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Lernen in der Zweitsprache

0305
2008
978-3-8233-7376-6
978-3-8233-6376-7
Gunter Narr Verlag 
Sabine Schmölzer-Eibinger

Lernen in der Zweitsprache bedeutet, eine fremde Sprache nicht nur als ein Mittel der Kommunikation, sondern auch als ein Instrument des Wissenserwerbs einsetzen zu können. Um in der Zweitsprache erfolgreich lernen zu können, müssen SchülerInnen über Textkompetenz verfügen: Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des Lernens. Fehlende Textkompetenz ist einer der Hauptursachen für das Scheitern von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule. Mit der Literalen Didaktik wird ein theoretisch fundiertes Konzept zur Förderung der Textkompetenz präsentiert, das es ermöglicht, die Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden sowohl im Sprach- als auch im Sachunterricht gezielt zu fördern. Sie ist als didaktisches Instrumentarium zur Förderung von Textkompetenz nicht nur für mehrsprachige Klassen, sondern auch für zahlreiche andere Lernkontexte geeignet, in denen es darum geht, anhand von Texten zu kommunizieren und zu lernen. Aus dem Inhalt: Frühe literale Entwicklung und Förderung · Der schulische Sprach- und Denkstil · Literalität und Gesellschaft · Die Rolle der Erstsprache für das zweitsprachliche Lernen · Kognitive Implikationen des textbasierten Lernens · Texte als Momentaufnahmen von Textkompetenz · Textkompetenz und der Prozess der Textproduktion · Stadien der literalen Entwicklung · Indikatoren für Textkompetenz · Unterrichtsprobleme und didaktische Lösungen · Die Ziele der Literalen Didaktik · Prinzipien · Das 3-Phasen-Modell der Literalen Didaktik · Aufgabentypologie zur Förderung der Textkompetenz

<?page no="0"?> Lernen in der Zweitsprache Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen Sabine Schmölzer-Eibinger Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Lernen in der Zweitsprache <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 5 <?page no="3"?> Sabine Schmölzer-Eibinger Lernen in der Zweitsprache Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung Wien, der Karl-Franzens- Universität Graz und der Abteilung Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermark. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Titelbild: Lisa Schmölzer, Graz Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6376-7 <?page no="5"?> für Lisa und Magdalena <?page no="7"?> Inhalt VORWORT .......................................................................... 13 EINLEITUNG ...................................................................... 15 TEIL I: TEXTKOMPETENZ ALS INSTRUMENT DES LERNENS IN DER ZWEITSPRACHE ............................ 19 1 Frühe literale Entwicklung und Förderung ..... 19 1.1 Erste Begegnungen mit der Welt der Schriftlichkeit ..... 19 1.2 Der Schrifterwerb als Schlüsselereignis in der literalen Entwicklung ......................................................... 24 2 Der schulische Sprach- und Denkstil ............... 27 2.1 Beispiel A: Das Lösen einer mathematischen Textaufgabe ......................................................................... 27 2.2 Beispiel B: Ein Lehrer-Schüler-Dialog über Mengenlehre .............................................................. 28 2.3 Beispiel C: Ein Schülergespräch über Spinnen ............... 30 2.4 Von der Alltagssprache zur Schulsprache ...................... 31 3 Literalität und Gesellschaft ................................. 36 3.1 Wahrnehmung, Sprache und Denken in oralen und literalen Kulturen ........................................... 36 3.2 Archivierung, Tradierung und Konstitution von Wissen in literalen Gesellschaften ........................... 38 3.3 Literalität und soziokulturelle Kontexte ......................... 39 3.3.1 Die soziokulturelle Wende in der „Literacy”-Diskussion ........................................................ 39 3.3.2 Soziale Herkunft, Literalität und Schulerfolg ................ 41 <?page no="8"?> 4 Die Rolle der Erstsprache für das zweitsprachliche Lernen ..................................... 44 4.1 Die Erstsprache als Basis der Zweitsprache .................. 44 4.2 Interaktive und kognitiv-akademische Sprachkompetenz .............................................................. 47 4.3 „Schwellen” und Transfer von Kompetenzen ............... 49 4.4 Sprachkompetenz und Textkompetenz ......................... 51 4.4.1 Textkompetenz und Interaktionskompetenz ................ 53 4.4.2 Sprachbasis und Sprachhandlungskompetenzen ......... 55 4.5 Die „Schwelle” der Textkompetenz ................................ 56 4.6 Ein dynamisches Transfermodell .................................... 58 5 Kognitive Implikationen des textbasierten Wissenserwerbs ........................... 60 6 Texte als Momentaufnahmen von Textkompetenz ..................................................... 64 6.1 Vom expressiven zum gestaltenden Schreiben ............. 65 6.1.1 „Renate macht es Spaß”: Schreiben aus subjektiv-biographischer Sicht ........................................ 66 6.1.2 „… ich kann ja in den Teich hupfen”: Vom assoziativen zum strukturierenden Schreiben .............. 70 6.2 Texte als Lernmedien im Sprach- und im Sachunterricht .............................................................. 72 6.2.1 Texte verstehen und wiedergeben .................................. 73 6.2.2 „In diesem geschicht Lernen wir die Johanna und ihre Mutter kennen”: Zusammenfassungen eines Erzähltextes ....................... 75 6.2.2.1 Thematische Schwerpunkte ............................................. 76 6.2.2.2 Emotionalität und Identifikation ..................................... 77 6.2.2.3 Sprachlich-formale Gestaltung ........................................ 79 6.2.2.4 Textstrukturierung und Textkohärenz ........................... 80 <?page no="9"?> 6.2.3 „mit dem Stadt recht aus Stadten”: Sachtexte verstehen und wiedergeben ........................... 83 6.2.3.1 Zugänge zu den Texten finden ........................................ 84 6.2.3.2 Das Schreiben der Zusammenfassungen ....................... 88 6.2.3.3 Die Lernertexte .................................................................. 89 6.2.3.4 Textinhalte mündlich wiedergeben ................................ 95 6.2.3.5 Fazit ..................................................................................... 99 7 Textkompetenz und der Prozess der Textproduktion ..................................................... 101 7.1 Kooperatives Schreiben .................................................... 101 7.2 „Die kleine Maus”: eine Bildergeschichte entsteht ....... 102 7.2.1 Die gemeinsam erzählte Bildergeschichte ..................... 103 7.2.2 Dokumentation der Textproduktionsprozesse ............. 104 7.2.3 Textproduktionsprozess I: Mira und Christina entwickeln ihre Geschichte .............................................. 118 7.2.3.1 Revisionen und Textoptimierungen ............................... 118 7.2.3.2 Phasen im Prozess der Arbeit am Text ........................... 121 7.2.4 Textproduktionsprozess II: Gönül, Marija und Secil erarbeiten ihren Text ................................................ 122 7.2.5 Die Textproduktionsprozesse im Vergleich .................. 124 7.2.5.1 Sprachliche Gestaltung der Texte .................................... 124 7.2.5.2 Soziale und affektive Faktoren ........................................ 128 7.2.5.3 Die mündlich und die schriftlich erzählten Bildergeschichten im Vergleich ....................................... 131 8 Stadien der literalen Entwicklung .................... 143 8.1 Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ...................... 143 8.2 Von der subjektiven zur integrativen Perspektive ....... 144 8.3 Von der Linearität zur Komplexität ................................ 145 8.4 Vom performativen zum epistemischen Stadium ........ 145 <?page no="10"?> 9 Indikatoren für Textkompetenz ........................ 147 9.1 Perspektivenwechsel und Strategienvielfalt .................. 147 9.2 Bedeutungskonstruktion im Kontext ............................. 148 9.3 Fokussierung von Kernaussagen .................................... 149 9.4 Themenentfaltung und Textkohärenz ............................ 150 9.5 Veränderungen am Text ................................................... 150 9.6 Sprachliche Variation ........................................................ 151 TEIL II: DIE LITERALE DIDAKTIK .............................. 153 1 Ausgangslage: Unterrichtsprobleme und didaktische Lösungen ............................... 154 1.1 Probleme im Unterricht in mehrsprachigen Klassen ... 154 1.2 Lösungspotentiale bestehender didaktischer Konzepte ............................................................................. 156 1.2.1 Die Kommunikative Didaktik ......................................... 157 1.2.2 Die Interkulturelle Didaktik ............................................. 159 1.2.3 Die Konstruktivistische Didaktik .................................... 162 1.2.4 Die Fremdsprachliche Schreibdidaktik .......................... 166 1.2.5 Der „literacy-based approach” ........................................ 169 1.2.6 Der Aufgabenorientierte Unterricht ............................... 172 2 Die Ziele der Literalen Didaktik ....................... 178 2.1 Literale Förderung ............................................................. 178 2.2 Aktives Sprachhandeln ..................................................... 181 2.3 Individuelle Wissenskonstruktion .................................. 182 2.4 Integrierter Sprach- und Wissenserwerb ....................... 183 3 Die Prinzipien der Literalen Didaktik ............. 185 3.1 Integriertes Sprach- und Sachlernen ............................... 185 <?page no="11"?> 3.2 Authentische Sprachpraxis .............................................. 187 3.3 Sprachaufmerksamkeit und -reflexion .......................... 188 3.4 Integrierte Fertigkeiten ..................................................... 189 3.5 Kooperation ........................................................................ 190 3.6 Fokus auf Schreiben .......................................................... 191 4 Das 3-Phasen-Modell zur Förderung von Textkompetenz ..................................................... 192 4.1 Wissensaktivierung ........................................................... 193 4.2 Arbeit an Texten ................................................................ 196 4.2.1 Textkonstruktion ............................................................... 197 4.2.2 Textrekonstruktion ............................................................ 198 4.2.3 Textfokussierung & Textexpansion ................................ 