красивый , красота . Diese freien Morpheme sind auch in Lexika zu finden. 2. referentielle Funktion in Abhängigkeit von Redesituation oder Kontext, Einbettung in Raum-Zeit-Situation: lokal- und temporaldeiktische Elemente (nach griech. deixis = Verweisung; Bsp.: здесь , там , сейчас , раньше ); performatorische Elemente, die auf die Kommunikationsrollen/ -partner verweisen ( я , ты , они ); deiktische Elemente mit zusätzlichem Verweis auf den Redekontext (anaphorische Elemente; Bsp.: этот , эта ). 40 39 Sicherlich wäre es falsch zu behaupten, die grammatischen Morpheme wie Präpositionen und Konjunktionen trügen überhaupt keine lexikalische Bedeutung, jedoch ist diese im Vergleich zu den lexikalischen Morphemen im engeren Sinne stark eingeschränkt und nur wenig bis gar nicht konkretisiert. Sie dienen vielmehr der Herstellung von Kohäsion im Satz. 40 Die Deixis (Pl. Deixeis; auch deiktischer Ausdruck, indexikalischer Ausdruck, Zeigewort genannt) umfasst all jene Ausdrucksmittel einer Sprache, die den Hörer/ Leser hinsichtlich des Gesagten/ Geschriebenen in Zeit und Raum sowie hinsichtlich der Personenkonstellation orientieren. Ausgangspunkt des Verweissystems ist jeweils der Sender einer sprachlichen Äußerung. <?page no="94"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 88 3. grammatische Funktion zur Anzeige der syntaktischen Funktion (Flexionsmorpheme). 4. Wortbildungsfunktion: Hinweis auf inhaltliche oder grammatische Modifizierung eines Lexems. Morpheme und Silben dürfen nicht miteinander gleichgesetzt oder verwechselt werden (d.h. Morphem- und Silbenstruktur eines Wortes sind nicht unbedingt identisch). Ein Beispiel veranschaulicht den Auseinanderfall von Morphem- und Silbengrenzen: пись|м|ен|н|ость| Ø = 6 Morpheme (inkl. Nullmorphem als Endung), aber nur 3 Silben. Die Stelle, an der zwei Morpheme aufeinander treffen, heißt Morphemgrenze ( стык морфем ). Wir unterscheiden Wurzelmorpheme (Kern, Grundmorphem, Basismorphem; корневая морфема ) und Hilfsmorpheme ( служебная морфема ): Ein Wort kann aus Wurzelmorphem + Hilfsmorphem(en) bestehen. Den Minimalbestand bildet ein Wurzelmorphem, das ausschließlich Träger der lexikalischen Eigenschaften eines Wortes ist und sich nicht an Wortbildung oder Flexion beteiligt. Demgegenüber treten Hilfsmorpheme als Flexions- und Wortbildungsmorpheme auf. Alle Wörter mit demselben Wurzelmorphem gehören zu einem Wortnest ( гнездо слов , словообразовательное гнездо ). Bsp.: гор а , горка , горный , подгорная (Wurzelmorphem гор -) Hilfsmorpheme sind die sogenannten Affixe ( аффикс ), die Allgemeineres ausdrücken, z.B. Verkleinerung (Diminuierung: semantisches Merkmal) oder Adjektivbildung (Wortbildungsmerkmal). Affix ist der Oberbegriff für die Wortbildungsmittel der Präfixe ( приставка , пре фикс ), Suffixe ( суффикс ), Infixe/ Interfixe ( интерфикс ) und Postfixe ( постфикс ), während der Status der Endungen ( окончание ) unterschiedlich definiert wird. Nach Meinung einiger Forscher sind es ausschließlich Flexionsmorpheme, die somit formenbildend wirken; andere Linguisten zählen sie jedoch eindeutig zu den Affixen. Es handelt sich hier also, mit Ausnahme der Endungen, um Wortbildungsmorpheme (d.h. keine freien Morpheme); man spricht auch von bedeutungshaltigen Silben oder gebundenen Morphemen, die der Grundform eines Wortes hinzugefügt werden. Affixe sind zu unterteilen in • lexikalische (wortbildende, derivative), z.B. подземн ║ый , горн║ый und • grammatische (formenbildende, flektive), z.B. горн║ый (Endungen), wobei ║ die Grenze des Wortstamms markiert. Die lexikalischen, wortbildenden Affixe gehören damit noch zum Wortstamm, die grammatischen, formenbildenden Affixe dagegen nicht. Üblicherweise werden Personaldeixis, Objektdeixis, Lokaldeixis, Temporaldeixis und Textdeixis/ Diskursdeixis unterschieden. <?page no="95"?> Morphologie 89 Affixe treten auf als: • Präfixe: Sie stehen vor dem Wurzelmorphem und können lexikalische oder grammatische Bedeutung tragen: за граничный : lexikalisch (wortbildend), за платить : grammatisch (hier Aspektbildung (perfektiver Aspekt)). Häufige Präfixe im Russischen sind: в ( о )- ‚hinein-, herein-’, в ( о ) с -, в ( о ) з - ‚auf-’. вы - ‚hinaus-, heraus-’, до - ‚bis, zu’, ис -, из - ‚(her)aus-’, на - ‚auf-’, о ( б )- ‚(her)um’, от ( о )-, у - ‚weg-’, пере - ‚(hin)über-’, пред vor(aus)-’, при - ‚herbei-’, под ( о )- ‚heran-, unter-’, про - ‚durch-, vorüber-’, рас -, раз - ‚auseinander-, zer-’, с ( о )- ‚(her)ab-’, ,zusammen-’, за - ‚los-’, ‚hinter’. • Suffixe: Sie stehen nach dem Wurzelmorphem und können ebenfalls lexikalische oder grammatische Bedeutung tragen: бел е ть : lexikalisch, изуч а ть : grammatisch (hier Aspektbildung (imperfektiver Aspekt)). Auch mehrere Suffixe hintereinander sind möglich: бел е л а , in diesem Fall zur Anzeige von Wortart Verb - Tempus Präteritum - Genus Femininum. Häufige Verwendung finden Diminutiv-/ Verkleinerungssuffixe (oft in Hypokoristika, d.h. Koseformen; z.B. стакан чик , картин к а , кот ик , кот ёнок , мыш к а , глаз ок , рыб к а , рыб очк а , рыб оньк а , солн ышк о , пупс ик , малыш к а , дед ушк а , баб ушк а ), Augmentativ-/ Vergrößerungssuffixe (z.B. город ищ е , сил ищ а ), Motionssuffixe (zur Bildung weiblicher Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnungen; z.B. тракторист к а , учитель ниц а , пев иц а , секретар ш а ), Suffixe zur Bezeichnung von Kollektiva (Sammelbezeichnungen; z.B. граждан ств о , студенч е ств о ), Singulativa (individualisierenden Bezeichnungen; z.B. горох ин а ) und Pejorativa (abwertenden Ausdrücken; z.B. книж онк а , город ишк о ), im verbalen Bereich imperfektivierende Suffixe bei der sog. sekundären Imperfektivierung, die an die Verbalwurzel angefügt werden (d.h. wortbildende Suffixe und Interfixe fallen weg; z.B. pf. заработать impf. зарабат ыва ть ). ть als Kennzeichen des russ. Infinitivs gilt im Deutschen als Endung, im Russischen jedoch als Suffix. • Postfixe: Sie stehen noch nach den Suffixen und Endungen 41 , d.h. hinter dem flektierten Teil des Wortes, sind aber selbst invariabel. Auch sie tragen lexikalische oder grammatische Bedeutung: ся , сь haben grammatische Bedeutung (Reflexiv oder Passiv), то , нибудь ( кто то , куда нибудь ) lexikalische Bedeutung, hier bei unbestimmten Pronomen und Adverbien. • Infixe: Sie tragen keine eigene Bedeutung, sondern dienen der Verkettung von Morphemen, d.h. sie stehen als Bindeglied zwischen anderen Morphemen: 42 ялт ин ский : Vok. + Kons. август ов ский : Vok. + Kons. пар о воз : Vok. (Bindevokal) вод о провод : Vok. (Bindevokal) 41 Vor allem außerhalb der Slavistik wird der Terminus Postfix fallweise auch als Synonym zu Suffix (G LÜCK 2000: 709) oder als Oberbegriff für Suffix und Endung (C ONRAD 1984: 205) verwendet. In der vorliegenden Darstellung wird die engere Auslegung angewendet, die das Postfix von Suffix und Endung klar trennt. 42 In einer anderen Lesart versteht man unter Infixen oder Interfixen Wortbildungselemente, die in die Wortwurzel selbst eingefügt werden. <?page no="96"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 90 жизн е радостный : Vok. (weicher Bindevokal, da der davorstehende Kons. palatal ist) Die Endungen stehen nach dem Wurzelmorphem und ggf. Suffixen. Sie tragen eine grammatische Bedeutung, indem sie die syntaktischen Beziehungen im Satz verdeutlichen: Мальчики несут | тяжёлую сумку . So lässt sich durchaus ein in einer gegebenen Sprache semantisch unsinniger oder im wahrsten Sinne des Wortes sinnloser Satz grammatisch analysieren, wie das folgende, immer wieder angeführte Beispiel zeigt. Morpho-syntaktisch, d.h. an seiner formalen Oberfläche, ist der Satz offensichtlich korrekt, da er den Regeln der russischen Grammatik (Kongruenz, Rektion) zu entsprechen und in die Paradigmen (formbildende Affixe) der Sprache zu passen scheint: Глокая куздра штеко будланула бокра и курдячит бокрёнка . Folgende Sonderformen von Morphemen werden üblicherweise unterschieden: • Ein Nullmorphem (Nullendung; нулевая морфема ) liegt vor z.B. im Nom.Sg. mask. ( дом -Ø), Gen.Pl.fem. ( сестёр -Ø), Gen.Pl.neutr. ( окон -Ø), bei der Kurzform der mask. Adjektive ( хорош -Ø), bei der mask. Form des Imperfekts ( ска зал -Ø). Das Nullmorphem ist als Platzhalter für eine vorhandene, formal jedoch nicht ausgedrückte Endung zu verstehen. Die Berechtigung eines solchen Platzhalters, der die Systemhaftigkeit des Wortparadigmas aufrecht erhält, zeigt sich in den übrigen Formen des Paradigmas, bei denen die Endungen auch formal ausgedrückt werden: дом - дома - дому ...; сестра - сестры - сестре ...; окно - окна - окну ...; хорош - хороша - хорошо - хороши ; сказал - сказала - сказало - ска зали . • Homonyme Morphe ( омонимические морфы ) besitzen eine gleiche Ausdrucksseite (gleiche Lautketten) bei unterschiedlicher Funktion. Sie werden im Morpheminventar (und Morphemwörterbüchern) durch Indizes unterschieden (Bsp.: -en 1 = Allomorph des grammatikalischen Morphems für den Plural von Substantiven (Bahnen, Zeiten), -en 2 = Allomorph des grammatikalischen Morphems für die 3. P. Pl. Präs. Akt. von Verben (spielen, gehen)); russ. Bsp.: ы 1 (Gen. Sg. f.), ы 2 (Nom. Pl.); -a 1 (Gen. Sg. m.), -a 2 (Gen. Sg. n.), -a 3 (Nom. Pl. m.). • Unikale Morpheme ( уникальная морфема ; auch Himbeermorphem, blockiertes Morphem, Pseudomorphem, Quasimorphem genannt) kommen nur in einer einzigen Kombination in der Lexik einer Sprache vor (Bsp.: {him} in dt. Himbeere, {brom} in Brombeere, {ries} in Riesling, {droll} in drollig, {schorn} in Schornstein, {lor} in Lorbeer; im Russ. unikales Affix { амт } in почтамт , unikale Wurzelmorpheme { бужен } in буженина , { чеп } in чепуха ). 43 Vgl. hierzu ein Zitat aus K ARAULOV (1998: 242), der zwar nicht von einem unikalen Morphem spricht, aber eben diese Erscheinung meint: „ Характерной чертой М . является их повторяемость в сочетании с разными М . Значение М . обычно выявляется в р я д у образований , содержащих данную М . В полном смысле этого термина М . могут считаться лишь такие значимые части 43 Die Unikalität der Morpheme verhindert wiederum nicht die Bildung von Ableitungen: почтамт почт амт ск ий , буженина буженин н ый . <?page no="97"?> Morphologie 91 слов , к рые вычленяются не в одном слове ( если только они не равны основе слова , как , напр ., единственная М . слова вдруг , не встречающаяся в других сло вах ) и при этом сочетаются с разными М . основы . Таковы , напр ., значимые части слова желтоватый .“ Für die slavischen Sprachen, i.e.S. für die russische Sprache, spielen folgende Morphemtypen keine Rolle: Von einem Portemanteaumorphem (auch Schachtelmorphem oder Amalgam; амальгама ) spricht man, wenn in einer phonologisch-morphologischen Einheit mehrere Morpheme ineinander fließen oder verschmolzen werden, z.B. frz. du de + le, dt. am an + dem (wobei letzteres Beispiel in einer engen Auslegung nicht als Portemanteaumorphem gesehen würde, da das synthetische am in jedem Kontext durch die analytische Form an dem ersetzt werden kann). Diskontinuierliche Morpheme ( разрывная морфема ) zeichnen sich dadurch aus, dass bei e in e r Inhaltsseite die Ausdrucksseite in zwei räumlich voneinander getrennte Teile zerfällt (Bsp.: das deutsche grammatische Morphem mit der Inhaltsfunktion „Partizip Perfekt“ ge/ sag/ t; die französische Inhaltsfunktion „Negation“ ist bei ne...pas auf zwei Elemente verteilt). Um die morphematische Gegliedertheit eines (komplexen) Wortes besser veranschaulichen zu können, wurde ein Inventar an Hilfszeichen entwickelt, das v.a. in spezialisierten Darstellungen zur Morphologie und Wortbildungslehre, aber auch in Lehrbüchern Verwendung findet. Es sei hier kurz vorgestellt: Zeichen steht für Beispiel ¾ Wurzel, Wurzelmorphem за работ ать Präfix за работать Suffix заработ а ть Endung, Flexion заработа j ут , мост n== , заработал и Postfix улыбать ся , куда нибудь Interfix вод о провод , заработа j ут Wortstamm работа ть , работа j ут , ламп а Abbildung 19: Morphematische Notationszeichen Affixoide Neben den bereits bekannten Präfixen und Suffixen gibt es die mit ihnen verwandten Erscheinungen der Präfixoide ( префиксоид ) und Suffixoide ( суффиксо ид ), die unter dem Oberbegriff Affixoide ( аффиксоид ) zusammengefasst werden. Zum Tragen kommen sie in Zusammensetzungen und Abkürzungswörtern. Der Fremdwörter-Duden (Duden Bd. 5: Fremdwörter. Mannheim, Wien, Zürich 1990) definiert ein Präfixoid als „(expressives) Halbpräfix, präfixähnliche[n] Wort- <?page no="98"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 92 bestandteil (z.B. sau-/ Sauin saublöd, Sauwetter)“ (S. 627) und ein Suffixoid entsprechend als ein „Wortbildungsmittel, das sich aus einem selbständigen Lexem zu einer Art Suffix entwickelt hat u. das sich vom selbständigen Lexem unterscheidet durch Reihenbildung u. Entkonkretisierung (z.B. -papst in Literaturpapst, -verdächtig in olympiaverdächtig“ (S. 752). In ähnlicher Weise bezeichnet B. T OŠOVI Ć ein Affixoid als „[f]reies Morphem, das sich bei der Reihenbildung von Komposita zu einem Affix entwickelt, da es sich von seiner Bedeutung als freies Morphem entfernt“ ( http: / / www-gewi.uni-graz.at/ gralis/ 6.Educarium/ 2003-2004/ Substantive%20Rus%20SS/ Afiksoid.htm ). Er nennt als Beispiele für das Russische полу in полусон und вед in литературовед (auch der linguistische Terminus Halbaffix, russ. полуаффикс , ist eine solche Affixoidbildung). Analog zur Bezeichnung freies Morphem nennen D. Ė . R OZENTAL ’ und M. A. T ELENKOVA in ihrem Slovar’-spravo č nik lingvisti č eskich terminov (Moskva 1976) ein Affixoid ein „[ к ] орневая морфема , выступающая в функции аффикса ( префикса или суффикса )“. Das Affixoid charakterisiert K ARAULOV (1997: 43) schließlich als „ повторяющийся с одним и тем же значением в составе ряда слов и прибли жающийся по своей словообразовательной функции ( способность образовывать новые слова с тем же компонентом ) к аффиксу - суффиксу ( для последних компонентов сложений ) или префиксу ( для первых компонентов )“. Russische Suffixoide, die in anderen Wörtern als Wurzel auftreten können, sind u.a. вод , воз , провод , видный , хоз , während als Präfixoide häufig само -, полу -, лже -, авиа -, теле -, видео -, орг -, супер -, лейб - ( лейб гвардия , лейб медик ) vorkommen. Wie die Beispiele zeigen, können diese Affixoide ganz unterschiedlichen Ursprungs sein und der russischen Sprache ebenso wie Fremdsprachen entstammen. Nicht in Wurzelfunktion auftreten können dagegen die Präfixoide гидро -, аэро -, псевдо -, еже - und die Suffixoide фил , навт , тека , дром , фикация . Ein grundlegendes Charakteristikum der Affixoide ist in der Tatsache zu sehen, dass sie ein Übergangstyp von Wurzelmorphemen mit einer „ очень абстрактной семанти кой , близкой к словообразовательному значению аффиксов “ sind (N. M. Š AN - SKIJ : O č erki po russkomu slovoobrazovaniju. Moskva 1968). Hinzu kommt, dass die affixoiden Kompositionselemente einen höheren Grad an Figurativität aufweisen und damit in übertragener Bedeutung verwendet werden können. Man vergleiche z.B. die Affixoidbildungen Traum-frau und Schlüssel-erlebnis mit den reinen Kompositionsbildungen Schlüssel-bund und Traum-analyse, in denen das erste Element jeweils in konkreter Bedeutung verwendet wird. Aufgaben: 1. Finden Sie zu jedem der im vorigen Abschnitt aufgeführten Präfixoide und Suffixoide mindestens drei Beispielwörter. <?page no="99"?> Morphologie 93 Morphemvarianten Eine Morphemvariante oder ein Allomorph ( алломорф ; von T RUBECKOJ stammt die Bezeichnung Morphemalternante) ist eine nicht semantisch begründete Formativvariante. Es tritt keine Bedeutungsveränderung auf (Bsp.: russ. ног а , нож ка , нож ной ; друг n , друз ья , друж еский ; dt. haus- häus-), sondern es handelt sich um eine durch die Stellung des Morphems im Wortganzen bedingte phonemische Variante (Bsp.: ad- assimilieren, con- Kollision, in- illegal, irregulär, Immersion, russ. ас симилировать , коллизия , иррегулярный , иммерсия ). K ARAULOV (1998: 241) unterscheidet terminologisch zwischen Allomorph und Morphemvariante: „ В противоположность алломорфам для вариантов морфемы характерна сво бодная взаимная заменяемость в окружении любых М . [ морфов - T.B.]; таковы , напр ., М . флексии твор . п . существительных и прилагательных жен . рода на ой / ою ( ср .: водой - водою , красной - красною и т . п .).“ Eine Allomorph ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Morphem seine Bedeutung beibehält, jedoch seine äußere Gestalt / Realisierung (seinen Phonembestand) unter dem Einfluss phonetischer Regeln (z.B. Auslautverhärtung) verändert; wir haben es mit einem phonetischen Lautwechsel zu tun. Phonologisch betrachtet wechseln die Varianten eines Phonems: г´ород [g û1 r 6 t] г´орода [g û1 r 6 d 6 ] з ´а город [z û ag 6 r 6 t] город´а [g 6 r à d û a] Die Einstufung dieses Phänomens unter die Allomorphe ist nicht allseits akzeptiert; vgl. u.a. die Position T RUBECKOJ s: Im Deutschen wie im Russischen stehen stimmhafte und stimmlose Plosive am Wortende nicht in Opposition, wodurch nach T RU - BECKOJ die Opposition (d.h. die distinktiven Merkmale der jeweiligen Phonemgehalte) aufgehoben (neutralisiert) ist. In dieser Aufhebungsstellung werden die Phoneme zu so genannten Archiphonemen ( архифонема ), deren Phonemgehalt die Gesamtheit der distinktiven Eigenschaften ist, die sonst zwei Phonemen gemeinsam sind. M ARTINET bezeichnet als Archiphonem die Menge der distinktiven Eigenschaften, die mehr als einem Phonem gemeinsam sind. Ein Archiphonem wird immer an einer Neutralisationsstelle realisiert und in Großbuchstaben notiert. Von diesem phonetischen Lautwechsel ist der historische Lautwechsel ( истори ческое чередование звуков ) abzugrenzen! (z.B. bedingt durch Konsonantenalternanz, s.o.) Der historische Lautwandel tritt v.a. in Wurzelmorphemen auf: мог у - можешь Bsp. für Allomorphe: бр ать - беру - выбирать - выбор <?page no="100"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 94 Lautwandel kann in 3 Fällen auftreten: • bei der Flexion: сид еть - сижу , писать - пишу • bei der Formenbildung: спрос ить - спрашивать , спрошенный , тихий - тише • bei der Wortbildung: велик ий - увеличить , увеличение , величие , друг / друзья - друж ба , дружный , содружество Einige Beispiele in der folgenden Tabelle sollen die morphematische Gliederung von Wörtern und Wortformen unter besonderer Beachtung der Morphemvarianten veranschaulichen. Im Vorgriff auf die noch zu behandelnde Semantik sei hier vereinfachend auf die Differenzierung von lexikalischer Bedeutung und grammatischer Bedeutung hingewiesen: Die lexikalische Bedeutung eines sprachlichen Zeichens setzt dieses in Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, die in der Sprache ja nur abgebildet wird; das Zeichen verweist auf den Gegenstand. Zugleich grenzt die Bedeutung eines Zeichens dieses gegenüber anderen Zeichen desselben Zeichensystems ab (Herstellung von semantischen Oppositionen, beispielsweise innerhalb eines Wortfeldes: стул - табурет - диван usw.). Wenn man von Bedeutung spricht, meint man üblicherweise diese lexikalische Bedeutung. Demgegenüber verleiht die nicht weniger wichtige grammatische Bedeutung einem sprachlichen Zeichen bestimmte funktionelle Eigenschaften im Sprachsystem, z.B. eine bestimmte syntaktische Funktion im Satz. Die Sprache stellt gewisse morphologische Mittel bereit, die diese Funktion formal kenntlich machen. Beachte: Die Wurzel eines Wortes trägt stets lexikalische Bedeutung (LB), keine grammatische Bedeutung (GB). пись м о Wurzel Wortbildungssuffix (GB: Markierung eines Subst.) Endung (flektiert; GB: neutr. Subst. im Nom.Sg.) за пиш и Präfix (LB) Wurzel Endung (GB: Imper.Sg.) пере пис ыва ть ся Präfix (LB) Wurzel Suffix (GB: Markierung des imp. Apekts) Suffix (GB: Markierung des Infinitivs) Postfix (LB: Markierung eines gegenseitig-reflexiven Verbs) машин о пис н ый Wurzel Interfix Wurzel Suffix (LB: Markierung eines Adj.) Endung пись м енн ость Ø Wurzel Suffix Suffix Suffix Nullendung <?page no="101"?> Morphologie 95 пис а тел ями [l’ || am I ] 44 Wurzel Suffix Suffix (LB: Markierung eines Nomen agentis) Endung (GB: mask. Subst. im Instr.Pl.) Allomorphe: пись , пис , пиш -тель , ёр = Kennzeichen für Nomina agentis, -ость = Kennzeichen für Abstrakta ход и ть Wurzel Suffix Suffix у хаж ёр ск ий Präfix Wurzel Suffix Suffix Endung про ход и м ость Ø Präfix Wurzel Suffix Suffix Suffix Nullendung про ход чик Ø Präfix Wurzel Suffix Nullendung в хожд ени е Präfix Wurzel Suffix Endung про ис ход ящ ими Präfix Präfix Wurzel Suffix Endung ходь б а Wurzel Suffix Endung при хож ан ин Ø Präfix Wurzel Suffix Suffix Nullendung Allomorphe: хаж , ход , хожд , ход рук а Wurzel Endung пере по руч а ть Präfix Präfix Wurzel Suffix Endung без рук ав к а Präfix Wurzel Suffix Suffix Endung руч к а Wurzel Suffix Endung 44 Die grafische Realisierung der Endung ями mit dem weichen Vokalbuchstaben я zeigt an, dass der davorstehende Konsonant л palatal ist. Im Nom.Sg. wird diese Markierung vom Weichheitszeichen übernommen, hier, im Instr.Pl., wandelt sich die Endung ами unter dem Einfluss der lautlichen Umgebung zur Alloform ями . Phonologisch lautet die Endung also immer noch / -ami/ , da das Palatalitätskennzeichen zum vorangehenden Phonem / l’/ gehört. <?page no="102"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 96 под рук ав н ый Präfix Wurzel Suffix Suffix Endung рук ав ич к а Wurzel Suffix Suffix Suffix Endung Allomorphe: рук , руч рус ск ий Wurzel Suffix (Adj.) Endung Рос си я Wurzel Suffix Endung рус о фоб ск ий Wurzel Infix Suffix Suffix Endung Allomorphe: рус , рос Aufgaben: 1. Versuchen Sie bei den obigen Beispielen, wo dies noch nicht geschehen ist, die einzelnen Morpheme mit ihrer jeweiligen lexikalischen oder grammatischen Bedeutung zu versehen. 2. Analysieren Sie das folgende komplexe Wort morphologisch: сумасшедший . Benutzen Sie hierbei die Hilfszeichen zur morphematischen Gliederung und achten Sie insbesondere auf den Unterschied von Silbengrenze und Morphemgrenze. Bei der morphematischen Gliederung eines Wortes wäre es unpräzise, von vornherein nur vom Stamm zu sprechen, da es den Stamm nicht gibt. Vielmehr ist zu unterscheiden nach: • Wortstamm: Teil des Wortes, der die lexikalische Bedeutung trägt; außer den Endungen werden formenbildende Affixe abgetrennt (Ausnahme: aspektbildende Affixe! ). Nicht zum Wortstamm gehören somit: o das Infinitivsuffix (ть , сть , ти , сти , чь (aus altslav. *-gti, *-kti)), o die Markierungen von Passiv-/ Reflexivformen (ся / сь ), o die Markierungen des Präteritums (л ), o Interfixe (-o-/ -e-), o Suffixe der Partizipien (Part.Präs.Akt. уш - (юш -)/ аш - (яш -); Part.Prät.Akt. вш - (ш -); Part.Präs.Pass. ем -/ им -; Part.Prät.Pass. нн -; т -; енн -/ ённ -) und Adverbialpartizipien (imperf. а (я ); perf. в / вши ), o Suffixe des Komparativs (ее (ей ); Sonderformen е / ше ) und Superlativs (ейш -; Sonderformen айший / ший 45 ) bei Adjektiven und Adverbien, o Diminutiv- und Augmentativsuffixe (u.a. ик : стол столик , ечк -, онк -: книга книжечка , книжонка ). Der unterstrichene Teil der folgenden Wortformen bildet jeweils den Stamm (das Zeichen | markiert die Morphemgrenzen): стран| а бел| ый (Stamm = Wurzel) 45 Für eine Liste unregelmäßiger Komparationsformen siehe M ULISCH 1993: 241f. <?page no="103"?> Morphologie 97 бел|е| л|а (Stamm ≠ Wurzel); e = wortbildendes Suffix строи| л|а|сь с|дела| ть ; с = aspektbildendes Präfix за|пис|ыва| ть ; ыва = aspektbildendes Suffix • Infinitivstamm: Infinitiv ohne Endung, der in dieser Form auch als Präteritalstamm dient: дела| ть , hiervon gebildet z.B. дела л и , дела в • Präsensstamm: Bildung erfolgt ausgehend von der 3. Pers. Pl. Präsens (unvollendeter Aspekt! ): завтрака -j |ут ( завтрака ют ; Inf.: завтракать ) [z û aftr 6 k 6 j | ut] зна -j |ут ( зна ют ; Inf.: знать ) [zn û aj | ut] дела -j |ут ( делают ; Inf.: делать ); hiervon gebildet z.B. дела -jn= ( делай ), дела jуш ий = ( делающий ) жив |ут (Inf.: жить ) Beim Zusammenspiel von lexikalischer und grammatischer Bedeutung sind zu unterscheiden: • synthetische Formen ( синтетическая форма ): die lexikalische und die grammatische Bedeutung fallen in einem Wort zusammen ( запишу , новейший ), • analytische Formen ( аналитическая форма ): zum Ausdruck der grammatischen Bedeutung, die nicht im „Kernwort“ enthalten ist ( буду записывать , самый новый , записал бы ), werden Hilfswörter eingesetzt. Folgende Besonderheiten in der Formenbildung russischer Substantive sind historisch gewachsen und deshalb rein synchron nicht erklärbar: • u-Genitiv (partitiver Genitiv; родительный разделительный , родит . части ) Tritt nur auf bei bestimmten maskulinen Substantiven (ehemaliger u-Stamm), und zwar als Objektsgenitiv nach transitiven Verben, d.h. nach Verben, die ein direktes Objekt erfordern. Der Partitiv mit seiner i.d.R. unbetonten u-/ ju-Endung drückt hierbei aus, dass sich die durch das Verb bezeichnete Tätigkeit nur auf einen Teil des gesamten Objekts bzw. nur auf einen Teil der vorhandenen Objekte erstreckt. Der Partitiv ist somit einer der möglichen Objektskasus. In folgenden Fällen wird der u-Genitiv verwendet: o bei Mengenangaben (Genitiv des Maßes; bestimmte oder unbestimmte Menge: стакан , чашка vs. много : килограмм сыру , канистра бензину ), o bei nicht-zählbaren Objekten (Stoffbezeichnungen): заказать тарелку супу , Она купила сахару и мёду , Они покурили табак ´у ; auch bei народ : Собира лось много народу , o bei bestimmten Verneinungen, die z.B. eine nicht ausreichende Menge von etwas ausdrücken: не хватает сахару , o bei Verben des Gebens und Nehmens, Essens und Trinkens: выпить чашку чаю , o bei verschiedenen, überwiegend abstrakten Substantiven nach den Präpositionen из , от , с , без (neben der regelmäßigen Endung auf а (я )): уйти ´из дому , умереть от голоду , <?page no="104"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 98 o in einigen feststehenden Redewendungen: с часу н ´а час , ему не д´о смеху . • u-Präpositiv (Lokativ; местный падеж ) Diese Form hatte ursprünglich nur lokative Bedeutung (diente also einer Ortsangabe), weitete sich jedoch in analogischer Verwendung auch auf andere Substantive z.B. mit Zeitbedeutung aus. Sie tritt bei ca. 100 meist einsilbigen männlichen Substantiven der I. Deklinationsklasse nach den Präpositionen в und на , seltener nach при , auf. Die Kasusendung ist immer betont. в лес ´у (vgl. [ думать / говорить ] о л´есе ), на берег´у , на полном ход´у , в год´у , во рту , ( иметь ) в вид ´´´´у , в шкаф´´´´у , на мост´´´´у (weitere Bsp. u.a. bei T AUSCHER / K IRSCHBAUM 1983: 87f). In allen anderen Fällen wurde der (ur)indogermanische Lokativ zum Präpositiv. • a-Plural Etliche maskuline Substantive der I. Deklinationsklasse mit Stammbetonung im Singular bildet den Nom.Pl. nicht auf ы (и ), sondern auf stets betontes - ´а (- ´я ). Es handelt sich um einen alten Dual aus dem Kirchenslavischen, der ursprünglich nur für paarweise vorkommende Gegenstände verwendet wurde; später dehnte sich der Gebrauch jedoch in Analogie auch auf nichtpaarige Gegenstände aus. берег ´а , бок´а , борт´а , глаз´а , рог´а , рукав´а , адрес´а , директор´а , сторож´а , го лос ´а , дом´а , кра´я , снег´а , хутор´ а , остров´а (weitere Bsp. u.a. bei T AUSCHER / K IRSCHBAUM 1983: 89). Beachte für einige Substantive die möglichen Bedeutungsunterschiede in Abhängigkeit von der Pluralendung: хлеб´а (‚Getreide’) vs. хл´ебы (‚Brote’) лагер´я (‚Zeltlager; Gefangenenlager’) vs. л´агери (‚politische Lager’) орден´а (‚Orden als Auszeichnung’) vs. ´ордены (‚Ritterorden’) образ´а (‚Heiligenbilder’) vs. ´образы (‚Gestalten, Figuren’) пропуск´а (‚Passierscheine’) vs. пр´опуски (‚Versäumnisse’) Daneben gibt es wenige Substantive mit beiden Pluralformen ohne Bedeutungsunterschied. • Belebtheitskategorie ( категория одушевлённости ) 46 Sie wird von J ARCEVA (1998: 342) bezeichnet als „ понятийная категория , отражающая разделение человеком окружающего мира на живое и нежи вое . Получает двоякое выражение в языке - лескическое и граммати ческое “. Männliche Substantive der I. Deklinationsklasse sowie männliche substantivierte Adjektive und Partizipien, die ein Lebewesen (nur Menschen und Tiere, jedoch keine Pflanzen) bezeichnen, bilden den Akkusativ Sg. bzw. Pl. wie den Genitiv Sg. bzw. Pl. und nicht, wie unbelebte Substantive, wie den jeweiligen Nominativ. Ebenso verhalten sich die meisten (Personal-) Pronomen und Zahlwörter: отец любит сына , я вас не понимаю , он увидел своих трёх братьев . Im Plural gilt die Regel Akkusativ = Genitiv für belebte Substantive, substantivierte Adjektive und Partizipien aller drei Genera. 47 46 Der ältere Terminus Beseeltheit wird heute praktisch nicht mehr verwendet. 47 Für Details siehe die Akademiegrammatiken sowie die praktischen Grammatiken. <?page no="105"?> Morphologie 99 Mit den genannten Worttypen kongruierende Wörter unterliegen ebenfalls der Belebtheitskategorie: отец любит своего старшего сына . Bei unveränderlichen Substantiven ( атташе , шимпанзе ) werden die kongruierenden Beiwörter trotzdem entsprechend flektiert: мы встретили русского атташе . In übertragener Bedeutung können auch an sich unbelebte Substantive den Charakter der Belebtheit annehmen, wenn sie sich auf Lebewesen (Personen) beziehen: синий чулок ‚Blaustrumpf’, нападки в печати на синих чулков ‚Angriffe in der Presse gegen die Blaustrümpfe’. K ARAULOV (1997: 282) verweist auf eine wichtige Ausnahme von dieser, die russische Sprache an sich ganz durchziehenden Kategorie: „ Отступлением от последовательного выражения категории О .и . [ оду шевлённости - T.B.] являются конструкции типа : пойти в матросы , поступить в работницы , выбрать в депутаты , обозначающие присоединение кого н . к определённому кругу лиц ; в таких конструкциях формы вин . п . мн . ч . совпа дают с формами им . п .“ Die Belebtheitskategorie äußert sich in anderen slavischen Sprachen mit einigen Unterschieden. Zur weiterführenden, komparatistischen Literatur siehe die einschlägigen Sprachvergleiche. Die Belebtheitskategorie begegnet uns bereits im Altkirchenslavischen, das durch die Angleichung des Akk.Sg. an den Gen.Sg. versuchte, die in der Folge bestimmter lautlicher Entwicklungen verloren gegangene formale Unterscheidung von Subjekt (Nom.Sg.) und Objekt (Akk.Sg.) wiederherzustellen. Von einer relativ eng umgrenzten Personengruppe, die anfänglich unter die Belebtheitskategorie fiel, wurde der Gebrauch im Laufe der Zeit analogisch und generell auf Personen- und Tierbezeichnungen zunächst im Singular, später auch im Plural ausgedehnt. Literatur: B ONDARKO , A. V.; B ULANIN , L. L.: Russkij glagol. Leningrad 1967. G ABKA , K URT (Hg.): Die russische Sprache der Gegenwart. Band 2: Morphologie. Leipzig 1975. G ABKA , K URT (Hg.): Russische Sprache der Gegenwart. Band 2: Morphologie. Leipzig 1987. G ABKA , K URT (Hg.): Russische Sprache der Gegenwart. Kommentare und Aufgaben zur Morphologie. Leipzig 1988. I SA Č ENKO , A. V.: Die russische Sprache der Gegenwart. Teil 1. Formenlehre. Halle/ Saale 1968. M EL ’ Č UK , I. A.: Kurs obš č ej morfologii. Moskva-Vena. Č ast’ 1: Slovo. 1997; Č ast’ 2: Morfologi č eskie zna č enija. 1998; Č ast’ 3: Morfologi č eskie sredstva. 2000; Č ast’ 4: Morfologi č eskie sintaktiki. 2000; Č ast’ 5: Morfologi č eskie znaki. 2001; Č ast’ 6: Morfologi č eskie modeli. 2006; Č ast’ 7: Principy morfologi č eskogo opisanija. 2006. M U Č NIK , I. P.: Grammati č eskie kategorii glagola i imeni v sovremennom russkom literaturnom jazyke. Moskva 1971. M ULISCH , H ERBERT : Einführung in die Morphologie der russischen Gegenwartssprache. München o.J. N IKOLENKO , L. V. et al.: Russkoe slovo kak predmet jazykoznanija. Moskva 1972. P ANZER , B ALDUR : Studien zum slavischen Verbum. Frankfurt am Main 1991. R ASPOPOV , I. P.; L OMOV , A. M.: Osnovy russkoj grammatiki. Morfologija i sintaksis. Voronež 1984. <?page no="106"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 100 13.6 Wortbildung Die Notwendigkeit, beständig neue Spracheinheiten zu bilden, um den sich wandelnden Benennungserfordernissen der menschlichen Gesellschaft Rechnung zu tragen, findet ihren formalen Niederschlag in den verschiedenen Verfahren der Wortbildung, daneben in der Übernahme ( dem Import) fremdsprachigen Materials. Die menschliche Existenz ist durch die Jahrtausende hindurch immer komplexer geworden, und entsprechend hat sich der Wortschatz der einzelnen Sprachen quantitativ - und qualitativ - weiterentwickelt. Bei der Wortbildung ( словообразование ) handelt es sich um die Veränderung (d.h. Vergrößerung und Bereicherung) des Wortschatzes mit systemimmanenten Mitteln, also nicht um Materialentlehnungen 48 aus Fremdsprachen. Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Wortbildungsverfahren behandelt, bevor zum Abschluss des Kapitels noch einige besondere Erscheinungsformen der Wortbildung vorgestellt werden. Die grundlegenden Verfahren der Wortbildung sind zunächst wie folgt zu unterscheiden: • Komposition (( слово ) сложение ), • Derivation ( деривация ), • Konversion (Nullableitung; конверсия ), • Abbreviation (Kürzung; аббревиация ). Die Ergebnisse dieser Wortbildungsverfahren heißen Kompositum ( сложное сло во ), Derivat ( дериват , производное слово ), Abkürzung/ Kurzwort ( аббревиату ра ); für das Produkt der Konversion fehlt eine entsprechende Bezeichnung (Konvertit wäre möglich, ist aber bereits semantisch anders belegt). Während im Deutschen die Komposition überwiegt, kommt im Russischen der Derivation größere Bedeutung zu, Konversion und Kürzung werden ebenfalls in beiden Sprachen häufig verwendet. Die russische Sprache verfügt über ein reiches Inventar an Wortbildungsverfahren und -mitteln. So heißt es in dem für eine erste Orientierung sehr zu empfehlenden Artikel Slovoobrazovanie bei K ARAULOV (1997: 500-503, hier 502): „ Для совр . рус . языка характерны след . основные способы С .: суффиксальный ( учи тель ), префиксальный ( пере писать ), постфиксальный ( мыть ся ); сме шанно аффиксальные способы - префиксально суффиксальный ( за столь н ый ), префиксально постфиксальный ( раз бежать ся ), суффиксально пост фиксальный ( горд и ть ся ), префиксально суффиксально постфиксальный ( пере шёпт ыва ть ся ); чистое сложение ( последний компонент равен само стоятельному слову : перв о источник ), суффиксально сложный способ ( земл е проход ец ), сращение ( отличается от сложения сохранением в структуре моти вированного слова синтаксической связи компонентов , входящих в мотиви - 48 Hierzu mehr im Zusammenhang mit der Lexikologie in Kap. 13.7.1. <?page no="107"?> Wortbildung 101 рующее словосочетание : ума лишённый ), аббревиация [...], а также усечение по аббревиатурному принципу ( специалист - спец ).“ Grundsätzlich und unabhängig vom jeweiligen Wortbildungsverfahren zu trennen sind das motivierende Wort ( мотивирующее слово ) als der Ausgangspunkt (Ableitungswort) eines Wortbildungsprozesses und das motivierte Wort ( мотивиро ванное слово ) als dessen Ergebnis (abgeleitetes Wort). Im Unterschied zur Flexion (Formenbildung) entsteht bei der Derivation stets ein neues Wort (Lexem), darüber hinaus kann sich die Wortart ändern. Durch den Prozess der Wortbildung entstehen also auf der Grundlage bereits existierender Wörter neue lexikalische Einheiten mit einer mehr oder weniger engen semantischen Bindung an das Ausgangswort. Diese semantische Bindung oder Bedeutungsverwandtschaft wird dadurch gewährleistet, dass die Wurzel des Ausgangswortes (des motivierenden Wortes) und die des Ableitungsprodukts (des motivierten Wortes) gleich sind (dies schließt Stammallomorphie, also eine lediglich formale Variierung des Stamms bzw. der Wurzel, nicht aus). Man spricht hier von wurzelidentischen Wörtern ( однокорневые слова ). Ein Sonderfall dieser Erscheinung ist die Paronymie. Alle Wörter mit derselben Wurzel bilden wiederum ein Wortnest (hierzu jeweils später mehr). Aufgrund ihrer morphematischen Struktur lassen sich Wörter in drei Klassen unterteilen: • Simplizia (Sg. Simplex; непроизводное слово ): ein Kernmorphem (lexikalisches Morphem) + eventuell ein oder mehrere grammatische Morpheme; ein nichtabgeleitetes Wort, Bsp.: вода , стол , • Derivata (Sg. Derivat oder Derivatum): ein Kernmorphem + mindestens ein Wortbildungsmorphem + eventuell ein oder mehrere Flexionsmorpheme, Bsp.: водяной , столовый , столяр , • Komposita (Sg. Kompositum): mindestens zwei Kernmorpheme + eventuell ein oder mehrere Derivationsmorpheme, Flexionsmorpheme, Fugenelemente, Bsp.: водонос . Die obengenannten grundlegenden Verfahren der Wortbildung und ihre Untertypen lassen sich in folgende Gruppen aufteilen: 1. lexiko-semantische Wortbildung: Bedeutungsveränderung (Erweiterung oder Verengung) bereits vorhandener Wörter. Man vergleiche die Einzelbedeutungen von ключ 1 : ‚Türschlüssel’ vs. ‚Schraubenschlüssel’ ( гаечный ключ , ‚Schraubenschlüssel’, разводной ключ ‚Engländer’) vs. ‚Notenschlüssel’ ( басовый ключ ‚Bassschlüssel’, скрипичный ключ ‚Violinschlüssel’); hinzu kommt ein Wort ключ 2 mit der gänzlich anders gelagerten Bedeutung ‚Quelle’. 2. lexiko-syntaktische Wortbildung: Komposition, Zusammenziehung (Zusammenrückung, сращение ) von Syntagmen (Wörtern einer Wortfügung oder Wortgruppe) und Sätzen zu Wörtern: unter synchronem Aspekt: вышеупомянутый выше упомянутый , тяжело больной тяжело больной unter diachronem Aspekt: спасибо спаси бог , сегодня сего дня , наконец на конец <?page no="108"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 102 3. morphologisch-syntaktische Wortbildung: Übergang eines Wortes in eine andere Wortklasse / Wortart unter bestimmten syntaktischen Bedingungen ohne äußere (morphologische) Veränderungen: o Übergang eines ganzen Paradigmas oder eines Teils davon in eine andere Wortart (Konversion; конверсия ): 49 Adjektivierung ( адъективизация ) von Partizipien: открытый , солёный , подходящий Substantivierung ( субстантивация ) von Adjektiven und Partizipien: де журный , столовая , пирожное , заведующий , трудящиеся , набережная o Lexikalisierung ( лексикализация ) einer einzelnen Form: ночью ‚nachts’, ве чером ‚abends [alter Genitiv von Abend]’, рядом ‚nebeneinander; nebenan’ (ursprünglicher obliquer Kasus eines Substantivs wird zum Adverb), благо даря ‚dank’, шутя ‚im Scherz’ (ursprüngliches Adverbialpartizip wird zur Präposition), правда ‚wahrhaftig, wirklich’ (ursprüngliches Substantiv wird zum Schaltwort/ Modalwort ( вводное слово )) 4. morphologische Wortbildung (Derivation): Bildung neuer Wörter durch Ableitung: an den Stamm eines bereits existierenden Wortes werden Affixe angefügt: o Präfigierung: писать за писать o Suffigierung: писать писатель o Postfigierung: мыть мыться o Kombinationen aus obigen Verfahren (Zirkumfigierung): стакан под стаканник , бежать разбежаться o Nullsuffigierung (retrograde Derivation/ Wortbildung; обратное словообра зование ): бегать бег . Die Antwort auf die Frage, ob bei einem Ableitungsverhältnis eine normale oder eine retrograde Derivation vorliegt, hängt von der unterstellten Ableitungsrichtung ab. Die Entscheidung, welches Wort zuerst da war, kann oft nur außersprachlich, kulturwissenschaftlich getroffen werden. Ein rein innersprachlicher Ansatz geht von der formalen Struktur der Wörter aus, wobei die komplexere Form sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus der einfacheren ergeben hat. Neben diesen diachronen Betrachtungsweisen kann man auch rein synchron vorgehen und die Existenz beider Wörter als gegeben hinnehmen. Die Unterscheidung von normaler und retrograder Ableitung hängt dann nur von der - recht willkürlichen - Entscheidung ab, welches Wort ich als Ausgangswort, als Ableitungsbasis nehmen will: бе гать бег wäre demnach eine retrograde Derivation, бег бегать eine normale. Die folgende Grafik bietet einleitend einen synoptischen Überblick über die einzelnen Verfahren der Wortbildung, auf die im Weiteren näher eingegangen wird. 49 Der Terminus Konversion wird in der Linguistik mitunter auch im Sinne der Transposition (s.u.) verwendet, wobei jeweils auf den Stamm eines Wortes abgestellt wird, nicht auf seine Gesamtform: Öl (Substantiv) öl(en) (Verb), treff(en) (Verb) Treff (Substantiv). Bleibt der Stamm, wie in diesen Beispielen, unverändert, so kann man von morphologischer Konversion sprechen, während der Wortartwechsel eines flektierten Wortes als syntaktische Konversion bezeichnet werden kann: entscheidend (Verb im Part. Präs. Akt. bzw. Adjektiv) Entscheidendes (Substantiv). <?page no="109"?> Wortbildung 103 Abbildung 20: Verfahren der Wortbildung (anhand russischer Beispiele) 13.6.1 Derivation Es gibt drei funktional-semantische Haupttypen der morphologischen Wortbildung: 1. Transposition ( транспозиция ): Wortartwechsel unter Beibehaltung der lexikalischen Bedeutung des motivierenden Wortes ( образовать образование , Verfahren der Wortbildung morphologisches Abkürzung lexikalischsyntaktisches (Zusammenrückung) сумасшедший < с ума сшедший morphologischsyntaktisches (Konversion) утром < I. Sg. v. утро рядом < I. Sg. v. ряд Silbenkürzung Komposition Initialkürzung Teilkürzung медицинская сестра > медсестра Affigierung Sprechtyp высшее учебное заведе ние > вуз Buchstabiertyp Содруже ство Незави симых Госу дарств > СНГ aus Anfangsu. Endteil радио стан ция > рация , пара шют + аква ланг > пара ланг aus Anfangssilben коллек тивное хозяй ство > колхоз aus Anfangso. Endteil метро поли тен > метро , магни тофон > маг syntaktische Wortbildung (Transposition) рисовать > рисование lexikalische Wortbildung Kopulativkompositum северо восток , русско неме ц кий Determinativkompositum пылесос , водоснабже ние Mutation спина > спинка , Англия > a нгли чанин , трактор > тракторист , чай > чайник , лететь > влететь Modifikation дом > домик , дед > дедушка , комната > комнатёнка <?page no="110"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 104 скромный скромность , атом атомный ). Mit der Wortart ändert sich allein die grammatische Bedeutung und damit das syntaktische Verhalten des motivierten Wortes. 2. Modifikation ( модификация ): Hinzufügung eines Affixes mit zusätzlichem Bedeutungselement zur Bedeutung des motivierenden Wortes unter Beibehaltung der Wortart und damit des syntaktischen Verhaltens. Es existiert nur eine schwache lexikalische Unterscheidung zwischen dem motivierenden und dem motivierten Wort, d.h. die Bedeutung des motivierenden Wortes wird nur modifiziert, nicht komplett verändert. Typische Beispiele für die Modifikation sind Diminutivbildungen ( книга книжечка , дом домик ), Augmentativbildungen ( книга книжонка , дом домище ), die beide teilweise eine stilistische Wertung enthalten können, Motionsbildungen, d.h. die Bildung weiblicher Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnungen auf der Grundlage der entsprechenden männlichen Formen ( студент студентка , преподаватель преподавательница ). 3. Mutation ( мутация ): Veränderung der lexikalischen Bedeutung des motivierenden Wortes durch Anfügen wortbildender Morpheme ( футбол футболист ). Es entsteht eine neue Bedeutung, so dass Mutation immer dort vorliegt, wo in der Sprache neue Benennungen auf der Grundlage bereits existierender Einheiten gebildet werden. Die Wurzel bleibt i. W. gleich, so dass motivierendes und motiviertes Wort wurzelidentisch sind und damit zu derselben Wortfamilie gehören. Die Verfahren 2 und 3 werden zusammen auch als lexikalische Wortbildung bezeichnet, da sich die lexikalische Bedeutung des motivierenden und des motivierten Wortes (stärker oder schwächer) voneinander unterscheiden. Das Verfahren 1 wird auch als syntaktische Wortbildung bezeichnet, da die Affixe keine lexikalische, sondern nur grammatische Bedeutung besitzen und so die lexikalische Bedeutung des motivierenden Wortes nicht verändert wird, im Gegensatz zu seiner grammatischen (syntaktischen) Bedeutung. Die drei funktional-semantischen Haupttypen der morphologischen Wortbildung (Derivation) sind Transposition, Modifikation und Mutation. 13.6.2 Komposition Die Komposition ist ein Wortbildungsverfahren, bei dem aus zwei oder mehr autosemantischen Wörtern oder Wortstämmen ein neues Wort (Kompositum) zusammengesetzt wird. Der erste Teil (das Determinans; определяющее ) determiniert den zweiten (das Determinatum; определяемое ) 50 , welcher seinerseits die Wortart bestimmt und Träger der grammatischen Eigenschaften ist: Haus-Frau, женщина врач . Zur Komposition zählen folgende Konstruktionen: • Verbindung von zwei grammatisch geformten Autosemantika: город герой , женщина врач 50 Ist die Reihenfolge umgekehrt, steht also das Determinatum vor dem Determinans, so nennt man diese Erscheinung Synapsie. Vergleiche dt. Waschmaschine und frz. machine à laver. <?page no="111"?> Wortbildung 105 • Verbindung von Wortstamm + Bindevokal (Interfix) + grammatisch geformtes Autosemantikon: железобетон , нефтепровод • Komposition mit gleichzeitiger Suffigierung: двухтомный , пятиэтажный , углеродсодержащий , долгоиграющий • Eine besondere Form der Komposition ist die Amalgamierung, ( амальгамиро вание ), auch Kontamination 51 , Blending oder Wortkreuzung genannt, bei der neue Wörter durch die Zusammensetzung von Wörtern+Wortteilen oder Wortteilen+Wortteilen entstehen: Brunch aus breakfast und lunch, Eurasien ( евразия ) aus Europa und Asien, демократура aus демократия und диктатура , биони ка aus био логия und техника (obgleich hier auch eine Ableitung von gr. bi ō n denkbar wäre), Mechatroniker aus Mechaniker und Elektroniker. Morphem- oder Silbengrenzen finden nicht unbedingt Berücksichtigung. Derartige Bildungen können ad-hoc-Charakter tragen (z.B. in Wortspielen wie Bankfurt, Medizyniker), sind jedoch z.T. bereits lexikalisiert. Zu trennen sind diese Kontaminationen von den sogenannten Kofferwörtern und den Zusammenrückungen ( сращение ). Ein Kofferwort ist eine besondere Abkürzung (Kurzwort) wie z.B. in adidas (aus Adi Dassler), haribo (aus Harald Riegel Bonn), Luxair (aus Luxemburg und air) und ist aus mnemotechnischen Gründen häufig bei Eigenbzw. Markennamen anzutreffen. Eine Zusammenrückung vereinigt ursprünglich isolierte lexikalische Einheiten in einem Wort (Dreikäsehoch, Neunmalklug, Sein Um-den-heißen- Brei-Schleichen geht mir auf die Nerven; недотрога , незабудка (hier in Verbindung mit Derivation)). So definieren auch Š VEDOVA / O ŽEGOV (1997: 759) сра щение als: „ То , что соединилось в целое , образовалось в результате сраста ния . Фразеологическое с . ( идиома )“ Die Grenze zwischen den Kompositionselementen im Wort nennt man Wortfuge ( место соединения слов ). Im Deutschen wie in slavischen Sprachen finden sich an den Fugen häufig Fugenelemente (auch Interfixe genannt; соединительный эле мент , интерфикс ) zwischen den einzelnen Bestandteilen. Diese haben weder lexikalische noch grammatische Bedeutung, sondern rein phonetisch-artikulatorische Funktion (als Gleit-/ Übergangslaut). Zur Verteilung der Interfixe -o- und -eim Russischen: -osteht nach einer harten Wurzel, wie in сорок оножка , кровообращение ; -esteht nach Wurzeln, die auf einen weichen Konsonanten, auf einen Zischlaut oder auf ц auslauten: жизн еописание , овощехранилище , овцеводство . Im Deutschen liegt meist das sogenannte Fugen-s bzw. das Fugen-n vor: motivation-s-los 52 , Universität-s-lehrer, Kantine-n-wirt-s-leute, Klasse-n-raum, Biene-n-stich, das ebenso fallweise mit einer Ausspracheerleichterung begründet werden kann, teilweise jedoch auch als (alte) Genitivendung des ersten Elementes gedeutet werden kann: Universitätslehrer = ‚Lehrer der Universität’, Klassenraum = ‚der Klassen Raum’. Die Wortfuge fällt immer mit einer Silbengrenze zusammen und ist gleichzeitig eine phonematische Grenze, die sich in einer minimalen Sprechpause und/ oder Reduzierung der Betonung äußert. Man vergleiche die geradezu katastrophale Wirkung einer falsch verstandenen Wortfuge im Wort Urinstinkt: Ur-instinkt bzw. 51 Der Terminus Kontamination wird in der Linguistik, im Gegensatz zu bestimmten Bereichen der Naturwissenschaft, wertneutral gebraucht. 52 Das Element -los ließe sich auch als Suffixoid betrachten, d.h. als suffixähnliches Element. <?page no="112"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 106 Urin-stinkt, oder bei Qualmarsch: Qual-marsch bzw. Qualm-arsch. Gern zitiert werden auch die Beispiele Erblasser (Erb-lasser bzw. Er-blasser) und Wachstube (Wach-stube bzw. Wachs-tube). Nach dem syntaktischen Verhältnis der Kompositionsglieder unterscheidet man: • Kopulativkomposita ( сложное слово соединительного типа ): beide Elemente sind einander gleichgeordnet und determinieren sich nicht gegenseitig ( северо восток , юго запад , сине зелёный ) • Determinativkomposita ( сложное слово подчинительного типа ): das erste Element determiniert das folgende ( водопровод ) • Iterativkomposita ( лексический редупликат , ( сложное наречие )): sie sind selten und entstehen durch Verdoppelung (Duplizierung) eines (meist kurzen) Wortes ( чуть чуть ‚sehr wenig’, еле еле ‚mit Müh und Not’; Bonbon, Filmfilm). Semantisch wird hier eine Intensivierung des gemeinten Inhalts angestrebt. Nach dem semantischen Verhältnis der Kompositionsglieder (A = erstes Glied, B = zweites Glied) unterscheidet man: • Substanz-Nomina: (B besteht aus A): Eisenstange = ‚Stange aus Eisen’, Lackschicht = ‚Schicht aus Lack’ • affizierende Nomina: (B betrifft A): Zeitungsleser = ‚jemand, der eine Zeitung liest’, Gedichtrezitation = ‚das Vortragen eines Gedichtes’ (passivische Lesart! ) • effizierende Nomina: bzw. Nomina resultativa (B bewirkt/ schafft A): Filmemacher = ‚jemand, der Filme macht’, Juckreiz = ‚Reiz, der Jucken auslöst’, Niespulver = ‚Pulver, das Niesen bewirkt’, Romanschriftsteller = ‚Schriftsteller, der Romane schreibt’, Märchenonkel = ‚Onkel, der Märchen erzählt’ (oft in übertragener Bedeutung verwendet, d.h. jemand, der Unsinn/ Unwahres erzählt) • Nomina agentes: (B tut A): Zieheltern = ‚Eltern, die ein fremdes Kind aufziehen’, Schreikind = ‚Kind, das oft/ viel schreit’, Lebewesen = ‚Wesen, das lebt’ • Nomina patientes: (B ist Ziel von A): Ziehkind = ‚Kind, das von fremden Eltern aufgezogen wird’, Lehrjunge = ‚Junge, der gelehrt wird’, Wickelkind = ‚Kind, das man wickelt/ wickeln muss’ • Nomina instrumentales: (A tut etwas mit B): Waschpulver = ‚Pulver, mit dem man wäscht’, Schiffsreise = ‚Reise mit/ auf einem Schiff’; Rasierapparat = ‚Apparat, mit dem man (sich) rasiert’ [evtl. auch als Nomen finalis: ‚Apparat zum Zwecke des Rasierens’] • Nomina loci: (B geschieht in A): Schattenkanzler = ‚Kanzler im Schatten (der Regierung)’, Deutschlandreise = ‚Reise durch/ nach Deutschland’; Aussichtsplattform = ‚Plattform, von der aus man eine (schöne) Aussicht hat’ [evtl. auch als Nomen finalis: ‚Plattform, die eine (schöne) Aussicht bieten soll’], ferner Nomina directionales (B geschieht nach A oder in Richtung A): Aufwärtstrend = ‚Trend, der aufwärts zeigt’, Senkrechtstarter = ‚Flugzeug, das senkrecht in die Höhe steigt’ (auch in übertragener Bedeutung: ‚Mensch, der einen schnellen Erfolg erzielt’), und schließlich <?page no="113"?> Wortbildung 107 Nomina temporis (A findet an B statt / A dauert B): Wahltag = ‚Tag, an dem man wählt’, Osterreise = ‚Reise zu/ an Ostern’ • Nomina finales: (B für A, B zum Zwecke von A): Wickelkommode = ‚Kommode zum Wickeln eines Kindes’ [evtl. auch als Nomen loci: ‚Kommode, auf der ein Kind gewickelt werden kann’], Gasmaske = ‚Maske (für)/ gegen Gas, Maske zur Gasabwehr’ [evtl. auch als Nomen conditionalis: ‚Maske, die bei Gasalarm/ anlässlich eines Gasalarms aufgesetzt wird’], Vergnügungsreise = ‚Reise zum Vergnügen/ zum Zwecke des Vergnügens’ • Nomina causales: (B wegen A, B um A willen): Preisboxer = ‚Boxer, der um Preise boxt’, Geschäftsreise = ‚Reise um des Geschäftes willen/ um ein Geschäft zu tätigen’ • Nomina conditionales: (A gibt den Anlass für B an): Wahlversprechen = ‚Versprechen aus Anlass einer bevorstehenden Wahl’, Hochzeitsreise = ‚Reise anlässlich einer Hochzeit’ • Nomina modales: (A gibt die Art und Weise für B an): Gruppenreise = ‚Reise in einer Gruppe’ Wie die Beispiele zeigen, ist insbesondere die Grenze zwischen den Nomina finales und einigen anderen Gruppen bisweilen schwer zu ziehen. Vergleiche die oben für das Deutsche dargelegten Verhältnisse mit dem Russischen. Einige Beispiele helfen bei der Gegenüberstellung: dt. Kompositum: russ. Äquivalent: Erläuterung: dem dt. Kompositum entspricht im Russ.: Lachfalten морщины от смеха präpositionale Fügung Niespulver чихательный поро шок Vergnügungsreise увеселительная поездка Wortfügung aus Subst. als Kern und Adj. als Peripherie Waschtag день стирки Lackschicht слой лака Wortfügung aus Subst. als Kern und Subst. als Genitivobjekt Prosaschriftsteller прозаик Univerbierung (wurzelident. zum Dt.) Wickelkind младенец Univerbierung (als Lehnschöpfung) Backstube пекарня Univerbierung (als Derivat) E. S. K UBRJAKOVA formuliert in der Bol’šaja Sovetskaja Ė nciklopedija (online unter http: / / www.ezi.ru/ 1/ 72/ 586.htm ) hinsichtlich der Komposition zusammenfassend: „ Сложные слова , слова , имеющие в своём составе не менее двух полно значных основ , образующих структурно семантическое единство . Образуются либо объединением двух и более полнозначных слов или их основ в цельно оформленный комплекс по определённому лексическому образцу ( ср . русские теплопровод , авианосец , вертолёт ), либо номинализацией , т . е . свёртыванием и семантической компрессией какой либо синтаксической конструкции - слово сочетания или предложения ( ср . англ . crybaby - « плакса » из a baby cries - « ребё нок плачет »). Сложные слова отличаются от словосочетаний или аффиксальных производных графически ( слитность написания ), фонетически ( наличие одного сильного ударения ), морфологически ( связывание частей С . с . при помощи спе - <?page no="114"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 108 циальной соединительной морфемы , ср . русский пар о ход , немецкий Nahrungs-mittel - « средство питания »), семантически и т . п . Классификация С . с . может основываться на учёте характера связи частей С . с . Во многих европейских языках ( немецком , скандинавских и др .) С . с . создаются в речи так же легко , как словосочетания , имеют окказиональный характер и не всегда фиксируются сло варём .“ Aufgaben: 1. Erklären Sie nach dem oben zu den Fugenelementen Gesagten die Bildungen зверо водство , звероловство , звероподобный зверь . 2. Begründen Sie semantisch und formal, warum столетие , столичный , столбец , столкновение keine Ableitungen von стол sind. 13.6.3 Konversion Ein nicht zu unterschätzender Teil des russischen Wortschatzes besteht aus lexikalischen Einheiten, die im Laufe ihrer Existenz die Wortart gewechselt haben und so, ohne den Formenbestand der Sprache unnötig aufzublähen, neue syntaktische Funktionen wahrnehmen können. Das Wortbildungsverfahren der Konversion ist somit im Lichte der Sprachökonomie zu sehen. Betroffen sind im Russischen insbesondere die Adjektivierung von Partizipien und die Substantivierung von Adjektiven und Partizipien (das Englische besitzt hier noch mehr Freiheiten: result to result, phone to phone, wet to wet, während das Deutsche eher zur Transposition i.e.S. greift: schön das/ die/ der Schöne, wesentlich das Wesentliche). Im Gegensatz zur Derivation wechselt bei der Konversion das Paradigma eines Wortes ganz oder teilwiese die Wortart ohne Einsatz von Affixen: „ Конверсия - это спо соб образования новых слов другой части речи без изменения формы слова , без помощи словообразовательных элементов .“ ( http: / / www.mystudy.ru/ noun6.html ) Insbesondere die substantivierten Formen können als eine Erscheinungsform der Ellipse (Auslassung; эллипсис ) betrachtet werden, denn das ursprünglich übergeordnete Substantiv mit relativ allgemeiner lexikalischer Bedeutung (Bezeichnung von Menschen, Orten, Speisen, Zeit etc.: человек , люди , улица , комната , блюдо , время ) fiel weg und wurde durch das ehemalige spezifizierende Adjektiv/ Partizip ersetzt: больной человек больной ‚Kranker’, трудящиеся люди трудящиеся ‚Werktätige (vgl. трудящийся класс ‚Arbeiterklasse, Klasse der Werktätigen’), набе режная улица набережная ‚Uferstraße’, столовая комната столовая ‚Esszimmer; Kantine; Mensa’, сладкое блюдо сладкое ‚Dessert’, прошлое вре мя прошлое ‚Vergangenheit’. Die Bedeutung des Gesamtausdrucks kondensierte, d.h. verdichtete oder konzentrierte sich in der übriggebliebenen Adjektivbzw. Partizipialform (Bedeutungskondensation, конденсация значения ). Das Verfahren der Ellipse kann mit der sogenannten Univerbierung ( универбация ) gleichgesetzt werden, bei dem ein mehrgliedriger Ausdruck durch einen eingliedrigen (d.h. durch eine seiner Komponenten) ersetzt wird. Das Resultat der Univerbierung nennt man Univerbat ( универбат ). Eine besondere Gruppe innerhalb der substantivierten Adjektive bilden abstrakte Qualitätsadjektive in ihrer neutralen Form, die eine quasiuniverselle Bildbarkeit aufweisen, die jedoch nicht elliptisch, sondern als reine <?page no="115"?> Wortbildung 109 Konversionsprodukte entstanden sind: страшное ‚das Schreckliche’, красивое ‚das Schöne’, неизбежное ‚das Unausweichliche’. 13.6.4 Abbreviation Das eigenständige Wortbildungsverfahren der Abkürzung weist seit den bestens dokumentierten Texten der (griechischen und römischen) Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart eine lange Tradition auf und ist unter dem Gesichtspunkt der Sprachökonomie zu sehen. Es untergliedert sich in folgende Teilverfahren, die im Russischen eine sehr unterschiedliche Produktivität aufweisen: • Teilkürzung: ( сложносокращённое слово ): aus einer Wortfügung wird ein Teil gekürzt und mit dem anderen, vollständigen Teil verschmolzen: мед ицинская сестра медсестра , драматический кружок драмкружок • Initialkürzung (Akronym; инициальная аббревиатура , акроним ): Je nach Aussprache des Kürzungsergebnisses unterscheidet man: o Buchstabiertyp ( буквенная аббревиатура ): die Anfangsbuchstaben werden nicht zusammengezogen, sondern getrennt nach ihrem Lautwert ausgesprochen: Р оссийская Советская Федеративная Социалистическая Республи ка РСФСР ( эр эс эф эс эр ), К омитет государственной безопасности КГБ ( ка гэ бе ), С одружество Независимых Государств СНГ ( эс эн гэ ), das Ergebnis wird nicht dekliniert: представители СНГ , угроза СНГ (Übersetzungsmöglichkeiten? ! ), o Sprechtyp ( звуковая аббревиатура ): die Anfangsbuchstaben werden zusammengezogen und wie ein Wort gesprochen, wobei dieses wie ein „reguläres“ Wort desselben Deklinationsparadigmas behandelt und entsprechend flektiert wird: Б айкало - Амурская магистраль БАМ , Российская академия наук РАН , в ысшее учебное заведение вуз (Gen. Sg. вуза , Dat. Sg. вузу , Nom. Pl. вузы usw.), Т еатр юного зрителя ТЮЗ , здание ТЮЗа ; o die буквенно звуковая аббревиатура stellt einen Mischtyp der oben genannten Verfahren dar: Ц ентральный дом советской армии ЦДСА ( цэ дэ са ). Bei den Akronymen gibt es wiederum verschiedene Erscheinungsformen. Ein Apronym ( апроним ) ist eine Abkürzung, deren Einzelelemente hintereinander gelesen wieder ein neues sinnhaftes Wort ergeben (BASIC Beginner’s Allpurpose Symbolic Instruction Code, Tunika Trierer Universitätskarte, МОСТ Московский открытый студенческий театр ). Dies ist zum Einen in mnemotechnischer Hinsicht und damit zum Anderen auch aus Marketinggründen interessant, da ein Wort mit einem eingängigen Sinn besonders leicht zu merken ist. Als Backronym (aus engl. back und acronym; бэкроним , сленговая де аббревиация ) bezeichnet man eine Abkürzung, der erst nachträglich ein neuer Bedeutungsinhalt zugeordnet wurde, oft um einen komischen Effekt zu erzielen. Dieses Verfahren nähert sich damit der Volksetymologie an, betreibt im Unterschied zu dieser die Umdeutungen jedoch bewusst, mal in humoristischer Absicht, mal gezielt herabwürdigend. Beispiele für das Russische sind: ПТУ (für П рофессионально техническое училище ) - „ Помоги тупому устроиться “, <?page no="116"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 110 МГТУ (u.a. für М осковский государственный технический университет им . Н . Э . Баумана ) - „ М ой гроб тут установят “, УПИ (für Уральский политехни ческий и нститут им . С . М . Кирова ) - „ Уральский Питомник Идиотов “. Bekannt sind im deutschen Sprachraum die Umdeutungen von Kfz-Kennzeichen wie etwa HSK (für Hochsauerlandkreis) - „Hilfe, sie kommen! “, oder WAF (für Kreis Warendorf) - „Welcher Affe fährt? “; auch Markennamen werden gerne umgedeutet, wie etwa Fiat (für Fabbrica Italiana Automobili Torino) - „Fehler in allen Teilen“ / „Für Italien ausreichende Technik“, im Englischen „Fix it again Tony“ / „Failure in Italian Automotive Technology“ usw. Ein Backronym kann auch über Sprachgrenzen hinweg funktionieren, wie das russische Beispiel РПГ ( р учной противотанковы гранатомёт ) zeigt, das heute im anglophonen Bereich fälschlicherweise als „rocket-propelled grenade“ interpretiert wird. Die Werbebranche nutzt derartige Umdeutungsverfahren in strategischer Absicht, um bspw. einen altbekannten Produktnamen mit neuen, innovativen Inhalten zu füllen: BP steht ursprünglich für British Petroleum, wurde aber von dem Unternehmen positiv „uminterpretiert“ zu beyond petroleum ‚mehr als (Mineral)Öl’, um anzuzeigen, dass man sich auch für alternative Energien engagiere. Aus praktischen Gründen wird mitunter erst ein Wort von hohem Wiedererkennungswert gesucht, dem dann in einem zweiten Schritt eine passende Abkürzung zugeordnet wird. • Silbenkürzung: o aus Anfangssilben: рай онный исполнительный комитет райисполком , кол лективное хозяйство колхоз , часто задаваемые вопросы ЧаВо (hier unter Ausfall des Mittelteils; seltener ist als Vollform ча стые вопросы zu finden) o aus Anfangs- und Endteil: ра диостанция рация o aus Anfangs- oder Endteil: Bleibt nur der Anfangsteil erhalten, so spricht man von Kopfwörtern oder Backclipping (Automobil Auto, Dokumentation Doku, метро политен метро ), bleibt das Endteil übrig, von Schwanzwörtern oder Frontclipping (Omnibus Bus). • Eine besondere Form der Wortkürzung ist die Apokope ( апокопа ) als Wegfall oder Elision ( элизия , пропуск / выпадение звука ) von Vokalen oder Konsonanten im Wortauslaut, der wiederum die Synkope ( синкопа ) als Wegfall unbetonter Vokale im Wortinneren ( Бог Бг ) und die Aphärese ( афереза ) als entsprechende Erscheinung im Wortanlaut gegenüberstehen. Als Beispiel für die Apokope wird u.a. der Ausfall des auslautenden ю im Instrumental Sg. femininer Substantive genannt: горой , великой anstelle von горою , великою ; ebenso anzutreffen sind Bildungen wie чтобы чтоб . Beispiele für die Aphärese gibt es m. E. im Russischen nicht. • Als rekursive Abkürzung ( рекурсивная аббревиатура ) bezeichnet man Kurzformen, die die Abkürzung bereits als Teil der Namensvollform enthalten: GNU GNU‘s Not Unix, АТТА Агентство творческих технологий ATTA. • Im Gegensatz zu den rekursiven Abkürzungen sind schließlich die graphischen Abkürzungen oder Schreibabkürzungen ( графическое сокращение ) hochfrequent. Die meisten Sprachen verfügen über ein Inventar an festen Abkürzungen ( так как т . к ., и тому подобное и т . п ., ответсвенный редактор <?page no="117"?> Wortbildung 111 отв . ред ., Herausgeber Hrsg./ Hg., und so weiter usw., beziehungsweise bzw., in der Regel i.d.R.), die fallweise durch okkasionelle Bildungen erweitert werden können, die jedoch im Interesse einer allgemeinen Verständlichkeit bestimmten Regeln folgen müssen. Häufig anzutreffen sind derartige Abkürzungen beispielsweise in Lexikon- oder Wörterbuchartikeln, in denen immer wiederkehrende Wörter oder Wortverbindungen abgekürzt und i.d.R. in einem Verzeichnis mit der entsprechenden Erklärung aufgeführt werden. Ebenso werden die meisten Maßangaben im naturwissenschaftlich-technischen Bereich abgekürzt. Generell weisen Fachtexte jeglicher Art eine hohe Frequenz an derartigen Abkürzungen auf, da die Verfasser hier davon ausgehen können, dass die Leserschaft ein entsprechendes Vorwissen mitbringt, welches eine maximal ökonomische Gestaltung der Texte ermöglicht. Literatur: K UBRJAKOVA , E. S.: Č to takoe slovoobrazovanie? Moskva 1965. K UBRJAKOVA , E. S.: Semantika proizvodnogo slova. In: Aspekty semanti č eskich issledovanij. Moskva 1980. S. 81-154. L OPATIN , V. V.: Osnovnye edinicy sopostavitel’nogo opisanija slovoobrazovatel’nych sistem slavjanskich jazykov. In: Sopostavitel’noe izu č enie slovoobrazovanija slavjanskich jazykov. Moskva 1987. S. 46-53. M EL ’ Č UK , I. A.: K ponjatiju slovoobrazovanija. In: Izvestija AN SSSR, Ser. lit-ry i jazyka, t. 26, vyp. 4, 1967. M OISEEV , A. I.: Osnovnye voprosy slovoobrazovanija v sovremennom russkom literaturnom jazyke. Lju. 1987. N IKITEVI Č , V. M.: Osnovy nominativnoj derivacii. Minsk 1985. O HNHEISER , J.: Einige Überlegungen zur kontrastiven Untersuchung der Wortbildungssynonyme in der russischen und deutschen Sprache. In: Beiträge zur konfrontierenden Sprachwissenschaft. Hrsg. von E. Eichler, J. Filipec, B. Havranek, R. R ů ži č ka. Red.: E. Wiese. Halle/ Saale 1976. S. 133-144. U LUCHANOV , I. S.: Edinicy slovoobrazovatel’noj sistemy russkogo jazyka i ich leksi č eskaja realizacija. Moskva 1996. U LUCHANOV , I. S.: Grammati č eskij rod i slovoobrazovanie. In: Voprosy jazykoznanija. 1988. N. 5. S. 107-121. U LUCHANOV , I. S.: Slovoobrazovatel’naja semantika v russkom jazyke i principy ee opisanija. Moskva 1977. V INOGRADOVA , V ALENTINA N.: Stilistik der russischen Wortbildung./ Stilistika russkogo slovoobrazovanija. Frankfurt am Main 1992. Z EMSKAJA , E. A.: Sovremennyj russkij jazyk. Slovobrazovanie: U č ebnoe posobie. Moskva 2006. Neben zahlreichen gedruckten Abkürzungswörterbüchern zur russischen Sprache finden Sie entsprechende Onlineversionen beispielsweise unter: http: / / slovari.gramota.ru/ sl_tales.html? sl_id=206 , http: / / www.ets.ru/ udict-abbrbig-r.htm , http: / / sokr.ru/ . Die letztgenannte Seite bietet bei über 103.000 Einträgen zudem die wertvolle Möglichkeit, Abkürzungen nicht nur traditionell in alphabetischer Reihenfolge und vom Wortanfang aus zu suchen, sondern mittels der Eingabe eines beliebigen der in der Kurzform enthaltenen Buchstaben auch Formen zu finden, deren gekürzter Bestandteil sich nicht am Beginn der Langform befindet. So erbringt die Suche nach „K“ bspw. auch Ergebnisse wie АКАК für „ Акты Кавказской археографи ческой комиссии “. Wie in den meisten Fällen weisen die Nachschlagewerke im Internet eine größere Aktualität auf, da sie ständig erweitert werden und insbesondere Neologismen rasch berücksichtigen können. <?page no="118"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 112 Wer sich lieber eines gedruckten Werkes bedient oder in den Onlinewörterbüchern nicht fündig geworden ist, greift z.B. zu: A LESKEEV , D. I.; G OZMAN , I. G.; S ACHAROV , G. V.: Slovar’ sokraš č enij russkogo jazyka. Izd. 3-e, s priloženiem novych sokraš č enij. Moskva 1983. Aufgaben: 1. Wie beurteilen Sie nach dem oben Gesagten die Entwicklung von слушаюсь ! ‚zu Befehl! ’ слушаю с ( удар ) ь ( я ) слушаю , сударь [ сударь ‚(mein) Herr’]? 