200 4.3 Texttransformation ............................................................ 201 5 Aufgabentypologie zur Förderung von Textkompetenz ......................... 204 5.1 Phase 1: Wissensaktivierung ............................................ 205 5.2 Phase 2: Arbeit an Texten ................................................. 207 5.2.1 Textkonstruktion ............................................................... 207 5.2.2 Textrekonstruktion ............................................................ 209 5.2.3 Textfokussierung & Textexpansion ................................ 209 5.3 Phase 3: Texttransformation ............................................ 214 ZUM ABSCHLUSS ............................................................. 217 ANHANG ............................................................................. 219 LITERATUR ......................................................................... 237 <?page no="13"?> 13 VORWORT Als Paul Portmann-Tselikas vor einigen Jahren meine Aufmerksamkeit auf den Themenbereich Textkompetenz, Schreiben und zweitsprachliches Lernen gelenkt hat, war mir noch nicht bewusst, welches ergiebige Forschungsfeld sich hier für mich auftun würde. Er hat mich schließlich auch dazu ermutigt, meine Habilitationsschrift diesem Themenbereich zu widmen und ist mir dabei stets als ein offener, anregender und kritischer Gesprächspartner zur Seite gestanden. Die Arbeit an diesem Buch, das im Juli 2007 von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz als Habilitationsschrift angenommen wurde, war durch einen offenen Diskurs gekennzeichnet, bei dem mich neben Paul Portmann-Tselikas auch eine Reihe anderer Kolleginnen und Kollegen mit ihren Anregungen und Kommentaren zu Zwischenergebnissen meiner Arbeit unterstützt und weitergebracht haben. Stellvertretend möchte ich mich bei Hans Drumbl und Hans-Jürgen Krumm bedanken, die mich in diesem Vorhaben stets bestärkt haben. Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht die engagierte Unterstützung von Lehrerinnen und Lehrern gehabt hätte, die mir den Zugang zu ihrem Unterricht geöffnet haben. Die Beobachtung vieler Unterrichtsstunden und die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern haben die Basis für die Ausrichtung und praktische Überprüfung der theoretischen Grundlagen und didaktischen Verfahren dieser Arbeit gebildet. Stellvertretend seien hier Ulla Walchshofer, Elfriede Gaisbacher, Anna Grigoriadis und die Schülerinnen und Schüler der St.-Andrä-Schule, der Dr.-Karl-Renner- Schule, der Muchar-Schule und der Volksschule Söding genannt. Besonders anregend waren für mich auch die zahlreichen Diskussionen mit meinen Studentinnen und Studenten in Graz, Wien und Modena, deren kritische Anmerkungen mir immer wieder geholfen haben, den Blick für noch offene Fragen zu schärfen. Mir sind bei der Arbeit an diesem Buch nahezu ideale Arbeitsbedingungen zur Verfügung gestanden. Ein Charlotte-Bühler-Habilitationsstipendium des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) hat mir die Möglichkeit gegeben, mich 14 Monate lang konzentriert der Arbeit an diesem Forschungsprojekt zu widmen. Aber es war auch die Unterstützung meiner Kolleginnen und Kollegen an der Karl-Franzens-Universität Graz, die mir großen Freiraum verschafft hat. Besonders bedanken möchte ich mich bei Georg Weidacher, aber auch bei Christine Schnattler für ihre stets umsichtige Hilfe in allen organisatorischen und verwaltungstechnischen Belangen, und bei Gerlinde Stock, die mir nicht nur im Alltag am Institut zur Seite stand, sondern auch für die graphische und drucktechnische Aufbereitung dieses Buches gesorgt hat. <?page no="14"?> 14 Schließlich möchte ich mich auch bei meinem ersten Universitätslehrer im besten und eigentlichen Sinne des Wortes, bei Karl Sornig, bedanken. Seiner herausfordernden und gleichzeitig fordernden Persönlichkeit ist es zu verdanken, dass ich überhaupt den Entschluss gefasst habe, in diesem Fachbereich zu arbeiten. Dieses Buch wäre niemals zustande gekommen, hätte ich nicht die uneingeschränkte Unterstützung meiner ganzen Familie gehabt: Die Unterstützung meiner Eltern und Schwiegereltern, die nicht nur während meines Forschungsaufenthalts in Berkeley in der Alltagsorganisation mit den Kindern geholfen haben und die Unterstützung meines Mannes Hansjürgen, der, obwohl - oder gerade weil - er nicht aus dem Fachbereich stammt, wohl mein kritischster Leser gewesen ist. Gerade wegen seiner fachlichen Distanz hat er mich mit seinen unvoreingenommenen, kritischen Fragen oft dazu gebracht, Zusammenhänge zu erkennen oder aus neuer Perspektive zu sehen. Er hat mir immer wieder Mut gemacht, schon abgeschlossen geglaubte Teile der Arbeit nochmals zu überarbeiten und war in dieser Zeit stets Kritiker, Coach, Mentor und Ehemann in einer Person. Die Kraft für dieses Unterfangen hätte ich aber nicht ohne meine Kinder Magdalena und Lisa, ihr Verständnis und ihre Rücksicht, gehabt. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Graz, im Januar 2008 Sabine Schmölzer-Eibinger <?page no="15"?> 15 EINLEITUNG Lernen in der Zweitsprache bedeutet, eine fremde Sprache nicht nur als ein Mittel der Kommunikation, sondern auch als ein Instrument des Wissenserwerbs einsetzen zu können. Der Wissenserwerb erfolgt in der Schule vor allem auf der Basis von Texten; dies gilt für Quellentexte in Fächern wie Geschichte ebenso wie für Textaufgaben in der Mathematik oder für Beschreibungen und Erklärungen und Anweisungen in Geografie, Biologie oder Physik. Um in der Schule erfolgreich zu sein, müssen Lernende daher über Textkompetenz verfügen. Wer über Textkompetenz verfügt, kann Texte lesen und verstehen und mittels Texten kommunizieren und lernen. 1 Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, über Texte zu reflektieren, sich über Texte zu äußern und eine schriftsprachlich geprägte Sprache auch mündlich im jeweiligen Kontext adäquat zu gebrauchen. Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des Lernens. Zweitsprachenlernende sind oft nicht ausreichend in der Lage, Texte als Grundlage und Medien des Lernens zu nutzen, auch wenn sie die Zweitsprache im mündlichen, alltagsbezogenen Sprachgebrauch bereits weitgehend beherrschen. Der Leistungsabstand zwischen einheimischen SchülerInnen und Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist in den meisten europäischen Ländern eklatant (vgl. PISA 2006, 174 ff.). Die Probleme der Zweitsprachenlernenden, die schulischen Anforderungen zu bewältigen, werden im Laufe der Schulzeit meist nicht kleiner, sondern immer größer (vgl. de Cillia 1998, 231; Reich/ Roth 2001, 22). Ein erfolgreicher Wissenserwerb in der Schule setzt daher voraus, dass Zweitsprachenlernende nicht nur über alltagsbezogene Sprachfähigkeiten, sondern auch über ausreichende Textkompetenz verfügen. Neben die didaktische Frage, wie Sprache und Inhalte im Unterricht zu vermitteln sind, tritt daher die Frage, wie Textkompetenz aufgebaut und gefördert werden kann. Es fehlen jedoch sowohl theoretische Grundlagen, die die Perspektive des Unterrichts berücksichtigen, als auch didaktische Konzepte, die es ermöglichen würden, die Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden in mehrsprachigen Klassen gezielt zu fördern. Bisher verfügbare Forschungsarbeiten verfolgen meist entweder spracherwerbstheoretische, sozialwissenschaftliche oder erziehungswissenschaftliche Zielsetzun- 1 Diese Definition von Textkompetenz beruht auf begrifflichen Bestimmungen, wie sie von Portmann-Tselikas (2001a, b, 2002) und Kern (2000) vorgenommen wurden. <?page no="16"?> 16 gen; 2 Fragen des schulischen Wissenserwerbs in der Zweitsprache blieben bislang weitgehend ausgeblendet. Diese Lücke soll durch das vorliegende Buch geschlossen werden. In diesem Buch werden relevante Aspekte der Textkompetenz und des Lernens in der Zweitsprache aufgezeigt und aus didaktischer Perspektive reflektiert. Die Grundlagen dafür bilden Arbeiten aus der Zweitspracherwerbsforschung, der Kognitionspsychologie, der Sozio- und der Textlinguistik sowie der Schreib- und der Literalitätsforschung. Darauf aufbauend wird ein didaktisches Konzept zur Förderung der Textkompetenz entwickelt, das den spezifischen Anforderungen des schulischen Lernens in der Zweitsprache Rechnung tragen soll. Damit wird ein theoretisch fundiertes Unterrichtskonzept für einen bislang in der Didaktik stark vernachlässigten Lernbereich zur Verfügung gestellt und ein eigenständiger, auf den mehrsprachigen Kontext in der Schule bezogener Forschungsbereich profiliert, der in der Sprachlehr- und -lernforschung bisher kaum beachtet wurde. Im ersten Teil des Buches werden theoretische Positionen und empirische Studien rund um das Spannungsfeld Textkompetenz, Literalität und Lernen in der Zweitsprache aufgearbeitet und aus kognitionswissenschaftlicher, zweitspracherwerbstheoretischer, sozio- und textlinguistischer Perspektive diskutiert. Im ersten Kapitel geht es um die frühe literale Förderung und den Schrifterwerb sowie um deren Einfluss auf den Schulerfolg. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, worin die spezifischen sprachlichen und kognitiven Anforderungen im Unterricht bestehen, auf welche Weise sie sich im Laufe der Schulzeit verändern und welche Probleme sich daraus für Zweitsprachenlernende ergeben. Im dritten Kapitel geht es um gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse auf die literale Entwicklung, um literale Praktiken in oralen bzw. literalen Kulturen sowie um Texte als Mittel der Archivierung, Distribution und Evolution von Wissen. Auch der Einfluss von soziokulturellen und sozioökonomischen Faktoren auf die literale Entwicklung und den Schulerfolg ist Thema dieses Kapitels. Im vierten Kapitel wird danach gefragt, welche Rolle die in der Erstsprache entwickelte Textkompetenz für den Wissenserwerb in der Zweitsprache spielt; die in diesem Zusammenhang relevanten Begriffe und Konzepte werden vor dem Hintergrund gängiger Hypothesen in Bezug auf „Schwellen” und den Transfer von Sprachkompetenz zwischen der Erst- und der Zweitsprache diskutiert. Im fünften Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche kognitiven Prozesse in der rezeptiven und produktiven Sprachverarbeitung eine Rolle spielen und welche Bedeutung sie für die Entwicklung und Förderung der Textkompetenz im Unterricht haben. Einen Schwerpunkt dieses ersten Teils des Buches bilden qualitative Fallanalysen (Kapitel sechs und sieben), in denen Texte und Textproduktions- 2 Ich verweise stellvertretend auf Portmann-Tselikas 2001, 2002, 2006; Kern 2000, 2004, Kern/ Schultz 2005; Zydatiß 2004, 2007; Gogolin et al. 2004, Gogolin 2006, 2007. <?page no="17"?> 17 prozesse von Schülerinnen und Schülern untersucht werden. Sie dienen dazu, verfügbare empirische Arbeiten um praxisbezogene Ergebnisse und Einsichten zu ergänzen, die die Herausforderungen für Lernende im konkreten Umgang mit Texten transparent machen und Einblick in die Heterogenität der Textkompetenz von Lernenden im Schulalter geben. Im Mittelpunkt der Textproduktionsanalysen stehen Bildergeschichten, die von Schülerinnen im Rahmen einer kooperativen Schreibaufgabe verfasst werden. Die Analyse der Textproduktionsprozesse soll das komplexe Zusammenspiel von mündlicher und schriftlicher Kommunikation, aber auch die Eigengesetzlichkeit der einzelnen Komponenten im gesamten Akt des Schreibens transparent machen. Es kann damit an konkreten Beispielen deutlich gemacht werden, wie Lernende mit Schreibaufgaben dieser Art umgehen, welche Verstehens- und Schreibprobleme dabei für sie auftauchen können und anhand welcher Strategien sie versuchen, diese zu lösen. Effiziente bzw. weniger effiziente Problemlösestrategien werden dabei ebenso sichtbar wie vorhandene bzw. fehlende Kompetenzen im Umgang mit Texten. Ausgehend davon werden Stadien der literalen Entwicklung (Kapitel acht) skizziert sowie Indikatoren für Textkompetenz (Kapitel neun) herausgearbeitet, die eine lernerorientierte Alternative zur gängigen schulischen Leistungsbeurteilung darstellen; in der vorliegenden Arbeit wurden sie jedoch primär als Grundlage für die Konzeption eines didaktischen Instrumentariums zur Förderung von Textkompetenz verwendet. Im zweiten Teil dieses Buches wird die Literale Didaktik vorgestellt. Es handelt sich dabei um ein didaktisches Konzept zur Förderung der Textkompetenz, mit dem Lernende dabei unterstützt werden können, Texte als Grundlage und als Medien des Wissenserwerbs im Unterricht gezielt zu nutzen. Es baut auf den im ersten Teil dieses Buches dargelegten theoretischen Grundlagen auf, berücksichtigt die Ergebnisse der qualitativen Fallanalysen und greift Ansätze aus verfügbaren lerntheoretischen und didaktischen Konzeptionen auf, die im Hinblick auf die spezifischen Zielsetzungen dieses Konzeptes modifiziert und erweitert werden. Die Kernelemente der Literalen Didaktik bestehen aus den didaktischen Prinzipien, dem 3-Phasen-Modell zur Förderung der Textkompetenz und der darauf bezogenen Aufgabentypologie. Diese drei Komponenten sind systematisch aufeinander bezogen und miteinander vernetzt und erlauben es, die Textkompetenz der Lernenden auf differenzierte, lernerorientierte Weise aufzubauen und zu erweitern. Die Aufgaben und Verfahren der Literalen Didaktik sind primär auf das schulische Lernen in der Zweitsprache bezogen, sie können darüber hinaus jedoch auch in zahlreichen anderen Unterrichtskontexten eingesetzt werden, in denen es darum geht, anhand von Texten zu kommunizieren und zu lernen. <?page no="19"?> 19 TEIL I: TEXTKOMPETENZ ALS INSTRUMENT DES LERNENS IN DER ZWEITSPRACHE 1 Frühe literale Entwicklung und Förderung 1.1 Erste Begegnungen mit der Welt der Schriftlichkeit Erste Begegnungen mit der Welt der Schriftlichkeit finden in literalen Gesellschaften nicht erst in der Schule, sondern schon im vorschulischen Alltag eines Kindes statt: Eingetaucht in eine Welt der Literalität gibt es auch für das Kleinkind keine rein mündlichen Diskurse mehr, keine rein orale Muttersprache, die von der Welt der Schriftlichkeit durch eine eindeutige Grenzlinie unterschieden ist. Das Kind wächst in eine Wirklichkeit hinein, in der sich von Anfang an nichtsprachliche und sprachliche, mündliche und literale symbolische Praktiken durchdringen. Die Eltern, ältere Geschwister und andere Erwachsene, die mit dem Kind und in dessen Anwesenheit untereinander sprechen, die ihm vorlesen und erzählen, Radio hören und fernsehen, sind alle Bewohner einer literalen Kultur. (Brockmeier 1998, 194) Seit Beginn der 70er Jahre sind zahlreiche kognitionspsychologische Arbeiten entstanden, 3 die sich mit der Frage befassen, welche sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten im Spiel sind, wenn Wissen durch eine schriftsprachlich geprägte Sprache vermittelt und erworben wird (vgl. Bruner/ Olson 1978). 4 Dabei hat sich gezeigt, dass der Stellenwert von Büchern und die Vorlesepraxis in einer Familie für die frühe literale Entwicklung von besonderer Bedeutung sind. 5 Bücher bieten Kindern vielfältige Anregungen und Möglichkeiten, schriftsprachliche Fähigkeiten aufzubauen und zu entwickeln (vgl. Durgunoğlu/ Verhoeven 1998b, xii; vgl. Wells 1991, 62). Ein bloßer Zugang zu Büchern ist jedoch nicht ausreichend, es bedarf auch der auf das (Vor-)Lesen von Büchern bezogenen Interaktion. Das interaktive Zusammenspiel zwischen einem Kind und seinen Eltern, älteren Geschwistern oder peers (Mediators of literacy, Baynham 1995, 39) ist ein wesentlicher Faktor der literalen Entwicklung. 3 Siehe einschlägige Arbeiten zur Early Literacy bzw. Emergent Literacy. 4 Mit diesen Arbeiten konnten bis dahin getrennte Entwicklungslinien in psychologischen, linguistischen und kulturgeschichtlichen Forschungsfeldern zusammengeführt werden (vgl. Brockmeier 1998, 136, 145, 222 f.). 5 Die Bedeutung der literalen Kultur in der Familie (Verfügbarkeit und Nutzung von Büchern, Lese- und Vorlesepraxis) wird in allen neueren Arbeiten zum Schriftspracherwerb betont (Bus/ van Ijzendoorn/ Pellegrini 1995; Dehn 1996; Verhoeven/ Aarts 1998; Mooren 2000). <?page no="20"?> 20 Für die literale Entwicklung ist die Auseinandersetzung mit Büchern vor allem dann förderlich, wenn ein Kind dazu angeregt wird, das Gelesene zu kommentieren, zu interpretieren, es aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen zu verknüpfen, Fragen zum Inhalt des Textes zu stellen, Gefühle im Bezug auf die Figuren oder die Handlung einer Erzählung zu benennen oder Vermutungen über den weiteren Verlauf einer Geschichte anzustellen. Die Art und Weise, wie Kinder in Gespräche über Gelesenes involviert werden, welche Fragen ihnen gestellt und wie sie zu Kommentaren angeregt werden, ist also für die literale Entwicklung entscheidend. The child should therefore be given a possibility of being immersed - both at home and at school - in a „literate” environment, in which adults share engagements in acts of reading and writing with children: reading of newspapers and magazines, recalling what has been read and its source, filling up forms, lists, messages. Parents might intervene directly in „reading with children”, i.e., in having children involved in recognizing and interpreting shop signs, road signs and commercial labels [...]. (Pontecorvo 1997, 340) Die literale Entwicklung eines Kindes wird somit entscheidend gefördert, wenn man mit einem Kind viel über Sprache kommuniziert und es oft in Gespräche verwickelt, die schriftsprachlich geprägte Formen der Sprachverwendung erfordern. Extended discourse emerges when talk deals with complicated events or topics; when a simple story is embellished by making connections to feelings, related events, causes, and implications; and when talk moves beyond facts to explanation, or beyond opinion to argumentation. (Snow 1993, 21 f.) Nach Snow (1983) gibt es ganz bestimmte Verhaltensweisen in der Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen, die für die literale Entwicklung besonders lernwirksam sind. Sie zählt dazu insbesondere die • Themenfortführung (semantic contingency): Erwachsene führen Themen fort, die von den Kindern eingeführt wurden (z.B. im Gespräch über die Bedeutung von Wörtern, über Bilder oder Texte) und die • Lernunterstützung (scaffolding): 6 Durch die Unterstützung von Erwachsenen oder älteren Peers gelingt es Kindern, mehr Wissen zu mobilisieren, als sie es auf sich alleine gestellt könnten. Die Lernaktivitäten werden 6 Dieses Konzept des „Scaffolding” wurde von Bruner (1977) entwickelt und gründet auf Vygotskys Idee der zone of proximal development (vgl. Vygotsky 1978, 86), der zufolge es eine Kluft zwischen dem aktuellen und dem potentiellen Entwicklungsstand eines Kindes gibt, die durch die Unterstützung anderer überwunden werden kann. Sind die Aufgaben dem aktuellen Entwicklungsstand der Lernenden angepasst, so können sie diese selbständig lösen (actual development determined by independent problem solving), sind sie schwieriger, bedarf es der Unterstützung durch Erwachsene oder ältere Peers. <?page no="21"?> 21 anfangs von den Erwachsenen und nach und nach immer mehr von den Kindern gesteuert. 7 Nach Genesee (1987, 175) entsteht eine förderliche literale Praxis im Alltag vor allem dann, wenn Kinder dazu angeregt werden • alltägliche Ereignisse aufmerksam wahrzunehmen und zu beobachten; • einander Erlebtes und Beobachtetes zu erzählen; • eigene Standpunkte zu entwickeln und zu vertreten; • Sprache in einem bedeutungsvollen Zusammenhang zu verwenden; • Sprache spielerisch und experimentell zu gebrauchen; • viel über Sprache nachzudenken und sich über sprachliche Phänomene auszutauschen; • die Funktionen und Strukturen der zu lernenden Sprache selbst zu erforschen; • über Dinge zu reden, die sich nicht unmittelbar auf konkret erlebbare Situationen des Alltags beziehen („decontextualized talk”). Die literale Entwicklung eines Kindes wird also durch Gespräche über Themen bzw. Handlungen gefördert, die eine dekontextualisierte, strukturell komplexe Sprache erfordern und nach ausführlichen Erklärungen oder Begründungen bzw. nach Wörtern verlangen, die im alltagsbezogenen Sprachgebrauch nicht oder nur selten vorkommen. 8 Eine besondere Form der frühen literalen Förderung stellt das Rollenspiel dar. In einem Rollenspiel wird der fiktive Handlungsraum ausschließlich durch Sprache konstituiert, ebenso die Spielbedeutungen und die Charaktere der am Spiel beteiligten Personen (vgl. Andresen 2004, 65). Das Wesen eines Rollenspiels besteht in Umdeutungen - wenn eine Schachtel zum Schiff wird und eine Puppe zur Hexe und die Kinder selbst zu Riesen oder Zwergen werden, müssen Bedeutungen neu geklärt werden (vgl. Andresen 2004, 65 ff.). Damit das Spiel nicht abbricht, müssen sich die Kinder metakommunikativ äußern und sich darüber verständigen, ob sie sich gerade in der Fiktion oder in der Realität bewegen. Dies erfordert eine Auflösung der unmittelbaren Verflechtung von sprachlichen Äußerungen mit dem nichtsprachlichen Kontext. 7 Die Kontexte, auf die sich das gemeinsame Handeln in einer Situation bezieht, werden bis zum 3. Lebensjahr weitgehend von den Erwachsenen vorstrukturiert und gestaltet. Mit dem Übergang zum Vorschulalter beginnen Kinder, Sprache losgelöst von nichtsprachlichen Kontexten, d.h. nicht mehr sympraktisch, also als Teil von mit nichtsprachlichen Kontexten verflochtenen Handlungspraktiken, zu verwenden (vgl. Andresen 2004, 64 f.). Erst dann sind sie in der Lage, die Kontexte in der Interaktion mit anderen selbst zu strukturieren und zu gestalten. 