2. Suchen Sie weitere Beispiele für Front- und Backclipping im Russischen. 3. Kennen Sie Beispiele für Apronyme und Backronyme im Russischen? Eine sehr anschauliche Darstellung zu Wortbildungsmodellen stammt von B. G RIE - BEL ( http: / / www.hs-zigr.de/ ~bgriebel/ algorithmus.pdf ). Sie soll dieses Kapitel beschließen. Die Endprodukte der jeweiligen Wortbildungsverfahren sind in der Übersicht kursiv gedruckt: Bestimmung der Wörter nach dem Wortbildungsmodell Wort in einem Satz Bestimmung der Grundform (Substantiv: Nominativ, Verb: Stamm, Adjektiv: Positiv) Wort lässt sich in Bestandteile teilen lässt sich nicht in Bestandteile teilen beide Teile sind eigenständige Wörter nur ein Teil ist ein eigenständiges Wort lässt sich auf ein anderes Wort zurückführen lässt sich nicht auf ein anderes Wort zurückführen Kompositum 1. Teil ist eigenständig 2. Teil ist eigenständig Wort wurde verändert Wort wurde nicht verändert Simplizium (nicht durch Wb entstanden) Suffixbildung Präfigierung Konversion 1. Teil bestimmt 2. Teil genauer 1. und 2. Teil sind gleichgestellt ein Teil des Wortes wurde weggelassen Vokaländerung implizite Ableitung Determinativkompositum Kopulativkompositum 1. Teil des Wortes wurde weggelassen 2. Teil des Wortes wurde weggelassen „Schwanzwort“ „Kopfwort“ Abbildung 21: Bestimmung der Wörter nach dem Wortbildungsmodell <?page no="119"?> Wortbildung 113 13.6.5 Onomatopoetika, Suppletion, retrograde Bildungen und Okkasionalismen Onomatopoetika Bisweilen wird auch die Bildung von Onomatopoetika ( звукоподражательное слово ), also lautmalenden oder lautnachahmenden Ausdrücken, als eigenständiges Wortbildungsverfahren bezeichnet. Imitiert werden häufig Tierlaute, aber auch menschliche oder sonstige Geräusche: мяу мяу , кукареку , кряк кряк , ха ха , тик так , кряканье , кукушка , квакать , жужжать (vgl. summen, surren, schwirren). Von den Lauten selbst können sekundär Verben und Substantive abgeleitet werden. Lautnachahmung ist in der Kindersprache weit verbreitet, wird aber auch in Comics wegen ihrer Anschaulichkeit und Ausdrucksstärke gerne benutzt. Interessant ist ferner die Tatsache, dass dieselben Tiergeräusche in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen ganz anders wiedergegeben werden können bzw. müssen. Suppletion Bei der Suppletion ( супплетивизм ) ergänzen sich zwei verschiedene Stämme zu einem Paradigma; genauer gesagt wird ein defektives (d.h. unvollständiges) Paradigma durch ein lexikalisch-semantisch ähnliches, aber formal nicht verwandtes Stammmorphem ergänzt ( человек - люди , ребёнок - дети , ловить - поймать , иду - шёл , брать - взять , хороший - лучщий ). 53 Die Erscheinung wird Suppletivismus genannt und ist in vielen Sprachen weit verbreitet; betroffen sind hiervon häufig hochfrequente, d.h. oft gebrauchte Wörter, deren Formenbestand in stärkerem Maße der Veränderung unterliegt als jener selten benutzter Wörter. Beispiele für Suppletivformen in anderen Sprachen sind: lateinisch fero - tuli - latum, bonus - melior; deutsch gut - besser, (ich) bin - (er) ist - (wir) sind - (er) war; englisch good - better - best, good - well, (to) go - went; französisch bon - meilleur, bon - bien, (je) vais - (nous) allons. Retrograde Bildungen Die Vermutung liegt nahe, dass sich eine formal komplexere Form wortbildungstechnisch immer aus einer einfacheren ergeben haben muss ( бег бегать , лёт 54 лететь ). Dieser Automatismus wird jedoch nicht allseits akzeptiert. Wo man den umgekehrten Weg annimmt, d.h. die Entwicklung von einer längeren Form hin zu einer kürzeren ( бегать бег , лететь лёт ), spricht man von retrograden Bildungen, retrograden Ableitungen, inversen Ableitungen oder Rückbildungen ( обратная деривация ; das retrograde Derivat heißt обратный дериват ). Unter diesen Problemkomplex fällt auch das Verhältnis der Diminutiva und ihrer „großen“ Formen ( стол столик ) und der Motionsbildungen ( студент студентка , мельник мельничиха , гастарбайтер гастарбайтерша ). Da in den meisten 53 Suppletive Bildungen berühren unmittelbar morphologische Fragestellungen, weswegen ihre Besprechung auch im Kapitel „Morphologie“ denkbar gewesen wäre. 54 ‚Flug’ heißt im modernen Russischen полёт ; die Form лёт wird nur noch in festen Wendungen wie на лету ‚im Fluge’ verwendet. <?page no="120"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 114 Fällen nicht oder nicht zweifelsfrei zu entscheiden ist, welche Form nun zuerst in der russischen Sprache vorhanden war - selbst im Falle von hinreichend alten Schriftzeugnissen kann man nie sicher sein, ob sich nicht eines Tages noch ältere finden werden, die einen konträren Sprachzustand dokumentieren -, ist es letztlich Definitionssache, ob man die vollständige oder die gekürzte Form als Ausgangswort des Wortbildungsprozesses zugrunde legt. In einigen Fällen kann, wie weiter oben bereits angeschnitten, das Wissen um die kulturellen Bedingungen einer Sprechergemeinschaft Aufschluss darüber geben, welche Form die ältere sein dürfte, so bei bestimmten Berufsbezeichnungen. Okkasionalismen Entgegen dem Eindruck, der bei der systematischen Behandlung der Wortbildung entstehen könnte, sind nicht alle neuen Elemente des Wortschatzes geplant entstanden: Okkasionalismen ( окказионализм ) werden in einer bestimmten Kommunikationssituation ad hoc, d.h. spontan von einem Teilnehmer aus dem Bedürfnis heraus gebildet, einen Gedanken zu formulieren, für den er im Wortschatz seiner Sprache keine adäquate und/ oder ökonomische Äußerungsvorgabe mit ausreichender Ausdruckskraft findet. Sieht man beispielsweise einen indischen Bauern am Wegesrand stehen und den erhobenen Daumen in den Wind halten, um von einer Arbeitskolonne Elefanten mitgenommen zu werden, so könnte man statt von автостоп in analogischer Weise und mit einem analog gebildeten Wort von слоностоп sprechen. Von P UŠKIN ist die Bildung кюхельбекерно überliefert (K ARAULOV 1998: 284), die den Namen des bekannten Dekabristen Kjuchel’beker als Grundlage hat und nach dem Muster der adjektivischen Kurzform (analog zu печально , меланхолично ) gebildet wurde. Okkasionalismen folgen den Wortbildungsregeln ihres Sprachsystems und sind daher formal i.d.R. leicht zu entschlüsseln, semantisch sind sie aber nur aus der Situation heraus und oft nur für die betroffenen Personen verständlich. Okkasionalismen sind wesentlich stärker von ihrem Kontext abhängig als andere, usuelle Benennungseinheiten. Sie werden i.d.R. nur dann lexikalisiert, wenn sie aufgrund ihrer Attraktivität und Prägnanz in ausreichender Zahl von den Mitgliedern der Sprechergemeinschaft reproduziert werden (vgl. das von K AREL Č APEK erfundene Wort robot als heutigen Internationalismus oder für die russische Sprache die seinerzeitigen Neubildungen - und heutigen Historismen - субботник , пяти летка , стахановец ). Eine besondere Herausforderung stellen Okkasionalismen an Übersetzer und Dolmetscher. Bei N. N. K OVZEL ’ heißt es in seinem Artikel Perevod okkazionalizmov ( http: / / www.utmn.ru/ frgf/ No9/ text08.htm ) einleitend: „ Принципиальная возможность переводимости основывается на общности ло гического строя мысли , а также на наличии в языке семантических универса лий . Семантические расхождения , существующие между языками , нейтрали зуются в речи , благодаря языковому и ситуативному контексту . Семантическая эквивалентность , необходимая при переводе , достигается не между отдельными элементами , а между текстами в целом .“ Große Schöpfer von Okkasionalismen sind meist Kinder, die in ihrem begrenzten Wortschatz für einen Gedanken noch nicht das vom System vorgegeben e Wort ge- <?page no="121"?> Wortbildung 115 speichert haben und deshalb neue Bezeichnungen erfinden, die sich an den Kindern bekannten Mustern orientieren. 55 13.6.6 Wortarten Die Klassifizierung der Wortarten, auch Wortklassen oder, in einer älteren Terminologie, Redeteile ( части речи ) genannt, wird auch heute noch, je nach den zugrunde gelegten Kriterien (formal, inhaltlich, syntaktisch, distributional), sehr unterschiedlich vorgenommen. Eine von tatsächlich allen Linguisten vorbehaltlos akzeptierte Einteilung existiert nicht. Sehr grobe Kategorisierungen unterteilen nach flektierbaren ( изменяемый ) vs. unflektierbaren ( неизменяемый ) sowie nach autosemantischen vs. synsemantischen Wortarten. Eine weit verbreitete Möglichkeit der Einteilung sieht so aus: • Substantiv ( имя существительное ): Hauptmerkmal: Gegenständlichkeit. Nach folgenden semantischen und formalen Kategorien können unterschieden werden: o Appellativum (nomen appellativum; имя нарицательное ): Gattungsname, typisierende nominale Bezeichnung für jeden Vertreter einer Klasse ( город , стол , улица , умение , любовь ). Wie das letzte Beispiel zeigt, kann ein Appellativum zum Eigennamen werden ( Любовь ), vgl. auch andere „sprechende“ Namen 56 wie София / Софья / Sophia/ Sophie (von gr. ‚die Weisheit’), Лев / Leo(n) (von lat. panthera leo ‚der Löwe’), Пётр / Peter (von gr. petra ‚der Fels’ petros lat. petrus), Felix (von lat. ‚glücklich’). Als sprechende Namen bezeichnet man demnach solche Eigennamen von Personen oder Örtlichkeiten, die ursprünglich ein Appellativum darstellten und deren Bedeutung dann bis zu einem gewissen Grad auf den neuen Besitzer des Namens übertragen wird, um diesen dem Wesen nach zu charakterisieren (dem Prinzip Nomen est omen folgend). Der Übergang bspw. von Berufsbezeichnungen in die Eigennamen ist eine hiermit verwandte Erscheinung: Schmidt, Meyer, Schulze, Müller; Кузнецов кузнец ‚Schmied’, Мельников мельник ‚Müller’, Рыбаков рыбак ‚Fischer’, Столяр ( ов ) столяр ‚Tischler’. Weit verbreitet ist die Verwendung derartiger, anschaulicher und leicht zu merkender Bezeichnungen in der Literatur bei Autoren- und Figurennamen ( Грибоедов , Белый , Горький ; Собакевич , Плюшкин , Акакий Акакиевич ) und in der Werbung (Triumph gleich für verschiedene Produkte, oder wenn sich etwa eine russische Arzneimittelfirma Здоровье nennt). 57 o Eigenname (nomen proprium; имя собственное ): Name einzelner Personen, Familien, Völker (Ethnonyme), Orte (Toponyme), Gewässer (Hydronyme), Pflanzen (Phytonyme), Tiere (Zoonyme), Gebirge, Straßen etc. ( Игорь , Шаляпины , немцы , Воронеж , Ладожское озеро , Волга , роза , тигр , 55 Einen weiteren, umfassenden Artikel zum Thema Okkasionalismen (A. G. L YKOV : Okkazional’noe slovo kak leksi č eskaja edinica re č i) finden Sie unter http: / / www.nspu. x net/ fileadmin/ library/ books/ 2/ web/ xrest/ article/ leksika/ sostav/ lik_art01.htm . 56 Der europäische Protestantismus machte ausgiebigen Gebrauch von solchen sprechenden Namen (Gottlieb, Traugott, Fürchtegott, Friedrich, Friedensreich, Dieudonné, Dieuaimé etc.). 57 Eine interessante Internetseite zur russischen Namenkunde ist unter http: / / www.imena.org/ abrufbar. <?page no="122"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 116 Кавказ , улица Тверская , Новый Арбат ). Eigennamen können in die Kategorie der Appellativa überwechseln, z.B. bei Produktnamen (dt. Tempo, frz. scotch, russ. ксерокс ) oder technischen Erfindungen ( рентген ). o weitere Unterteilungen (die Kategorien überschneiden sich z.T.): Konkreta ( конкретное существительное ) vs. Abstrakta ( отвлечённое существительное ); Konkreta dienen der Bezeichnung von naturgegebenen Gegenständen und gegenständlichen Erscheinungen, künstlichen Gegenständen (Artefakten), Gattungen, Kollektiva und Individuen sowie Stoffen ( ма шина , бумага , земля , человек , студенчество ); summarisch kann man sagen, dass alles das zu den Konkreta zählt, was man mit den menschlichen Sinnen, jedoch nicht mit dem Gefühl wahrnehmen kann; Abstrakta benennen dagegen mit den Sinnen nicht erfassbare Erscheinungen wie Gefühle, Eigenschaften, Zustände, Vorgänge, Beziehungen etc. ( любовь , ненависть , воз можность , война , трусость , равенство , отдых ). Wie verhält es sich aber mit den zu den Abstrakta gezählten тишина , движение : Sind diese nicht auch mit den Sinnen wahrnehmbar? Auch in anderen Fällen ließe sich über eine Zuordnung u.U. streiten. Kollektiva und Stoffnamen werden fallwiese auch als eigene Kategorien neben Konkreta und Abstrakta geführt. Kollektiva ( собирательное существительное ) vs. Singulativa ( единич ное существительное ); erstere bezeichnen eine in ihrer Menge nicht näher spezifizierte Gruppe von gleichartigen, als zusammengehörig empfundenen Personen oder Gegenständen, letztere ein einzelnes, individualisiertes Element/ eine einzelne Person aus dieser Gruppe; Bsp.: молодёжь , листва , крестьянство , студенчество , мебель , картофель , горох vs. картофели на , горошина , жемчужина ; Pluralia tantum (plurale tantum) vs. Singularia tantum (singulare tantum); der jeweils andere Numerus kann bei indentischer lexikalischer Bedeutung nicht gebildet werden; Bsp.: сумерки , именины , каникулы , чернила , ножницы , очки , часы , брюки , шахматы , Альпы , Балканы vs. мороже ное , голод , тоска , общность , серебро , Волга ; Stoffbezeichnungen ( вещественное существительное ) werden überwiegend im Singular gebraucht, wobei hier der Plural zur Bezeichnung verschiedener Sorten des Stoffs eingesetzt werden kann; sie sind unzählbar, können aber mit Mengenangaben kombiniert werden, nach denen sie im Genitiv stehen; Bsp.: золото , молоко , сахар , мёд ; „ Грамматическим показателем вещественных существительных является наличие у них формы только одного числа ( обычно - единственного , ре же - множественного ) и несочетаемость с количественным числитель ным , поскольку они служат названиями предметов , не поддающихся счету .“ (R OZENTAL ’, D. Ė . i dr.: Slovar’ lingvisti č eskich terminov - http: / / www. gumer.info/ bibliotek_Buks/ Linguist/ DicTermin/ i.php ) Lebewesen (belebte; одушевлённый ) vs. Nichtlebewesen (unbelebte Substantive; неодушевлённый ): Pflanzen werden, im Gegensatz zu Menschen und Tieren, als unbelebt angesehen; Bsp.: студентка , лев , жи вотное , насекомое vs. стол , река , озеро , свадьба , надежда ; <?page no="123"?> Wortbildung 117 Nomen acti (Nomen facti) „sind deverbale Bildungen und bezeichnen einen Zustand als Folge bzw. Resultat des im zugehörigen Verb ausgedrückten Geschehens“ ( образование ‚Bildung’, растрачивание ‚Verschwendung’), Nomen actionis „sind deverbale Bildungen und bezeichnen ein Geschehen“ ( удар ‚Schlag’, беготня ‚Gerenne’), Nomen agentis „sind meist deverbale Bildungen und bezeichnen den Träger eines Geschehens“ ( беженец ‚Flüchtling’, испытатель ‚Prüfer, Tester’, покупатель ‚Käufer’, продавец ‚Verkäufer’), Nomen instrumenti „sind meist deverbale Bildungen und bezeichnen jeweils das Mittel, durch das ein Geschehen bewirkt bzw. mit dem eine Handlung ausgeführt wird“ ( тормоз ‚Bremse’, адаптер ‚Adapter’, про водник ‚Leiter (phys.)’), Nomen loci „sind meist deverbale Bildungen und bezeichnen den Ort eines Geschehens“ ( парикмахерская ‚Frisiersalon’, мельница ‚Mühle’), Nomen patientis „sind meist deverbale Bildungen und bezeichnen jemanden, an dem sich ein Geschehen vollzieht ( экзаменующий ся ‚Prüfling’, заключённый ‚Sträfling’), Nomen qualitatis bezeichnen „eine Eigenschaft oder einen Zustand“ ( глупость ‚Dummheit’, холод ‚Kälte’, бес пристрастность ‚Unparteilichkeit’) (Zitate aus G LÜCK 2000: 476). Viele der in die genannten Kategorien fallenden Substantive (oder substantivierten Formen) weisen Affixe, i.d.R. Suffixe, mit einer charakteristischen Wortbildungsbedeutung auf. Dies ist etwa der Fall bei Bildungen mit den Suffixen ец , тель , ик , ость , ние . deklinable ( склоняемый ) vs. indeklinable ( несклоняемый ) Substantive: indeklinabel sind insbesondere zahlreiche Entlehnungen, Abkürzungen und Familiennamen mit bestimmten Endungen; Bsp.: дом , крыша , собст венность , компьютер , жажда vs. кофе , пальто , фортепиано , леди , кенгуру , ВДНХ , ГЭС , Хитров ó, Долгих . • Adjektiv ( имя прилагательное ): Hauptmerkmal: Ausdruck der Eigenschaft eines Gegenstandes i.w.S.; morphologisch charakterisiert durch die Möglichkeit der Komparation (d.h. Steigerung; immer bei Qualitätsadjektiven [ глупый , боль шой , тяжелый ], nur eingeschränkt bei Stoffadjektiven und Beziehungsadjektiven [Relativadjektiven/ relationalen Adjektiven; золотой , городской , русский ]: nie bei Possessivadjektiven [ пушкинский ] (die zu den Beziehungsadjektiven zählen), nur in übertragener Bedeutung bei eigentlich-relationalen Adjektiven [ железная дорога oder железный стол : nicht steigerungsfähig, da das Adjektiv in seiner konkret-stofflichen Bedeutung verwendet wird, jedoch железная воля : steigerungsfähig, da hier übertragene Bedeutung vorliegt]). Bestimmte Adjektive wie etwa босой ‚barfüßig’ und голый ‚nackt’ schließen durch ihre Semantik eine Steigerung (in wörtlicher Verwendung) aus. Im Russischen existiert eine Reihe von aus fremden Sprachen entlehnten Adjektiven, die unveränderlich sind und die insofern z.T. einen Doppelstatus aufweisen, als sie auch als (ebenfalls unveränderliche) Substantive verwendet werden können: стиль ампир , цвет беж , цвет бордо , лампочка миньон , ткань джерси , юбка мини , вес брутто , чай экстра (vgl. Š ELJAKIN 2003: 71f). Sie unterliegen durch ihre fehlende Veränderbarkeit nicht der Kongruenz, sondern werden per Adjunktion einem Substantiv beigeordnet. Im Deutschen lassen sich einige dieser Vertreter als präfixoide Formen bezeichnen: Mini-, Extra-, Bruttousw. <?page no="124"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 118 Qualitätsadjektive (nicht jedoch Relativadjektive! ) können in zweifacher Form auftreten: in der Kurzform (nur prädikativ) und in der Langform (attributiv und prädikativ), wobei diese Unterscheidung auf das Altkirchenslavische zurückgeht und in anderen slavischen Sprachen anders bezeichnet werden kann (z.B. bestimmte vs. unbestimmte Form, vgl. serb./ kroat./ bosn. nov grad ‚eine neue Stadt’ vs. novi grad ‚die neue Stadt’). • Verb ( глагол ): Hauptmerkmal: Prozesshaftigkeit; grammatische Kategorien des russischen Verbs: Aspekt (vollendet vs. unvollendet), Transitivität/ Intransitivität, Reflexivität/ Nichtreflexivität, Konjugationsklasse, Genus verbi (Aktiv vs. Passiv), Modus (Indikativ vs. Konjunktiv), Tempus (Präsens vs. Imperfekt vs. Futur), Person, Genus (maskulin vs. feminin vs. neutrum), Numerus (Singular vs. Plural); jede russische Verbalform ist an einen Aspekt gebunden, auch defektive Verben (Verben ohne Aspektpartner bzw. mit einer Form für beide Aspekte [zweiaspektige Verbalstämme, biaspektuelle Verben oder aspektneutrale Verben; man spricht hier auch von Aspekthomonymen 58 ]) kommen im Kontext in einer bestimmten, aktualisierten Aspektform vor. Bei der Formenbildung unterscheidet man die einfache Konjugation (( он ) работает , ( она ) спит , ( он ) рабо тал , ( она ) спала , ( он ) напишет , ( она ) заговорила ) und die periphrastische Konjugation (( он ) будет работать , ( она ) будет спать ). Die slavischen Sprachen nutzen beide Möglichkeiten der Formenbildung in unterschiedlichem Maße (vgl. beispielsweise das Russische und das Serbische/ Kroatische/ Bosnische), wobei dieser Aspekt nicht von Fragen des Tempus, des Aspekts und der Aktionsart zu trennen ist. Vom Vollverb ( полнозначный глагол ) als dem Träger der lexikalischen wie grammatischen Bedeutung ist das Hilfsverb ( вспомогательный глагол ) zu unterscheiden, das bei fehlender oder nur höchst abstrakter eigener lexikalischer Bedeutung der Bildung der zusammengesetzten, analytischen Tempora dient. Während das Deutsche mit haben und sein (sowie, mit Einschränkungen, werden) über zwei bzw. drei Hilfsverben verfügt, steht im Russischen allein быть zur Bildung der analytischen Verbalformen (zusammengesetztes Futur: мы будем работать , vollendetes Präteritum des Passivs: фильм был снят , vollendetes Futur des Passivs: фильм будет снят ) zur Verfügung, zumal im Russischen als alleiniges Tempus der Vergangenheit das ehemalige l-Partizip als Vollform ohne Hilfsverben erhalten geblieben ist. Als Kopula ( связка ) funktioniert im Russischen быть zur Verbindung von Subjekt und Prädikatsnomen, die im Präsens jedoch i.d.R. nicht formal realisiert wird: Она - учительница . Она была учительницей ( учи тельница ). Она будет учительницей . Besondere Untergruppen des Verbs sind ferner die Modalverben (die fallweise zu den Hilfsverben gezählt werden; мо дальный глагол ), die dem Vollverb und damit dem ganzen Satz eine bestimmte modale Bedeutung verleihen ( мочь , хотеть sowie zahlreiche andere lexikalische Mittel zur Wiedergabe der dt. Modalverben), sowie die Phasenverben ( фазовый глагол ), die einen bestimmten Abschnitt der vom Vollverb ausgedrückten Handlung bezeichnen ( начать , продолжать , кончить ). 58 Die Einordnung bestimmter Verben in die Kategorie der bisaspektuellen Verben unterliegt Schwankungen und kann, je nach Autor, durchaus unterschiedlich gesehen werden, vgl. etwa die Auflistung bei T ICHONOV 1998: 229-235. <?page no="125"?> Wortbildung 119 Folgende morphologische Kategorien werden in den russischen Verbalformen ausgedrückt: In allen (finiten wie infiniten) Verbalformen kommen Aspekt und Genus verbi zum Ausdruck, darüber hinaus bezeichnen die finiten Formen Modus, Tempus, Person, Numerus und Genus, während bei den infiniten Formen die Partizipien zusätzlich das Tempus ausdrücken und nach Kasus, Numerus und Genus mit ihrem Bezugswort kongruieren. • Adverb ( наречие ): Hauptmerkmal: Ausdruck der Eigenschaft einer Handlung / eines Prozesses und Ausdruck der Eigenschaft einer Eigenschaft; unflektierbar, bestimmte Qualitätsadverbien können jedoch gesteigert werden; grundlegende syntaktische Funktion als Adverbialbestimmung; adjunktivische (d.h. nicht kongruierende) Unterordnung unter ein Verb, Adjektiv, Zustandswort oder anderes Adverb; semantische Unterscheidung nach Umstandsadverbien (temporale, lokale, kausale, finale Adverbien, Adverbien des Maßes und des Grades: плохо , быстро , вежливо ; вчера , утром ; там , домой , снизу ; сдуру , поневоле , нечаянно ; на рочно , затем , н´а смех , незачем ; ( слишком ) мало , дважды ), Determinativadverbien (Qualitätsadverbien vs. Quantitäts- und Gradationsadverbien [ много ; значительно ]) und Pronominaladverbien (Interrogativ-, Demonstrativ-, Determinativadverbien [ по новому , по другому , почему , совсем ], Indefinitadverbien [ некогда , кое как , где нибудь , когда то ], Negativadverbien [ нигде , никогда ]). Als prädikative Adverbien werden von manchen Grammatiken die Zustandswörter bezeichnet, die hier jedoch als eigene Wortart behandelt werden. • Präposition ( предлог ): Hauptmerkmal: Präzisierung des Subordinationsverhältnisses von Substantiven unter andere Wörter und Konkretisierung der Kasusbedeutungen; unflektierbar; drücken Umstands-, Objekt- und Attributbeziehungen aus; morphologische Differenzierung nach einfachen, Doppel- und zusammengesetzten Präpositionen; Unterscheidung nach der Herkunft in primäre, eigentliche Präpositionen und sekundäre, abgeleitete Präpositionen (Adverbialpräpositionen, denominale und deverbale Präpositionen). Sie regieren einen bestimmten Kasus, in Sonderfällen und bei semantischer Differenzierung auch zwei Kasus (vgl. Он сидит на диване . ≠ Он идет на стадион ; Sie geht auf die Straße. ≠ Sie geht auf der Straße.). Einige Präpositionen sind polyfunktional, da sie verschiedene semantische Verhältnisse ausdrücken können (z.B. по , от ). In vielen Sprachen können Präpositionen auch als Verbalpräfixe auftreten bzw. sind mit diesen formal identisch. Zur formalen, funktionalen und semantischen Einteilung der Präpositionen vgl. u.a. T AUSCHER / K IRSCHBAUM (1983: 384-406). • Konjunktion ( союз ): Hauptmerkmal: Ausdruck der semantischen Beziehungen zwischen den Elementen eines Satzes bzw. zwischen Einzelsätzen; unflektierbar; morphologische Differenzierung nach einfachen ( но , как ) und zusammengesetzten Konjunktionen ( потому что , тогда как , раньше чем ); syntaktische Differenzierung nach koordinierenden (beiordnenden; и , а , но , да , или ) und subordinierenden Konjunktionen (unterordnenden; когда , как , чтобы , потому что ); von einzelstehenden Konjunktionen ( а , но , причем ) sind wiederholte oder reihenbildende Konjunktionen ( ни ..., ни ...; или ..., или ...) sowie korrelative Konjunktionen ( не только ..., но и ...; только что ..., как ...) zu unterscheiden. Koordinierende und subordinierende Konjunktionen lassen sich unter semantischen <?page no="126"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 120 Gesichtspunkten wiederum in engeren Kategorien zusammenfassen (vgl. hierzu u.a. T AUSCHER / K IRSCHBAUM 1983: 407-415). • Partikel ( частица ): Hauptmerkmal: Hinzufügung einer Bedeutungsnuance zu einem Satzelement oder zu einem ganzen Satz; unflektierbar; entstanden aus anderen Wortarten; lexikalisierte, erstarrte Wortformen ( пусть , давай , прямо ); hinsichtlich ihrer Stellung im Satz unterscheidet man präponierte (stehen vor ihrem Bezugselement; да , что за ), postponierte (stehen nach ihrem Bezugselement; же , то , либо , нибудь , ка ) und frei positionierbare Partikeln ( ведь , уже , еще ); weiter können Partikeln funkional in vielfältiger Weise differenziert werden (vgl. M ULISCH 1993: 273-275). • Pronomen ( местоимение ): Hauptmerkmal: Stellvertretercharakter, deiktische Funktion; syntaktisch-funktionale Einteilung in substantivische, adjektivische und Quantitätspronomen; semantisch-funktionale Einteilung in Personalpronomen, Reflexivpronomen, Possessivpronomen, Reziprokpronomen, Demonstrativpronomen, Interrogativ- und Relativpronomen, Determinativpronomen, Indefinitpronomen, Negativpronomen. Von textlinguistischer Pronominalisierung spricht man immer dann, wenn Pronomen oder deiktische Elemente andere Satzteile ersetzen (substituieren). Die Ersatzelemente nennt man auch Substituens oder Substitut, die ersetzten Elemente heißen Substituendum. Pronominalisierung ist ein Mittel der Sprachökonomie und der Herstellung von Textkohärenz, da sich Substituens und Substituendum auf dasselbe Referenzobjekt beziehen, also koreferent sind, ohne dass das Referenzobjekt bei jeder Erwähnung in voller Länge genannt werden muss. Das Substituens kann für ein Substantiv, eine Nominalphrase 59 , einen Satz oder auch eine ganze Satzsequenz stehen. Im Zusammenhang mit der Serialisierung sprachlicher Äußerungen spricht man hinsichtlich der Richtung der Pronominalisierung von Vorwärtspronominalisierung (kataphorischer, vorverweisender Bezug: Саша мало спал . Он падает от усталости . - Klaus hat wenig geschlafen. Er ist todmüde.) bzw., im umgekehrten Fall, von Rückwärtspronominalisierung (anaphorischer, rückverweisender Bezug: Прежде чем он вышел из дома , старик погас свет . - Bevor er aus dem Haus ging, löschte der alte Mann das Licht.). Im Interesse eines leichteren Textverständnissen ist der Vorwärtspronominalisierung der Vorzug zu geben. • Numerale ( имя числительное ): Hauptmerkmal: Ausdruck eines Zahlbegriffs; semantische Unterteilung in Kardinalzahlwörter ( количественное числитель ное ; четыре ), Ordinalzahlwörter ( порядковое числительное ; четвертый ), Bruchzahlwörter ( дробное числительное ; треть , полтора ), Kollektivzahlwörter ( собирательное числительное ; двое , трое ), unbestimmte Quantitätswörter ( неопределённо количественное слово ; много , несколько 60 ). 59 Eine Nominalphrase ist eine Morphemfolge im Satz, deren Kern ein Nomen ist (z.B. Он взял в руки совсем пыльную книжонку . Мы долго разговаривали об очень интересном , напи санном неизвестным автором романе ), im Gegensatz zu einer Verbalphrase mit einem Verb als ihrem Kern (z.B. Он беседовал с коллегой о каникулах . Они уже три часа ездили верхом ). 60 Die Einordnung dieser Quantitätsbezeichnungen kann, je nach Autor, auch unter den Adverbien oder den Pronomen erfolgen. <?page no="127"?> Wortbildung 121 • Zustandswörter ( слово категории состояния ): Hauptmerkmal: Bezeichnung eines Zustands (z.B. Temperatur, Helligkeit, sinnliche Wahrnehmung oder Gefühlsregung, Möglichkeit oder Notwendigkeit: холодно , темно , тихо , весело ; слы шно , видно , стыдно ; надо , можно ; formal fallen diese Wörter mit der neutralen Kurzform der Adjektive bzw. den Adverbien auf -o zusammen; die Vertreter der letztgenannten Kategorie sind i.d.R. nicht steigerungsfähig); bestimmte Substantive wie пора , охота ( Нам пора уйти .) zählen ebenfalls zu den Zustandswörtern. • Interjektionen ( междометия ; umstritten): Hauptmerkmal: Ausdruck von Gefühlsregungen und Willensäußerungen, deren Inhalt nicht näher bezeichnet wird; unflektierbar; bilden keine Satzglieder, sondern ungliederbare Sätze (im Satz); Einteilung in primäre (ursprüngliche; ой ! , а ! , ах ! , ну ! , увы ! ) und sekundäre Interjektionen (abgeleitete; Nomina appellativa ohne ihre nominative Funktion: полно ! , боже ! ; караул ! , батюшки ! ). Neben eigensprachlich russischen Interjektionen finden sich etliche fremden Ursprungs ( браво ! , ура ! , стоп ! , алло ! ). Auch onomatopoetische Wörter zur Wiedergabe von Klängen oder Geräuschen ( ку ку ! , ха ха ха ! , гав гав ! , так так так ! ) werden von einigen Autoren zu den Interjektionen gezählt, was nicht unumstritten ist, da diese Onomatopoetika letztlich keine Willensäußerungen oder (nur eingeschränkt) Gefühlsregungen bezeichnen. • Artikel ( артикль ; umstritten): fehlt auf jeden Fall im Russischen, wie auch in den meisten anderen (slavischen) Sprachen (im Bulgarischen und Mazedonischen existiert jedoch ein nachgestellter (postponierter) bzw. an das Substantiv oder das erste Element einer Substantivgruppe angehängter bestimmter Artikel zum Ausdruck der morphosyntaktischen Kategorie der Bestimmtheit (Artikel vorhanden: книгата ‚das Buch’) bzw. Unbestimmtheit (Artikel fehlt: книга ‚ein Buch’)); eine der Artikelverwendung vergleichbare Funktion kann die Koexistenz von bestimmten (langen) und unbestimmten (kurzen) Adjektivformen ausüben (vgl. bereits das Altkirchenslavische) oder, wie im Russischen, fallweise der Gebrauch des Zahlwortes один . M ULISCH (1993: 89f) führt demgegenüber eine anders geartete Unterteilung in folgende Wortarten an: Verb, Substantiv, Adjektiv, Numerale, Pronomen, Adverb, Zustandswort (Hauptmerkmal: Bezeichnung von Zuständen; unflektierbar; bildet in Verbindung mit einer Kopula [Hilfsverb] das Prädikat eines unpersönlichen Satzes), Modalwort (Hauptmerkmal: Bezeichnung der subjektiven Einschätzung eines Sachverhalts im Verhältnis zur objektiven Realität aus der Sicht des Sprechers; unflektierbar; Verwendung als Schaltwörter - ..., конечно , ... - oder ungliederbare Sätze - Конечно .), Partikel, Präposition, Konjunktion, Interjektion. I SA Č ENKO schließlich teilt die Wortarten auf folgende drei Gruppen auf: • Autosemantika: Substantiv, Verb, Adjektiv, Adverb, Prädikativ (Zustandswort); Pronomen; Numerale • Synsemantika: Präposition, Konjunktion, Partikel, Schaltwort, (Artikel) • Interjektionen Aus dem oben Gesagten ergibt sich für die russische Sprache folgende Klassifizierung der Wortarten nach dem Merkmal „flektierbar / unflektierbar“ (nach G ABKA 1975: 31): <?page no="128"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 122 I. Flektierbare Wortarten 61 II. Unflektierbare Wortarten III. Interjektionen Verbale Flexion: Verb Autosemantika: Adverb Zustandswort Modalwort Nichtverbale Flexion: Nomen (Substantiv, Adjektiv, Numerale) Pronomen Synsemantika: Partikel Präposition Konjunktion Abschließend sei hier, unter Hinzufügung der deutschen Termini, eine synoptische Grafik aus G ABKA (1975: 32) vorgestellt, die sich nach den Worten des Verfassers im Hinblick auf die immer wieder umstrittenen Zustandswörter (Prädikative) und Modalwörter ausdrücklich von den russischen Akademiegrammatiken abgrenzt, die die genannten Kategorien pauschal als „syntaktische Derivate“ von Substantiven, Adverbien, Adjektiven und Verben bezeichneten, was beispielsweise bei пора und кажется zutreffe, bei нельзя , пожалуй u.a. jedoch nicht. Zustandswörter und Modalwörter werden bei G ABKA , in Anlehnung an V. V. V INOGRADOV (Russkij jazyk (Grammati č eskoe u č enie o slove). Moskva-Leningrad 1947: 44) als eigenständige Gruppen aufgeführt. категории слов части речи („Redeteile“) модальные слова (Modalwörter) частицы речи (Redepartikeln) междо метия (Interjektionen) имена (Nomina) имя существи тельное (Substantiv) имя прилагательное (Adjektiv) имя числительное (Numerale) местоимение (Pronomen) глагол (Verb) наречие (Adverb) категория состояния (Zustandswort) частица (Partikel) связка (Kopula) предлог (Präposition) союз (Konjunktion) Abbildung 22: Einteilung der Wortarten nach V INOGRADOV / G ABKA 61 Die flektierbaren Wortarten sind ausnahmslos Autosemantika. <?page no="129"?> Lexikologie 123 Die „Redeteile“ umfassen alle autosemantischen Wortarten oder Begriffswörter, in die Kategorie „Redepartikeln“ fallen ausschließlich synsemantische Wörter oder Hilfswörter. Gesondert verweist G ABKA auf das Problem der Kopula, die V I- NOGRADOV als eigenständige Wortart unter die Redepartikeln einordnet, während andere Linguisten die Kopula eher als syntaktische Funktion begreifen. Auch bezeichnet er die Partikeln это und вот als Kopula-Partikeln zum Ausdruck der Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat bzw. Prädikatsnomen: Ракета - это изобретение человека . Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das russ. Verb быть sowohl die Funktion einer Kopula ( Мы были коллегами ) erfüllen als auch die Rolle eines Vollverbs mit Existenzbedeutung ( У этого человека было много врагов ) spielen kann. 13.7 Lexikologie Lexikologie ( лексикология ) ist die Lehre von der Bedeutung der Wörter, wie sie im Wortschatz einer Sprache organisiert sind. Sie beschäftigt sich mit der Lexik, dem Lexikon (d.h. dem Wortschatz) einer Sprache. Lexik ist die Gesamtheit aller Wörter einer Sprache, bestehend aus dem Grundwortschatz (Primär- und Sekundärstammwörter) und einem beweglicheren Teil (Neologismen, Fremdwörter, Sondersprachen etc.). Man kann sie auch beschreiben als den Gesamtinhalt von Elementen (d.h. nicht nur von ganzen Wörtern), die eine Bedeutung tragen. Ein Wort gehört, ebenso wie ein Phonem und ein Morphem, zur abstrakten Einheit der langue; es wird in konkreten, verschiedenen Wortformen in der parole realisiert; i.d.R. wird die Grundform/ Zitierform/ Lexikonform eines Wortes zitiert. Was aber ist überhaupt ein Wort? Ist es als graphemisches Wort das, was zwischen zwei Leerzeichen steht? Man vergleiche beispielsweise dt. Waschmaschine, russ. стиральная машина , engl. washing-machine, frz. machine à laver; oder im Deutschen aufstehen - er steht auf im Unterschied zu russ. встать - он встаёт . In der sprachwissenschaftlichen Forschung und Literatur besteht keineswegs Konsens hinsichtlich einer allgemeingültigen Definition von „Wort“; verschiedene Linguisten haben sogar versucht, ganz ohne den Begriff „Wort“ auszukommen. I. B. L EVONTI - NA unterscheidet in ihrem Aufsatz Ponjatie slova v sovremennom russkom jazyke (in: A RUTJUNOVA , N. D. (red.): Jazyk o jazyke. Moskva 2000, S. 290-302) auf der Grundlage von aktuellen Wörterbucheinträgen nicht weniger als 8 verschiedene Lesarten von „Wort“ und führt aus: „ Не случайно для лингвистики научной сло во слово неудобно , и она зачастую стремится заменить его чем то другим .“ In einer Fußnote erwähnt die Verfasserin als Beispiele für Ersatztermini ohne weitere Erklärungen die nicht in gleicher Weise allseits akzeptierten лексема , вокабула , ЛСВ [ лексико семантический вариант - T.B.] und словема . L. B LOOMFIELD definiert in seinem Werk Language (1933: 178) das Wort als minimum free form: „a word, then, is a free form which does not consist entirely of (two or more) lesser free forms; in brief, a word is a mimimum free form“. Formale, i.d.R. sehr sprachspezifische Definitionskriterien wären ferner: Akzenteinheit, Vokalharmonie, An-, In- und Auslautstrukturen, Flexionseinheit. <?page no="130"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 124 In seiner breitesten Akzeptanz als Benennungseinheit der Sprache ist es u.a. zu unterscheiden von Morphem (kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache, i.d.R. kleiner als ein Wort; s.o.), Lexem (Basiseinheit des Wortschatzes, die eine einzelne Wortform überschreiten kann, und zugleich ein Oberbegriff für die Gesamtheit aller Wortformen darstellt) und phonetischem Wort (Fügungen von Autosemantika und Synsemantika, die einen gemeinsamen Akzent aufweisen, wobei die Anlehnung an das entsprechende Begriffswort entweder als Proklise [ проклиза ; Anlehnung an ein unmittelbar folgendes Wort mit voller Betonung] oder Enklise [ энклиза ; Anlehnung an ein unmittelbar vorausgehendes Wort mit voller Betonung] erfolgt). In der sprachwissenschaftlichen Terminologie ist Wort schließlich nicht identisch mit Begriff und Terminus (Pl. Termini). Während Terminus i.d.R. ein lexikalisches Element speziell eines Fachwortschatzes bezeichnet, versteht man unter Begriff den einer Bezeichnung oder Benennung - eben einem Wort - zugrunde liegenden kognitiven Inhalt, seinen Bedeutungsumfang, das gedankliche Bild, das der Sprachbenutzer/ die Sprachbenutzerin mit der Wahl eines bestimmten Wortes zum Ausdruck bringen will (hierauf wurde in Kap. 3 bereits kurz hingewiesen). In der Lexikologie (und Lexikographie) spricht man außer vom Wort auch vom sog. Lexem ( лексема ): es ist das Wort oder der Wortstamm als Einheit des Wörterbuches, als abstrakte Einheit, die der Wortform mit ihren morphosyntaktischen Eigenschaften als Teil einer konkreten syntaktischen Konstruktion (eines Satzes) gegenübergestellt ist. Die unterschiedlichen grammatischen Formen (Wortformen) Haus, Hauses, Hause, Häuser, Häusern etc. repräsentieren alle das gleiche Lexem Haus, analog bei russ. дома , дому , домом , домов , домами дом . Ein Lexem ist i.d.R. ein Wort, oft aber auch eine Wortgruppe oder eine Wendung, die als begriffliche Einheit idiomatisiert und lexikalisiert ist (Bsp.: Weißes Haus - Белый Дом ; öffentliches Haus - публичный дом , дом терпимости ; aus dem Häuschen sein) und in dieser Form auch memorisiert wird. Das Lexem wird auch als lexikalisches Morphem bezeichnet, d.h. als Morphem, das in das Lexikon einer Sprache gehört und das Gegenstände, Personen und Sachverhalte benennt. Der Inhalt des Lexems ist das Semem. Ein Lexem ist eine in einem Wortfeld funktionierende lexikalische Einheit. Begrifflich ähnlich ist der Terminus Lexie als (im Gedächtnis) gespeicherte lexikalische Einheit, die eines oder mehrere Lexeme umfassen kann. Eine Sonderform des Lexems ist das Paralexem ( паралексема ): im Unterschied zum einfachen Lexem (Simplex) ist es ein Wortgruppenlexem, d.h. eine größere Einheit als Ergebnis von Komposition bzw. Zusammenrückung: sein Komm-ich-heut-nicht-kommich-morgen geht mir auf die Nerven, das Zwischen-den-Stühlen-sitzen. Die deutsche Sprache zeigt sich bei der Bildung solcher Einheiten sehr flexibel, während das Russische in diesem Punkt deutlich zurückhaltender agiert. Verwandt mit dieser Erscheinung sind die ad-hoc-Bildungen und die Phraseologismen. Das Archilexem ( архилексема ) ist die lexikalische (formale) Realisierung des ganzen Inhalts eines Wortfeldes (Menge von bedeutungsmäßig verwandten Wörtern wie bspw. Farbbezeichnungen, Sitzmöbel etc.; vgl. Kap. 13.10). Es stellt als gemeinsamer Nenner die inhaltliche Grundlage für alle im Feld funktionierenden Lexeme dar, ist aber in Wirklichkeit oft nicht realisiert und muss dann durch eine konkrete Bezeichnung ausgedrückt werden, die wiederum nur einen Teil des Bedeutungsumfangs des Feldes wiedergibt (Bsp.: das Archilexem Sitzgelegenheit vertritt ein gleichnamiges <?page no="131"?> Lexikologie 125 Wortfeld mit den konkreten Repräsentanten Stuhl, Hocker, Sofa, Sessel, Schemel, Bank etc.). Auch hier zeigt sich, dass die jeweiligen Einzelsprachen durchaus unterschiedlich strukturiert sind. Während das Russische mit сиденье ebenfalls über ein Archilexem dieses Wortfeldes verfügt, liegt hier beispielsweise im Französischen eine lexikalische Lücke vor. Die Tatsache, dass sich der Komplex eines Wortes stets aus den Elementen Form / Formativ (Bezeichnung) und Inhalt (Bedeutung) zusammensetzt, hat innerhalb der Lexikologie und der eng hiermit verbundenen Semantik zu zwei Forschungsrichtungen geführt: zur Onomasiologie und zur Semasiologie. Beide beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Begriffen und Bezeichnungen. Onomasiologie ( ономасиология ) ist Bezeichnungslehre (von griechisch onoma ‚Name’). Die Form wird ausgehend vom Inhalt erschlossen mit der Frage: „Wie wird eine bestimmte Erscheinung / eine bestimmte Sache / ein bestimmter Begriff bezeichnet? “ oder „Welche Wörter (Bezeichnungen) drücken den Sachverhalt XY aus? “ Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Bedeutung (extralinguistischer Sachverhalt), das Ziel ist die sprachliche Form (im Gegensatz zur Semasiologie). Die Onomasiologie fragt nach der nominativen Funktion der Lexeme und führt zur Erstellung von Wortfeldern / Bezeichnungsgruppen. Hierunter versteht man eine Menge lexikalischer Einheiten, die Gleiches oder Ähnliches aussagen. Ein Wortfeld ist damit als lexikalisches Paradigma ein Teilausschnitt des Wortschatzes einer Sprache, der inhaltsverwandte Wörter derselben Wortart (im Allgemeinen einschließlich ihrer Antonyme) umfasst. Das Wortfeld charakterisiert sich durch die in ihm vorliegenden Beziehungen der Hyperonymie bzw. Hyponymie als Ausdrücke einander überbzw. untergeordneter Hierarchieebenen sowie der Kohyponymie als Ausdruck der Koexistenz verschiedener, semantisch differenter lexikalischer Einheiten auf derselben Hierarchiestufe. Hier liegt eine paradigmatische Struktur innerhalb des Lexikons aus Zeichen/ Zeichenketten mit derselben syntaktischen Funktion 62 vor (wir haben es mit morphosyntaktischen Restriktionen zu tun). Abbildung 23: Hyperonymie und Hyponymie 62 Die gleiche syntaktische Funktion können nicht nur Vertreter derselben Wortart haben (Bsp. Она работает быстро / день и ночь / несмотря на то , что ... / на фабрике / со старым другом .). Hyperonym ( цветок ) Hyponym 1 ( роза ) Hyponym 2 ( лилия ) Hyponym 3 ( ландыш ) Kohyponyme <?page no="132"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 126 In syntagmatischer Hinsicht sind außer den morphosyntaktischen noch lexikalische Restriktionen zu beachten: Auf der Ebene der sprachlichen Norm wirken sog. lexikalische Solidaritäten oder Kollokationen, d.h. Kombinationen von semantisch miteinander verträglichen Zeichen ( делать покупки / доклад / сообщение / кому л . операцию / * роман / * звонок ). Als typisches Beispiel für ein Wortfeld wird immer wieder der Bereich „Tod“ angeführt, das sich in etwa wie folgt - und ohne Anspruch auf Vollständigkeit - differenzieren lässt: Tod, Hinscheiden, Abgang, Hingang, Heimgang, Ableben, Sterben, in die Ewigkeit eingehen, ins Gras beißen, fallen, seine Seele aushauchen, hinübergehen, verenden, verrecken, abkratzen, krepieren, den letzten Schnaufer tun, usw. Ergänzen ließe sich beispielsweise den Löffel abgeben, sich die Radieschen von unten ansehen, über die Wupper gehen, in die ewigen Jagdgründe eingehen, verscheiden, von uns gehen u.v.a.m. Ferner könnte die Liste durch Ausdrücke komplettiert werden, die die Art des Todes näher spezifizieren: verhungern, verdursten, verbrennen, zerschmettert werden etc. Vgl. im Russischen die entsprechenden lexikalischen Einheiten помереть , скончаться , угаснуть , почить , опочить , уйти от нас , уйти в могилу , лечь в могилу , лечь в землю , заснуть вечным сном , отойти , кончиться , испустить дух , упокоиться , преставиться , отдать богу душу , отправиться на тот свет , отправиться к праотцам , отправиться в лучший мир , приказать долго жить , сыграть в ящик , отдать концы , дать дуба , протянуть ноги , свернуться , загнуться , окочуриться , скапутиться , скопытиться , издохнуть , сдохнуть , подохнуть , околеть , решиться жизни , отойти в мир иной , околевать, издыхать, падать, отдать долг природе . Ein für das menschliche Leben so zentrales - wenngleich abschließendes - Ereignis wie der Tod hat in der Sprache zu einer sehr differenzierten Wiedergabe geführt. Während in bestimmten Kontexten ein Element des Wortfeldes ein anderes substituieren kann und diese beiden Elemente insofern als Synonyme betrachtet werden können, ist dies in anderen Fällen aufgrund von stilistischen Differenzierungen oder Kollokationsbeschränkungen unmöglich. Jedes Element des Wortfeldes hat seinen eigenen Bedeutungskreis, der sich durchaus mit dem des danebenliegenden Wortes überschneiden kann, diesen aber nicht komplett abdeckt. (Vgl. dazu L EO W EISGER - BER : Vom Weltbild der deutschen Sprache, 1. Halbband: Die inhaltsbezogene Grammatik, Düsseldorf 1952, und Das Tor zur Muttersprache, Düsseldorf 1950, sowie J OST T RIER , Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. 2. Aufl., unveränd. Nachdr. der Erstaufl. 1931. Heidelberg 1973) Wie die Beispiele zeigen, lässt sich das Wortfeld Tod wiederum in Unterfelder aufteilen, bspw. nach den Kriterien natürlicher / gewaltsamer Tod (Unfall / Verbrechen / Krieg), Todesart etc. Andere gern zitierte Wortfelder sind Farb-, Sitzmöbel- und Verwandtschaftsbezeichnungen. Vom lexikalisch-semantisch motivierten Wortfeld sind wiederum ähnliche Strukturerscheinungen des Wortschatzes zu unterscheiden: • Die Wortfamilie oder das Wortnest ( гнездо ( родственных ) слов ) gruppiert Wörter mit demselben Wortstamm, also wurzelidentische Wörter, • das funktional-semantische Feld (FSF; функционально семантическое поле , ФСП ) umfasst lexikalische Einheiten auch unterschiedlicher Wortarten, die <?page no="133"?> Lexikologie 127 grundlegende semantische Relationen wie beispielsweise Temporalität 63 oder Lokalität im weitesten Sinne ausdrücken; die den funktional-semantischen Feldern zugrunde liegenden funktional-semantischen Kategorien „umfassen alle Sprachmittel (morphologische, syntaktische, lexikalische u.a.), die auf Grund ihrer ähnlichen grammatischen oder lexikalischen Bedeutung zur Erfüllung der gleichen Funktion im Satz dienen oder zusammenwirken, d.h. die gleiche oder ähnliche sprachliche Leistungen erbringen.“ (M ULISCH 1993: 84), • ein Sachfeld oder eine Sachgruppe ( предметная группа слов ) schließlich ist rein extralinguistisch konstituiert und orientiert sich an Seinsbereichen der außersprachlichen Wirklichkeit, die dann in spezialisierten Wörterbüchern ihren Niederschlag finden können (z.B. Tourismus, Messewesen, Kfz-Technik). In ihrer historischen Ausrichtung untersucht die Onomasiologie den Bezeichnungswandel. Die wortschatzstrukturierenden Erscheinungen Wortfamilie / Wortnest, Wortfeld und funktional-semantisches Feld sind untereinander und gegenüber dem außersprachlich motivierten Sachfeld klar abzugrenzen. Semasiologie ( семасиология ) ist Wortbedeutungslehre (von griechisch sema, semeion ‚Zeichen’). Der Inhalt wird ausgehend von der Form erschlossen mit der Frage: „Welche Bedeutung hat ein bestimmtes Wort / Lexem? “ Der Ausgangspunkt der Untersuchung (im Gegensatz zur Onomasiologie) ist die sprachliche Form, das Ziel sind die Bedeutung und das Benannte. Methodisch verfährt man mittels der Zerlegung eines einheitlichen Zeichens in seine Komponenten (z.B. russ. бес | пис | ь | м | ен | н | ост | ь Ø 64 , lat. laud|a|ba|m). Hier ist ein klarer Anknüpfungspunkt zur Morphologie gegeben. Die Semasiologie fragt auch nach Kontextbedeutungen eines sprachlichen Zeichens (womit die Frage der Polysemie berührt ist, die man all jenen Zeichen zusprechen kann, die die Möglichkeit verschiedener Kontextbedeutungen in sich tragen) und bemüht sich um die Disambiguierung (Eindeutigmachung) von Homonymen. Semasiologische und onomasiologische Vorgehensweisen kommen in der Lexikographie zum Tragen. Einsprachige (erklärende) Wörterbücher sind semasiologisch, da sie eine Definition eines Lemmas geben, d.h. eine Semanalyse vornehmen, eine Aufstellung der semantisch distinktiven Merkmale. Bei der Erstellung eines zweisprachigen Wörterbuchs erfolgt zunächst ein semasiologischer Prozess (der Weg vom Stichwort der Ausgangssprache zur Definition Sem 1 + Sem 2 + Sem 3 ... ist semasiologisch), dann ein onomasiologischer: der Weg von der erhaltenen Definition mittels Semanalyse zum Wort in der Zielsprache, indem man die Frage stellt: Welches Wort existiert in der Zielsprache, um einen Gegenstand oder Sachverhalt zu bezeichnen, der charakterisiert ist durch die Semmenge Sem 1 + Sem 2 + Sem 3 ...? 63 Zum funktional-semantischen Feld der Temporalität im Russischen vgl. z.B. im Überblick S CHLEGEL 1992: 46f, zur Aspektualität ebd. S. 81ff, zur Diathese (Aktiv/ Passiv) ebd. S. 102, zur Modalität ebd. S. 108. 64 Vgl. K UZNECOVA , A. I.; E FREMOVA , T. F.: Slovar’ morfem russkogo jazyka. Moskva 1986: 247. <?page no="134"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 128 Aufgaben: 1. Finden Sie für die russische Sprache unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern 5 Wortfamilien, 5 Wortfelder und 3 funktional-semantische Felder (die nicht bei S CHLEGEL 1992 erwähnt werden! ). 2. Überlegen Sie, welche Gedanken- und Arbeitsschritte semasiologischer und onomasiologischer Art bei der Erstellung a) eines einsprachigen, erklärenden Wörterbuchs und b) eines zweisprachigen Übersetzungswörterbuchs nötig sind. Der Wortschatz einer Sprache kann nach verschiedenen Kriterien gegliedert werden: • nach Wortarten (Substantive, Adjektive, Verben ...) • nach Wortfeldern (onomasiologische Betrachtungsweise; fragt nach den Bezeichnungen) • nach dem Stand der Lexikalisierung: Bereits lexikalisierte, im Gebrauch konventionalisierte sprachliche Einheiten stehen Gelegenheitsbildungen (ad-hoc-Bildungen, Okkasionalismen; окказионализм ) gegenüber, die als Mittel der Sprachökonomie ( языковая экономия ) aus einer bestimmten Kommunikationssituation heraus zur Bezeichnung eines mehr oder weniger komplexen Sachverhalts gebildet werden und oft auch nur in diesem Kontext verständlich sind, jedenfalls aber zu einem großen Teil nie lexikographisch erfasst werden. In diesem Punkt unterscheiden sich Okkasionalismen auch von den Neologismen ( неоло гизм ), die ursprünglich Gelegenheitsbildungen sein konnten, dann aber in den allgemeinen Sprachgebrauch eindrangen und deshalb lexikalisiert wurden. Gerade in Sprachen wie dem Deutschen, die in starkem Maße zum Wortbildungsverfahren der Komposition greifen, eröffnen sich weitreichende Möglichkeiten der Okkasionalismenbildung, die gleichzeitig leicht zu entschlüsseln sind (Bildungsdurchsichtigkeit). Lexikalisierte Einheiten sind nicht nur einzelne Wörter, sondern auch größere Einheiten wie Syntagmen und, je nach Wörterbuchtyp, sogar ganze Sätze. Zu den das isolierte Wort überschreitenden Einheiten gehören auch die Phraseologismen (von griech. φρασεολογισµός fraseolojismós, von altgriech. phrazein ‚anzeigen, vortragen’ und griech.-neulat. logismós / logismus ‚die Wortbildung’; фра зеологизм ). Ein Phraseologismus ist eine Kette ursprünglich isolierter sprachlicher Zeichen (Wörter), die in ihrer Gesamtheit eine Bedeutung annehmen, die nicht aus der Summe der Bedeutungen der Einzelteile zu erschließen ist; das semantische Ganze ist also mehr als die Summe seiner Bestandteile. Die Struktur eines Phraseologismus kann nicht oder nur in sehr geringem Umfang verändert werden, ohne die Bedeutung zu zerstören. Zu dieser besonderen Form der lexikalischen Einheiten gehören neben Redewendungen auch die Redensarten und die in vielen Sprachen anzutreffenden, oft alliterierenden (im Deutschen) und semantisch sehr unterschiedlich motivierten Zwillingsformeln ( парные слова 65 ; sich 65 Der Terminus парные слова wird in der russischen Linguistik und Stilistik unterschiedlich definiert und verwendet. Häufig wird er zu den sog. речевые штампы gezählt und synonym zu слова спутники verwendet. Hierunter versteht man das fast zwangsläufige gemeinsame Auftreten von zwei lexikalischen Einheiten wie z.B. мероприятие - проведенное , критика - резкая , проблема - нерешенная , аплодисменты - бурные , распространение - широкое , wobei diese Wortpaare noch nicht den Status von Phraseologismen erreicht haben. Eine andere Lesart sieht die парные слова als lautähnliche Wörter, die sich z.B. nur hinsichtlich der Stimm- <?page no="135"?> Lexikologie 129 dumm und dämlich verdienen, mit Mann und Maus untergehen (mit Frau und Ratte untergehen ist kein Phraseologismus mehr), sein Hab und Gut verlieren, etw. in Bausch und Bogen verwerfen, jm. mit Rat und Tat zur Seite stehen, mit Kind und Kegel verreisen - и там и сям , и день и ночь , и холод и голод , и стар и млад , ни жив ни мёртв , ни взад ни вперёд , ни днём ни ночью , ни рыба ни мясо , ни себе ни людям , ни свет ни заря , ни да ни нет ; овощи фрукты ; деньги меньги 66 , чудо юдо , шашлык машлык ). Von den Phraseologismen unterschieden werden normalerweise die - allerdings verwandten - Erscheinungen der Sprichwörter, Sentenzen (geflügelte Wörter und Aphorismen) und Zitate. Unsere tägliche Sprachpraxis weist eine große Fülle an festen Fügungen auf, z.B. in Begrüßungs-, Anrede- oder Glückwunschformeln, Floskeln und Slogans. • nach der Unterscheidung Eigenname (Nomen proprium; имя собственное ) vs. generische Bezeichnung (Appellativum, Nomen appellativum; имя нарицатель ное ). Mit dem weiten Feld der Eigennamen beschäftigt sich die Teildisziplin der Onomastik (griech. ονοµαστική onomastike, von griech. ὄνοµα onoma ‚Name’; ономастика ) oder Namenforschung, die neben der Herkunft, Verbreitung und Bedeutung von Personennamen (Vor- und Familiennamen) auch alle anderen Arten von Namen (Städte-, Fluss-, Gebirgs-, Tier-, Pflanzen-, Markennamen etc.) untersucht. Da die Namenkunde in weiten Teilen historisch ausgerichtet ist, ergeben sich hier Überschneidungsbereiche mit der Etymologie, aber auch mit der nichtsprachwissenschaftlichen Disziplin der Genealogie. Kulturwissenschaftlich besonders interessant können die Eponyme ( эпоним ) sein, die eine Sache, ein Verfahren oder einen Prozess nach einer real existierenden oder auch fiktiven Person benennen: Plancksches Strahlungsgesetz, Tesla, Volt, Watt, Kolumbien, Bolivien, Bunsenbrenner, Colt, Marshallplan, Riester-Rente, Eiffelturm, Diesel, Marxismus, Sadismus; Achillesferse, Dornröschenschlaf - vgl. einige russ. Beispiele: Колумбия , вольт , марксизм , кольт , бунзеновская горелка , ахиллесова пята . Entstehung, Bedeutung und Veränderung von Eponymen werden in vielen Kultursprachen intensiv untersucht. Bei den lexikalische n Klassen ist zu unterscheiden nach: • offenen (können erweitert werden; die Zahl der Elemente ist kaum feststellbar): Substantive, Verben, Adjektive (Autosemantika) • geschlossenen (nicht erweiterbar; der Bestand ist zahlenmäßig genau umrissen und kann nicht ohne weiteres ergänzt werden): Präpositionen, Konjunktionen (Synsemantika) haftigkeit/ Stimmlosigkeit eines Konsonanten unterscheiden: кора - гора , жить - шить . Wieder andere Autoren nähern die парные слова den Synonymen an: сделать - выполнить , по казать - обнаружить , кормить - питать . 66 Hier haben wir es mit einem Beispiel für einen besonderen Bildungstyp zu tun, der darin besteht, dass ein Wort redupliziert wird, wobei der beliebige erste Konsonant des wiederholten Elements durch м ersetzt wird. Diese Zwillingsformel ist v.a. für die gesprochene, sehr emotional gefärbte Sprache charakteristisch und bringt oft eine negative Wertung zum Ausdruck (vgl. I VANOV , V JA Č . V S .: Lingvistika tret’ego tysja č eletija. Voprosy k buduš č emu. Moskva 2004: 142f). <?page no="136"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 130 Die Lexikologie einer Sprache, hier am Beispiel des Russischen, umfasst (vgl. P AN - ZER 1995: 101-103): • die Herkunft (Etymologie; этимология ) des russischen Wortbestandes. Die Etymologie (von altgriech. ετυµολογία etymología - aus έτυµος étymos - ‚wahrhaftig, wirklich, echt’ und λόγος lógos ‚das Wort, die Lehre, die Kunde’) versucht, die Herkunft der Wörter zu ergründen, und zeichnet somit die Entwicklung ihrer Bedeutung und Form nach. Wie es die Bezeichnung dieses Wissenschaftszweiges nahe legt, suchte man dabei ursprünglich die „wahre Bedeutung“ der Wörter. Die ursprüngliche, d.h. im ältesten erhaltenen Beleg vorzufindende und andernfalls rekonstruierte Form und Bedeutung eines Lexems heißt Etymon ( этимон ). Von der tatsächlich wissenschaftlich arbeitenden Etymologie ist die unwissenschaftliche Volksetymologie oder Pseudoetymologie ( народная этимология oder ложная этимология ) zu trennen. Letztere arbeitet viel mit dem Sprachgefühl, das jedoch allzu oft in die Irre führt. Sie deutet Bezeichnungen mit einleuchtend klingenden, sachlich aber falschen Erklärungen um und verändert nach dieser Neudeutung nicht selten entsprechend die Form. Der Volksetymologie zugrunde liegt die „« ложная », основанная на случайных сближениях , мотивация , в ре зультате которой слово может подвергаться переосмыслению , а иногда и значительной семантической и формальной перестройке .“ (Š MELËV 1977: 228) Beispiele für das Deutsche sind u.a. Tollpatsch, Maulwurf und Rentier (das unter volksetymologischem Einfluss oft fälschlich *Renntier geschrieben wird). Im Russischen finden sich unter vielen anderen Beispielen гульвар anstelle von бульвар (unter dem Einfluss des mit бульвар assoziierten Verbs гулять ), дерьмократ anstatt демократ (unter bewusster, herabwertender Assoziierung von демократ und дерьмо ). Der Übergang zur sog. Verballhornung, d.h. der absichtlichen Entstellung von Wörtern, ist, wie die Beispiele zeigen, bisweilen fließend. Nicht mit Erscheinungen der Volksetymologie zu verwechseln ist der Bedeutungswandel, der diachron dazu führt, dass eine sprachliche Einheit eine neue, im Sprachsystem bislang nicht oder nicht in dieser Form vorhandene Bedeutung erhält. Nach ihrer Herkunft sind im Wortschatz der russischen Sprache zu unterscheiden (vgl. Š MELEV 1977: 233-287, G ABKA 1984: 134-144, M ULISCH 1993: 344): 67 o genuin-russische Wörter mit verschiedenem slavischem und altkirchenslavischem Hintergrund: gemeinslavische: учитель , книга , звонок , писаF ть , читать , брат , сестра , ру ( ч ) ка , небо , народ , нож ...; Wörter aus den Bereichen der Verwandtschaftbezeichnungen, Tier- und Pflanzennamen, Körperteile, Naturerscheinungen, Werkzeuge, aber auch Abstrakta zum Ausdruck von Gefühlen oder Moralbegriffen; der Bestand an gemeinslavischen Wörtern im heutigen Russischen wird auf höchsten 2000 geschätzt (vgl. Š MELEV 1977: 236) (gemein)ostslavische: после , тут , совсем ... 67 Auf Erscheinungen des Bedeutungswandels wird in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen, ebenso wenig auf eine nähere Differenzierung der Übernahmeepochen (vgl. hierfür insbesondere Š MELEV 1977). <?page no="137"?> Lexikologie 131 spezifisch russische: бросить , зарплата , пока , урок ... Altkirchenslavismen: власть , время , глава , единица , здравый , истина , краткий , общий , праздник , прежде , раб , работа , рождать , рождение , среда , страж , страна , хранить ... o aus fremden Sprachen entlehnte Wörter, insbesondere aus dem / den Skandinavischen: ворвань , Игорь , кнут , крюк , Олег , ящик ... Finno-Ugrischen: пихта , рига , тундра ... Germanischen: князь , карп , король , лук , пост , скот , хлеб , холм ... Romanischen: бумага , мушкет ( ер ), солдат ... Turk-Sprachen: арбуз , аршин , атаман , буран , деньги , изюм , карандаш , карман , кирпич , лошадь , орда , сундук ... Griechischen (z.T. über Drittsprachen wie das Lateinische): алфавит , ан гел , анис , грамота , диалект , идол , каторга , кровать , крокодил , монах , стих , театр , тетрадь , фонарь , хор , школа ...; zahlreiches Lehngut dringt schon im Zuge der Christianisierung durch die rege Übersetzungstätigkeit aus dem Griechischen ins Altkirchenslavische ein, hinzu kommen Lehnbildungen nach griechischem Vorbild Lateinischen (z.T. über Drittsprachen wie das Polnische und westeuropäische Sprachen): автор , градус , делегат , класс , комната , лаборатория , республика , экзамен ... Französischen: балет , билет , блиндаж , бульвар , жанр , журнал , лейте нант , мемуары , портфель , парашют , тираж , фельетон , шедевр , этаж , этюд ... Italienischen: автострада , аллегро , ария , балкон , барокко , бумага , газета , касса , опера , помидор , сальто , тенор ... Spanischen (z.T. über das Polnische): гитара , силос ... Deutschen: аншлаг , бутерброд , галстук , кухня , ландшафт , лейтмотив , матрац , папка , парикмахер , рейс , слесарь , цеферблат , штаб , штамп , штурм , эрзац ... Niederländischen: абрикос , апельсин , балласт , верфь , вымпел , гавань , дюйм , зонтик , кабель , каюта , киль , конвой , матрос , мачта , ситец , форпост , шторм ... Englischen/ Amerikanischen: бокс , бульдог , вокзал , комбайн , лидер , ми тинг , маркетинг , трактор , трамвай , сноб , спорт , чемпион , юмор ... Ukrainischen: борщ ... Polnischen: башня , булка , бутылка , вахта , грош , деликатный , замок , кофта , мазурка , рынок , фуражка ... Tschechischen: полька , робот ... Persischen (über Turksprachen): бисер , кинжал , сарай ... Arabischen: бусы Chinesischen (z.T. über Turksprachen): чай , чесуча Nicht nur im Falle des Griechischen und Lateinischen ist davon auszugehen, dass Drittsprachen (wie im 16. und 17. Jh. verstärkt das Polnische) eine Vermittlerfunktion im Entlehnungsprozess gespielt haben. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle, in denen der Übernahmeweg nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, da sich gleich mehrere Sprachen als Lehnquelle anbieten, so bei формат , das <?page no="138"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 132 sowohl von dt. Format als auch von frz. format entlehnt worden sein kann, letztlich aber auf lat. formatum zurückgeht. Art, Umfang und Zeitpunkt der Entlehnungen lassen deutliche Rückschlüsse auf interkulturelle Beziehungen mittels Handwerk, Handel, Künste, Politik etc. zu. Die semantische Ausrichtung der Entlehnungen ist ein beredtes Zeugnis von Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in denen eine Sprechergemeinschaft zumindest für eine gewisse Zeit eine dominierende Rolle gespielt hat und mit ihren Erzeugnissen auch die entsprechenden Bezeichnungen in andere Kulturkreise exportiert hat. Wichtige Ergebnisse liefern hier auch die Kulturwissenschaft, die Archäologie und die Ethnographie. o Neben diesen direkten Entlehnungen existieren im Russischen zahlreiche Lehnübersetzungen (calques linguistiques; калька ), d.h. Übersetzungen, die sich in ihrer lexikalisch-semantischen Struktur der Ausgangssprache anpassen: frz. subdivision / dt. Unterteilung russ. подразделение , frz. influence / dt. Einfluss russ. влияние , lat. insectum russ. насекомое . o Als Internationalismen bezeichnet man lexikalische Einheiten, die in mehreren, nicht (eng) miteinander verwandten Sprachen eine weitestgehend identische Bedeutung bei ebenfalls weitestgehend identischem Formenbestand aufweisen, die also im Prozess der Entlehnung nur geringfügigen Veränderungen (meist im Bereich der Suffixe) unterlegen haben. Man vergleiche die folgenden Beispiele mit ihren Äquivalenten in verschiedenen europäischen Sprachen: ассоциация , коммуникация , критерий , мотив , объект , организация , паника , пессимизм , публицист , реагировать , реальный , солидный u.v.a.m. Die Lexikologie umfasst weiterhin • die Untersuchung des aktiven und passiven Bestandes des russischen Wortschatzes, Archaismen, Neologismen, • die Abgrenzung der verschiedenen Register der russischen Sprache und ihrer Verwendung: Dialekte; Argot oder Jargons, die im weitesten Sinne Sondersprachen wie Berufs-, Fach- und (soziale) Schichtensprachen umfassen, • die Differenzierung der russischen Lexik nach kommunikativ-funktionalen Gesichtspunkten, • die Darstellung des im Russischen reichen Bestandes an phraseologischen Fügungen (vgl. oben). Die Wortbildung wird hier nicht dem engeren Kreis der Lexikologie zugerechnet, sondern getrennt behandelt. Die Lexikologie kann den Wortschatz einer Sprache nicht nur qualitativ erfassen, sondern im Rahmen der Sprachstatistik ( лингвостатистика ) mittels Frequenzanalysen auch quantitativ untersuchen. Hierfür wird eine Menge an geeigneten Texten nach bestimmten (inhaltlichen, formalen, funktionalen, adressatenspezifischen) Kriterien ausgewählt und zu einem Textkorpus zusammengestellt, aus dem dann das untersuchte Sprachmaterial entnommen wird. Die Elemente des Textkorpus zerfallen wiederum in die beiden großen Gruppen der Types und Tokens. Als Type (different word) bezeichnet man das Wort in allen morphologischen Formen, in denen es (innerhalb eines Textes) auftaucht bzw. auftauchen kann; hier liegt somit ein Vorkommenstypus oder Muster vor. Ein Type kann beliebig definiert werden (Bsp.: sein als Infinitivform oder ist als flektierte Form). Ein Token (running word) ist das <?page no="139"?