8 Snow und Kurland (1994) konnten in ihrer Untersuchung von Gesprächen zwischen Müttern und ihren fünfjährigen Kindern beim Spielen mit einem Magneten zeigen, dass der häufige Gebrauch von komplexen, fachsprachlich geprägten Wörtern in der Interaktion mit Kindern dazu führt, dass diese nicht nur ein großes, sondern auch ein differenziertes Lexikon erwerben. <?page no="22"?> 22 Die literale Entwicklung eines heranwachsenden Kindes wird darüber hinaus auch durch das Erzählen auf besondere Weise gefördert. Erzählkompetenzen zählen zu den ersten literalen Fähigkeiten eines Kindes. In literalen Gesellschaften lernen Kinder narrative Strukturen im Mündlichen kennen, bevor sie selbst lesen und schreiben können. […] narrative thought is one of the first forms very young children use to organize knowledge about everydays life events, persons, actions, emotions and so on. (Pontecorvo 1997, 342) Erzählfähigkeiten, die im Mündlichen aufgebaut wurden, werden im Schriftlichen aufgenommen und weiter entwickelt. 9 Es handelt sich dabei nicht bloß um eine Übertragung schriftsprachlicher Kompetenzen, sondern um eine funktionale Reorganisation der im Mündlichen verwendeten Formen und Strukturen (vgl. Ohlhus 2005, 64 f.). 10 9 Das betrifft Erzählstrategien, stilistische Formen, die global-semantische Strukturierung und die sprachlich-formale Gestaltung (vgl. Ohlhus 2003, 143), aber auch die Fähigkeit, kohärente Texte zu schreiben (vgl. Wells 1991, 62). Mündlich entwickelte Erzählfähigkeiten können im Schriftlichen meist nicht von Beginn an vollständig realisiert werden, was mit den Belastungen zu tun haben dürfte, die mit dem Einstieg in die neue Modalität verbunden sind (vgl. Stude 2003, 151). Dennoch erlauben mündliche Strukturierungsleistungen Aussagen über die Fähigkeit der globalsemantischen Strukturierung im Schriftlichen (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2003, 8). 10 Beim Rückgriff auf mündlich entwickelte Kompetenzen spielt auch das Genre eine Rolle: So enthält etwa das im Mündlichen stark interaktiv geprägte Genre der Erlebniserzählung sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen weniger strukturierende Elemente und ein niedrigeres Niveau globaler Kohärenz als etwa die Fantasieerzählung, die bereits im Mündlichen stärker an der sprachlichen Form und ihrer Ausgestaltung orientiert ist; sie weist daher auch im Schriftlichen früher ausgebaute globalsemantische Strukturen auf (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2005). Die im mündlich geprägten Genre der Erlebniserzählung entwickelten Erzählfähigkeiten scheinen kaum Vorteile für die Konstitution von schriftlichen Texten zu bringen, während der Übergang ins schriftliche Erzählen den Lernenden im Genre der Fantasieerzählung leichter zu fallen scheint, wenn sie bereits über gut ausgebaute Erzählfähigkeiten in diesem Genre im Mündlichen verfügen (vgl. Ohlhus 2003, 135); unter diesen Voraussetzungen kommt es von Beginn an zu einer Steigerung der global-semantischen Strukturierungsleistungen, während die Lernenden bei schriftlichen Erlebniserzählungen vielfach zunächst hinter die im Mündlichen erbrachten Leistungen zurückfallen, zum Teil sogar hinter den bei der Einschulung im mündlichen Erzählen erreichten Entwicklungsstand (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2003, 12, 2005, 5). Dies kann mit dem Wegfall der interaktiven Unterstützungsleistungen in der Schriftlichkeit erklärt werden, die sich bei Genres, die stark in der Alltagskommunikation und in interaktiven Handlungen eingebettet sind, stärker auswirkt als bei den stärker in der Schriftlichkeit verankerten Fantasieerzählungen (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2003, 12). In schriftlichen Fantasieerzählungen werden die im Mündlichen bereits verfügbaren Erzählfähigkeiten weiter ausgebaut, gegen Ende der dritten Schulstufe lassen sich auch Rückwirkungen der schriftlichen Erwerbsprozesse auf mündliche Erzählleistungen feststellen (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2005, 5). Neben der Restrukturierung und Weiterentwicklung der im Mündlichen ausgebildeten Erzählfähigkeiten bedarf es einer Integration der im Schriftlichen neu aufgebauten Erzählkompetenzen. Im Mündlichen schwächere ErzählerInnen sind gefordert, Formulierungs- und Struk- <?page no="23"?> 23 Es werden also bereits in der frühen literalen Entwicklung schriftsprachliche Fähigkeiten ausgebildet, die später beim Lesen und Schreiben, aber auch in der mündlichen Kommunikation eingesetzt werden - schon in relativ frühen Texten von Schulkindern werden mündlich vorgebildete literale Fähigkeiten genutzt; aber auch mündliche Äußerungen sind schon früh durch eine schriftsprachliche Prägung gekennzeichnet (vgl. Schmidlin/ Feilke 2005, 11). 11 In welchem Ausmaß und auf welche Weise Kinder im Schulalter auf ihre vorschulisch entwickelten literalen Fähigkeiten zurückgreifen, hängt nicht zuletzt vom Erfolg der im Mündlichen bereits erprobten Lösungen ab. Die frühe literale Förderung und Entwicklung spielt auch für das schulische Lernen in der Zweitsprache eine zentrale Rolle - die schulischen Leistungen und die Lernfortschritte in der Zweitsprache stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Art und Weise, wie Zweitsprachenlernende in der Familie in ihrer literalen Entwicklung gefördert werden (Verhoeven 1997, 236): 12 Zweitsprachenlernenden, die in ihrer frühen literalen Entwicklung nicht ausreichend gefördert wurden, fehlt es an den nötigen literalen Erfahrungen und Strategien, die es ihnen ermöglichen würden, in der Schule erfolgreich zu lernen. Frühe literale Fähigkeiten sind daher ein zuverlässiger Indikator für den späteren Schulerfolg (vgl. Wells 1991, 58; Häcki Buhofer 1998; Minami/ Ovando 2001, 433). 13 Der Lernerfolg in der Schule ist somit wesentlich davon abhängig, ob ein Kind schon früh mit der Welt der Texte vertraut geworden ist oder aber erst mit Schuleintritt in die Welt der Schriftlichkeit eintaucht (vgl. Pontecorvo 1997, 335). turierungsstrategien grundlegend neu auszubilden (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2005, 8). 11 Dies zeigt sich nach Becker (2005) etwa in prosodischen Markierungen, im Tempusgebrauch und in der Verwendung bestimmter lexikalischer Wendungen. 12 In den Niederlanden wurden Programme entwickelt (z.B. „Piramide” und „Kaleidoscop”), die darauf abzielten, Migrantenkinder schon im vorschulischen Alter mit Schriftsprachlichkeit in der Zweitsprache vertraut zu machen. Eine Evaluation dieser Programme hat ergeben, dass eine frühe literale Förderung bei Zweitsprachenlernenden zu deutlich positiven Effekten auf ihre literale Entwicklung generell und im Speziellen auf die Entwicklung ihrer Zweitsprache führt (vgl. Reich/ Roth 2001, 30). 13 In einer Studie von Verhoeven/ van Kuijk (1991) haben Vorschulkinder spezielle Programme zur Förderung von Textkompetenz im Kindergarten durchlaufen. Da Kinder meist schon früh ein phonetisches Bewusstsein über Reime, Klang und Rhythmus und Erzählfähigkeiten entwickeln, lagen die Schwerpunkte auf story book reading und phonological awareness games. Jene Kinder, die diese Programme durchliefen, zeigten in ihrer literalen Entwicklung einen deutlichen Vorsprung gegenüber anderen, die diese Förderung nicht erhielten. Die Unterschiede zeigten sich vor allem in den Erzählfertigkeiten und im phonetischen Bewusstsein (vgl. Verhoeven/ van Kuijk 1991). Erklärungen für diesen Zusammenhang sind in weiterführenden Forschungarbeiten zu suchen. <?page no="24"?> 24 1.2 Der Schrifterwerb als Schlüsselereignis in der literalen Entwicklung Das Lesen- und Schreibenlernen ist der Beginn eines Prozesses, in dem das Sprachvermögen eines Kindes tiefgreifend verändert, umgebaut und erweitert wird. Der Schrifterwerb ist das Schlüsselereignis in der literalen Entwicklung eines heranwachsenden Kindes, das nicht nur die Wahrnehmung von Sprache, sondern auch den Zugang zur Welt tiefgreifend verändert. Der Schrifterwerb treibt die sprachliche und die kognitive Entwicklung eines Kindes entscheidend voran - Schriftsprache repräsentiert nicht nur kognitive Strukturen, sondern schafft sie auch neu (vgl. Wolff 2002, 78). Schriftkundigkeit ermöglicht somit neue Qualitäten des Denkens und des Umgangs mit Sprache. Wenn Kinder in der Schule beginnen, lesen und schreiben zu lernen, verändert sich ihr Umgang mit Sprache fundamental: Sie „sehen” Sprache anders, sie benutzen sie anders und sie beginnen auf neue Weise über sie nachzudenken (vgl. Brockmeier 1998, 209). Die Erfahrungen, die sie dabei machen, sind für sie völlig neu. Sprache wird durch Schrift sichtbar und autonom, geschriebene Wörter lassen sich „angreifen”, manipulieren und wie Dinge behandeln. - „Reden wir heute wieder über diese Worte? ” begrüßt mich Anna. 14 - „Über welche Worte? ” - „Die, die ich ins Heft gemalt habe, letztes Mal, als du da warst. Weißt du doch! ” - „Wenn du magst.” - „Ich habe aber noch ein schöneres Wort gemalt, zu Hause, sieh mal! Können wir das auch nehmen? ” - „Lass mal sehen. Das ist aber wirklich sehr schön! ” - „Ja, das hab ich mit ins Bett genommen, zusammen mit Puh.” (einem Stofftier) (Brockmeier 1998, 256) Über die Wahrnehmung von Sprache als Objekt richtet sich die Aufmerksamkeit eines Kindes auf das gesamte Symbolsystem Sprache: 15 Die Sprache ist nicht mehr bloß Werkzeug, sondern auch Gegenstand des Denkens und sprachlichen Handelns. Im Laufe des Schrifterwerbs wird den Kindern die Unterscheidung zwischen Objekten und sprachlichen Bezeichnungen bewusst: „to read is to see that a token is a sign for a word not an emblem for a thing.” (Olson 1997, 11) Die Unterscheidung zwischen Objekten und den sie 14 Anna ist sechs Jahre alt. 15 Wenn sich Kinder intensiv mit geschriebener Sprache beschäftigen, entwickeln sie auch beim Gebrauch von Sprache im Mündlichen eine höhere Sprachaufmerksamkeit. Diese zeigt sich vor allem im Einsatz diskursiver Praktiken, in den Fähigkeiten der Zeicheninterpretation und in der Art des Spielens mit Sprache. Weitere Faktoren, die bei der Entwicklung des Sprachbewusstseins eine Rolle spielen, sind die syntaktische und semantische Aufmerksamkeit, die orthographische Selbstkontrolle, Sprachwitz, Ironie und metaphorischer Sprachgebrauch (vgl. Brockmeier 1998, 254, 264). <?page no="25"?> 25 bezeichnenden Begriffen wird meist schon früh zum Thema von Sprachreflexion: 16 - „Was ist ein schnelles Wort? ” Thomas: „Vogel ist ein schnelles Wort. Und Batman, der ist auch ganz schnell.” Sarah: „‚Im’ ist das schnellste Wort. Hm, nein ‚in’ ist das schnellste, weil - da ist so ein Strichlein, ein Punkt und nur noch ein Häkchen.” - „Und was ist ein schweres Wort? ” Thomas: „Der Tisch ist schwer. Und der Stein auch. Mein Papa ist auch schwer, weil er so groß ist.” Sarah: „Schwere Worte? Da gibt’s viele, wir lernen jetzt immer mehr. Krokodil, Autobahn ist auch schwerer, das ist so lang.” (Brockmeier 1998, 265) Das Beispiel zeigt, dass Wörter von SchulanfängerInnen noch häufig als Eigenschaften der Gegenstände betrachtet werden, die sie bezeichnen und von den Kindern gedanklich noch nicht getrennt werden können - die Kinder urteilen über den Gegenstand und nicht über das sprachliche Zeichen. Der Schrifterwerb treibt die Fähigkeit, Wörter aus ihrer Bindung an Gegenstände, Personen oder Ereignisse zu lösen, entscheidend voran (vgl. Andresen 2004, 67). Im Laufe des Schrifterwerbs wird die Fähigkeit eines Kindes, über Sprache nachzudenken und sich über Sprache zu äußern, deutlich ausgebaut. Die Aufmerksamkeit auf sprachliche Phänomene wird auf spürbare Weise vergrößert - indem ein Kind schreiben und lesen lernt, entwickelt es Metasprache. 17 Das Lesen- und Schreibenlernen wird daher von Brockmeier (1998) als „genuin metasprachliche Tätigkeit” bezeichnet. 18 Metasprachliche Kompetenzen führen nicht nur zu einem höheren Sprachbewusstsein, sondern fördern nach Vygotsky (1994, 224) auch die Fähigkeit zur Verallgemeinerung. Sie zeigt sich vor allem darin, dass Lernende in der Lage sind, Sprache als ein Instrument des analytischen 16 Thomas und Sarah gehen in die gleiche Klasse, das Gespräch mit Thomas fand am Anfang des ersten, das mit Sarah am Anfang des zweiten Schuljahres statt. 17 Nach Augst (1992) sind „meta”-Faktoren besonders wichtige Indikatoren für die literale Entwicklung: Dazu zählen neben metalinguistischen auch metakognitive, metaemotionale und metasoziokognitive Kompetenzen. Die Vorsilbe metadeutet an, dass hier nicht nur Emotionen sowie kognitives, linguistisches und soziales Wissen im Spiel ist, sondern auch die Fähigkeit, dieses Wissen und diese Emotionen aus einer kritischen Distanz zu reflektieren und zu verarbeiten. 18 Was mit metasprachlichen Tätigkeiten gemeint ist, kann durch die Gegenüberstellung der Fragen „Was wurde gesagt (oder geschrieben)? ” oder „Was war gemeint? ” deutlich gemacht werden. Unterscheidungen dieser Art kommen in allen literalen Gesellschaften vor, zum Beispiel in Erklärungen, Erzählungen oder Begründungen und werden weitgehend unabhängig vom Erwerb der Lese- und Schreibkompetenz im Laufe der literalen Entwicklung erkannt. <?page no="26"?> 26 Denkens und komplexen Sprachhandelns zu verstehen und selbst zu verwenden. 19 This specialized use of language - formal written explicit prose - is, of course, [...] the language of the formal schooling. But it is not a language of doing and saying, a mother tongue, or part of the „oral tradition” generally; it is the specialized tool of analytic thinking and explicit argument and it is the tool that has been adopted as the predominant form of school instruction. (Olson 1977, 232) Im Zuge des Schrifterwerbs lernt ein Kind neue sprachliche Kategorien und Strukturen kennen und verstehen, die ein Modell für das Sprechen abgeben („model for speech”, Olson 1994). Das Wissen darum, was Sprache ist und wie sie eingesetzt werden kann, was z.B. ein Laut oder ein Wort ist, wird durch die Entwicklung der Schreibfähigkeiten grundlegend verändert (vgl. Feilke 2003, 179). Der Schrifterwerb und die Fähigkeit, Wissen anhand von Texten in der Schule zu erwerben, stehen in einem engen Zusammenhang: Die Entwicklung der Lesekompetenz geht mit dem Ausbau der Verstehensfähigkeit einher, die erst den Zugang zu Texten ermöglicht (vgl. Aust 1996, 1170). Die Fähigkeiten des Lesens und Verstehens sowie des Schreibens und Sprechens bilden somit eine funktionale Einheit im Rahmen literaler Handlungen und sind damit eine zentrale Grundlage des schulischen Lernens. 19 Für analytisch-reflektierende Zugriffe auf Sprache sind mentale Aktivitäten wie etwa das Nachfragen, das Korrigieren oder das Interpretieren charakteristisch. Sprachlich werden sie durch Verben wie „dafürhalten”, „annehmen”, „kritisieren”, „schlussfolgern”, „interpretieren” etc. ausgedrückt (vgl. Brockmeier 1998, 286 f.). Olson/ Astington (1990, 717) sprechen in dem Zusammenhang von so genannten „mentalen Verben” (mental verbs), die es erlauben, sich über Texte zu äußern und metasprachliche und metakognitive Kompetenzen zu entwickeln (an die Stelle von Verben wie z.B. say oder think treten Verben wie etwa: assert, assume, concede, confirm, conclude, doubt, hypothesize, imply, infer, interpret, predict oder remember). <?page no="27"?> 27 2 Der schulische Sprach- und Denkstil Die im Unterricht verwendete Sprache ist Ausdruck und Mittel abstrakten und konzeptuellen Denkens. In der Schule wird daher nicht nur eine bestimmte Art des Sprachgebrauchs, sondern auch des Denkens gefordert. Im Folgenden soll anhand von einigen Beispielen gezeigt werden, wie sich der typisch schulische Sprach- und Denkstil im Unterricht zeigt, welche sprachlichen und kognitiven Anforderungen damit verbunden sind und welche Rolle Textkompetenz in diesem Zusammenhang spielt. 2.1 Beispiel A: Das Lösen einer mathematischen Textaufgabe Im ersten Beispiel geht es um eine Textaufgabe aus einem Schulbuch für den Mathematikunterricht der dritten Schulstufe: a) Michael kauft eine Badehose um 49 Euro, eine Taucherbrille um 121 Euro und einen Sonnenhut um 37 Euro. Wie viel muss er dafür insgesamt bezahlen? b) Er bezahlt mit 300 Euro. Wie viel bekommt er zurück? (Peltzer-Karpf et al. 2003, 182) Wa s müssen die Lernenden wissen, um diese Aufgabe lösen zu können? Für die Lösung dieser Aufgabe ist es weniger wichtig zu wissen, was die genannten Dinge üblicherweise kosten - denn dann wäre diese Aufgabe höchstens ein Lehrbeispiel für die Realitätsferne von Schulbüchern -, es ist im Grunde auch nicht wichtig zu wissen, was mit den Begriffen Badehose, Taucherbrille und Sonnenhut gemeint ist, denn letztlich geht es nicht um die Dinge an sich, sondern darum, anhand dieser Begriffe bestimmte mathematische Operationen zu üben. Was ist also die Lernaufgabe in diesem Fall? Die Lernaufgabe besteht für die SchülerInnen nicht nur darin, Zahlen zu addieren und zu subtrahieren, sie besteht vielmehr darin, relevante Informationseinheiten im Text zu erkennen, zu gewichten, zu verknüpfen, ihre Funktion im Rahmen des mathematischen Konzeptes, um das es hier geht, zu definieren und die erforderlichen Problemlöseschemata abzurufen (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 182). Dies ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass die verlangten mathematischen Operationen überhaupt durchgeführt werden können. Die Lernenden sind also im Sinne von Neisser (1979) gefordert, Orientierungspunkte in diesem Text ausfindig zu machen und so genannte „kognitive Landkarten” zu konstruieren, die es ermöglichen, unabhängig von konkreten Situationen in einem abstrakten, nur noch verbal definierten Symbolfeld (Bühler 1965) zu denken und sprachlich zu handeln. Wichtig ist daher, dass die Lernenden etwa im ersten Beispiel wissen, was die Wörter „eine(n) ... um”, „wie viel” und „insgesamt” bedeuten und auf welche Weise <?page no="28"?> 28 sie den Sinnzusammenhang in diesem Text konstituieren. Diese Wörter sind es nämlich, die die Orientierungspunkte in diesem Text ausmachen und die es erlauben, den Text als ein Ganzes zu verstehen. In einer Studie von Peltzer-Karpf et al. (2003) wurde das Textverständnis dieser Aufgabe und die mathematische Lösungskompetenz in einer dritten Klasse Volksschule untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass es vor allem Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache waren, die mit dieser Aufgabe Probleme hatten. Viele von ihnen verstanden zwar die meisten Wörter, konnten die geforderten Rechenoperationen aber nicht durchführen. Und nicht wenige von ihnen haben die Zahlen aus den Aufgaben a) und b) einfach zusammengezählt (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 182). Es gab jedoch auch Zweitsprachenlernende, die zur richtigen Lösung gelangten, obwohl sie einzelne Wörter - wie etwa die „Taucherbrille” - nicht kannten, denn sie hatten prinzipiell verstanden, dass es etwa bei der Frage a) darum ging, dass drei Dinge gekauft worden waren und der Preis dafür zu addieren war. Die in der Didaktik verbreitete Annahme, dass es ausreicht, Zweitsprachenlernenden alle Wörter in einem Text zu erklären, erweist sich daher als falsch. Die zentralen Probleme von Zweitsprachenlernenden im Umgang mit Texten bestehen meist nicht im Verstehen einzelner Wörter, sondern darin, jene Wörter in einem Text zu erkennen und im jeweiligen Kontext zu verstehen, die es ermöglichen, einen Text als ein Sinnganzes wahrzunehmen und als ein Instrument des Lernens zu nutzen. Dies gilt nicht nur für Texte in der Mathematik - Texte sind in fast allen Fächern in der Schule die wichtigste Grundlage des Lernens. 2.2 Beispiel B: Ein Lehrer-Schüler-Dialog über Mengenlehre Beim nächsten Beispiel handelt es sich um ein Unterrichtsgespräch, das in einer ersten Klasse im Mathematikunterricht aufgezeichnet wurde: Lehrerin (L): Passt auf! Ich hab’ euch eine Menge mitgebracht. (...) Ich hab’ euch auch eine Menge mitgebracht, und zwar erst einmal die hier (heftet ein Apfelsymbol an die Tafel). Was ist das für eine Menge? Michael? (auf ihr Symbol weisend) Schüler (S): Tomate. L: (herzlich lachend): Nein, nein. Das sieht ja fast aus wie ’ne Tomate. Eigentlich hast du Recht. Es soll aber keine sein. Aber ich will auch noch gar nicht wissen, was es ist, sondern was es für eine Menge (betont) ist. Erika? S: Eine kleine. L: Sag’ s schön! S: Es ist eine kleine Menge. L: Da hat sie Recht. Wer weiß noch etwas von dieser Menge? Brigitte? S: Das ist eine Einser-Menge. L: Oh, hat sie das schön gesagt. Claudia, wollt’st du das auch sagen? Was wollt’st du sagen? <?page no="29"?> 29 S: Das ist eine Einer-Menge. L: Das ist eine Einer-Menge (betont). Chris? S: Ich will noch etwas anderes sagen. Das ist eine ein - ach (Schüler stöhnt vernehmbar auf). L: (unterbricht): Wie heißt das andere Wort? Derselbe Schüler: Einfache Menge. L: Schön. Das ist eine einfache (betont) Menge oder eine Einer- (betont) Menge. Aber es ist eine Menge. Nur eine kleine Menge. Und da wir gesagt haben, die Mengen haben alle Namen, ham wir dieser Menge einen Namen gegeben, Matthias, denn was hat diese Menge jetzt für einen Namen? S: Eine Eins. L: Richtig. Die Zahlen sind die Namen für die Mengen. Und zwar für die zählbaren Mengen. Alles, was mehr als einmal da ist und was ich zählen kann, das kriegt einen Namen. An dieser Stelle erfolgt der Einwurf einer Schülerin, die sich schon längere Zeit gemeldet hat: S: Das ist ein Apfel. (Die Schülerin verweist dabei auf das Apfelsymbol an der Hafttafel.) L: Richtig. Das soll ein Apfel sein, ein ganz großer Apfel. 