> Lexikologie 133 Wort nur in der Form, in der es konkret im Text auftaucht, somit das aktuelle Vorkommen. Tokens sind die zwischen zwei Leerstellen (blancs, Spatien) stehenden Zeichen bzw. Zeichenfolgen eines Textes. In dem Beispielsatz Er fährt und fährt und fährt haben wir 3 Types (er, fährt, und) und 6 Tokens. Auch ein running word kann bei einer entsprechenden Definition zum Type werden. Zur Beziehung zwischen der Frequenz eines Tokens und seiner Extension (Bedeutungsumfang) ist verallgemeinernd zu sagen, dass häufig gebrauchte Wörter eine weitere Bedeutung haben als selten gebrauchte. So lassen auch die Ergebnisse von Frequenzanalysen Rückschlüsse auf den semantischen Gehalt einzelner lexikalischer Einheiten und damit letztlich auf die Strukturierung des Wortschatzes (insgesamt oder in Ausschnitten) der untersuchten Sprache zu. Nachdem die verschiedensten Erscheinungsformen und Untergruppen von „Wortschatz“ vorgestellt wurden, sollen nun abschließend die einzelnen Klassifizierungsmöglichkeiten des Lexikons einer Sprache zusammengefasst werden, wobei einerseits formale und andererseits inhaltliche Faktoren nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind und die Grenzen durchlässig sein können (so kann beispielsweise ein Fremdwort nicht nur diachron-historisch als solches markiert werden, sondern auch synchron-funktional im Hinblick auf seine aktuelle Verwendungsweise; ein beliebiges Wort findet sich gleich in mehreren der unten aufgeführten Kategorien wieder). Der Wortschatz einer Sprache kann nach folgenden Kriterien strukturiert werden: Nomina appellativa (Sachbezeichnungen) - Nomina propria (Eigennamen) Autosemantika (offene Klassen) - Synsemantika (geschlossene Klassen) Wortarten (morphologisch) Wortfelder (semantisch, wortartenspezifisch; z.B. Farben, Verwandtschaftsbezeichnungen, Altersangaben) Sachgruppen (semantisch, wortartenübergreifend; z.B. Belebtes - Unbelebtes, Flora - Fauna) Funktional-semantische Felder (FSF): drücken wortartenübergreifend allgemeine semantische Kategorien wie Temporalität oder Lokalität aus Wortfamilien/ Wortnester (wurzelidentische Wörter, wortartenübergreifend) diachroner, etymologisch-wortgeschichtlicher Aspekt (Herkunft der Wörter: genuin-eigensprachliche Wörter - Erbwörter - Lehnwörter - Fremdwörter; Archaismen / Historismen, Neologismen) synchroner, stilistisch-funktionaler Aspekt (Trennung nach Stilebenen: gehoben - neutral - niedrig) und Gebrauchssphäre (Allgemeinsprache - Fachsprache, Hochsprache - Dialekt, Hochsprache - Umgangssprache, Jargon, ...) quantitativer Aspekt (Vorkommensfrequenz: Grundwortschatz - Aufbauwortschatz; insbesondere für fremdsprachendidaktische Fragestellungen interessant) Weiter ins Detail gehende Subkategorisierungsmöglichkeiten (wie beispielsweise für Substantive: Konkreta - Abstrakta, für Adjektive: Qualitätsadjektive - Beziehungsadjektive, für Verben: statale Verben - prozessuale Verben) werden in der vorliegenden Einführung im Wesentlichen im Zusammenhang mit den Wortarten <?page no="140"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 134 besprochen. Gleiches gilt für die morphologischen Kategorien des Verbalaspekts und der Steigerungsstufen der Adjektive. Aufgaben: 1. Diskutieren Sie unter Zuhilfenahme historischer wie aktueller Wörterbücher die Bedeutung von Красная площадь unter besonderer Berücksichtigung des Adjektivs красный und seiner verschiedenen Lesarten. Haben wir es hier mit Bedeutungswandel oder mit Volksetymologie zu tun? 2. Informieren Sie sich über Entstehung, Bedeutung und Gebrauchsmöglichkeiten der russischen Wendung кузькина мать . Liegt hier ein Eponym und/ oder ein Phraseologismus vor? Literatur: B ABKIN , A. M.: Russkaja frazeologija: ee razvitie i isto č niki. Leningrad 1970. B IERICH , A.: Zur gegenwärtigen Situation der substandardsprachlichen Varietäten im Russischen. In: Die sprachliche Situation in der Slavia zehn Jahre nach der Wende. Hg. B. P ANZER . Frank furt/ M. u.a. 2000. S. 13-30. D AUSES , A UGUST : Grundbegriffe der Lexematik. Methoden und Probleme der Wortschatzbetrach tung in Synchronie und Diachronie. Stuttgart 1989. E CKERT , R.; K IRCHNER , G.; R Ů ŽI Č KA ; R: , S PERBER ; W.: Russische Wortkunde. Halle (Saale) 1966. E RMEN , I.: Der obszöne Wortschatz im Russischen. Etymologie - Wortbildung - Semantik - Funk tionen. München 1993. F OMINA , M. I.: Sovremennyj russkij jazyk. Leksikologija. Moskva 1983. G ABKA , K URT (Hg.): Die russische Sprache der Gegenwart. Band 4: Lexikologie. Leipzig 1978. I VANOV , A. O.: Bez ė kvivalentnaja leksika: U č ebnoe posobie. Sankt-Peterburg 2006. J ACHNOW , H.: Substandardsprachliche Varianten des Russischen und ihre linguistische Erfassung. In: Die Welt der Slaven NF XV/ 1,2 (1991). S. 9-18. K OESTER -T HOMA , S OIA ; Z EMSKAJA , E. A. (Hg.): Russische Umgangssprache. o.O. 1995. K OESTER -T HOMA , S OIA : Die Lexik der russischen Umgangssprache. Forschungsgeschichte und Darstellung. Blankenfelde b. Berlin 1996. L EVKOVSKAJA , K. 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Das Schicksal dieser Neubildungen kann unterschiedlich verlaufen; während manchen Wörtern nur ein kurzes Leben in einer Sprache beschieden ist, gelingt es anderen, sich im Wortschatz fest zu etablieren, was zwangsläufig zu einer Lexikalisierung führt, d.h. zur Aufnahme und Dokumentation in den einschlägigen Wörterbüchern. Wie wir bereits gesehen haben, kann die Erweiterung des Wortschatzes mit eigensprachlichen Mitteln im Rahmen der Wortbildung (Komposition, Derivation, Abbreviaturen) geschehen, sie kann ebenfalls innersprachlich über den Bedeutungswandel ( изменение значения ) für bereits existierende lexikalische Einheiten verlaufen, sie kann sich aber auch aus fremdsprachigem Material durch Entlehnung speisen. Die an diesem Prozess beteiligten Sprachen heißen Gebersprache (Ausgangssprache, язык источник ; sie stellt Material zur Übernahme bereit) und Nehmersprache (Zielsprache, язык приемник ; sie nimmt Material in das eigene Lexikon auf). Entlehnung ist wiederum als Oberbegriff für verschiedene Verfahren der zwischensprachlichen Übertragung zu sehen, was die folgende Abbildung grafisch veranschaulichen soll (nach G LADROW 1989: 164ff). Entlehnung Materialentlehnung Lehnprägung konforme assimilierte Lehnbedeutung Lehnbildung Lehnschöpfung Lehnübersetzung Lehnübertragung Abbildung 24: Arten der Entlehnung Bei der Entlehnung ist zunächst zu unterscheiden nach Übernahmen (Materialentlehnung) und Ersetzungen (Lehnprägungen). So ist магнитофон (vgl. dt. Magnetophon) eine Entlehnung, ein Lehnwort mit griech.-lat. Ursprung, громкоговоритель dagegen eine Lehnprägung nach dt. Lautsprecher, frz. haut-parleur, engl. loudspeaker. Bei der Materialentlehnung ( прямое заимствование ) differenziert man nach dem Grad der formalen Ursprünglichkeit der Übernahme nach konformen (nur orthographisch und phonematisch an die Nehmersprache angepassten) und assimilierten (phonematisch, morphologisch und wortbildungstechnisch angepassten) Ent- <?page no="142"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 136 lehnungen. Die Materialassimilierung betrifft v.a. Suffixe und Endungen, vgl. lat. natio - dt. Nation - russ. нация . Die Lehnprägung ( калька ) zerfällt in die drei Möglichkeiten der Lehnbedeutung, Lehnbildung und Lehnschöpfung, während bei der Lehnbildung wiederum nach Lehnübersetzung und Lehnübertragung getrennt werden muss. • Bei der Lehnbedeutung ( семантическая калька ) oder Bedeutungsentlehnung wird kein Sprachmaterial, kein Wort übernommen, sondern lediglich der hiermit verknüpfte Begriffsinhalt oder Bedeutungskomplex. Dieser wird an ein in der Nehmersprache bereits existierendes Lexem als zusätzliche Bedeutung angegliedert, so dass der ursprüngliche semantische Gehalt dieses Lexems eine Erweiterung (Bedeutungserweiterung) erfährt: engl. mouse dt. Maus, russ. мышь , einmal (ursprünglich) als Tierbezeichnung und (neu) als Bezeichnung für ein Computer-Peripheriegerät. • Die Lehnübersetzung (auch Calque (linguistique) oder Calquierung genannt; последовательное калькирование ) überträgt die einzelnen Elemente des Ausgangswortes Stamm für Stamm und Morphem für Morphem möglichst eng zu einem neuen Zielwort: engl. data processing dt. Datenverarbeitung, russ. обра ботка данных ; frz. impression dt. Eindruck, russ. впечатление . Deutsche Komposita werden dabei in anderen Sprachen i.d.R. zu Mehrwortbenennungen oder Wortfügungen umgewandelt. • Bei der Lehnübertragung ( непоследовательное калькирование ) werden weniger die einzelnen Elemente des Ausgangswortes übertragen, als vielmehr der hinter der Bezeichnung stehende Begriff, das sprachliche Bild: engl. skyscraper dt. Wolkenkratzer (Lehnübertragung; nicht *Himmelskratzer), aber russ. небо скрёб (Lehnübersetzung). Wie das Beispiel zeigt, gibt die Lehnübertragung nur einen Teil (einen Stamm) des Ausgangswortes genau wieder. • Die Lehnschöpfung ( формально независимое новообразование по ино язычному образцу ) ist das im Vergleich zur Ausgangssprache unabhängigste Verfahren, da hier ausschließlich der einer Bezeichnung zugrunde liegende Begriffsinhalt in der Zielsprache abgebildet wird, ohne auf fremdsprachiges Material zurückzugreifen. Das engl. flowmaster hat im Deutschen mit Filzstift sein Pendant durch Lehnschöpfung erhalten, während das Russische bei фломастер zur Materialentlehnung gegriffen hat. Der Grad der Bildungsdurchsichtigkeit neuer sprachlicher Einheiten kann variieren; man vergleiche dt. Filzstift mit frz. feutre ‚Filz; Filzstift; Filzpantoffel; Filzhut’. Ein weiteres Beispiel für Lehnschöpfung: dt. Kraftwagen oder Kraftfahrzeug zu (lat.) Automobil; vgl. aber wiederum poln. samochód. Hinsichtlich des Grades der Adaptation lassen sich Übernahmen aus fremden Sprachen in folgende Kategorien einteilen: • Ein Fremdwort ( иностранное слово ) hat sich phonetisch/ phonologisch, morphologisch, akzentuell und graphisch der Nehmersprache noch nicht angepasst, wird also (noch) als Fremdkörper angesehen. • Ein Lehnwort ( заимствованное слово ) wird in der Nehmersprache dagegen aufgrund einer mehr oder weniger weit reichenden Assimilierung nicht mehr als fremd oder andersartig empfunden. Wer würde beispielsweise bei dem dt. Wort <?page no="143"?> Lexikologie 137 Fenster vermuten, dass es letztlich aus dem Lateinischen (fenestra) entlehnt wurde, oder dass dt. Grenze von einem slavischen granica abstammt und dt. Roboter von slav. robota ‚Arbeit’? Je länger ein Wort in einer anderen Sprache existiert, desto größer ist normalerweise der Grad der Assimilierung. Vom Lehnwort ist wiederum das Erbwort ( исконное слово ) zu unterscheiden, welches sich dadurch auszeichnet, dass es bereits in allen Vorstufen seiner Sprache vorhanden war (bis hin zum Indogermanischen), soweit sich dies etymologisch nachweisen lässt: „Für die ältesten Sprachstufen gilt wohl insgesamt, daß zum E. [Erbwortschatz - T.B.] alles zählt, für das fremde Herkunft nicht nachgewiesen ist [...] Der Begriff E. ist auch deshalb problemat., weil ältere Lehnwörter so assimiliert sein können, daß sie wie Erbwörter aussehen“ (G LÜCK 2000: 189). Neben dem Erbwort steht das gelehrte Wort ( учёное слово ), das aufgrund der Tatsache, dass es meist erst wesentlich später als das Erbwort in die Nehmersprache eingegangen ist, deutlich weniger lautlichen, graphischen oder morphologischen Veränderungen unterworfen war und noch eher als Wort fremden Ursprungs zu erkennen ist. Nicht selten wurden Wörter gleich zweimal entlehnt, einmal als heute stark assimiliertes Erbwort und einmal als ursprünglicheres gelehrtes Wort, oft zur Zeit der Aufklärung, wie beispielsweise frz. na ї f ‚naiv, unbefangen; einfältig’ und natif ‚gebürtig; angeboren’, beide von lat. nativus ‚geboren’; ebenso frz. loyal ‚treu’ vs. légal ‚gesetzlich’, die im Russischen mit лояльный und легальный ihre (entlehnten) Entsprechungen haben. Die Koexistenz von Erbwort und gelehrtem Wort als zwei Wörtern mit denselben etymologischen Wurzeln, aber unterschiedlichen Übernahmewegen, nennt man Dublettenbildung ( дублетное образова ние ), deren Resultat heißt Dublette ( дублет ). Hierzu zählen das aus dem Altkirchenslavischen übernommene млеко - ( млечный ‚Milch-, milchig, milchartig’, Млечный Путь ‚Milchstraße’; млекопитающее ‚Säugetier’) neben dem volkssprachlich russischen молоко ( молочный ‚Milch-, milchig’, молочная ‚Milchhandlung, Molkerei’, молочник ‚Milchkrug; Milchmann’), град neben го род usw. Bisweilen bezeichnet man als Dubletten auch das Nebeneinander von Fremdwort und eigensprachlicher Bezeichnung (z.B. радикал und корень als synonyme Wörter für den mathematischen Begriff der Wurzel). In dieser zweiten Lesart weist gerade die linguistische Terminologie einen großen Bestand an Dubletten auf: аспект - вид , атрибут - определение , база - основа , взрыв - эксплозия , замена - коммутация , план - уровень , приставка - префикс usw. • Ein fremdsprachliches Einsprengsel ( иноязычное вкрапление ) schließlich wird in der aufnehmenden Sprache im Original verwendet, d.h. mit seiner ursprünglichen Graphie und seiner Lautung. In kyrillischen Texten zeigt sich dies ganz offenkundig durch die Einfügung lateinisch geschriebener Fremdworte: По этой самой лестнице , думал он , может быть , лет шестьдесят назад , в эту самую спальню , в такой же час , в шитом кафтане , причёсанный à l’oiseau royal, прижимая к сердцу треугольную шляпу , прокрадывался молодой счастливец , давно уже истлевший в могиле , а сердце престарелой его любовницы сегодня перестало биться .... (A.S. Puškin: Pikovaja dama, Kap. IV; Herv. T.B.) Ein Sonderfall der Entlehnung ist die sog. Rückentlehnung ( обратное заимство вание ). Diese liegt dann vor, wenn eine lexikalische Einheit nicht nur einmal eine Sprachgrenze überschreitet, sondern zu einem späteren Zeitpunkt ein zweites Mal, <?page no="144"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 138 dann jedoch in umgekehrter Richtung, wobei Bedeutungsveränderungen nicht auszuschließen sind. Š MELEV (1977: 258) führt ein Beispiel für eine slavisch-romanische Rückentlehnung an: „ Например , гирло ‚ устье реки , горловина ’ заимствова но из румынского gîrla ‚ устье , река ’, которое в свою очередь было заимство вано из славянского g ъ rlo.“ Die Lehnwortforschung ist insbesondere aufgrund ihres starken kulturwissenschaftlichen Bezuges interessant und geeignet, zwischensprachliche und zwischenkulturelle Unterschiede diachron wie synchron zu veranschaulichen. Die Grenzen zwischen Fremdwort und Lehnwort sind fließend. Die Einordnung hängt bis zu einem gewissen Grad vom Sprachgefühl und von der Sprachbeherrschung des Individuums ab, während es kaum allgemeingültige Kriterien für die Vergabe der Etiketten „Fremdwort“ und „Lehnwort“ gibt. 13.7.2 Lexikographie Die Lexikographie ( лексикография ) ist die Wissenschaft vom Kompilieren (Zusammenstellen) eines Wörterbuchs und aller hiermit im Zusammenhang stehenden Arbeitsgänge und verwertet in diesem Prozess unmittelbar die Ergebnisse der Lexikologie. Umgekehrt können aber auch Erkenntnisse, die im Zuge der Erstellung von Wörterbüchern gewonnen wurden, ihrerseits die Lexikologie beeinflussen. Entsprechend einer ersten groben Zweiteilung der Wörterbücher in Sprachwörterbücher und Sachwörterbücher sind Sprachlexikographie und Sachlexikographie zu unterscheiden. Die folgende Betrachtung beschränkt sich auf die Sprachlexikographie. Grundeinheit der Lexikographie ist das Lemma (Pl. Lemmata; заглавное слово ) als diejenige Wortform, unter der man im Wörterbuch oder Lexikon nachschlägt. 68 Das Lemma repräsentiert also das Lexem. Bei der Erstellung eines Wörterbuchs werden mehrere Schritte durchlaufen, die hier nur kurz skizziert werden können: Nach einer Vorbereitungsphase, in der die Grundkonzeption (Aufbau und Zielsetzung, Makrostruktur und Materialbasis) des Wörterbuchs definiert wird, muss das Material für das zugrunde liegende Textkorpus (Pl. Textkorpora; корпус ; vgl. Kap. 13.7) gesammelt werden. Es werden Musterartikel erstellt und verbindliche Arbeitsrichtlinien für alle beteiligten Lexikographen festgelegt. In der nächsten Phase legt dann die Lemmaselektion fest, welche Lemmata aus dem Korpus als Einträge in das Wörterbuch aufgenommen werden sollen, und die Lemmatisierung bestimmt, in welcher Form und in welcher Anordnung die Lemmata präsentiert werden sollen. Ein Abfolge von Lemmata wird Lemmastrecke genannt. Die Hauptphase besteht in der Abfassung der einzelnen Artikel. Die fertigen Artikel werden meist mehrfach überarbeitet und korrigiert. In einem letzten Schritt wird das Material für den Druck oder für eine elektronische Publikation vor- und aufbereitet. Als Makrostruktur eines Wörterbuchs bezeichnet man die Anordnung der Lemmata nach bestimmten Prinzipien (alphabetisch, nach Sachgruppen etc.). Demge- 68 Beim Substantiv ist dies normalerweise der Nom. Sg., bei Adjektiven der Positiv, bei Verben der Infinitiv (außer in „infinitivlosen“ Sprachen, in denen dann die 1. Pers. Sg. herangezogen werden kann). <?page no="145"?> Lexikologie 139 genüber ist die Mikrostruktur der Aufbau des einzelnen Wörterbuchartikels, also aller sprachlichen und sachlichen Angaben, die zu einem Lemma gegeben werden. Die Mikrostruktur ist direkt von der Art des Wörterbuchs abhängig, also beispielsweise davon, ob es sich um ein zwei- oder mehrsprachiges Übersetzungswörterbuch handelt oder um ein einsprachiges, erklärendes Wörterbuch. Vor allem in Letzterem sind mehr oder weniger ausführliche Definitionen und Erläuterungen neben Angaben zum syntaktischen Wert des Eintrags zu finden, eventuell auch die Nennung von Synonymen und Antonymen. Wie jede Wissenschaft hat auch die Lexikographie in ihrer Geschichte eine eigene Fachsprache entwickelt. Der lexikographische Prozess, die Wörterbücher als seine Produkte, ihre Geschichte, Struktur und Benutzung sind Gegenstände der Metalexikogra ph ie (Wörterbuchforschung). Zum historischen Aspekt der Lexikographie sei abschließend ein Artikel in J AR- CEVA (1998: 258 f) empfohlen. Literatur: J ACHNOW , H.: Russische Lexikographie. In : Wörterbücher-Dictionaries-Dictionnaires. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Bd. 2. Berlin/ New York 1990. S. 2309-2329. K OZYREV , V. A.; Č ERNJAK , V. D.: Russkaja leksikografija. Moskva 2004. K USTOVA , G. I.; P ADU Č EVA , E. V.: Slovar’ kak leksi č eskaja baza dannych. In: Voprosy jazykoznanija, 1994, N3. P ETE , I STVAN : Leksikologija russkogo jazyka dlja rusistov-inostrancev. Szeged 2006. T ICHONOV , A LEKSANDR : Russkij glagol: problemy teorii i leksikografirovanija. Moskva 1998. Speziell zur Lexikographie der russischen Sprache finden sich unter http: / / slovari.gramota.ru/ umfassende Informationen. Linksammlungen (jeweils Stand 2002) zu Online-Wörterbüchern der russischen Sprache mit Kommentaren und Nutzungshinweisen stehen unter http: / / www.fask.uni-mainz.de/ inst/ is/ russisch/ Hilfsmittel.html und unter http: / / homepage.ruhr-uni-bochum.de/ Karin.Tafel/ Frame7.htm im Netz. 13.7.3 Die wichtigsten Wörterbucharten Das Russische gehört zu den lexikologisch und lexikographisch sehr gut erschlossenen Sprachen und bietet dementsprechend eine große Fülle an Wörterbüchern und theoretischen Abhandlungen zum Wortschatz. Unabdingbar für die praktische Spracharbeit wie auch für eher theoretisch orientierte Seminar- und sonstige Forschungsarbeiten ist die Kenntnis der großen einsprachigen Wörterbücher des Russischen. Eine effiziente Nutzung dieser z.T. sehr umfangreichen Werke setzt voraus, dass ihre Zielsetzung und folglich auch das ihnen zugrunde liegende Material (die Quellen) bekannt sind. So ist eben nicht zwangsläufig das größere Wörterbuch das geeignetere. 69 Der Ethnologe und Schriftsteller V L . I. D AL ’ legte 1863-66 sein Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka in 4 Bänden vor, das zu einem bedeutenden Teil ethnographisch relevanten Wortschatz verzeichnet. Das von D. N. U ŠAKOV 1935-40 in 4 Bänden herausgegebene Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka berücksichtigt schwerpunktmäßig das neue ökonomische, politische und gesellschaftliche Vokabular der ersten Jahrzehnte des sowjetischen Kom- 69 Genauere bibliographische Angaben zu den allgemeinsprachigen Wörterbüchern finden sich in Kap. 16. <?page no="146"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 140 munismus. Es ist unerlässlich für Texte aus dieser Zeit, wobei aus heutiger Sicht ein Großteil der Lemmata als Historismen oder Archaismen zu werten ist, was die Bedeutung des Werkes keineswegs schmälert. Das vom I NSTITUT R USSKOGO J AZYKA 1950-65 herausgegebene, 17-bändige Slovar’ sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka - abgekürzt als BAS (Bol’šoj akademi č eskij slovar’) - basiert im Wesentlichen auf belletristischen und publizistischen Quellen des 19. Jhs. Unter der Redaktion von A. P. E VGEN ’ EVA erschien 1981-84 in 4 Bänden die zweite, aktualisierte Auflage des Slovar’ russkogo jazyka (1. Aufl. 1957-61), üblicherweise abgekürzt als MAS (Malyj akademi č eskij slovar’). Die Auswahl der Lemmata basiert auf Quellen der schöngeistigen, publizistischen und wissenschaftlichen Literatur des 19. und 20. Jhs. „ Словарь охватывает лексику русского лите ратурного языка от Пушкина до наших дней .“, wie es im Vorwort zur erweiterten 2. Auflage heißt, wobei diese nun den Wortschatz bis in die 60er/ 70er Jahre des 20. Jhs. hinein abdeckt. Das einbändige und vergleichsweise häufig aktualisierte Slovar’ russkogo jazyka von S. I. O ŽEGOV und N. J U . Š VEDOVA schließlich sollte auch auf keinem studentischen Schreibtisch fehlen; es ist in etwa vergleichbar mit dem einbändigen DU- DEN. Folgende Wörterbuchtypen (in alphabetischer Reihenfolge angeordnet) sollten Sie für Ihre praktische Arbeit kennen und hinsichtlich der unterschiedlichen Verwendungszwecke / Motivationen erklären können [Beispiele in Klammern]: • Abkürzungswörterbuch [A LESEEV , D. I.; G OZMAN , I. G.; S ACHAROV , G. V.: Slovar’ sokraš č enij russkogo jazyka. Izd. 3-e, s priloženiem novych sokraš č enij. Moskva 1983] • Analogiewörterbuch: in alphabetischer Anordnung aufgeführten Begriffen werden die Lexeme zugeordnet, die das Begriffsfeld sprachlich erschließen • Antonymenwörterbuch [V VEDENSKAJA , L. A.: Slovar’ antonimov russkogo jazyka. Rostov-na-Donu 1995; M ICHAJLOVA , O.: Slovar’ antonimov russkogo jazyka. Svyše 2000 antonimi č eskich par. Moskva 2005] • Archaismenwörterbuch, Wörterbuch untergegangener Wörter: erklärt veraltete und nicht mehr gebrauchte Wörter und zählt damit zu den historisch ausgerichteten Wörterbüchern [S OMOV , V. P.: Slovar’ redkich i zabytych slov. Moskva 1996; G LIN- KINA , L. A.: Illjustrirovannyj slovar’ zabytych i trudnych slov iz proizvedenij russkoj literatury XVIII-XIX vekov. Orenburg 1998; A RKAD ’ EVA , T. G.: Slovar’ russkich istorizmov. Moskva 2005] • Aussprachewörterbuch (orthoepisches Wörterbuch): enthält zusätzlich Angaben zur Betonung, daher auch Betonungswörterbuch genannt [A VANESOV , R. I.: Orfoė pi č eskij slovar’ russkogo jazyka. Proiznošenie, udarenie, grammati č eskie formy (ok. 65000 slov). Moskva 1989; R EZNI Č ENKO , I. L.: Orfo ė pi č eskij slovar’ russkogo jazyka. Proiznošenie. Udarenie. Moskva 2005] • Autorenwörterbuch: erklärt die Verwendung der aufgeführten Einträge bei einem bestimmten Autor; kann durch enger begrenzte Werkwörterbücher ergänzt werden [Puškinskaja lingvisti č eskaja ė nciklopedija. Tver’ 1998; P LOTNIKOVA , V. A.: Slovar’ jazyka Puškina: v č etyrech tomach. 2-e izd., dop. Moskva 2000; K ARAULOV , J U . N. (gl. red.): Slovar’ jazyka Dostoevskogo. Leksi č eskij stroj idiolekta. Moskva 2001] <?page no="147"?> Lexikologie 141 • Bildwörterbuch: ein-, zwei- oder mehrsprachig, onomasiologisch ausgerichtet [Duden. Bildwörterbuch Deutsch und Russisch. Leipzig 1953] • Definitionswörterbuch: einsprachiges, erklärendes Wörterbuch [S KLJAREVSKAJA , G. N. (gl. red.): Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka konca XX veka. Jazykovye izmenenija. Sankt-Peterburg 1998; K UZNECOV , S. A. (gl. red.): Bol’šoj tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Sankt-Peterburg 1998; Bol’šoj akademi č eskij slovar’ russkogo jazyka. V 20-ti tomach. Moskva: Neubearbeitung des BAS von 1950-65; Bd. 5 im Jahr 2006 erschienen; S KLJA - REVSKAJA , G. N. (red.): Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka na č ala XXI veka. Aktual’naja leksika: okolo 8500 slov i ustoj č ivych slovoso č etanij. Moskva 2006] • Dialektwörterbuch (Mundartwörterbuch) [Slovar’ russkich govorov Karelii i sopredel’nych oblastej v 6-ti tomach. Sankt-Peterburg: Bd. 4 1999 erschienen] • Enzyklopädie, Lexikon: sachorientiert, i.d.R. semasiologisch ausgerichtet und in alphabetischer Reihenfolge der Einträge aufgebaut [Bol’šaja sovetskaja ė nciklopedija. Gl. red. A. M. P ROCHOROV , 3-e izd., T. 1-30. Moskva 1969-78; Rossijskij ė nciklopedi č eskij slovar’: V 2 kn. Gl. red. A. M. P ROCHOROV . Kn. 1: A-N., Kn. 2: N-Ja. Moskva 2001] • Erbwörterbuch: führt nur Erwörter auf und lässt Lehnwörter unberücksichtigt • etymologisches Wörterbuch: sprachübergreifend; beschreibt die Entwicklung lexikalischer Einheiten über Sprachgrenzen hinweg, meist bis zum ältesten Beleg [Š ANSKIJ , N. M.; I VANOV , V. V.; Š ANSKAJA , T. V.: Kratkij ė timologi č eskij slovar’ russkogo jazyka. Moskva 1961; F ASMER , M.: Ė timologi č eskij slovar’ russkogo jazyka: V 4 t. / Per. s nem. i dop. O. N. T RUBA Č EVA . Moskva 1964-1973, 2-e izd. Moskva 1986-1987, 3-e izd., stereotip. Sankt-Peterburg 1996; Š ANSKIJ , N. M.: Ė timologi č eskij slovar’ russkogo jazyka. Vyp. 1 (A). Moskva 1963; vyp. 2 (B). Moskva 1965; vyp. 3 (V). Moskva 1968; vyp. 4 (G). 1972; vyp. 5 (D, E, ZH). 1973; vyp. 6 (Z). 1975; vyp. 7 (I). 1980; vyp. 8 (K). 1982; vyp. 9 (L) pod nazvaniem: Ė timologi č eskij slovar’ russkogo jazyka / Pod red. A. F. Ž URAVLËVA , N. M. Š ANSKOGO . Moskva 1999; B IRICH , A. K.; M OKIENKO , V. M.; S TEPANOVA , L. I.: Slovar’ russkoj frazeologii. Istorikoė timologi č eskij spravo č nik. Sankt-Peterburg 1998; Č ERNYCH , P. J A .: Istorikoė timologi č eskij slovar’ sovremennogo russkogo jazyka. V. 2 t. 3-e izd., stereotip. Moskva 1999] • Fachwörterbuch (terminologisches Wörterbuch): sachfeldbezogen, schließt den Allgemeinwortschatz aus; kann ein- oder mehrsprachig sein [Sovremennyj anglorusskij slovar’ komp’juternych technologij. Bolee 30000 terminov. Moskva 2005] • Fremdwörterbuch [Sovremennyj slovar’ inostrannych slov: tolkovanie, slovoupotreblenie, slovoobrazovanie, ė timologija. 6-e izd., stereotipn. Moskva 2005; M OSKVIN , A. J U .: Bol’šoj slovar’ inostrannych slov. Bolee 24000 slov i vyraženij. Moskva 2005; Bol’šoj illjustrirovannyj slovar’ inostrannych slov. 17000 slov. Moskva 2006] • Frequenzwörterbuch (auch: Kollokationswörterbuch): führt die Wörter nach ihrer statistischen Verwendungshäufigkeit an [Š TEJNFEL ’ DT , Ė . A.: Č astotnyj slovar’ sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka. Tallin 1963; L ËNNGREN , L.: Č astotnyj slovar’ sovremennogo russkogo jazyka. Uppsala 1993] • Fügungswörterbuch: führt feste oder häufig verwendete Wortfügungen auf (bspw. typische Kombinationen von Substantiven und Adjektiven) [D ENISOV , P. N.: U č ebnyj slovar’ so č etaemosti slov russkogo jazyka. Moskva 1978; R EGININA , K. V.; T JURINA , G. P.; Š IROKOVA , L. I.: Ustoj č ivye slovoso č etanija russkogo jazyka. Izd. 2-e. Moskva 1980] • historisches Wörterbuch: sprachimmanent; beschreibt die Entwicklung lexikalischer Einheiten innerhalb einer Sprache; nicht zu verwechseln mit historisch orientierten Sachwörterbüchern/ Lexika [S REZNEVSKIJ , I. I.: Materialy dlja slovarja drevnerusskogo jazyka po pis’mennym pamjatnikam. V 3 t. Sankt-Peterburg 1893-1903; <?page no="148"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 142 T OT ŽE : Dopolnenija. Sankt-Peterburg 1912; 3-e izd., stereotip. Moskva 1958; reprint. izd. Moskva 1988; E LISTRATOV , V. S.: Jazyk staroj Moskvy: Lingvo ė nciklopedi č eskij slovar’. Moskva 1997] • Lehnwörterbuch: allgemeinsprachen- oder teilsprachenbezogen, ein- oder mehrsprachig; teilweise konzeptionelle Überschneidungen mit den Fremdwörterbüchern [M AHMUTOV , M. I.; H AMZIN , K.Z.; S AJFULLIN , G. Š.: Arabsko-tatarsko-russkij slovar’ zaimstvovanij. V 2 t. Kazan’ 1993; V AL ’ TER , H.; V OVK , O.; Z UMP , A.; K ONUPKOVA , H.; K UL ’ PA , A.; P OROS , V.: Slovar’: zaimstvovanija v russkom substandarte. Anglicizmy. Moskva 2004] • Lernwörterbuch: entspricht weitgehend den Thesauri oder Wörterbüchern nach Sachgruppen; orientiert sich überwiegend an Fremdsprachenlernenden und ihren Bedürfnissen • Morphemwörterbuch [K UZNECOVA , A. I.; E FREMOVA , T. F.: Slovar’ morfem russkogo jazyka. Moskva 1986] • Namenwörterbuch (onomastisches Wörterbuch, Onomastikon) [K RJUKOVA , O. S.: Onomastikon romana A. S. Puškina «Evgenij Onegin». S predisloviem prof. A. P. Lobodanova. Moskva 1999; Onomastikon Kurskoj oblasti (ojkonimy i gidronimy). Kursk 1999] • Neologismenwörterbuch: erklärt und/ oder übersetzt neu in eine Sprache aufgenommene Wörter, bei denen erst die Zukunft zeigen wird, ob sie sich in der Sprache halten können [F RIEDRICH , W OLF ; G EIS , S ABINE : Russisch-deutsches Neuwörterbuch. München 1976] • Paronymenwörterbuch [V IŠNJAKOVA , O.V.: Slovar’ paronimov russkogo jazyka. Moskva 1984] • phraseologisches Wörterbuch: ähnelt dem Fügungswörterbuch, kann ein- oder mehrsprachig sein [Nemecko-russkij frazeologiceskij slovar’. Deutsch-russisches phraseologisches Wörterbuch. Sost. L. E. B INOVI Č i N. N. G RIŠIN . Pod red. M ALIGE - K LAPPENBACH i K. A GRICOLA . Izd. 2., ispravl. i dopoln. Moskva 1975; P ETERMANN , J.; H ANSEN -K OKORUŠ , R.; B ILL , T.: Russisch-deutsches phraseologisches Wörterbuch. Leipzig 1995; F EDOROV , A. I.: Frazeologi č eskij slovar’ russkogo literaturnogo jazyka. V dvuch tomach. Novosibirsk 1995] • Rechtschreibungswörterbuch (orthographisches Wörterbuch) [R OZENTAL ’, D. Ė . (red.): Slitno ili razdel’no? (opyt slovarja-spravo č nika). Izd. 2-e, stereotip. Moskva 1976; R OZENTAL ’, D. Ė .: Propisnaja ili stro č naja? Slovar’-spravo č nik. Izd. 3-e, ispravlennoe i dopolnennoe. Moskva 1987; L OPATIN , V.; I VANOVA , O.; S AFONOVA , J U .: U č ebnyj orfografi č eskij slovar’ russkogo jazyka. Svyše 100000 slov i slovoso č etanij. Moskva 2005] • Redewendungswörterbuch: ähnelt dem phraseologisches Wörterbuch und dem Fügungswörterbuch [F ELICYNA , V. P.; P ROCHOROV , V. P.: Russkie poslovicy, pogovorki i krylatye vyraženija. Lingvostranoved č eskij slovar’. Moskva 1979] • Reimwörterbuch, allgemein oder auf einen speziellen Autor bezogen [A BRAMOV , N.: Polnyj slovar’ russkich rifm. Peterburg 1912, pereizd. 1996; B ABAKIN , A.: Slovar’ rifm Osipa Mandel’štama. Tjumen’ 2005.] • rückläufiges Wörterbuch: morphologisch orientiert; die Einträge werden morphologisch zerlegt und nach ihren Morphemen in umgekehrter Reihenfolge aufgeführt [Obratnyj slovar’ russkogo jazyka / Nau č . kons. A. A. Z ALIZNJAK , R. V. B ACHTU - RINA , E. M. S MORGUNOVA . Moskva 1974; K UDRJAVCEVA , L. A.: Obratnyj derivacionnyj slovar’ russkich novoobrazovanij. Kiev 1993; R ODKIN , A. F.: Obratnyj slovar’ russkogo jazyka. Sankt-Peterburg 2006] <?page no="149"?> Lexikologie 143 • Satzwörterbuch: gibt Satzbeispiele nach den alphabetisch angeordneten Kernwörtern der Sätze [P AFFEN , K. A.: Deutsch-russisches Satzlexikon. 2 Bde. 2., durchges. Aufl. Leipzig 1988] • Sondersprachenwörterbuch: Slang, Argot, Jugendsprache, Schimpfwörter etc. [F LEGON , A.: Za predelami russkich slovarej. Troick 1993; M OKIENKO , V. M.: Slovar’ russkoj brannoj leksiki. Matizmy, obscenizmy, ė vfemizmy. Berlin 1995; E LISTRATOV , V. S.: Slovar’ russkogo argo (materialy 1980-1990-ch gg.). Moskva 2000; M OKIENKO , V. M.; N I - KITINA , T. G.: Bol’šoj slovar’ russkogo žargona. Sankt-Peterburg 2000; S KAPENKO , T.; C HJUBNER , F.: Russkij „tusovo č nyj“ kak inostrannyj. U č ebnoe posobie. Kaliningrad 2003; G RA Č EV , M. A.: Slovar’ sovremennogo molodežnogo žargona. Bolee 6000 žargonizmov. Moskva 2006] • Stilwörterbuch: präskriptiv; was ist richtig und was nicht? welcher Ausdruck gehört zu welcher Stilebene? • Synonymenwörterbuch [R ACHMANOV , I. V. i dr.: Nemecko-russkij sinonimi č eskij slovar’. Moskva 1983; A BRAMOV , N.: Slovar’ russkich sinonimov i schodnych po smyslu vyraženij. Moskva 1999; A PRESJAN , J U . D.: Novyj ob-jasnitel’nyj slovar’ sinonimov russkogo jazyka. 2-e izd., ispr. i dop. Moskva 2004. A LEKTOROVA , L. P.: Slovar’ sinonimov russkogo jazyka. Izd. 2-e, ispr. Moskva 2005] • Thesaurus, Wörterbuch nach Sachgruppen: onomasiologisch orientiert, d.h. die Einträge werden nicht nach sprachlichen, sondern nach außersprachlichen, sachlichen Gesichtspunkten angeordnet; die aufgeführten Begriffe werden hierarchisch strukturiert dargeboten, um so außersprachliche Entitäten und Relationen abzubilden, denen Lexeme zugeordnet werden, mit deren Hilfe sich der durch den Begriff bezeichnete Wirklichkeitsausschnitt sprachlich erschließen lässt; oft als ein- oder mehrsprachige Lernwörterbücher konzipiert [K ARLOVSKA , A.; R AUCH , R.: Alphabetischer Grund- und Aufbauwortschatz Russisch. Neubearb. Stuttgart 1994; D UC G ONINAZ , M.; G RABOVSKY , O.: Le mot et l’idée: Russe. 5 e éd., mise à jour, Paris 1995] • Valenzwörterbuch (Rektionswörterbuch): führt bei Verben die fakultativen und obligatorischen Begleiter auf • Verbwörterbuch: führt die Konjugationsparadigmen der russischen Verbklassen auf [D AUM , E.; S CHENK , W.: Die russischen Verben. Grundformen, Aspekte, Rektion, Betonung, deutsche Bedeutung. Leipzig 1976] • Wortbildungswörterbuch: auch für morphologische Analysen sehr sinnvoll [M ORKOVKIN , V. V. (red.): Leksi č eskaja osnova russkogo jazyka. Kompleksnyj u č ebnyj slovar’. Moskva 1984] • zwei- oder mehrsprachiges (übersetzendes) Wörterbuch (Äquivalenzwörterbuch): kann den (Allgemein-)Wortschatz einer Sprache als Ganzes oder in Ausschnitten behandeln, z.B. nach Stilebenen getrennt; hier sind Überschneidungen mit Fachwörterbüchern i.e.S. möglich [L EJN , K. (red.): Russko-nemeckij slovar’. Izd. 11-e, stereotipnoe. Moskva 1991; D EVKIN , V. D.: Nemecko-russkij slovar’ razgovornoj leksiki. Izd. 2-e, stereotipnoe. Moskva 1996; G ORODNIKOVA , M. D.; D OBROVOL ’ SKIJ , D. O.: Nemecko-russkij slovar’ re č evogo obš č enija. Moskva 1998] <?page no="150"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 144 Die wichtigsten Arten von Wörterbüchern (WB) können Sie der folgenden grafischen Aufstellung entnehmen: Sachbezogene WB - Enzyklopädien - Onomasiologische WB (Wortschatz nach Sachgruppen geordnet; Bedeutung als Ausgangspunkt der Anordnung) - FachWB - Terminologiearbeiten Sprachbezogene WB Mehrsprachige WB (ÄquivalenzWB) - Deutsch / Russisch, Russisch / Deutsch, Deutsch / Hessisch, Hessisch / Deutsch etc. Einsprachige WB (DefinitionsWB) diachronische WB etymologische WB historische (wortgeschichtliche) WB signifiant-bezogene WB (geben Auskunft über die Form eines Wortes) orthographisches WB orthoepisches WB rückläufiges WB - HomonymenWB - HomophonenWB - HomographenWB signifié- oder gesamtzeichenbezogene WB (geben Auskunft über Form und Inhalt oder nur über Inhalt eines Wortes) gemeinsprachliche WB erklärendes einsprachiges WB - SynonymenWB - StilWB - SatzWB - RektionsWB (ValenzWB, Konstruktions- WB) - RedewendungenWB selektive WB - ArchaismenWB - NeologismenWB - DialektWB (sofern nicht gemeinsprachlich) - SondersprachenWB (Argot, Slang etc.) - „Schwierige Wörter“, FremdWB etc. - HäufigkeitsWB Abbildung 25: Die wichtigsten Wörterbuchtypen Näheres zu etlichen im Internet verfügbaren Wörterbüchern finden Sie in Kap. 16. 13.8 Syntax Die deutsche Bezeichnung Satzlehre als Synonym für Syntax ( синтаксис ) ist insofern etwas irreführend, als sich die Syntax keineswegs nur mit ganzen Sätzen beschäftigt, sondern auch mit den in der Sprachhierarchie zwischen den Wörtern und den Sätzen stehenden Wortverbindungen (Wortgruppen, Syntagmen). Untersu- <?page no="151"?> Syntax 145 chungsgebiet der Syntax sind somit die systemhaften Beziehungen innerhalb der Sprache, die die Grenze des einzelnen Wortes bzw. der einzelnen Wortform überschreiten. M ASLOV (1975: 219) charakterisiert die Syntax als „ грамматическое учение о связной речи , о единицах более высоких , чем слово . Синтаксис начинается там , где мы выходим за пределы лексической единицы - слова или устойчивого сочетания слов , там , где начинается связная речь с ее свободной комбинацией лелсических единиц в рамках переменного словосоче тания и предложения . Конечно , эпитет « свободная » не означает здесь от сутствия законов и правил . Комбинация лексических единиц осуществляется по вполне определенным законам и моделям , изучение которых и составляет зада чу синтаксиса .“ Die Syntax untersucht also nicht mehr das einzelne Wort oder die einzelne Wortform, sondern die Verbindung von Wörtern und Wortformen zu größen Konstruktionseinheiten. Aufgrund der in den Untersuchungsbereich der Syntax fallenden sprachlichen Einheiten urteilt die Akademiegrammatik von 1980 (AG 80: 6): „ Синтаксис занимает центральное место в грамматической системе языка . Это определяется тем , что сфере синтаксиса специально принадлежат те языковые единицы , которые непосредственно служат для общения людей и непо средственно соотносят сообщаемое с реальной действительностью , включая сюда как внешнюю , так и внутреннюю , интеллектуальную и эмоциональную сферу жизни .“ Der Terminus Syntax ist mehrdeutig, da er zum Einen das Konstruktionsschema einer Sprache selbst bezeichnet, und zum Anderen für die Lehre von eben diesem Konstruktionsschema als Teildisziplin der Sprachwissenschaft steht. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in der AG 80 (S. II: 6). Nicht zu verwechseln mit der Syntax ist die Syntagmatik ( синтагматика ) als die „Lehre von den linearen Wechselbeziehungen der sprachlichen Elemente“ (G ABKA 1989: 14), die nicht nur auf den Ebenen oberhalb des Wortes wirken. Zwischen dem Wort als grundlegender Benennungseinheit (nominativer Einheit) der Sprache und dem Satz als grundlegender kommunikativer Einheit steht die Wortfügung ( словосочетание ) als ebenfalls nominative, bisweilen „vorkommunikativ“ genannte Einheit, die die einzelne Wortform überschreitet: (Phonem Morphem ) Wort Wortfügung Satz ( Text Diskurs 70 ) Kennzeichen des Satzes ist seine grammatische Geformheit und intonatorische Abgeschlossenheit sowie aktuell-kommunikative Wertigkeit in der Rede (Thema-Rhema-Struktur des Satzes). Er verfügt über das Merkmal der Prädikativität ( предика тивность ), die sich ergibt aus der Modalität ( модальность ; Bezug des Satzinhalts / der Proposition auf die Realität) und der Temporalität ( темпоральность ; Ausdruck des zeitlichen Verhältnisses von Erzähltem und Erzählzeitpunkt/ Redemoment) (vgl. M ULISCH 1993: 278). 70 Mit der sprachlichen Einheit des Diskurses beschäftigt sich schwerpunktmäßig die Diskursanalyse, die nicht nur von der Sprachwissenschaft betrieben wird, sondern auch von der Sozialwissenschaft. <?page no="152"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 146 Wie auch beim Wort, so ergeben sich beim Satz bislang ungelöste Probeme hinsichtlich einer klaren definitorischen Bestimmung dieser sprachlichen Einheit, wovon auch die zahlreichen Definitionsversuche in der Fachliteratur (G ABKA 1989: 15 nennt den Wert 300) zeugen. 13.8.1 Wortfügung Eine Wortfügung besteht aus mindestens zwei lexikalischen Einheiten, die sich in einer bestimmten Beziehung zueinander befinden. Die Untersuchung dieses logischsemantischen Abhängigkeitsverhältnisses von Kernwort und Ergänzung ist einer der Forschungsbereiche der Syntax, wobei die Kategorisierung der möglichen Beziehungen je nach Autor unterschiedlich ausfallen kann. So unterscheidet B ABAJCEVA (B ABAJCEVA u.a. 1997: 18f) drei verschiedene Beziehungstypen: „ В подчинительных словосочетаниях между словами возникают те или иные отношения . Отношения стержневого и зависимого компонентов характери зуются как значение словосочетания . К наиболее обобщенным типам отноше ний относятся три типа : атрибутивные , объектные , обстоятельственные . Атри бутивные - это отношения , при которых предмет , явление определяется со сто роны своего внешнего или внутреннего качества , свойства , принадлежности : лесной массив , беличья шуба , шуба из белки , бушующее море . Объектные - это отношения между называемым в слове действием , состоянием или признаком и тем предметом ( в широком смысле ), на который направлено или с которым со пряжено действие , состояние : любить природу , достойный похвалы . Обстоятельственные - это отношения , при которых действие , состояние , признак определяются со стороны своего качества или условий его проявления : слишком яркий , гулять в лесу , ложиться на рассвете .“ M ULISCH und andere Linguisten grenzen demgegenüber vier Kategorien gegeneinander ab: • Attributbeziehung: das Ergänzungswort dient als Attribut des Kernwortes, beschreibt Letzteres also näher; • Objektbeziehung: das Ergänzungswort dient einem verbalen oder nominalen Kernwort als direktes oder indirektes Objekt (hier gibt es verschiedene semantische Möglichkeiten: ein effiziertes, d.h. im weitesten Sinne produziertes Objekt ( писать роман , выращивать пшеницу ), oder ein affiziertes, d.h. von einer Handlung betroffenes Objekt ( читать роман , есть пшеницу )); • Umstandsbeziehung: das Ergänzungswort drückt den Umstand (Zeit, Ort, Richtung, Qualität etc.) der Handlung aus; • Ergänzungsbeziehung: das Ergänzungswort gibt an, wovon die im Kernwort genannte Menge vorhanden ist, stellt also eine Mengenangabe im weiteren Sinne dar: мало времени , пять студенток , оба студента . Nach dem Grad der Komplexität unterteilt man Wortfügungen in einfache (Kernwort [ стержневое слово ] + 1 Ergänzungswort [ зависимое слово ]) und zusammengesetzte (Kernwort + mehrere Ergänzungswörter) Fügungen. <?page no="153"?> Syntax 147 Innerhalb der Wortfügung herrscht zwischen dem Kernwort der Fügung und dem abhängigen Element Kongruenz ( согласование ) nach Kasus, Numerus und/ oder Genus, also eine in den Endungen ausgedrückte formale Anpassung der Ergänzungswörter an das Kernwort ( Мы обсудили ║ самое тяжёлое [ ◄ ] про исшествие 71 ). „ Согласование - подчинительная связь , при к рой главное слово требует , чтобы зависимое слово было поставлено в тех же ( всех или нек рых ) грамматических формах , в к рых выступает главное . [...] Главным словом при С . является то , форма к рого выбиратется только по требованию необходимого для данного акта общения смысла , а зависимым является слово , форма к рого предопределе на уже не только потребностями заданного смысла , но и главным словом .“ (K A - RAULOV 1997: 520f) Die Erscheinung der Kongruenz kann weiter untergliedert werden in die grammatische oder formale Kongruenz, wie sie das genannte Beispiel verdeutlicht, und in die logische Kongruenz bei einem durch die Personalpronomen der 1. oder 2. Pers. Sing. ausgedrückten Satzsubjekt; das Prädikat steht dann, in Abhängigkeit vom natürlichen Geschlecht der vom Subjekt bezeichneten Person, im maskulinen oder femininen Genus: Я / ты спал ( а ). Ferner ist zu differenzieren nach einer vollständigen und einer partiellen Kongruenz. Bei der vollständigen Kongruenz ( полное со гласование ) liegt formale Übereinstimmung in den Kategorien Kasus, Numerus und Genus vor ( занимательное выступление ), bei der partiellen Kongruenz ( не полное согласование ) werden nicht alle der drei Kategorien angeglichen; so liegt bei река Дон nur Kongruenz in Kasus und Numerus, nicht jedoch im Genus vor, und bei Мария и Екатерина играли на скрипке wird formal nur die Numeruskongruenz ausgedrückt, während die feminine Genusmarkierung in der Verbalform des Plurals nicht zum Tragen kommt. Die Rektion ( управление ) drückt ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den einzelnen Elementen eines Satzes aus und definiert den Kasus, den ein abhängiges Wort im Verhältnis zum übergeordneten Kernwort annimmt ( Она прочитала [ ► ] все написанные Пушкином стихи ║ за одну неделю ). So kann man sagen, „das Wort X regiert den Kasus Y“. Die Rektion setzt die Existenz eines untergeordneten (regierten) Elements und eines übergeordneten (regierenden) Elements voraus und kann direkt, d.h. ohne Einfluss einer Präposition, oder indirekt, d.h. präpositional vermittelt, erfolgen. Unterschieden werden starke und schwache Rektion, in Abhängigkeit von der Notwendigkeit abhängiger Wörter: „ Сильное У . обусловлено тем , что главное слово обладает такими лексико грамматическими свойствами , что при нём необходимо зависимое слово , нахо дящееся в определённых смысловых отношениях с главным [...] При слабом У . зависимое слово не является обязательным для главного : главное слово может быть употреблено в предложении без зависимого [...] Число сильно управляе мых зависимых слов строго задано лексико грамматическим значением главно го слова .“ (K ARAULOV 1997: 577) 71 [ ◄ ] und [ ► ] stehen hier für die Wirkungsrichtung von Kongruenz bzw. Rektion, [ n ] verweist auf das Fehlen einer solchen Abhängkeit. <?page no="154"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 148 So verlangen die Verben заниматься , интересоваться , стать u.a. zwingend ein Nomen als Ergänzung ( Почему он стал инженером / таким ? - * Почему он стал ? ), ebenso wie прочитать als transitives Verb ein direktes Objekt verlangt: Она прочитала роман . (* Она прочитала .), während sich beispielsweise das Verb работать hier ganz anders verhält: Он весь день работал в кабинете . - Он весь день работал . - Он работал . Die schwache Rektion mit adverbialen Ergänzungen (des Ortes, der Zeit, des Grundes etc.) wird bisweilen der Adjunktion zugerechnet. 72 Bei der Adjunktion ( примыкание ) wird die Unterordnung eines unflektierbaren Wortes / einer unflektierbaren Wortform unter das Kernwort formal nicht gekennzeichnet; es herrscht also keine Kongruenz ( Он читает [ n ] стоя . Милиционер шёл очень [ n ] быстро . Она любит [ n ] танцевать . Его привычка [ n ] рано вставать действует мне на нервы .). Nach der morphologischen Qualität (Wortart) des Kernwortes unterteilt man die Wortfügungen schließlich in substantivische, adjektivische, verbale und adverbiale. 13.8.2 Satz L EONARD B LOOMFIELD (Language, 1933) definiert einen Satz als „eine unabhängige sprachliche Form, die durch keine grammatikalische Konstruktion in eine größere sprachliche Form eingebettet ist.“ Ähnlich formuliert M ULISCH (1993: 278): „Der Satz ist die grammatisch geformte und intonatorisch abgeschlossene sprachliche Einheit, die die grundlegende kommunikative Einheit darstellt.“ Bei J ARCEVA (1998: 395) heißt es über den Satz: „ одна из основных грамматических категорий синтаксиса , противопоставленная в его системе слову ( и словоформе ) и словосочетанию по формам , значениям и функциям ( назначениям ). В широком смысле это любое - от развернутого синтаксич . построения ( в письм . тексте от точки до точки ) до отд . слова или словоформы - высказывание ( фраза ), являющееся сообщением о чем либо и рассчитанное на слуховое ( в произнесении ) или зрительное ( на письме ) восприятие .“ Das Spektrum der formal möglichen Sätze ist sehr breit und wird traditionell nach verschiedenen Kriterien systematisiert. 73 In semantisch-kommunikativer Hinsicht - und weitgehend unabhängig von ihrer Form - kann man Sätze einteilen in: • Aussagesätze ( повествовательное предложение ): Mitteilung eines Sachverhaltes, • Fragesätze ( вопросительное предложение ): Erkundigung nach einem Sachverhalt, • Aufforderungssätze / Optativsätze ( побудительное предложение ): Bewirkung eines Sachverhaltes, 72 Für eine weitergehende Differenzierung der starken und schwachen Rektion s. K ARAULOV 1997: 577f. 73 Ich verweise hier auf die detaillierten Darstellungen von M ULISCH 1993: 278-337 und G ABKA 1989: 29-43. <?page no="155"?> Syntax 149 • Ausrufesätze ( восклицательное предложение ): emotional motivierte Äußerung zu einem Sachverhalt. In lautlicher Hinsicht unterscheiden sich diese Satztypen nach der Intonation. Zu beachten ist, dass die Intonation der einzelnen Satztypen von Sprache zu Sprache variieren kann. Hier ist ein direkter Anknüpfungspunkt der Syntax mit der Phonetik gegeben, da Letztere neben den einzelnen Lauten und Lautverbindungen auch in sich geschlossene intonatorische Einheiten, d.h. Sätze, untersucht (zur Intonation und zu den kommunikativen Äußerungstypen der russischen Sprache vgl. ausführlich G ABKA 1975: 175-198). Im Extremfall besteht ein Satz nur aus einem Wort (Einwortsatz; слово предло жение ; Тишина . Стук .), normalerweise umfasst er jedoch zwei und mehr Bestandteile (Satzglieder) von unterschiedlicher Qualität. Bei den Satzgliedern unterscheidet man • hauptrangige ( главный член предложения ): Subjekt und Prädikat als prädikatives Zentrum des Satzes ( предикативный центр предложения ), um das herum sich weitere Satzglieder gruppieren können, • nebenrangige ( второстепенный член предложения ): Attribut, Objekt, Adverbialbestimmung als Erweiterung des prädikativen Zentrums. Aufgrund der inneren, semantischen und infolgedessen äußeren, formalen Abhängigkeit lässt sich ein Satz gliedern in eine • Subjektgruppe ( состав подлежащего ), bestehend aus einem Subjekt und ihm zugeordneten Attribut(en), und eine • Prädikatgruppe ( состав сказуемого ), bestehend aus Prädikat, Objekt(en), Attribut(en) und Adverbialbestimmung(en). Nicht in jedem Satz müssen zwingend alle inhaltlich und formal möglichen Satzglieder erscheinen. Fehlen im Satz die nebenrangigen Satzglieder, so handelt es sich um einen reinen, nichterweiterten Satz ( простое нераспространённое предложе ние ), sind die nebenrangigen Satzglieder vorhanden, so sprechen wir von einem erweiterten Satz ( распространённое предложение ). Ein Satz mit nur einem prädikativen Zentrum heißt einfacher Satz ( простое предложение ), ein Satz mit zwei oder mehr prädikativen Zentren wird zusammengesetzter Satz ( сложное предложение ) genannt. Die AG 80 (S. II: 7) stellt den einfachen Satz in das Zentrum der gesamten Syntax: „ Центральной грамматической единицей синтаксиса является простое предло жение . Это определяется тем , что простое предложение представляет собой эле ментарную предназначенную для передачи относительно законченной ин формации единицу , обладающую такими языковыми свойствами , которые де лают возможным отнесение сообщаемого в тот или иной временной план [...]. Кроме того , простое предложение является основной единицей , участвующей в формировании сложного предложения , а также любого развернутого текста . Простое предложение , далее , является тем построением , в котором прежде все го находят свое конструктивное применение словосочетание и форма слова .“ Eine besondere Erscheinungsform des einfachen Satzes ist der komplexe Satz ( осложнённое предложение ), der unter http: / / www.ruthenia.ru/ apr/ dict/ oslozhnp.htm wie folgt definiert wird: <?page no="156"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 150 „ простое предложение , в котором присутствуют « осложняющие элементы », вы ражающие добавочное сообщение . Осложняющие элементы подразделяются на два подтипа . Во первых , к ним относятся однородные члены предложения и обособленные члены предложения ; ср .: Я купил хлеб и молоко ; Геолог , он объездил всю страну , а , во вторых , слова и словосочетания , не являющиеся чле нами предложения и не входящие в его структуру : вводные и вставные конструкции [...], обращения и междометия ; ср .: Может быть , он дома ; Лети те , голуби , летите ; Увы , все пропало ! “ Gegenüber dem einfachen Satz zeichnet sich der zusammengesetzte Satz wie folgt aus: „ Сложное предложение сообщает о нескольких ситуациях и об отношениях между ними или ( специфический случай ) об одной ситуации и отношении к ней со стороны ее участников или лица говорящего [...] Таким образом , сложное предложение - это целостная синтаксическая единица , представляющая собой грамматически оформленное сочетание предложений и функционирующая в качество сообщения о двух или более ситуациях и об отношениях между ними .“ (AG 80: II: 461) Der zusammengesetzte Satz kann auftreten als Satzverbindung oder als Satzgefüge. Eine Satzverbindung oder Satzreihe ( сложносочинённое предложение ) liegt dann vor, wenn die prädikativen Zentren einander gleichgeordnet sind (Koordination), von einem Satzgefüge ( сложноподчинённое предложение ) sprechen wir dagegen, wenn ein prädikatives Zentrum (im Nebensatz) dem anderen (im Hauptsatz) untergeordnet ist (Subordination): „ В составе сложноподчиненного предложения выделяются главное и прида точное предложения ( или , что то же самое , главная и придаточная части ). При даточным предложением называется та часть сложноподчиненного предложе ния , которая содержит подчинительный союз или союзное местоименное слово ; главным предложением называется та часть сложноподчиненного предложения , к которой присоединяется ( или с которой соотнесено ) придаточное . Части сложносочиненного предложения не имеют специальных обозначений . Отно шения , устанавливающиеся внутри сложного предложения и выражающиеся средствами сочинительной или подчинительной связи , могут быть названы его значением .“ (AG 80: II: 462) Ein Sonderfall des zusammengesetzten Satzes ist der konjunktionslose zusammengesetzte Satz ( бессоюзное сложное предложение ), bei dem der Zusammenhang der beiden Teilsätze formal nicht expliziert wird. Eine weitere Sonderform ist der mehrfach zusammengesetzte Satz ( многочленное сложное предложение ) mit mehr als zwei prädikativen Zentren, der als mehrfach zusammengesetzte Satzverbindung ( многочленное сложносочинённое предложение ) oder als mehrfach zusammengesetztes Satzgefüge ( многочленное сложноподчинённое предложение ) auftreten kann. Der kombiniert-zusammengesetzte Satz schließlich verknüpft Satzverbindung(en) und Satzgefüge zu einem sehr komplexen syntaktischen Ganzen. 74 74 Näheres zum weiten Feld der russischen Satzkonstruktionen finden Sie u.a. in den Akademiegrammatiken und bei G ABKA 1989 (Syntax). <?page no="157"?> Syntax 151 Einige Beispiele sollen die obengenannten Satztypen veranschaulichen: • einfacher Satz: Он - инженер . Он работает инженером . • zusammengesetzter Satz: Я уверен , что не сдал экзамен . Виктор не знает , почему Ани нет . • nichterweiterter Satz: Людмила читает . • erweiterter Satz: Людмила уже долгое время читает большую интересную статью о жизни и творчестве Пушкина . • Satzverbindung: Она работает , пока он спит . Она немка , а он русский . • Satzgefüge: Ему сегодня не работается , потому что он плохо спал . Я не знаю , когда он придёт . • konjunktionsloser zusammengesetzter Satz: Она видела : пошел снег . • mehrfach zusammengesetzte Satzverbindung: На дворе уже светало , a Олег спал , Владимир слушал музыку , Инна смотрела в окно . • mehrfach zusammengesetztes Satzgefüge: Она не знала , как ей дальше жить , как общаться со своими бывшими друзьями . • kombiniert-zusammengesetzter Satz: Мое волнение было так велико , эта не ожиданная встреча до того меня смутила , я так потерялся , что реши тельно не умел сказать ничего другого . ( Тургенев ) (Beispiel nach G ABKA 1989: 185) Kehren wir noch einmal zurück zum prädikativen Zentrum des Satzes. Nach dem Vorhandensein der hauptrangigen Satzglieder Subjekt und Prädikat unterscheidet man • eingliedrige Sätze ( односоставное предложение ): im prädikativen Zentrum ist entweder nur das Subjekt oder nur das Prädikat vorhanden: Прошу сесть за стол . Мне подарили очень интересную книгу . Тут уже не работают . Темнеет . У меня , к сожалению , нет / не было / не будет денег . Вы ко мне ? , und • zweigliedrige Sätze ( двусоставное предложение ): im prädikativen Zentrum sind sowohl Subjekt als auch Prädikat vorhanden: Миша спит уже восемь ча сов . На улице собиралась толпа . Zwischen dem Subjekt als dem formal unabhängigen Satzglied und dem koordinierten Prädikat bestehen die sogenannten prädikativen Beziehungen ( предикативные отношения ), die ihren formalen Niederschlag in einer (partiellen) Kongruenz finden. Die syntaktische Funktion der einzelnen Satzglieder (Subjekt, Prädikat etc.) kann von unterschiedlichen Wortarten und Konstruktionen ausgefüllt werden. Näheres zu diesem Themenkomplex u.a. bei M ULISCH (1993: 282-292) und im Kap. „Syntaktische Kategorien“ der vorliegenden Arbeit. Die eingliedrigen Sätze, die im Unterschied zu den unvollständigen Sätzen als abgeschlossen zu betrachten sind, werden nach semantischen und strukturellen Kriterien in folgende Gruppen eingeteilt: • bestimmt-persönliche Sätze ( определённо личное предложение ): eine Verbalform als hauptrangiges Satzglied verweist durch ihre Endung auf eine konkrete, <?page no="158"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 152 formal nicht ausgedrückte Person, welche die beschriebene Handlung ausführt. Möglich sind hier o die 1. und die 2. Pers. Sing. und Plural im Präsens sowie Futur: Не знаю . Хо тите войти ? (wird der Handlungsträger explizit erwähnt, liegt ein zweigliedriger Satz vor), o der Imperativ der 2. Pers. Sing. und Plural: Иди ( те ) сюда ! Будьте здоровы ! (die Hinzufügung des jeweiligen Personalpronomens ist möglich, es liegt dann ebenfalls ein zweigliedriger Satz vor, der im Verhältnis zur eingliedrigen Variante eine besondere Expressivität aufweist) sowie o der Imperativ der 1. Pers. Plural (inklusiver Imperativ, da der Sprecher sich in die Handlung mit einschließt): Пойдём ( те )! Пошли ! Будем друзьями ! Споём ! (die Hinzufügung von мы ist hier nicht möglich). • unbestimmt-persönliche Sätze ( неопределённо личное предложение ): Im Gegensatz zu den bestimmt-persönlichen Sätzen wird hier der Handlungsträger nicht benannt bzw. er ist nicht durch die Endung der Verbalform zu erschließen, auch wenn er dem Sprechenden bekannt sein sollte. Die Unbestimmtheit wird durch eine Verbalform als hauptrangiges Satzglied in der 3. Pers. Plural für das Präsens und das Futur bzw. im Plural für das Imperfekt und den Konjunktiv erreicht: Победителю вручили венок . Ему дали пять лет . = Его осудили на пять лет . Dagegen ist Нам сказали , что заседание не состоится ein zusammengesetzter Satz, bei dem lediglich die Hauptkomponente einen unbestimmtpersönlichen Charakter trägt. • verallgemeinert-persönliche Sätze ( обобщённо личное предложение ): Die Verallgemeinerung bedeutet, dass potentiell jede Person als Handlungsträger in Frage kommt, was durch verschiedene Verbalformen zum Ausdruck gebracht werden kann (deutsche Übersetzung ebenfalls oft mit man oder durch unpersönliche Konstruktionen, z.B. mit es), nämlich durch: o die 2. Pers. Sing. in Präsens, Futur und Imperativ: Тише едешь - дальше бу дешь . Век живи , век учись . Ничего не поделаешь . o die 3. Pers. Plural im Präsens oder Futur: Цыплят по осени считают . За это с тебя голову не снимут . Дарёному коню в зубы не смотрят . [ Гово рят , что климат меняется ist ein zusammengesetzter Satz, bei dem lediglich die Hauptkomponente einen verallgemeinert-persönlichen Charakter trägt.] o andere Verbalformen, v.a. die 1. Pers. Plural: Поживём - увидим (je nach Kontext auch als bestimmt-persönlicher Satz interpretierbar). • unpersönliche Sätze ( безличное предложение ): Sie weisen keinen direkten Handlungsträger und kein grammatisches Subjekt auf, wohl aber ein logisches Subjekt, das dann implizit in der Verbalform (oder einem Zustandswort in Verbindung mit einer Kopula) enthalten ist: Мне сегодня не работается . Темнело . Меня тошнит . На улицах было шумно . Мне негде спать . Так у нас ( не ) принято . Отсюда далеко видно . Für weitere semantische und funktionale Details vgl. M ULISCH (1993: 294ff). • Infinitivsätze ( инфинитивное предложение ): Kennzeichnend ist für diesen mit den unpersönlichen Sätzen verwandten Satztyp, dass der von keinem anderen Element des Satzes anhängige Infinitiv modale Bedeutungen der Handlung aus- <?page no="159"?> Syntax 153 drückt. Ein eventuell vorhandenes grammatisches Objekt steht im Dativ, wenn hierdurch eine Person bezeichnet wird, deren modales Verhältnis zur Handlung (Möglichkeit, Notwendigkeit, Zwang etc.) beschrieben wird: Открыть окно ? Что мне здесь делать ? Куда мне это девать ? Что с Вами делать ? • Nominalsätze ( номинативное предложение ): Während die o.g. Satztypen auf einem Prädikat als hauptrangigem Satzglied basieren, fehlt dieses gerade in den Nominalsätzen und wird hier durch ein Substantiv oder einen substantiväquivalenten Ausdruck im Nominativ ersetzt. Semantisch drücken diese Sätze bei präsentischer Bedeutung das Vorhandensein, die Existenz von etwas aus: Глубокая ночь . Туман . Крик совы . Вот его друзья ! Огонь ! M ULISCH (1993: 297f) differenziert in semantisch-funktionaler Hinsicht Existentialsätze, Demonstrativsätze, Voluntativsätze und Nominativsätze (in der Gestalt von Titeln künstlerischer Werke, Schilderaufschriften etc.: „ Тихий Дон “, „ Лебединое озеро “, Метро , Вход ) Als Sonderformen der möglichen Satztypen sind die ungliederbaren Sätze und die unvollständigen Sätze zu ergänzen: • Ungliederbare Sätze ( нечленимое предложение ) besitzen eine in sich vollständige, jedoch nicht in einzelne Elemente zerlegbare syntaktische Struktur, da sie auf haupt- und nebenrangige Satzglieder verzichten. Stattdessen bestehen sie ausschließlich aus Partikeln ( Нет . Ну .), Modalwörtern ( Можно ? Верно . Безусловно ), Interjektionen ( Батюшки ! На помощь ! Гопля ! ) oder syntaktisch nicht weiter zergliederbaren Wortfügungen ( Вот именно ! ). Funktional-semantisch lassen sich neben affirmativen, negativen und interrogativen Sätzen noch stimulierende und emotional-expressive Sätze unterscheiden, sowie die allgemein üblichen Begrüßungs- und Höflichkeitsfloskeln (mit überwiegend phatischer, in diesem Fall kontaktherstellender oder -beendender, Funktion: Алло ? Привет ! Пожалуйста . Прощайте ! ) • Demgegenüber fehlen den unvollständigen Sätzen ( неполное предложение ) ein oder sogar mehrere der haupt- oder nebenrangigen Satzglieder. Diese elliptischen Äußerungen sind aus ihrem Kontext heraus jedoch verständlich, da stets das Thema (das bereits Bekannte / Erwähnte) weggelassen wird und sich der Sender auf das Rhema (die neue Information) beschränkt. Vor allem in Dialogen oder Plurilogen dienen unvollständige Sätze der Sprachökonomie ( языковая экономия ), da nicht ständig Altbekanntes wiederholt werden muss: Где вы провели свой отпуск ? - Во Франции . Кто это сказал ? - Я ( сказал ). Es fehlt bislang nicht an Versuchen, die semantischen und syntaktischen Abhängigkeiten im Satz durch Grafiken zu veranschaulichen, die jeweils bestimmten Sichtweisen auf den Satz Rechnung tragen. Die wohl bekanntesten, weil am leichtesten lesbaren Formen der Darstellung sind Diagramme der unmittelbaren Konstituenten und Phrasenstrukturdiagramme, die beide Stammbäumen ähneln, hier veranschaulicht an dem sehr einfach konstruierten Beispielsatz Das Mädchen jagte die Katze (nach C RYSTAL 1995: 96). Komplexere oder syntaktisch uneindeutige Sätze (Flying planes can be dangerous. Reiche Studenten meinen Wein) werfen Probleme in der Darstellung auf, da diese im Grunde nur Oberflächenstrukturen abbilden kann, jedoch keine Bedeutungsstrukturen. Auch diskontinuierliche Komponenten wie etwa periphrastische Tempora können an der Oberfläche nicht adäquat dargestellt wer- <?page no="160"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 154 den, da der Bedeutungszusammenhalt zwischen Hilfsverb und Vollverb zumindest im Falle eines Einschubs zwischen die beiden Komponenten verloren ginge: Я буду громко и отчётливо читать текст . Weniger problematisch ist hier die lexikalische Mehrdeutigkeit, die sich nicht auf die Satzstruktur auswirkt: Der Satz Der Absatz ist mir zu niedrig würde immer auf die gleiche Weise abgebildet, egal ob mit Absatz der Absatz eines Schuhs oder der Verkauf von Waren gemeint ist. o Konstituentenstruktur nach der IC-Analyse (Immediate Constituent Analysis): Das Mädchen jagte die Katze Abbildung 26: Baumdiagramm einer IC-Analyse Die unmittelbaren Konstituenten (immediate constituents) eines Satzes erhält man, indem man diesen schrittweise in immer kleinere und schließlich nicht weiter untergliederbare Einheiten zerlegt, wie im Beispiel gezeigt zunächst in eine Nominalphrase das Mädchen und eine Verbalphrase jagte die Katze, dann die beiden Phrasen in sich usw. Es leuchtet ein, dass eine solche IC-Analyse immer nur einzelsprachlich erfolgen kann, da beispielsweise die Übersetzung des o.g. Satzes eine ganz andere Satzstruktur bzw. andere Satzkomponenten in der Zielsprache ergibt. Im Russischen würde u.a. jeweils die Verzweigung innerhalb der beiden nominalen Syntagmen das Mädchen und die Katze mangels Artikeln wegfallen. Vgl. in der Gegenüberstellung: Das Mädchen jagte n die Katze n Девочка гналась за n кошкой <?page no="161"?> Syntax 155 o Phrasenstruktur (phrase marker oder P-Marker): S VP NP V NP ART N ART N Abbildung 27: Darstellung einer Phrasenstruktur Legende: S = Satz, VP = Verbalphrase, V = Verb, NP = Nominalphrase, N = Nomen, ART = Artikel Auch hier zeigt ein zwischensprachlicher Vergleich, dass die Phrasenstruktur nicht sprachübergreifend bestimmt werden kann, da beispielsweise in artikellosen Sprachen wie dem Russischen die Kategorie ART gegenstandslos ist. Beide genannten Darstellungsformen zielen darauf ab, die Abhängigkeiten und Hierarchien innerhalb des Satzes zu veranschaulichen. Einen ähnlichen Weg beschreitet die Dependenzgrammatik nach L UCIEN T ESNIÈRE (1893-1954; Eléments de syntaxe structurale 1959), die - mit einer ganz eigenen Terminologie - das (verbale) Prädikat als oberste Hierarchieebene, als strukturelles Zentrum des Satzes ansetzt, wobei dieses Prädikat durch seine Valenz (Fügungspotenz, Wertigkeit; валентность ) die Satzstruktur bestimmt: Es fordert eine bestimmte Anzahl von sog. Aktanten, die sich um es herum gruppieren. Diese Aktanten sind notwendig, um einen grammatisch korrekten Satz zu bilden. Von den Aktanten werden die Angaben unterschieden, die die Umstände des Geschehens im weitesten Sinne (Ort, Zeit, Art und Weise etc.) charakterisieren. Als problematisch hat sich eine eindeutige Zuweisung bzw. Verteilung von Wortarten auf die Rollen der Aktanten und Angaben erwiesen. So ist in dem Satz Он работает весь день das Element (die Nominalphrase) весь день als (fakultative) Angabe einzustufen, die jedoch - wie üblicherweise die Aktanten - nominal gebildet wird, und nicht, wie dies von T ESNIÈRE ursprünglich postuliert wurde, durch ein Adverb. Allenfalls kann весь день als Adverbäquivalent betrachtet werden. Man unterscheidet üblicherweise nullbis vierstellige Prädikate, also Prädikate, die null bis vier obligatorische bzw. fakultative Leerstellen / Ergänzungen um sich herum eröffnen. Bei nullwertigen Verben wird im Deutschen z.B. oft ein Füllelement für die Subjektstelle eingefügt (Es nieselt; vgl. mit russ. Моросит ). Dieses es wird expletiv genannt; es erfüllt keine semantische, sondern nur eine syntaktische Funktion (*Wer oder was nieselt? - Es.) Als erste Leerstelle gilt das Subjekt des Satzes, es folgen die verschiedenen Objekte, präpositionale Ergänzungen etc. Für eine grammatisch korrekte Konstruktion müssen nur die obligatorischen Leerstellen ausgefüllt sein. Diese werden in erster Linie durch nominale Elemente vertreten, jedoch sind auch adverbiale Konstruktionen möglich: In dem Satz Александр живёт в Киеве ist die Ortsangabe obligatorisch, da der Satz ohne sie ungrammatisch wäre <?page no="162"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 156 ( Что он делает ? - * Он живёт ), im Gegensatz zu Александр спит на диване ( Что он делает ? - Он спит ). In dem Beispiel Брат ( Он ) подарил сестре ( ей ) картинку ( её ) sind alle obligatorischen Aktanten nominaler (substantivischer oder pronominaler) Natur, die fakultativen Aktanten bzw. die Angaben könnten von Adverbialbestimmungen unterschiedlicher formaler Realisierungen ( вчера , на канику лах , в награду , неохотно , дома etc.) ausgefüllt werden. Es zeigt sich, dass sowohl bei den Aktanten als auch bei den Angaben nach obligatorischen und fakultativen Elementen differenziert werden muss. Das Verb читать kann ohne weiteres einwertig oder zweiwertig sein: Он чи тает vs. Он читает книгу . P ANZER (1995: 241) unterscheidet deshalb die potentielle Wertigkeit eines Verbs (als Maximum der auszufüllenden Leerstellen) von der aktuellen Wertigkeit in einem konkreten Satzvorkommen (die dann kleiner oder gleich der potentiellen Wertigkeit ist). Die notwendigen wie die fakultativen Satzglieder lassen sich nach ihrer Wichtigkeit hierarchisch anordnen (P ANZER 1995: 242), wobei die oberste Ebene 0 vom Prädikat (i.d.R. einem finiten Verb) gebildet wird, auf der nachgeordneten Ebene 1 befinden sich das Satzsubjekt, das Prädikativum, die verschiedenen Objekte sowie notwendige Adverbialbestimmungen, es folgen auf Ebene 2 eventuelle Attribute zu den Gliedern des 1. Ranges, der freie Dativ und fakultative Adverbialbestimmungen, auf Ebene 3 stehen Attribute zu den Gliedern des 2. Ranges, auf Ebene 4 Attribute zu den Gliedern des 3. Ranges usw. Das jeweils übergeordnete Satzglied nennt T ESNIÈRE das Regens, das oder die von ihm abhängigen Satzglieder heißen Dependens bzw. Dependentien. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Regens und Dependens ist die Konnexion, das Gesamtgebilde aus diesen drei Elementen wird als Nexus bezeichnet. Der Zentralnexus ist demnach das Prädikat mit den mittels der Konnexionen von ihm direkt anhängigen Satzglieder. Ein Regens kann potentiell und aktuell mehrere Dependentien haben, jedes Dependes kann jedoch immer nur einem Regens untergeordnet sein. Der folgende, schon recht komplexe Beispielsatz soll in einem Dependenzschema dargestellt werden: Старый , почти совсем слепой учитель моего сына послал мне очень инте ресную книгу о новейших теориях структурной лингвистики . Ebene 0: послал Ebene 1: учитель мне книгу Ebene 2: старый слепой сына интересную о теориях Ebene 3: совсем моего очень новейших лингвистики Ebene 4: почти структурной Abbildung 28: Dependenzschema <?page no="163"?> Syntax 157 In die beiden Nominalphrasen mit den Kernwörtern учитель und книгу fließen kongruente adjektivische und pronominale Attribute ( старый , слепой , инте ресную , новейших , структурной , моего ), adjungierte Adverbien ( почти , вполне , очень ), nichtkongruente Genitivattribute ( сына , лингвистики ) sowie ein präpositional vermitteltes Objekt ( о теориях ) ein. Die Dependenzgrammatik wird als drittes Modell mit einer weiteren Grafik vorgestellt, die den Beispielsatz von T ESNIÈRE Ich widme dieses Buch meinen Kindern Michel, Bernard und Yveline Tesnière, deren Sextanerneugier seinen Reifungsprozeß beschleunigt hat visualisiert. Wir haben es hier mit einem zusammengesetzten Satz zu tun, der neben Prädikat und Subjekt verschiedene Objekte enthält und darüber hinaus deiktische Elemente (Verweise), die in Verbindung mit dem relativischen Anschluss dem Satz seine Komplexität verleihen. Die deiktischen Bezüge sind in der Grafik mittels einer gestrichelten Linie dargestellt. o Stemma des Dependenzmodells widme ich Buch Kindern Michel Bernard und Yveline dieses meinen A Tesnière dhat beschleunigt Neugier prozeß deren (A) A seinen die Gen. Sextaner Ø Reifung s Abbildung 29: Stemma der Dependenzgrammatik Der Wert eines (grafischen) Modells erweist sich in der Syntax erst dann, wenn mit seiner Hilfe auch komplexe Satzstrukturen abgebildet werden können, wie dies in obigem Beispiel ganz offensichtlich gelungen ist. Die folgende Abbildung soll abschließend einen Überblick über die im Rahmen der Syntax behandelten sprachlichen Einheiten vermitteln. <?page no="164"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 158 Syn Satz Einteilung nach der kommunikativen Funktion - Aussagesatz - Fragesatz - Aufforderungssatz - Ausrufesatz Einteilung nach formalen Kriterien einfacher Satz (ein prädikatives Zentrum) zweigliedriger Satz (prädikatives Zentrum besteht aus Subjekt und Prädikat) eingliedriger Satz (prädikatives Zentrum besteht entweder aus Subjekt oder Prädikat) reiner zweigliedriger Satz (ohne nebenrangige Satzglieder) erweiterter zweigliedriger Satz (mit nebenrangigen Satzgliedern) - Subjektgruppe - Prädikatgruppe Vorhandensein hauptrangiger Satzglieder Vorhandensein nebenrangiger Satzglieder prädikatloser eingliedriger Satz (Nominalsatz) subjektloser eingliedriger Satz bestimmtpersönlicher Satz unbestimmtpersönlicher Satz verallgemeinertpersönlicher Satz unpersönlicher Satz - Infinitivsatz reiner eingliedriger Satz (ohne nebenrangige Satzglieder) erweiterter eingliedriger Satz (mit nebenrangigen Satzgliedern) Abbildung 30: Übersicht <?page no="165"?> Syntax 159 Abbildung 30: Übersicht über die syntaktischen Einheiten tax Syntagma Wortverbindung (koordinatives Verhältnis der Bestandteile zueinander) Wortfügung (subordinatives Verhältnis der Bestandteile zueinander) zusammengesetzter Satz (mehrere prädikative Zentren als Verbindung von zwei oder mehr einfachen Sätzen) asyndetischer Satz (Bildung eines syntaktischen Ganzen durch semantische Relation und Intonation der Bestandteile, nicht durch Konjunktionen oder Relativwörter) Satzverbindung (Koordinierung/ Nebenordnung/ Parataxe) kopulativ adversativ disjunktiv additiv/ progredient Satzgefüge (Subordinierung/ Nebenordnung/ Hypotaxe) Nebensatz (Nebenteil) Hauptsatz (Hauptteil) syntaktische Funktion des Nebensatzes im Verhältnis zum Hauptsatz - Prädikatsatz - Subjektsatz - Objektsatz - Attributsatz - Adverbialsatz (Modalsatz, Konditionalsatz, Komparativsatz, Finalsatz, Lokalsatz, Konzessivsatz, Temporalsatz, Konsekutivsatz, Kausalsatz, (Additivsatz)) Anzahl der Nebensätze Art der Unterordnung durch subordinierende Konjunktion durch Frage-/ Relativwort ein zwei oder mehr einander nebengeordnet einander untergeordnet über die syntaktischen Einheiten <?page no="166"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 160 Literatur: B ABAJCEVA , V. 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Bevor man einen näheren Blick auf die Textlinguistik als Wissenschaftsdisziplin wirft, drängt sich die Frage auf, was man unter einem Text als dem offensichtlichen Untersuchungsgegenstand zu verstehen habe. Ähnlich wie im Falle des Wortes und des Satzes dürften die meisten Sprachteilhaber auch von einem Text ein vorwissenschaftliches Verständnis besitzen, demzufolge sich Text vielleicht - und recht unspezifisch - als eine Menge zusammengehörender sprachlicher Zeichen definieren ließe, die größer ist als ein einzelner Satz, die also transphrastisch ist, d.h. die Satzgrenze überschreitet. Die kommunikative Funktion eines Texts bliebe möglicherweise zunächst völlig unberücksichtigt. Ohne hier die verschiedenen Texttheorien kommentieren und gegeneinander abwägen zu können, soll obiger Definitionsversuch etwas präzisiert werden. Text lässt sich somit als eine in sich geschlossene, einem bestimmten kommunikativen Ziel dienende und ein bestimmtes Textthema (evtl. ein Hauptthema mit Nebenthemen) aufweisende, die Grenze des einzelnen Satzes überschreitende bzw. einzelne Sätze linear zueinander in Beziehung setzende, sprachliche Einheit auffassen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass ein Text stets aus mehr als einem Satz bestehen muss; im Extremfall kann sogar ein einzelnes Wort einen Text konstituieren. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang das Beispiel der beiden Römer erwähnt, die eine Wette darüber abschließen, wer von ihnen den kürzesten Brief verfassen könne. Der eine schreibt: „Eo rus.“ (‚Ich gehe aufs Land.’), worauf der andere antwortet: „I! “ (‚Geh! ’) Das sprachliche Zeichen i ist hier primär der Imperativ der 2. Pers. Sg. von ire ‚gehen’, also ein Wort bzw. eine Wortform, es ist jedoch zugleich Phonem und Morphem, da es weder lautlich noch semantisch weiter untergliedert werden kann, und ist darüber hinaus als isolierter Satz, der gleichzeitig einen Text (Brief) ausmacht, eine abgeschlossene Kommunikationshandlung. In etymologischer Hinsicht widersprechen solche Ein-Wort- Sätze zwar der Bedeutung von Text als ‚Gewebe’ oder ‚Geflecht’, d.h. als strukturierter, miteinander verbundener Menge von (mehr oder weniger gleichartigen) Elementen, doch wird auch ein solches Extrem gemeinhin als zulässig akzeptiert. Bei J ARCEVA (1998: 507) heißt es in einer ersten Annäherung an das Phänomen Text: „ объединённая смысловой связью последовательность знаковых единиц , основными свойствами к рой являются связность и цельность .“ Da ein Text als kommunikative Einheit immer eine konkrete Realisierung des Sprachsystems in einer bestimmten lokalen und temporalen Situierung darstellt, ist er eine Einheit der parole, der Rede. Allgemein gesprochen, kann man aus dem oben Gesagten ableiten, dass die Textlinguistik den Aufbau von Texten und in diesen wirkende Regeln, Strukturen und 75 Mittlerweile kann die Existenz der Textlinguistik als eigenständiger Forschungsrichtung als gesichert betrachtet werden. Deswegen mag es überraschen, wenn sie in etlichen großen linguistischen Nachschlagewerken nur eine schwache Berücksichtigung findet. So führen bspw. K A- RAULOV und J ARCEVA nur jeweils das Stichwort текст auf und beschränken sich auch hier auf knappe Erläuterungen, während in den meisten deutschsprachigen Wörterbüchern zur Sprachwissenschaft dieser Themenkomplex wesentlich differenzierter dargestellt wird. <?page no="168"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 162 Zusammenhänge, somit letzlich das Wesen von Texten, untersucht. Unterstellt man einem Text eine innere Struktur, so unterscheidet ihn dies von einer losen Aneinanderreihung von Sätzen. Ein konstituierendes Merkmal eines traditionellen Textes ist seine Linearität, also die Abfolge von chronologisch aufeinander aufbauenden Elementen. In der literarischen Postmoderne wird diese Linearität z.T. bewusst aufgehoben, um den Leser zu einem neuen Rezeptionserleben zu führen. Zu den bekanntesten Vertretern dieser neuen Rezeptionsästhetik zählt M ILORAD P AVI Ć mit seinem Chasarischen Wörterbuch, das sowohl traditionell-chronologisch als auch alinear, von Verweis zu Verweis springend, gelesen werden kann. Das neue Medium des Hypertexts hebt die Linearität quasi per definitionem auf und erzwingt so ein Überdenken des traditionellen Textbegriffs. Grenzt sich die Textlinguistik auch gegenüber den traditionellen Beschreibungsebenen der Sprachwissenschaft und hier insbesondere gegenüber der Syntax ab, so überträgt sie doch die Merkmale von Sätzen, wie etwa die Thema-Rhema-Struktur, kataphorischen und anaphorischen Verweis etc., auf den Text, dessen thematische Progression sie untersucht. Eine von Anfang an viel diskutierte Frage war und ist die, ob Text überhaupt ein einzelsprachliches, d.h. je nach Sprache anders ausfallendes, Phänomen ist, oder ob man ihn als übereinzelsprachliche, quasi universale Gegebenheit auffassen kann. Letztlich unabhängig von diesem Problem wird der Text heute üblicherweise als eine bilaterale Erscheinung gesehen: Bei seiner Konstitutierung werden - in Analogie zu den morphologischen bzw. semantischen Kasus - Oberflächenstruktur ( по верхностная структура ) und Tiefenstruktur ( глубинная структура ) unterschieden. An der Oberfläche spricht man von der Kohäsion ( когезия ) eines Textes, die durch grammatische Abhängigkeiten und Verknüpfungen gebildet wird und damit vom verwendeten und wahrnehmbaren Sprachmaterial abhängt; in der Tiefe sorgt die Kohärenz ( когеренция ) für die semantischen, inhaltlichen Zusammenhänge. Zu den Stichwörtern Kohäsion und Kohärenz formuliert A LBRECHT (in C OSERIU 1994: 235): „Unter Kohäsion wird heute im Gegensatz zur Kohärenz nicht die aufgrund semantischer Relationen erschließbare, sondern die explizit materiell kodierte Verknüpfung von Sätzen verstanden“. F RANKE (1996: 63) nennt Kohäsion einen „Zusammenhang grammatisch-lexikalischer Art“. Dieser Zusammenhang zwischen Sätzen kann über Elemente mit deiktischer Funktion hergestellt werden, beispielsweise durch die Verwendung von Pronomina oder Adverbialbestimmungen ( там , тогда , поэтому ), die auf zuvor bereits genannte Personen, Orte, Zeitpunkte oder Umstände verweisen und so eine Korreferenzialität bewirken. Die einfachste Art des Zusammenhangs wird durch die (evtl. modifizierte) Wiederholung des betreffenden Elements hergestellt ( На улице стоят люди . Эти люди мне незнакомы . - anstelle von Они мне незнакомы ). Aus Kohäsion ergibt sich nicht zwangsläufig Kohärenz, also ein Sinnzusammenhang, da auch formal ordentlich aufeinander aufbauende Sätze inhaltlich sinnlos oder unverständlich sein können ( Иван больше не пил водки . Цена на водку в два раза снизилась ). Umgekehrt können Sätze auch ohne äußere Kohäsion bedeutungsmäßig zusammengehören, also kohärent sein ( Спартак опять проиграл . Иван запил ). Die Abhängigkeit ergibt sich in diesem Fall aus dem außersprachlichen Weltwissen von Sender und Empfänger eines Textes. Es ist nach dem Gesagten zu vermuten, dass die Kohärenz als semantischer Faktor in stärkerem Maße textbildend wirkt als die Kohäsion. <?page no="169"?> Textlinguistik 163 Den formalen Zusammenhang der einzelnen Sätze an der Textoberfläche leisten also verschiedene Kohäsionsmittel, die hier noch einmal systematisch vorgestellt werden sollen: • Rekurrenz: Wiederaufnahme (Wiederholung) bereits bekannter Textelemente, die entweder ein identisches Referenzobjekt bezeichnen oder zumindest einen identischen Referenzbereich ( Переводчик сидел один в своем кабинете . Он уже две недели переводил тот же самый текст .). • Substitution: Ersetzung eines bereits bekannten Textelements durch ein semantisch verwandtes, das ein identisches Referenzobjekt bezeichnen kann. Erscheinungsformen sind v.a. synonyme, hyperonyme/ hyponyme oder metaphorische Ausdrücke sowie Benennungen aus demselben Wortfeld ( Алексей Иванович уже 20 лет преподает в университете . Эта деятельность полностью удо влетворяет его .). • Pro-Formen: Platzhalterelemente, die lediglich auf an anderer Stelle im Text erwähnte Elemente verweisen und daher selbst weitgehend inhaltsleer sind. Erscheinungsformen sind Pronomina, Adverbien, Pronominaladverbien und Demonstrativpronomen. Der Verweis kann im Text rückwärtsgerichtet (anaphorisch) auf bereits Erwähntes oder vorwärtsgerichtet (kataphorisch) auf noch zu Erwähnendes sein (anaphorisch: Петр жил в Москве . Совсем недавно , он разошелся с женой . У него не было детей . Он был несчастливым .; kataphorisch: Он жил в Москве . Совсем недавно , он разошелся с женой . У него не было детей . Петр был несчастливым .). Wie bereits auf der Satzebene, kommt den Pro-Formen als Stellvertretern neben ihrer Verknüpfungsfunktion zunächst das Merkmal der Sprachökonomie zu, da sie nicht nur auf einzelne Wörter und Sätze Bezug nehmen können, sondern auf ganze Texte, deren erneute und immer wiederkehrende Nennung sie durch eine Form der Referenzidentität überflüssig machen: Sie verweisen auf denselben (außersprachlichen) Sachverhalt wie die Vollform. Über diese Pro-Formen heißt es bei G LÜCK (2000: 550): „P.-F. werden vor allem im Rahmen der Textgrammatik als wesentl. Vertextungsmittel angesehen, deren entscheidende Funktion darin besteht, die syntakt. und semant. Verknüpfung von Sätzen zu kohäsiven und kohärenten Satzfolgen zu bewirken und damit zur Kontinuität und Stabilität der thematischen Progression und der Bedeutungsexpansion und zur Verdichtung der Textoberfläche beizutragen.“ • Artikelverwendung: Artikelhaltige Sprachen besitzen die Möglichkeit, durch die Verwendung des bestimmten Artikels ein Textelement als beim Rezipienten bereits bekannt oder vorausgesetzt zu markieren, während der unbestimmte Artikel neue Elemente einführt (Um die Ecke kam ein Mann. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, seine schwarzen Schuhe glänzten. Der Mann ging schnell.). Die Möglichkeit des Altkirchenslavischen, diese Differenzierungsfunktion auf die Wahl von Kurzform (unbestimmt) bzw. Langform des Adjektivs (bestimmt) zu übertragen, hat sich in einigen slavischen Sprachen erhalten, nicht jedoch im Russischen. • Situationsdeixis: Mittels Pro-Formen und Artikeln kann auch auf den außersprachlichen Kontext (Situation) jenseits des Textes verwiesen werden ( В глу бине леса расположена поляна . В тихие ночи там часто встречаются <?page no="170"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 164 волшебницы .). Zur Situationsdeixis gehören aber auch außersprachliche Faktoren wie Gestik und Mimik, die wiederum kulturspezifisch bedingt sein können. • Ellipse: Die Auslassung von einem zuvor bereits erwähnten Wort oder Satzteil schafft eine Leerstelle, die auf einen bekannten Referenzpunkt im Text verweist ( Аня читает газету , а Ольга - журнал .). • metakommunikative Textverknüpfung: Durch sprachliche, oft stereotype Mittel verweist der Textautor im Text selbst auf andere Textelemente ( ср ., выше упомянутый , и т . д .). • Tempus: Der Tempusgebrauch unterliegt sprachspezifischen Regularitäten, deren Einhaltung dabei hilft, einen Text zu strukturieren und zusammenzuhalten. • Konnektive: Diese Verknüpfungswörter in der Form von Konjunktionen und Pronominaladverbien verbinden Satzteile oder ganze Sätze miteinander ( после этого , поэтому ). K ARAULOV (1998: 555) fasst die textlinguistischen Untersuchungsbereiche der Sprachwissenschaft wie folgt zusammen: „ Языкознание описывает специфические стредства , обеспечивающие смысло вые установки , передаваемые в Т .[ екст ]: лелсические средства типа частиц , вводных слов и т . п ., тектонические средства - изменение порядка слов в зави симости от текстовой установки , интонационные средства ( для звуковых Т .), особые графические средства - подчёркивание , шрифтовые выделения , пунктуация ( для письменных Т .).“ Die Textlinguistik befasst sich ferner mit der Erstellung einer Texttypologie, d.h. mit der Definition von Textsorten oder -formen, die in den meisten Sprachen in großer Zahl auftreten können. Textsorten sind Gruppen von Texten, die sich durch eine Anzahl gemeinsamer Merkmale gegenüber anderen Texten abgrenzen; sie wirken auf der Grundlage des Alltagswissens normierend, sind historisch gewachsen und konventionalisiert, d.h. für die Gesamtheit der Sprechergemeinschaft gültig. Die Weiterentwicklung der menschlichen Kultur hat immer auch zu neuen Kommunikations- und Textformen geführt. Rezente Beispiele hierfür sind der Chat und das Blog. Die Mehrzahl der Textformen ist auf einzelne Funktionsbereiche beschränkt, wird also nicht von allen Sprachteilhabern und nicht in allen denkbaren Kommunikationssituationen verwendet. Für die Verwendung einer bestimmten Textsorte spielen neben innersprachlichen auch verschiedene extralinguistische Faktoren eine Rolle, wie bspw. der soziale Status und das Weltwissen der Kommunikationsteilnehmer oder die soziale Umgebung als Rahmen des Kommunikationsereignisses. Zum Weltwissen zählen auch die Präsuppositionen, die als logischer Begriff das Vorhandensein bestimmter außersprachlicher Bedingungen meinen, auf deren Grundlage einer Aussage überhaupt erst ein Wahrheitswert zuerkannt werden kann vgl. Kap. 13.11). Hinzu kommen Fragen der Stilistik und Rhetorik, welche die Textlinguistik in stärkerem Maße zu integrieren sucht als die traditionelle Systemlinguistik. Es ist augenfällig, dass hier mit der Untersuchung von Textformen ein direkter Anknüpfungspunkt zur Literaturwissenschaft gegeben ist. L INKE / N USSBAUMER / P ORTMANN entwickeln 1994 in ihrem Studienbuch Linguistik ein dreistufiges, logisch-hierarchisches Modell der Textformen und veranschaulichen dies am Beispiel eines Kochrezepts. Demnach gehört das Kochrezept <?page no="171"?> Textlinguistik 165 als Textsorte zur nächsthöheren Textklasse der Rezepte und diese wiederum zu den Anleitungstexten als der höchsten Stufe des Texttyps. Als Textsortenverwandtschaft bezeichnet man die häufig anzutreffende Erscheinung, dass ein und derselbe Text zugleich in verschiedene Kategorien eingeordnet werden kann. Das Wissen von Textstrukturen und Textfunktionen nennt man Textsortenwissen oder Textmusterwissen. Dieses muss beim Produzenten und beim Rezipienten eines Textes weitgehend identisch sein, damit der Text seine kommunikative Funktion erfüllen kann. Als Textfunktion lässt sich nach B RINKER (1997: 95) wiederum die Anweisung des Textproduzenten an den Rezipienten verstehen, wie er den Text in seiner Gesamtheit auffassen soll. B RINKER isoliert fünf Textfunktionen, die sich entsprechend in fünf Textklassen niederschlagen: Informationstexte (Nachricht, Protokoll, Abhandlung etc.), Appelltexte (Werbung, Gesetz, Antrag etc.), Obligationstexte (Vertrag, Schwur etc.), Kontakttexte (Danksagung, Glückwunschkarte etc.) und Deklarationstexte (Testament, Taufschein etc.). Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass ohne weiteres ein Text mehrere Funktionen erfüllen kann. So enthält ein Testament bspw. neben dem Versprechen des Erblassers, sein Hab und Gut zu vererben (Deklarationstext), auch eine an den Erben gerichtete Verpflichtung (Obligationstext), während ein Liebesbrief neben reinen Informationen („Ich habe gerade eine Million im Lotto gewonnen“; Informationstext) auch einen Appell („Heirate mich und nicht den Horst! “; Appelltext) oder eine (Selbst-)Verpflichtung („Ich werde dich heiraten, obwohl du arm bist wie eine Kirchenmaus“; Obligationstext) enthalten kann. Die thematische Entfaltung eines Textes, also die gedankliche und damit sprachliche Darlegung des Textthemas, kann ebenfalls auf verschiedene Arten erfolgen: deskriptiv (in informativen, instruktiven oder normativen Texten), narrativ (in Alltagserzählungen oder diversen literarischen Formen), explikativ (v.a. in wissenschaftlichen, auf Wissenserweiterung abzielenden Texten) oder argumentativ (in appellativen, normativen oder informativen Texten), wobei auch hier Mischformen oder Kombinationen häufig anzutreffen sind. Ohne eine theoretische Grundlegung des Textbegriffs wäre ferner die Erscheinung der Intertextualität nicht angemessen zu würdigen. Intertextualität bedeutet, dass im Normalfall ein Text nicht isoliert existiert und wahrgenommen wird, sondern im Kontext mit anderen, gleich- oder verschiedenartigen Texten, die meist bewusst oder, seltener, unbewusst aufeinander Bezug nehmen, sich zitieren, Motive und Themen aufnehmen und vor dem Hintergrund eines den Sprachteilhabern gemeinsamen Weltwissens variieren, wodurch bestimmte inhaltliche und stilistische Wirkungen hervorgerufen werden können. Eine bekannte Erscheinungsform der Intertextualität ist die Persiflage; eine Frühform ist die Hypolepse als das Anknüpfen an Inhalte eines bestehenden Textes in einem neuen Text, wodurch eine Verkettung von Texten mit jeweils spezifischen kommunikativen (zustimmenden, ablehnenden, explizierenden, forführenden usw.) Absichten der Autoren entsteht. Ein zentrales Verdienst der Textlinguistik wird schließlich auch darin gesehen, dass sie durch ihr Ausgreifen über die Satzgrenze hinaus den Boden für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Semiotik, Sprachwissenschaft (insbesondere der Pragmatik mit ihrer Sprechakttheorie), Kommunikationsforschung und Literaturwissenschaft bereitet hat. <?page no="172"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 166 Literatur: B RINKER , K LAUS : Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4., durchges. und erg. Aufl. Berlin 1997. C OSERIU , E UGENIO : Textlinguistik. Eine Einführung. Herausgegeben und bearbeitet von Jörn Albrecht. 4., unveränd. Aufl. Tübingen 2007. B EAUGRANDE , R.-A. DE ; D RESSLER , W.: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. D EM ’ JANKOV , V. Z.: Morfologi č eskaja interpretacija teksta i ee modelirovanie. Moskva 1994. G AL ’ PERIN , I. P.: Tekst kak ob“ekt lingvisti č eskogo issledovanija. Moskva 2006. H EINEMANN , M ARGOT ; H EINEMANN , W OLFGANG : Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion - Text - Diskurs. Tübingen 2002. K ALLMEYER , W.; M EYER , H ERMANN R.: Textlinguistik. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Studienausgabe 1. Hrsg. von H. P. Althaus, H. Henne, H. E. Wiegand. Tübingen 1973. S. 221-231. L EVICKIJ , J U . A.: Lingvistika teksta. Moskva 2006. L ICHA Č EV , D. S.: Tekstologija: Kratkij o č erk. Moskva 2006. L OTMAN , J U . M.: Problemy cel’nosti i svjaznosti teksta. Moskva 1982. L OTMAN , J U . M.: Russkij jazyk. Tekst kak celoe i komponenty teksta. Moskva 1982. L OTMAN , J U . M.: Issledovanija po strukture teksta. Moskva 1987. V ATER , H EINZ : Einführung in die Textlinguistik: Struktur, Thema und Referenz in Texten. München 1992. 13.10 Semantik Semantik ( семантика ) wird auch Bedeutungslehre genannt und erforscht die Bedeutung sprachlicher Einheiten unter synchronem oder diachronem Aspekt. Letzterer beschäftigt sich mit Fragen des Bedeutungswandels. Besonderes Gewicht kommt der Semantik insofern zu, als sie nicht nur selbst einen eigenständigen Teilbereich der Sprachwissenschaft darstellt, sondern auch, mit Ausnahme der Phonetik, in jeder anderen linguistischen Teildisziplin eine konstitutive Rolle spielt: Bereits in der Phonologie geht es um Bedeutung, nämlich um die kleinsten bedeutungsdifferenzierenden Einheiten der Sprache, und ab der Stufe der Morphologie haben wir es dann mit bedeutungstragenden Einheiten zu tun, so dass die Semantik letztlich aus keiner der Beschreibungsebenen von Sprache wegzudenken ist. Nach der Hierarchieebene der untersuchten sprachlichen Einheiten sind generell Wortsemantik ( семантика слова ; auch lexikalische Semantik genannt) und Satzsemantik ( семантика предложения ) voneinander zu trennen. Die Wortsemantik untersucht i.e.S. Bedeutungsstrukturen auf den Ebenen des einzelnen Lexems sowie des Wortfeldes, i.w.S. auch Fragen der lexikalischen Solidaritäten und der Kollokationsmöglichkeiten. In letzterem Bereich überschneidet sich die Wortsemantik mit der Satzsemantik, die die Bedeutung von ganzen Sätzen auf der Grundlage der Bedeutung der einzelnen Lexeme sowie ihrer syntaktischen und semantischen Relationen zu erfassen sucht. Was ist aber überhaupt Bedeutung? Bedeutung ist selbst ein vieldeutiges Wort; es kann bezeichnen: • den festen Sprachinhalt (das Bezeichnete), • das in einer bestimmten Sprechsituation Gemeinte, • in historisch-semantischer Hinsicht den ursprünglichen Sprachinhalt, <?page no="173"?> Semantik 167 • sowie (außerlinguistisch) die Wichtigkeit / Relevanz von etwas. Es existieren verschiedene Arten von linguistischer Bedeutung: • denotative / extensionale Bedeutung ( денотативное значение , экстенсио нальное значение ): sie bezeichnet das Objekt oder die Erscheinung der Wirklichkeit selbst (das Denotat, Extension(al)); so haben beispielsweise Abendstern und Morgenstern verschiedene Designate (verschiedene Intension, s.u.), aber das gleiche Denotat (die gleiche Extension), da sie jeweils die außersprachliche Erscheinung des Planeten Venus bezeichnen. Ähnlich verhält es sich bei der Sieger von Austerlitz und der Besiegte von Waterloo: beide Ausdrücke bezeichnen dasselbe Denotat, denselben Referenten, nämlich Napoléon I. • signifikative / intensionale Bedeutung ( сигнификативное значение , интенсио нальное значение ): sie umfasst die Bewusstseinsinhalte einer Sprechergemeinschaft als Abbilder der Wirklichkeit, d.h. Vorstellungen, Begriffe (das Designat, Intension(al)), die i.d.R. kulturspezifisch geprägt sind. Unter Abstraktion von der Zweiteilung in einen extensionalen und einen intensionalen Bedeutungskomplex kann man allgemein sagen, dass sich die Bedeutung eines Wortes aus lexikalischer Basis + Wortbildungsbedeutung + grammatischer Bedeutung (Kasus, Numerus, Genus etc.) zusammensetzt. In einer etwas anderen Lesart des Terminus denotative Bedeutung ( денота тивное значение ) bezeichnet diese den Bedeutungskern, das semantische Zentrum einer sprachlichen Einheit, das definitorisch erfasst werden kann und das sich dementsprechend z.B. als Erklärung in einsprachigen Wörterbüchern findet. Die denotative Bedeutung ist idealerweise allen Sprachteilhabern bewusst und gemeinsam. Das Gegenstück bildet dann die konnotative Bedeutung ( коннотативное значе ние ), die semantische Peripherie, die bereits nicht mehr bei allen Sprachteilhabern gemeinsam vorhanden ist oder sein muss. Die konnotative Bedeutung ist das, was man üblicherweise „mitversteht“, wenn man eine sprachliche Einheit benutzt oder rezipiert. Das Wort больница lässt sich mehr oder weniger exakt definieren und so denotativ charakterisieren. Um diesen semantischen Kern herum gruppieren sich Konnotationen wie „Leiden“, „Hilfe“, „Rettung“, „Tod“, „Medikamente“, „Visite“ etc., die im Bewusstsein der Mehrzahl der Sprecher vorhanden sind und automatisch aktualisiert werden. Von Denotationen und Konnotationen sind schließlich die Assoziationen ( ассоциация ) zu trennen. Diese sind rein individuell auf einen einzelnen Sprecher, eine einzelne Sprecherin bezogen und resultieren aus deren persönlichem Weltwissen („Mein Großvater ist letzten Monat im Krankenhaus gestorben.“ „Im Krankenhaus habe ich meine jetzige Frau kennengelernt.“) Bedeutung ist der einer Benennung/ Bezeichnung zugrunde liegende Inhalt. Formal wird die Bedeutungslehre auf Wortsemantik und Satzsemantik aufgeteilt. Im Rahmen der Semantik ist zu unterscheiden zwischen lexikalischer und grammatischer Bedeutung, zwischen extensionaler und intensionaler Bedeutung, zwischen Denotation, Konnotation und Assoziation. In der Satzsemantik werden neben lexikalischer und grammatischer Bedeutung weitere Bedeutungen unterschieden (nach C RYSTAL 1995: 107): <?page no="174"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 168 • prosodische Bedeutung: Untersuchung der Satzbedeutung und ihrer Veränderungsmöglichkeiten unter intonatorischen Gesichtspunkten, • pragmatische Bedeutung: Untersuchung der Satzbedeutung und ihrer Veränderungsmöglichkeiten unter kommunikativ-semantischen Gesichtspunkten, • soziale Bedeutung: Untersuchung der Satzbedeutung und ihrer Veränderungsmöglichkeiten unter sozial-kommunikativen Gesichtspunkten, • propositionelle Bedeutung: Untersuchung der Satzbedeutung und ihrer Veränderungsmöglichkeiten unter philosophischen und logischen Gesichtspunkten. Bedeutung ist keine Erscheinung, die bis in alle Ewigkeit gleich bleiben muss. Vielmehr kann sich die Bedeutung sprachlicher Einheiten im Laufe ihrer Existenz ein wenig oder auch grundlegend ändern; es kommt zu einem Bedeutungswandel ( изменение значения ). „ изменение значения слов идет психологическим путем , и так как реальная жизнь во всякое время меняет функции предметов , придавая им новые отличи тельные признаки , мы часто наблюдаем , что первоначальное этимологическое значение слов забывается , особенно если исчез в языке корень , от которого данное слово происходило .“ (V INOGRADOV , V. V.: Predislovie. In: P OKROVSKIJ , M. M.: Izbrannye raboty po jazykoznaniju. Moskva 1959: 11f) Dieser Wandel kann diachron-deskriptiv untersucht werden • unter logischem Gesichtspunkt (Bedeutungserweiterung / -verengung / -verschiebung) sowie • unter axiologischem Gesichtspunkt (Bewertung: Bedeutungsverbesserung / -verschlechterung), wobei hier noch keine Aussagen über die Ursachen des Bedeutungswandels oder die Auswirkungen auf das Wortfeld des betreffenden Lexems getroffen werden. Einige Beispiele: • Bedeutungserweiterung ( расширение значения , durch Bedeutungsübertragung, перенос значения ): нос ‚Nase’ ‚Nase; Bug’ • Bedeutungsverengung ( сужение значения ): племянник ‚Verwandter’ (von племя ‚Stamm’) ‚Neffe’, пиво (von пить ‚trinken’) ‚Getränk’ ‚Bier’ • Bedeutungsverschiebung ( сдвиг значения ): сад ‚Bezeichnung für verschiedene Pflanzen’ ‚Garten’, шляпка ‚kleiner Hut’ ‚Kopf (eines Nagels); Hut (eines Pilzes)’, красный ‚schön’ ‚rot’. Wie die Beispiele zeigen, ist die Entscheidung, ob Bedeutungserweiterung oder Bedeutungsverschiebung vorliegt, bisweilen schwer zu treffen. • Bedeutungsverbesserung (Melioration, улучшение значения , мелиорация ): Ein Beispiel aus der Etymologie: Schlösse man sich der Hypothese an, das Wort Slave stamme von Sklave ab, so läge eine klare Bedeutungsverbesserung vor. Unterstellt man dagegen слово als Ursprung, dann haben wir es mit einer Bedeutungserweiterung oder Bedeutungsverschiebung zu tun. • Bedeutungsverschlechterung (Pejoration, ухудшение значения , пейорация ): наглый ‚schnell, plötzlich’ ‚dreist, unverschämt’ <?page no="175"?> Semantik 169 Aufgaben: 1. Stellen Sie das formale und semantische Verhältnis der beiden russischen Wörter крестьянин und христианин dar. 2. Untersuchen Sie die verschiedenen Bedeutungen von машина und stellen sie diachron wie synchron fest, in welchem Verhältnis sich die Teilbedeutungen zueinander befinden. Um die Systemhaftigkeit der Sprache und ihre inneren Strukturen formal abbilden zu können, verfügen Semantik und Lexikologie über ein ausgereiftes (und dennoch immer weiterentwickeltes) terminologisches Inventar, deren zentrale Termini im Folgenden kurz vorgestellt und zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Wir beginnen bei der kleinsten Einheit, dem • Sem ( сема ): dies ist der kleinste inhaltsunterscheidende Zug einer lexikalischen Einheit; das kleinste, d.h. nicht weiter untergliederbare, feststellbare Bedeutungselement als Bestandteil eines Semems (Bsp.: „weiblich“ in der Bedeutung des Wortes учительница ). Es tritt durch Opposition zu anderen lexikalischen Einheiten eines Wortfeldes (z.B. учитель ) zutage. Mehrere Seme bilden wiederum ein • Semem ( семема ): hierunter versteht man die Summe aller zutreffenden Charakteristika (d.h. die Summe aller Seme), mit anderen Worten: hier liegt die Bedeutung eines Morphems, der Inhalt eines Lexems vor. Bsp.: dt. Jugend hat 3 Sememe (also 3 Bedeutungen): ‚junge Menschen’, ‚Jugendalter’, ‚Jugendlichkeit’). Die Sememstruktur der einzelnen Sprachen kann jeweils unterschiedlich sein, vgl. z.B. dt. Jugend mit russ. молодость . Das Semem ist als Bedeutungseinheit, die einem Formativ unter bestimmten kontextualen Bedingungen zugeordnet wird, eine Einheit der langue. In gewisser Weise der semantische Überbau zu den einzelnen Sememen ist das • Archisemem ( архисемема ): es handelt sich um das Charakteristikum, das auf alle Elemente eines Wortfeldes zutrifft (Bsp.: „zum Sitzen da“ charakterisiert Stuhl, Hocker, Sofa, Bank / стул , табурет ( ка ), диван , скамейка etc.), bzw. um die Gesamtheit aller Seme, die mehreren Sememen gemeinsam sind, auch vorstellbar als Schnittmenge oder als kleinster gemeinsamer Nenner. Mit dem Semem identisch, jedoch auf einer anderen Beschreibungsebene angeordnet, ist das • Lexem ( лексема ; vgl. Kap. 13.7). Eine Sonderform des Lexems ist das • Paralexem ( паралексема ; vgl. Kap. 13.7). Analog zur Erscheinung des Archisemems spricht man von einem • Archilexem ( архилексема ; vgl. Kap. 13.7). Wiederum zur inhaltlichen Beschreibungsebene gehört das • Klassem ( классема ): es ist ein Inhaltszug (Sem), durch den eine Klasse definiert wird, der aber auch durch Wortfelder hindurch funktionieren kann. Es stellt ein semantisches, paradigmenübergreifendes Merkmal wie etwa [± belebt] dar. Als Klasse wird hier eine Menge von Elementen mit mindestens einem gemeinsamen Merkmal verstanden. Ebenfalls der Inhaltsebene zuzuordnen ist das • Virtuem ( виртуема ): ein variables Sem, das die konnotative, nicht die denotative Bedeutung (also nicht den Kern der Bedeutung) betrifft. Ein Beispiel wäre das Virtuem „Gefahr“ der lexikalischen Einheit rot, wie bei Красная книга ‚Rote Liste (bedrohter Arten)’. Im politischen Kontext erhält rot als weiteres Virtuem die Bedeutung „Kommunismus“ (was wiederum aus bestimmten politischen Blickwinkeln mit dem Virtuem „Gefahr“ gleichgesetzt wird). Die wortgeschicht- <?page no="176"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 170 liche Betrachtung von красный zeigt, dass Virtueme prinzipiell beweglich sind und sich an bestimmte Einheiten des Wortschatzes anlagern oder sich von ihnen (wieder) lösen können. Vgl. die aktuelle Bedeutung von красный mit den Verwendungen in ради красного словца ‚der schönen Worte wegen’, красный угол ‚Ikonenecke; Herrgottswinkel’, красноречие ‚Redekunst [„Schönrederei“]’. Betrachten wir nun noch einmal die wesentlichen Elemente eines Wortfeldes in grafischer Darstellung: Wortfeld ( лексическое поле ): Wortfeld Archilexem (Inhaltsteil: Archisemem) (= Oberbegriff für ganzes Feld) Lexeme (Inhaltsteil: Sememe) Sememe Klasseme Virtueme Abbildung 31: Wortfeld An anderen Stellen dieser Einführung sind uns schon verschiedentlich sogenannte Dichotomien begegnet, einander ergänzende oder bedingende Gegensatzpaare (langue vs. parole, diachron vs. synchron etc.). Auch der Wortschatz der menschlichen Sprache weist eine solche, ganz zentrale Dichotomie auf, die Bezug nimmt auf den semantischen Wert lexikalischer Einheiten. Es handelt sich um die Unterscheidung von Autosemantika und Synsemantika. Dabei ist ein • Autosemantikon ( знаменательное слово ) ein Wort, das für sich allein genommen einen Begriff ausdrückt. Es handelt sich um ein lexikalisches Morphem, das in freier, aber auch in gebundener Form auftreten kann (Bsp.: Lehr- = Autosemantikon, kommt aber nur gebunden vor: lehr-en, Lehr-er; russ. преподава - преподава ть , преподава тель , преподава ние ). Die Klasse der Autosemantika ist prinzipiell offen, d.h. es können jederzeit neue Benennungen (eigenständige oder auf der Basis bereits vorhandener Elemente gebildete) geschaffen werden. Eine Ausnahme bilden etliche in sich geschlossene Mikrosysteme innerhalb des Wortschatzes, wie beispielsweise die Gruppe der Monats- und Wochentagsbezeichnungen. Im Gegensatz zum Autosemantikon ist das • Synsemantikon ( служебное слово ) ein Wort, das für sich allein genommen nicht Bedeutungsträger ist (bzw. nur eine äußerst allgemeine lexikalische Bedeutung besitzt) und damit keine nominative Funktion erfüllt. Vertreter dieser Gruppe sind z.B. die Präpositionen, die Konjunktionen, aber auch die Partikeln (die die Bedeutung autosemantischer Elemente modifizieren). Es handelt sich um ein grammatisches Morphem, das aber auch in freier Form auftreten kann (Bsp.: dass = Synsemantikon, kommt aber nur frei vor; russ. но , и ). Die Klasse der Synsemantika wird i.d.R. als geschlossenen betrachtet. Eine gegebene sprachliche Einheit weist primär eine oder mehrere direkte, unmittelbare Bedeutungen auf, kann jedoch sekundär auch mit einer indirekten, mittelbaren, <?page no="177"?> Semantik 171 übertragenen Bedeutung verwendet werden. Bei der übertragenen Bedeutung, bei der es sich oft um verkappte Vergleiche handelt, werden folgende Erscheinungen (mit möglichen weiteren Untergruppen) differenziert: • Metapher ( метафора ): sie drückt einen Vergleich von Dingen aus verschiedenen Seinsbereichen aus (Bsp.: das Knie eines Flusses / колено реки : Knie / колено entstammt dem menschlichen Bereich, Fluss / река der Natur; goldenes Haar: Gold als Artefakt und Haar als Teil des Menschen; ähnlich золотые руки ‚geschickte Hände’). Die Metapher gilt als charakteristisches Stilmittel der literarischen Romantik. „ МЕТАФОРА ( греч . « перенос »), троп или фигура речи , состоящая в упо треблении слова , обозначающего некоторый класс объектов ( предметов , лиц , явлений , действий или признаков ), для обозначения другого , сходного с данным , класса объектов или единичного объекта ; напр .: волк , дуб и дубина , змея , лев , тряпка и т . п . в применении к человеку ; острый , тупой - о свойствах человеческого ума и т . п . В расширительном смысле термин « метафора » относят также к другим видам переносного значения слова . Метафора - один из основных приемов познания объектов действительности , их наименования , создания художественных образов и порождения новых значений . Она вы полняет когнитивную , номинативную , художественную и смыслообразующую функции .“ ( http: / / www.krugosvet.ru/ articles/ 82/ 1008255/ 1008255a1.htm ) • Metonymie ( метонимия ): sie drückt einen Vergleich von Dingen aus demselben Seinsbereich aus (Bsp.: gekrönte Häupter: Haupt als Teil des Körpers bzw. Menschen; Съезд принял важную резолюцию : nicht der Kongress, sondern seine Mitglieder haben die Resolution gefasst; Все флаги в гости будут к нам : die Flaggen zunächst als Teil/ Repräsentanten von Schiffen - und dann, noch wichtiger, ihrer Heimatländer und deren Einwohner; сталь für меч ‚Schwert’: das Material steht für das aus ihm gefertigte Produkt). Häufig zu beobachten ist das Pars-pro-toto-Verhältnis, bei dem ein Teil stellvertretend für das Ganze steht. Die Metonymie gilt als charakteristisches Stilmittel des literarischen Realismus. „ МЕТОНИМИЯ ( греч . « переименование »), троп , или механизм речи , со стоящий в переносе названия с одного класса объектов или единичного объекта на другой класс или отдельный предмет , ассоциируемый с данным по смежности , сопредельности , принадлежности , партитивности или иному виду контакта ; напр . выпить две чашки кофе , где чашка (« сосуд ») означает меру жидкости . Действие механизма метонимии приводит к появлению нового зна чения или контекстуально обусловленному изменению значения слова . Основой метонимии могут служить отношения между однородными и неодно родными категориями , например предметами и их признаками ( действиями ). Регулярные отношения между предметами или действием и предметом опре деляют контактное положение соответствующих им слов в тексте . В этом слу чае метонимия часто возникает за счет эллипсиса ( сокращения текста ); ср .: Слу шать музыку Шопена и Слушать Шопена .“ ( http: / / www.krugosvet.ru/ articles/ 82/ 1008286/ 1008286a1.htm ) <?page no="178"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 172 Aufgaben: 1. Finden Sie für die russische Sprache neben den Monats- und Wochentagsnamen weitere geschlossene Mikrosysteme innerhalb des Wortschatzes. 2. Handelt es sich bei den Numeralia um Autosemantika oder um Synsemantika? Ist ihre lexikalische Klasse offen oder geschlossen? 13.10.1 Lexikalisch-semantische Relationen Der Wortschatz einer Sprache enthält eine unüberschaubare Menge von Wörtern, vergleichbar mit den Sandkörnern an einem Strand. Im Gegensatz zu den Sandkörnern stehen die Wörter jedoch nicht lose und unmotiviert nebeneinander, sie bilden vielmehr ein komplexes System, das durch verschiedene formale und inhaltliche Regeln und Verbindungen (Relationen) konstituiert wird. Die zentralen inhaltlichen, d.h. lexikalisch-semantischen Relationen sind: • Synonymie ( синонимия ): sie bezeichnet das (Wechsel-)Verhältnis verschiedener Wörter mit gleicher Bedeutung. Synonyme stimmen im Sembestand überein bzw. können die gleiche Information übermitteln. Völlige Synonymie besteht nach Meinung vieler Linguisten praktisch nicht (und wenn doch, dann am ehesten in Fachsprachen), da meist zumindest stilistische Nuancierungen hinzukommen; Bsp. лингвист - языковед . Zu unterscheiden sind ferner kontextuelle Synonymie und kontextfreie Synonymie. Die Erscheinung des Pars pro toto kann als Sonderform der Synonymie betrachtet werden ( автор романа « Война и мир » - Tolstoj). Die Tautologie wird ebenfalls als Sonderform der Synonymie angesehen (Kreise sind rund, denn alle Kreise sind per definitionem rund) [dagegen liegt bei Quadrate sind rechteckig eine hyponyme Beziehung vor, denn Quadrate sind nur eine Teilmenge aller rechteckigen Gegenstände / Formen]. • Antonymie ( антонимия ): sie drückt die semantische Gegensätzlichkeit zweier Wörter aus. Folgende Unterformen werden üblicherweise differenziert (Achtung: je nach Autor fällt die Einteilung und damit auch die Terminologie durchaus unterschiedlich aus! ): o polare Antonymie ( полярная антонимия ): gegenteilige Bedeutung mit der Möglichkeit der Graduierung; Nichtdeckung der Negation des einen Gliedes mit dem Inhalt des anderen, ihm gegenübergestellten Gliedes ( большой vs. маленький , небольшой ≠ маленький ). So wäre für das Russische im Bereich der Temperaturangaben folgende Graduierung denkbar (die tatsächliche Verwendbarkeit der einzelnen Lexeme richtet sich nach dem konkreten Kontext): жаркий , горячий - тёплый - тепловатый - прохладный , свежий - хо лодный - морозный , ледяной , леденящий ; o kontradiktorische Antonymie ( контрадикторная антонимия ): Bildung des Antonymenpaares auf formaler Ebene mit den russ. Präfixen не - oder без - / бес - ( много vs. немного , полезный vs. бесполезный ). Weitere Möglichkeiten zum Audruck eines kontradiktorischen Antonymieverhältnisses sind die entlehnten Präfixe а - ( аморальный , асимметричный ), анти - ( антина родный , антифашистский ), им - ( имморальный ) und ир - ( иррацио нальный , ирреальный ). Mit Einschränkungen (und je nach kontextueller Lesart) lassen sich evtl. noch die ebenfalls entlehnten Präfixe псевдо - ( псевдо - <?page no="179"?> Semantik 173 марксистский , псевдонаучный ) und квази - ( квази официальный , квази стационарный ) in diese Kategorie zählen; o komplementäre Antonymie ( комплементарная антонимия ): komplette Abdeckung des Inhalts eines Oberbegriffs durch die beiden Elemente des Antonymenpaares (tertium non datur, entweder-oder, d.h. es gibt keine dritte Möglichkeit; Bsp.: свободный vs. занятый ; hier Ausfüllung des vorhandenen Raumes, d.h. занятый = несвободный ; ein Platz kann also nur frei oder besetzt sein, aber nichts dazwischen); o konversive Antonymie ( конверсивная антонимия ): wechselseitige Abhängigkeit / Bedingung zweier Prozesse ( продавать vs. покупать ), mal lexikalisch (geben vs. nehmen, брать vs. давать , родители vs. дети ), mal syntaktisch, z.B. mit Vorsilben, ausgedrückt (kaufen vs. verkaufen, выиграть vs. проиграть ). Die wechselseitige Abhängigkeit der beiden antonymen Elemente wird aus entgegengesetzten Blickwinkeln betrachtet: für die Älteren sind ihre jüngeren Nachgeborenen die Kinder, für die Jüngeren sind ihre älteren Erzeuger die Eltern, mit anderen Worten: ohne Eltern keine Kinder und umgekehrt. Analog beim Antonymenpaar siegen vs. verlieren, победить vs. проиграть : Nur dort, wo es einen Sieger gibt, kann es sinnvollerweise auch einen Verlierer geben. So wird der Ausgang bspw. eines Fußballspiels mal aus der Perspektive des Überlegenen beschrieben und mal aus der Sicht des Unterlegenen. L YONS unterscheidet Opposition (dichotome oder binäre Kontraste) und Antonymie (graduierbare Gegenteile): Antonyme sind extreme Realisierungen einer gemeinsamen, der Antonymie zugrunde liegenden Eigenschaft (z.B. Temperatur): heiß vs. kalt; Graduierbarkeit erkennt man an möglichen Formulierungen wie „X ist heißer als Y“ oder „X ist genauso heiß wie Y“; Opposition zeigt sich bei einander ausschließenden Wörtern ( жизнь vs. смерть , мужской vs. женский ); Steigerung ist hier bei übertragener Bedeutung möglich („X ist weiblicher als Y“). Ein unbestreitbares Beispiel dürfte außerdem die Opposition schwanger vs. nicht schwanger sein (einen dritten Zustand gibt es nicht, und man kann auch nicht „ein bisschen“ schwanger sein, Graduierbarkeit ist also ausgeschlossen [*meine Freundin ist schwangerer als ich]). Anders jedoch bei ethischen Betrachtungsweisen: Kann es ein bisschen Frieden geben? Das o.g. Beispiel meine Freundin ist schwangerer als ich lässt sich bei humorvoller Verwendung höchstens als Steigerung der fortgeschrittenen Schwangerschaft im Sinne von „meine Freundin ist schon länger schwanger als ich“ deuten. Weiteres lesen Sie bitte in einem Fachbuch zur Gynäkologie nach… Sonderformen des Bedeutungsgegensatzes stellen besondere lexikalische Felder dar, die aus mehr als zwei Elementen bestehen und i.d.R. in sich geschlossen sind, wobei sie oft eine gewisse Zirkularität aufweisen. Ein Element steht hier gleich in Opposition zu mehreren bzw. zu allen anderen Elementen des Feldes. Ein geläufiger Terminus für diese Erscheinung ist Heteronymie ( г  ет  е  р  о  н  и  м  и  я ; auch Inkonymie oder Inkompatibilität genannt) 76 . Beispiele für derartige semanti- 76 In der Literaturwissenschaft bezeichnet man als Heteronym einen fremden oder verschlüsselten Namen, den sich ein Autor für einen Teil seiner Werke gibt. Das Heteronym ähnelt somit dem Pseudonym. <?page no="180"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 174 sche Gegensätze sind die Mikrosysteme der Wochentags- und Monatsnamen, die Himmelsrichtungen, Verwandtschaftsnamen, Farbbezeichnungen u.a.m. Die Negation von январь impliziert nicht notwendigerweise die Assertion von февраль , sondern kann auch jeden anderen der 10 übrigen Monatsnamen betreffen; ein Kleid, das nicht rot ist, kann potentiell nicht nur gelb, sondern auch grün, blau, braun etc. sein. Solche Mikrosysteme können sich, in Abhängigkeit von der Natur der Sache, auch immer wieder neu konstituieren; als Beispiel mag die Liste der Fußballmannschaften der 1. Liga dienen, die jedes Jahr anders ausfällt. • Homonymie ( омонимия ): sie meint die Gleichheit der Bezeichnungen (gleicher Ausdruck) bei unterschiedlicher Bedeutung (gleicher Sprachkörper bei verschiedenen Sprachinhalten; mehrdeutiges Sprachzeichen). Hier liegen voneinander unabhängige, nichtverbundene Bedeutungen vor, d.h. verschiedene Wörter, deren eigenständige Existenz sich in getrennten Wörterbucheinträgen (im Gegensatz zur Polysemie) niederschlägt. Bsp.: Schloss = ‚Burg’ ( з ´амок ) vs. ‚Schließvorrichtung’ ( зам´ок ), Tor = ‚große Tür’ ( ворота ) vs. ‚Narr, Dummkopf’ ( безумец , глупец ), Hahn = ‚Tier’ ( петух ) vs. ‚Kran’ ( кран ); Gericht = ‚Speise’ ( блюдо ) vs. ‚rechtsprechende Behörde’ ( суд ). Üblich ist in Wörterbüchern das Hinzufügen einer Indexzahl zu den homonymen Einträgen: ключ 1 = ‚Schlüssel; Taste’, ключ 2 = ‚Quelle’. Gleicher Ausdruck kann bedeuten: o gleiche Lautkette, aber verschiedene Schreibung (= Homophonie, омофо ния ), o gleiches Schriftbild, aber verschiedene Lautung (= Homographie, омогра фия ). Des Weiteren sind voneinander zu trennen: o Homonymie von Lexemen: alle Formen eines Paradigmas sind formal identisch ( замок ), und o Homonymie von Wortformen: nur eine Form oder mehrere (aber nicht alle) Formen eines Paradigmas sind formal identisch ( лечу 1 vs. лечу 2 ). Bei der Homonymie wird ferner unterschieden nach Worthomonymie (dt. die Arme ‚die Bedauernswert’ und ‚die oberen Gliedmaßen’; frz. mineur ‚minderjährig’ und ‚Bergmann’) und Satzhomonymie (Reiche Studenten meinen Wein. Flying planes can be dangerous.) • Polysemie ( полисемия ): sie bezeichnet die Mehrdeutigkeit ein und desselben Wortes 77 (im Gegensatz zur Homonymie); Bsp.: Stock = ‚Holzstück’ vs. ‚Spazierstock’ vs. ‚Topfpflanze’ [Gleichzeitig ist Stock ein Homonym zu Etage]. Es liegen verschiedene, untereinander verwandte Bedeutungen vor (der Prozess des Bedeutungswandels ist noch nicht abgeschlossen, d.h. es bilden sich neue Bedeu- 77 Die Phänomene der Mehrdeutigkeit werden von vielen Linguisten den sprachlichen Universalien zugerechnet, die in allen oder doch fast allen Sprachen anzutreffen sind. Als Grund für die Mehrdeutigkeit wird die Diskrepanz zwischen der grenzenlosen menschlichen Existenz und ihrer Erscheinungsformen einerseits und dem begrenzten, dem Menschen zur Verfügung stehenden Sprachmaterial andererseits angeführt. Während die Mehrdeutigkeit unter dem Gesichtspunkt der Sprachökonomie zu begrüßen ist (es sind weniger sprachliche Zeichen für dieselben Inhalte zu lernen), erfordert sie doch in mnemotechnischer Hinsicht einen erhöhten Aufwand durch die nötigen Differenzierungen der jeweiligen Teilbedeutungen. <?page no="181"?> Semantik 175 tungen (Metaphern), aber die alte, konkrete Bedeutung bleibt erhalten). Einem Wort mit allgemeiner Bedeutung verleiht erst der Kontext eine präzisere Bedeutung, wobei aber ein gewisser Bedeutungskern in allen Texten gleich bleibt. Im Gegensatz zur Homonymie werden polyseme Wörter mit ihren Teilbedeutungen in einem einzigen Wörterbucheintrag behandelt (vgl. Kap. 13. 10 .1); Bsp.: ядро = ‚Kern’ 1. einer Frucht, 2. als Grundstock von etw. ( ядро русской армии ), 3. als Zentralteil, Zentrum ( ядро атома ); Tor = 1. ‚große Tür’ ( ворота ), 2. ‚Treffer beim Sport’ ( ворота , гол ), ворота = 1. ‚Tor, Pforte’, 2. (Sport) ‚Tor’; dt. Mal = ‚Fleck; Zeichen; zeitlicher Orientierungspunkt’. Polysemie kann durch Spezialisierung entstehen (wenn z.B. ein allgemeinsprachliches Wort eine fachsprachliche Sonderbedeutung entwickelt), aber auch umgekehrt durch Generalisierung (wenn z.B. ein Markenname eine generische, allgemeine Bedeutung erhält, z.B. Tempo, ксерокс ), ferner durch Bedeutungserweiterung (Bedeutungsübertragung): Martin ist ein Schwein / Мартин - свинья . Hier werden dem guten Martin zu Recht oder zu Unrecht Charakter- oder sonstige Eigenschaften zugeschrieben, wie man sie - ebenfalls zu Recht oder zu Unrecht - bei einem Schwein erwartet. Zu unterscheiden ist diese Art der Bedeutungsübertragung von einem sprachlichen Vergleich, der formal ausgedrückt wird: Martin isst wie ein Schwein / Мартин ест как свинья . „ Каждый лексико семантич . вариант является иерархически организованной совокупностью сем - структурой , в к рой выделяется интегрирующее родовое значение ( архисема ), дифференцирующее родовое ( дифференциальная сема ), а также потенциальные семы , отражающие побочные свойства предмета , реально существующие или приписываемые ему коллективом . Эти семы важны для формирования переносных значений слов .“ (J ARCEVA 1998: 262)) • Hyponymie / Hyperonymie ( гипонимия / гиперонимия ): sie ist ein Sonderfall der partiellen Synonymie. Es handelt sich um eine paradigmatische Sinnrelation (L YONS ); zwischen Hyponym (untergeordnetem Begriff) und Hyperonym (übergeordnetem Begriff) besteht innerhalb eines Wortfeldes eine Beziehung von Spezifizierung und Generalisierung. Hyponym und Hyperonym besitzen eine bestimmte gleiche Semmenge (gemeinsame Schnittmenge), wobei das Hyperonym im Vergleich zu seinen untergeordneten Hyponymen eine allgemeinere Bedeutung aufweist, d.h. einen größeren Begriffsumfang (eine größere Extension). Die Zahl der semantischen Merkmale und damit der Begriffsinhalt (Intension) ist jedoch kleiner als beim Hyponym, eine Definition des Wortes fällt also i.d.R. weniger umfangreich aus und ist weniger speziell. Bsp.: Schimmel = Hyponym zu Pferd, verhungern = Hyponym zu sterben, квадрат = Hyponym zu четы рёхугольник . Zwei oder mehr Hyponyme auf derselben Stufe der Unterordnung heißen Kohyponyme ( когипоним ; verhungern ↔ verdursten ↔ ersticken ↔ erfrieren ↔ verbrennen 78 ; [krepieren ↔ den Löffel abgeben ↔ die Radieschen von unten betrachten ↔ verscheiden ↔ die Seele aushauchen ↔ von uns gehen]); Hyponyme und Hyperonyme verweisen auf eine hierarchische Strukturierung des Wortschatzes. Ihre Eigenschaften im Überblick: 78 Vgl. russ. умирать с голоду , умирать от жажды , задыхаться , замерзать , сгорать . <?page no="182"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 176 Hyperonym Hyponym • allgemeinere Bedeutung • speziellere Bedeutung • weniger semantische Merkmale • mehr semantische Merkmale • größere Extension (größerer Begriffs umfang) • größere Intension (größerer Begriffsinhalt) • Meronymie (Mereonymie; мереология ): sie drückt eine Teil-Ganzesbzw. Inklusions-/ Inkorporationsrelation aus (X ist ein Teil von Y, umgekehrt formuliert: Y umfasst [auch] X), nicht zu verwechseln mit einem Pars-pro-toto-Verhältnis ( голова , лицо für человек etc.). Bsp.: Komponenten eines technischen Gerätes im Verhältnis zum ganzen Gerät, oder: дом - фундамент , дверь , окно , крыша etc. ( крыша lässt sich im Verhältnis zu дом auch als pars pro toto betrachten: иметь крышу над головой ). Wie auch die Hyponymie/ Hyperonymie ist die Meronymie Ausdruck der hierarchischen Gegliedertheit des Wortschatzes. • Holonymie ( голонимия ): sie ist die Umkehrung der Meronymie, also eine Ganzes-Teil-Beziehung. Тело ist beispielsweise das Holonym zu голова , нога , рука etc. • Paronymie ( паронимия ): hier handelt es sich im engeren Sinn um Wörter ähnlicher Form und verschiedener, oft untereinander verwandter Bedeutung. Es sind Wörter, die mit unterschiedlichen Affixen von demselben Ableitungswort (derselben Wortwurzel) gebildet sind und daher einander lautlich ähnlich sind, jedoch unterschiedliche Bedeutung aufweisen ( надеть пальто - одеть ребёнка , проблемный доклад - проблематический вывод , понятный вопрос - понятливый человек , встать - стать ). „ Паронимы ( гр . para - возле + onima - имя ) - это однокорневые слова , близкие по звучанию , но не совпадающие в значениях : подпись - роспись , одеть - на деть , главный - заглавный . Паронимы , как правило , относятся к одной части речи и выполняют в предложении аналогичные синтаксические функции .“ (R O- ZENTAL ’/ G OLUB / T ELENKOVA 2002) Bei Substantiven stimmen Genus und Numerus überein, bei Verben der Aspekt (d.h. Aspektpartner sind keine Paronyme! ). Im weiteren Sinn umfasst die Paronymie alle Wörter, die bei unterschiedlicher Bedeutung lautliche Ähnlichkeit aufweisen (solche Wörter bieten sich somit besonders für Sprachspiele an). Paronyme bereiten oft schon dem Muttersprachler Schwierigkeiten 79 , umso mehr ist im Fremdsprachenunterricht auf ihre Besonderheiten hinzuweisen. In semantischer Hinsicht lassen sich Paronymenpaare durch die je unterschiedlich große Bedeutungsnähe gegeneinander abgrenzen. Nach R OZENTAL ’/ G OLUB / T ELENKOVA 2002 lassen sich Paronyme nach folgenden Kriterien unterscheiden: 1. unterschiedliche Präfixe: опечатки - отпечатки , уплатить - оплатить ; 2. unterschiedliche Suffixe: безответный - безответственный , существо - 79 Fragen Sie beispielsweise einmal einen deutschen Muttersprachler nach dem Unterschied der paronymischen Ausdrücke 14-tägig und 14-täglich. Sie werden Erstaunliches zu hören bekommen... (Bildungen mit -tägig verweisen auf einen Zeitraum, eine Dauer: ein 14tägiger Urlaub bedeutet ‚ein Urlaub, der 14 Tage dauert’, während Bildungen mit -täglich auf eine Wiederholung, eine Frequenz hinweisen: eine 14-tägliche Sitzung dauert eben - zum Glück - nicht 14 Tage, sondern findet nur alle 14 Tage, d.h. im Abstand von jeweils 14 Tagen, statt.) <?page no="183"?> Semantik 177 сущность ; командированный - командировочный ; 3. Abgeleitetheit / Nichtabgeleitetheit der Wurzel: рост - возраст , тормоз - торможение , груз - нагрузка . Weiter heißt es: „ Особую группу паронимов составляют такие , которые отличаются функцио нально стилевой закрепленностью или стилистической окраской ; ср .: работать ( общеупотр .) - сработать ( про c т . и спец .) жить ( общеупотр .) - проживать ( офиц .). Некоторые авторы трактуют явление паронимии расширенно , относя к парони мам любые близкие по звучанию слова ( а не только однокорневые ). В этом слу чае паронимами следует признать и такие созвучные формы , как дрель - трель , ланцет - пинцет , фарш - фарс , эскалатор - экскаватор , вираж - витраж и др . Однако их сближение в речи носит случайный характер и не закрепляется всем многообразием системных отношений в языке . К тому же сопоставление разнокорневых созвучных слов нередко носит субъективный характер ( одному кажутся похожими слова вираж - витраж , другому - вираж - мираж ).“ • Homophonie ( омофония ): sie ist eine Erscheinungsform der Homonymie und bezeichnet die gleiche Lautung von Wörtern bei unterschiedlicher Bedeutung und Schreibung; Bsp.: mahlen - malen; lehren - leeren; mehr - Meer; floh - Floh; Rat - Rad; лук ‚Zwiebel’ - луг ‚Wiese’, рот ‚Mund’ - род ‚Geschlecht, Gattung’. • Homographie ( омография ): sie ist ebenfalls eine Erscheinungsform der Homonymie und steht für die gleiche Schreibweise von Wörtern bei unterschiedlicher Bedeutung und Aussprache (resultierend aus unterschiedlicher Betonung); Bsp.: modérn - módern, ´ übersetzen - übersétzen; зам´ок ‚(Tür-) Schloss’ - з´амок ‚Schloss (Gebäude)’, ´уже ‚enger’ - уж´е ‚schon’, больш´ая ‚eine große’ - б´ольшая ‚eine größere’, мук ´а ‚Mehl’ - м´ука ‚Qual’ (wo muss also in dem bekannten Romantitel Tolstojs „ Хождение по мукам “ die Betonung liegen? ). Wie auch bei der Homophonie spielt bei der Homographie die Wortart keine Rolle. • Homomorphie ( омоморфия ): hier fallen einige Flexionsformen verschiedener Wörter zusammen; Bsp.: леч ´у ‚ich heile’ (von леч´ить ; aber л´ечишь , л´ечат ) vs. леч ´´у ‚ich fliege’ (von лет´еть ; aber лет´ишь , лет´ят ), вожу ( возить ) ‚ich fahre’ vs. вожу ( водить ) ‚ich führe’. Die Homomorphie ist besonders häufig in der Flexion endbetonter Adjektive anzutreffen: слепой , молодой , другой , крутой können, je nach Kontext, sein: N. Sg. m.; G./ D./ L. Sg. f. Weniger häufig verwendet als die oben genannten Termini der Homonymie und Polysemie sind die folgenden beiden Beziehungen: • Bisemie ( бисемия ): sie ist ein Sonderfall der Polysemie, wenn ein sprachliches Zeichen genau zwei, sich partiell überschneidende Sememe (Bedeutungen) hat, die unter Umständen direkt antonym sein können: Bsp. dt. Sanktion ‚Billigung’ vs. ‚Bestrafung’, vergleichbar russ. санкция ‚ утверждение , одобрение ’ vs. ‚ принудительные меры ’ (bei pluralischer Verwendung санкции ). • Multisemie ( мультисемия ): sie stellt eine „hybride“ Koppelung der beiden Termini Polysemie (Ps.) und Homonymie (Ho.) dar: Bsp. Bank [‚längliche Sitzgelegenheit’ Ps. ‚länglicher Werktisch’ Ps. ‚Sandbank’ etc.] Ho. [‚Geldinstitut’ Ps. ‚Geld des Bankhalters beim Spiel’]. <?page no="184"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 178 Aufgaben: 1. Charakterisieren Sie das formale und das semantische Verhältnis von русский und российский . 2. Überlegen Sie, ob und in welcher Form bei der kontradiktorischen, der komplementären und der konversiven Antonymie eine Steigerbarkeit der antonymischen Elemente gegeben ist. Der Wortschatz des Menschen ist in Klassen geordnet, die formaler und/ oder semantischer Art sein können. Eine formale Kategorisierung ist beispielsweise die traditionelle Einteilung nach Wortarten. Die lexikalischen Elemente können aber auch nach Bedeutungskriterien gruppiert werden, für die dann gemeinsame übergreifende semantische Merkmale gesucht werden, um diese Gruppe oder Klasse adäquat beschreiben zu können. Ein solches, allgemeines Merkmal nennt man Klassem ( классема ; s.o.). Es handelt sich also um einen Inhaltszug, durch den eine Klasse (d.h. eine Menge von Elementen mit mindestens einem gemeinsamen Merkmal) charakterisiert wird; Bsp.: [belebt / unbelebt], [menschlich / tierisch], [direktional / lokal]. Über das Klassem lässt sich auch angeben, in Verbindung mit welchen anderen Lexemen ein Lexem verwendet werden kann oder darf (Bsp.: standardsprachlich dt. essen für Menschen, fressen für Tiere; vgl. hier jedoch für das Russische die fehlende Unterscheidung nach dem Klassem [menschlich / tierisch]). Kommt es bei der Kombination von zwei oder mehreren lexikalischen Elementen zu semantischen Konflikten und zu inakzeptablen Äußerungen, so spricht man von Kollokationsbeschränkungen ( ограничение на коллокации ), denen bestimmte Lexeme unterliegen, d.h. diese Lexeme können nicht in Verbindung mit den semantisch mit ihnen unvereinbaren anderen Lexemen verwendet werden. Als Ausnahme dieser Kollokationsbeschränkungen gilt die metaphorische Bedeutung bzw. Verwendungsweise. Ein lexikalisch-semantisches Paradigma ist beispielsweise die Menge aller Bezeichnungen zur Nahrungsaufnahme, das dann nach definierten Klassemen und Sememen analysiert und in einer Matrix dargestellt werden kann: [von Festem] [von Flüssigem] Semem Klassem dt. russ. dt. russ. [Mensch] essen есть trinken пить [Tier] fressen есть saufen пить Abbildung 32: Lexikalisch-semantisches Paradigma Literatur: A PRESJAN , J U . D.: Leksi č eskaja semantika. Sinonimi č eskie sredstva jazyka. Moskva 1974. (neu un ter dem Titel: DERS .: Izbrannye trudy, tom I: Leksi č eskaja semantika. Sinonimi č eskie sredstva jazyka. 2-e izd., ispr. i dop. Moskva 1995.) A RUTJUNOVA , N. D.: K probleme funkcional’nych tipov leksi č eskogo zna č enija. In: Aspekty se manti č eskich issledovanij. Moskva 1980. S. 156-249. C HAFE , W. L.: Meaning and the structure of language. Chicago, London 1970. G AK , V. G.: K dialektike semanti č eskich otnošenij v jazyke. In: Principy i metody semanti č eskich issledovanij. Moskva 1976. S. 73-92. K OBOZEVA , I. M.: Lingvisti č eskaja semantika. Moskva 2007. <?page no="185"?> Semantik 179 K UBRJAKOVA , E. S.: Semantika proizvodnogo slova. In: Aspekty semanti č eskich issledovanij. Mo skva 1980. S. 81-154. L UTZEIER , P ETER R OLF : Linguistische Semantik. Stuttgart 1985. M AL ’ CEV , V. I.: Leksi č eskoe zna č enie i ponjatie. In: Problema znaka i zna č enie. Moskva 1963. S. 93-102. P ADU Č EVA , E. V.: Semanti č eskie issledovanija: Semantika vremeni i vida v russkom jazyke. Se mantika narrativa. Moskva 1996. S CHMIDT , W.: Lexikalische und aktuelle Bedeutung. Ein Beitrag zur Theorie der Wortbedeutung. 5., unveränd. Aufl. Berlin 1986. S GALL , P.: Semantik und Pragmatik als zwei Aspekte der Bedeutung. In: Semantik und Überset zungswissenschaft. Materialien der III. Internationalen Konferenz. Grundfragen der Überset zungswissenschaft. Hrsg. von G. Jäger und A. Neubert. Red.: D. Müller. Leipzig 1983. S. 7-16. S USOV , I. P.: Semantika i pragmatika predloženija. Kalinin 1980. U FIMCEVA , A. A.: Leksi č eskoe zna č enie. Princip semiologi č eskogo opisanija leksiki. Moskva 1986. U LUCHANOV , I. S.: Slovoobrazovatel’naja semantika v russkom jazyke i principy ee opisanija. Moskva 1977. V EŽBICKAJA , A NNA : Semanti č eskie universalii i opisanie jazykov: Grammati č eskaja semantika. Klju č evye koncepty kul’tur. Scenarii povedenija. Moskva 1999. 13.10.2 Beziehungen sprachlicher Zeichen Sprachliche Zeichen stehen entweder in einem syntagmatischen oder in einem paradigmatischen Verhältnis zueinander: • syntagmatisch ( синтагматический ): diejenigen Beziehungen, die zwischen den Einheiten einer gegebenen Äußerung bestehen; Bsp.: Эти две книги не при надлежат мне : Syntagmatische Beziehungen bestehen zwischen dem (erweiterten) Subjekt эти две книги und dem Prädikat принадлежат (beide Plural), ebenso zwischen эти und книги , die jeweils im Plural stehen; syntagmatische Beziehungen sind Beziehungen zwischen den Elementen, die zur Redekette gefügt werden können, die im Kontext gemeinsam vorkommen oder vorkommen können (Kompatibilität). Die syntagmatische Relation steht in enger Beziehung zur parole, da sie nur in konkreten Texten feststellbar ist. • paradigmatisch ( парадигматический ): diejenigen Beziehungen, die zwischen Einheiten bestehen, welche aufgrund gemeinsamer Eigenschaften an derselben Stelle einer sprachlichen Äußerung (d.h. in der Redekette) stehen können; Bsp.: Я читаю роман / повесть / газету / сказку . Aufgrund ihrer gleichartigen Eigenschaften sind sie gegeneinander austauschbar, müssen jedoch nicht zwingend derselben Wortart angehören: Я работаю очень редко / изо дня в день / охотно / с коллегой / под открытым небом . Wie Sie sehen, geht es hier außer um formale Eigenschaften auch um semantische, jedoch ist für die Austauschbarkeit bei den paradigmatischen Beziehungen keineswegs das Kriterium der lexikalischen Synonymität von Bedeutung. Die paradigmatische Relation steht in enger Beziehung zur langue, da die Austauschbarkeit systembezogen und potentiell (d.h. vom Sprachsystem vorgegeben) ist. <?page no="186"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 180 Die Adjektive paradigmatisch und syntagmatisch sind abgeleitet von den Substantiven Paradigma und Syntagma. Unter einem Paradigma ( парадигма ) versteht man ein Flexionsmuster, die Gesamtheit der Vorkommensformen eines Wortes, die sich als morphologisch und syntaktisch bestimmte Formen aus dem Lexem ableiten lassen. Paradigmen sind v.a. Deklinations- und Konjugationsschemata (Bezugspunkt zur Morphologie! ). Im Paradigma sind diejenigen Einheiten zusammengefasst, die aufgrund spezifischer semantischer und formaler Merkmale die gleiche Stelle in der syntaktischen Struktur besetzen können. Setzt sich ein Paradigma aus sprachlichen Einheiten zusammen, die auf unterschiedliche Wortstämme zurückgehen, so spricht man von Suppletion ( супплеция ) oder Suppletivismus. Ein Syntagma ( синтагма ) ist eine binäre Struktur, die aus einem determinierenden und einem determinierten Glied besteht. Glieder eines Syntagmas können sowohl Wörter und Wortgruppen als auch Morpheme (z.B. Suffixe) sein; Bsp.: мой отец : мой = determinierend, отец = determiniert. ... брат шофёр коллега ... в город . в магазин . на концерт . Мой отец идёт домой . Paradigmatik Наш Её ... едет бежит … Syntagmatik Abbildung 33: Syntagmatik und Paradigmatik Unter Abstrahierung von Einzeltexten und durch Zusammenfassung aller möglicher Vorkommensumgebungen erhält man die Distribution ( дистрибуция ) oder Verteilung eines Elements. Die Distribution sprachlicher Einheiten, die der Forschungsrichtung des Distributionalismus ihren Namen gab, lässt sich nicht nur für Lexeme darstellen, sondern bereits für die Phone als die kleinste Beschreibungsebene der Sprache, ebenso wie für die Morphe als die nächstgrößere Einheit. 80 13.10.3 Semantische Rollen Unter semantischen Rollen (andere Bezeichnungen, die nicht immer zu 100% deckungsgleich sein müssen, sind: thematische Rollen, thematische Relationen, Kasusrollen, Tiefenkasus, Theta-Rolle; тематическая роль ) versteht man eine Bedeutungsfunktion eines Satzteils in Bezug auf den ganzen Satz (bzw. dessen Proposition). Mit der Theorie dieser nicht mehr syntaktisch definierten semantischen Rollen beschäftigen sich die Kasusgrammatik, die Satzsemantik und die Functional 80 Näheres zu den einzelnen Distributionstypen und zum Distributionalismus u.a. bei G LÜCK 2000: 166f. <?page no="187"?> Semantik 181 Grammar. Der Begriff der semantischen Rolle ist vergleichsweise neu (seit Ende der 60er Jahre des 20. Jh.) und steht außerhalb der Klassifikationen der traditionellen Grammatikmodelle. Es geht, vereinfacht gesprochen, darum, die syntaktischen Verhältnisse der einzelnen Satzglieder zueinander mithilfe semantischer Größen zu beschreiben. Derartige Bestrebungen sind im Kontext der - bislang erfolglosen - Bemühungen zu sehen, eine sogenannte Universalgrammatik zu schaffen, in der sich alle Sprachen wiederfinden könnten. Eine Legitimierung der tatsächlichen oder unterstellten Universalität der semantischen Rollen wird über die Kognition des Menschen versucht, die bei allen Individuen in ihren Grundzügen gleich sei. Im Rahmen einer Universalgrammatik soll dann auch wieder ein stärkerer Zusammenhang von Syntax und Semantik hergestellt werden (Generative Semantik, Kasusgrammatik). Die Kasusgrammatik (erstes großes Werk: The Case for Case von C HARLES F ILLMORE , 1968 81 ) unterscheidet zwischen den sogenannten Oberflächenkasus ( поверхностный падеж ; Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) und den Tiefenkasus ( глубинный падеж ; Agentiv, Instrumental, Dativ, Faktiv, Lokativ und Objektiv). Letztere beschreiben die semantischen Beziehungen der verschiedenen Nominalphrasen, die hauptsächlich durch ein Verb vorgegeben sind, während Erstere die typischen, formal ausgeprägten Kasus zur Beschreibung von Subjekts- und Objektsverhältnissen darstellen. Ein Beispiel aus dem Russischen: a) Мария режет хлеб ножом . b) Нож режет хлеб . In Satz a) steht Мария als Subjekt des Satzes im Nominativ, ножом als Ergänzung im präpositionslosen Instrumental (hier Ausdruck des Mittels). In Satz b) steht нож als Subjekt im Nominativ. Хлеб ist in beiden Fällen das direkte Objekt im Akkusativ. Dies sind jeweils die Oberflächenkasus. Die Verteilung der Tiefenkasus ist wie folgt: In a) und b) ist нож semantisch gesehen der Instrumental (IN; auch wenn es, wie in b), als Subjekt formal im Nominativ steht), da es ja nicht selbst handelt, sondern als Instrument verwendet wird. Мария in Satz a) ist der die Handlung ausführende Agentiv (AG; Agens, Aktor, Handelnder), хлеб ist in beiden Sätzen das affizierte, d.h. von der ausgeübten Handlung betroffene Objekt (AOB). Weitere, in obigem Beispiel nicht vorkommende semantische Rollen sind beispielsweise: PAT (Patiens, Betroffener): Person, die von einer Handlung als Objekt betroffen ist; BEN (Benefaktiv, Nutznießer bzw. Geschädigter): Person, zu deren Nutzen oder Schaden eine Handlung ausgeführt wird; COM (Comitativ, Begleitender): Person, die zusammen mit dem Handelnden (AG) eine Handlung ausführt; EOB (Effiziertes Objekt, Resultat, Produkt): Person oder Sache, die durch eine Handlung oder einen Vorgang entsteht; CAU (Causativ, Ursache): Sachverhalt, der die Ursache für einen anderen Sachverhalt darstellt, auch als kausale Verknüpfung; PO (Possessiv, Besitz): etwas, das im Besitz von jemandem ist oder in seiner Verfügungsmacht; LOC (Locativ, Ort, Raum): Ort oder Raum, in dem ein Sachverhalt geschieht; DIR (Direktiv, Ziel): Ort oder Raum, wohin eine Handlung oder ein Vorgang gerichtet ist; TE (Temporativ, Zeit): Zeitpunkt oder -raum, in dem eine Handlung oder ein Vorgang geschieht, bzw. ein Zustand der Fall ist. Die Zuordnung der einzelnen Satz- 81 Erschienen in: B ACH , E MMON ; H ARMS , R OBERT T. (eds.): Universals in linguistic theory. London et al. 1968. S. 1-88. <?page no="188"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 182 elemente zu dieser oder jener Kategorie gestaltet sich am Anfang recht schwierig, weil wir uns von unseren traditionellen, von der Schulgrammatik vermittelten und syntaxbasierten Denkmustern lösen und den Satz unter rein semantischen Gesichtspunkten analysieren müssen. Zudem existiert bisweilen keine klare Trennungslinie zwischen den einzelnen Rollen, so dass es zu Überschneidungen und Vermischungen kommen kann. Betrachten wir hierzu noch einen Beispielsatz: Дверь открывается . Formal, d.h. an der Oberfläche der Satzstruktur, haben wir es bei дверь mit einem Subjekt im typischen Subjektskasus, dem Nominativ, zu tun. In der Kasusgrammatik wird dieses Element jedoch als Tiefenkasus Objektiv gedeutet, da es nicht selbst handelt (als Agentiv), sondern etwas ist, „das durch ein Nomen ausgedrückt werden kann und dessen Rolle in einer Handlung oder einem Zustand durch die semantische Interpretation des Verbs selbst identifizierbar ist“ (R AMERS 2000: 98). Das russische Verb открываться ist intransitiv und formal reflexiv, also nicht auf ein Objekt gerichtet, jedoch kann die Tür die Handlung des Sich-Öffnens nicht aus sich selbst heraus ausführen und braucht hierfür einen Anstoß von außen. Wir haben es also mit einer passivischen Konstruktion zu tun. Mit der Dependenzgrammatik T ESNIÈRE s hat dieses semantisch orientierte Modell die Prädikatenzentriertheit gemeinsam: Als zentrales, den Satz strukturierendes Element wird das Prädikat betrachtet. Literatur: F ILLMORE , C H . J.: The Case for Case. In: Universals in Linguistic Theorie. London 1968. S. 1-88. F ILLMORE , C H .: The case for case reopened. In: Syntax and semantics. V. 8, New York etc. 1977, S. 59-81. K ACNEL ’ SON , S. D.: Zametki o padežnoj teorii Ch. Fillmora. In: Voprosy jazykoznanija. Moskva 1988, N. 1. S. 110-117. R AMERS , K ARL H EINZ : Einführung in die Syntax. München 2000. R AUH , G ISA : Tiefenkasus, thematische Relationen und Thetarollen. Die Entwicklung einer Theorie von semantischen Relationen. Tübingen 1988. W IERZBICKA , A.: The case for surface case. Ann Arbor 1980. 13.11 Pragmatik Die Pragmatik ( паргматика ) hat starke Affinitäten zur allgemeinen Zeichenlehre (Semiotik, семиотика ), da sie ebenfalls zeichenorientiert ist, indem sie die Zeichenverwendung durch den Zeichenbenutzer untersucht. Sie geht damit über den engeren Bereich der Sprache an sich hinaus und unterscheidet sich so in charakteristischer Weise von den übrigen Teildisziplinen der Sprachwissenschaft, die innersprachlich arbeiten. Vier Ebenen des Zeichens und seiner Relationen (und damit vier Forschungsdisziplinen) können unterschieden werden: • Zeichen + Zeichen Syntax • Zeichen + Bedeutung (gedankliches Abbild) Semantik • Zeichen + Zeichenbenutzer Pragmatik • Zeichen + bezeichnetes Objekt der Wirklichkeit Sigmatik <?page no="189"?> Pragmatik 183 Ein Wegbereiter der Pragmatik war der englische (Sprach-)Philosoph P AUL G RICE (1913-88), der die nach ihm benannten Konversationsmaximen aufstellte. Für eine gelungene Kommunikation verlangte er die Befolgung der vier Maximen der Quantität (Grad der Informativität einer Äußerung), Qualität (Wahrheitsgehalt einer Äußerung), Relevanz (notwendiger Bezug zur Konversation) und Modalität (Art und Weise; Vermeidung von Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten, Abschweifungen, Ungeordnetheit). Richtungsweisend waren seine Forschungen insbesondere für die Sprechakttheorie. Die Sprechhandlungstheorie oder Sprechakttheorie ( теория речевых актов ) ist die Theorie des Sprachgebrauchs durch den Sprachverwender. Sie hebt die traditionelle Abgrenzung von Handeln und Sprechen auf („Genug der Worte, jetzt muss gehandelt werden! “), indem sie auch das Sprechen (oder allgemeiner: die Sprachverwendung) als eine - spezifische - Art von Handlung ansieht. Diese Theorie basiert auf der in England entwickelten philosophischen Schule der Ordinary-Language- Philosophy, die sich darum bemühte, den philosophischen Diskurs sprachlich einfacher zu gestalten und so eindeutiger zu machen. Wegweisend waren hier die Arbeiten von L UDWIG W ITTGENSTEIN (1889-1951), J OHN L ANGSHAW A USTIN (1911- 1960; How To Do Things With Words, 1962 veröffentlicht, deutsch 1972 unter dem Titel Zur Theorie der Sprechakte) und G ILBERT R YLE (1900-1976) sowie ihrer Nachfolger, darunter v.a. J OHN R OGERS S EARLE und für die deutsche Sprache D IE - TER W UNDERLICH . Eine Sprechhandlung bezeichnet man auch als Sprechakt ( речевой акт ). Sprechakte lassen sich nach A USTIN in verschiedene Gruppen unterteilen: • lokutionäre Akte ( локутивный речевой акт ): Sie sind die Sprechhandlung, der Äußerungsakt an sich, also die Produktion einer Äußerung, noch ohne Berücksichtigung des angestrebten kommunikativen Ziels. Sobald wir etwas äußern, führen wir also einen lokutionären Akt aus. • illokutionäre Akte ( иллокутивный речевой акт ): Sie sind die Äußerung, die in einer bestimmten Situation einen bestimmten kommunikativen Zweck verfolgt. Jeder illokutionäre Akt unterliegt speziellen Handlungsbedingungen oder Rahmenbedingungen, die für die Durchführung einer Sprechhandlung erfüllt sein müssen. Diese Rahmenbedingungen können das soziale Verhältnis der Kommunikationspartner untereinander sein, die außersprachliche oder innersprachliche Sprechsituation o.ä. Auch sie werden von der Sprechhandlungstheorie untersucht. Als sequenzabhängig bezeichnet man illokutionäre Akte, die nur als Reaktion auf einen vorausgegangenen Akt sinnvoll sind (z.B. eine Verneinung auf eine zuvor gestellte Frage hin). Der lokutionäre Akt und der illokutionäre Akt werden gleichzeitig ausgeführt, jedoch nicht parallel, sondern als kausal-instrumentale indem-Beziehung: Indem der Äußerungsakt vollzogen wird, kommt es zu einem illokutionären Akt zur Erreichung eines speziellen kommunikativen Zwecks. • perlokutionäre Akte: ( перлокутивный речевой акт ): Sie sind im Wesentlichen das angestrebte und erreichte Ergebnis eines illokutionären Aktes. Er ist beispielsweise gegeben, wenn jemand eine Aufforderung oder Bitte Folge leistet oder auf eine Frage die erwünschte Antwort gibt. Ein perlokutionärer Akt liegt <?page no="190"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 184 somit nur dann vor, wenn die kommunikative Absicht verwirklicht wurde. Während beinahe jedem lokutionären Akt ein illokutionärer Akt zugrunde liegt (da er ja mit einer bestimmten Intention getätigt wurde), ist der Eintritt eines perlokutionären Effekts keineswegs immer gesichert (Beispiel: „Würden Sie für mich aus dem Fenster springen? “). Bestimmte illokutionäre Akte können nur durch einen lokutionären Akt realisiert werden, während ein perlokutionärer Effekt auch durchaus durch nonverbale Kommunikationsmittel erzielt werden kann. Die Sprechhandlung lässt sich unterteilen in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Sprechakte. Die hier vorgestellte Differenzierung entspricht also der ursprünglichen Dreiteilung von A USTIN , der unterschied nach Lokution ( локиция ; grammatisch-syntaktisch korrekte Satzstruktur, gebildet durch Lautbildungen, und eine Aussage), Illokution ( иллокуция ; Intention des Sprechers, gestützt durch Mimik, Gestik, Intonation) und Perlokution ( перлокуция ; beabsichtigte Wirkung beim Empfänger, ob dieser sie versteht und ob sie erreicht wird). G. G. M ATVEEVA führt hierzu in ihrer Arbeit Скрытые грамматические значения и идентификация социального лица (" портрета ") говорящего ( http: / / rspu.edu.ru/ projects/ deutch/ dis_3_13.html ) aus: „ Локуция - это акт произнесения высказывания с определенным смыслом и со отнесение высказывания с действительностью . В понятие смысла , входит про позиция , отражающая экстралингвистическую ситуацию и состоящая из преди кации приписывания характеристики и референции , т . е . отсылки к денотату . [...] Перлокуция отражает акт достижения определенного результата . Перлоку тивные акты всегда служили объектом рассмотрения риторики , которая , как известно , интересовалась прежде всего вопросами воздействия речью на чело века . Особым объектом рассмотрения ТРА ( теории речевых актов - T.B.) стала илло куция , под которой понимается акт использования высказывания для достиже ния цели с учетом условий его осуществления . Иллокутивный акт - это действие , при котором реализуется коммуникативное намерение . Оно со вершается человеком при произнесении высказывания в процессе речи . Дж . Остин приводил примеры иллокутивных актов , не давая определения самому понятию и не классифицируя иллокуции . Например , приводились высказыва ния побуждения , сообщения , спрашивания и т . д . При этом , руководствуясь своими целями , говорящий актуализирует одно из этих действий , обдуманно сообразуясь с условиями данного момента .“ Die Lokution gliedert sich dabei weiter in: • phonetischer Akt ( фонетический акт ): reine Erzeugung von Tönen (Vokale) und Geräuschen (Konsonanten), • phatischer Akt ( фатический акт ): die erzeugten Töne und Geräusche sind nicht wahllos, sondern durch Regeln erzeugt, die zur einer Grammatik gehören (innersprachlich), <?page no="191"?> Pragmatik 185 • rhetischer Akt ( ретический акт ): reference und sense ergeben meaning, es wird also eine Aussage mit Bezug auf die reale Welt gemacht (inner- und außersprachlich). Im Unterschied zu A USTIN gliedert J OHN R OGERS S EARLE (*1932; Speech Acts 1969, deutsch Sprechakte 1983) den rhetischen Akt (Proposition, пропозиция ), aus der Lokution aus und fügt ihn als einen eigenständigen Akt in der Abfolge zwischen Lokution und Illokution ein. Eine Sprechhandlung oder ein Sprechakt besteht demnach aus maximal vier Teilhandlungen, wobei die ersten drei in einer Kommunikation immer vorliegen müssen, die letzte, d.h. eine Perlokution, jedoch nicht. Die vier Teilakte lauten dann: • Lokution (grammatisch-syntaktisch korrekte Satzstruktur, erzeugt durch Lautbildungen), • Proposition (Aussage über die Welt, bestehend aus Referent (Subjekt) und Prädikation (Objekt)), • Illokution (Intention des Sprechers, gestützt durch Mimik, Gestik, Intonation), • Perlokution (beabsichtigte Wirkung beim Empfänger: ob dieser die Äußerung im Sinne des Senders versteht und ob die Wirkung eintritt). In Weiterentwicklung der Thesen A USTIN s untergliedert S EARLE die Sprechhandlung in lokutionäre, propositionale, illokutionäre und perlokutionäre Abschnitte. Eine Äußerung war nur dann erfolgreich und hat ihr Ziel erreicht, wenn die Teilhandlungen an sich erfolgreich waren. Die nötigen Bewertungen der Teilakte sind wie folgt: • Lokution: grammatisch korrekt / inkorrekt, • Proposition: möglich / nicht möglich, • Illokution: geglückt / missglückt, • Perlokution: erfolgreich / nicht erfolgreich. Einige Verben können performativ ( перформативный глагол ) gebraucht werden. Dies bedeutet, dass mit ihrer Verwendung die verbalisierte Handlung direkt selbst ausgeführt wird: „Hiermit taufe ich dich auf den Namen Maria.“ - „ Настоящим я крещу тебя Марией .“, „Ich muss Sie zur Ordnung rufen! “ - „ Я должен призать вас к порядку ! “, „Wir danken euch für euer tolles Geschenk.“ - „ Мы благодарим вас за ваш замечательный подарок .“ Eine detaillierte semantisch-kommunikative Klassifizierung der möglichen Sprechakte stammt von S EARLE , der eine Einteilung zunächst in 5 Großgruppen (Repräsentativa/ Assertiva, Direktiva, Kommissiva, Expressiva, Deklarativa) vornahm, die dann weiter differenziert wurden. Zur Klassifikation der Illokutionen verwendet S EARLE drei Kriterien: 1. illokutionärer Witz: der Zweck eines Sprechaktes, 2. Ausrichtung: in welchem Verhältnis stehen Welt und Worte zueinander: Richten sich die Worte nach der realen Welt (wie bei einer Beschreibung), oder soll sich die Welt nach den Worten richten (wie z.B. bei einem Befehl oder einem Versprechen)? <?page no="192"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 186 3. psychischer Zustand des Sprechers, der zum Ausdruck kommt: Auf welchem inneren Zustand gründet sich die Äußerung? Bei einer Beschreibung basiert sie z.B. darauf, dass der Sprecher glaubt, was er sagt. Es handelt sich um einen modalen Aspekt. Nach diesen drei Kriterien ergibt sich folgendes Bild: Repräsentativa Direktiva Kommissiva Expressiva Deklarativa Zweck sagen, wie es sich ver hält jemanden zu einer Hand lung/ Unterlas sung bewegen sich selbst auf eine Hand lung/ Unterlassung fest legen Ausdruck der eigenen Ge fühlslage mit dem Sa gen die Welt entsprechend dem Gesag ten verändern Aus rich tung Wort auf Welt Welt auf Wort Welt auf Wort keine beide psych. Zustand Glaube Wunsch Absicht Zustand Glaube Bei spiele behaupten, mitteilen, berichten bitten, befeh len, raten versprechen, vereinbaren, anbieten, dro hen danken, grü ßen, beglück wünschen, klagen ernennen, entlassen, taufen Ferner formulierte S EARLE einen Katalog von Bedingungen, die für einen geglückten illokutionären Akt erfüllt sein müssen (felicity conditions). Hierzu gehören die grundlegenden Bedingungen, die eine Kommunikation erst ermöglichen (preparatory conditions), und die Bedingung der Aufrichtigkeit (sincerity conditions), denen zufolge der beabsichtigte Effekt tatsächlich gewollt sein muss. Ein weiterer zentraler Forschungsbereich der Pragmatik (wie auch der Logik) sind die Präsuppositionen ( пресуппозиции ) als implizite, d.h. nicht explizit in einer Äußerung ausgedrückte Voraussetzungen für diese Äußerung. Präsuppositionen sind mithin Informationen, die in einer Äußerung „mitschwingen“, die mitgeliefert werden, ohne ausdrücklich benannt zu werden, die jedoch für die Begründetheit, für den Wahrheitsgehalt einer Aussage entscheidend sind. Ein Beispiel: У Ани сейчас каникулы . Dieser Satz hat zumindest die beiden Präsuppositionen „Anja existiert“ und „Anja ist Schülerin/ Studentin“, wobei die zweite Präsupposition zum einen direkt von der ersten abhängt und zum anderen durch Weltwissen begründet wird, da man eben nur bei Schülern und Studierenden von Ferien spricht, nicht aber bei Babys, Berufstätigen, Rentnern o.a. Dagegen wird nichts darüber ausgesagt bzw. präsupponiert, wie Anja ihr Leben finanziert, ob sie beispielsweise arbeiten geht oder von ihren Eltern finanziell unterstützt wird. Аня ходит на работу oder Аня - миллионер sind also keine Präsuppositionen der genannten Aussage. Das Vorliegen einer Präsupposition wird mit Hilfe des Präsuppositionstests überprüft: „Der P. ermöglicht die Abgrenzung von Präsuppositionen von z.B. Folgerungen, Konversationsmaximen und Implikationen. Eine Voraussetzung ist nur dann eine Präsupposition einer Aussage, wenn diese Voraussetzung auch noch nach der Negation dieser <?page no="193"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 187 Aussage besteht“ (G LÜCK 2000: 546). Verneinen wir obige Aussage zu У Ани сей час нет каникул , so bleiben die beiden Präsuppositionen hiervon unberührt. Literatur: B OGDANOV , V. V.: Klassifikacija re č evych aktov. In: Li č nostnye aspekty jazykovogo obš č enija. Kalinin 1989. S. 25-37. B OGDANOV , V. V.: Re č evoe obš č enie. Pragmati č eskie i semanti č eskie aspekty. U č ebnoe posobie. Leningrad 1990. B RAUNROTH , M ANFRED ; S EYFERT , G ERNOT ; S IEGEL , K ARSTEN ; V AHLE , F RITZ : Ansätze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik. Kronberg/ Ts. 2 1978. G RICE , H. P AUL : Logik und Konversation. In: M EGGLE , G EORG (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt a.M. 1993. S. 243-265. H INDELANG , G ÖTZ : Einführung in die Sprechakttheorie. Tübingen 1983. K USSMAUL , P AUL : Sprechakttheorie. Ein Reader. Wiesbaden 1980. O STIN , D Ž . L.: Slovo kak dejstvie. In: Novoe v zarubežnoj lingvistike. Vyp. XVII. Teorija re č evych aktov. Pod red. B. Ju. Gorodeckogo. Moskva 1986. S. 22-129. S ERL ’, D Ž . R.: Klassifikacija illokutivnych aktov. In: Novoe v zarubežnoj lingvistike. Vyp. XVII. Teorija re č evych aktov. Pod obš č . red. B. Ju. Gorodeckogo. Moskva 1986. S. 170-192. S USOV , I. P.: Semantika i pragmatika predloženija. Kalinin 1980. S USOV , I. P.: Semiotika i lingvisti č eskaja pragmatika. In: Jazyk, diskurs i li č nost’. Tver’ 1990. 13.12 Linguistische Kategorien im Vergleich Die Systemhaftigkeit der Sprache erlaubt - und erfordert - es, die Masse ihrer Elemente nach bestimmten, sprachimmanenten Kriterien zu ordnen. Die sich hierbei ergebenden Kategorien weisen naturgemäß bestimmte Berührungspunkte auf, sind jedoch keinesfalls deckungsgleich oder identisch und müssen insofern deutlich auseinander gehalten werden. Folgende Kategorien werden traditionell differenziert: 13.12.1 Morphologische Kategorien Hier ist zunächst nach dem nominalen und dem verbalen Bereich zu trennen, die jeweils spezifische Kategorien aufweisen. Elemente des nominalen Bereichs werden gemäß den folgenden Kriterien dekli niert: • Ka sus (Plural: Kasus; Fall; п  а  деж ): Das Altkirchenslavische besaß, in Analogie zum Altgriechischen, 7 Fälle: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ, Vokativ. Dieses Kasussystem veränderte sich in den slavischen Einzelsprachen mehr oder weniger stark, bis hin zur weitgehenden Aufgabe dieser Kategorie im Bulgarischen. Der urindogermanische Vokativ als spezieller Anredekasus hat sich bei den slavischen Sprachen als eigene Kategorie im Russischen und Slowakischen nicht mehr erhalten, wohl aber in den anderen Slavinen. Wo der Vokativ nicht erhalten ist, tritt üblicherweise der Nominativ an seine Stelle. Auch für andere Fälle gilt, dass im Laufe der Sprachgeschichte Reorganisationen des Kasussystems vorkamen, dass also bestimmte Funktionen von einem auf einen anderen Kasus übergehen konnten, was in letzter Konsequenz zum Verschwinden des funktionell entlasteten Kasus führen konnte. <?page no="194"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 188 Von der „normalen“ Kasusverwendung ist der absolute Kasusgebrauch zu unterscheiden. Bei Letzterem handelt es sich um die Verbindung eines nominalen Ausdrucks mit einer infiniten Verbform (meist einem Partizip) zur Bildung von satzwertigen Phrasen (die dann in der Übersetzung oft durch einen Nebensatz oder eine Satzreihe bei passender lexikalischer Ergänzung, wie adverbiellen Ausdrücken, aufgelöst werden). Entscheidend ist, dass das Agens des infinitven Verbs nicht mit dem Subjekt des finiten Verbs identisch ist; es gibt also zwei Handlungsträger: den des Hauptsatzes und den des verkürzten Nebensatzes in Form des absoluten Kasus. Dieser steht außerhalb der syntaktischen Struktur des Satzes und wird oft nur durch ein Komma abgetrennt. Bekannt ist für das Altkirchenslavische der dativus absolutus. Mit der englischen Bezeichnung quirky case und den Entsprechungen lexikalischer Kasus bzw. лексический падеж meint man einen Dativ oder Akkusativ in Subjektposition, was im Deutschen in älteren oder dialektalen Formen noch heute zu beobachten ist: Mich friert. Mich dünkt, er hat den Verstand verloren. Der dativus ethicus ist eine besondere Verwendungsweise des 3. Falles: Er ist als freier Dativ beschränkt auf die Personalpronomina der 1. Pers. und hat eine emotional-verstärkende Funktion (Dass du mir/ uns nur nicht krank wirst! ). Forschungsarbeiten zu entsprechenden Phänomenen im Russischen existieren m.W. bislang nicht. Der Kasus wird bisweilen auch als morphosyntaktische Kategorie bezeichnet, da er sich einerseits morphologisch durch einen bestimmten Formenbestand äußert und sich andererseits bis zu einem gewissen Grad syntaktisch auswirkt bzw. durch syntaktische Vorgaben determiniert wird. • Numerus (Plural: Numeri; Zahl; число ): Singular und Plural, daneben im Slavischen diachron verallgemeinert (siehe Altkirchenslavisch) und synchron nur noch vereinzelt (im Slowenischen und Sorbischen) der Dual (Zweizahl). Auch andere Sprachfamilien kannten und kennen die Kategorie des Duals. 82 Diese Quantitätsbezeichnung wurde ursprünglich für bei Lebewesen paarweise auftretende Objekte (Körperteile, dann auch Bekleidungsstücke: очи , уши , брюки ) verwendet, später weitete sich der Gebrauch analog auch auf andere paarige Gegenstände aus ( ножницы ), um schließlich auch bei Bezeichnungen Verwendung zu finden, die überhaupt nichts Paariges mehr an sich haben. Substantive, die nur in der Singularform verwendet werden, heißen Singulare tantum (Pl. Singularia tantum; so auch im Russischen), entsprechend werden nur im Plural verwendete Substantive Plurale tantum (Pl. Pluralia tantum; so auch im Russischen) genannt. Typische Vertreter der Singularia tantum sind unzählbare Konkreta, Abstrakta (darunter im Deutschen viele auf -heit/ -keit, im Russischen auf ость usw.), substantivierte Infinitive, chemische Elemente, singulär existierende Dinge. Nicht zu den Singularia tantum im engeren Sinne zählen jene Substantive, die zwar in ihrer Hauptbedeutung nur im Singular auftreten ( глу - 82 Die meisten indoeuropäischen Sprachen haben das Dualparadigma im Laufe der Geschichte durch das umfassendere, in semantischer Hinsicht jedoch unpräzisere Pluralparadigma ersetzt; beispielsweise im Griechischen und im Gotischen blieb es jedoch erhalten und kam dann über das Griechische und damit auch über das Altkirchenslavische in die einzelnen Slavinen. <?page no="195"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 189 пость , песок ), die aber in einer Nebenbedeutung auch die Pluralform bilden können: глупости , пески . Die pluralische Verwendung von ansonsten nur im Singular auftretenden Substantiven hat oft fachsprachlichen Bezug. Besteht die Notwendigkeit, ein Plurale tantum singulativischindividualisierend zu gebrauchen, so können in diesen Fällen, je nach Sprache, Kompositions- oder Derivationsbildungen oder die Bildung von Wortfügungen Abhilfe schaffen: Ferien Ferientag, каникулы каникулярный день (offiz.), один день каникул (ugs.). • Genus (Plural: Genera; Geschlecht; род ): Unterschieden werden Maskulinum, Femininum und Neutrum. Einzelsprachlich ist zu differenzieren, wie und mit welchen Formen die Verteilung von grammatischem Genus und dem hiermit nicht gleichzusetzenden natürlichen Geschlecht erfolgt. Üblicherweise ist jedes nominale Element Träger eines eindeutigen Genus, allerdings gibt es Ausnahmen: Vom sog. Genus commune ( общий род ) spricht man bei einigen, überwiegend emotional gefärbten, Substantiven, die formal zwar ein bestimmtes Genus (in der großen Mehrheit das feminine) aufweisen, das sich aber sowohl auf das maskuline als auch auf das feminine Geschlecht beziehen kann (z.B. russ. сирота ‚der/ die Waise’, умница ‚schlauer Mensch, kluger Kopf; braves Kind’, грязнуля ‚Schmutzfink’, растяпа ‚Tolpatsch’, недотрога ‚Mimose’, коллега , молодец , daneben indeklinable Familiennamen wie Макаренко , Малых ). Nur die mit diesen Wörtern kongruierenden Begleiter wie Adjektive, Pronomen und Verben zeigen das natürliche Geschlecht der bezeichneten Person an: Пришёл наш новый коллега . Она - врач . Nicht feminin, sondern sächlich ist das belebte дитя (ebenso das diminutive дитятко ), was auch formal zum Ausdruck kommt: Маленькое дитя вошло в комнату (vgl. dt. das Kind). Nicht zu dieser Gruppe von Substantiven werden von einigen Linguisten etwa folgende Berufsbezeichnungen gezählt, bei denen allerdings auch unter Muttersprachlern Unsicherheiten zu beobachten sind: врач , социолог , профессор , архитектор , депутат , экскурсовод , автор usw. Eine Disambiguierung kann durch den Zusatz женщина erfolgen: женщина социолог . Umgekehrt müssen mit einem Maskulinum nicht zwangsläufig nur männliche Objekte der außersprachlichen Wirklichkeit benannt werden, vgl. als sog. generisches Maskulinum den Ausdruck die Studenten, womit üblicherweise auch die - definitiv weiblichen - Studentinnen bezeichnet werden. Vom sog. парный род spricht man bei Substantiven, die nur paarweise vorkommen: брюки , ботинки , штаны , ножницы . Mit Fragen der Genusverwendung beschäftigt sich u.a. die Genderlinguistik. • Belebtheit ( одушевлённость ): Eine typische Kategorie slavischer Sprachen, die den außersprachlichen Sachverhalt der Unterscheidung nach Belebtem und Unbelebtem morphologisch widerspiegelt, ist die Belebtheitskategorie. So ist beispielsweise im Russischen, wie auch in anderen slavischen Sprachen, der Akkusativ Singular männlicher Nomen gleich dem Genitiv, wenn es belebt ist, und gleich dem Nominativ, wenn es unbelebt ist. Im Plural wird nicht mehr nach dem Genus unterschieden; hier gilt für alle belebten Nomen, dass der Akkusativ formal mit dem Genitiv zusammenfällt. • Steigerung ( изменение по степеням сравнения ): Es existieren die drei Stufen Positiv - Komparativ - Superlativ. Der synthetische Komparativ ( крупный <?page no="196"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 190 крупнее , толстый толще ) weist keine Kongruenz zum übergeordneten Substantiv auf, beim analytischen Komparativ kongruiert das Grundadjektiv ( более толстый человек , более толстого человека , более толстому человеку ); ebenso verhalten sich der synthetische Superlativ (( наи ) толстейший человек , ( наи ) толстейшего человека , ( наи ) толстейшему человеку ) und der analytische Superlativ ( самый толстый человек , самого толстого человека , само му толстому человеку , aber наиболее толстый человек , наиболее толстого человека , наиболее толстому человеку ). Zu den drei genannten Steigerungsstufen kommt der sogenannte Elativ hinzu, der ein sehr hohes Maß einer Qualität, jedoch keinen Vergleich ausdrückt (er ist extrem dumm, das ist aber sehr teuer, dieses Auto fährt unglaublich schnell, zur vollen Zufriedenheit; он страшно глуп , это весьма дорого , эта машина едет невероятно быстро , вполне удовлетворительно ). Eine elativische Steigerung kann im Russischen mit dem Präfix пре bzw. mit пре - und der Reduplizierung der Grundform des Adjektivs erfolgen: милый премилый . Keine direkte Entsprechung im Russischen hat der deutsche unechte Komparativ oder Komparativ der subjektiven Wertung (eine größere Menge Geld, eine ältere Dame), der letztlich, trotz der Steigerung, ein geringeres Maß im Vergleich zum Positiv des Adjektivs ausdrückt: größer ist nicht so groß wie groß (aber größer als klein), älter nicht so alt wie alt (aber älter als jung). Als Äquivalente müssen hier andere lexikalische Mittel eingesetzt werden, wie etwa die Negation des entsprechenden Antonyms: немалая сумма , немолодая женщина . Gegeben ist die Steigerungsfähigkeit lediglich bei den Adjektiven und Adverbien. 83 Über die Möglichkeiten und Verwendungsweisen der analytischen und synthetischen Bildung von Komparativ und Superlativ informieren ausführlicher die russischen Grammatiken. Elemente des verbalen Bereichs werden gemäß den folgenden Kriterien flektiert: • Person ( лицо ): Im Singular und Plural des Präsens und des synthetischen (einfachen) Futurs werden üblicherweise je 3 Personen unterschieden: иду , идёшь , идёт ; идём , идёте , идут . Beim analytischen (zusammengesetzten) Futur ist die Form des Hilfsverbs Träger der Personenmarkierung: буду / будешь / будет / будем / будете / будут читать . • Genus: In den Verbalformen der Vergangenheit wird im Singular auch das Genus markiert: шёл , шла , шло . Im Plural entfällt dieses Merkmal: шли . Eine Genusmarkierung ist ebenso vorhanden bei den Singular-Partizipialformen des Aktivs und des Passivs im Präsens und Präteritum: работающий , ая , ее ; иско мый , ая , ое ; проигравший , ая , ее ; прочитанный , ая , ое . • Numerus: Mit dem Verschwinden des Duals blieb im Russischen auch im verbalen Bereich nur noch die Zweiteilung in Singular und Plural bestehen. Im Gegensatz zu einigen der anderen Merkmale zieht sich diese Differenzierung durch den gesamten Formenbestand des Verbs. 83 Nicht mit dieser Art der Steigerung zu verwechseln ist die Möglichkeit, einen außersprachlichen Sachverhalt (wie etwa Alter, Temperatur etc.) durch verschiedene lexikalische Einheiten gestuft wiederzugeben. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Antonymie. <?page no="197"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 191 • Kasus: Eine Kasusmarkierung ist nur bei den Partizipialformen des Aktivs und des Passivs gegeben, entfällt jedoch bei den reinen Temporalformen. • Tempus ( время ): Das Tempus (Plural: Tempora) gibt an, in welcher Zeit der Sprecher das Besprochene (d.h. die sog. Proposition) situiert. Die Entwicklung des Tempussystems verlief, ausgehend vom Altkirchenslavischen, in den slavischen Einzelsprachen sehr unterschiedlich. Zu differenzieren sind jedenfalls die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von den konkreten, sie vertretenden absoluten Tempora (Plusquamperfekt, Präteritum/ Imperfekt, Präsens, Futur usw.) und den relativen Partizipialformen der Verben, die lediglich ein Zeitverhältnis zur Haupthandlung ausdrücken (Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit, Nachzeitigkeit). Letzteres gilt auch für die Adverbialpartizipien (Verbaladverbien), die aus dem Formenbestand des russischen Verbs lediglich den Aspekt (unvollendet / vollendet) sowie das Genus verbi (Aktiv / Reflexiv) zum Ausdruck bringen und sich ansonsten wie Adverbien verhalten, wobei sie unveränderlich und somit auch nicht steigerbar sind. Die unvollendeten Formen ( читая , стоя ) drücken die Gleichzeitigkeit mit der Haupthandlung aus, die vollendeten Formen ( посту чав ( ши ), возвратившись ) entsprechend die Vorzeitigkeit. Ferner sind z.T. einzelsprachliche, z.T. sprachübergreifende Besonderheiten im Tempusgebrauch zu beachten (Bsp.: historisches Präsens: Иду я вчера в ки но , и вдруг ...; futurisches Präsens: Завтра я лечу в Москву ; gnomisches/ episches Präsens (zum Ausdruck von Allgemeingültigem): Солнце восходит на востоке , а заходит на западе usw.). In den indogermanischen Sprachen dient das Verb typischerweise dem Ausdruck des Tempus 84 ; andere Sprachen, wie beispielsweise das Chinesische, bedienen sich anderer Formmittel (Zeitadverbien, Adverbialsätze). • Modus (Plural: Modi; наклонение ): Unterschieden werden Indikativ, Konjunktiv und Imperativ (fallweise ein Optativ als spezieller Wunschmodus, der mit dem Konjunktiv zusammenfallen kann, sowie ein Adhortativ als Modus der Aufforderung zu einer gemeinsamen Handlung, die jedoch beide morphologisch oft nicht ausgeprägt sind, d.h. keinen eigenen Formenbestand besitzen). Sie ermöglichen es dem Sprecher, der Handlung subjektiv einen unterschiedlichen Grad an Realität zuzuweisen. Nicht zu verwechseln mit dem Modus ist die Modalität, die keine Eigenschaft des Verbs, sondern des ganzen Satzes darstellt und die Proposition auf die außersprachliche Wirklichkeit bezieht (vgl. Kap. 13.12.4). • Genus verbi oder Diathese ( залог , залоговость ): Hier stehen sich traditionell Aktiv und Passiv gegenüber, es existieren jedoch, je nach Sprache, noch weitere Kategorien wie etwa Reflexiv, Kausativ/ Faktitiv 85 . Der Kausativ drückt aus, dass Agens 1 Agens 2 dazu veranlasst, eine Handlung auszuführen. Vgl. z.B. im Deutschen folgende Gegenüberstellung intransitiver und kausativer Verben mit ihren russischen Äquivalenten: aufwachen - aufwecken ( просыпаться , про буждаться - ( раз ) будить ), fallen - fällen ( падать - валить , рубить ), fließen - flößen ( течь , литься - сплавлять ), liegen - legen ( лежать - класть , поло - 84 Darüber hinaus bietet das funktional-semantische Feld der Temporalität noch etliche weitere Möglichkeiten, die Proposition zeitlich zu determinieren. 85 Unterscheidet man Kausativ und Faktitiv, so bedeutet der Kausativ „Veranlassen“ und der Faktitiv „Bewirken“. <?page no="198"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 192 жить u.a.), sinken - senken ( падать , опускаться , понижаться - наклонять , опускать , снижать u.a.), sitzen - setzen ( сидеть - сажать ; ( по ) ставить , положить u.a.), springen - sprengen ( прыгать , скакать - взрывать ), trinken - tränken ( пить - поить ; пропитывать ). Es fällt auf, dass etliche der intransitiven Verben im Russischen das Postfix ся aufweisen. In verschiedenen Sprachen können passivische und reflexive Konstruktionen formal zusammenfallen (siehe russ. мыться ‚sich waschen’ - ‚gewaschen werden’; lat. Petra movetur. ‚Der Stein bewegt sich’ - ‚Der Stein wird bewegt.’ Hier kann nur der Kontext darüber entscheiden, ob der Stein das logische Subjekt oder das logische Objekt des Satzes ist.). Zu beachten ist, dass ein Passiv nur von transitiven Verben gebildet werden kann und nie von reflexiven. Manche Autoren unterscheiden Reflexivverben von bloßen Reflexivformen eines an sich nichtreflexiven Verbs: erstere besitzen eine im Verhältnis zum nichtreflexiven Verb andere Bedeutung ( учиться vs. учить ), letztere lassen den Bedeutungskern unverändert ( пис ´аться vs. пис ´´ать : роман пишется автором - автор пишет роман ). Hierbei entstehen entweder Passivformen (s. Bsp.) oder unpersönliche Formen: рабо таться : Мне сегодня не работается . • Aspekt ( вид ): Die Kategorie des Verbalaspekts ist nicht in allen indogermanischen Sprachen überhaupt bzw. im gleichen Umfang zu finden, ist also wohl keine gemeinindogermanische Erscheinung mehr, sondern in späterer Zeit entstanden, als sich der (sprachliche) Kontakt zwischen den indogermanischen Völkern bereits gelockert hatte. Das slavische Verbum ist in der Regel einem der beiden Aspekte (unvollendet/ imperfektiv; совершенный вид , oder vollendet/ perfektiv; несовершенный вид ) zuzuordnen, wobei der imperfektive Aspekt als das sog. unmarkierte, merkmallose Glied der Aspektkorrelation gilt: er „sagt nichts über die unteilbare Ganzheit der Handlung aus, die der perfektive Aspekt charakterisiert.“ (C ONRAD 1984: 111) Eine Ausnahme bilden die sog. biaspektuellen Verben ( двувидовой глагол ), d.h. Verben, die nur mit einem Paradigma existieren, welches beide Aspekte vertritt ( жениться , казнить , велеть , исследовать , образовать , родить ; орга низовать , телефонировать ). Die vom System der slavischen Sprachen (hier des Russischen) erforderte Aktualisierung des Aspekts erfolgt dann durch den Kontext. Anders gelagert ist der Fall jener, als unpaarig bezeichneter Verben ( не парный глагол ), deren Semantik die Bildung von Aspektpartnern verhindert. Sie können auch als defektive, einaspektige Verben bezeichnet werden. Bei dieser Gruppe ist wiederum nach dem tatsächlich realisierten Aspekt zu unterscheiden: o nur im imperfektiven Aspekt gebrauchte Verben (Imperfektiva tantum) sind z.B. statale Verben, die im weiteren Sinne einen Zustand ausdrücken: зави сеть , значить , сидеть , соответствовать , нуждаться , предшество вать , присутствовать , состоять , стоить , участвовать ; o nur im perfektiven Aspekt gebrauchte Verben (Perfektiva tantum) sind z.B. Verben mit ingressiver Bedeutung zum Ausdruck des Handlungsbeginns ( стать , ринуться , пойти , поехать , закурить , заплакать ) sowie Verben mit delimitativer Bedeutung zum Ausdruck der zeitlichen Handlungsbegrenzung ( посидеть , поработать , поговорить ). <?page no="199"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 193 Suppletive Paradigmen, die sich aus Formen von zwei unterschiedlichen Verbalstämmen zusammensetzen, liegen bei folgenden Aspektpartnern (imperf./ perf.) vor: брать / взять ‚nehmen’, говорить / сказать ‚sagen’, класть / положить ‚legen’, ловить / поймать ‚fangen’, ложиться / лечь ‚sich hinlegen’, садиться / сесть ‚sich setzen’, становиться / стать ‚sich stellen; werden’. Als Doppelzeitwörter werden bisweilen die sog. Verben der Bewegung ( гла голы движения ) bezeichnet. Es handelt sich um 14 nichtpräfigierte Verbpaare des unvollendeten Aspekts, die eine bestimmte Art der Fortbewegung im wieteren Sinne ausdrücken. Im Unterschied zu den Aspektpartnern spricht man hier von indeterminierten (unbestimmten; ненаправленный глагол ) bzw. determinierten (bestimmten; однонаправленный глагол ) Verben. In alphabetischer Reihenfolge lauten die Paare (indeterm./ determ.): б´егать / беж´ ать ‚laufen’, бро д´ить / брест´и ‚schlendern’, вод´ить / вест´и ‚führen’, воз´ ить / везт´и ‚fahren (tr.)’, гон´ять / гнать ‚jagen’, ´ездить / ´ехать ‚fahren (intr.)’, кат´ать / кат´ить ‚rollen’, л´азить / лезть ‚klettern’, лет´ать / лет´ еть ‚fliegen’, нос´ить / нест´и ‚tragen, bringen’, пл´авать / плыть ‚schwimmen’, п´олзать / ползт´и ‚kriechen’, таск´ать / тащ´ ить ‚schleppen’, ход´ить / идт´и ‚gehen’. Die Kategorie des Aspekts bzw. die Korrelation von imperfektivem und perfektivem Aspekt gibt dem Sprecher die Möglichkeit, eine Handlung als unvollendet (d.h. im Verlauf befindlich) oder als vollendet (d.h. mit einem wie auch immer gearteten Resultat versehen) darzustellen. Entscheidend ist hierbei nicht der tatsächliche Verlauf der Handlung, sondern die Sichtweise des Sprechers auf sie und seine Absicht, wahlweise den Prozess an sich oder das (nicht) erreichte Ergebnis/ Ende hervorzuheben. Üblicherweise werden den beiden Aspekten folgende Verwendungsbereiche zugeordnet: perfektiver Aspekt: imperfektiver Aspekt: • eine momentane oder punktuelle Handlung • ein Resultat oder ein Effekt (die Handlung deutet auf das Ende eines Vorgangs) • eine inchoative, d.h beginnende Handlung, ohne Rücksicht auf das Resultat • eine durative, d.h. andauernde/ in ihrem Verlauf beschriebene Handlung, ohne Rücksicht auf Anfang und Ende • eine iterative, d.h. wiederholt oder re gelmäßig stattfindende Handlung, ohne Rücksicht auf Anfang und Ende des jeweiligen Handlungsabschnitts • eine inchoative Handlung, die eine Dau er anzeigt mit Blick auf den Beginn • eine conative Handlung, die einen Versuch bezeichnet, ohne Rücksicht auf das Resultat der Handlung Semantische Unterschiede zwischen den beiden Aspektformen eines Verbs werden meist negiert, so dass man hier eher von einer morphologischen Kategorie sprechen könnte. Allerdings ist die Sichtweise auf den Status der Aspektpartner nicht einheitlich. Ebenso findet sich, v.a. in der russischen Linguistik, die Ansicht, die Aspektpartner seien nicht zwei Formen eines Verbs, sondern zwei distinkte Verben, denen wiederum im Wörterbuch zwei Einträge zukommen. Im <?page no="200"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 194 Gegensatz zum Tempus stellt der Aspekt keine Lokalisierung einer Handlung in der Zeit dar, sondern verweist auf andere Aspekte des Handlungsverlaufs, die durchaus zeitlichen Bezug haben können, wie etwa auf die Frage nach der Vollendung/ Nichtvollendung der Handlung. Nicht zu verwechseln mit dem Aspekt als grammatischer Kategorie ist ferner der lexikalisch-semantische Begriff der • Aktionsart ( способ действия ): Auch die Kategorie der Aktionsarten ist kein slavisches Spezifikum, vielmehr ist sie schon aus dem Gemeinindogermanischen gut belegt bzw. erschlossen. Die Einsatzmöglichkeiten der Aktionsarten sind vielfältig, beinhalten jedoch immer eine semantische Modifizierung gegenüber dem Basisverb, die formal im Hinzufügen bestimmter Affixe besteht. Die Aktionsarten bieten die Möglichkeit, eine Handlung hinsichtlich ihres zeitlichen und inhaltlichen Ablaufes, ihrer Phasen, ihrer Abstufung und Intensität usw. zu charakterisieren. Definition und Einteilung der Aktionsarten können je nach wissenschaftlicher Literatur sehr unterschiedlich ausfallen; es sind Überschneidungen zu beobachten, und klare inhaltliche wie terminologische Grenzziehungen sind bisweilen schwierig. Allgemein anerkannt ist beispielsweise die Existenz folgender Aktionsarten: o iterative (Mehrmaligkeit, Wiederholtheit, Regelmäßigkeit einer Handlung, z.B. flattern - развеваться , streicheln - гладить ; говаривать , переписы ваться , читывать ; Übersetzung ins Deutsche oft mit etw. zu tun pflegen), o intensive (Intensität einer Handlung, z.B. brüllen - орать , saufen - пьянствовать ), o diminutive (Abschwächung einer Handlung, z.B. tänzeln - приплясывать , lächeln - улыбаться ), o determinative (Begrenzung der Handlungsdauer, z.B. посидеть - ein wenig sitzen (bleiben), поработать - ein bisschen arbeiten), o ingressive (Beginn/ Anfangsphase einer Handlung, z.B. einschlafen - засы пать , уснуть , aufblühen - расцветать ), o egressive (Ende/ Abschlussphase einer Handlung, z.B. verblühen - отцве тать , zerschneiden - разрез ´ать ), o terminativ/ telisch/ grenzbezogen (Vollzug einer Handlung; schließt bisweilen Anfangs- und Endpunkt der Handlung mit ein, z.B. fahren (nach/ bis) - ехать ( в / до ), fahrend erreichen - доехать ( до )); Gegensatz: aterminativ/ atelisch/ nichtgrenzbezogen. Dasselbe Verb kann, je nach Konstruktion und Kontext, terminativ oder aterminativ verwendet werden. Vergleiche: nach Moskau fliegen - летать / лететь в Москву (terminativ) vs. mit dem Flugzeug fliegen - летать / лететь самолётом (aterminativ), o resultative (Abschluss einer Handlung, z.B. auskurieren - вылечить , erschlagen - убить ), o inchoative/ mutative ((allmählicher) Übergang von einem Zustand in einen anderen, z.B. reifen - созревать , зреть ; rosten - ржаветь , dunkel werden - ( по ) темнеть , erstarken - ( о ) крепнутъ ), o semelfaktive/ momentane (einmalige Ausführung einer Handlung, z.B. (einmal) schreien - крикнуть , (einmal) klopfen - стукнуть ). <?page no="201"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 195 Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Aktionsarten, z.B. zwischen der resultativen und der mutativen, kann je nach Forscher durchaus unterschiedlich aussehen; hinzu kommen fallweise Unterschiede in der verwendeten Terminologie. 86 Aspekt ist eine grammatisch-morphologische Kategorie (der lexikalische Gehalt eines Verbs bleibt unverändert); im Wörterbuch werden die beiden Aspekte eines Verbs normalerweise als ein Eintrag aufgeführt. Aktionsart ist eine lexikalisch-semantische Kategorie (der lexikalische Gehalt eines Verbs wird modifiziert); im Wörterbuch werden die verschiedenen Aktionsarten eines Grundverbs als getrennte Einträge aufgeführt, da sich ja die Bedeutung geändert hat. Aufgaben: 1. Nehmen Sie Stellung zu folgendem Beitrag aus einem russischen Blog ( http: / / blogs.mail.ru/ community/ really/ 1931C24F36985A0E.html? reply=1 ): „ если уж писать о том , что меня удивило , то нельзя не упомянуть о данной новости : Оказывается , что в русском языке на самом деле существуют 7 родов ! то есть , кроме привычных нам М , Ж и Ср , есть и такие , как Парный Род , Общий род , Род переходный к общему и Колеблющийся по роду .. причём все они весьма адекватные .. к примеру , попробуйте определить род слова " Сани ", и вы поймёте , что ещё парочка родов совсем не лишняя )“ 2. Gibt es im Russischen die Erscheinung des dativus ethicus? Führen Sie ggfs. Beispiele an. 13.12.2 Morphologisch-lexikalische Kategorien (Wortarten) Die Bezeichnung „morphologisch-lexikalische Kategorien“ ist ein anderer Ausdruck für die Wortarten. Diese sind im Kap. 13.6.6 der vorliegenden Einführung bereits besprochen worden. so dass es an dieser Stelle reichen soll, sie noch einmal namentlich in Erinnerung zu rufen. Üblicherweise unterscheidet man Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb, Pronomen, Numerale, Konjunktion, Präposition, Partikel, Interjektion, Zustandswort und Modalwort. Die Aufteilung des lexikalischen Bestandes der russischen Sprache auf diese Kategorien fällt allerdings, je nach sprachwissenschaftlicher Schule, durchaus unterschiedlich aus (Zustands- und Modalwörter werden beispielsweise oft nicht als eigene Wortarten angesehen) und darf auch nicht ohne weiteres vom Russischen auf andere Sprachen übertragen werden, da diese einen anderen Kategorienbestand aufweisen können. Ein prominentes Beispiel ist die Existenz des Artikels im Deutschen (wie auch in anderen Sprachen), der im Russischen fehlt. Die Funktion des Artikels wird im Russischen dort, wo es nötig ist, von anderen sprachlichen Mitteln übernommen (bspw. durch das Zahlwort один ), bzw. der Kontext stellt die erforderliche Disambiguierung her. 86 Die wohl ausführlichste Differenzierung von Aktionsarten hat D IETER E NGELBRECHT in einer 1977 vorgelegten, unveröffentlichten Doktorarbeit unter dem Titel Die funktional-semantischen Felder der Aktionsarten in der russischen Sprache der Gegenwart vorgenommen: Er grenzte über 100 Aktionsarten gegeneinander ab, die sich wiederum unter semantischen Aspekten zu Gruppen zusammenfassen lassen und deren Unterschiede nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. (Die Arbeit ist u.a. in der Universitätsbibliothek Trier unter der Signatur u21120 vorhanden.) <?page no="202"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 196 Aufgaben: 1. Würden Sie nach Ihrem gegenwärtigen Wissen das Partizip und das Adverbialpartizip als Wortarten bezeichnen? 13.12.3 Syntaktische Kategorien Bei der folgenden Einteilung der lexikalischen Mittel der russischen Sprache in einzelne syntaktische Kategorien ist zunächst generell darauf hinzuweisen, dass i.d.R. keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen einer solchen Kategorie und einer bestimmten Wortart besteht. Mit anderen Worten: Eine Wortart kann prinzipiell verschiedene syntaktische Funktionen erfüllen und somit in mehrere der beschriebenen Kategorien fallen. Umgekehrt umfasst eine Kategorie nicht notwendigerweise nur eine einzige Wortart. Ein immer wieder zu beobachtender Fehler ist beispielsweise die Gleichsetzung von Subjekt und Substantiv, bei der gewiss die Namensähnlichkeit eine Rolle spielt, aber auch die Tatsache, dass das Subjekt oft - aber eben nicht immer und ausschließlich! - von einem Substantiv vertreten wird. In ähnlicher Weise wird das Prädikat zwangsläufig, und ebenso zu Unrecht, mit einer Verbalform assoziiert, was nicht grundsätzlich falsch ist, aber nur einen Teil der Wahrheit berücksichtigt. Die folgende Aufstellung soll hier etwas Klarheit schaffen. • Subjekt ( подлежащее ): Eine innerhalb der Sprachwissenschaft kontrovers diskutierte Kategorie, die in unterschiedlichen grammatischen Schulen je anders definiert wird. Problematisch sind beispielsweise Satzkonstruktionen, die kein grammatisches Subjekt enthalten (Letzte Woche wurde gestreikt.), oder unpersönliche Konstruktionen (im Deutschen mit es), die lediglich ein grammatisches Subjekt enthalten, welches nicht als Satzgegenstand 87 im traditionellen Sinne verstanden wird. Vom grammatischen Subjekt wird dann das logische oder psychologische Subjekt (i.d.R. der Handlungsträger) unterschieden. Das Subjekt ist, neben dem Prädikat, das zweite der hauptrangigen Satzglieder und bezeichnet den Träger einer Eigenschaft oder das Agens einer Handlung, welche jeweils vom Prädikat ausgedrückt werden. Eine semantische Begrenzung für das Subjekt besteht praktisch nicht; es kann sowohl eine Person bzw. mehrere bezeichnen als auch einen konkreten Gegenstand, eine abstrakte Erscheinung, eine Handlung, ein Ereignis oder einen Zustand. Der typische Subjektskasus ist der Nominativ. Die Position des Subjekts kann von verschiedenen Wortarten und syntaktischen Konstruktionen ausgefüllt werden: von einer nominalen Wortform, einer nominalen Wortverbindung, einer substantivierten Wortform oder Wortgruppe ( Твое « не могу » мне уже давно надоело .), aber auch von einer Nullstelle. In letztem Fall ergibt sich das implizite Subjekt aus dem unmittelbaren Kontext oder einer flektierten Verbalform. Subjekt und Prädikat können koordiniert (kongruierend) beieinander stehen und sich nach Kasus, Numerus und Genus (bzw. nach nur ein oder zwei dieser Komponenten) einander anpassen, oder sie 87 Die Bezeichnung Satzgegenstand wird heute zunehmend durch Thema oder topic (für das bereits Bekannte) abgelöst, denen das Rhema oder der comment (für die neue Information) gegenüberstehen. <?page no="203"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 197 stehen nach Kasus, Numerus und Genus unkoordiniert nebeneinander ( Первый блин - комом .). Hinsichtlich der Position des Subjekts (wie auch der anderen Satzglieder) im Satz ist die russische Sprache relativ ungebunden; eine starre Ordnung beispielsweise nach dem Muster Subjekt-Prädikat-Objekt exisitiert praktisch nicht, da die syntaktische Funktion eines Satzgliedes durch seine morphologischen Merkmale (v.a. die Kasusendungen) hinreichend klargemacht wird. Die freie Satzstellung erlaubt es, ein Satzglied durch Positionsveränderung hervorzuheben, hinzu kommt das suprasegmentale Merkmal der Intonation ( Виктория стирает бельё / моет руки . - Бельё стирает / Руки моет Виктория .). • Prädikat ( сказуемое ): Es wird als Attribut eines logischen Subjekts betrachtet und auch als Satzaussage bezeichnet. Zum Ausdruck bringt es eine Handlung, ein Ereignis oder einen Zustand, die dem Subjekt zugeschrieben werden. Zugleich markiert es die grammatische Bedeutung eines Satzes, indem es Merkmale der Zeit und der Modalität aufweist. Formal werden verbales und nominales Prädikat und adverbiales unterschieden. 88 verbales Prädikat: Дочка ( крепко ) спит . ‚Das Töchterchen schläft (tief und fest).’ nominales Prädikat: Мой брат - выдающийся инженер . ‚Mein Bruder ist ein hervorragender Ingenieur.’ Zum verbalen Prädikat können neben Vollverben auch Modal- und Phasenverben sowie Funktionsverbgefüge ( принять участие , оказывать влияние ) zählen. Funktionsverbgefüge sind mehr oder weniger feste Wortfügungen aus einem verbalen und einem nominalen Bestandteil, wobei die Semantik des Verbs im Vergleich zu dessen isolierter Verwendung als Vollverb verblasst ist. Die meisten Funktionsverbgefüge können durch ein synonymes Vollverb ersetzt werden: принять участие - участвовать , оказывать влияние - ( по ) влиять . Das nominale Prädikat umfasst alle nominalen Ausdrücke im Nominativ: Substantiv, Pronomen, Adjektiv und Zahlwort, daneben die Kurzformen von Adjektiv und Partizip, den Komparativ und schließlich ein Nomen in einem obliquen Kasus mit oder ohne präpositionale Vermittlung. In Abhängigkeit von der im Prädikat vertretenen Anzahl an Wörtern (Wortformen) unterscheidet man das einfache Prädikat ( простое сказуемое ; eine Wortform) vom zusammengesetzten ( составное сказуемое ; zwei Wortformen) und vom komplexen, mehrfach zusammengesetzten ( сложное сказуемое ; drei und mehr Wortformen). einfaches Prädikat: Он ра ботает . ‚Er arbeitet.’ (verbales Prädikat) Она - ученица . ‚Sie ist Schülerin.’ (nominales Prädikat) zusammengesetztes Prädikat: Студентка продолжала писать реферат . ‚Die Studentin fuhr fort, ihr Referat zu schreiben.’ (verbales Prädikat) Убить человека считается преступле нием . ‚Einen Menschen zu töten gilt als Verbrechen.’ (nominales Prädikat) 88 Seltener findet man als dritte Gruppe das adverbiale Prädikat. <?page no="204"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 198 komplexes Prädikat: Мальчик хочет стать лётчиком . ‚Der Junge möchte Flieger werden.’ Dort, wo es der Kontext gestattet, kann die Stelle des Prädikats unausgefüllt bleiben (Ellipse): - Кто пришёл ? - Андрей . - Вы ко мне ? Insbesondere gilt dies für Verben zum Ausdruck einer Mitteilungsäußerung, Bewegung, Existenz u.a.m. • Objekt ( дополнение ): Es dient als nebenrangiges Satzglied der Satzergänzung und wird bisweilen Gegensubjekt genannt, da es in Opposition zum Begriff des Subjekts steht. Es ist der „Gegenstand des Wahrnehmens, Erkennens, Denkens und Handelns“ (G LÜCK 2000: 488) und kann ebenso eine Person bezeichnen wie einen Gegenstand oder eine Erscheinung. Das Objekt ist das Ziel einer durch das Prädikat ausgedrückten Handlung, doch kann es sich außer auf das Verb auch auf ein Substantiv, Adjektiv oder Adverb beziehen. Entsprechend unterscheidet man adverbale (nicht adverbiale! ; приглагольное дополнение ; Она пишет письмо .), adnominale ( приимённое дополнение ; Мы уважаем любовь к ма те ри .) und adverbiale Objekte ( наречное дополнение ; Он вышел незаметно для всех . K ARAULOV 1998: 122). Der Anschluss des Objekts kann direkt oder präpositional vermittelt erfolgen. Der typische Objektskasus ist der Akkusativ, jedoch zeigen bereits die obigen Beispiele, dass auch andere Kasus in Betracht kommen. Neben Substantiven können auch Pronomen, Zahlwörter, substantivierte Adjektive und Partizipien sowie der Infinitiv als Objekt auftreten, daneben außer Einzelwörtern auch Wortverbindungen bzw. Wortfügungen sowie okkasionell substantivierte Wortgruppen (z.B. in Titeln künstlerischer Werke: Что ты думаешь о « Горе от ума »? ). Als direktes Objekt ( прямое дополнение ) gilt eine Ergänzung im Akkusativ, das indirekte Objekt ( косвенное дополнение ) steht in einem der anderen obliquen Kasus 89 , die z.T. von bestimmten Präpositionen abhängen. Eine Besonderheit der russischen Sprache (im Vergleich zur deutschen) ist die Ersetzung des Akkusativs durch den Genitiv im Falle einer Negation: Мы смотрели этот фильм . Мы не смотрели этого фильма . • Attribut ( определение ): Es dient als nebenrangiges Satzglied der näheren Bestimmung oder Zuweisung von Eigenschaften (Qualität, Größe, Form, Farbe, Rangfolge, Zugehörigkeit etc.) für ein übergeordnetes Bezugswort, das selbst haupt- oder nebenrangiges Satzglied sein kann. Entsprechend dieser Semantik antwortet es auf die Fragen какой ? чей ? который ? . Formal wird es von einem Substantiv oder einer substantivierten Wortart bzw. Wortform oder Wortgruppe vertreten. Nach der Art der Verbindung von Attribut und Bezugswort unterscheidet man kongruierende (hier Adjektivattribut: Они живут в новой , просторной квартире .) und nichtkongruierende (hier Genitivattribut: Мать Олега уже три недели в больнице ; hier adverbiales Attribut: Он лежит в комнате рядом .) Attribute. Während das Genitivattribut mittels Rektion an das Bezugswort gebunden ist, liegt beim adverbialen Attribut Adjunktion vor. Das nichtkongruierende Attribut kann durch ein Substantiv im obliquen Kasus oder eine Wortgruppe mit oder ohne präpositionalen Anschluss vertreten werden: У меня новая машина из 89 Als obliquen Kasus (casus obliquus) bezeichnet man alle Kasus außer dem Nominativ, der casus rectus genannt wird. . Моя тётя - дама средних лет . . vs. Он - заведующий кафедрой нии Япо <?page no="205"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 199 Ein weiteres Verständnis des Begriffs Attribut umfasst auch Partikeln sowie die Artikel in denjenigen Sprachen, die über diese Wortart verfügen. • Apposition ( приложение ): Sie ist ein Sonderfall der Attribuierung ohne oder mit eingeschränkter Kongruenz zwischen appositivem Ausdruck und übergeordnetem Bezugswort. In der Funktion des bestimmten Elementes (1. Komponente) wie auch des bestimmenden (2. Komponente) treten jeweils Substantive auf. Beide Komponenten können sowohl Sachen als auch Personen bezeichnen: сту дент иностранец , ученик отличник , танк истребитель , самолёт истреби тель , телефон автомат , город герой . Die Wiedergabe derartiger Bindestrichappositionen erfolgt im Deutschen meist durch Komposita: Einserschüler, Panzerjäger, Heldenstadt etc. Sehr häufig sind Kombinationen aus einem Appellativum und einem Eigennamen: город Москва , станция Сокольники , кино театр Родина , гостиница Метрополь , товарищ Ленин , друг Алёша . Vor allem umfangreichere Ergänzungen des Bezugswortes können durch Kommata von diesem abgetrennt werden: Лена , моя лучшая подруга , любит танцевать . Мои сёстры , Мария и Виктория , уже окончили университет . • Adverbialbestimmung, adverbiale Bestimmung ( обстоятельство ): Sie ist in ihrer grammatischen Funktion schwer zu definieren, weswegen oft semantischen Einteilungen der Vorzug gegeben wird. Die Bezeichnung Adverbialbestimmung bezieht sich nicht ausschließlich auf die Ergänzung von Verben, ebenso werden Adverbialbestimmungen nicht ausschließlich von Adverbien ( быстро , громко , поздно , добровольно ) realisiert, sondern auch von Substantiven in obliquen Kasus mit ohne ohne präpositionale Vermittlung ( Мы летели из Берлина в Москву . В случае его отсутствия заседание не состоится . Они шли полем / через поле . Иван прибыл ночью .), Infinitiven ( Александр поехал в Берлин совершенствовать профессиональные знания .), Adverbialpartizipien ( Инна пишет лё жа .) sowie festen Wortfügungen ( У него знаний - кот наплакал .). Als nebenrangiges Satzglied beschreibt die Adverbialbestimmung Handlungen oder Zustände näher, indem sie Informationen über deren Art und Weise, Zeitpunkt, Ort oder Richtung, Umfang, Grund, Ziel, Bedingung etc. vermittelt. Der Zusammenhalt der einzelnen Elemente eines Satzes wird von bestimmten Mechanismen gesteuert. Diese sind: • Rektion ( управление ): Sie bezeichnet das Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem übergeordneten (regierenden) und einem untergeordneten (regierten) Wort im Satz. Definieren lässt sie sich als „Form der Subordination, bei der die Kasusform des untergeordneten Wortes durch das ihm syntaktisch übergeordnete (‚regierende’) Wort bestimmt wird.“ (C ONRAD 1984: 218f) Zwei Differenzierungen sind im Bereich der Rektion vorzunehmen: Zu unterscheiden sind einmal die unmittelbare Rektion ( непосредственное управление ; любовь матери , помощь другу ), worunter man den direkten Anschluss des untergeordneten an das übergeordnete Wort versteht, und die mittelbare Rektion ( предложное управление ; любовь / ненависть к матери ), bei der der Anschluss über eine Präposition erfolgt. Ferner ist die starke von der schwachen Rektion zu trennen. Bei ersterer erfordern die lexikalisch-grammatischen Eigenschaften des regierenden Wortes ei- <?page no="206"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 200 ne bestimmte Form des regierten Wortes: писать письмо , купить маши ну , пять недель , полон ненависти . Bei der schwachen Rektion ist eine bestimmte Form des regierten Wortes nicht durch die lexikalisch-grammatischen Eigenschaften des regierenden Wortes vorgegeben, ist also fakultativ: стучать в дверь , одобрение депутатов . Rektion tritt in erster Linie auf bei Verben ( лю бить Akk., звонить , верить Dat.), aber auch bei Präpositionen ( из за , от , до Gen., к Dat., в , на Akk./ Präp.), Adjektiven ( верный Dat., полный Gen.) und Substantiven ( любовь матери ). Ohne das Konzept der Rektion ist der Begriff der Valenz nicht möglich, da man unter Letzterer gerade die Möglichkeit eines Wortes, v.a. des Verbs, versteht, in Abhängigkeit von seiner Semantik eine oder mehrere obligatorische oder fakultative, von ihm abhängige Leerstellen/ Aktanten um sich herum zu gruppieren ( дарить Akk. + Dat.: дарить дочери куклу ; резать Akk. (+ Instr.): резать хлеб ( ножом )). • Kongruenz ( согласование ): Generell bezeichnet sie die „formale Übereinstimmung zusammengehöriger Satzglieder oder Gliedteile in bestimmten grammatischen Kategorien mit Hilfe von Flexionsendungen“ (C ONRAD 1984: 137). Das abhängige Wort hat sich hinsichtlich seiner grammatischen Eigenschaften nach dem übergeordneten Wort zu richten bzw. sich ihm anzugleichen. „ Главным словом при С . является то , форма к рого выбирается только по требо ванию необходимого для данного акта общения смысла , а зависимым является слово , форма к рого предопределена уже не только потребностями заданного смысла , но и главным словом . Поэтому главное слово можно поставить в лю бых присущих ему словоизменительных формах , а выбор словоизменительных форм зависимого слова определён главным словом [...]“ (K ARAULOV 1998: 521) Kongruenz betrifft die Kategorien Person, Kasus, Numerus und Genus und ist je nach Sprache und Konstruktion unterschiedlich ausgeprägt: я пишу , мы писали , скучная история , нашему ребёнку . Von der völligen Kongruenz ( полное со гласование ; Москва река , он - круглый дурак ), d.h. der Übereinstimmung in allen grammatischen Merkmalen, ist die partielle Kongruenz ( неполное согласо вание ; город Москва , он - круглый сирота ) als Angleichung in nur einigen der möglichen grammatischen Kategorien zu trennen. • Adjunktion ( примыкание ): Wie auch bei Rektion und Kongruenz wirkt die Adjunktion im Zusammenspiel von einem übergeordneten und einem untergeordneten Element. Das adjungierte Element (das Adjunkt, адъюнкт ) ist seinem Bezugswort (Verb, Substantiv, Adjektiv, Adverb) untergeordnet und selbst unveränderlich, weswegen hier weder Rektion noch Kongruenz zum Tragen kommen: Прошу вас писать ║ разборчиво . Мой сосед очень ║ симпатичный человек . Я люблю читать ║ вслух . Он пишет ║ стоя . Она ║ богаче меня . Цвет ║ бордо мне не нравится . (Das Zeichen ║ steht jeweils zwischen dem Bezugswort und dem adjungierten Element.) Unterschieden werden starke ( сильное примыкание ) und schwache Adjunktion ( слабое примыкание ). Als starke Adjunktion bezeichnet man die lexikalisch-grammatische Notwendigkeit einer Ergänzung: Она богаче меня . Bei der schwachen Adjunktion handelt es sich um grammatisch nicht notwendige (d.h. fakultative) Ergänzungen (im Gegensatz zu den Komplementen) in attributiver Funktion, das Bezugswort kann also auch oh- <?page no="207"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 201 ne das Adjunkt stehen: Я люблю читать [ вслух ]. Цвет [ бордо ] мне не нра вится . 