20 (Graf 1987, 99) Die Antworten der SchülerInnen entsprechen offensichtlich nicht den Erwartungen der Lehrerin, obwohl sie im alltagsbezogenen Kontext völlig korrekt wären: Für die SchülerInnen steht das Wort Apfel für den konkreten Gegenstand Apfel, den man angreifen und schmecken kann. Die Lehrerin will jedoch Aussagen hören, die sich nicht auf den konkreten Gegenstand, sondern auf das mathematische Konzept der „Mengenlehre” beziehen. Sie fragt zwar einerseits nach dem „Namen” für die Mengen, meint jedoch andererseits, sie „will auch gar nicht wissen, was es [der Apfel] ist” und bezeichnet das Apfelsymbol an der Tafel schließlich mit einem Fachterminus, der den SchülerInnen nicht bekannt ist, nämlich „Menge”. Der Apfel ist also in diesem Kontext weniger als konkretes Objekt denn als abstrakte Einheit von Bedeutung: Das Apfelsymbol an der Tafel soll dazu dienen, „Mengen” zu veranschaulichen und Rechenoperationen im Rahmen des mathematischen Konzeptes der Mengenlehre zu erklären bzw. zu üben. Die Schülerinnen und Schüler kommen so mit einer Sprach- und Denkweise in Berührung, die ihnen noch nicht vertraut ist. Es geht hier nicht wie sie es aus ihrem Alltag gewohnt sind, um die Gegenstände an sich, sondern darum, sie als abstrakte Einheiten im Rahmen kognitiver Operationen zu betrachten und zu verwenden; im Alltag wäre es völlig unerheblich, ob der Apfel, um den es hier geht, als „Menge” bezeichnet werden kann und ob es sich dabei um eine „einfache” oder um eine „Einer”-Menge handelt oder nicht. Die SchülerInnen sind also gefordert, sich in dieser Unterrichts- 20 Dieses Unterrichtsprotokoll wurde in einer ersten Klasse einer Grundschule in München aufgenommen und stammt aus dem Archiv der „Unterrichtsmitschau” des Instituts für Empirische Pädagogik, Pädagogische Psychologie und Bildungsforschung der Universität München (vgl. Graf 1987, 99). <?page no="30"?> 30 situation kognitiv neu zu orientieren. Es gilt dabei zunächst zu erkennen, dass eine neue Dimension des sprachlichen Handelns gefordert ist, die mit situationsunabhängigem, abstraktem Denken verbunden ist. Gleichzeitig ist der Unterricht jedoch weiterhin durch das „Hier und Jetzt”, also durch die unmittelbar erlebbare Situation geprägt, in der sich die Schülerinnen und Schüler in diesem Moment befinden. Diese Zweidimensionalität der Unterrichtssituation lässt sich durch Bühlers „Zweifelderlehre” (1965) beschreiben: Kommunikation, die sich auf die gemeinsame Situation des Unterrichts bezieht, bewegt sich demnach auf der Ebene des „Zeigfelds”, während Kommunikation, die auf abstrakte Konzepte bezogen ist, auf der Ebene des „Symbolfelds” liegt. Während der Sprachgebrauch auf der Ebene des „Zeigfelds” durch konzeptuelle Mündlichkeit gekennzeichnet ist, ist die Sprache im „Symbolfeld” konzeptuell schriftlich (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994). 21 Lernende sind im Unterricht gefordert, beide Dimensionen des Unterrichts zu erkennen und wahrzunehmen und ihr Denken und sprachliches Handeln danach auszurichten. 2.3 Beispiel C: Ein Schülergespräch über Spinnen Das folgende Gespräch wurde von drei SchülerInnen der zweiten Schulstufe - John, Steve und Elise - in der Schulbibliothek beim Recherchieren von Büchern für den Biologieunterricht geführt (vgl. Dixon-Krauss 1996, 44). Der ältere Bruder von Elise, Tim, gesellt sich nach einiger Zeit dazu und beteiligt sich am Gespräch: John: Here’s a good one! It’s called „Why Mosquitos Buzz in People’s Ears”. See this bump on my arm? I got a mosquito bite last night when I was out on the porch. Steven: But that one has a lion and a monkey too. Mrs. Welch said we should find books about insects. John: So, a mosquito is an insect, and I want to see why they buzz in your ears. Elise: I found „Charlotte’s Web”. It’s my favourite story. I saw it on TV last week. Tim: I thought you were looking for books with insects. Elise: I am. Charlotte is a spider, and spiders are bugs. Tim: Spiders aren’t insects. Spiders are arachnids. They have eight legs. Elise: How do you know? Tim: You learn those things when you get in fifth grade. It’s called science. Während sich die drei ZweitklässlerInnen vor allem auf ihnen bekannte Informationen zum Thema, auf eigene Erlebnisse und persönliche Assoziationen stützen, greift Tim auch auf abstrakte Kategorien zurück, die der unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich sind. Er bezieht sich damit nach Vygotsky (1986) nicht nur auf alltägliche, spontane Konzepte, sondern auch bereits ansatzweise auf wissenschaftliche Konzepte. 21 Sag’s schön! - aus dieser Äußerung der Lehrerin wird deutlich, dass sie sich von ihren SchülerInnen auch im Mündlichen schriftsprachlich geprägte Äußerungen erwartet. <?page no="31"?> 31 Spontane Konzepte entwickeln sich nach Vygotsky (1986) auf der Grundlage persönlicher Begegnungen und Erlebnisse, die ein Kind in seinem Alltag macht. Sie bestimmen die alltägliche Domäne des Lernens (Macken Horarik 1996, 238), die in der Familie und in der kulturellen Gemeinschaft verankert ist. Spontane Konzepte bilden die Basis der intuitiven Theorien eines Kindes über die Welt (Macken Horarik 1996). Im Gespräch in der Bibliothek zeigt sich dies vor allem in den Äußerungen von Elise: Sie hat eine lebendige Vorstellung davon, was Spinnen sind und wie sie leben. Wissenschaftliche Konzepte hingegen sind nach systematischen Kategorien und nach logischen Gesichtspunkten strukturiert und Teil eines gesellschaftlich organisierten Wissensbestandes. Sie bestimmen den Fachdiskurs und das Denken und Reden über die Themen und Gegenstände des Unterrichts in der Schule. In dieser fachspezifischen Domäne des Lernens sind soziale Beziehungen nach Macken Horarik (1996, 236) durch mehr Distanz als in der alltäglichen Domäne gekennzeichnet. Neben der alltäglichen und der fachspezifischen Domäne des Lernens ist, so Macken Horarik (1996), die Domäne der Reflexion für den Wissenserwerb in der Schule von besonderer Bedeutung. Lernende, die über Reflexionsfähigkeit verfügen, können das im Unterricht vermittelte Wissen nicht nur wiedergeben, sondern sind auch in der Lage, über die Beschaffenheit und die Struktur dieses Wissens nachzudenken, divergierende Sichtweisen zu erkennen und auf differenzierte Weise darzustellen. Sie können Informationen nicht nur reproduzieren, sondern auch bewerten, abwägen und relativieren (vgl. Brockmeier 1998, 194). Im Laufe der literalen Entwicklung gilt die Aufmerksamkeit eines Kindes nach Macken Horarik (1996) zunächst der alltäglichen Domäne; sie richtet sich im Laufe der Zeit auf die fachspezifische Domäne und schließlich auf die Domäne der Reflexion. 22 Diese Vorstellung entspricht der Sichtweise von Olson (1977), der in der literalen Entwicklung eines heranwachsenden Kindes einen Prozess des sukzessiven Erwerbs von höherstufigen Fähigkeiten des kritischen, problemlösenden und reflektierenden Denkens sieht. 2.4 Von der Alltagssprache zur Schulsprache Der schulische Sprach- und Denkstil zeichnet sich insbesondere durch die folgenden Merkmale aus (nach Portmann-Tselikas 1998, 24 f.): 22 Die Erschließung von Bedeutungen korrespondiert in der jeweiligen Domäne mit der Kenntnis von spezifischen Registern und Textsorten (vgl. Macken Horarik 1996, 242). So sind etwa für die alltagsbezogene Domäne vor allem Werbe- und Informationstexte sowie Ankündigungen, Hinweisschilder oder Formulare charakteristisch, für die fachspezifische Domäne sind es Berichte, Erklärungen, Beschreibungen und literarische Texte; für die Domäne der Reflexion zählen dazu vor allem Diskussionen und argumentative Texte (vgl. Macken Horarik 1996, 246). <?page no="32"?> 32 • Themen- und Gegenstandsorientierung Die Wahl der Lerninhalte und -ziele erfolgt nicht nach Kriterien praktischer Brauchbarkeit, sondern nach übergeordneten curricularen Zielen. Man erarbeitet ein Thema systematisch, bespricht einen Gegenstand im Detail und im Bezug auf fachsprachliche Schemata und Konzepte. Man spricht nicht einfach über das, was einem spontan in den Sinn kommt, sondern über etwas, das mit den eigenen Erfahrungen, Emotionen und Kenntnissen wenig zu tun hat. So lernt man etwa über Einzeller und Bakterien, obwohl man sie im Alltag nicht sehen kann oder man bespricht den Bauplan, die Lebensweise und die verschiedenen Gattungen von Tieren und tut dies alles nicht, um für die Praxis zu lernen, sondern um Fachwissen zu erwerben. • Fachbezogene Sprache und Wissensschemata Die in der Schule verwendete Sprache ist durch komplexe Strukturen, einen fachbezogenen Wortschatz, eine Verdichtung von Informationen sowie durch ein hohes Abstraktionsniveau gekennzeichnet. Es treten gehäuft Passivkonstruktionen, Funktionsverbgefüge, Komposita, Abstrakta und Nominalisierungen auf. Alltagssprachliche Begriffe kommen zwar vor, werden aber vielfach umgedeutet und im schriftsprachlichen Modus rekonstituiert; sie werden mit fachspezifischen Bedeutungen versehen und an fachbezogene Konzepte gekoppelt. 23 Die jeweils vorherrschenden Wissensschemata unterscheiden sich von Fach zu Fach - während etwa für das Fach Geschichte die Chronologie historischer Ereignisse zentral ist, sind für das Fach Biologie taxonomische Ordnungen etwa der Tier- und Pflanzenwelt oder Stufen eines Prozesses (z.B. die Entwicklung eines Frosches etc.) bestimmend (vgl. Zydatiß 2007, 20 ff.). • Textgeprägte Sprache Die Auseinandersetzung mit den Themen und Gegenständen im Unterricht und die Vermittlung der für die jeweiligen Fächer charakteristischen Begriffe, Konzepte und Kategorien erfolgt sowohl schriftlich als auch mündlich im Medium einer textgeprägten Sprache, die anderen Charakters ist als die erfahrungs-, erlebens- und kontaktbasierte Sprache des Alltags. 24 Die aus dem Alltag gewohnten Sprach- und Denkweisen werden im Laufe der Schulzeit zunehmend durch diesen schulisch vorherrschenden Sprach- und Denkstil geprägt. Damit gehen eine zunehmende Loslösung der Lernenden von mündlich geprägten Sprachgebrauchsformen und eine Hin- 23 Das gilt etwa für Begriffe wie „Faktor”, „Methode”, „Phasen”, „Wachstum”, „Tendenz”, „Entwicklung”. 24 Nach Zydatiß (2007, 21 f.) ist das sprachliche Handeln im schulisch-akademischen Kontext bestimmt durch sog. akademische Diskursfunktionen, z.B. das Benennen, Identifizieren, Klassifizieren, Beschreiben, Fragestellen, Erklären, Schlussfolgern, Begründen, Hypothesenbilden, Definieren oder Vergleichen. <?page no="33"?> 33 wendung zu schriftsprachlich geprägten Sprachhandlungsweisen einher. Diese „Überformung” der alltagsbezogenen Sprachgebrauchsweisen ermöglicht den Lernenden eine neue Art des Denkens und des Umgangs mit Sprache, die es ihnen erlaubt, über Dinge nachzudenken und zu sprechen, die sich ihrer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, z.B. über Vergangenes (z.B. im Geschichtsunterricht), über nicht Sichtbares (z.B. über Zellen und Atome im Biologieunterricht) oder über nicht Erfahrbares (z.B. über fremde Länder und Kulturen im Geografieunterricht) (vgl. Portmann- Tselikas 1998, 26). Die gewohnten und im Alltag vorherrschenden mündlich geprägten, dialogischen Sprechstile und Denkweisen werden schulisch überformt, ausgebaut und umgewandelt. Sie bilden den Ausgangspunkt für eine Entwicklung der Sprachkenntnisse, der sprachbezogenen Kompetenzen und der Sprachbewusstheit, die es erlauben, ganz neue Bereiche zu erschließen - man denke an die Welt der Literatur, die Welt der Technik und der Wissenschaft, die Welt der politischen Information. Man kann sich diese Welten autonom, mit Hilfe von Büchern oder Zeitschriften zugänglich machen - vorausgesetzt, man beherrscht die Instrumente dazu: Sprach- und Textkompetenz, Lesefertigkeit, genügend Vorwissen. Nur dann hat man realistische Chancen in der Welt der Bildung und Weiterbildung. (Portmann-Tselikas 1998, 25 f.) Diese „Überformung” des alltagsbezogenen Sprach- und Denkstils manifestiert sich im Unterricht in einer Verlagerung der vorherrschenden Kommunikationsformen vom Dialog hin zum Text: Während das sprachliche Handeln zu Beginn der Schulzeit primär durch situationsbezogene, konzeptuell mündliche Kommunikationsformen bestimmt ist, wird die Kommunikation im Unterricht zunehmend durch situationsunabhängige, textgeprägte Sprachgebrauchsweisen dominiert. 25 Dialog Gespräch Monolog Sachverhaltsdarstellung Text situationsgebunden situationsunabhängig Abb. 1 In Dialogen handeln die InteraktionspartnerInnen im Kontext einer konkreten Situation, ihre sprachlichen Äußerungen beziehen sich unmittelbar auf das „Hier und Jetzt”. In Gesprächen wird ein Thema teilweise unabhängig von der konkreten Situation erschlossen, die Aufmerksamkeit ist dennoch auf den Fortgang der Interaktion gerichtet (vgl. Portmann-Tselikas 25 Die Einordnung der verschiedenen Kommunikationsformen auf dieser Skala verschiebt sich je nach Situations- und Partnerbezug und nach kommunikativen Interessen. <?page no="34"?> 34 1998, 29). Sind im Unterricht von der Situation unabhängige Erklärungen oder Begründungen gefordert, so können Gespräche in Monologe übergehen: Solche Beiträge sprengen den Horizont der gemeinsamen Situation und des unmittelbar mitgeteilten Vorwissens; sie nehmen den Charakter einer kürzeren oder längeren Ausführung, Beschreibung, Erläuterung, Erzählung an, mit der entsprechenden Anforderung an ein gewisses Maß an sprachlicher Explizitheit und textueller Organisation. (Portmann 1991, 247) Der sprachliche Duktus von Monologen ist prototypischerweise texthaft, auch wenn Monologe im Medium gesprochener Sprache verankert sind. Monologisches Sprechen ist in der Regel vorstrukturiert und als konzeptuell schriftliche Äußerung geplant. Dies gilt im Unterricht für den traditionellen Lehrervortrag ebenso wie für Referate von Schülerinnen und Schülern. Monologe werden im Unterricht nicht selten unterbrochen und gehen dann meist in Gespräche oder Dialoge über. Sachverhaltsdarstellungen sind nach Kallmeyer/ Schütze (1977) thematischstrukturell geprägt und in interaktiven Kontexten verankert. Sie führen über rein situationsbezogene Sprachhandlungen hinaus und beziehen Informationen ein, die nur jenseits der unmittelbaren Gesprächssituation zu gewinnen sind (vgl. Kallmeyer/ Schütze 1977, 163, 170). 26 Die Sprache ist in Sachverhaltsdarstellungen weitgehend schriftsprachlich geprägt, sie unterscheidet sich von Texten jedoch durch eine geringere Explizitheit und Präzision, was vor allem auf ihren Entstehungszusammenhang im interaktiven Kontext zurückzuführen ist. Selbst da, wo im Unterricht gesprochen wird, erfolgt die Vermittlung und Aneignung von Wissen auf der Grundlage bzw. im Medium von Texten. 27 Texte sind mündlich oder schriftlich realisierte sprachliche Gebilde, die den Ausgangspunkt oder das Endergebnis diskursiver Prozesse der rezeptiven oder produktiven Sprachverarbeitung bilden (vgl. Zydatiß 2005, 159). Diese Prozesse sind durch vielschichtige Aktivitäten der kontextbezogenen Bedeutungs- und Sinnkonstitution gekennzeichnet, die sich im Rahmen bestimmter sozialer und kulturspezifischer Gebrauchsbedingungen entfalten. Die sprachliche Kommunikation mittels Texten ist durch eine maximale Kontextentbindung, eine Anhäufung von Propositionen, durch explizite, grammatisch wohlgeformte Strukturen, durch syntaktisch komplexe Strukturen und ein differenziertes Inventar an Textverknüpfungs- 26 In Sachverhaltsdarstellungen müssen Informationen selektiert (Kondensierungszwang) und explizit mitgeteilt werden (Detaillierungszwang), der dargestellte Sachverhalt muss klar gegen andere Sachverhalte abgegrenzt und in sich geschlossen dargestellt werden (Gestaltschließungszwang) (vgl. Kallmeyer/ Schütze 1977, 162). 27 Zur Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit siehe frühe terminologische Bestimmungen bei Klein (1985) oder die Begriffsdiskussion in den HSK-Bänden „Schrift und Schriftlichkeit” (hrsg. von Günther/ Ludwig 1996). Zur Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sowie zwischen kommunikativen Grundhaltungen im Mündlichen und im Schriftlichen siehe weiters Anhang (Tabelle 2, 3, 4). <?page no="35"?> 35 mitteln gekennzeichnet (vgl. Feilke 2007). Texte repräsentieren Wissensstrukturen und sind daher ein ideales Medium für die Vermittlung und Archivierung von Wissen. 28 Die Tradierung von Wissen mittels Texten ist weder an Situationen noch an die Präsenz von Personen gebunden: Texte sind sprechsituationsüberdauernd, wiederholbar, beständig und autonom. 29 Die situationsgebundene, an Mündlichkeit und Alltagssituationen orientierte Sprache wird im Laufe des Schulalters sukzessive in eine durch abstrakte Denkformen und konzeptuelle Schriftlichkeit geprägte Sprache umgebaut. Das mündliche Sprachvermögen wird dabei nicht einfach verdrängt, sondern den neuen medialen Bedingungen angepasst - mündliche Sprache wird im Medium der Schrift neu konfiguriert (vgl. Feilke 2001, 112). Dadurch wird ein sprachliches Handlungswissen eigener Art erworben (vgl. Feilke 1996, 1181), das nicht nur die schriftlichen, sondern auch die mündlichen Sprachgebrauchsweisen der Lernenden tiefgreifend verändert und prägt. Die Aneignung dieses Wissens wird durch Instruktion, aber auch durch entwicklungsbedingte Faktoren befördert, die mit der literalen Sozialisation in Familie und Gesellschaft eng in Zusammenhang stehen. 28 Siehe Kap. 3.2. 29 Semiotische Zeichensysteme (Kurven, Bilder, Skizzen etc.), die mit Texten in Zusammenhang stehen, sind für das Textverstehen in der Schule zwar vielfach relevant, werden jedoch im Rahmen dieser Arbeit im Sinne von Adamzik (2002) selbst nicht als Texte, sondern als relevante Bestandteile des Gesamtkommunikats betrachtet. <?page no="36"?> 36 3 Literalität und Gesellschaft 3.1 Wahrnehmung, Sprache und Denken in oralen und literalen Kulturen Die literale Entwicklung eines heranwachsenden Kindes vollzieht sich immer im Rahmen eines gesellschaftlich bedingten Sozialisationsprozesses, in dem kulturell geprägte Muster der Wahrnehmung, des Denkens und des sprachlichen Handelns eine bedeutende Rolle spielen. Die Formen des Denkens und des Umgangs mit Sprache bestimmen die Art und Weise, wie Sprache in einer Gesellschaft als „kulturelles Werkzeug” verwendet wird. Das folgende Interview soll zeigen, wie sich das Denken und Sprechen über die Dinge in der Welt in oralen Gesellschaften von jenen in literalen Kulturen unterscheiden kann. Dieses Interview wurde von Luria (1976) in den 30er Jahren in Südrussland geführt, in einer Gegend, in der es damals weder Schrift noch Schulen gab: 30 The following syllogism is presented: In the Far North, where there is snow, all bears are white. Novaya Zemlya is in the Far North and there is always snow there. What colour are the bears there? „There are different sorts of bears.” (Failure to infer from syllogism) The syllogism is repeated. „I don’t know; I’ve seen a black bear, I’ve never seen any others ... Each locality has its own animals: if it’s white, they will be white; if it’s yellow, they will be yellow.” (Appeals only to personal, graphic experience) But what kind of bears are there in Novaya Zemlya? „We always speak only of what we see; we don’t talk about what we haven’t seen.” (The same) But what do my words imply? The syllogism is repeated. „Well, it’s like this: our tsar isn’t like yours, and yours isn’t like ours. Your words can be answered only by someone who was there, and if a person wasn’t there he can’t say anything on the basis of your words.” (Luria 1976, 108 f.) Eine logische Antwort auf solche Fragen müsste doch - so möchte man meinen - jeder Erwachsene, ja sogar jedes Schulkind mühelos geben können. 30 Die von Luria in den 20er und 30er Jahren begründete „soziokulturelle Theorie” fand erst nach der Publikation seiner Studienergebnisse 30 Jahre später breite Beachtung (vgl. Brockmeier 1998, 94). In dieser soziokulturellen Theorie werden die kooperativen Momente des Umgangs zwischen Experten und Novizen betont und die Sprach- und Denkentwicklung eines Kindes als ein wechselseitig aufeinander bezogener Prozess der Instruktion und der Konstruktion betrachtet (vgl. Zydatiß 2005, 158). <?page no="37"?