13.12.4 Semantische Kategorien Von den morphologischen und den syntaktischen Kategorien sind schließlich die semantischen zu unterscheiden, die einem Wort/ einer Wortform oder einer ganzen Äußerung eine bestimmte Bedeutung oder Bedeutungsnuance verleihen und bisweilen auch logisch-semantische oder pragmatisch-semantische Kategorien genannt werden. Hier geht es im Wesentlichen um den Bezug des Ausgedrückten zur außersprachlichen Realität, zu den Bedingungen, unter denen die beschriebene Handlung oder der beschriebene Zustand Gültigkeit besitzt. Gemeinsam ist allen Kategorien dagegen, dass die in ihnen vermittelten Inhalte sich formal niederschlagen können (aber nicht müssen; hier verhalten sich die einzelnen Sprachen durchaus unterschiedlich). So stehen dem Russischen im Bereich der semantischen Kategorien verbale und nominale Endungen ebenso zur Verfügung wie Präpositionen und Konjunktionen sowie weitere lexikalische Mittel wie Adverbialbestimmungen usw. Die beiden grundlegenden Kategorien einer Äußerung sind Modalität und Temporalität. • Modalität ( модальность ): Sie drückt das Verhältnis des Sprechers zur Aussage (subjektiv-modale Bedeutung) und der Aussage zur Realität (objektiv-modale Bedeutung) aus. An Formmitteln stehen die verbmorphologische Kategorie des Modus, verschiedene Satzmodi (Satztypen wie Aussage-, Interrogativ-, Imperativsatz etc.) sowie weitere lexikalische (Modalverben, Modalpartikeln Adverbien) und sonstige Mittel (Intonation, Interpunktion) zur Verfügung, wobei diese Möglichkeiten nicht selten miteinander kombiniert werden. Modalverben wie das dt. können, müssen, dürfen, sollen, wollen, mögen und, mit Einschränkungen, lassen bzw. ihre jeweiligen russischen Äquivalente bestimmen das Verhältnis des Satzsubjekts zur Satzaussage. Sie werden fast wie Hilfsverben verwendet, weswegen sie auch modale Hilfsverben genannt werden. Nach den Modalverben steht (im Deutschen) ein infinitivischer Anschluss. Die genannten dt. Modalverben können im Russischen auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit einer ganzen Palette an Formmitteln wiedergegeben werden: durch die Verben und (persönlichen und unpersönlichen) Verbalformen sowie Schaltwörter мочь , смочь , уметь , можно , нельзя , хотеть , хочется , хотелось , намереваться , намерен , собираться , собраться , надо , нужно , необходимо , должен , должна , должно , должны , следует , следовало , прихо дится , приходилось , должно быть , наверно ( е ), очевидно , пожалуй , возможно , должно быть , пусть , пускай , говорят ( что ), утверждать ( что ), пускать , пустить , давать , дать , позволять , позволить , разрешать , разрешить , заставлять , заставить , приказывать , приказать , ferner fallweise durch relativischen Anschluss mit чтобы , Infinitivkonstruktionen, den inklusiven Imperativ, die 2. Pers. Sg. des vollendeten Futurs (in allgemein-persönlichen Sätzen). Einen konzisen Überblick über diese (zwischensprachliche) Problematik geben u.a. T AUSCHER / K IRSCHBAUM 1983: 468-478. • Temporalität ( темпоральность ): Sie vermittelt die zeitliche Situierung der Aussage im Verhältnis zur Realität, mit anderen Worten: die zeitliche Verortung des <?page no="208"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 202 Geschehens im Verhältnis zum Redemoment. Neben dem Tempussystem, das von Sprache zu Sprache variiert, sind vor allem in den slavischen Sprachen die morphologischen Kategorien Aspekt und Aktionsart zu berücksichtigen, daneben lexikalische Mittel wie Präpositionen und Konjunktionen, Zeitadverbiale usw. Gemeinsam mit der Modalität macht die Temporalität die Prädikativität eines Satzes oder einer Aussage aus. Diese Erscheinungen sind insofern gewissermaßen den folgenden Kategorien, die weitere Informationen vermitteln, übergeordnet. Auch hier ist ein generelles Zusammenwirken verschiedener Formmittel zu beobachten (eine bestimmte Konjunktion erfordert einen bestimmten Modus des Verbs, eine bestimmte Präposition zieht einen bestimmten Kasus nach sich etc.). Die noch zu erwähnenden Kategorien sind überwiegend selbsterklärend: • Lokalität ( локальность ) oder Lokativität ( локативность ): Sie leistet eine Spezifizierung von Ort, Richtung oder Ausdehnungsbereich. Formmittel sind im Russischen insbesondere die Präpositionen mit den von ihnen regierten Kasus, z.T. auch die präpositionslose Kasusverwendung ( идти лесом ), ferner weitere lexikalische Mittel wie Adverbialbestimmungen und im verbalen Bereich die Präfixe mit lokaler Bedeutung. In dieser weiten Auffassung umschließt die Lokalität damit die engere Kategorie der • Direktionalität ( дирекциональность ), die im eigentlichen Sinne die Richtung einer Bewegung, einer Handlung spezifiziert. • Kausalität ( каузальность , причинность ): Hier erfolgt, gewissermaßen retrospektiv (zurückblickend), die Angabe des Grundes, der Ursache für eine Handlung oder einen Zustand, während die • Finalität ( финальность ) prospektiv (vorausschauend) das vom Agens gewählte Ziel bzw. den Zweck einer Handlung ausdrückt. • Konsekutivität ( последовательность ) unterscheidet sich von der Finalität darin, dass sie die Angabe der (sachimmanenten, naturgegebenen) Folge einer Handlung oder eines Zustandes ausdrückt. • Konzessivität ( концессивность ) ist die Angabe einer Bedingung, deren erwartete Wirkung nicht eintritt, oder anders ausgedrückt: Im Gegensatz zur Kausalität, die ein positives Abhängigkeitsverhältnis von Ursache und Wirkung vermittelt, sagt die Konzessivität gerade negativ aus, dass die Bedingung normalerweise nicht als Grund für eine Handlung oder einen Zustand zu erwarten ist: Он пришёл к нам в гости , несмотря на плохую погоду . Obwohl das schlechte Wetter eigentlich ein Hinderungsgrund gewesen wäre, ist eine bestimmte Handlung erfolgt bzw. ein bestimmter Zustand eingetreten. • Komparativität ( компаративность ): Der Ausdruck eines Vergleichs kann im Russischen mit Hilfe eines breit gestreuten Formeninventars erfolgen. Zur Verfügung stehen das Mittel der Komparation oder Gradation (Steigerung) mit den beiden Steigerungsstufen Komparativ und Superlativ ( глупый глупее глу пейший ) sowie lexikalische Mittel, die ein absolutes Höchstmaß ( архи глупый ) oder eine Abstufung ( глуповат ый ) ausdrücken. Mit dem reinen Genitiv des Vergleichs (genitivus comparationis; po дит e льный cpa вн e ния ) kann die Ungleichheit der aufeinander bezogenen Objekte betont werden: глупее меня / всех . In syntaktischen Konstruktionen, in denen dieser Genitiv nicht möglich ist, kommt чем mit dem Nominativ bzw. der ursprünglichen Konstruktion zum Ein- <?page no="209"?> Linguistische Kategorien im Vergleich 203 satz: В Москве живёт больше людей , чем в Новосибирске . Ähnlichkeit oder Identität (auch wenn sie formal negiert wird) wird mit как ausgedrückt: Он такой же глупец , как и я . Ferner sind lexikalische Mittel wie подобный + Dat., равно как u.a. zu erwähnen. • Instrumentalität ( инструментальность ): Angabe des Mittels, Weges, Instrumentes einer Handlung: идти лесом 90 , резать ножом , писать карандашом . Neben dem reinen Instrumental stehen bspw. im Russischen auch verschiedene einfache und zusammengesetzte Präpositionen wie при помощи , с помощью , посредством + Gen. zur Verfügung. • Komitativität ( комитативность ) bedeutet die Angabe des Begleitumstandes bzw. der Gemeinsamkeit einer Handlung. Der typische Kasus ist der Instrumental, der im Russischen als reiner, nicht präpositional vermittelter Kasus der Angabe des Instruments, Mittels, Werkzeugs dient (s.o.) und erst in Verbindung mit der Präposition с die Bedeutung der gemeinsamen Handlungsausführung erlangt. Die Grenze zwischen der Komitativität und der Instrumentalität i.e.S. wird nicht immer ganz klar gezogen. „ Базовое значение творительного падежа целесообразно определить как " коми тативность , или комитатив ". Например : (1) Старик ловил неводом рыбу , ср . Старик ловил рыбу . При этом он использовал невод . (2) Стул сделан столяром , ср . Стул сделан . При этом в роли исполнителя действия выступил столяр . (3) Федор руководит бригадой , ср . Федор осуществляет руководство бригадой , где действительным объектом является " акциональность " (= " руководство ") в первом случае в статусе номинационного признака глагола предиката руково дит , во втором случае в статусе детерминативно семантического признака гла гола предиката осуществляет . Более правильной была бы следующая интерпре тация : Федор осуществляет руководство не бригадой самой по себе , а " людьми , являющимися членами бригады ". Морфологическая комитативность является в данном случае преимущественно формально классификационным падежным признаком . На комитативность в примерах (1) (2) (3) наслаивается со ответственно инструментальность , агентивность , объектность “ ( http: / / edu.ulsu.ru/ fefilovai/ wbng.htm ) Neben dem Instrumental kann das Russische den Begleitumstand einer Handlung auch mit anderen Mitteln ausdrücken, vgl. z.B. за бокалом вина ‚bei einem Glas Wein’, быть в сознании ‚bei Bewußtsein sein’, он обычно спит с открытым окном / при открытом окне ‚er schläft für gewöhnlich bei geöffnetem Fenster’, петь под гитару ‚zur Gitarre singen’. • Agentivität ( агентивность ): Neben dem Nominativ als typischem Kasus des grammatischen Subjekts gibt es weitere Möglichkeiten zum Ausdruck der Handlungsausführung, wobei die semantische Kategorie des Handlungsträgers (des Agens) nicht identisch sein muss mit der grammatikalisch-syntaktischen Kategorie des Subjekts. Man vergleiche (das Agens bzw. logische Subjekt ist jeweils unterstrichen): Эту книгу написал французский автор . Книга была написана французским автором . Он получил подарок от своего отца . Его позвали к телефону . Im Satz Он получил подарок от своего отца ist он als Adressat der Handlung aufzufassen, in den Sätzen Эту книгу написал французский автор 90 Semantisch wäre dieses Beispiel eher als Lokativ (Frage: wo? ) zu interpretieren. <?page no="210"?> Teilbereiche der Sprachwissenschaft 204 und Книга была написана французским автором sind die Formen эту книгу und книга das Patiens der Handlung. • Objektivität ( объектность ): Diese Kategorie ist hier nicht im Sinne der außersprachlichen Dichotomie subjektiv-objektiv zu verstehen. Gemeint ist vielmehr der Objektcharakter eines Gegenstandes, d.h. das Ziel oder Objekt, auf das eine Handlung ausgerichtet ist. Neben dem Akkusativ ist im Russischen nach bestimmten Verben häufig der Instrumental anzutreffen: водить машину , управлять страной . Der Objektivität sehr ähnlich ist die • Patientivität ( пациентивность ): Hier richtet sich die Handlung auf eine Person, Personengruppe oder Institution, die von Personen gebildet wird. Diese Personen bilden das Patiens der Handlung ( руководить командой ), das üblicherweise wiederum vom Adressaten einer Handlung unterschieden wird (s.o). Bestimmte syntaktische Konstruktionen machen die Nähe zur Direktionalität (s.o.) deutlich: послать кому л . напоминание ‚eine Mahnung an jn. richten’, нападать на ко го л . ‚jn. angreifen, den Angriff auf jn. richten’. • Possessivität ( посессивность ): Sie drückt aus, dass etwas in bestimmtem, meist hohem Maße vorhanden ist: богатый рыбой , многословный . Da dies letztlich auch eine Art von Qualitätsangabe darstellt, ist mit der Possessivität wiederum eng verbunden die • Qualitativität ( квалитативность ), die direkt ein (Qualitäts-)Merkmal thematisiert: петь басом , говорить по русски . Ein guter Einstieg in die Materie des hier nur kurz angerissenen Wechselverhältnisses von Kasus und semantischen Kategorien ist die oben bereits zitierte Seite http: / / edu.ulsu.ru/ fefilovai/ wbng.htm mit dem Abschnitt Padež aus dem m.W. nur online erschienenen Werk Morfotemnyj analiz edinic jazyka i re č i von A. I. F EFILOV ( http: / / edu. x ulsu. ru/ fefilovai/ morph.html ). <?page no="211"?> 14 Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 14.1 Die slavischen Sprachen Das desubstantivische Adjektiv slavisch geht auf die Volksbezeichnung Slaven zurück, deren Ursprung bislang nicht zweifelsfrei hat geklärt werden können. In Erscheinung treten die Slaven zunächst unter dem Namen der Serben oder Sporen und der Veneter, später kommen die Bezeichnungen Anten für die Ostslaven und Slovieni für einige westslavische Völkerschaften hinzu, der Name Serben wird hingegen nur noch zur Benennung einzelner slavischer Stämme verwendet. Aus Veneter wird mit der Zeit Wenden, womit speziell im deutschen Umfeld lebende Slaven (die heutigen Sorben) bezeichnet werden. Der Name Slaven ist seit dem frühen Mittelalter gesichert, unterliegt jedoch formalen Veränderungen, die zu unterschiedlichen Deutungen hinsichtlich des Bezeichnungsursprungs führen. So führt sie bspw. der deutsche Chronist Adam von Bremen als Sclavi auf. Der sorbische Gelehrte Heinz Schuster-Šewc führt in seinem Werk Über die Geschichte und Geographie des ethnischen Namens Sorb/ Serb/ Sarb/ Srb diesen Namen auf das altslavische surbh, sirbh, serbh ‚säugen, schlürfen, trinken, fließen’ zurück. Das deverbale Substantiv Srb steht dann in semantischer Ausdehnung ganz allgemein für Menschen, die von der gleichen Mutter gesäugt wurden, und schließlich für Angehörige einer gleichen Familie oder Sippe, eines gleichen Stammes. Andere Wissenschaftler sehen Srb ursprünglich als Eigenname aller Slaven, ungeachtet ihrer engeren ethnischen Zugehörigkeit. Nur die Bezeichnungen sklabenoi, sklaboi sind als Selbstbezeichnung der Slaven anzusehen, während Wenden oder Veneter und Anten ursprünglich von Germanen bzw. Awaren verwendete Bezeichnungen sind. Woher kommt nun aber der Name Slaven? Weitgehender Konsens besteht darin, dass er vom gemeinslavischen * слŏвŏ ‚Wort’ abgeleitet ist, womit sich die Slaven selbst als Menschen bezeichnen, die sprechen können, und sich so von denjenigen abgrenzen, die nicht (oder doch zumindest nicht die Sprache der Slaven) sprechen können (némec, ursprünglich der ‚Stumme’, später der ‚Deutsche’ als typischer Ausländer, der des Slavischen nicht mächtig ist). Die Differenzierung in „Sprechende“ und „Stumme“ erinnert an die griechische lautmalerische Bezeichnung für Nichtgriechen, die nicht ihre Sprache verstehen: barbaros (von Sanskrit barbara ‚stammelnd, unverständlich redend’). Eine andere Hypothese bringt slóvo mit dem verwandten * слāвā (sláva) ‚Ruhm’ in Verbindung, was aus den Slaven ein ‚ruhmreiches Volk’ machen würde, eine in der nationalistischen Ecke gewiss gern gesehene Schlussfolgerung. Schließlich ist in jüngerer Zeit die These aufgestellt worden, der Name Slaven leite sich vom alten slavischen Wortstamm slo / sla ‚Wasser’ her, und wieder andere Forscher sehen die alte Form slovene als eine patronymische Bildung im Sinne von ‚die Leute des Slov’. <?page no="212"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 206 Die slavischen Sprachen bilden einen Zweig innerhalb des indoeuropäischen (indogermanischen) Sprachenstamms. Die heute noch lebenden slavischen Sprachen (Slavinen) sind: Westslavisch Südslavisch Ostslavisch • Polnisch • Tschechisch • Slowakisch • Obersorbisch • Niedersorbisch (Kaschubisch als poln. Dialekt erhalten [Dialektbzw. Sprachstatus umstritten]) • Bulgarisch • Serbisch • Kroatisch • Bosnisch • Slowenisch • Makedonisch (aus eher politischen Gründen wird in Zukunft wohl auch das Montenegrinische als eigene Sprache hinzukommen, vgl. das Bosnische; Altslavisch als älteste slavische Schriftsprache) • Russisch • Ukrainisch • Belorussisch Zu den genannten Slavinen sind mehrere lebende oder mittlerweile ausgestorbene Klein- oder Mikrosprachen (D ULI Č ENKO ) hinzuzuzählen 91 : Ägäis-Makedonisch (Griechenland), Banater Bulgarisch (Rumänien, Ungarn, Serbien), Burgenlandkroatisch (Österreich, Ungarn, Slowakei), Halschanisch (Litauen), Lachisch (Schlesien (Polen, Tschechien)), Mährisch (Tschechien), Masurisch (Polen), Moliseslavisch oder Molisekroatisch (Italien), Ostslowakisch (Slowakei), Podhalisch (Polen), Polabisch 92 oder Elbslavisch/ Dravänopolabisch (Wendland, Teile Ostdeutschlands; Anf. bis Mi. 18. Jh. ausgestorben), Pomakisch (Bulgarien, Griechenland, Türkei), Resianisch (Italien), Rusinisch oder Ruthenisch 93 (Polen, Slowakei, Tschechien, Ukraine, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien), Schlesisch (Polen), Slavenoserbisch (Mi. 19. Jh. ausgestorben), Slowinzisch (Pommern; seit Mi. 20. Jh. nicht mehr praktiziert) 94 , Vi č sch (Litauen), Westpolesisch (Weißrussland, Ukraine). Einige dieser Sprachen, wie beispielsweise das Molisekroatische, aber auch das Ober- und das Niedersorbische, weisen einen sehr kompakten Siedlungsraum ihrer Sprecher auf, der von nichtverwandten Sprachen umschlossen ist. Man spricht in solchen Fällen 91 Hier wird jeweils nur das grobe Verbreitungsgebiet angegeben. Für einige der genannten Sprachen wird der Status als eigenständiges Idiom von anderen Forschern bestritten. Für detailliertere Angaben sei auf O KUKA 2002 verwiesen. 92 Das Polabische war als nordwestslavische Sprache insbesondere mit dem Slowinzischen und dem Kaschubischen verwandt, hatte jedoch keine eigene Schriftsprache entwickelt. Es stand lautlich und lexikalisch unter deutschem Einfluss. 93 Die Bezeichnung Ruthenisch wird für sehr heterogene Erscheinungen verwendet. Neben der erwähnten Lesart wird sie im historischen Kontext auch als Name einer seit dem 14. Jh. nachgewiesenen ostslavischen Sprache im Großfürstentum Litauen bzw. in der späteren polnischlitauischen Adelsrepublik gebraucht. Geschrieben wurde die Sprache überwiegend kyrillisch, selten lateinisch und bisweilen, durch die Tataren in Weißrussland, auch arabisch. Im Zuge der politischen Entwicklungen wurde das Ruthenische sukzessive durch das Polnische und das Russische verdrängt. 94 Das Slowinzische galt als besonders archaische slavische Sprache, die zugleich unter starkem deutschen Einfluss stand. <?page no="213"?> Die slavischen Sprachen 207 von Sprachinseln . Die meisten Kultursprachen weisen außerhalb ihres heutigen zentralen Verbreitungsgebietes, d.h. des Mutterlandes, solche Inseln auf, die in erheblichem Maße durch Kolonisierungs- und Auswanderungswellen entstanden sind. In soziologischer Hinsicht lassen sich diese Inseln auch als Diaspora bezeichnen. Nur schwer in obige Systematik einordnen lässt sich das Knaanische (oder Kanaanitische), das zum einen eine Sammelbezeichnung für judenslavische Idiome des Mittelalters darstellt und zum anderen, in einer engeren Lesart, entweder eine westslavische Sprache der Juden auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik bezeichnet oder auch ostslavische Idiome der Juden bis nach Russland hinein, hier vor allem die Sprache der Chasaren, die nach dem Untergang ihres Reiches in der Kiever Rus’ (Kiewer Rus) siedelten. Die folgende Tabelle (adaptiert nach http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Slawische_Sprachen ) gibt einen etwas anders gelagerten Überblick über die slavischen Sprachen, da sie neben der üblichen Einteilung nach geographischen Gesichtspunkten auch die Unterscheidung von Standard- und Mikrosprachen mit einbezieht. Im Zusammenhang mit dem Russischen seien als russische Muttersprachler die Lipovaner ( липованы , im historischen Kontext auch старообрядцы oder рас кольники genannt) gesondert hervorgehoben. Sie bilden eine ethnische Minderheit im ukrainischen Budschak (heute Oblast’ Odessa) und in der rumänischen Norddobrudscha. Schätzungen gehen von ca. 100.000 Sprechern in beiden Länder aus. Die Lipovaner verließen als altgläubige orthodoxe Christen ihre Heimat im 17. und 18. Jh. und haben in der Diaspora auf allen Ebenen der Sprache archaische Züge des Russischen bewahrt, das jedoch zahlreiche ukrainische, rumänische und türkische Lehnwörter aufgenommen hat. Als besonders problematisch hinsichtlich der Angabe verlässlicher Sprecherzahlen erweist sich oft die Diaspora, so u.a. im Falle des Ukrainischen, Weißrussischen, Slowakischen, Tschechischen, Kroatischen und Mazedonischen. <?page no="214"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 208 Sprache mit nationaler Eigenbe zeichnung Verbreitungsgebiete 95 ungefähre Sprecherzahl 96 ostslavische Standardsprachen Russisch ( русский язык ) Russland, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan, Krim (Ukraine); weitere Länder der ehemaligen Sowjetunion (vor allem Ukraine, Lettland, Estland); Rumänien; USA, Israel, Deutschland, weitere westeuropäische Länder 170-180 Mio. Ukrainisch ( українська мова ) Ukraine, Russland, Kasachstan, Moldawien, Polen, Weißrussland, Slowakei, Rumänien, Nordamerika, Argentinien, Kirgisistan, Lettland, Westeuropa, Tschechien 40-47 Mio. Weißrussisch ( беларуская мова ) Weißrussland, Russland, Ukraine, Polen (in der Umgebung von Białystok), Lettland, Litauen, Kasachstan, USA 8-8,9 Mio. ostslavische Mikroliteratursprachen Karpato-Rus(s)inisch (Ru thenisch) ( руски язик ) Karpatoukraine (Ukraine, dort als ukrainischer Dialekt betrachtet), nordöstliche Slowakei und angrenzende Gebiete Polens, Emigranten v.a. in Nordamerika 830.000- 865.000 Jugoslawo-Rus(s)inisch (Batschka-Rus(s)inisch) ( бачвански руски язик ) Vojvodina (Serbien) und Slawonien (Kroatien) (ur sprüngliche Herkunft: Karpatoukraine) 23.000- 35.000 97 Westpoles(s)isch im Grenzbereich zwischen der Ukraine und Weißrussland keine Ang. westslavische Standardsprachen Niedersorbisch (Wendisch) (dolnoserbska r ě c) Niederlausitz (Deutschland) in der Umgebung von Cottbus 7.000- 12.000 Obersorbisch (hornjoserbska r ěč ) Oberlausitz (Deutschland) in der Umgebung von Bautzen 25.000- 55.000 98 Polnisch (j ę zyk polski) Polen, Weißrussland, Ukraine, Tschechien, Litauen, Nordamerika, Westeuropa, Brasilien, Australien 45-50 Mio. 99 95 In dieser Spalte sind Gebiete, in denen die betreffende Sprache Amtssprache ist, fett und Gebiete, in die die betreffende Sprache erst durch Auswanderungen in jüngerer Zeit gekommen ist, kursiv hervorgehoben. 96 In keinem Fall dürfen die Angaben zu Sprecherzahlen gleichgesetzt werden mit der Menge an Staatsangehörigen eines Landes; Untersuchungen zu Nationalitäten und Muttersprachen können zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Daten zu Sprecherzahlen sind immer mit Vorsicht zu genießen, da die Angaben je nach den benutzten Quellen und Erhebungsmethoden stark schwanken und nur dann als relativ zuverlässig gelten können, wenn der genaue Erhebungsmodus bekannt ist. Viele Erhebungen leiden darunter, dass die Fragen suggestiv sind oder auf das subjektive Empfinden der Befragten abstellen. Vgl. z.B. die Befragungen der ukrainischen Bevölkerung in der Heimat wie in der Diaspora (O KUKA 2002: 535-537). 97 Bei O KUKA (2002: 399) findet sich für beide rusinischen Sprachgruppen gemeinsam die Zahl von 1,5 Mio. Sprechern, wobei hier die emigrierten Muttersprachler eingerechnet sind. 98 Von dieser Zahl dürfte ein Großteil Sprecher sein, die ihre Muttersprache nur noch passiv beherrschen (vgl. O KUKA 2002: 343-345). <?page no="215"?> Die slavischen Sprachen 209 Slowakisch (slovenský jazyk) Slowakei, Vojvodina (Serbien), Ungarn, Rumänien, Tschechien, Ukraine, Kroatien, Nordamerika, Australien, Westeuropa 4,5-6 Mio. Tschechisch ( č eský jazyk) Tschechien, angrenzende Länder (v.a. Slowakei), Nordamerika, Westeuropa, Australien 10-12 Mio. westslavische Mikroliteratursprachen Kaschubisch (kaszëbsczi j-zëk) in Polen westlich und südlich von Danzig 50.000- 350.000 südslavische Standardsprachen Bosnisch (bosanski jezik) Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordamerika Westeuropa 4 Mio. 100 Bulgarisch ( български език ) Bulgarien, Ukraine, Moldawien, angrenzende Länder, USA, Westeuropa 7,5-9 Mio. Kroatisch (hrvatski jezik) Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Westeuropa 3,8-4,8 Mio. 101 Mazedonisch (Makedonisch) ( македонски јазик ) Mazedonien, angrenzende Länder (v.a. Griechenland, Bulgarien), Westeuropa 1,3-2 Mio. 102 Serbisch ( српски језик ) Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Westeuropa 10-12,5 Mio. Slowenisch (slovenski jezik) Slowenien, südliches Kärnten, Provinzen Triest und Görz (Italien), westliches Ungarn 2 Mio. südslavische Mikroliteratursprachen Banater Bulgarisch (bâlgars ć i jazi č ) Banat (Rumänien) 18.000- 25.000 Burgenlandkroatisch (gradiš ć ansko-hrvatski jezik) Burgenland (Österreich), Ungarn, Slowakei 19.000- 30.000 Molisekroatisch (Moliseslavisch) (naš jezik, na-našu) Molise (Italien), Argentinien, Australien 2.500-5.000 Resianisch (rozojanski lenga č ) Resia-Tal in der Region Friaul-Julisch Venetien (Italien) 1.500- 19.000 Aufgaben: 1. Wo befinden sich hier das Ungarische, das Estnische und das Finnische, die ja doch, zumindest teilweise, osteuropäische Sprachen sind? Das Russische besitzt historisch enge Bindungen zum Bulgarischen, weil das Alt bulgarische als Kirchen- und Literatursprache (daher auch Altkirchenslavisch ge nannt; vgl. den Historischen Teil) seit dem 10.-11. Jh. bis ins 17. Jh. auch in Russ land (sowie in den heute ukrainischen und weißrussischen Gebieten, d.h. in der ge samten Rus’) in allen Funktionen einer Hoch-, Literatur- oder Standardsprache in 99 Hiervon leben rund 8 Mio. im Ausland (O KUKA 2002: 368). 100 Die grundsätzliche ethnische Gemengelage auf dem Balkan sowie die politisch-militärischen Ereignisse der 90er Jahre des 20. Jhs. lassen laut O KUKA (2002: 210) keine verlässlichen Angaben zu. 101 Ohne Diaspora. 102 Ohne Diaspora. <?page no="216"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 210 Gebrauch war und bis heute viele Spuren im Russischen hinterlassen hat. Das mo derne Bulgarische hat seinerseits seit dem 19. Jh. zahlreiche Anleihen aus dem mo dernen Russischen übernommen. 14.2 Die russische Sprache Russisch ist Nationalsprache, Hoch- und Literatursprache, Weltsprache, Verhandlungs- und Arbeitssprache der UNO und auf internationalen Konferenzen und Veranstaltungen. Im Bereich der ehemaligen Sowjetunion wird sie in den früheren nichtrussischen Republiken und heutigen neuen Staatsgebilden von den wiedererstarkten bzw. wiedererstarkenden Nationalsprachen zurückgedrängt. Die russische Sprache ist - vor allem im Vergleich zu den großen westeuropäi schen Sprachen, aber auch im Verhältnis zu einigen slavischen Sprachen (wie insbe sondere dem Slowenischen) - dialektal nur recht schwach und in große Räume ge gliedert. Mit anderen großen Literatursprachen hat das Russische jedoch gemein sam, dass die Dialekte unter dem Einfluss der Massenmedien und einer immer we niger ausdifferenzierten Kulturlandschaft zunehmend zurückgedrängt werden. Noch haben wir es mit einer großen Dreiteilung mit jeweils mehreren Mundarten(gruppen) zu tun, so dass wir zwischen einer nord-, einer mittel- und einer südslavischen Dialektgruppe unterscheiden müssen. B. T OŠOVI Ć (Artikel „Russisch“ in: O KUKA 2002: 409-436, hier S. 411) stellt die Dialektbesonderheiten wie folgt dar: „Zu den typischen Kennzeichen der nordrussischen Dialekte zählen: das Okan’e ( оканье ), der Explosivlaut [g], die Kontraktion der Vokale, die Form des Personalpronomens меня „mich“ sowie die harte Endung der dritten Person auf т bei Verben im Präsens und Futurum. Für die südrussischen Dialekte sind das Akan’e ( аканье ), der frikative Konsonant [ γ ], die Formen des Akkusativs und Genitivs мене des Pronomens я „ich“ und die weiche Endung der dritten Person auf ть bei Verben im Präsens und Futurum charakteristisch. In den mittelrussischen Dialekten werden in der zweiten Silbe vor bzw. nach der Betonung die Vokale mit tiefer Zungenlage nicht unterschieden, am Ende eines Worts geht [g] zu [k] über. In ihnen sind Okan’e (in den lokalen Dialekten von Novgorod, Vladimir im Wolgagebiet u.a.) und Akan’e (z.B. im lokalen Dialekt von Pskov) vertreten. Ebenso gesondert zu betrachten sind die lokalen Dialekte um einige Städte (wie der Novgoroder, Vladimir-Rostover oder Rjazaner Dialekt).“ Die russische Sprache ist bekannt dafür, dass sie mehrere sozial determinierte Varietäten unterhalb der Standard-, Hoch- oder Literatursprache ( литературный язык ) besitzt: Neben letztgenannter gibt es die Umgangssprache (auch Alltagssprache oder Gebrauchssprache genannt; разговорная речь ), die im Alltagsleben v.a. - jedoch nicht ausschließlich - in mündlichen Kommunikationssituationen verwendet wird und das größte Kommunikationspotenzial besitzt. Sie wird spontaner als die Hochsprache verwendet und bildet eher Okkasionalismen (Gelegenheitsformen) und Neologismen (Neuformen), die dann in die Hochsprache „aufsteigen“ können, sofern sie eine ausreichende Akzeptanz in der Sprechergemeinschaft finden. Trotzdem weist die Umgangssprache eine nicht zu unterschätzende Stabilität auf. Auch beach- <?page no="217"?> Russisch-deutsche Sprachkontakte 211 tet sie nicht immer die Regeln der normierten Standardsprache, sondern folgt bis zu einem gewissen Grad ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Von der „normalen“ Umgangssprache wird noch die sog. lässige Umgangssprache ( просторечие ) unterschieden, die als sozial bedingte Varietät der russischen Standardsprache anzusehen ist, gegen deren Normen sie in vielen Fällen verstößt. Sie ist nicht regional gebunden und äußert sich auf allen Ebenen sprachlicher Zeichen, angefangen bei der Phonetik über die Wortbildung bis hin zur Syntax. Neben zahlreichen Aussprachebesonderheiten ist der lässig-umgangssprachliche Wortschatz mit seiner stilistisch niedrigeren Konnotierung das stärkste Unterscheidungsmerkmal zur Standardsprache. Dagegen zeichnet sich der Jargon ( жаргон ), der oft nicht eindeutig zur Umgangssprache abzugrenzen ist, dem aber jedenfalls selbst eine Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen sozialen Gruppen eigen ist, „durch seine begrenzte Lebensdauer aus, da er nicht, wie die schriftsprachliche Norm, von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Der Jargon wird von mehr oder weniger engen sozialen Gruppen benutzt, die einen stabilen, zeitlosen Charakter haben (Schüler, Studenten, Diebe, Drogenabhängige, Alkoholiker u. a.). Deshalb kann der Jargon als eine Erscheinung charakterisiert werden, die sich durch soziale Stabilität und sprachliche Flexibilität auszeichnet.“ (T OŠOVI Ć in: O KUKA 2002: 412) Ein gesondert zu erwähnender Jargon ist die russische Gefängnissprache Fenja ( феня ), die sich in einer ganz speziellen Lebenssituation in einer bestimmten Bevölkerungsschicht entwickelt hat. Weniger radikal ist der Jugendjargon Stëb ( стёб ), der eine besonders hohe Frequenz an Wörtern englischen Ursprungs sowie aus der Computersprache aufweist. Der Mat ( мат ; andere Benennungen sind матерщи\ на und ма\терный язык ) steht für die derbe russische Vulgärsprache, die stilistisch deutlich unter der normalen Umgangssprache angesiedelt ist. Diese Benennung bedeutete ursprünglich soviel wie ‚lautes Geschrei’ und bezeichnet heute eine von Flüchen und obszönen Ausdrücken geprägte Varietät der russischen Sprache. Register der russischen Sprache der Gegenwart sind also: • Standard- oder Schriftsprache: современный русский литературный язык • (mündlicher) Gebrauch der Standard- oder Schriftsprache (von Gebildeten): разговорная речь • (mündliche) Umgangssprache der einfachen Volksschichten: просторечие • daneben Soziolekte (soziale Schichtsprachen), Dialekte (regionale Sprechsprachen) und Jargons (großteils berufsspezifisch geprägt), deren Grad der Verschriftung unterschiedlich sein kann 14.3 Russisch-deutsche Sprachkontakte Kontakte zwischen den deutschen und den russischen Sprechergemeinschaften haben eine lange Tradition, auch wenn die beiden Sprachregionen nicht unmittelbar benachbart waren und sind. Gleiches gilt im Übrigen für viele der anderen Slavinen. <?page no="218"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 212 Befinden sich zwei Sprechergemeinschaften im direkten Kontakt miteinander, d.h. ohne die Vermittlung von Drittsprachen, so spricht man von einer Adstrat-Situation (von lat. stratum ‚Schicht’). Dieser Terminus ist zunächst wertungsfrei und neutral. Verschiebt sich das kulturelle, ökonomische und/ oder militärische Gleichgewicht zwischen den beiden Gemeinschaften, gewinnt also eine von beiden die Oberhand, so spricht man von Superstrat- und Substratsprachen. Die Superstratsprache ist dabei die Sprache des überlegenen Volkes, die erhalten bleibt oder die unterlegene Sprache überlagert, während die Substratsprache des unterlegenen Volkes im Extremfall völlig ausgelöscht wird. Meist gehen jedoch Reste der Substratsprache in die Superstratsprache ein, oft, jedoch nicht ausschließlich, im Bereich geographischer Bezeichnungen. So finden sich noch heute zahlreiche Ortsnamen auf -ow, -(n)itz oder -gast als ursprünglich slavische Suffixe sowie viele slavische Wurzeln, die im Laufe der Geschichte mit germanischen Affixen versehen wurden (Berlin, Rostock, Leipzig). 103 Bereits seit dem frühen Mittelalter existiert die Bezeichnung Wenden (bzw. Winden; nach dem Volksstamm der Veneter oder Venedi) als Synonym für die Slaven, insbesondere für jene Westslaven, die im Zuge der Völkerwanderung etwa ab dem 7. Jahrhundert große Teile Nord- und Ostdeutschlands, die sog. Germania Slavica, besiedelten, wobei sich dieser Siedlungsraum im Süden bis zu den Ostalpen erstreckte. Bekannte Ortsbezeichnungen sind, neben vielen anderen, in Deutschland das (Hannoversche) Wendland, in der ehemaligen k.u.k-Monarchie Windischgräz (heute Slovenj Gradec in Slowenien). Mit der massenhaften Auswanderung russischer Muttersprachler (mit überwiegend deutschen Wurzeln) nach Deutschland Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts ergab sich hier eine neue Situation des Sprachkontakts bzw. der Sprachmischung, vornehmlich im mündlichen Bereich. Diese besondere Form des Deutschrussischen wird bisweilen Quelia ( квеля , Qwe ля , Qwe’ ля ; wohl von dt. Quelle oder quälen) genannt und weist etliche phonetisch-phonologische, morphologische, syntaktische und lexikalische Spezifika auf. 104 Am sichtbarsten sind die lexikalischen Neuschöpfungen im Russischen, die Realia der deutschen oder allgemein westlichen Kultur bezeichnen, wie etwa арбайтсамт , шпильхалле , ферайн . Während viele dieser Bildungen schlicht überflüssig und willkürlich sind, zeugen andere von einiger sprachlicher Kreativität, so beispielsweise die Bezeichnung Arbeits´ слёзы mit der Bedeutung ‚Arbeitslosengeld’. Sie ergibt sich zunächst aus einer bewussten oder unbewussten Reduktion des Wortes Arbeitslosengeld zu Arbeitslose (möglicherweise in Analogie zur Bildung Stütze aus Arbeitslosenunterstützung). In einem weiteren Schritt führt die phonetische Ähnlichkeit des (morphologisch falsch gedeuteten) Wortbestandteils -slose mit dem russischen Wort слёзы ‚Tränen’ zur Bildung Arbeits´ слёзы . Diese Neubildung steht nun zugleich für das (geringe) Arbeitslosen- 103 Zum ehemals slavischen Siedlungsraum im heute deutschsprachigen Gebiet und den sich hieraus ergebenden Sprachkontakten siehe u.a. M ÜLLER , K LAUS : Slawisches im deutschen Wortschatz (bei Rücksicht auf Wörter aus den finno-ugrischen wie baltischen Sprachen). Lehn- und Fremdwörter aus einem Jahrtausend. Berlin 1995. S. 11-27 104 Für Weiteres siehe beispielsweise die sehr interessante, bisweilen äußerst verblüffende und für Sprachpuristen gänzlich ungeeignete Internetseite http: / / www.strannik.de/ quelia/ . Dort heißt es u.a.: „Qw елью как шпрахой заинтересовался известный берлинский музыкант Sascha Puschkin, который специально организовал первую этнографическую экспедицию в Невок ö льн с целью набрать материала и сформулировать литературные нормы Qw ели .“ <?page no="219"?> Russisch-deutsche Sprachkontakte 213 geld und die Tränen, die der Bezug dieses Geldes möglicherweise bei der betroffenen Person hervorruft. Auch mit anderen Sprachen ist das Russische im Laufe seiner Geschichte Verbindungen eingegangen, aus denen verschiedene Mischsprachen resultierten, so das Surschyk (Suržyk, von ukrain. суржик ‚Mehlmischung’) mit dem geografisch benachbarten und genetisch verwandten Ukrainischen, das Tras(s)janka (von weißruss. трасянка ‚Mischung aus frischem Gras und Heu des Vorjahres’, ‚Viehfutter’) mit dem Weißrussischen. Innerhalb der Grenzen der Sowjetunion vermischte es sich auch mit einigen isolierten Sprachen sibirischer und asiatischer Völker. An den Arktis-Grenzen zu Norwegen entstand das mittlerweile ausgestorbene Russenorsk (18./ 19. Jh.), während im Fernen Osten der Kontakt mit Chinesen Kjachta-Russisch hervorbrachte. Ein allgemeiner Nationalismus hat zum Auslöschen dieser Mischsprachen geführt. Erhalten und sogar ausgedehnt hat sich dagegen das auf Kuba entstandene spanisch-russische Rusinol. 14.3.1 Russizismen im Deutschen Die folgende Wortliste von Russizismen 105 , die bei weitem keine Vollständigkeit beansprucht, spiegelt die jahrhundertelangen kulturellen Beziehungen zwischen Russland und der Sowjetunion auf der einen und den deutschsprachigen Ländern auf der anderen Seite wider. Die Bezeichnungen sind z.T. in die deutsche Allgemeinsprache eingegangen, sind aber teilweise auch nur als Fachtermini den jeweiligen Experten ein Begriff. Sie entstammen den unterschiedlichsten Seinsbereichen: Politik, Verwaltung, Geographie, Militär, Verkehr, Technik, Kultur (Musik, Religion, Nahrung) usw. In den Fällen, in denen Erscheinungen benannt werden, die auf das Engste mit der Sowjetunion und ihrem herrschenden politischen System verbunden sind, spricht man auch von Sowjetismen. Etliche von diesen sind nur in der Übersetzung in die deutsche Sprache eingegangen, wie z.B. Held der Arbeit, Stachanowarbeiter, allseitige entwickelte sozialistische Persönlichkeit, lichte Höhen des Sozialismus, Lakai des Imperialismus. 105 Die Umschrift stellt die allgemein verständliche Dudentranskription dar, nicht die wissenschaftliche Transliteration. A • Agitprop • Apparatschik B • Babuschka • Balalaika • Bistro • Bolschewiki • Borschtsch D • Datsche • Duma G • Glasnost • Gulag I • Intelligenzija K • Kalaschnikow • Katjuscha • Kolchos • Kommunalka • Kopeke • Kosaken • Kosmonaut • Kreml • Kulak • Kwaß M • Machorka • Menschewiki <?page no="220"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 214 P • Perestroika • Pogrom R • Rubel S • Samisdat • Samowar • Sowchos • Sowjet • Sputnik • Steppe • Strelizen T • Taiga • Troika • Tscheka • Tundra U • Ukas W • Wodka Z • Zar • Zarewitsch • Zobel Hinzu kommen etliche Abkürzungen überwiegend aus dem politischen Leben, wie KGB ( Комитет государственной безопасности ), FSB ( Федеральная служба безопасности ), ZK ( Центральный комитет ). 14.3.2 Germanismen im Russischen Bei der folgenden, ebenfalls nur einen Teil der möglichen Lexeme aufführenden Liste von Germanismen ist zu beachten, dass etliche der aus dem Deutschen ins Russische entlehnten Wörter einen Bedeutungswandel durchgemacht haben, so dass man sie auch in eine Liste der falschen Freunde (siehe nächster Abschnitt) einordnen könnte. A • Absatz (im Text) абзац • Anschlag аншлаг (‚Plakat’; ‚ausverkauft’) • Anschluss аншлюс ( с ) (bezieht sich auf den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland) B • Bootsmann боцман • Brandmauer брандмауэр • Brüderschaft - ( пить на ) брудершафт (‚Brüderschaft trinken’) • Buchhalter бухгалтер • Bürgermeister бургомистр • Büstenhalter бюстгальтер • Butterbrot бутерброд (‚belegtes Brot’) D • Dübel дюбель • Durchschlag дуршлаг (‚Sieb’) E • Eisberg айсберг • Endspiel эндшпиль F • Fackel факел • Feuerwerk фейерверк • Flöte флейта • Flügel (Gebäudeteil) флигель • Fräulein фрейлина (‚Hofdame’) G • Gastarbeiter гастарбайтер • Gastrolle гастроли • Gefreiter e фрейт o р • Granate граната (‚Handgranate’) • Großmeister гросмейстер • Grund (Erdschicht) грунт H • Halstuch галстук (‚Krawatte’) • Haubitze гаубица • Hauptwache гауптвахта (‚militärische Arrestanstalt’) • Herzog герцог J • Jäger егерь (eigentlich ein Beamter für die Aufsicht über den Wildtierbestand) • Jahrmarkt ярмарка K • Kitsch китч • Kran кран (‚Wasserhahn’) • Kurort курорт • Kutscher кучер L • Lager лагерь • Landschaft ландшафт • Losung лозунг M • Marschroute маршрут • Maßstab масштаб <?page no="221"?> Russisch-deutsche Sprachkontakte 215 • Mittelspiel миттельшпиль • Mundstück мундштук (‚Pfeifenmundstück’) P • Perlmutt перламутр • Perückenmacher парикмахер (‚Frisör’) • Pfand фант • Poltergeist полтергейст • Postamt почтамт R • Rathaus ратуша • Reißfeder рейсфедер • Riesenschnauzer ризеншнауцер • Rucksack рюкзак S • Schacht шахта • Scheibe шайба (‚Eishockeyscheibe, Puck’, aber auch ‚Unterlegscheibe’) • Schiene шина (‚Reifen’) • Schlacke шлак • Schlagbaum шлагбаум (‚Sperre, Schranke’) • Schlager шлягер • Schnitzel шницель • Schnur шнур • Schramme шрам • Schrift шрифт (‚Bleisatz, Schriftsatz’, aber auch ‚Gesamtheit graphischer Zeichen’) • Spion шпион • Spritze шприц • Stangenzirkel штангенциркуль (‚Messschieber’) • Stativ штатив • Steiger штейгер • Stempel штемпель • Stöpsel штепсель • Strafe штраф (‚Bußgeld’) • Strich штрих • Sturm штурм T • Trauer траур • Turm тюрьма (‚Gefängnis’) W • Waffel вафля • Wechsel вексель • werben вербовать (‚Söldner werben’) • Wunderkind вундеркинд (‚schlaues, begabtes Kind’) • Wimpel вымпел Z • Zeche цех • Zeitnot цейтнот • Zeughaus цейхгауз (Lager) • Zifferblatt циферблат • Zugzwang цугцванг Bei näherer Betrachtung der Liste lassen sich unschwer einige typische Themenbereiche feststellen, die überproportional stark vertreten sind und die darauf schließen lassen, dass die deutsche Kultur in diesen Sektoren über einen längeren Zeitraum hinweg eine dominierende Rolle gespielt haben muss: Militär, Bergbauwesen, Technik, Schachspiel. Nur schwach vertreten sind dagegen Lexeme aus dem künstlerischen Bereich i.w.S., für den eher die italienische und die französische Sprache verantwortlich zeichnen. Die entlehnten Wörter können wiederum nach ihrer Integration in die russische Sprache als Basis für Wortbildungsprozesse dienen, vgl. факел факельное шествие ‚Fackelzug’, факельщик ‚Fackelträger’. Von den genannten Beispielen sind wiederum Wörter zu unterscheiden, die als Neologismen nicht (eventuell noch nicht) zum System der russischen Sprache gehören, zumal sie zu einem großen Teil von russischen Muttersprachlern außerhalb der Heimat, in der deutschen Diaspora, gebildet wurden, um hier spezifischen Benennungsnotwendigkeiten Rechnung zu tragen: арбайтсамт , социаламт , ауслендер бехерде , киндергельд , пособие по интеграции (‚Eingliederungshilfe’), гешпрех (‚Vorstellungsgespräch’ 106 ), путцать (‚putzen gehen’ 107 ), мэльдовать , мита , ге шефт . Einige dieser Bildungen erweisen sich als Transliterationen/ Transkriptionen 106 „ Получил два приглашения на гешпрехи и , как результат , два контракта .“ ( http: / / avstrija.com/ fo rum/ archive/ index.php? t-7290.html ) 107 „ С работой здесь туго ; даже путцать проблематишь устроиться .“ ( http: / / avstrija.com/ forum/ archi ve/ index.php? t-7290.html ) <?page no="222"?> Die russische Sprache im Kontext der anderen Slavinen 216 deutscher Namen (von denen sicherlich nicht alle notwendig sind, siehe die letzten Beispiele), andere sind Übersetzungen oder Lehnbildungen mit den eigenen Mitteln und nach den Regeln der russischen Sprache. 14.3.3 Falsche Freunde Wenn es um Sprachkontakte geht, stößt man früher oder später auf das Schlagwort der sog. falschen Freunde. Hiermit sind Wortpaare gemeint, die in beiden Sprachen gleich oder ähnlich geschrieben und/ oder gesprochen werden, jedoch einen in Teilen oder zur Gänze anderen Referenzbereich besitzen und deshalb bei der Übertragung eines Textes von der einen in die andere Sprache den Übersetzer oder die Übersetzerin in der falschen Sicherheit wiegen, man kenne dieses Wort ja in beiden Sprachen und könne es in beiden Sprachen auch auf die gleiche Art verwenden. Allgemein können diese falschen Freunde in jeder Kommunikationssituation dem Nicht-Muttersprachler Probleme bereiten. 108 So bedeutet дуршлаг nur ‚Durchschlag’ im Sinne von ‚Sieb’, nicht jedoch von ‚Kopie’, аншлюс ( с ) ist lediglich in der historisch-politischen Lesart im Russischen zu verwenden, штраф bedeutet nur ‚Geldstrafe, Bußgeld’, und auch шайба und шрифт sind alles andere als referentiell deckungsgleich mit den zugrundeliegenden deutschen Wörtern. Die Problematik der falschen Freunde vergrößert sich noch im Falle (eng) miteinander verwandter Sprachen, da hier der weitgehend identische Formenbestand fälschlicherweise auch die Existenz identischer Inhalte annehmen lässt. So veranschaulicht die folgende Gegenüberstellung einiger russisch-polnischer falscher Freunde 109 die Tatsache, dass eben in diesen - und vielen anderen Fällen - eine Eins-zu-eins-Entsprechung nicht gegeben ist. Wie die Beispiele zeigen, kann der semantische Unterschied zwischen den Lexemen mal größer und mal kleiner sein. Insbesondere unter fremdsprachendidaktischem Blickwinkel verdienen diese Aspekte erhöhte Aufmerksamkeit. R. ангельский P. anielski ‘engelgleich, engelhaft’ P. angielski R. английский ‘englisch’ R. вонь P. smród ‘Gestank’ P. wo ń R. аромат ‘Geruch, Duft’ R. гроб P. trumna ‘Sarg’ P. grób R. могила ‘Grab’ R. дворец P. pałac ‘Palast’ P. dworzec R. вокзал ‘Bahnhof’ R. диван P. kanapa ‘Sofa’ P. dywan R. ковёр ‘Teppich’ 108 Neben zwischensprachlichen (interlingualen) falschen Freunden gibt es ferner innersprachliche (intralinguale), die als Paronyme auch Muttersprachlern bisweilen Probleme bereiten, siehe dt. verständig - verständlich, Worte - Wörter, Versprechen - Versprecher, russ. Австралия - Австрия , Швецария - Швеция , понятный - понятливый , указывать - оказывать . Nach J. B ERTRAND werden diese Paronyme in Analogie zu den falschen Freunden auch falsche Brüder genannt. 109 Beispiele adaptiert nach D. B UN Č I Ć . Unter http: / / www.lipczuk.buncic.de/ findet sich eine Bibliographie zum Thema. <?page no="223"?> Russisch-deutsche Sprachkontakte 217 R. запомнить P. zapami ę ta ć ‘sich merken, behalten’ P. zapomnie ć R. забыть ‘vergessen’ R. криминалист P. specjalista w dziedzinie kryminologii ‘Kriminologe’ P. kryminalista R. уголовный преступник ‘Verbrecher’ R. неделя P. tydzie ń ‘Woche’ P. niedziela R. воскресенье ‘Sonntag’ R. овощи P. jarzyna ‘Gemüse’ P. owoce R. фрукты ‘Obst’ R. родина P. ojczyzna ‘Heimat’ P. rodzina R. семья ‘Familie’ R. рок P. los ‘Schicksal’ P. rok R. год ‘Jahr’ R. русский P. rosyjski ‘russisch’ P. ruski R. руський , восточнославянский ‘ruthenisch, ostslavisch’ R. склеп P. krypta, grobowiec ‘Gruft’ P. sklep R. магазин ‘Geschäft’ R. стул P. krzesło ‘Stuhl’ P. stół R. стол ‘Tisch’ R. утро P. poranek ‘Morgen, Vormittag’ P. jutro R. завтра ‘morgen’ Literatur: Die Problematik der falschen Freunde ist für viele Sprachenkombinationen mittlerweile intensiv erforscht und lexikographisch dargestellt worden. Die folgenden Werke und Internetseiten berücksichtigen schwerpunktmäßig das Russische sowie den russisch-deutschen Sprachvergleich: B ORGWARDT , U.; W ALTER , H.: PONS-Fehler abc: Deutsch-russisch. Stuttgart 2 1996. B UDAGOV , R. A.: Typen von Entsprechungen zwischen den Bedeutungen von Wörtern verwandter Sprachen. In: Reader zur Geschichte der sowjetischen Sprachwissenschaft. Hg. F. M. B ERESIN . Übers. H. Z IKMUND . Leipzig 1984. S. 181-188. Č INCLEJ , G. S.: Vnutrijazykovaja i mežjazykovaja paronimija. / / Funkcional’no-semanti č eskij aspekt jazykovych edinic raznych urovnej: Romano-germanskaja filologija: Mežvuzovskij sbornik. Eds. G. S. Č INCLEJ et al. Kishinev 1986. G OTTLIEB , K. H. : Sprachfallen im Russischen: Wörterbuch der „falschen Freunde“ Deutsch und Russisch: Ein Lern- und Nachschlagewerk. Ismaning 1985. M ALACHOVSKIJ , L. V L .: Teorija leksi č eskoj i grammati č eskoj omonimii. Leningrad 1990. Š APOVALOV , A.; H OFFMANN , J.; H OFFMANN , D.: Interferenzen Deutsch-Russisch bei Internationalismen aus dem Bildungswesen. In: Deutsch als Fremdsprache 4. S. 239-242. V YCHOTA , V. A.: Nemecko-russko-belorusskij slovar’: omonimija, paronimija, polisemija. Minsk 2002. http: / / www.deutsch-uni.com.ru/ gram/ schwer_falsche_freunde.php http: / / www.study-in-germany.de/ russian/ 4.101.365.html http: / / www.trworkshop.net/ false/ german1.htm <?page no="224"?> 15 Historischer Teil 15.1 Vorbemerkung Der hier vorgelegte Historische Teil als Ergänzung zur Einführung in die slavistische Sprachwissenschaft kann und will keines der am Markt erhältlichen - oder mittlerweile auch nicht mehr erhältlichen - Werke zum Altkirchenslavischen ersetzen. Er ist gedacht als schneller Einstieg in die Materie für diejenigen, die sich vielleicht später noch intensiver hiermit befassen müssen bzw. als Überblick für alle jene, bei denen die Beschäftigung mit den historischen Sprachstufen der Slavinen und im engeren Sinne des Russischen keinen integrierenden Teil ihres Studiums bildet. Insbesondere die umfangreiche Formenlehre wird in vielen Lehrbüchern zum Altkirchenslavischen, meist in tabellarischen Übersichten, ausführlich dargelegt und daher im Rahmen dieser Darstellung nur kurz behandelt. Für einen Einblick in die Forschung und weitere Recherchen sei auf das ausführliche Literaturverzeichnis zu dieser Einführung sowie ferner auf die Bibliographie in T RUNTE (2005) verwiesen. Folgende Aspekte werden im Weiteren angesprochen: Für die Studierenden interessant ist sicher zunächst eine Antwort auf die Frage, warum man sich als SlavistikstudentIn überhaupt mit dem Altkirchenslavischen beschäftigen muss (oder doch zumindest sollte, auch wenn es der Lehrplan evtl. nicht vorschreibt). Im Zusammenhang hiermit ist das in der Wissenschaft viel diskutierte Problem zu sehen, wo die Slaven eigentlich herkommen, wo ihre sog. Urheimat zu finden ist. Am Beispiel des Russischen wird danach eine Periodisierung vorgestellt, die die Entwicklung vom Indoeuropäischen als gemeinsamer Grundsprache bis hin zur russischen Sprache der Gegenwart nach ihren jeweiligen Charakteristika in Epochen teilt. Im Anschluss hieran wenden wir uns dem Altkirchenslavischen i.e.S. zu, seiner Entstehungsgeschichte und, damit verbunden, seinen verschiedenen Bezeichnungsvarianten, bevor wir uns mit der Genese der slavischen Schriftsysteme und ihren graphischen Besonderheiten beschäftigen. Die Schrift wiederum muss im Zusammenhang mit der lautlichen Entwicklung gesehen werden, die sich ihrerseits auf verschiedenen Ebenen des Altkirchenslavischen niederschlägt, so z.B. in der Morphologie. Von dieser wie auch von der Syntax werden die herausragenden Merkmale kurz erläutert, bevor abschließend die wichtigsten Schriftdenkmäler der Epoche genannt werden und ein Vergleich der kulturellen Bedeutung des Altkirchenslavischen mit jener der lateinischen Sprache den Blick über den engeren Bereich der Slavia hinauslenkt. *** <?page no="225"?> Warum Altkirchenslavisch? 219 искони бh слово ... 15.2 Warum Altkirchenslavisch? Das Studium des Altkirchenslavischen (AKS) ergänzt das kanonisierte, in erster Linie auf die Gegenwart bezogene und damit synchron ausgerichtete Slavistikstudium um die historische Dimension. Die Beschäftigung mit dem AKS selbst weist einerseits einen diachronen und andererseits einen synchronen Aspekt auf: diachron, weil letztlich die chronologische Entwicklung der einzelnen Slavinen tangiert wird und auch weil das AKS für die Dauer seiner Existenz nicht unverändert geblieben ist; synchron, weil es sich - mit Einschränkungen - um die Beschreibung eines Sprachzustandes im weiteren Sinne des Wortes handelt. Es muss von vornherein klargestellt werden, dass es sich beim AKS nicht, wie etwa beim Altrussischen, um eine Entwicklungsstufe der slavischen Einzelsprachen, hier speziell des Russischen, handelt, die chronologisch zwischen einer früheren und einer späteren Epoche lokalisiert werden kann. Die Frage, ob es sich beim AKS um eine eigene, von den einzelnen Slavinen grundsätzlich verschiedene oder um eine genetisch verwandte Sprache handelt oder lediglich um eine funktionsbedingte, primär schriftliche Varietät, ist strittig. Die heute noch lebenden Slavinen (wie auch die ausgestorbenen) sind jedoch die Reflexe in erster Linie der jeweiligen (gesprochenen) Volkssprachen, deren Schriftlichkeit unterschiedlich spät einsetzte und sekundären Charakter trägt. Jahrhundertelang ist für den ost- und den südslavischen Bereich (auf dem Gebiet der Westslavia war die römisch-katholische Kirche mit Latein als Amtssprache dominierend) von einer Diglossie-Situation auszugehen, d.h. von der Koexistenz des AKS und der jeweiligen, den Schwerpunkt der funktionalen Belastung tragenden Volkssprache. Die Einschätzung Š ACHMATOVS , die russische Literatursprache sei „nach ihrer Entstehung eine auf russischen Boden übertragene kirchenslavische (ihrem Ursprung nach altbulgarische) Sprache, die sich im Laufe der Jahrhunderte der lebendigen Volkssprache angenähert hat“ ( Š ACHMATOV / S HEVELOV 1960: 3 110 ), bedarf einer Erläuterung, da sie sehr stark die Differenz zwischen der lebendigen - überwiegend gesprochenen - Volkssprache und der kirchenslavischen - überwiegend geschriebenen - Literatursprache betont und m. E. die Rolle der Volkssprache unterschätzt. Literatursprache ist nicht nur die Sprache der (schöngeistigen) Literatur, sondern ganz allgemein die Hoch- oder Standardsprache, die aber sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form existiert. Das Russische der Gegenwart ist eher als der Fortsetzer einer slavischen Volkssprache mit (alt)kirchenslavischen Elementen denn als adaptiertes, „oralisiertes“ Kirchenslavisch anzusehen. Noch im 18. Jh. war jedoch die - wissenschaftlich unhaltbare (s.o.) - Meinung weit verbreitet, „daß die russische Sprache das neueste Stadium der kirchenslavischen sei“ ( Š ACHMATOV / S HEVELOV 1960: 49). Zuzustimmen ist dagegen der Formulierung I SSATSCHENKOS (I SA Č ENKOS ) (1980: 71): 110 Im Original heißt es: „[...] по своему происхождению русский литературный язык - это перенесенный на русскую почву церковнославянский [...]“ ( Š ACHMATOV A. A.: O č erk sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka. Izd. 4-e. Moskva 1941. S. 60). <?page no="226"?> Historischer Teil 220 „Das Altkirchenslavische wurde zusammen mit dem Christentum als Sakralsprache der orthodoxen Slaven ins Kiever Reich gebracht. Es war unvermeidlich, daß es alsbald zu Interferenzerscheinungen kam und daß ostslavische Elemente (im Lautsystem, in der Flexion, in der Wortwahl und Wortbildung) ins Altkirchenslavische eindrangen, ohne jedoch die weitgehend gräzisierte Syntax und Phraseologie dieser Sprache zu verletzen.“ Richtig ist zweifellos, dass die einzelnen Slavinen im Laufe ihrer Geschichte mehr oder weniger zahlreiche kirchenslavische Elemente in sich aufgenommen und angepasst haben. Umgekehrt haben jedoch auch die Volkssprachen auf das AKS eingewirkt. Abbildung 34: Die Baš ć anska Plo č a Generell muss man sagen, dass die kulturelle Bedeutung des AKS für den gesamten Bereich der Slavia, insbesondere jedoch für die Ost- und Südslavia, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Viele Zeugnisse vergangener Jahrhunderte sind nur noch oder erstmalig als altkirchenslavische Texte in verschiedener Form erhalten. Die Baš ć anska Plo č a vom Ende des 11. Jh. beispielsweise, gefunden in Baška auf der kroatischen Insel Krk, ist eine etwa 2x1 m große, in Stein gemeißelte Schenkungsurkunde, die nicht nur ein zentrales kulturell-sprachliches, sondern auch ein wichtiges historisches Zeugnis darstellt. 111 In der lateinischen Transliteration lautet ihr Text wie folgt: „V ime Otca i Sina i Svetago Duha. Az opat Držiha pisah se o ledine juže da Zvonimir, kralj hrvatskij v dni svoje v svetuju Luciju. Mi župan Desimira Krbave, Mratinac Luce, Pribineb pos'l Vinodole, Jakov v otoce. Da iže pore č e, klni i Bog i dvanajst apostola i č etiri evanjelisti, i svetja Lucija. Amen. Da iže sde žive, ta moli za nje Boga. Az opat Dobrovit z'dah crekv siju i svojeju bratiju s devetiju v dni kneza Kosmata obladaju ć ago vsu Krainu: I beše v ta dni Mikula v Oto č ci s svetju Luciju v jedino.“ 111 Eine sehr informative Quelle (nicht nur) zur kroatischen Glagolica ist im Internet unter http: / / www.hr/ darko/ etf/ et03.html zu finden. Näheres zur Baš ć anska Plo č a auch unter http: / / www.vinodol.org/ uvod _1/ teme/ glag/ pag/ gla_ka_07.htm , http: / / www.svkri.hr/ izlozbe/ bascanskaploca.html , http: / / www.ihjj.hr/ o-hr-bascanska-ploca. htm . <?page no="227"?> Slavische Urheimat und slavische Landnahme 221 15.3 Slavische Urheimat und slavische Landnahme Eine systematische Beschäftigung mit dem AKS führt nicht nur zur Frage nach der Herkunft der slavischen Schrift(en), sondern unweigerlich auch zur Frage nach der Herkunft der Slaven selbst, nach den geographischen Räumen, in denen sie das erste Mal nachgewiesen werden können und aus denen heraus sie sich über einen beträchtlichen Teil Europas und Asiens ausgedehnt haben. Die geographische Bestimmung der Urheimat der Slaven, d.h. ihres ursprünglichen, historisch gesicherten Siedlungsgebietes, ist nicht unumstritten und gehorcht bisweilen politischen Überlegungen. Nach I SSATSCHENKO (1980: 13) lagen „die letzten gemeinsamen Wohnsitze der Slaven nördlich des Karpatenbogens“ und erstreckten sich „über die westliche Ukraine bis zum mittleren Dnepr ( È ernigov, Kiev) und östlich des Dnepr bis zum oberen Don“. Zur Beschreibung des Siedlungsraumes werden oft auch die Pripjet- Sümpfe herangezogen. Ob auch ein Teil des heutigen Polen zu diesem Siedlungsgebiet gehörte, ist umstritten. Laut der mittlerweile klassischen Theorie L. N IEDERLE s (1902, 1923, 1953) erstreckte sich die Urheimat der Slaven nördlich der Karpaten von den Flüssen Weichsel, im Westen von Bug und Pripjet (pripjat‘) bis zum Mittellauf des Dnjepr, zum Oberlauf von im Süden Bug und Dnjestr (sie umfasste damit Ostpolen, Südweißrussland und einen Teil der Ukraine). T. L EHR -S PŁAWI Ń SKI (1946) verschiebt die Urheimat dagegen stark nach Westen, vom Mittellauf der Elbe bis auf das Gebiet Wolhyniens (im Südwesten der Ukraine) und im Nordosten bis zur Weichsel. Neuere Theorien favorisieren daneben Zentralasien als (iranische) Urheimat der Indogermanen und damit auch der Slaven, was durch wissenschaftliche Erkenntnisse bislang nicht hat untermauert werden können, sofern man überhaupt der These eines homogenen protoslavischen Urvolkes zuneigt. Von einer Zuwanderung slavischer Stämme aus dem Osten in das genannte Gebiet kann ausgegangen werden, diese ist jedoch in vorgeschichtliche Zeit zu datieren und damit nicht genauer fassbar. Vor allem die Stammesnamen der Venedi (Wenden) und Anti (Anten) sind mit der Vorgeschichte der Slaven eng verbunden. Im Zuge der Völkerwanderung (ab dem 6. Jh. n. Chr.) besiedeln slavische Stämme die Ostalpen und Teile der Balkanhalbinsel, im 7. oder 8. Jh. erreichen Slaven die Elbe. Um 800 n. Chr. siedeln slavische Stämme vom Finnischen Meerbusen bis zum Peloponnes, von der Nordsee bis zur Oka und Wolga. Die slavischen Landnahmen führen zunächst zum Zurückdrängen des Christentums, dem alsbald aktiv entgegengewirkt wird; so fördert bspw. Ende des 9. Jhs. Kaiser Basilios von Byzanz die Christianisierung der Slaven. Ein slavisches Sprachkontinuum in den genannten Gebieten kann bis ca. 900 n. Chr. vermutet werden, als die Baiern und Magyaren einen Keil zwischen nördliche und südliche Slaven treiben (I SSATSCHENKO 1980: 14). Mit der geographischen Ausdehnung der Slaven verstärken sich dialektale Tendenzen, so dass man vom Zerfall des Gemeinslavischen sprechen kann. Diese Übergangszeit vom Gemeinslavischen zum frühen Ostslavischen nennt I SSATSCHENKO (1980: 14) das Späturslavische. P ANZER (1991: 243) bezeichnet als Gemeinslavisch „Alles das, was den überlieferten und existierenden slavischen Sprachen gemeinsam ist“ und als Urslavisch <?page no="228"?> Historischer Teil 222 eine „erste spezifisch slavische Sprachentwicklungsstufe“ in Abgrenzung von den übrigen indogermanischen Sprachfamilien bzw. Sprachen (Indoiranisch, Armenisch (isoliert), Tocharisch, Hethitisch, Anatolisch, Thrakisch, Dakisch, Illyrisch, Griechisch (isoliert), Italisch, Keltisch, Germanisch, Baltisch). Die Beschäftigung mit der Herkunft der slavischen, insbesondere der ostslavischen Völker lässt deren Namen teilweise in einem neuen Licht erscheinen. Auch im deutschen Sprachraum waren lange Zeit die Bezeichnungen Großrussland ( Вели кая Русь ) für das eigentliche Russland und Kleinrussland ( Малая Русь oder Мало россия ) für die Ukraine üblich. Deren Bewohner hießen entsprechend малороссы ‚Kleinrussen’, denen die великороссы ‚Großrussen’ gegenüberstanden. Das dritte ostslavische Volk waren und sind die белорусы ‚Weißrussen’ in Белоруссия , weißruss. Беларусь . Der Name малороссы wurde von den Ukrainern jedoch lange als herabwürdigend empfunden und schien sie als Russen 2. Klasse abzustempeln. Mochte dies in den Zeiten der Sowjetunion auch in etlichen Bereichen zutreffen, so lässt doch die Genealogie der ostslavischen Völker eine andere, durchaus positive Sichtweise dieses Namens zu, wenn man „klein“ im Sinne von ‚jung’, ‚zur Frühzeit gehörend’ deutet. Wie oben gesehen, entspräche dies tatsächlich der (vermuteten) Herkunft, sozusagen der Wiege der Slaven, die eben wohl nicht im späteren großrussischen Reich, sondern grosso modo auf dem Gebiet der nachmaligen Ukraine gestanden hat, die gemeinsam mit einem bedeutenden Teil Weißrusslands die Kiever Rus’ ausmachte. Die Bezeichnungen Белоруссия und Weißrussland sind insofern umstritten, als sie fälschlicherweise suggerieren, diese Region sei historisch schon lange mit Russland verbunden. Korrekter, wenngleich heute nicht mehr in Gebrauch, ist deshalb der alte deutsche Name Weißruthenien (die Bezeichnung Ruthenien leitet sich vom Namen Rus’ ab; sie ist wiederum synonym zu Reußen und stellt einen Oberbegriff für die geographisch distinkten Gebilde Weiß-, Schwarz- und Rotruthenien dar). Auch zur Herkunft des Namensbestandteils бело existieren verschiedene Theorien. Das Adjektiv белый wird einmal etymologisch mit болото ‚Sumpf’ in Verbindung gebracht (vgl. u.a. C YGANENKO 1989: 37) und könnte damit ein sumpfiges Siedlungsgebiet der betroffenen Völkerschaften bezeichnet haben. Eine andere Sichtweise schreibt белый die mittelalterliche geographische Lesart von ‚westlich’ oder ‚nördlich’ zu, wodurch Weißrussland als „Westliche Rus’“ zu interpretieren wäre. Eine dritte Theorie zur Bedeutung von белый meint: „The meaning of the word stems from Tatars using word ‘white’ to mean ‘free’, ‘nontaxable’, etc.“ ( http: / / www.belarusguide.com/ history1/ belname.html ) Nichts zu tun hat die Bezeichnung auf jeden Fall mit den die „roten“ Bolschewiken bekämpfenden „Weißen“ des russischen Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution. Dies wäre eine rein volksetymologische Deutung. 15.4 Quellen zur Geschichte der slavischen Sprachen Das Quellenmaterial für die Erforschung der slavischen Sprachen, hier speziell des Russischen, und für die Rekonstruktion untergegangener Wörter und Formen ist sehr heterogen. So heißt es beispielsweise bei D URNOVO (1927/ 1969: 11): <?page no="229"?> Quellen zur Geschichte der slavischen Sprachen 223 „ Источником истории русского языка являются : 1) письменные памятники , 2) современный живой разговорный язык русского народа во всех его ответвле ниях и видах , 3) слова и формы иностранных языков , заимствованные из русского языка и 4) письменные свидетельства иностранцев о русских , со держащие русские имена , слова и выражения . Помимо этого для более поздней эпохи истории русского языка , начиная с XV в ., мы имеем ряд грамматических работ o русском языке , русских и иностранных , и словарей с переводом русских слов на иностранные языки .“ Die folgende, ausführlichere Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an E CKERT / C ROME / F LECKENSTEIN (1983: 13-17). Dort werden sechs wichtige Quellen unterschieden, die sich nur z.T. auf Belege in Schriftform berufen können, was zugleich die Problematik aller Rekonstruktionsversuche ausmacht: Vieles muss mangels gesicherter Beweise hypothetisch bleiben, doch ist die (historische) Sprachwissenschaft, teilweise im Verbund mit anderen Wissenschaftsdisziplinen, in ihren Erkenntnissen so weit vorangekommen, dass mittlerweile zahlreiche Hypothesen der Vergangenheit verifiziert (oder falsifiziert) werden konnten. Die sechs Quellen sind: 1. Verwandte Sprachen Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft unternimmt den Versuch der zumindest partiellen „Rekonstruktion von Systemfragmenten vergangener Sprachzustände“. Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Entwicklung genetisch miteinander verwandter Sprachen erlauben Rückschlüsse auf ältere Sprachzustände. 2. Schriftdenkmäler • Inschriften (Graffiti) auf Wänden oder Gebrauchsgegenständen: Sie sind i.d.R. sehr kurz und bestehen u.U. nur aus einem einzelnen Wort; oft sind sie schlecht erhalten. • Pergamentbzw. Papierhandschriften (Manuskripte): Sie können verschiedene Inhalte aufweisen (religiöse, juristische oder wirtschaftliche Texte) und sprachlich unterschiedlich ausgestaltet sein (altrussische, altkirchenslavische, mundartliche Elemente, Kanzleisprache). • Birkenrinden-Urkunden: Dies sind kürzere Alltagstexte aus dem 11.-Mitte des 15. Jh. (altrussische Epoche) mit volkssprachlicher Prägung (eine Urkunde soll sogar den ersten russischen Mat in schriftlicher Form enthalten). Der erste Fund datiert von 1951, seitdem wurden über 1000 Exemplare ausgegraben. Fundstellen sind u.a. Velikij Novgorod, Staraja Russa, Smolensk, Pskov, Zvenigorod Galickij, Moskau, Tver’, Vitebsk, Mstislavl. • Alte Drucke ergänzen nach Einführung der Drucktechnik in Russland Mitte des 16. Jh. zunächst die bisherigen Manuskripte und verdrängen diese später sukzessive. • Die früheste Form der schriftlichen Aufzeichnung (in Altslavisch) ist aus der 2. Hälfte des 10. Jh. bezeugt (E CKERT / C ROME / F LECKENSTEIN 1983: 21). 3. Namenmaterial Eigennamen (Personen-, Stammes-, Städte-, Fluss- und sonstige geographische Namen) sind i.d.R. konservativer als der übrige, appellativische Teil des <?page no="230"?> Historischer Teil 224 Lexikons, d.h. sie bewahren frühere Sprachzustände oft auch dann noch, wenn das namengebende Volk längst nicht mehr in der betreffenden Region siedelt. Sie leisten insofern wertvolle Hilfe bei der Erschließung älterer Sprachstadien und sind nicht nur für die Linguistik, sondern auch für die Ethnologie und die Archäologie von großem Interesse. 4. Mundarten Das dialektale Sprachmaterial ist bisweilen ebenfalls konservativer als die Standardsprache und reflektiert Zustände, die in der Hochsprache bereits abgelöst wurden oder zumindest nicht in Schriftdenkmälern fixiert sind. 5. Altes Lehngut Hierunter fallen Entlehnungen sowohl des Russischen aus anderen Sprachen als auch von anderen Sprachen aus dem Russischen. Diese Lehnwörter haben u.U. nicht alle Lautentwicklungen der Standardsprache mitgemacht. 6. Russische Literatursprache der Gegenwart Auch das moderne Russisch hat gewisse Archaismen bewahrt und ist in jedem Fall als Ausgangspunkt und Vergleichsgrundlage der rückschauenden Untersuchung unerlässlich. 15.5 Periodisierung der russischen Sprache Eine von allen Forschern als verbindlich angesehene Periodisierung existiert weder im Hinblick auf die verschiedenen Zeitabschnitte, noch in Bezug auf die Bezeichnungen für die unterschiedlichen Epochen. In jedem Fall ist von fließenden Übergängen zwischen den jeweiligen Epochen auszugehen, die einige Jahrhunderte gedauert haben können. Scharfe Schnitte zwischen den Zeitstufen existieren nicht. Die untenstehende Grafik stellt die chronologische Abfolge der einzelnen Entwicklungsstufen vom Indoeuropäischen bis zum Russischen im Überblick dar und folgt dabei dem Modell von M ULISCH (1993: 18). 112 In der Grafik ist das AKS nicht als eigener Entwicklungsschritt (zwischen dem Gemeinostslavischen und dem Altrussischen) aufgeführt, da es, wie noch zu zeigen sein wird, als primär liturgische Schriftsprache nicht auf eine Stufe mit den zunächst nur mündlichen und später auch schriftlichen Perioden des Russischen und seiner Vorgängerformen gestellt werden kann. Es existierte parallel zu den primär gesprochenen altslavischen bzw. altrussischen Volkssprachen und kann als eine von der slavischen/ russischen Gemeinsprache stark unterschiedene Varietät mit einem eng umgrenzten Funktionsbereich betrachtet werden. 112 Bei I SSATSCHENKO (1980: 14-23) sieht die Chronologie der Sprachentwicklung bis zur Ausgliederung des Ostslavischen dagegen (und damit im Unterschied zu der oben vorgenommenen Unterteilung) wie folgt aus: Gemeinslavisch - Späturslavisch - Früh-Ostslavisch - Ostslavisch. <?page no="231"?> Periodisierung der russischen Sprache 225 bis 2./ 3. Jt. v.Chr. indoeuropäische Grundsprache ( индоевропейский язык основа ) bis 5. Jh. Urslavisch/ Gemeinslavisch ( праславянский язык ) 6. bis 9. Jh. Gemeinostslavisch ( общевосточно славянский язык ) 10. bis 17. Jh. Altrussisch ( древнерусский язык ) 113 ; Russisch seit 10./ 11. Jh. belegt darin: 13. bis 15. Jh. Kleinrussisch (= Ukrainisch, украинский язык ) Großrussisch ( великорусский язык ) oder Russisch ( русский язык ) Weißrussisch (= Belorussisch, белорусский язык ) Ende 17. Jh. bis Anfang 19. Jh. Russische Nationalsprache ( русский национальный язык ) und Moderne russische Literatursprache ( современный русский литературный язык ) Abbildung 35: Periodisierung der russischen Sprache Bei Datierungen altkirchenslavischer Texte sind die verschiedenen, im Laufe der Geschichte verwendeten Kalendersysteme zu beachten: Um das für unseren Gregorianischen Kalender (1582 eingeführt) gültige Jahr zu ermitteln, ist von der im jeweiligen Text verwendeten Jahresangabe die Zahl 5508 abzuziehen, da nach dem byzantinischen Kalender, basierend auf der Bibel, das Jahr 5508 den Zeitpunkt der Erschaffung der Erde und damit den Beginn der Zeitrechnung markiert. Peter der Große führte in Russland zum 1. Januar 1700 den Julianischen Kalender ein, der 1918 vom Gregorianischen abgelöst wurde (auf den 31. Januar folgte direkt der 14. Februar). Vom 11. bis 17. Jh. besitzt das Altbulgarisch-Kirchenslavische das größte Prestige und wird in immer mehr Bereichen des religiösen und weltlichen Lebens (von 113 Vom Altrussischen ist der sogenannte Altnovgoroder Dialekt ( древненовгородский диалект ; Terminus nach A. Z ALIZNJAK ) abzugrenzen, in dem die in der Novgoroder Region entdeckten Birkenrindenurkunden ( берестян´ ые гр´амоты ; 11.-15. Jh.) abgefasst wurden und der offensichtlich unter dem Einfluss ostbaltischer Sprachen stand, wodurch er sich von anderen ostslavischen Dialekten v.a. lautlich und morphologisch unterscheidet. Statt Altrussisch verwendet man heute oft den Terminus Altostslavisch als Oberbegriff und differenziert dann nach den nationalen Ausprägungen Altrussisch, Altukrainisch, Altweißrussisch. <?page no="232"?> Historischer Teil 226 der gebildeten Oberschicht, die als einzige schriftkundig ist) verwendet. Lexikalische Elemente der ostslavischen Volkssprache dringen erst langsam in die Schriftsprache ein. Innerhalb dieser langen Periode des Altrussischen bzw. Altostslavischen spielen das 13.-15. Jh. eine entscheidende Rolle für die Ausdifferenzierung der einzelnen (ost-)slavischen Sprachen. Mit dem Altrussischen, Altukrainischen und Altweißrussischen entstehen nun die direkten Vorläufer der jeweiligen modernen Slavinen. Mit den Reformen Peters des Großen Anfang des 18. Jh. wird das Kirchenslavische mehr und mehr aus dem weltlichen Bereich zurückgedrängt und durch die ostslavische Volkssprache ersetzt, die sich langsam in allen Bereichen der Literatur durchsetzt. In der 1. Hälfte des 18. Jh. entwickelt L OMONOSOV seine 3-Stile-Theorie: Der bis dahin von großer Heterogenität gekennzeichnete russische Wortschatz sollte nach Sprachgattungen geordnet werden (Kirchensprache - Dichtungssprache - Umgangssprache). Durch die Öffnung Russlands zum Westen dringen auch zunehmend stilistische, syntaktische und lexikalische Elemente aus westeuropäischen Sprachen in das Russische ein (durch K ARAMZIN u.a.). Zu Beginn des 19. Jh. setzt sich mit der Literatur P UŠKIN s der Typus der heutigen modernen russischen Standardsprache durch. Der in obiger Grafik vermerkte Zeitraum „Ende 17. Jh. bis Anfang 19. Jh.“ bedeutet natürlich nicht, dass das beginnende 19. Jh. das Ende der modernen russischen Sprache markiert; vielmehr hat sich bis zu diesem Zeitpunkt das Idiom in seinen wesentlichen Grundzügen konsolidiert, was spätere Veränderungen nicht grundsätzlich ausschließt. In der Tat entwickelt sich die Sprache ja im 19. und 20. Jh. kontinuierlich weiter, wobei historische Ereignisse (1917, 1945, 1991) v.a. in Lexik und Phraseologie Spuren hinterlassen. Von der russischen Sprache der Gegenwart spricht man nur für den Zeitraum ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. Aufgaben: 1. Informieren Sie sich anhand von Sprach- und Literaturgeschichten über die wesentlichen Unterschiede in den Sprachen bzw. Sprachkonzeptionen Lomonosovs und Puškins. 2. Was besagte die 3-Stile-Theorie Lomonosovs im Einzelnen, und wie wirkte sie sich auf die weitere Entwicklung der russischen Sprache aus? Es folgt nun die Periodisierung im Einzelnen, die sich, bei zahlreichen Ergänzungen und Aktualisierungen, überwiegend an der Darstellung von E CKERT / C ROME / F LECKENSTEIN (1983: 17-20) orientiert. 1. Die Entwicklung bis zur Herausbildung der russischen Nationalsprache von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jh. A) Das Indoeuropäische / Indogermanische ( общеиндоевропейский праязык ) Der Anfang des 19. Jhs. geprägte Terminus „Indogermanisch“ sollte das damals bekannte Territorium, auf dem eine einheitliche Grundsprache Verwendung fand, durch den jeweils östlichsten (Indisch) und westlichsten Vertreter (Germanisch) dieser Grundsprache begrifflich fassen. Inzwischen sind jedoch noch weiter östlich und westlich gelegene Sprachen dieser Sprachengruppe (Tocharisch in Ostturkistan, die festland- und inselkeltischen Sprachen in Gallien und Britannien) gefunden worden, aus Tradi- <?page no="233"?> Periodisierung der russischen Sprache 227 tionsgründen ist der Terminus „Indogermanisch“ bzw. „Indoeuropäisch“ jedoch beibehalten worden. Indogermanisch/ Indoeuropäisch stellt eine Bezeichnung für jene Sprachfamilie dar, die aufgrund von sprachgeschichtlichen Rekonstruktionen als Ausgangspunkt für die spätere Ausdifferenzierung in Sprachzweige und Einzelsprachen angesetzt wird. Der Zerfall dieser Grundsprache ist für das 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. anzusetzen. Als Übergangsepoche zwischen dem Indoeuropäischen und dem Urslavischen ist eine balto-slavische Spracheinheit umstritten. Als gesichert gilt aber wohl, dass sich die baltische und die slavische Sprachfamilie genetisch besonders nahe standen. Vgl. hierzu S CHOLZ (1966: 84, Anm. 4): „Das Baltische, zu dem das Litauische, das Lettische und das im 16. Jahrh. ausgestorbene Altpreußische gehören, weist nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Morphologie und in der Syntax viele Gemeinsamkeiten mit dem Slavischen auf. Doch sind die Meinungen der Forscher darüber geteilt, ob wir eine gemeinsame baltisch-slavische Entwicklungsperiode anzusetzen haben, die nach der Loslösung aus dem Idg. anzunehmen wäre. Da neben den Gemeinsamkeiten auch manche grundlegende Unterschiede im Bau des Baltischen und Slavischen vorhanden sind, ist es auch möglich, daß die Gemeinsamkeiten z.T. auf parallele Entwicklungen von aus dem Idg. [Indogermanischen; T.B.] ererbten Wörtern und Formen zurückzuführen sind, zumal wenn man berücksichtigt, daß die Vorläufer des Baltischen und Slavischen benachbarte und eng verwandte Dialekte des Idg. darstellten [...].“ Die baltischen Sprachen, die sich in eine ost- und eine westbaltische Gruppe aufteilen lassen, sind im ganzen deutlich archaischer als die sie umgebenden Sprachen (am stärksten gilt dies für das Litauische) und stehen damit den nordindischen Sprachen am nächsten. Gleichzeitig weisen die baltischen Idiome untereinander wiederum so viele Unterschiede auf, dass sie gegenseitig nicht oder kaum verständlich sind. B) Das Urslavische ( праславянский язык ) Als direkte Grundlage für die weitere Ausdifferenzierung in die einzelnen Zweige der Slavinen bzw. die weiteren einzelsprachlichen Entwicklungen gilt das Urslavische. Es wird zeitlich etwa von der Großen Völkerwanderung Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. begrenzt, als die regionalen Unterschiede bedeutender werden. Es handelt sich auch hier nicht um eine überlieferte, mit Schriftdenkmälern belegbare Sprache, sondern um „eine Sprachstufe, die man im Rahmen eines genetisch-historischen Modells der Entwicklung verwandter Sprachen annehmen kann, über die man in diesem Rahmen hypothetische Aussagen machen kann, die sich in die genetisch deut- und vergleichbaren Fakten überlieferter Sprachen und Sprachzustände einfügen und diese erklären.“ (P ANZER 1991: 243) <?page no="234"?> Historischer Teil 228 C) Das Gemeinostslavische ( общевосточнославянский язык ) Vom 8. bis 14. Jh. setzt man das Gemeinostslavische an, das wiederum in 2 Abschnitte unterteilt werden kann: a) Das frühe Gemeinostslavische Die Periode vom 8. bis zur Mitte des 11. Jh. ist noch eine Zeit ohne schriftliche Zeugnisse. Von V. K IPARSKY wurde sie „Urrussisch“ genannt. 988 nimmt Vladimir Svjatoslavi è das orthodoxe Christentum als Staatsreligion an und öffnet somit dem altkirchenslavischen Schrifttum und damit dem AKS selbst den Weg nach Russland. b) Das Altrussische im engeren Sinn Zwischen dem 11. und dem 14. Jh. kommt es zur Konsolidierung der ostslavischen Stammesdialekte und zur Herausbildung von territorialen Dialekten auf ihrer Grundlage. Im frühfeudalen Kiever Staat entwickelt sich das Schrifttum, doch ist noch eine starke kulturelle Abhängigkeit von Byzanz gegeben. Erhaltene schriftliche Quellen sind Inschriften auf Münzen, Gefäßen, Kreuzen, Hausrat. Als ältester Beleg gilt ein Graffito aus dem Jahr 1052 (in der Kiever Sophienkathedrale) (I SSATSCHENKO 1980: 63). Der älteste längere kirchenslavische Text ist das Ostromir- Evangelium (1056; unter http: / / character.webzone.ru/ ostromir.htm ist der Text mit vielen bildlichen Darstellungen und Hintergrundinformationen zu finden). Die 1113 entstandene, historisch wie sprachlich äußerst interessante Nestor-Chronik ist erst aus Abschriften des 14. Jh. erhalten, so dass hier, wie auch in anderen Fällen, mit der Gefahr der sprachlichen „Verfälschung“ zu rechnen ist. Die älteste datierte Urkunde stammt etwa aus dem Jahr 1130, während die für den Kiever Staat bedeutende Gesetzeskodifikation der Russkaja Pravda im 11. und 12. Jh. verfasst wurde. Zwischen dem 13. und dem 15. Jh. kommt es zur allmählichen Auflösung des Gemeinostslavischen, „als zuerst das Ukrainische einige spezifische Züge entwickelte und später auch das Belorussische sich in seiner einzelsprachlichen Herausbildung abzuheben begann, während das Russische (Großrussische), die Sprache der großrussischen Völkerschaft, sich im Rahmen des Moskauer Staates weiter entwickelte.“ (E CKERT / C ROME / F LECKENSTEIN 1983: 19) Auch S CHOLZ (1966: 11), der die Herausbildung einer besonderen Gruppe von ostslavischen Dialekten als Grundlage für die (groß)russische Sprache für das 7./ 8. Jh. ansetzt, geht bereits für das 13./ 14. Jh. von einer spezifischen (groß)russischen Sprache mit charakteristischen dialektalen Besonderheiten aus. D) Das Altrussische ( древнерусский язык ) Der Terminus bezeichnet im weiteren Sinne die Epoche vom 11. bis zum Ende des 17. Jh. P ANZER (1991: 4f) schlägt als Bezeichnung dieses Entwicklungsabschnittes den Terminus „Altostslavisch“ vor, da es innerhalb <?page no="235"?> Periodisierung der russischen Sprache 229 der Kiever Rus’ noch nicht zu einer Ausdifferenzierung der drei ostslavischen Sprachen Russisch, Weißrussisch und Ukrainisch gekommen sei, und verweist auf den Versuch, diese älteste ostslavische Sprachstufe als „rusisch“ ( Rus’) zu bezeichnen, was dem deutschen „reußisch“ entspricht. Charakteristisch für diese Epoche sind die Beeinflussung des AKS durch die lebendige russische Volkssprache und damit die Herausbildung des sog. Russisch-Kirchenslavischen als Mischform oder Hybridsprache aus ostslavischen und südslavischen (altkirchenslavischen) Elementen. a) Die altrussische Periode im engeren Sinn ( древнерусский язык старшей поры ) Sie erstreckt sich vom 11. bis zum 14. Jh. und ist zugleich die Spätperiode des Gemeinostslavischen. Im Jahre 1240 zerfällt die Kiever Rus’ unter dem Ansturm der Mongolen (Tataren), und es kommt unter der bis 1380 dauernden Tatarenherrschaft zur feudalen Zersplitterung des Staatsgebildes, die zum Entstehen von regionalen Dialekten des Altrussischen führt und in letzter Konsequenz zur Ausdifferenzierung des Großrussischen (Russischen), Kleinrussischen (Ukrainischen) und Weißrussischen (Belorussischen) im 14./ 15. Jh. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen werden auch große Teile des mittelalterlichen Originalschrifttums zerstört. Die Stadtrepublik Novgorod löst Kiev als politisches und kulturelles Zentrum der Ostslavia ab. Es entwickelt sich eine thematisch breit gestreute Birkenrinden- Schriftkultur, deren älteste Fragmente aus dem 11. Jh. stammen und die sich bis gegen Ende des 15. Jh. hält, als das Moskauer Großfürstentum als Machtzentrum wiederum die Nachfolge Novgorods antritt. Aus Pergamentbzw. Papiermangel verwendet man fallweise noch bis in das 17. und 18. Jh. hinein Birkenrinde als Beschreibstoff, v.a. in Sibirien. Aus schreibtechnischen Gründen wird für die so eingeritzte Kyrillica nur eine eckige Variante ohne Kursive und Ligaturen verwendet (vgl. H AAR - MANN 1991: 484). b) Die großrussische / mittelrussische Periode ( великорусский / средне русский / старорусский период ) Dieser Zeitabschnitt erstreckt sich vom 14. bis zum Ende des 17. Jh. und fällt mit der Entwicklung des Moskauer Staates zusammen. Das sprachlich charakteristische Merkmal der Epoche ist der sog. zweite süd- / kirchenslavische Einfluss, der wohl durch die Eroberung des serbischen (1389) und des bulgarischen Reiches (1393) durch die Osmanen gefördert wird, da diese, wie einige Wissenschaftler behaupten - und andere kategorisch ablehnen (siehe I SSATSCHENKO ) -, zu einer Ansiedlung zahlreicher Gelehrter aus den eroberten Gebieten in der Kiever Rus’ führt. Der zweite südslavische Einfluss ergibt sich aus der „‚Revision ‛ des Mittelbulgarischen, deren Hauptanliegen es war, die geschriebene Sprache auch äußerlich wieder an die altkirchenslavischen Traditionen anzunähern, wobei gleichzeitig auch eine Angleichung an die zeitgenössische griechische Schreibkonvention angestrebt wurde. [...] Für das pro- <?page no="236"?> Historischer Teil 230 vinzielle Moskau jener Zeit war in den Fragen des Ritus, des Kirchenrechts und der ‘Bücher’ Byzanz die höchste Autorität. Jede Nachahmung des griechischen Vorbildes mußte begrüßt werden.“ (I SSATSCHENKO 1980: 215) Diese Rebulgarisierung, man könnte auch sagen: Archaisierung, hat weitreichende Folgen auf praktisch allen Ebenen des Sprachsystems: Graphie und Orthoepie, Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Wortschatz. Als oberste Leitlinie gilt das Ausmerzen ostslavisch-volkssprachlicher Einflüsse auf das AKS, um die liturgische Sprache wieder ihrem ursprünglichen Zustand und damit auch dem ursprünglichen Sinn der Bibel anzunähern. Hierdurch festigt sich eine Diglossie-Situation durch die parallele Existenz der altkirchenslavischen, den einfachen Menschen in der Ostslavia unverständlichen Liturgiesprache und der ostslavischen Volkssprache, die ausschließlich für weltliche Zwecke verwendet werden darf. Auf lautlichem Gebiet setzt sich die Volkssprache immer mehr durch. Ab dem 15. Jh. entsteht die Moskauer Kanzleisprache auf der Grundlage der Moskauer Volkssprache. Die russische Sprache als Ganzes ist als Synthese (entlehnter) kirchenslavischer und (genuin) volkssprachlicher Elemente zu betrachten; v.a. im Bereich von Wortbildung und Wortschatz bleibt das AKS für die weitere Entwicklung des Russischen von Bedeutung. Nach der Eroberung Byzanz’ 1453 entsteht die Doktrin von Moskau als dem „Dritten Rom“. Von besonderer kulturwissenschaftlicher Bedeutung ist der auch in sprachlicher Hinsicht ebenso anspruchsvolle wie interessante Domostroj: „Der Domostroj (Der Hausvater, Hauswirt) ist der russische Originalbeitrag des 16. Jahrhunderts (Epoche Ivans des Schrecklichen) zur europäischen christlichen Ökonomie- und Hausväterliteratur von hohem realienkundlichen Interesse; er ist einer der wichtigsten Quellentexte und Dokumentation der Desiderata altrussischen Alltagslebens (Postulate religiöser, moralisch-ethischer Natur; Orthodoxie und Orthopraxie; Verhältnis zur Obrigkeit; Familienleben und Kindererziehung; Umgang mit dem Gesinde; Hauswirtschaft, auch Gartenbau; Markt, Vermarktung und Handel; Bevorratung; Küche und Keller etc.). Gesellschaftliche Zielgruppe sind die moskowitischen homines novi, der Dienstadel des 16. Jahrhunderts.“ ( http: / / www.unimuenster.de/ SlavBaltSeminar/ home/ Birkf.htm ; Herv. im Orig.) In verschiedenen Ländern erscheinen Grammatiken des Altkirchenslavischen, so von L AVRENTIJ Z IZANIJ (Vilnius 1596), M ELETIJ S MOTRICKIJ (1619, Moskau 1648) und H. W. L UDOLF (Grammatica rossica, Oxford 1696). 2. Die Geschichte der russischen Nationalsprache A) Die Periode der Herausbildung der russischen Nationalsprache ( русский национальный язык ) Sie umfasst den Zeitraum vom Ende des 17. Jh. bis zum 1. Drittel des 19. Jh. und beginnt mit der Zeit Peters des Großen. Erste Ansätze zur Schaffung einer normativen Grammatik der russischen Sprache erfolgen durch V. <?page no="237"?> Periodisierung der russischen Sprache 231 E. A DODUROV im 1. Drittel des 18. Jh. Im Jahre 1755 verfasst L OMONOSOV seine Rossijskaja grammatika (veröffentlicht 1757) mit der 3-Stile-Theorie, die die sprachlichen Elemente bzw. Ebenen des Russischen bestimmten Funktionsbereichen zuordnet. In der 2. Hälfte des 18. Jh. werden in der Tradition L OMONOSOV s mehrere Grammatiken zur russischen Sprache publiziert, u.a. durch N. G. K URGANOV und A. A. B ARSOV . Ende des 18. Jh. schafft K ARAMZIN (gegen den Widerstand der am AKS orientierten Traditionalisten unter A. S. Š IŠKOV ) eine vereinheitlichte, jedoch als künstlich empfundene elegante Sprache, die in Wortschatz und Syntax zahlreiche Anleihen v.a. beim Französischen macht und die später von P U š KIN überwunden wird, indem er direkt aus der einfachen Volkssprache schöpft und diese mittels einer Synthese aus Volkssprache, Hochsprache und AKS für alle Gattungen literaturfähig macht. Die von Peter dem Großen initiierte rege Übersetzungstätigkeit führt dazu, dass der russische Wortschatz schnell mit neuen Wörtern bereichert wird. B) Die Periode der russischen Sprache der Gegenwart ( современный русский литературный язык ) a) 19. Jh. bis A. 20. Jh. Wichtige Werke für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der russischen Sprache sind: 1827 russische Grammatik von N. I. G RE Č ; 1831 Russkaja grammatika von A. C H . V OSTOKOV (unter besonderer Berücksichtigung der Volkssprache); 1849 Mysli ob istorii russkogo jazyka von I. I. S REZNEVSKIJ ; 1852 russische Akademiegrammatik von I. I. D AVYDOV ; 1858 Opyt istori č eskoj grammatiki russkogo jazyka von F. I. B USLAEV ; 1874 Iz zapisok po russkoj grammatike von A. A. P OTEBNJA . b) 1917 bis 1985 (Sowjetzeit) Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen nach der Oktoberrevolution finden im Sowjetimperium vor allem in der Lexik einen nachhaltigen Niederschlag. Insbesondere der politische und ökonomische Teil des russischen Wortschatzes erfährt eine tiefgreifende Wandlung und Ausdehnung. Sprachliche Einflüsse von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, v.a. aus dem anglo-amerikanischen Bereich, sind spürbar, wenngleich begrenzt. Die Sowjetzeit findet mit der Perestrojka und der verordneten Glasnost’ ihren Abschluss. c) 1985 bis heute (postsowjetische Periode) Die politische Liberalisierung geht Hand in Hand mit einem deutlich gestiegenen Zugang zu westlicher Technik, u.a. im Bereich der Kommunikationsmedien (Telefonie, Internet), der sich wiederum in sprachlicher Hinsicht auswirkt: Die russische Sprache passt sich, wie auch das Englische, Deutsche etc., den Erfordernissen einer schnellen, ökonomischen Kommunikation an, was von Sprachpuristen großenteils als Degenerierung der Hochsprache verurteilt wird. Auch im Russischen etablieren sich neue <?page no="238"?> Historischer Teil 232 Textformen wie E-Mail und Chat, die in ihrer Ausgestaltung zwar unter direktem anglophonen Einfluss stehen, andererseits aber auch eine genuin russische Sprachkreativität spüren lassen. Die (erneute) sprachliche Öffnung Russlands zum Westen äußert sich in einem Hereinströmen von zahlreichen Anglizismen, die einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die stilistischen Varietäten der russischen Sprache nehmen. Diese hat damit innerhalb von etwa 20 Jahren Entwicklungen nachvollzogen, die in Westeuropa bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einer gefestigten anglo-amerikanischen kulturellen - und damit sprachlichen - Vorherrschaft zu beobachten waren. Damit schließt sich der Bogen vom AKS bis zur russischen Sprache der Gegenwart. Zum historischen Verhältnis des (modernen) Russischen und des AKS heißt es bei S CHOLZ (1966: 12) zusammenfassend: „[...] ist der Prozentsatz kirchenslav. Elemente, die der russischen Schriftsprache auf der morphonologischen Ebene und bes. auf der lexikalischen Ebene einverleibt worden sind und die heute nicht mehr als fremde Bestandteile empfunden werden, beträchtlich, sodaß man vom sprachhistorischen Standpunkt aus die heutige russ. Schriftsprache als Mischsprache betrachten muß.“ Die von S CHOLZ im Hinblick auf das AKS geäußerte Einschätzung, das Russische sei als Misch- oder Hybridsprache zu betrachten, lässt sich mit einigen Einschränkungen auf den Einfluss des Englischen auf das Russische übertragen. Überspitzt formuliert läuft die russische Sprache Gefahr (und dies hat sie mit einigen westeuropäischen Sprachen gemeinsam), von einem slavischen Idiom zu einer anglo-slavischen Mischsprache als einer (bislang) letzten Entwicklungsetappe zu mutieren... 15.6 Das Altkirchenslavische 15.6.1 Zur Entstehungsgeschichte Das Entstehen des Altkirchenslavischen ist nicht denkbar ohne die etliche Jahrhunderte währende Epoche der Christianisierung und Missionierung. Letztere machte ja erst die „Erfindung“ einer (neuen) Schriftsprache im slavischen Sprachraum erforderlich. Die erste als Staat christianisierte Nation war Armenien: die ersten Missionare, die Apostel Thaddäus und Bartholomäus, hatten dort schon in der Mitte des 1. Jh. gepredigt, und es entstand zunächst eine Untergrundkirche. Um 301 kam es dann durch die Bekehrung des Königs Trdat III. zur Proklamation des Christentums als Staatsreligion. Zum Vergleich: In Westeuropa wurde erstmals durch das von Kaiser Konstantin I. im Jahre 313 erlassene Toleranzedikt von Mailand, das die allgemeine Religionsfreiheit garantierte, das Christentum zur erlaubten Religion im Römischen Reich, und noch später erhob Kaiser Theodosius I. 380 das Christentum zur Staatsreligion. <?page no="239"?> Das Altkirchenslavische 233 Eine herausragende Rolle in der frühzeitlichen Missionierung Mitteleuropas um das 6. und 7. Jahrhundert spielten irisch-schottische Mönche sowie die Einflüsse Roms. Sie wurde unter anderem vorangetrieben durch die Missionare Patrick, Columban, Gallus, Bonifatius („Apostel der Deutschen“) und Kilian. Karl der Große besiegte um 800 die heidnischen Sachsen in Norddeutschland, was als weiterer Meilenstein in der Geschichte der Christianisierung angesehen werden kann. Die Verbreitung des christlichen Glaubens verlief in den einzelnen slavischen Ländern sehr unterschiedlich. In Polen kamen verschiedene Volksstämme wahrscheinlich im 9. Jahrhundert über das Großmährische Reich mit dem christlichen Glauben zum ersten Mal in Kontakt. Die Wislanen in Kleinpolen wurden zur Zeit der byzantinischen Slavenapostel Kyrill und Method von den Herrschern des Großmährischen Reiches erobert. Mährischen Chroniken zufolge soll bereits zu dieser Zeit das Christentum im slavischen Ritus in der Region um Krakau eingeführt worden sein. Im Jahre 965 heiratete der Herzog von Polen, Mieszko I., eine tschechische Prinzessin christlichen Glaubens und ließ sich im folgenden Jahr im lateinischen Ritus taufen. Dies war gleichbedeutend mit der Annahme des Christentums als Staatsreligion. Polen war jedoch im Mittelalter nie einheitlich christlich. 833 wurde das Großmährische Reich unter Fürst Mojmír I. gegründet, dem 846 Rastislav und 871 Svatopluk als Herrscher nachfolgten. 864 trafen Kyrill und Method in Großmähren ein, die Liturgie wurde in der Folge slavisch. Mit dem Tod Kyrills 869 endete die byzantinische Mission. Svatopluk starb 894, und der Zerfall des 114 In der heutigen Tschechischen Republik gelegen; slavisch Morava nach dem slavischen Stamm der Moraver. 115 Seit 1985 feiert Russland jährlich am 24. Mai den „ День славянской письменности и культуры “ und ehrt in diesem Zusammenhang die beiden Brüder für ihre herausragenden kulturellen Leistungen, die das Schicksal der Slaven in eine neue Richtung lenkten. Abbildung 36: Bukarester Ikone aus dem 19. Jh. Konstantin(os) (mit Mönchsnamen Kyrill(os), russ. Кирилл , 827-869) und sein älterer Bruder Method(ios) (russ. Мефодий , gest. 885) stammten aus dem südmakedonischen Thessalonike (russ. Фессалоника , dem heutigen Saloniki; slav. Солунь ) und waren gebürtige Griechen. Sie wurden als die später so genannten Slavenapostel (man sollte wohl eher von Slavenlehrern sprechen; so werden sie auch im Russischen genannt: учители Словенских ) vom byzantinischen Kaiser Michael III. (842-867) auf Bitten des großmährischen Fürsten Rostislav mit der Missionierung der heidnischen Slaven in Mähren 114 betraut. Beide sind zu Schutzheiligen Bulgariens ernannt worden, darüber hinaus auch - von der Katholischen Kirche - zu Schutzpatronen ganz Europas, was die konfessionsübergreifende, gesamteuropäische Dimension ihres Wirkens eindrucksvoll unterstreicht. 115 <?page no="240"?> Historischer Teil 234 Großmährischen Reiches setzte ein. Es fand eine Rückkehr zur westlichen lateinischen Kirche und Kultur statt. Das Gebiet des heutigen Kroatiens, das im Altertum Teil des Römischen Reiches gewesen war, wurde zur Zeit der Völkerwanderungen vom slavischen Volk der Kroaten besiedelt. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert existierte ein selbständiger kroatischer Staat, der im 9. Jh. christianisiert wurde. Die serbischen Stämme kamen wahrscheinlich schon im 6. Jh. mit dem Christentum in Kontakt, aber es sollte mehrere Jahrhunderte dauern, bis alle den christlichen Glauben annahmen. Zur Zeit des Fürsten Mutimir im 9. Jh. soll das frühe Serbien endgültig christianisiert worden sein. Für die Serben war damals der orthodoxe Erzbischof von Ohrid zuständig. Als die Kreuzritter 1204 die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel eroberten und einen großen Teil von Byzanz unter sich aufteilten, wurde der katholische Druck auf Serbien stärker. Die Römische Kirche begann ihre Position in Serbien zu festigen. 1221 wurde die Serbisch-Orthodoxe Kirche ins Leben gerufen. Auch das montenegrinische Christentum hat seine Wurzeln im Katholizismus, der erst infolge der Eroberung Dukljas (der späteren Zeta) durch das benachbarte Raška (das spätere Serbien) im 12. Jahrhundert von der Orthodoxie abgelöst wurde. Abbildung 37: Seite aus dem Oktoechos (gedruckt 1494 in Cetinje, Montenegro) Folgende orthodoxe Patriarchate entstanden in nachkaiserlicher Zeit: das Patriarchat von Moskau und ganz Russland (oder: und dem ganzen Norden) mit altslavischer Liturgie, das Patriarchat von Serbien mit altslavischer Liturgie, das Patriarchat von Rumänien mit Liturgie in modernem Rumänisch, das Patriarchat von Bulgarien mit altslavischer Liturgie, das Patriarchat von Georgien mit altgeorgischer Liturgie. *** Nach dem Tod Kyrills und Methods wurden ihre Schüler und Nachfolger, v.a. Kliment (gest. 916) und Naum, Ende des 9. Jh. / Anfang des 10. Jh. aus Mähren vertrieben (magyarische Landnahme 905/ 06) und ließen sich in Ochrid (Bulgarien) nieder, wo sie die Sprache weiterentwickelten. Insbesondere unter Zar Simeon dem Großen (893-927) spielte Bulgarien eine entscheidende Vermittlerrolle: „Preslav in <?page no="241"?> Das Altkirchenslavische 235 Ostbulgarien war die Hauptstadt des Bulgarischen Reiches und ein Ort wichtiger griechisch-slavischer Kulturkontakte.“ (H AARMANN 1991: 479) Von hier gelangten kulturelle Impulse weiter in die übrige Slavia. Kyrill und Method sprachen einen südmakedonisch-bulgarischen, jedenfalls südslavischen Dialekt, der nach einer Entwicklung von gut 400 Jahren in lautlicher und semantischer Hinsicht vom Ostslavischen schon recht deutlich unterschieden war. Dieser südslavische Dialekt hatte aber „einen Großteil des gemeinslavischen Wortschatzes bewahrt. Elemente dieses Wortschatzes dienten zur mehr oder weniger adäquaten Wiedergabe entsprechender griechischer Wörter und waren natürlich auch den Ostslaven verständlich“ (I SSATSCHENKO 1980: 81). Kyrill war als Philosoph, Diplomat und Grammatiker mehrsprachig und wie sein Bruder Vertreter der gebildeten Oberschicht. Die Brüder sahen sich mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, einer fremden Bevölkerung einen fremden Stoff (das Neue Testament und andere religiöse Texte) in einer angemessenen und verständlichen, d.h.: in deren eigener Sprache zu vermitteln. Das Ergebnis ihrer Bemühungen war die erste slavische Schriftsprache. Das AKS wurde aufgrund seiner religiösen Zweckbestimmung zu einer neuen heiligen oder liturgischen Sprache, zur vierten nach dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen. Dies wollten konservative Vertreter der römisch-katholischen Kirche (die sog. триязычники oder Dreisprachler) nicht hinnehmen und erhoben gegen Kyrill den Vorwurf der Häresie, dem jener mit einem eben solchen Vorwurf begegnete. Der Standpunkt der Dreisprachler gründete sich auf die Worte der Bibel, dass das Schild „Jesus Nazarenus Rex Judaeorum“ am Kreuz Christi in drei Sprachen beschrieben gewesen sei; insofern sei eine weitere „heilige“ Sprache als Gotteslästerung zu verdammen. 116 Die anspruchsvollen Texte in griechischer Sprache, die es zu übersetzen galt, entsprachen in Wortwahl und Syntax keineswegs der einfachen, schriftlosen Bauernsprache der Landbevölkerung. Konstantin und Method mussten insofern nicht nur übersetzerisch, sondern vor allem sprachschöpferisch tätig werden. Sie verwendeten, wo immer möglich, „slavische Morpheme und slavische Wörter, doch war der Wortschatz und vor allem der Satzbau einer nur gesprochenen Sprache völlig unzureichend, um komplizierte und anspruchsvolle Texte der christlichen Literatur zu übersetzen. So wurden slavische Morpheme und Wörter in griechische Derivations- und Satzstrukturen gezwängt. Diese durchaus organische Verbindung slavischer Elemente mit griechischen Strukturen unterscheidet das Altkirchenslavische grundsätzlich von allen anderen slavischen Sprachen des 9. und 10. Jh.“ (I SSATSCHENKO 1980: 81) Neben den bereits erwähnten gemeinslavischen Wortschatzelementen bestand das kirchenslavische Lexikon aus oft sehr zentralen Einheiten, die gegenüber dem Gemeinwortschatz semantische Verschiebungen oder Umdeutungen aufwiesen ( оть ць , сънъ , д ê ва , доухъ ), aus Lehnprägungen nach griechischem Vorbild („versteckte Gräzismen“, die „nur von einem Slaven verstanden werden [konnten], der 116 Die erste Übersetzung des Evangeliums in russischer Sprache erschien (nach I SSATSCHENKO 1980: 231) erst 1819, dies in einem englischen Verlag und gegen den Widerstand konservativer russischer Kreise. <?page no="242"?> Historischer Teil 236 selbst des Griechischen mächtig war“ (I SSATSCHENKO 1980: 82)), aus direkten Entlehnungen griechischen Wortschatzmaterials, aus Hebräismen, die über das Griechische vermittelt worden waren ( равви ‘Herr, Meister’, пасха ‘Ostern’). Das byzantinische Griechisch stand in der Tradition des klassischen Griechisch der Antike, d.h. einer sehr komplexen Sprache, mit der sich die slavischen Dialekte - und damit auch die Muttersprache von Kyrill und Method - nicht messen konnten. Neben einer umfassenden Erweiterung des slavischen Wortschatzes kam es mithin auch zu einer Übertragung syntaktischer Eigenheiten des Griechischen auf das Slavische (Wortstellung, verschiedene Partizipialkonstruktionen, Kasusverwendung u.v.m.). 15.6.2 Zur Bezeichnung dieser Sprachepoche Es existieren verschiedene Benennungen, die jeweils einen anderen Aspekt herausstellen: „Altslavisch“ ordnet die Epoche chronologisch ein und grenzt sie gegenüber den einzelsprachlichen Idiomen („Altrussisch“ etc.) ab; „Altbulgarisch“ oder „Altmakedonisch“ verweisen darauf, dass dieser Sprachstufe ein südslavischer Dialekt aus dem Gebiet von Saloniki zugrunde liegt, wobei „Altmakedonisch“ der historisch-geographisch genauere Terminus ist; „Altkirchenslavisch“ oder „Kirchenslavisch“ betont die Liturgie als wesentlichen Funktionsbereich dieser schriftlichen Sprachform. Daneben „Altslovenisch“, da „slovenisch“ fallweise synonym zu „slavisch“ gesehen wurde bzw. eine slavische Eigenbezeichnung war und ist (und nicht mit dem modernen Slowenischen gleichgesetzt werden darf! - vgl. auch die serbische/ kroatische Sprachbezeichnung „staroslovenski jezik“ neben „staroslavenski jezik“); der slavische Volksstamm der Slov ì ne aus der Gegend von Novgorod trat als einer der ersten, neben den Poljánen (Gebiet um Kiev), in Handelsbeziehungen zu Byzanz und hatte insofern wohl einen gewissen slavischen Stellvertretercharakter. Alt(kirchen)slavisch war eine reine, hochentwickelte Schriftsprache ohne autonome mündliche Entsprechung. In mündlicher Form wurde es verwendet bei der Predigt seitens der Geistlichen, beim Rezitieren oder Singen von Gebeten auch seitens der einfachen Gläubigen, die die von ihnen gesprochenen Texte keineswegs völlig verstehen mussten; diese Sprechform des AKS war jedoch nichts anderes als eine Übertragung der Schriftsprache auf die mündliche Realisierung. Es war als Kunstsprache stark formalisiert und stilisiert und stand in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht unter klarem griechischem Einfluss, da das Griechische als Lehnquelle für im Altslavischen nicht vorhandene Bezeichnungen und Konstruktionen diente, die jedoch die Übersetzung von religiösen Texten ins Altslavische erforderlich machte. AKS war nie als gesprochenes Mittel der Kommunikation konzipiert und ließ im schriftlichen Bereich die literarischen Genres vermissen, die es zu einer universellen Literatursprache im modernen Verständnis hätten werden lassen können, so die Geschichtsschreibung, Erzählungen oder die politische Publizistik (vgl. B OECK / F LE- CKENSTEIN / F REYDANK 1984: 19). Trotzdem muss es als die Sprachform (nämlich die Hochsprache) angesehen werden, in der sich überhaupt literarische Tätigkeit entfaltete, wenngleich mit einer engen inhaltlichen Beschränkung auf den sakralen Bereich. In den Verwendungsge- <?page no="243"?> Das Altkirchenslavische 237 bieten des AKS kam es also zu einer Diglossie-Situation, d.h. zur parallelen Existenz einer funktional stark begrenzten Schriftsprache 117 , die aber als religiöses Ausdrucksmittel das ganze Volk erreichte und ein höheres Ansehen genoss als die Volkssprache, und einer regional unterschiedlichen, überwiegend gesprochenen, jedoch auch in weltlichen Schriftstücken (juristische Texte aller Art, Verwaltungsurkunden) verwendeten Sprache als Kommunikationsmittel des Alltags. Vgl. B OECK / F LECKENSTEIN / F REYDANK (1984: 18): „Das Altslawische war zu keinem Zeitpunkt die Fixierung des sprachlichen Systems eines Dialekts, sondern war von vornherein für eine überregionale Verwendung gedacht, um seiner Funktion als Missionssprache für die Slawen, und zwar für alle Slawen, gerecht zu werden. Es nahm in den 150 Jahren seiner Entwicklung zwar dialektale Elemente aus allen Gebieten auf, wo es gepflegt wurde, aber man vermied offensichtlich, ausgesprochene Provinzialismen zu übernehmen, die das Verständnis der Texte in anderen Gebieten gefährden konnten. Somit war das Altslawische von seiner Anlage her eine mögliche Literatursprache für a ll e Slawen, und in der Tat haben die regionalen Fortsetzungen des Altslawischen im ganzen Mittelalter diese Tradition bewahrt.“ Diese beiden Sprachvarietäten lassen sich als einander ergänzende Funktionalstile bezeichnen. Beide Sprachformen - die schriftsprachliche und die volkssprachliche - beeinflussten einander, so dass sich regional verschiedene Redaktionen des AKS entwickelten (AKS russischer Redaktion oder Russisch-Kirchenslavisch ( церковно славянский язык русского извода ), AKS serbischer Redaktion etc.): „Als Sprache der Kirche erreichte das Altslawische alle Schichten der Bevölkerung. So war die Grundlage für eine gegenseitige Durchdringung der Normen der Volkssprache und der sakralen Sprache gegeben [...].“ (B OECK / F LECKENSTEIN / F REY - DANK 1984: 19). Diese Sakralsprache „war eine auf südslavischer (bulgarisch-mazedonischer) Grundlage gebildete Sprache, die sich aber ganz wesentlich von der wirklich gesprochenen Sprache nicht nur der Ostslaven, sondern auch der Bulgaren und Mazedonier unterschied.“ (I SSATSCHENKO 1980: 70) Für den Bereich der Südslavia ist von einer gewissen Polyvalenz des AKS auszugehen, die zur „Bildung einer wirklichen Schriftsprache bei Bulgaren und Serben im Mittelalter geführt hat“ (I SSATSCHENKO 1980: 73), wobei sich auch hier der sakrale Funktionsbereich der Sprache aufgrund seines Konservatismus zunehmend von der Gemeinsprache entfernte. Neben der erwähnten kirchenslavisch-ostslavischen Beeinflussung finden sich in kirchenslavischen Texten auch wenige sog. Moravismen, d.h. Entlehnungen aus der christlich-religiösen Terminologie der von Kyrill und Method 863 in Mähren vorgefundenen westchristlichen Bevölkerung, die sprachlich ihrerseits unter lateinischem und althochdeutschem Einfluss stand. Vgl. B OECK / F LECKENSTEIN / F REYDANK (1984: 16): „Dieses Gebiet [das Großmährische Reich; T.B.] war von Regensburg, Passau und Salzburg, also von den südöstlichen Zentren des Frankenreiches aus, missioniert worden. Um dem damit verbundenen politischen Druck des Frankenreiches entgegenzu- 117 Diglossie ist immer mit einer Funktionsteilung innerhalb einer Sprache verbunden und nicht zu verwechseln mit Zweisprachigkeit (Beherrschen von zwei distinkten Sprachen). <?page no="244"?> Historischer Teil 238 wirken, bemühten sich die antifränkischen Kräfte um Unterstützung beim byzantinischen Reich.“ AKS (und damit die in der heutigen russischen Sprache vorhandenen kirchenslavischen Elemente) unterlag zwei südslavischen Einflüssen: Der erste wirkte zu Beginn der AKS-Entwicklung bzw. mit dessen Erschaffung im 11. Jh., da das AKS auf der Grundlage eines Dialektes der Südslavia fußte; der zweite ist auf das Ende des 14. Jhs. und das 15. Jh. mit der Restaurierung des AKS zu datieren (der bereits erwähnte zweite südslavische Einfluss). Im Laufe der sprachlichen Entwicklung kam es zur Herausbildung zahlreicher Dubletten, d.h. zur parallelen Existenz von genuin kirchenslavischen Formen und (russisch-)volkssprachlichen, die sich phonologisch und morphologisch unterscheiden ( град - город etc.). Das volkssprachliche Wort trägt oft eine konkretere Bedeutung als das literarische, kirchenslavische (vgl. Š ACHMATOV / S HEVELOV 1960: 8). Nichtsdestoweniger können bei der Kompositionsbildung kirchenslavische Elemente Verwendung finden, und zwar „nach dem Vorbild des Altkirchenslavischen, das eine Reihe von Komposita unter griechischem Einfluß mehr oder weniger künstlich gebildet hatte.“ ( Š ACHMATOV / S HEVELOV 1960: 12) Beispiele hierfür sind млеко питающие ( млеко statt молоко ), драгоценный ( драго statt дорого ). Das 18. Jh. in Russland war sprachlich von zwei Haupttendenzen markiert: Einerseits kam es zu einer immer weiter fortschreitenden Zurückdrängung des kirchenslavischen Elementes in der russischen Volkssprache (d.h. das Russische wurde modernisiert), andererseits wurden zahlreiche Abstrakta mit kirchenslavischen Morphemen neu gebildet, da „die Volkssprache außerhalb des kirchenslavischen Einflusses nicht über ein hinreichendes Inventar von Wurzeln und Affixen mit abstrakter Bedeutung verfügte ( Š ACHMATOV / S HEVELOV 1960: 84). Großen Einfluss übte hier der Schriftsteller und Sprachreformer Karamzin aus. Von einer tatsächlich russischen Literatursprache kann erst ab dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh. gesprochen werden. Auch für die Gegenwart ist, nach I SSATSCHENKO (1980: 73), von einer von den Sprachbenutzern klar empfundenen Polarisierung Hochsprache (hier: AKS) - Volkssprache (hier: Russisch) auszugehen, die das Fortbestehen des AKS erst ermöglicht habe. 15.7 Zur Genese der kyrillischen, i.e.S. der russischen Schrift Die kyrillische Schrift war und ist im Bereich der Slavia keineswegs die einzige Graphie von Bedeutung. So unterscheidet bspw. M IKLAS (1998: 132f) fünf zentrale Schriften: 118 118 Daneben gab es Versuche, neue Schriften einzuführen, die jedoch nicht von Dauer waren, so z.B. die sog. Perm-Schrift. Diese ging auf den Bischof Stephan von Perm zurück, der „als Missionar unter den Syrjänen ( зыряне ), einem ostfinnischen Volksstamm im nordöstlichen Rußland (heute Komi genannt), gewirkt und die christlichen Gebete und Bücher in das Syrjänische übersetzt [hatte], wofür er ein eigenes Alphabet geschaffen hatte.“ (I SSATSCHENKO 1980: 231) <?page no="245"?> Zur Genese der kyrillischen, i.e.S. der russischen Schrift 239 „- die glagolitische Schrift (Glagolica) im mährisch-pannonischen und böhmischen, bulgarischen, kroatischen und teilweise auch angrenzenden bosnischen Raum ab dem dritten Drittel des 9. Jahrhunderts; - die kyrillische Schrift (Kyrillica) zunächst auf bulgarischem Boden spätestens ab dem letzten Dezennium des 9. Jahrhunderts und dann allmählich im Bereich der gesamten Slavia Orthodoxa einschließlich der Grenzbereiche (Bosnien, Dalmatien und dem ehemals polnisch-litauischen Staat); - die lateinische Schrift im gesamten westslavischen sowie im Norden und Westen des südslavischen Raums, beginnend nach und nach ab dem 10./ 11. Jahrhundert; - die arabische Schrift, insbesondere in Bosnien nach der osmanischen Okkupation und dann auch zeitweilig bei den mohammedanischen Tataren im polnisch-weißrussischen Grenzgebiet [119] ; - und schließlich die griechische Schrift im balkanslavischen Süden, am ausgeprägtesten auf bulgarisch-makedonischem Boden während des 18./ 19. Jahrhunderts.“ Die heutige kyrillische Schrift hat eine jahrhundertelange Entwicklung hinter sich, ausgehend vom Griechischen bis hin zu den einzelnen, regional variierenden Erscheinungsformen der Gegenwart. Sie hat sich in der jüngeren Vergangenheit sogar Überlegungen des aufstrebenden Kommunismus gegenüber behauptet, sie zugunsten der Lateinschrift aufzugeben; Ende der 30er Jahre des 20. Jh. waren diese Gedankenspiele endgültig zu den Akten gelegt, wie auch die Bestrebungen, nicht-slavischen Völkern auf dem Territorium der Sowjetunion eine lateinische Schriftkultur zu vermitteln (vgl. H AARMANN 1991: 448f, 477f). Auch wenn der Name Anderes vermuten lässt: Die kyrillische Schrift (d.h. die ältere Kyrillica) wurde nicht von Kyrill selbst entwickelt, sondern „nach seinem Tode (869) von seinen aus Mähren vertriebenen Schülern auf dem Gebiete des bulgarischen Reiches“ (P ANZER 1991: 5), genauer: am Ochridsee im westlichen Makedonien. Auf Kyrill geht wohl das sog. glagolitische Alphabet zurück, das chronologisch vor dem kyrillischen einzuordnen ist und auf der griechischen Minuskelschrift (Kleinbuchstaben) des 9. und 10. Jh. basiert - „Als Entstehungszeit der Glagolica steht heute das Jahr 862/ 3 weitgehend fest; mit ihm dürfen wir zugleich auch den Beginn der slavischen Schriftlichkeit verknüpfen.“ (M IKLAS 1998: 136). 120 119 Eine tabellarische Übersicht über diese „ белорусские китабы “ findet sich, in Gegenüberstellung zur Latinica, Glagolica und Kyrillica, bei S UPRUN / K ALJUTA (1981: 11-14). 120 In der Nachfolge anderer Wissenschaftler vertritt beispielsweise K IROV eine dezidiert entgegengesetzte Meinung, nach der die Glagolica bereits in vorchristlicher Zeit bei allen Slaven in Gebrauch gewesen und keineswegs erst im Zusammenhang mit der Christianisierung der (Ost-) Slaven ab dem 9./ 10. Jh. künstlich entwickelt worden sei. Vielmehr habe sie sich auf natürlichem Wege aus einer protoglagolitischen Schrift entwickelt. Kyrill habe dann auf der Grundlage dieser Glagolica und des griechischen Alphabets die Kyrillica als Synthese aus beiden Schriftsystemen geschaffen. Diese Ansichten werden von den meisten Wissenschaftlern nicht geteilt. <?page no="246"?> Historischer Teil 240 Abbildung 38: Seite aus dem Omišaljski misal, 14. Jh. Es wurde an die slavischen Lautverhältnisse angepasst, indem für im Griechischen nicht vorhandene Laute (/ ž / , / š / , / (j)u/ u.a.) neue Zeichen erfunden wurden ( < , w , ü etc.). Es existieren allerdings auch andere Hypothesen zur Entstehungsgeschichte und Chronologie des Glagolitischen. 121 Ebenso gehen die Meinungen der Forscher hinsichtlich der Motivierung der einzelnen Grapheme auseinander. Vertreten wird beispielsweise die Meinung, jeder glagolitische Buchstabe trage eine bestimmte, religiös-philosophische Bedeutung. So weise der erste Buchstabe des Alphabets, das „ аз “, die Form eines Kreuzes auf, und das „ ять “ repräsentiere ein in ein Dreieck integriertes Kreuzzeichen (Kreuz und Dreieck als religiöse Symbole). V EREŠ È A - GIN verweist auf den streng geometrischen Charakter der Schrift: „ Литеры состоят из кругов , полукружий , овалов , палочек , треугольников , ква дратов , крестов , перекрестьев , петелек , завитушек , уголочков и крючков . Пола гают , что явная геометричность алфавита Константина - Кирилла является следствием того , что он в молодости был учеником известного ученого Льва Математика . Как бы то ни было , исследователи не сомневаются , что в графи ческом отношении глаголица - это плод продуманных действий одного челове ка . Она не могла возникнуть спонтанно , в ходе длительного развития . Она - ло гична , стройна , мотивирована и стремится быть самостоятельным алфавитом по подобию других самостоятельных алфавитов - например , еврейского , гре ческого , латинского , арабского , грузинского или армянского .“ Er erwähnt ebenfalls den Symbolwert der zentralen geometrischen Formen, wie Kreis (Ewigkeit) und Dreieck (Dreifaltigkeit). Diese Glagolica (von slav. glagol ‘Wort’) besaß eine ältere, „runde“ Variante (Makedonien, Bulgarien) und eine jüngere, „eckige“ (Kroatien). Am längsten hat sich die glagolitische Schrift gerade im lateinisch-schreibenden Kroatien, speziell Dalmatien, gehalten, wo es bis in die Neuzeit hinein im Gebrauch ist, allerdings ausschließlich in der Liturgie. Im Unterschied zur griechischen Minuskelschrift kennt das Glagolitische keine Ligaturen (siehe Kap. 15.8). 121 Vgl. z.B. H AARMANN (1991: 479). Wie unsicher bis zum heutigen Tage die Forschungslage zu den Graphien der Slavia ist, zeigt der Hinweis von M IKLAS (1998: 135), dass man „im Osten des ehemaligen Bulgarenreiches einige neue, als ‘protobulgarische Runen’ gedeutete Zeichen von frappanter Ähnlichkeit zu einzelnen nicht-griechischen Elementen der Kyrillica entdeckt hat.“ <?page no="247"?> Zur Genese der kyrillischen, i.e.S. der russischen Schrift 241 Abbildung 39: Gegenüberstellung von runder und eckiger Glagolica Das kyrillische Alphabet als im Verhältnis zum Glagolitischen deutlich einfachere Form gründet auf der griechischen Unzialschrift oder Majuskelschrift (Großbuchstaben), die im 9. und 10. Jh. an das Altbulgarisch-Altkirchenslavische adaptiert wurde (P ANZER 1991: 5). Die ältesten kyrillischen Inschriften werden entsprechend in das 10. Jh. datiert. „Die älteste Version der Kyrillica zeigt einen Schriftduktus [d.h. Linienführung; T.B.], Ustav genannt, bei dem die Höhe und Breite einzelner Buchstaben gleich ist [...]. Später entwickelt sich ein veränderter Schriftduktus, Poluustav (‘Halb-Ustav’), bei dem das ältere Prinzip des geometrischen Gleichgewichts aufgegeben worden ist, und bei dem die Zeichen teilweise stark abgerundet geschrieben werden. Dieser Duktus findet sich schon früh in südslavischen Handschriften“ (H AARMANN 1991: 447f). Neben Ustav und Poluustav gab es noch eine dritte, Skoropis’ genannte Schreibwiese „als stark geneigte (kursive) Schnellschrift mit Ligaturen u. Abbreviaturen für nichtliterarische Gebrauchstexte, z.B. Urkunden u.ä.“ (P ETER R EHDER : Das neue Osteuropa von A-Z. Neueste Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa. München 1993, S. 368) Diese kyrillische Schrift ist nicht als komplett neues Graphemsystem zu sehen, sondern als „Transliteration“ (V ERE š Ć AGIN ) der Glagolica, denn der zu transkribierende Lautbestand blieb identisch, er sollte lediglich durch eine einfacher zu realisierende Schriftform repräsentiert werden. Entsprechend zahlreich sind dann auch die formalen Übereinstimmungen oder zumindest Ähnlichkeiten im Graphembestand von Glagolica und Kyrillica. Die nachfolgende Tabelle, die das glagolitische und das kyrillische Alphabet gegenüberstellt, ist eine vereinfachte, in gewisser Weise idealisierte Übersicht, insofern als etliche der glagolitischen - wie auch der späteren kyrillischen - Grapheme eine oder mehrere Varianten besaßen. Kleinere Unterschiede im Schriftbild sind zudem zwischen Majuskeln (Großbuchstaben) und Minuskeln (Kleinbuchstaben) möglich, jedoch nicht signifikant. Die angegebenen Zahlenwerte beziehen sich auf die glagolitischen Buchstaben, die nach T RUNTE (2005: 160) keine eigenen Zahlzeichen jenseits der 5000 besaßen; der Zahlenwert 9000 ist nicht gesichert. Das kyrillische System der Zahlzeichen variiert in etlichen Punkten (s.u.). <?page no="248"?> Historischer Teil 242 Abbildung 40: Glagolitisches und kyrillisches Alphabet in Gegenüberstellung Zu einigen lautlichen Veränderungen des obigen Alphabets merkt G ENNADIJ M AR - Č ENKO an: Glagolica (rund) Kyrillica Buchstabenname Latein. Translit. Zahlenwert A a аз a 1 B b буки b 2 V v веди c 3 G g глаголь g 4 D d добро d 5 E e есть e 6 > < живёте ž 7 Š š зело É 8 J j земля z 9 I ¡ и ï 10 Î i иже i 20 Ç ç дервь ´ g 30 K k како k 40 L l люди l 50 M m мыслете m 60 N n наш n 70 O o он o 80 P p покой p 90 R r рцы r 100 S s слово s 200 T t твёрдо t 300 U u ук u 400 Ñ f ферт f 500 X x ха ch 600 Ø ø омега o 700 Q q шта št 800 C c цы c 900 H µ червь č 1000 W w ша š 2000 ¿ ß ер ъ 3000 Y y еры y Ì ì ерь ь Æ ê ять ě 4000 Ü ü ю ju 5000 à - юс малый ę 9000 À à юс малый йоти рованный j ę Õ õ юс большой µ o Ò ò юс большой йо тированный j µ o Ð ð фита ª × ÷ ижица ÿ <?page no="249"?> Zur Genese der kyrillischen, i.e.S. der russischen Schrift 243 „ Буква ять в кириллице со временем стала обозначать звук Е , а в глаголице Æ из за отсутствия йотированного а ( Я ) со временем стала обозначать звук " Я " как наиболее близкий по звучанию . Буквы I Î обозначали в основном звуки " И " " Й " но поскольку I встречается гораздо чаще , то она и стала " И ". Юс большой йотированы Ò в глаголице по звучанию ближе всех к букве " Ё ".“ ( http: / / home.univer.kharkov.ua./ sumer/ glag/ ) Zur allgemein angenommenen zeitlichen Abfolge der Schaffung von Glagolica und Kyrillica (derzufolge die Kyrillica jünger ist als die Glagolica) äußert M AR Č ENKO folgenden Einwand: „ Характерно , что часть букв глаголицы похожи на перевернутые или видо изменённые буквы кириллицы ( Е , Р , Ш , Щ ), что говорит скорее о создании глаго лицы из кирилицы [sic] но не наоборот . Поскольку для основы кириллицы была взята всё же греческая азбука . О чем говорит и большая схожесть кириллицы с греческим уставным шрифтом и последовательность числовых значений букв совпадающая с греческой .“ An anderer Stelle beruft er sich ausdrücklich auf die Existenz einer vorkyrillianischen Schrift, die aus „ черты и резы “ bestanden habe. Auch habe Kyrill bei seiner Ankunft bereits Bücher in dieser Schrift vorgefunden und Letztere dann zur Kyrillica „umgearbeitet“. Eine weitreichende Modernisierung bzw. Anpassung an westliche (lateinische) Formen erfuhr das Russisch-Kyrillische durch die Petrinischen Reformen (Ende 17. / Anfang 18. Jh.) mit der Entwicklung der sog. bürgerlichen Schrift ( гражданский шрифт oder гражданская азбука , 1708) oder neueren Kyrillica, die von E LIAS K OPIEVI Č entwickelt wurde und nunmehr im Gegensatz zur älteren, kirchenslavischen stand und diese auf den religiösen Bereich zurückdrängte (bis heute werden kirchenslavische Texte in der älteren Kyrillica gedruckt). Der Zeichenbestand wie auch die Buchstabenformen selbst sollten vereinfacht werden, und es sollte eine einheitliche Schriftform für den so wichtigen Buchdruck gefunden werden (vgl. H AAR - MANN 1991: 484). Auch in der Folgezeit wurde das kyrillische Alphabet mehrmals bewusst verändert (vgl. M ULISCH 1993: 32f); so wurde 1710 der Buchstabe э eingeführt, 1735 der Buchstabe й (ursprünglich и с краткой genannt, wobei кратка das diakritische Zeichen über dem и benannte, später wurde der Name vereinfacht zu и краткое ), und 1797 sorgte N. M. K ARAMZIN für die Ersetzung der Ligatur von i und o = i ¾ o durch den Buchstaben ё ; um 1900 beginnt die Ersetzung von ÷ durch и . Bedeutenden Einfluss gewannen die Arbeiten von J A . K. G ROT (1873 und 1885; Nachdrucke bis 1916). 1904 wurde an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften eine Orthographie-Kommission mit den wichtigsten Linguisten ihrer Zeit gegründet, die die russische Schrift nach dem phonematischen Prinzip modernisieren und vereinfachen sollte. Die Ergebnisse lagen 1912 vor und wurden durch die letzte umfassende Schriftreform der russischen Sprache aus dem Jahre 1917 in die Tat umgesetzt, anfangs noch unter der bürgerlichen Interimsregierung Kerenskis, dann von den Bolschewiken forciert betrieben und durch das Декрет о введении новой орфографии von 1918 gesetzlich festgeschrieben: Die historisch überkommenen, aber funktionslosen, weil lautlich bereits mit anderen zusammengefallenen, Buchstaben ê ( ять ; e), ¡ / i ( и десятеричное , i с точкой ; и ), ÷ ( ижица ; и ), ð ( фита ; ф ) <?page no="250"?> Historischer Teil 244 sowie auslautendes ß ( ер ; Ø) wurden nun endgültig eliminiert. Das Härtezeichen nach Konsonanten im Wortauslaut war entbehrlich geworden, da das Weichheitszeichen als alleiniges Unterscheidungskriterium zwischen harten und weichen Konsonanten ausreichte: Wurde das Weichheitszeichen gesetzt, so zeigte es an, dass der davorstehende Konsonant palatal war; fehlte es, so war der entsprechende Konsonant automatisch hart zu sprechen. Für den Zustand vor und nach der Reform ergab sich somit folgende Gegenüberstellung: alt Аа Бб Вв Гг Дд Ее Жж Зз Ии Ii Кк Лл Мм Нн Оо Пп Рр Сс Тт Уу Фф Хх neu Аа Бб Вв Гг Дд Ее Жж Зз Ии Кк Лл Мм Нн Оо Пп Рр Сс Тт Уу Фф Хх alt Цц Чч Шш Щщ Ъъ Ыы Ьь Êê Ээ Юю Яя Θθ ×÷ neu Цц Чч Шш Щщ Ъъ Ыы Ьь Ээ Юю Яя Diese vereinfachte Schrift, die nun von einem Übermaß an traditionellen und etymologischen Motivierungen befreit war, sollte die Alphabetisierung ( ликбе\з = ликвидация безграмотности ) des gesamten Landes schneller voranbringen. Am 26. Dez. 1919 unterzeichnete Lenin als offizielles Startzeichen der Alphabetisierungskampagne den Erlass О ликвидации безграмотности среди населения РСФСР . Durch die fallweise Aufhebung des etymologischen Prinzips in der Rechtschreibung änderte sich auch die morphologische Struktur der betroffenen Wörter, und es konnte zur Entstehung von Homographen kommen, wie das wohl bekannteste Beispiel des Wortes мир zeigt. Vor der Reform wurde es, je nach seiner Bedeutung, auf zweierlei Weise geschrieben: entweder м i ръ ‚Welt / Gemeinde; Gesellschaft’ oder миръ ‚Frieden’. Mit der Reform war nur noch die Schreibung мир für beide Bedeutungen zulässig; es war ein neues Homonym, i.e.S. ein Homograph, entstanden. Das ё als 7. Buchstabe des russischen Alphabets wurde erst 1943 als verbindlich eingeführt, das й war bereits 1934 als heute 11. Buchstabe aufgenommen worden. Die Umsetzung der Rechtschreibreform im nachrevolutionären Russland bzw. in der noch jungen Sowjetunion war ein Politikum, da sie von allen politischen Lagern mit den gesellschaftlichen Umwälzungen assoziiert wurde und entsprechend von den einen befürwortet und vorangetrieben, von den anderen abgelehnt und bekämpft wurde. Gegenwärtig, d.h. zu Beginn des 21. Jhs., wird in Russland erneut eine Orthographiereform diskutiert, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Ihre gesellschaftliche Folgen dürften allerdings mit der Reform von 1917/ 18 nicht zu vergleichen sein. Auch die kyrillischen Alphabete der anderen großen Slavinen (Bulgarisch, Makedonisch, Serbisch, Weißrussisch, Ukrainisch) haben im Laufe der vergangenen Jahrhunderte, z.T. erst im 20. Jh. (Bulgarisch), mehr oder weniger weitreichende Modifizierungen erfahren. Diese übrigen kyrillisch-schreibenden Slavinen haben die Kyrillica bei Bedarf an ihren jeweiligen Lautbestand angepasst und spezifische Sonderzeichen zu seiner Wiedergabe eingeführt. Bis 1868 wurde auch die romanisch-slavische Hybridsprache Rumänisch in der Kyrillica geschrieben. 1989 voll- <?page no="251"?> Graphische Besonderheiten des Altkirchenslavischen 245 zog die damalige Moldauische Sowjetrepublik (nordöstlich von Rumänien gelegen) erneut den Übergang zur Latinica. Im Zuge der Sowjetisierung des riesigen Russischen Reiches nach 1917 erhielten auch bis dahin schriftlose nichtslavische Völkerschaften eine (kyrillische) Schrift, die sich natürlich an der russischen Standardschrift orientierten sollte, aufgrund lautlicher Besonderheiten jedoch jeweils über spezifische Sonderzeichen verfügen musste. So erhielten u.a. die Tataren, Gagausen, Kasachen, Kirgisen, Mongolen, Kurden, Tadschiken und Tscherkessen das kyrillische Alphabet: Abbildung 41: Ergänzungen des Kyrillischen aus der Sowjetzeit Einige der oben aufgeführten Grapheme weisen diakritische Zeichen auf. Dies sind zusätzliche Bestandteile (Akzent, Cedille, Ha č ek u.a) eines Graphems, die dieses von seiner Grundform und damit auch in seiner Aussprache unterscheiden (vgl. č , ć , ç - c; ł, ° l - l, ę - e ). 15.8 Graphische Besonderheiten des Altkirchenslavischen Wie bei den im mittelalterlichen Westeuropa entstanden Texten ist auch bei altslavischen Dokumenten davon auszugehen, dass eine einheitliche, allgemein verbindliche Schriftnormierung fehlte. Neben offensichtlichen Fehlern seitens der Verfasser oder Kopisten eines Textes finden sich immer wieder graphische Varianten, die nicht als regelwidrig eingestuft werden dürfen. Bei der Lektüre altkirchenslavischer Texte ist außerdem zu beachten, dass keine streng normierte und diversifizierte Interpunktion zur Anwendung kam. Zur Worttrennung wurden nicht unbedingt Zwischenräume (Spatien) verwendet; die Schreibkonventionen sahen mitunter auch ein <?page no="252"?> Historischer Teil 246 graphisches Kontinuum vor, das dann nur durch den Zeilenwechsel unterbrochen wurde (diese Erscheinung ist auch aus dem Lateinischen wohlbekannt). Eine durch einen Zeilenumbruch erforderliche Worttrennung erfolgte immer nach einem Vokal (und entsprach damit dem Gesetz der offenen Silbe). Eine andere, häufig praktizierte Erscheinungsform dieser scriptio continua bestand darin, semantisch oder syntaktisch zusammengehörige Wortgruppen ohne Spatien zu schreiben und diese Gruppen durch das Setzen von einem Punkt (seltener von einem Doppelpunkt) gegeneinander abzugrenzen. Dieser Punkt, der nicht auf die Grundlinie, sondern in die Mitte zwischen zwei Linien gesetzt wurde (•), markierte also nicht zwangsläufig ein Satzende. Kleinere oder größere inhaltliche Abschnitte wurden mit drei oder vier Punkten abgeschlossen (Punkthaufen: 3 , 4 ). Aus ökonomischen Gründen machten die Schreiber reichen Gebrauch von Kürzeln und Ligaturen. Kürzel bestanden aus hochgesetzten und meist von einem Halbbogen überdachten Buchstaben ( еS ^ = есть ). Mit dem Terminus Ligatur ist hier der im Schriftbild zu konstatierende und durch spezielle Zeichen markierte Ausfall von Graphemen gemeint, durch den die erhaltenen Wortteile ebenfalls zusammengezogen werden. Ligaturen fanden v.a. bei hochfrequenten und entsprechend gut bekannten Wörtern Verwendung, die „im Prinzip mit dem ersten und dem stammauslautenden Buchstaben sowie der Endung wiedergegeben werden, eventuell ergänzt durch weitere Buchstaben. Ligaturen werden wie die Zahlzeichen durch eine Tilde markiert, bei Verwendung hochgesetzter Buchstaben durch einen Bogen“ (F RANZ / T USCHINSKY 1982: 17). Ferner ist zu beachten, dass zwischen den Lauten (Phonemen) und den sie repräsentierenden Buchstaben (Graphemen) keine durchgehende Eins-zu-Eins-Entsprechung bestand. So ist neben Ligaturen auch die Verwendung von Digraphen (d.h. die Wiedergabe eines Lautes durch zwei stets zusammengeschriebene Buchstaben, z.B. u für [u], y für [y]) zu beobachten, die in der Folgezeit teils eliminiert, teils aber auch bewahrt wurden. Ein Apostroph konnte zur Anzeige eines im Schriftbild ausgefallenen Halbvokals verwendet werden: ч’то anstatt чьто , м’нож’ство anstatt мъножьство . Verschiedene diakritische Zeichen waren in Gebrauch: Ein oberhalb oder oben rechts von einem Konsonanten befindliches Weichheitszeichen (nicht mit dem Graphem ь zu verwechseln) zeigte die Palatalität dieses Konsonanten an: земъл~h , мор~е . Folgende Akzente, die ihre Verwandtschaft mit dem Griechischen nicht leugnen können, sind auseinanderzuhalten: <?page no="253"?> Graphische Besonderheiten des Altkirchenslavischen 247 Abbildung 42: Im Altkirchenslavischen gebräuchliche Akzente Die Tilde, die verschiedene Formen annehmen konnte (z.B. , $ , * ‡ , ^), hatte eine Doppelfunktion: Zum einen verwies sie als Abkürzungssymbol auf den Ausfall von Buchstaben und Silben v.a. in häufig gebrauchten Wörtern ( б 8 ъ = богъ , ис 8 = исqсъ , гл 8 ати = глаголати ), zum anderen markierte sie einen Buchstaben als Zahl, d.h. dieser Buchstabe war nicht mit seinem Lautwert, sondern mit seinem Zahlwert zu lesen ( а ^ = ~динъ ). Die Verwendung eines Buchstabens als Zahl wurde darüber hinaus auch durch das Setzen eines Punktes rechts und links von ihm gekennzeichnet ( 1 а ^1 ). Tausenderzahlen wurden, um sie von den Einern zu unterscheiden, durch ein spezielles Zeichen vor dem Buchstaben markiert: #: а ^: = тыс@шти . Die Zahlen von 11 bis 20 wurden in der Kombination Einer-Zehner geschrieben, die Zahlen jenseits von 20 in der Reihenfolge Zehner-Einer. Zahlen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Einer : a^: : v^: : g^: : d^: : e^: : š^: : j^: : i^: : ð^: Zehner : î^: : k^: : l^: : m^: : n^: : œ^: : o^: : p^: : µ^: Hunderter : r^: : s^: : t^: : u^: : f^: : x^: : þ^: : ø^: : c^: Tausender # : a^: # : v^: # : g^: # : d^: # : e^: # : š^: # : j^: # : i^: # : ð^: Abbildung 43: Zahlenwerte der altkirchenslavischen kyrillischen Buchstaben Die v.a. in Lehrwerken vorzufindenden kirchenslavischen Texte sind aus didaktischen Gründen üblicherweise in einer normalisierten, d.h. vereinheitlichten und für eine leichtere Lektüre aufbereiteten Version abgedruckt und entsprechen mithin nicht hundertprozentig der Originalfassung. <?page no="254"?> Historischer Teil 248 15.9 Anmerkungen zu einigen wichtigen slavischen Lautentwicklungen Zwei für die Entwicklung vom Indogermanischen über das Urslavische zum Slavischen und für die Binnendifferenzierung der slavischen Sprachen zentrale Lautgesetzmäßigkeiten sollen an dieser Stelle exemplarisch vorgestellt werden. Es handelt sich um die Liquidametathese ( метатеза плавных ) und den Volllaut (Polnoglasie, bisweilen auch Pleophonie genannt; полногласие ), zwei lautliche Erscheinungen, die dem bis zum 12. Jh. geltenden slavischen Prinzip der Silbenöffnung (Tendenz zur steigenden Sonoritätswelle bzw. Gesetz der offenen Silbe; закон открытого слога ) gehorchen. Der Schwund der reduzierten Vokale (Halbvokale; падение редуцированных гласных ) im 12. und 13. Jh. ermöglichte dann später die erneute Herausbildung geschlossener Silben wie auch die sog. Auslautverhärtung oder Entstimmlichung im absoluten Wortauslaut, da nunmehr auch Konsonanten diese Position einnehmen konnten. Dem Prinzip der Silbenöffnung gehorchend wurden jedoch zunächst auf Konsonanten auslautende, also geschlossene, Silben nicht mehr geduldet, was zu weitreichenden Laut- und damit auch morphologischen Veränderungen führte. Die nur die west- und südslavischen Sprachen betreffende Liquidametathese besteht in der Umstellung bzw. Vertauschung der Liquidlaute l und r mit einem vorangehenden Vokal V, wobei diese Lautgruppe von anderen Konsonanten K eingerahmt wird. So wird aus der indoeuropäischen Abfolge K - V - LIQUID - K (Bsp.: „tort“, „tolt“) im West- und Südslavischen die Folge K - LIQUID - V - K (Bsp.: „trot“, „tlot“). Eine weitere Besonderheit im Zusammenhang mit den Liquidlauten l und r ist darin zu sehen, dass diese in den west- und südslavischen Sprachen silbenbildend ( слогообразующий ) sein können, also den Wert von Halbvokalen annehmen. Der wohl berühmteste, wenngleich nicht übermäßig sinnvolle, Beispielsatz für diese Erscheinung ist tschech. Str č prst skrz krk ‚Steck den Finger durch den Hals’. Im Ostslavischen dagegen kommt es zum Volllaut, d.h. aus der indoeuropäischen Abfolge K - V - LIQUID - K (Bsp.: „tort“, „tolt“) wird durch Verdoppelung (Reduplizierung mit einem sog. anaptyktischen Vokal) des betreffenden Vokals die Folge K - V - LIQUID - V - K (Bsp.: „torot“, „tolot“). Im Tschechischen, Slowakischen (nicht jedoch im Polnischen) und in den südslavischen Sprachen geht die Liquidametathese teilweise mit einer Dehnung der Vokale einher, die schließlich zu einem Wandel von o zu a führt: ó a (Bsp.: „trat“, „tlat“). Vgl. hierzu H ERBERT B RÄUER : Slavische Sprachwissenschaft: I, Einleitung, Lautlehre (Berlin 1961: 79-80): „Die Abneigung des Urslavischen gegen geschlossene Silben [...] wird im allgemeinen als die Ursache dafür angesehen, daß die Liquidaverbindungen ihre ursprüngliche Gestalt nicht bewahrt haben. Diese Tendenz wirkte ja aus der urslav. Zeit in die gemeinslav. Zeit hinein [...] Die Umgestaltung der alten Liquidaverbindungen gehört wegen der unterschiedlichen Behandlung und ihrer Ergebnisse in die Übergangszeit vom Gemeinslavischen in die einzelsprachliche Periode. Mit Ausnahme des Ostslavischen haben die meisten slav. Sprachen die ursprüngliche Lautfolge Vokal+Liquida umgestellt (=Liquidametathese), im Südlslavischen mit zusätzlicher Dehnung des Vokals. Diese Dehnung findet man auch im Č echischen und Slovakischen, während sie die übrigen Westslavischen Sprachen nicht kennen. [...] Das Ostslavische nimmt eine <?page no="255"?> Allgemeine Merkmale des Altkirchenslavischen 249 Sonderstellung ein, insofern als es die ursprüngliche Liquidaverbindung durch Entwicklung eines 2. Vokals zum sg. „Vollaut“ (r. „Polnoglasie“) geführt hat“. In der Synopse präsentieren sich die Ergebnisse von Liquidametathese und Volllautung dann wie folgt: Urslav. Russisch Tschechisch Polnisch Serb./ Kroat./ Bosn. Bulgarisch *melko молоко 122 mléko mleko mlijeko, mleko мляко *gord ъ город hrad gród grad град *golva голова hlava głowa glava глава *karl ъ король král król kralj крал *mold ъ молодой mladý młody mlad млад Das urslav. gord ъ ergab zunächst für das Altslavische grad ъ und dann, wie oben dargestellt, für das Russische gorod, das Serbische/ Kroatische/ Bosnische grad, für das Tschechische hrad, das Polnische gród, und ferner für das Kaschubische gard und das Polabische gord. 15.10 Allgemeine Merkmale des Altkirchenslavischen Während seiner ca. 150-jährigen Existenz wies das AKS keineswegs einen unveränderlichen Sprachzustand auf. Veränderungen traten im lautlichen Bereich ebenso auf wie in der Morphologie, der Lexikologie, der Syntax. Die kirchenslavische Entwicklung ist nicht mit der ostslavischen gleichzusetzen; erst im 10. Jh. kommt es mit der Übernahme der altslavischen Schriftsprache zu einem Kontakt zwischen russischer Volkssprache (ostslavischer Herkunft) und altslavischer Schriftsprache (südslavischer Herkunft). Aus der ostslavischen Volkssprache einerseits und der altslavischen oder kirchenslavischen Schriftsprache andererseits entwickelten sich als Synthese die Vorstufen der modernen Nationalsprachen, also etwa das Altrussische (mit den funktionalen Varianten Ostslavisch und Kirchenslavisch) als Vorläufer des Neurussischen. Es ergibt sich eine große Dreigliederung: 1) kirchlich-religiöse Literatur: reines Kirchenslavisch; 2) Rechtsdenkmäler: reines Ostslavisch; 3) weltliche Literatur (Chroniken etc.): themenabhängige Mischung beider Funktionalstile (vgl. F RANZ / T USCHINSKY 1982: 13). Die phonetischen und phonologischen Verhältnisse im Altslavischen sehen wie folgt aus: Vokalsystem: Es existieren 10 Vokalphoneme: a, ž e, e, o, i, u; ê , µ o; ь , ъ (die reduzierten Vokale verschwinden entweder oder gehen in andere Vokale über). Vergleicht man dieses Phonemsystem mit denjenigen der heute noch lebenden slavischen Sprachen, so fällt auf, dass die Nasalvokale in den meisten Slavinen nicht erhalten bleiben. 122 Wohl über eine Zwischenstufe * м e л e ко . <?page no="256"?> Historischer Teil 250 Konsonantensystem: Phonologisierung der Opposition palatal : nichtpalatal; Aufkommen des epenthetischen (d.h. eingeschobenen) l’. Bsp. aus dem Russischen: спать - я спл ю , ты спишь ; diese Epenthese ist nicht etymologisch motiviert, sondern dient einzig und allein der Ausspracheerleichterung. Die wichtigsten Besonderheiten des altkirchenslavischen Lautsystems werden in den folgenden Übersichten dargestellt. Die erste Tabelle zeigt, wie das Urslavische üblicherweise mit lateinischen Buchstaben und diesen zugeordneten Sonderzeichen transliteriert wird. Angegeben sind ferner der russische Namen des jeweiligen Buchstabens bzw. Erklärungen zu seinem Lautwert. Die aufgeführten Zeichen sind konventionalisiert, können jedoch parallel verwendete Varianten aufweisen. Знак Русское обозначение или толкование Знак Русское обозначение или толкование a b c ( ć ) č ( č\ ) d e ĕ (ä) ę ( ẽ ) (f) g (h) i j k l (ł) l’ ° l m n ń а б ц ( мягкое ) ч ( мягкое ) д э ( краткое ) « ять » ( долгий пе редний открытый ) э ( носовое ) ф ( в заимствованиях ) г ( взрывное ) г ( фрикативное , диа лектное ) и й (« йот ») к л ( указывающий на твердость знак ) л мягкое л слоговое м н н мягкое o µ o ( õ ) p r ŕ ° r s ś š ( š\ ) t u v (w, ½ u) x (ch) y z ź ž ( ž\ ) ь ( ĭ ) ъ ( ŭ ) о о носовое п р р мягкое р слоговое с с мягкое ш ( мягкое ) т у в ( в скобках даны зна ки , подчеркивающие билабиальность ) х ы з з мягкое ж ( мягкое ) краткий гласный и краткий гласный у Abbildung 44: Urslavische Transkription Die folgende Tabelle ist eine Synopse zu den lautlichen Entwicklungen in den drei großen slavischen Sprachgruppen, ausgehend vom Urslavischen. Zur Erinnerung: Das vorangestellte Sternchen vor den urslavischen Lautfolgen bedeutet, dass die entsprechenden Formen mangels schriftlicher Zeugnisse nicht belegt, sondern rekonstruiert sind. Пра славянские формы Восточно славянские формы Западно славянские формы Южно славянские формы *dl, *tl *e- *bj, *pj, ... *gv ě -, *kv ě - *tort, ... l obl’, pl’, ... zv ě -, cv ě -; kv ě torot, ... dl, tl jeb’, p’, … gv ě -, kv ě trot, trat, tort, ... l ebl’, pl’ ; b’, p’, … zv ě -, cv ě trat, … <?page no="257"?> Allgemeine Merkmale des Altkirchenslavischen 251 *dj, *kj (*kt) * ъ , * ь ( сильн .) * Õ * ę * ě *x ( ě 2 ) *ort-, *oltž, č o,e u ’a e, ê, ½ ie, i s ( ě 2 ) rot-, rat-, lot-, latdz / z, c e u; Õ , ę e; ę , Õ e, ’a š ( ě 2 ) rot-, rat-, lot-, latžd, dž, g, j št, č , k ъ , o, a; a, e a, ъ , o, u e e, ’a, ije s ( ě 2 ) rat-, lat- Abbildung 45: Die wichtigsten phonetischen Unterschiede der slavischen Sprachgruppen Die beiden folgenden Übersichten setzen das moderne Russisch in Beziehung einmal zum Altslavischen und einmal zum Ostslavischen. In Verbindung mit obiger Tabelle werden die Unterschiede zwischen den altslavischen und den ostslavischen Besonderheiten verständlich. 1. Неполногласие : ограда ( ср . огородить ), прибрежный ( ср . берега ), младенец ( ср . молодой ), всплеск ( ср . полоскать ) 6. Сохранение е под ударением на конце слова перед твердым согласным ( отсутствие 3й лабиализации е ): кр´ест , мят´еж , п´ерст , жити´ е , быти´е 2. Начальные соче тания р a-, л aна месте индоевро пейских о r-, о lи восточнославян ских р o-, л o-: равенство ( ср . ровный ), разум ( ср . росчерк ), ладья ( ср . лодка ) 7. ле -, череду ющееся с оло - ( отсутствие 1й лабиализации - е ): увлечение ( ср . волоку ), млечный ( ср . молочный ), плеск ( ср . полоскать ) 3. жд , череду ющееся с д ( из д j): сопровождать - проводы , наслаждение - сладкий , вождь - водить 8. Сохранение и на конце основы существи тельных и при лагательных : бытие , житие , Мария , Дария 4. щ , чередующее ся с т ( из т j): возвращать - возврат , запрещение - запрет , трепещет - трепет 9. Приставка из - ( ис -): измазать ( ср . вымазать ), изъявить ( ср . выявить ), испариться ( ср . выпариться ) 5. Сохранение на чального е ( от сутствие 2й ла биализации е ): еще , единица , объединяться , ежели 10. щ на месте гт и кт перед и и ь в инфинитивных формах и у существитель ных 3го скло нения : помощь , тещи ( ср . древнерус . течи ) Abbildung 46: Altslavische phonetische Besonderheiten im heutigen Russisch <?page no="258"?> Historischer Teil 252 1. Полногласие : сторож ( ср . стража ), беречь ( ср . небрежный ), солод ( ср . сладкий ), полоскать ( ср . плескать ) 7. Начальное о на месте на чального обще славянского и иноязычного е -: один ( ср . единствен ный , разъединять ), олень ( ср . елень ) 2. Начальные соче тания ро -, ло на месте общеиндо европейских о r-, о lи старосла вянских ра -, ла -: ровесник ( ср . равенство ), розница ( ср . разный ), ровный ( ср . равный ), лодка ( ср . ладья ) 8. оло -, череду ющееся с ле - (1я лабиали зация е ) молочный ( ср . млеч ный ), полоскать ( ср . плескаться ) 3. Сочетания ор -, ер -, ол между согласными на месте общесла вянских ър -, ъл -, ьр -, ьл между согласными : горбатый , верховод , полный , толстяк 9. Произнощение е под ударением на конце слова и внутри слова перед твердым согласным как ’ о , йо (3я лабиализация е ): ещ´ё , и то и с´ё , копь´ё , плеч´о , нес´ём , пл´ётка , трещ´отка 4. ж , чередующее ся с д ( из д j): провожать - проводить , хуже - худой , пряжа - пряду 10. Отсутствие й на конце основы у существи тельных и при лагательных : житьё , копьё , Марья , Дарья , семья , лебяжья 5. ч , чередующееся с т ( из т j): свеча - свет , отвечать - ответ , короче - короткий 11. Приставка вы -: выход ( ср . исход ), выбежать ( ср . избе жать ), выключить ( ср . исключить ) 6. Разные по качеству замены общеславянских ъ , ь через о , е : сон (< сънъ ), день (< дьнь ) ( ср . чешское sen, den) 12. ч в инфинитивах и существи тельных 3го склонения на месте * гт и * кт ( перед и и ь ) беречь (< беречи ), ночь Abbildung 47: Ostslavische phonetische Besonderheiten im heutigen Russisch Wenden wir uns nunmehr dem morphologischen Bereich des AKS zu, der wiederum Auswirkungen auf die Syntax hat. Zu trennen sind, wie üblich, nominaler und verbaler Sektor mit einem je spezifischen Formenbestand. Nominaler Bereich: • Deklinationen: nominal und pronominal • 7 Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Instrumental, Lokativ, Vokativ), 3 Numeri (Singular, Dual, Plural), 3 Genera (maskulin, feminin, neutrum). Das Kasussystem hat sich in dieser oder in reduzierter Form nicht in allen slavischen Sprachen fortgesetzt; im modernen Bulgarischen und Mazedonischen ist es verloren gegangen. Morphologie der Substantive: • Deklinationen (Bezeichnung nach den Themalauten): o-, ¯ a-, ¯ i-, ž u-, ž i- und Konsonantstämme (r-, s-, n-, nt-Stämme); dieses urslavische Stammklassensystem wird <?page no="259"?> Die ältesten und wichtigsten Schriftdenkmäler des Altkirchenslavischen 253 zunehmend aufgegeben zugunsten einer Einteilung nach Genera (B OECK / F LE - CKENSTEIN / F REYDANK 1974: 21); Herausbildung einer Belebtheitskategorie (bei maskulinen Substantiven im Singular sowie bei Substantiven im Plural) Morphologie der Adjektive: • Flexion: 3 Steigerungsstufen (Positiv, Komparativ, Superlativ) • Kurzformen (nominal dekliniert) und Langformen (nominal und pronominal dekliniert); die Verteilung von Lang- und Kurzformen gehorcht z.T. anderen Regeln als in den modernen slavischen Sprachen, sofern diese überhaupt noch eine entsprechende Unterscheidung vornehmen) Verbaler Bereich: • Aspektsystem: perfektiver und imperfektiver Aspekt • Tempussystem: 7 Tempora (einfache Tempora: Präsens, Imperfekt, Aorist; periphrastische Tempora: Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I, Futur II); Futurbedeutung kann durch imperfektives wie perfektives Präsens ausgedrückt werden; „Die Bedeutungsunterschiede zwischen den einzelnen Tempora sind stark umstritten [...], die Belege oft widersprüchlich und lassen verschiedene Interpretationen zu.“ (B OECK / F LECKENSTEIN / F REYDANK 1974: 23); das differenzierte Tempussystem wird in späterer Zeit zugunsten eines generalisierten Aspektsystems aufgegeben. Heute weisen v.a. die südslavischen und die sorbischen Sprachen noch ein fein abgestuftes Tempussystem auf, während im Ostslavischen und den anderen westslavischen Sprachen viele Tempora aufgegeben wurden und z.T. weitreichende Umstrukturierungen stattfanden. • Modus: Indikativ, Konjunktiv / Konditional, Imperativ • Diathese (Genus verbi): aktiv, passiv, reflexiv • Numerus: Singular, Dual, Plural • Person: 3 Personen im Singular und 3 im Plural • Genus: nur in periphrastischen Tempora ausgeprägt • Infinitiv, Temporal- und Modalformen, Supinum ( супин ), 5 Partizipien (vom Präsensstamm werden abgeleitet: Partizip Präsens Aktiv, Partizip Präsens Passiv; vom Infinitivstamm werden abgeleitet: Partizip Präteritum Aktiv, Partizip Präteritum Passiv, Partizip Perfekt Aktiv) • das differenzierte Partizipialsystem steht unter griechischem Einfluss (dativus absolutus [ дательный самостоятельный ], participium conjunctum u.a.) 15.11 Die ältesten und wichtigsten Schriftdenkmäler des Altkirchenslavischen Ein generelles Problem bei der Auswertung alter Schriftdenkmäler besteht in der oft festzustellenden Diskrepanz zwischen der zeitlichen Situierung der Handlung und dem Entstehungsdatum des Dokuments. Ein Beispiel: Eine in einem Archiv entdeckte Chronik berichtet von einem im 11. Jh. unternommenen Feldzug eines Novgoroder Fürsten. Der Text stammt jedoch nachweislich erst aus dem 15. Jh. und stellt einen Erstbeleg dar, d.h. es existieren keine älteren Fassungen (Handschriften) <?page no="260"?> Historischer Teil 254 dieses Textes. Wie ist dieses Schriftzeugnis nun linguistisch zu werten? Zwischen dem 11. und dem 15. Jh. hat sich die Sprache über vier Jahrhunderte weiter entwickelt, es ist also davon auszugehen, dass der Schreiber des 15. Jhs. die Sprache verwendet hat, die ihm geläufig war und die sich bereits mehr oder weniger deutlich von der Sprache des 11. Jhs. unterschied. Man darf also nicht den Fehler machen, die Sprache des Dokuments mit der Sprache der erzählten Zeit gleichzusetzen. Im Idealfall erlauben es immer wieder vorgenommene Abschriften ein und desselben Textes aus verschiedenen Jahrhunderten, die Entwicklung der Sprache recht genau nachzuvollziehen. Die Datierung eines historischen Dokumentes bezieht sich also nie auf die erzählte Zeit, sondern auf den vermuteten oder nachgewiesenen Entstehungszeitpunkt. Die - überwiegend lateinische - Namensgebung altkirchenslavischer Schriftdenkmäler orientiert sich i.d.R. an den Fundorten oder den latinisierten Namen der Finder bzw. Herausgeber, seltener an den im Text erwähnten Personen. Die meisten Werke wurden seit dem 19. Jh. bereits mehrfach und z.T. in unterschiedlicher Form (fototypisch, kritisch) ediert. In Klammern vermerkt sind Entstehungsort und -zeit, wobei je nach der verwendeten Literatur durchaus unterschiedliche Angaben hinsichtlich der Entstehung und der Sprachzuordnung zu finden sind. Oft werden die Werke auch inhaltlich gruppiert, so bei T RUNTE (2005, Zweite Lektion, dort auch etliche weitere Zeugnisse). Glagolitische Schriftdenkmäler Codex Zographensis (Makedonien, Ende 9./ Anfang 10. Jh.) Codex Marianus (Nordmakedonien, Anfang 11. Jh.) Codex Assemanianus (Makedonien, Anfang 11. Jh.) Evangelium von Ochrid (Ochrider Blätter) (Makedonien, 11. Jh.) Psalterium Sinaiticum (Makedonien, 11. Jh.) Euchologium Sinaiticum (Makedonien, 11. Jh.) Glagolita Clozianus (Makedonien, 11. Jh.) Fragmente von Rila (Makedonien, 11. Jh.) Kiever Missale (wohl auf tschechisch-sprachigem Gebiet, Ende 11. Jh.) Kyrillische Schriftdenkmäler Sava-Evangelion (Nordostbulgarien, 11. Jh) Codex Suprasliensis (Bulgarien, Mitte 11. Jh.) Fragmente des Undol’skij-Evangeliums (Bulgarien, 11. Jh.) Fragmente von Chilandar (11. Jh.) Zographos-Palimpsest (Ende 11. Jh.) Hinzu kommen noch etliche In- und Aufschriften (Kirchen und weltliche Gebäude, Grabplatten etc. zur Erinnerung an Personen und Ereignisse). <?page no="261"?> Altkirchenslavisch und Latein 255 15.12 Altkirchenslavisch und Latein Ein bisweilen bemühter Vergleich des AKS mit der lateinischen Sprache als der Vorläuferin oder Mutter der romanischen (Tochter-)Sprachen ist nicht ohne weiteres statthaft. Tatsächlich haben sich die romanischen Einzelsprachen nämlich nicht aus dem klassischen (Schrift-)Latein entwickelt, sondern aus dessen gesprochener, regional durchaus variierender Spielart, dem sog. Vulgärlatein (lat. vulgus ‚Volk, Volksmenge’). Das Vulgärlatein war also - im Gegensatz zum AKS - eine allen (primär mündlichen) Kommunikationserfordernissen gerecht werdende, natürlich gewachsene Volkssprache. Die lateinische Sprache, zumal in ihrer klassischen Form, wurde die Sprache der Gebildeten und der Bildung, sie war lingua franca und lingua vernacula, die eine grenzüberschreitende Kommunikation über beliebige Themen des Alltags ermöglichte, unter den Gebildeten funktional also maximal belastet war (das einfache Volk bediente sich selbstverständlich auch in Westeuropa seiner angeborenen Umgangssprache, die lange Zeit - etwa bis zum Aufkommen des nationalstaatlichen Gedankens - von der Bildungsschicht mit Verachtung gestraft wurde). Aufgrund seines hohen Status als europäische Kultursprache wurde Latein von der römischen Kirche auch zur Sakralsprache erhoben, während das AKS erst nach seiner Einführung als Sakralsprache auch zur ostslavischen Kultursprache werden konnte; die Entwicklung verlief mithin in umgekehrter Richtung. Eine Parallele ist dagegen bei der Entwicklung des klassischen Lateins und des AKS zu sehen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde in beiden Sprachen durch volkssprachliche Einflüsse eine gewisse „Degenerierung“ spürbar, der bewusst entgegengewirkt werden sollte. Für die lateinische Sprache war dies der Fall mit der sog. Karolingischen Reform im Jahre 800 unter Kaiser Karl dem Großen, der das klassische Latein wieder auf sein altes Niveau heben wollte, dies um den Preis, dass es sich immer weiter von der Volkssprache entfernte und nur noch den gebildeten Kreisen zugänglich war. Vergleichbar verhielt es sich für das AKS mit dem sog. Zweiten südslavischen Einfluss, als erneut Lehrer aus südslavischen Ländern als Vertreter einer „reineren“ kirchenslavischen Sprache gerufen wurden 123 , um das verderbte AKS im ostslavischen Bereich zu säubern. Aufgrund verschiedener Interferenzerscheinungen vom AKS zur Volkssprache (lautlich und v.a. graphisch meist nicht systematisch, sondern akzidentell durch um sich greifende Unachtsamkeiten oder die Unwissenheit von Schreibern und Sprechern) war Ersteres im Laufe der Jahrhunderte teilweise von seiner ursprünglichen, hohen Norm abgewichen. Etwa ab dem 11. Jh. kam es durch diese Entwicklungen zu einer ostslavischen Redaktion des Kirchenslavischen. Sowohl die Karolingische Reform als auch der Zweite südslavische Einfluss fielen in die Epoche des Mittelalters. Im Vergleich von West- und Ost-/ Südosteuropa kann man jedoch nicht von dem Mittelalter als einem hier wie dort gleichartigen Abschnitt der historischen Entwicklung sprechen. Vielmehr umfasste das Mittelal- 123 I SSATSCHENKO (1980: 214) weist darauf hin, dass die Lehrer aus der Südslavia keineswegs gezwungenermaßen nach Moskau gekommen seien, sondern völlig freiwillig und „mit einem offiziellen Auftrag vom Patriarchen von Konstantinopel“. Der Gedanke einer Massenemigration südslavischer Vertreter der Intelligenz unter osmanischem Druck sei mithin historisch nicht haltbar (vgl. weiter unten). <?page no="262"?> Historischer Teil 256 ter in Westeuropa grosso modo die Zeit vom 5./ 6. bis zum 15./ 16. Jahrhundert, also rund ein Jahrtausend von der Völkerwanderung und dem Zerfall des Römischen Reiches bis hin zur Entdeckung Amerikas und bis zu Martin Luther. Der Beginn des osteuropäischen, im engeren Sinne des russischen Mittelalters liegt dagegen deutlich später und wird üblicherweise im neunten Jahrhundert angesetzt, als im Jahr 862 der in den Chroniken erwähnte Rjurik Fürst von Novgorod wurde. Der Ausgang des russischen Mittelalters ist mit der Regierungszeit Peters des Großen Ende des 17./ Anfang des 18. Jahrhunderts zu sehen, als sich Russland auf Geheiß Peters dem Westen und dessen Gedankengut öffnete. Trotz eines unterschiedlichen Entwicklungsverlaufs und einer zeitlichen Differenz von mehreren hundert Jahren weisen das Lateinische einerseits und das Altkirchenslavische andererseits die große Gemeinsamkeit auf, dass sie jeweils zur Sprache des Glaubens wurden und hierdurch das kulturelle Leben ihrer Sprechergemeinschaften in entscheidendem Maße prägten. Ohne diese in vielen Bereichen unierenden Kräfte wäre die Geschichte West- und Ostbzw. Südosteuropas sicherlich anders verlaufen. Literatur zum historischen Teil findet sich in Kap. 18.8. An dieser Stelle sei noch auf einige interessante Internetseiten verwiesen: http: / / character.webzone.ru/ ostromir.htm : das Ostromir-Evangelium online http: / / home.univer.kharkov.ua./ sumer/ glag/ : rund um die Glagolica http: / / justin.zamora.com/ slavonic/ : „Help me learn Church Slavonic“: originelle englischsprachige Site http: / / kodeks.uni-bamberg.de/ : zur Sprach- und Kulturgeschichte der slavischen Länder und Völker http: / / litopys.org.ua/ : Izbornyk; Sammlung altostlavischer Chroniken http: / / vedibuki.narod.ru/ titslovo.htm : Texte und Übungen rund um das AKS, darunter speziell zum Alphabet http: / / www.drevne.ru/ : Internetportal altrussischer Texte http: / / www.franklang.ru/ 48/ : Grammatik, Wörterbuch, Texte (Bibel u.a.) zum AKS http: / / www.franklang.ru/ 49/ : Portal zu russischsprachigen Seiten rund um Sprache und Kultur Russlands http: / / www.gramota.ru : Internetportal zur russischen Sprache Aus dem Archiv dieser Site wurden folgende Beiträge ohne Jahresangabe herangezogen: A LPATOV , V. M.: Faktory, vlijajuš č ie na vybor sistemy pis’ma. K IROV , E. F.: Grafika russkogo jazyka do i posle Kirilla (k voprosu o proischoždenii bukvennogo pis’ma). L OPATIN , V. V.: Iz istorii reformirovanija russkogo pravopisanija. P RJADKO , I. P.: Doreformennaja orfografija i sovremennaja reklama. V EREŠ Č AGIN , E. M.: Iz istorii kirillicy. Ebenfalls von der Internetseite http: / / www.gramota.ru , hier ohne Angabe eines Autors, stammen folgende Artikel: 50 let nazad byla najdena pervaja berestjanaja gramota (31.05.2001) V berestjanoj gramote XII veka pokryli matom (02.10.2001) V Novgorode najdena berestjanaja gramota XIII veka (09.08.2002) http: / / www.hr/ darko/ glagoljica/ dpg.html : Društvo prijatelja glagoljice; zur Glagolica aus kroatischer Sicht http: / / www.ruscenter.ru/ 33.html : zur Geschichte der russischen Sprache, darunter Etliches zum AKS http: / / www.sbible.boom.ru/ slavpdf.htm : Biblija na cerkovnoslavjanskom jazyke http: / / www.schaeken.nl/ lu/ research/ online/ publications/ akslstud/ : Altkirchenslavische Studien http: / / www.slavdict.narod.ru / : Wörterbuch des AKS von G. D’ja č enko (als hochauflösende Gif-Grafiken) http: / / www.utexas.edu/ cola/ depts/ lrc/ eieol/ ocsol-0-X.html : Old Church Slavonic Online <?page no="263"?> 16 Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten In diesem Kapitel geht es abschließend um verschiedene praktische Aspekte des Slavistikstudiums: Welche Sprachkenntnisse sind erforderlich bzw. wünschenswert? Wie bibliographiere und wie zitiere ich richtig für Hausarbeiten, Referate etc.? Welche gedruckten und welche digitalen Medien (elektronische Nachschlagewerke, Websites) helfen mir bei der Informationsrecherche? Welche Voraussetzungen sollte man zunächst für ein Studium der Slavistik mitbringen - oder sich aneignen? Grundlegend ist natürlich ein tiefes Interesse an den slavischen Sprachen, Literaturen und damit Kulturen. Slavistik ist nicht gleichbedeutend mit Russistik, auch wenn das Russische die bei weitem größte der slavischen Sprachen ist und von den meisten Studierenden als Fach belegt wird. Wünschenswert sind daher neben der studierten slavischen Hauptsprache Kenntnisse in mindestens einer weiteren slavischen Sprache - auch wenn der Studienplan dies nicht zwingend vorsehen mag. Unter etymologischem Gesichtspunkt, aber auch hinsichtlich der philologischen Fachterminologien sind Kenntnisse des Lateinischen und/ oder des Griechischen auf jeden Fall von Vorteil. Die Slavistik ist, historisch gesehen, kein Forschungsbereich, der sich primär aus den slavischen Ländern selbst entwickelt hat; vielmehr kamen und kommen weg weisende Impulse von außerhalb: aus Deutschland, Frankreich und zahlreichen an deren Ländern. Dementsprechend ist auch slavistische Fachliteratur in vielen euro päischen und außereuropäischen Sprachen verfasst worden, die nicht unbedingt in slavischsprachigen Übersetzungen vorliegt. Zumindest grundlegende Kenntnisse ei niger der modernen Fremdsprachen Englisch, Französisch, Italienisch u.a. erschlie ßen so einen großen Teil der Forschungsliteratur, der beispielsweise mit Kenntnissen „nur“ des Russischen und des Deutschen verschlossen bliebe. Ein grundlegendes Ziel jedes Studiums, wie auch jeder sonstigen Ausbildung, ist es, Fachwissen zu erwerben, das zur Ausübung eines Berufes befähigen soll. In jün gerer Zeit ist darüber hinaus verstärkt - und hier kommen nicht zuletzt die Studien reformen ins Spiel - die Rede von sog. „studien- und berufsbezogenen Kernkompe tenzen“, „Schlüsselqualifikationen“ (diese heißen an jeder Universität anders), oder neudeutsch „Soft Skills“. Gemeint ist hiermit das weite Feld all jener Fertigkeiten und Fähigkeiten, die die Studierenden neben dem reinen Fachwissen erwerben sollen und die neben Arbeits- und Präsentationstechniken und alltagstauglichen EDV- Kenntnissen auch durchaus soziale Komponenten wie bspw. Lehr- und Lernformen beinhalten. Geisteswissenschaftlern unterstellt man (es klingt bisweilen eher wie eine Beschwörungsformel), dass sie diese Kompetenzen besonders gut beherrschen und sich hierdurch am Arbeitsmarkt eine gefestigte Ausgangsposition gegenüber der oft übermächtig erscheinenden Dominanz der Natur- und Wirtschaftswissenschaftler erobern können. Ein weiteres Ziel auch des Slavistikstudiums muss also darin bestehen, die erwähnten Kompetenzen bewusst und nutzbar zu machen. Da die meisten Konzeptionen von Bachelor-Studiengängen diese Kompetenzen schwerpunktmäßig in eigenen Veranstaltungen behandeln, kommt den reinen Fach- <?page no="264"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 258 kursen hier unterstützende Funktion zu, und wir können uns an dieser Stelle auf Grundlegendes beschränken. Das Abfassen und die Präsentation von Protokollen, Referaten, Thesenpapieren und Hausarbeiten zieht sich bis zur Magister-, Bachelor-, Master-, Staats- oder Diplomarbeit wie ein roter Faden durch Ihr Studium. Die folgenden Ratschläge und Hinweise sollen Ihnen Ihr Studierendendasein in diesem Punkt etwas erleichtern. Ein wesentliches Element beim Erstellen von Haus- und sonstigen Seminararbeiten ist die Benutzung von Primär- und Sekundärliteratur, aus der Sie normalerweise Ihr Wissen beziehen und die Sie dann in Ihrer eigenen Arbeit referieren, d.h. entsprechend der Aufgabenstellung aufbereiten und präsentieren sollen. Das erste Problem, das sich bei der Bearbeitung eines Hausarbeitsthemas stellt, ist die zu benutzende Literatur und wie ich sie finde. Allgemeine Hinweise sind hier nur schwer zu geben, gerade StudienanfängerInnen sollten aber in jedem Fall Bibliotheksführungen mitmachen, die oft sogar von Vertretern (Dozenten oder Studierenden höherer Semester) des eigenen Faches angeboten werden. Aus den zahlreichen nationalen wie internationalen Suchhilfen, Datenbanken und (Verbund-)Katalogen seien exemplarisch die folgenden erwähnt (wobei u.U. bereits der Einsatz einer gewöhnlichen Suchmaschine ganz erstaunliche Ergebnisse bringen kann): BL - Bibliographie Linguistique online: http: / / www.blonline . nl BLL - Bibliography of Linguistic Literature: http: / / www.blldb-online.de/ HBZ - Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen: http: / / www.hbznrw.de/ ; speziell für Aufsätze und Abstracts auf der Homepage dem Link „Recherche und mehr“ folgen, dann „hbz-Werkzeugkasten“ und schließlich „Aufsatzdatenbanken und Abstractdatenbanken“ KUG - Kölner Universitätsgesamtkatalog: http: / / kug3.ub.uni-koeln.de/ portal/ opac? view=all KVK - Karlsruher Virtueller Katalog: http: / / www.ubka.uni-karlsruhe.de/ kvk.html ; dieser Katalog ist ein virtueller Verbund aller in Deutschland existierenden regionalen Verbundsysteme und ermöglicht die Durchsuchung von Buchbeständen der deutschen, österreichischen und Schweizer Bibliotheken sowie des deutschen Buchhandels MLA - Modern Language Association of America: http: / / www.mla.org/ Olbislav - Online-Bibliothek der deutschsprachigen Slavistik: http: / / www.slavistik.unipotsdam.de/ cfdocs/ bibliographie/ index.htm ; umfasst vorwiegend Titel aus dem sogenannten nichtselbständigen Schrifttum VLB - Verzeichnis lieferbarer Bücher: http: / / www.buchhandel.de/ ZVAB - Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher: http: / / www.zvab.com/ Sonstige über das Internet abrufbare Ressourcen listet z.B. das Datenbank-Infosystem der Universitätsbibliothek Trier auf: http: / / www.bibliothek.uni-regensburg.de/ dbinfo/ suche.phtml? bib_id=ubtr&lett=f&gebiete=51 . Slavistisch orientierte Fachdatenbanken sind ferner unter http: / / www.ub.uni-trier.de/ home/ fachinfo/ 26/ 26db.htm zu finden. Welche Arten von (wissenschaftlicher) Literatur sind zunächst grundsätzlich zu unterscheiden? Es gibt selbständig und nichtselbständig publizierte Werke. Selbständige Werke sind die Monographien, Werke mehr oder weniger großen Umfangs, von einem oder auch von mehreren Autoren verfasst. Nichtselbständige Werke sind <?page no="265"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 259 Aufsätze, die in verschiedenen Rahmenpublikationen erscheinen können: in Sammelbänden (mit thematischen Schwerpunkten, Kongressakten, Festschriften etc.) oder in Fachzeitschriften. Das Problem dieser nichtselbständigen Veröffentlichungen ist die Recherchierbarkeit. Während Monographien inzwischen in allen Universitäts- und sonstigen Bibliotheken über digitalisierte Kataloge bequem gesucht und gefunden werden können, hapert es bei Aufsätzen/ Beiträgen zumindest mit dem Finden, da die Inhaltsverzeichnisse von Sammelbänden und Zeitschriften oft noch nicht oder nicht vollständig erfasst sind. Trotzdem gibt es mittlerweile auch für diesen Bereich spezielle Suchhilfen, so über das obengenannte HBZ, die MLA, den KUG. Hier werden neben selbständigen auch unselbständige Publikationen erfasst. Zudem haben sich bereits verschiedene Universitätsbibliotheken dieses Problems angenommen und bieten gesonderte Aufsatzrecherchen an. Die Literatur, die Sie schließlich gefunden und gelesen haben, können, dürfen und sollen Sie direkt oder indirekt in Ihrer Arbeit verwerten, also als Grundlage Ihrer eigenen Ausführungen nehmen und zitieren. Zitieren kann auf zweierlei Art geschehen: direkt und indirekt. Ein direktes Zitat wird durch doppelte Anführungsstriche und die Angabe der Quelle als solches kenntlich gemacht. Ein indirektes, sinngemäßes Zitat steht nicht in Anführungsstrichen, erfordert aber gleichwohl die Angabe der benutzten Quelle. Es kann Gedanken eines anderen Autors paraphrasieren, d.h. mit eigenen Worten ausdrücken, oder enger umgrenzte Abschnitte aus der Literatur zusammenfassen. Zitate aus westeuropäischen und slavischen Sprachen brauchen i.d.R. nicht übersetzt zu werden. Sollten Sie eine Übersetzung trotzdem für notwendig halten, so geben Sie diese zusätzlich zum Originalzitat an. Ihre Übersetzungen sind aber selbst keine Zitate und werden deshalb auch nicht als solche markiert. Für die Angabe von Literaturquellen gibt es verschiedene formale Varianten, die allerdings nicht in ein und derselben Arbeit vermischt werden sollten; statt dessen sollte die einmal gewählte Methode konsequent durchgehalten werden. Eine der obersten Richtlinien bei der Erstellung von Hausarbeiten ist die Kenntlichmachung von fremdem Gedankengut. Erfolgt diese Kenntlichmachung nicht, setzt man sich dem Vorwurf des Plagiats aus. P AUL E NGLISCH definierte den Begriff „Plagiat“ einmal wie folgt: „Plagiat ist also die aus freier Entschließung eines Autors oder Künstlers betätigte Entnahme eines nicht unbeträchtlichen Gedankeninhalts eines anderen für sein Werk in der Absicht, solche Zwangsanleihe nach ihrer Herkunft durch entsprechende Umgestaltung zu verwischen und den Anschein eigenen Schaffens damit beim Leser oder Beschauer zu erwecken.“ W ILSON M IZNER fasste seine Definition etwas kürzer und formulierte nicht ganz ernst gemeint: „Aus einem Buch abschreiben = Plagiat; aus zwei Büchern abschreiben = Essay; aus drei = Kompilation; aus vier = Dissertation.“ Welchen Schluss ziehen Sie aus diesen Zitaten für die Abfassung Ihrer eigenen Hausarbeiten und Referate? Bevor Sie zu viel (und vor allem versteckt) oder - auch das kann möglich sein - zu wenig aus der vorhandenen Literatur exzerpieren und zitieren, holen Sie bitte den Rat Ihrer Dozentinnen und Dozenten ein! Eine Hausarbeit, die letztlich nur aus Zitaten besteht, erfüllt nicht die an sie zu stellenden Anforderungen. Noch weniger ist dies selbstverständlich der Fall bei einer Hausarbeit, <?page no="266"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 260 in der am laufenden Band versteckt zitiert wird. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass es mittlerweile Spezialsoftware gibt, die es Lehrenden ermöglicht, „getarnte“ Zitate im Internet, aus dem bekanntlich gerne und viel abgeschrieben wird, zu recherchieren und zu „enttarnen“. Zitate erfüllen also nur dann ihren Zweck, wenn sie wiederfindbar und überprüfbar sind. Eine vollständige, recherchierbare Literaturangabe enthält unbedingt den/ die Namen des/ der Verfasser (Personen oder Institutionen), den vollständigen Titel des Werkes inklusive eventueller Untertitel, Erscheinungsort und -jahr, die Nummer der Auflage (falls vorhanden), ferner bei unselbständigen Publikationen den/ die Namen des/ der Herausgeber (Personen oder Institutionen), den Titel des Sammelwerkes/ der Zeitschrift/ Zeitung, Erscheinungsort und -jahr, die Seitenzahlen. Fakultativ ist, sofern die Bestimmungen der einzelnen Institute nichts Gegenteiliges vorsehen, die Angabe von Reihentitel und Bandnummer sowie des Verlages. Um den Studierenden bei der Umschiffung solcher und anderer Untiefen zur Seite zu stehen, haben die meisten Slavistischen Seminare an deutschen Universitäten mittlerweile Handreichungen für das Anfertigen von Hausarbeiten herausgegeben, in denen die wichtigsten Fallstricke erklärt und auch formale Gestaltungsrichtlinien (zur Zitierweise etc.) gegeben werden. Die Studierenden sind gut beraten, wenn sie diese Hilfestellung nutzen! Literatur: A NDERMANN , U.; D REES , M.; G RÄTZ , F.: Wie verfasst man wissenschaftliche Arbeiten? 3., völlig neu erarb. Aufl. Mannheim 2006. A NDREESEN , W ALTER : Wie finde ich slawistische Literatur. Berlin 1986. B ÄNSCH , A XEL : Wissenschaftliches Arbeiten: Seminar- und Diplomarbeiten. 8. Aufl. München, Wien 2003. E CO , U MBERTO : Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Heidelberg 11 2005. E SSELBORN -K RUMBIEGEL , H ELGA : Von der Idee zum Text. Eine Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben. 2., durchges. Aufl. Paderborn 2004. F RANZ , N ORBERT : Einführung in das Studium der slavischen Philologie. Geschichte, Inhalte, Me thoden. Darmstadt 1994. H ÖGE , H OLGER : Schriftliche Arbeiten in Studium und Beruf. Ein Leitfaden. 3., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart 2006. J AROSCH , G ÜNTHER : Einführung in die Slavistik. Ein Leitfaden. Berlin 1957. K ARMASIN , M ATTHIAS ; R IBLING , R AINER : Die Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Wien 2006. K OSCHMIEDER , E RWIN ; S CHALLER , H ELMUT : Bibliographie zur slavischen Sprachwissenschaft. Eine Einführung. Frankfurt/ M. 1977. K UZIN , F. A.: Kandidatskaja dissertacija. Metodika napisanija, pravila oformlenija i porjadok za š č ity. Prakti č eskoe posobie dlja aspirantov i soiskatelej u č enoj stepeni. 2-e izd. Moskva 1998. N IEDERHAUSER , J ÜRG : Die schriftliche Arbeit - kurz gefasst. 4., neu bearb. u. akt. Aufl. Mannheim 2006. P FEIFFER -R UPP , R ÜDIGER : Die sprachwissenschaftliche Arbeit. Formen und Techniken. Hamburg 1980. S ESINK , W ERNER : Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten ohne und mit PC. 5., unwesentl. veränd. Aufl. München, Wien 2000. S TANDOP , E WALD : Die Form der wissenschaftlichen Arbeit. 15., überarb. Aufl. Heidelberg, Wies baden 1998. S TICKEL -W OLF , C HRISTINE ; W OLF , J OACHIM : Wissenschaftliches Arbeiten und Lerntechniken. 4., überarb. Aufl. Wiesbaden 2006. <?page no="267"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 261 T HEISEN , M ANUEL R ENÉ : ABC des wissenschaftlichen Arbeitens. 3., überarb. Aufl. München 2005. W INTER , W OLFGANG : Wissenschaftliche Arbeiten schreiben. 2., akt. Aufl. Frankfurt am Main 2005. Wörterbücher Die praktische Arbeit während des Studiums (und oft auch im Berufsleben) kommt nicht ohne die Kenntnis und Nutzung der großen russischen Wörterbücher aus. Die wichtigsten einsprachigen „Wörterbuchklassiker“ sind nachfolgend zusammengefasst: D AL ’, V LADIMIR I: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka. V č etyrech tomach. 2-e izd., Sankt-Peterburg 1863-1866; 3-e ispr. i dop. izd. pod red. I. A. Bodu ė na de Kurtenje. T. 1-4. Sankt-Peterburg-Moskva 1903-1909; 4-e ispr. i dop. izd. pod red. prof. I. A. Bodu ė na de Kurtenje. T. 1-4. Sankt-Peterburg 1912. [Nachdruck Moskau Bd. 1. A-Z 1989, Bd. 2. I-O 1989, Bd. 3. P 1990, Bd. 4. R- Y 1991] E VGEN ’ EVA , A NASTASIJA P. [Red.]: Slovar’ russkogo jazyka . Moskva. Bd. 1. A- J 1981, Bd. 2. K-O 1983, Bd. 3. P-R 1983, Bd. 4. S-Ja 1984. [Malyj akademič eskij slovar’ - MAS] I NSTITUT R USSKOGO J AZYKA : Slovar’ sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka. Moskva [u.a.]. Bd. 1. A-B 1950, Bd. 2. V 1951, Bd. 3. G-E 1954, Bd. 4. Ž-Z 1955, Bd. 5. I-K 1956, Bd. 6. L-M 1957, Bd. 7. N 1958, Bd. 8. O 1959, Bd. 9. P- Pnut’ 1959, Bd. 10. Po-pojaso č ek 1960, Bd. 11. Pra-pjat’ju 1961, Bd. 12. R 1961, Bd. 13. S-snjat’sja 1962, Bd. 14. So-sjam 1963, Bd. 15. T 1963, Bd. 16. U- F 1964, Bd. 17. Ch-Ja 1965. [Bol’šoj akademi č eskij slovar’ - BAS] O ŽEGOV , S ERGEJ I.; Š VEDOVA , N. J U : Slovar’ russkogo jazyka. Moskva. [1 Band, häufige Aktualisierungen] U ŠAKOV , D MITRIJ N IKOLAEVI Č [Red.]: Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Moskva. Bd. 1. A-Kjuriny 1935, Bd. 2. L-Ojalovet’ 1938, Bd. 3. P-Rjaška 1939, Bd. 4. S- Jaš č urnyj 1940. Diese allgemeinsprachlichen Wörterbücher können bei Spezialfragen i.d.R. nicht weiterhelfen. Für diese Fälle gibt es etliche Typen von Fachwörterbüchern, auf die bereits in Kap. 13.7.3 hingewiesen wurde. Eine alphabetische Liste bewährter Spezialwörterbücher findet sich in Kap. 18.6, während in Kap. 18.2 ausschließlich linguistisch orientierte Nachschlagewerke aufgeführt sind. Internet Das Internet bietet nicht nur die bekannten unendlichen Weiten, sondern auch eine (fast) unendliche Fülle an slavistisch interessanten Ressourcen, die es zu erschließen und - mit der nötigen kritischen Distanz - zu nutzen gilt. Diese kritische Distanz sollte nicht nur den Inhalten selbst gelten (nicht alles, was im Internet zu finden ist, ist auch richtig; dies gilt aber im Prinzip auch für jedes gedruckte Dokument! ), sondern auch dem rechtlichen Status der gebotenen Informationen. So mag es überraschen, wenn man beispielsweise mit einer russischen Suchmaschine nach einem linguistisch relevanten Schlagwort sucht und dann eine Ergebnisliste etlicher verschiedener Seiten präsentiert bekommt, auf denen ganz offensichtlich immer dieselben Inhalte (beispielsweise Auszüge aus den großen russischen Enzyklopädien) publiziert werden, dies jedoch stets ohne Quellenangabe. Probieren Sie es einmal selbst <?page no="268"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 262 aus, aber bitte ohne sich an dieser Art des „Zitierens“ ein Beispiel zu nehmen! Einige spezialisierte russische Internetsites bieten darüber hinaus die Möglichkeit, russische Wörterbücher und Enzyklopädien in verschiedenen Dateiformaten herunterzuladen, wobei auch hier Vorsicht geboten ist, da i.d.R. Hinweise zum Copyright gänzlich fehlen und diese Nachschlagewerke, im Widerspruch zur Rechtslage, als rechtefreies Gemeingut behandelt werden. Nützliche Internetseiten zur allgemeinen und slavistischen Sprachwissenschaft finden sich beispielsweise unter: http: / / dict.buktopuha.net/ : Umfangreiches Portal von herunterladbaren, auch sprachwissenschaftlich sehr interessanten Wörterbüchern http: / / homepage.univie.ac.at/ Johanna.Laakso/ slfu05/ : Der slavisch-finnougrische Sprachkontakt http: / / homepages.tversu.ru/ %7Eips/ Students.htm : Lingvistika i mežkul’turnaja kommunikacija - Filologija - Teoreti č eskaja i prikladnaja lingvistika http: / / irmologion.ru/ : Cerkovno-slavjanskoe pis’mo (hier sind auch altkirchenslavische Fonts herunterzuladen) http: / / rus.1september.ru/ : Umfangreiche Sammlungen sprachtheoretischer und sprachdidaktischer Materialien zum Russischen http: / / starling.rinet.ru/ : The Tower of Babel (u.a. morphologische Analysen zum Russischen) http: / / teneta.rinet.ru/ rus/ bibliogr.htm : alphabetischer Index zu Texten rund um die russische Sprache, aber auch zur nichtrussischen Sprachwissenschaft http: / / titus.uni-frankfurt.de/ indexd.htm : TITUS-Projekt (Materialien zur indogermanistischen Sprachwissenschaft) http: / / uisrussia.msu.ru: 81/ _C_russian.jsp : Portal zum Thema „Lingvistika v Rossii“ http: / / www.auditorium.ru : Online-Bibliothek nicht nur zur Sprachwissenschaft http: / / www.ethnologue.com / : Übersichten über die Sprachen der Welt, darunter auch über gefährdete und bereits ausgestorbenen Sprachen http: / / www.eurasischesmagazin.de/ artikel/ ? thema=Sprache&artikelID=121003 : Eurasisches Magazin: Das große Rätsel der indogermanischen Sprache - neuer Disput um Alter und Herkunft http: / / www.fachschaften.uni-muenchen.de/ Slavistik/ links.htm#linguistik : Linksammlung der Slavistik Uni München, darunter auch einiges Sprachwissenschaftliches http: / / www gewi.kfunigraz.ac.at/ gralis/ : linguistisches Slavistikportal von B. T OŠOVI Ć , u.a. südosteuropäisch orientiert http: / / www.gramota.ru : Viele Artikel rund um die Sprache, z.T. bereits älter und schon in gedruckter Form veröffentlicht, aber sehr vielseitig http: / / www.infolex.ru : Seite des Nau č no-issledovatel'skij vy č islitel’nyj centr MGU im. M.V. Lomonosova, Laboratorija avtomatizirovannych leksikografi č eskich sistem; bietet zahlreiche Texte und nützliche Informationen http: / / www.lexikologie.de/ : Onlinewörterbuch zur Lexikologie mit zahlreichen Einträgen und Erklärungen; zwar aus der Germanistik, aber auch von allgemeinem linguistischem Interesse http: / / www.linguistik-online.de/ : Artikel zu verschiedenen Themenschwerpunkten http: / / www.linse.uni-essen.de/ linse/ index.php : Linguistik-Server Essen (Artikel, Rezensionen, Links zu fast allen Themenbereichen der Sprachwissenschaft) http: / / www.omniglot.com/ links/ fonts.htm : „a guide to written language“ main.html <?page no="269"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 263 http: / / www.philology.ru/ linguistics.htm und http: / / www.philology.ru/ linguistics2.htm : zahlreiche Artikel zur russischen Sprachwissenschaft, in „druckerfreundlicher“ Version, nach Autoren bzw. nach Sachgebieten geordnet http: / / www.profil.at/ index.html? / articles/ 0523/ 560/ 114219_s2.shtml : der Wiener Altorientalist und Archäologe Gebhard Selz über die Anfänge der Schrift http: / / www.ruscorpora.ru/ : Nacional’nyj korpus russkogo jazyka http: / / www.ruthenia.ru/ apr/ index.htm : Archiv peterburgskoj rusistiki. Kafedra russkogo jazyka filologi č eskogo fakul’teta SPbGU http: / / www.rvb.ru/ soft/ catalogue/ catalogue.html : Umfangreiche Sammlung zu sprachwissenschaftlicher Software, Wörterbüchern und sonstigen Ressourcen der russischen Sprache http: / / www.slavistik-portal.de/ : Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa http: / / www.tooyoo.l.u-tokyo.ac.jp/ Redbook/ : UNESCO-Rotbuch der vom Aussterben bedrohten Sprachen der Welt http: / / www.translit.ru/ : Online-Transliteration Latinica Kyrillica und umgekehrt (erspart u. U. den Einsatz spezieller Schriftprogramme) http: / / www.uni-bonn.de/ ~ntrunte/ fontologie.html : Slavisten und ihre Fontprobleme (das sagt eigentlich schon alles) http: / / www.uni-koeln.de/ gbs/ : Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. http: / / www.vistawide.com/ languages/ foreign_language_fonts.htm : „free foreign language fonts“ für über 40 Sprachen http: / / www.yourdictionary.com/ languages/ slavic.html : umfangreiche Sammlung von online abrufbaren Wörterbüchern und sonstigen Nachschlagewerken zu verschiedenen slavischen Sprachen Für gezielte linguistische Recherchen haben sich die großen russischen Suchmaschinen Yandex ( http: / / www.yandex.ru/ ) und Rambler ( http: / / www.rambler.ru/ ) als nützlich erwiesen, da sich über ihre Volltextrecherche durchaus Belegstellen für exotische Termini finden lassen, die noch in keinem gedruckten Werk aufgeführt werden. Folgende russischsprachige Enzyklopädien sind darüber hinaus seit einiger Zeit online abrufbar: Bol’šaja Sovetskaja Ė nciklopedija: u.a. über http: / / www.boloto.info/ dict.php? dic=5 Ė nciklopedija Krugosvet: http: / / www.krugosvet.ru/ Ė nciklopedi č eskij Slovar’ Brokgauza i Efrona: u.a. über http: / / www.boloto.info/ dict.php? dic=4 und http: / / www.cultinfo.ru/ fulltext/ 1/ 001/ 007/ 121/ Von der Seite http: / / www.boloto.info/ index.php aus sind im Übrigen auch die Wörterbücher von D AL ’, O ŽEGOV und U ŠAKOV online nutzbar. Weitere, für die Wörterbuchsuche z.T. sehr ergiebige Seiten sind http: / / dic.academic.ru/ library.nsf/ lower , http: / / www.announcement.ru/ enc_listing.html , http: / / slovari.299.ru/ oj.php . Angeboten werden hier neben Enzyklopädien und einsprachigen Wörterbüchern zur allgemeinen Lexik und zu verschiedensten Fachwortschätzen auch entsprechende Übersetzungswörterbücher. Interessante Ansichten und Einsichten können ferner linguistisch orientierte Foren im Internet erbringen, wie bspw. das Forum Russkoe slovo unter http: / / slovo.jinonet.ru/ . <?page no="270"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 264 Elektronische Medien Neben der unerschöpflichen Fülle an für SlavistInnen und RussistInnen interessanten Materialien, die über das Internet abgerufen werden können, liegt mittlerweile eine Vielzahl von Nachschlagewerken zur russischen Sprache auch auf CD-ROM oder DVD vor. Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass nicht wenige der Werke - zumindest für eine wissenschaftliche Nutzung - wie auch im Falle etlicher Internet-basierter Ressourcen darunter leiden, dass der rechtliche Status ihres Inhalts zumindest zweifelhaft zu sein scheint und kaum festzustellen ist, ob das jeweilige Copyright eingehalten wurde. Zudem sind viele Werke nicht zitierfähig, da sie zwar mehr oder weniger getreu auf einer gedruckten Version basieren, in der elektronischen Fassung jedoch keine Konkordanzen (Seitenzahlen) angegeben sind. Dies ist für eine Übernahme von Inhalten in wissenschaftliche Arbeiten jedoch unerlässlich. Hier eine kleine Auswahl an Wörterbüchern und Enzyklopädien auf Datenträgern: Bol’šaja ė nciklopedija Kirilla i Mefodija 2002. „Kirill i Mefodij“ 2001. (2 CD- ROMs) Bol’šoj ė nciklopedi č eskij slovar’. „Propaganda Arts“ 1999-2000. (1 CD-ROM) B ROKGAUZ , F.; E FRON , I.: Ė nciklopedi č eskij slovar’. OOO „Programma 2000“ 2002. (1 CD-ROM) Brokgauz i Efron: Ė nciklopedi č eskij slovar’ v 86 tomach s illjustracijami. OOO „IDDK“ 2002. (4 CD-ROMs) D AL ’, V. I.: Poslovicy russkogo naroda. Izdatel’stvo „ Ė TS“ 1997. (1 CD-ROM) Ė nciklopedija Krugosvet 2003. „Krugosvet“. (1 CD-ROM) Russkij mat. Izdatel’stvo „ Ė TS“ 1998. (1 CD-ROM) Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka Vladimira Dalja. Izdatel’stvo „ Ė TS“ 1998. (1 CD-ROM) Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka S. I. Ožegova i N. Ju. Švedovoj. (1 CD-ROM) Umnoe slovo. Citaty na vse slu č ai žizni. Aforizmy, krylatye slova, izre č enija. Izdatel’stvo „ Ė TS“ 1998. (1 CD-ROM) U ŠAKOV , D. N.: Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Izdatel’stvo „ Ė TS“ 1999. (1 CD- ROM) Erhältlich sind für die praktische Spracharbeit ferner etliche allgemein- und fachsprachliche Wörterbücher wie „Multilex“ (umfasst neben den allgemeinsprachlichen russisch-deutschen und deutsch-russischen Übersetzungswörterbüchern von L EJN und C VILLING auch einige Fachwörterbücher), „Chiwago“ (basiert auf dem dreibändigen allgemeinsprachlichen Deutsch-Russischen Wörterbuch von R. L ÖTZSCH (ltd. Red.), Berlin, Bd. 1: A-G, 1983; Bd.: 2 H-R, 1984, Bd.: 3 S-Z, 1984), „Polyglossum“ (v.a. umfangreiche Fachwörterbücher) und „Context Russische Lexika“ (allgemeinsprachliche und Fachwörterbücher). Wie auch für die Mehrzahl der gedruckten Übersetzungswörterbücher gilt für die elektronischen Versionen, dass sie nicht zitierfähig sind. Als solche gelten ausschließlich die großen einsprachigen Erklärungswörterbücher, da sie im Wesentlichen auf Zitaten der russischen Literatur und Presse, also auf Primärquellen, basieren. Die zwei- und mehrsprachigen Übersetzungswörterbücher, aber auch kleinere einsprachige Werke, beruhen dann wiederum auf den großen einsprachigen Ausgaben. <?page no="271"?> Die Arbeitsumgebung der Slavistin / des Slavisten 265 Detaillierte Angaben zu den großen russischen Enzyklopädien sind unter http: / / www.library.uiuc.edu/ spx/ class/ Encyclopedias/ Russia/ russenc.htm abrufbar. <?page no="272"?> 17 Abbildungs- und Quellennachweis Abbildung 1: Buchstaben aus verschiedenen slavischen Sprachen ........................... 6 Abbildung 2: Ebenen genetischer Verwandtschaft .................................................. 12 Abbildung 3: Zum Verhältnis von langue und parole ............................................. 17 Abbildung 4: Zeichenmodell nach O GDEN und R ICHARDS ..................................... 23 Abbildung 5: Zeichenmodell nach S AUSSURE ......................................................... 24 Abbildung 6: Zeichenmodell nach C OSERIU ............................................................ 25 Abbildung 7: Das Organon-Modell nach B ÜHLER ................................................... 26 Abbildung 8: Kommunikationsmodell nach J AKOBSON .......................................... 27 Abbildung 9: Zeichen der persischen Keilschrift ..................................................... 29 Abbildung 10: Frontispiz von C. F AULMANN s Illustrierter Geschichte der Schrift 30 Abbildung 11: Tatarisches kyrillisches Alphabet .................................................... 36 Abbildung 12: Der Turmbau zu Babel ..................................................................... 40 Abbildung 13: Synchronie........................................................................................ 51 Abbildung 14: Diachronie ........................................................................................ 52 Abbildung 15: Die Sprechorgane ............................................................................. 58 Abbildung 16: Konsonantensystem der russischen Sprache .................................... 59 Abbildung 17: Allgemeines Vokaltrapez ................................................................. 63 Abbildung 18: Vokaltrapez der russischen Sprache................................................. 64 Abbildung 19: Morphematische Notationszeichen .................................................. 91 Abbildung 20: Verfahren der Wortbildung (anhand russischer Beispiele)............ 103 Abbildung 21: Bestimmung der Wörter nach dem Wortbildungsmodell .............. 112 Abbildung 22: Einteilung der Wortarten nach V INOGRADOV / G ABKA ................. 122 Abbildung 23: Hyperonymie und Hyponymie ....................................................... 125 Abbildung 24: Arten der Entlehnung ..................................................................... 135 Abbildung 25: Die wichtigsten Wörterbuchtypen.................................................. 144 Abbildung 26: Baumdiagramm einer IC-Analyse.................................................. 154 Abbildung 27: Darstellung einer Phrasenstruktur .................................................. 155 Abbildung 28: Dependenzschema .......................................................................... 156 Abbildung 29: Stemma der Dependenzgrammatik ................................................ 157 Abbildung 30: Übersicht über die syntaktischen Einheiten ................................... 158 Abbildung 31: Wortfeld ......................................................................................... 170 Abbildung 32: Lexikalisch-semantisches Paradigma............................................. 178 Abbildung 33: Syntagmatik und Paradigmatik ...................................................... 180 Abbildung 34: Die Baš ć anska Plo č a ...................................................................... 220 Abbildung 35: Periodisierung der russischen Sprache ........................................... 225 Abbildung 36: Bukarester Ikone aus dem 19. Jh.................................................... 233 Abbildung 37: Seite aus dem Oktoechos................................................................ 234 Abbildung 38: Seite aus dem Omišaljski misal, 14. Jh. ......................................... 240 Abbildung 39: Gegenüberstellung von runder und eckiger Glagolica................... 241 Abbildung 40: Glagolitisches und kyrillisches Alphabet in Gegenüberstellung ... 242 Abbildung 41: Ergänzungen des Kyrillischen aus der Sowjetzeit ......................... 245 <?page no="273"?> Abbildungs- und Quellennachweis 267 Abbildung 42: Im Altkirchenslavischen gebräuchliche Akzente........................... 247 Abbildung 43: Zahlenwerte der altkirchenslavischen kyrillischen Buchstaben .... 247 Abbildung 44: Urslavische Transkription .............................................................. 250 Abbildung 45: Die wichtigsten phonetischen Unterschiede der slavischen Sprachgruppen................................................................................ 251 Abbildung 46: Altslavische phonetische Besonderheiten im heutigen Russisch... 251 Abbildung 47: Ostslavische phonetische Besonderheiten im heutigen Russisch .. 252 Quellenverzeichnis: Abb. 1: Verf.; Abb. 2: Verf. (nach http: / / www.uni-erfurt.de/ sprachwissenschaft/ personal/ lehmann/ CL_Lehr/ Wandel/ Wandel_Genet_Verwandtschaft.html ); Abb. 3: Verf.; Abb. 4: Verf. (nach O GDEN u. R ICHARDS 1923); Abb. 5: Verf. (nach S AUSSURE ); Abb. 6: Verf. (nach C OSERIU 1979); Abb. 7: Verf. (nach B ÜHLER 1934); Abb. 8: Verf. (nach J AKOBSON 1960); Abb. 9: Verf.; Abb. 10: F AULMANN 1880; Abb. 11: Verf.; Abb. 12: http: / / www.eks-pb.de/ a_bis_zett/ kunstseiten/ bruegel.htm ; Abb. 13: Verf.; Abb. 14: Verf.; Abb. 15: Verf.; Abb. 16: Verf. (nach K ARAULOV 1998: 520); Abb. 17: Verf. (nach http: / / www.linguiste. org/ phonetics/ ipa/ chart/ ); Abb. 18: Verf.; Abb. 19: Verf.; Abb. 20: Verf.; Abb. 21: Verf. (nach http: / / www. hs-zigr.de/ ~bgriebel/ algorithmus.pdf ); Abb. 22: Verf. (nach V INOGRADOV 1947: 44); Abb. 23: Verf.; Abb. 24: Verf. (nach G LADROW 1989: 164); Abb. 25: Verf.; Abb. 26: Verf. (nach C RYSTAL 1995: 96); Abb. 27: Verf.; Abb. 28: Verf. (nach P ANZER 1995: 242); Abb. 29: Verf. (nach T ESNIÈRE 1980: 5); Abb. 30: Verf.; Abb. 31: Verf.; Abb. 32: Verf.; Abb. 33: Verf.; Abb. 34: http: / / kodeks.uni-bamberg.de/ x Pa ges/ BascanskaPloca.htm ; Abb. 35: Verf. (nach M ULISCH 1993: 18); Abb. 36: http: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Image: KyrilMethod.jpg ; Abb. 37: http: / / www.heritage.cg.yu/ knjige/ oktoih.htm ; Abb. 38: http: / / www.croatianhistory.net/ etf/ novih.html ; Abb. 39: http: / / kodeks.uni-bamberg.de/ AKSL/ Schrift/ GlagolVergleichAlphabet.htm ; Abb. 40: Verf.; Abb. 41: http: / / kodeks.uni-bamberg.de/ AKSL/ Schrift/ SovietAdditions.htm ; Abb. 42: http: / / kodeks.uni-bamberg.de/ AKSL/ Schrift/ Akzente. htm ; Abb. 43: Verf. (nach S AMSONOV 1973: 58); Abb. 44: Verf. (nach S UPRUN / K ALJUTA 1981: 23); Abb. 45: Verf. (nach S UPRUN / K ALJUTA 1981: 27); Abb. 48: Verf. (nach P AVLOVI Č 1972: 28); Abb. 49: Verf. (nach P AVLOVI Č 1972: 27) <?page no="274"?> 18 Zusätzliche Literatur Die folgenden Literaturhinweise finden sich in einem gesonderten Abschnitt am Ende der Arbeit, da sie einerseits den einzelnen Kapiteln dieser Einführung thematisch nur schwer oder gar nicht zuzuordnen waren (bzw. mehrfach hätten zugeordnet werden müssen), aber andererseits den Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten werden sollten. Um die Literaturlisten nicht zu umfangreich werden zu lassen, wurden neben den „Klassikern“ insbesondere neuere Werke berücksichtigt. 18.1 Einführungen in die Sprachwissenschaft (allgemein und russistisch orientiert) Einführungen in die allgemeine Sprachwissenschaft: A DAMZIK , K IRSTEN : Sprache: Wege zum Verstehen. 2. Aufl. Tübingen, Basel 2004. B ARANNIKOVA , L. I.: Osnovnye svedenija o jazyke. Moskva 1982. B ENVENIST , Ė .: Obš č aja lingvistika. Moskva 1974. B EREZIN , F. M.; G OLOVIN , B. N.: Obš č ee jazykoznanie. Moskva 1979. B LOOMFIELD , L EONARD : Language. New York 1933. B LUMFIL ’ D , L.: Jazyk. Pod red. i s predisl. M. M. Gu č mana. Moskva 1968. B REKLE , H ERBERT E RNST : Einführung in die Geschichte der Sprachwissenschaft. Darmstadt 1985. B ÜHLER , H ANS u.a.: Linguistik I. Lehr- und Übungsbuch zur Einführung in die Sprachwissenschaft. 6 1990. C OSERIU , E UGENIO : Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Tübingen 1992. C RYSTAL , D AVID : Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Frankfurt/ Main, New York 1995. D AUSES , A UGUST : Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft. Sprachtypen, sprachliche Kategorien und Funktionen. Stuttgart 1997. G EIER , M ANFRED : Orientierung Linguistik. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 2 2003. G ERD , A. S.: Prikladnoe jazykoznanie. Sankt-Peterburg 1996. G OLOVIN , B. N.: Vvedenie v jazykoznanie. Moskva 2007. H OFFMANN , L UDGER (Hrsg.): Sprachwissenschaft. Ein Reader. Berlin, New York 1996. J UDAKIN , A. P.: Slavjanskaja ė nciklopedija: Teoreti č eskoe, prikladnoe i slavjanskoe jazykoznanie. V 3 knigach. Moskva 2005. K ACNEL ’ SON , S. D.: Obš č ee i tipologi č eskoe jazykoznanie. Leningrad 1986. K ASEVI Č , V. B.: Semantika. Sintaksis. Morfologija. Moskva 1988. K LAUSEN , E RNST : Sprachfamilien und vergleichende Sprachwissenschaft am Beispiel der indogermanischen Sprachen. Unveröff. Vortrag Lions Club Wetzlar am 07.07.2005. ( http: / / homepages.fh-giessen.de/ ~hg8429/ sprachen.html ) K ODUCHOV , V. I.: Obš č ee jazykoznanie. Moskva 1974 K ÜRSCHNER , W ILFRIED : Grammatisches Kompendium. Systematisches Verzeichnis grammatischer Grundbegriffe. 5., durchges. Aufl. Tübingen, Basel 2005. <?page no="275"?> Zusätzliche Literatur 269 L AËNZ , D ŽON : Vvedenie v teoreti č eskuju lingvistiku. Moskva 1987. L INKE , A NGELIKA (u.a.): Studienbuch Linguistik. 2., erg. Aufl. Tübingen 1994. L YONS , J OHN : Einführung in die moderne Linguistik. München 7 1989. L YONS , J OHN : Die Sprache. München 1983. M ARTINET , A NDRÉ : Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart 1963. M ARTINET , A NDRÉ (Hg.): Linguistik. Ein Handbuch. Stuttgart 1973. M ASLOV , J U . S.: Vvedenie v jazykoznanie. Moskva 3 1997 ( 1 1982, 2 1987). M ICHALEV , A. B.: Obš č ee jazykoznanie. Istorija jazykoznanija: Putevoditel’ po istorii: Konspekt-spravo č nik. Moskva 2005. M ÜLLER , H ORST M. (Hrsg.): Arbeitsbuch Linguistik. Stuttgart 2002. P ELZ , H EIDRUN : Linguistik für Anfänger. Hamburg 7 1987. R EFORMATSKIJ , A. A.: Vvedenie v jazykovedenie. Moskva 5 1999 ( 4 1987). R OŽDESTVENSKIJ , J U . V.: Lekcii po obš č emu jazykoznaniju. Moskva 2000. S AUSSURE , F ERDINAND DE : Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. mit neuem Register u. einem Nachwort von Peter v. Polenz. Berlin 1967. S OSSJUR , F. DE : Trudy po jazykoznaniju. Per. s francuzsk. Pod red. A. A. Cholodovi č a. Moskva 1977. Spektrum der Wissenschaft. Heft 4/ 2005: Die Evolution der Sprache. S TEPANOV , J U . S.: Osnovy obš č ego jazykoznanija. Moskva 1975. S UPRUN , A. E.: Obš č ee jazykoznanie. Minsk 1983. S USOV , I. P.: Vvedenie v teoreti č eskoe jazykoznanie. Ė lektronnyj u č ebnik. Tver’ 1999. Š IROKOV , O. S.: Vvedenie v jazykoznanie. Moskva 1985. V ATER , H EINZ : Einführung in die Sprachwissenschaft. München 1994. V OLMERT , J OHANNES (Hg.): Grundkurs Sprachwissenschaft. Eine Einführung in die Sprachwissenschaft für Lehramtsstudiengänge. München 1995. Z INDER , L. R.: Vvedenie v jazykoznanie: Sbornik zada č . Moskva 2 1998 ( 1 1987). Z VEGINCEV , V.A.: Jazyk i lingvisti č eskaja teorija. Moskva 1973. Einführungen in die slavistische, i.e.S. russistische Sprachwissenschaft: B OECK , W.; F LECKENSTEIN , C H .; F REYDANK , D.: Geschichte der russischen Literatursprache. Leipzig 1974. E CKERT , R AINER ; C ROME , E MILIA ; F LECKENSTEIN , C HRISTA : Geschichte der russischen Sprache. Leipzig 1983. G LADROW , W OLFGANG (Hg.): Russisch im Spiegel des Deutschen. Eine Einführung in den russisch-deutschen und deutsch-russischen Sprachvergleich. Leipzig 1989. J ACHNOW , H ELMUT u.a. (Hg.): Handbuch des Russisten. Wiesbaden 1984. J ACHNOW , H ELMUT (Hg.): Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Wiesbaden 1999. K OSCHMIEDER , E RWIN : Das Russische. Ein Handbuch für den Studierenden. Frankfurt am Main 1978. L EHFELDT , W ERNER : Einführung in die Sprachwissenschaft für Slavisten. 2., verb. u. erg. Aufl. München 1996. L EHMANN , V OLKER : Sprachwissenschaftliche Grundbegriffe für Russisten. München 3 1985. L OMTEV , T. P.: Obš č ee i russkoe jazykoznanie. Moskva 1976. M ULISCH , H ERBERT : Handbuch der russischen Gegenwartssprache. Leipzig, Berlin, München 1993. O KUKA , M ILOŠ (Hrsg.): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 10). Klagenfurt 2002. <?page no="276"?> Zusätzliche Literatur 270 (komplette Neubearbeitung von: D ERS .: Strukturen des Russischen. München 1975). S CHLEGEL , H ANS : Kompendium lingvisti č eskich znanij. Berlin 1992. U ŠAKOV , D. N.: Russkij jazyk. Moskva 1995. V ALGINA , N. S.; R OZENTAL ’, D. Ė .; F OMINA , M. I.; C APUKEVI Č , V. V.: Sovremennyj russkij jazyk. Izd. 2-e, dopolnennoe i pererabotannoe. Moskva 1964. 18.2 Linguistische Wörterbücher A CHMANOVA , O. S.: Slovar’ lingvisti č eskich terminov. Moskva 1966. B UßMANN , H ADUMOD : Lexikon der Sprachwissenschaft. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 1990. C HEMP , Ė .: Slovar’ amerikanskoj lingvisti č eskoj terminologii. Moskva 1964. C ONRAD , R UDI (Hg.): Kleines Wörterbuch sprachwissenschaftlicher Fachausdrücke. Leipzig 1984. D UBOIS , J. u.a. (Hg.): Dictionnaire de Linguistique. Paris 1973. G LÜCK , H ELMUT (Hg.) : Metzler Lexikon Sprache. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2000. H ARTMANN , R. R. K.; S TORK , F. C. (Hg.): Dictionary of Language and Linguistics. London 1972. H EUPEL , C ARL : Linguistisches Wörterbuch. 3., völlig neu bearb. Aufl. München 1978. H OMBERGER , D IETRICH : Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. Stuttgart 2000. J ARCEVA , V. N.: Lingvisti č eskij ė nciklopedi č eskij slovar’. Moskva 1990. J ARCEVA , V. N. (gl. red.): Jazykoznanie. Moskva 1998 (2-e, reprintnoe izdanie „Lingvisti č eskogo  nciklopedi č eskogo slovarja“ 1990 goda). J EDLI Č KA , A LOIS (red.): Slovník slovanské lingvistické terminologie (Slovar’ slavjanskoj lingvisti č eskoj terminologii). Bd. 1+2. Hamburg 1979. K ARAULOV , J U . N. (gl. red.): Russkij jazyk. Ė nciklopedija. Izd. 2-e, pererab. i dopoln. Moskva 1998. 124 K ASATKIN , L. L.; K LOBUKOV , E. V.; Lekant, P. A.: Kratkij spravo č nik po sovremennomu russkomu jazyku. Moskva 1991. L EWANDOWSKI , T HEODOR : Linguistisches Wörterbuch (3 Bände). 4., neu bearb. Aufl. Heidelberg 1984. M AKSIMOV , V. I.; O DEKOV , R. V.: U č ebnyj slovar’-spravo č nik russkich grammati č eskich terminov (s anglijskimi ė kvivalentami). Sankt-Peterburg 1998. M AROUZEAU , J.: Lexique de la Terminologie Linguistique. Français-Allemand-Anglais- Italien. Paris 1969. M ARUZO , Ž: Slovar’ lingvisti č eskich terminov. Moskva 1960 (perevod s francuzskogo). P EI , M ARIO : Glossary of Linguistic Terminology. New York, London 1966. R OZENTAL ’, D. Ė .; T ELENKOVA , M. A.: Slovar’-spravo č nik lingvisti č eskich terminov. Moskva 1985. Š ELJAKIN , M. A.: Spravo č nik po russkoj grammatike. Moskva 2003. T ODOROV , T.; D UCROT , O.: Enzyklopädisches Wörterbuch der Sprachwissenschaften. Frankfurt/ M. 1975 (dt. Fassung von: DIES .: Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage. Paris 1972). 124 J ARCEVA 1998 und K ARAULOV 1998 sind nicht nur in demselben Jahr erschienen, sie enthalten auch zahlreiche inhaltlich identische Artikel. P ANZER , B ALDUR : Das Russische im Lichte linguistischer Forschung. München 1995 <?page no="277"?> Zusätzliche Literatur 271 schlagewerk auf der Basis der generativen transformationellen Sprachtheorie. 2 Bde., Bd. 1: A-M, Bd. 2: N-Z. München 1974. 18.3 Grammatiken zur russischen Sprache Wie auch bei den Wörterbüchern ist bei den Grammatiken zur russischen Sprache zwischen zitierfähigen und nicht zitierfähigen Werken zu unterscheiden. Als letztere gelten alle sogenannten praktischen Grammatiken, seien sie auf deutsch oder auf russisch verfasst. Zitierfähig und damit wissenschaftlichen Ansprüchen genügend sind lediglich die großen einsprachigen Grammatiken AG 60, AG 70, AG 80 und PG 79, auf denen letztlich die praktischen Grammatiken basieren. Wissenschaftliche, zitierfähige Grammatiken: Grammatika russkogo jazyka (Hrsg. von V. V.V INOGRADOV ). Moskva 1960 (AG 60). (3 Bände) Grammatika sovremennogo russkogo literaturnogo jazyka (Hrsg. von N. J U . Š VEDOVA ). Moskva 1970 (AG 70). Russkaja grammatika (Hrsg. von V. B ARNETOVÁ u.a.). 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Die synchrone Darstellung wird ergänzt durch einen separaten historischen Teil, der die Genese und Entwicklung vom Altkirchenslavischen bis zur russischen Sprache der Gegenwart skizziert und das Russische in den Kontext der anderen Slavinen einbettet. Das Werk führt parallel zur deutschen auch die russische Fachterminologie ein und besticht durch zahlreiche Abbildungen, Grafiken und Übersichten. Neben Arbeitsaufgaben, Links und weiterführenden Literaturhinweisen gibt der Autor wertvolle praktische Hinweise für ein erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten. ISBN 978-3-8233-6335-4