> 37 Dass dies für den Befragten nicht möglich ist, dürfte daran liegen, dass diese Frage für ihn etwas ganz anderes bedeutet als für den, der sie stellt. Der Interviewer bezieht sich mit seiner Frage „[...] what do my words imply? ” auf die Äußerung, der Befragte hingegen auf das Objekt (den Referenten). Der Interviewer spricht über Sprache (metasprachlich), der Interviewte hingegen über Bären (objektsprachlich). Was jeder Angehörige einer literalen Gesellschaft vermutlich sofort bemerken würde, das erkannte der Befragte hier nicht, dass er nämlich, allein aufgrund logischen Denkens, zu einem richtigen Schluss hätte kommen können, unabhängig davon, ob er Novaja Semlija und die dort lebenden Eisbären kennt oder nicht. Dem Befragten war das alltagsabgewandte, abstrakte Denken, das „literaten Denkern” (Wells/ Chang/ Maher 1990) völlig geläufig ist, offenbar nicht vertraut - er ist es nicht gewohnt, in solchen Fragen eine „Denkaufgabe” zu sehen (vgl. Portmann-Tselikas 1998, 26). Luria hat auch in Kasachstan und Usbekistan Feldforschungen durchgeführt, in denen er nicht alphabetisierte Erwachsene interviewt hat. So hat er beispielsweise vier Objekte genannt - eine Säge, ein Beil, einen Hammer und ein Stück Holz - und die ProbandInnen gefragt, welcher Gegenstand ihrer Meinung nach nicht dazu passen würde. Die Befragten sahen meist nicht im Stück Holz das „unpassende” Objekt, denn es bot sich ihrer Ansicht nach dafür an, es mithilfe der genannten Werkzeuge zu bearbeiten (vgl. Luria 1976, 55 ff.). Stellt man ProbandInnen literaler Kulturen diese Frage, so wird in der Regel im Holz das unpassende Objekt gesehen, mitunter auch im Hammer. Dieser Zuordnung liegt eine Systematisierung anhand abstrakter Kategorien zugrunde, die am Ordnungsprinzip der Wortfamilie „Werkzeuge” bzw. an der Wortlänge der einzelnen Wörter orientiert ist. Denkaufgaben dieser Art werden von Angehörigen literaler Kulturen somit meist mit Rückgriff auf abstrakte, logisch-kausale Wahrnehmungs- und Denkmuster gelöst. Sprache wird dabei nicht nur als ein Mittel der Kommunikation im Alltag, sondern auch als ein Objekt und als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung betrachtet. In oralen Gesellschaften spielen konkret erlebbare, praktische Kontexte des Alltags hingegen eine zentrale Rolle und die Aufmerksamkeit der Sprechenden liegt stärker auf den verwendeten Worten als auf den damit bezeichneten Objekten (vgl. Olson/ Astington 1990, 710). Members of traditional societies are quite capable of drawing inferences from premises which they regard as realistic and empirical but not from ones which they regard as purely theoretical and with which they have no acquaintance. (Olson/ Astington 1990, 709) In oralen Gesellschaften werden zahlreiche Funktionen des Kommunikationsmediums Schrift durch Mittel der gesprochenen Sprache ersetzt; es gibt eine Reihe verschiedener Diskursgenres und funktional spezialisierter Textsorten, die in literalen Gesellschaften nicht vorkommen (vgl. Brockmeier 1998, 192). Literale Diskursformen sind in Schriftkulturen aber dennoch bei <?page no="38"?> 38 weitem differenzierter und werden nicht nur häufiger, sondern auch intensiver genutzt (vgl. Brockmeier 1998, 286 f.). Es existiert ein breites Repertoire an sprachlichen Formen und Strukturen, das nur unter den Bedingungen von Schriftsprachlichkeit entwickelt werden kann und auch nur in diesem Kontext verständlich ist (vgl. Feilke 2001, 112). 3.2 Archivierung, Tradierung und Konstitution von Wissen in literalen Gesellschaften In literalen Gesellschaften erfolgt die Archivierung und Tradierung von Wissen hauptsächlich im Medium der Schrift und in Texten. Texte sind eine unaufwändige Form der Speicherung von großen und komplexen Wissensbeständen. Sie erlauben es, ein umfangreiches „kulturelles Gedächtnis” in einer Gesellschaft zu etablieren. Die Verschriftlichung von Wissen im Medium von Texten dient jedoch nicht nur der Archivierung und Tradierung von Wissen, sondern auch der Konstitution und der Evolution von Wissen (vgl. Antos 1997). Sie ist eine [...] Bedingung für die Möglichkeit, Wissen explizit zu machen, es zu segmentieren, zu differenzieren und zu detaillieren, es auffindbar zu gestalten [...], es in neue Zusammenhänge zu stellen, es zu überprüfen, zu bewerten, zu korrigieren, neu zu strukturieren, neue Schlüsse aus bekanntem Wissen zu ziehen und im Hinblick auf jeweils neue situative und soziale Verhältnisse sprachlich neu zu präsentieren. (Antos 1997, 52) Texte ermöglichen also auch eine Transformation und Weiterentwicklung von Wissen sowie eine Orientierung in komplexen Wissensgebieten: The advent of literacy many centuries ago began to change the very nature of the human societies that used it, opening new ways of constructing and ordering information, and making possible the development of new discoveries of many kinds. Literacy both changes the nature of human societies and is changed by them. As we fast approach the twenty-first century, it is already clear that literacy is again rapidly changing, bringing about other changes in the ways we construct and order information. In the process literacy change will no doubt open the way to many as yet unimagined means of constructing and communicating information. (Christie/ Misson 1998, 4) Auch in oralen Kulturen existieren differenzierte Texttraditionen und komplexe Verfahren der Speicherung, Weitergabe und Konstituierung von Wissen. 31 Der damit verbundene Aufwand ist jedoch bei weitem größer als in Kulturen, die über Schrift verfügen - und wird meist auch nur dann unter- 31 Hinweise auf differenzierte Texttraditionen in oralen Gesellschaften geben z.B. Ehlich (1989) und Ong (1982). So weist etwa Ong darauf hin, dass Redeweisen, Sprichwörter und formelhafte Kommentare auch in oralen Gesellschaften von großer Bedeutung sind, da sie als Minimaltexte die alltägliche Kommunikation anleiten und absichern (vgl. Portmann 1991, 245). <?page no="39"?> 39 nommen, wenn es sich um elementare Bedürfnisse oder um gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse handelt. Es gibt aber auch Gesellschaften, die zwar über Schrift verfügen, aber davon nur eingeschränkt Gebrauch machen: 32 So setzen etwa die afrikanischen Vai oder die kanadischen Cree Schrift nur für persönliche Aufzeichnungen und Briefe ein; die Tradierung gesellschaftlichen Wissens erfolgt ausschließlich mündlich (vgl. Brockmeier 1998, 206). Schrift ist somit nur eine Option, um gesellschaftliches Wissen niederzulegen und zu tradieren. Die spezifischen Möglichkeiten der Archivierung, Tradierung und Konstitution von Wissen in schriftlichen Texten scheinen in einer Gesellschaft nur dann genutzt zu werden, wenn auch ein soziales Bedürfnis danach besteht. Dieses Bedürfnis zeigt sich vor allem im Interesse an Institutionen, die darauf spezialisiert sind, Wissen anhand von schriftlichen Texten zu gewinnen und zu vermitteln. Eine der wichtigsten Institutionen, die dies leistet, ist die Schule: „Die Schule entsteht als Institution mit der Umstellung des Lernens von einem ‚learning by doing’ zu einem Lernen aus Texten.” (Feilke 2007, 20) Die Schule nimmt damit eine Schlüsselposition in einer literalen Gesellschaft ein. 3.3 Literalität und soziokulturelle Kontexte 3.3.1 Die soziokulturelle Wende in der „Literacy”-Diskussion Literalität wird seit Beginn der 80er Jahre in der Literacy-Forschung nicht mehr bloß als ein individuelles, sondern vielmehr als ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen betrachtet. Ausgangspunkt dieses Paradigmenwechsels war die Erkenntnis, dass sich die literale Entwicklung eines heranwachsenden Kindes immer im Rahmen von gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexten vollzieht. Dies hat zu einer Relativierung der ursprünglich verbreiteten Auffassung von Literatheit als einem Kennzeichen westlicher, schriftkundiger Menschen, die sich von Angehörigen mündlicher, „primitiver” Gesellschaften durch größere intellektuelle Fähigkeiten unterscheiden, geführt (vgl. Goody/ Watt 1962). 33 In der Folge sind zahlreiche interdisziplinäre Forschungsarbeiten entstanden („New Literacy Studies”), deren gemeinsamer Bezugspunkt in der Auffassung besteht, dass 32 Dies gilt vor allem für Gesellschaften mit eingeschränkten Bildungsangeboten, wo der Zugang zu Bildung aufgrund regionaler, sozialer oder ökonomischer Umstände schwierig bzw. kaum möglich ist. 33 Stellvertretend sei hier Hallpike (1990) genannt, der „primitiven Gesellschaften” lediglich Fähigkeiten des so genannten „präoperativen Denkens” zuschreibt. Damit wurde die lange Zeit vorherrschende Gegenüberstellung von alphabetisierten/ literaten/ entwickelten und nichtalphabetisierten/ illiteraten/ unterentwickelten bzw. „primitiven” Gesellschaften aufgehoben. Diese Unterscheidung lag vielen psychologischen und anthropologischen Ansätzen bis dahin zugrunde (vgl. Olson/ Astington 1990, 709). <?page no="40"?> 40 sich literale Fähigkeiten immer in Abhängigkeit von soziokulturellen Kontexten entwickeln, die mit der sozialen Identität eines Individuums in einem engen Zusammenhang stehen: Literacies are multiple not only in terms of their historical, cultural, and linguistic diversity, but also in terms of the demands made by the various media, symbol systems, standards, and effects involved in multimodal textual communication (Kress 2000). This multiplicity of literacies means that competence cannot be absolute but only relative to specific contexts, communities, and practices. Because literacies are social practices, they are crucially linked to social identities. As Gee (1996) discussed, when people learn new practices they learn new values, new norms, and new ways of seeing the world (and themselves in relation to it). (Kern/ Schultz 2005, 383). Das ursprüngliche Begriffsverständnis von literate als Bezeichnung für eine Person, die lese- und schreibkundig ist, wurde also neu definiert: Literat sein bedeutet, in der Lage zu sein, eine schriftsprachlich geprägte Sprache im jeweiligen gesellschaftlichen und sozialen Kontext zu verstehen und zu verwenden, d.h. mit unterschiedlichen Optionen der geschriebenen und gesprochenen Sprache in einer Schriftkultur kompetent umgehen und über sie als „kulturelle Werkzeuge” verfügen zu können (vgl. Brockmeier 1998, 201). Dies setzt nicht nur sprachliche und kognitive, sondern auch kommunikative und soziale Kompetenzen voraus, die mehr umfassen als bloß Schriftkundigkeit - sie erfordern die Kenntnis kulturspezifischer und sozialer Gebrauchszusammenhänge von Sprache (Kern 2000, 4). Literale Fähigkeiten zu entwickeln bedeutet demnach nicht nur Lesen und Schreiben zu lernen, sondern auch die Fähigkeit auszubilden, sich am literalen Diskurs einer Gesellschaft im jeweiligen soziokulturellen Kontext zu beteiligen. 34 Seit Beginn der 90er Jahre entstand eine Reihe von Forschungsarbeiten, in denen soziologische und kulturwissenschaftliche mit linguistischen Fragen verknüpft wurden (z.B. Street 1995, 1997; Baynham 1995; Barton 1994). Die Arbeiten zum Zweitspracherwerb, die in diesem Kontext entstanden, orientierten sich überwiegend an der von Vygotsky (1978) und Bruner (1977) postulierten „social interaction theory”, die davon ausgeht, dass sich die kommunikativen Kompetenzen eines Kindes in Übereinstimmung mit sozial vorgegebenen und akzeptierten Normen und Werten einer Gesellschaft entwickeln (vgl. Minami/ Ovando 2001, 430). Dadurch sollte auch deutlich gemacht werden, dass die literalen Praktiken in der Schule mit den soziokulturellen Normen einer Gesellschaft und der Vergabe von Ressour- 34 Aktuell wird der Begriff „literacy” im angloamerikanischen Raum generell für Schriftkundigkeit verwendet, auch im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Implikationen und der Entwicklung von schriftsprachlichen Kommunikationsformen (vgl. Thonhauser 2007); teilweise aber auch für „Know-how” in ganz spezifischen Bereichen (z.B. „financial literacy”, „IT-literacy”). Im Bezug auf den schulischen Kontext wird häufig der Begriff „school literacy” (Macken Horarik 1998) gebraucht. Der Begriff Literacy steht nicht im Gegensatz zu „Textkompetenz”, sondern ist konzeptuell lediglich etwas umfassender bzw. teilweise auch spezialisierter gefasst. <?page no="41"?> 41 cen und Bildungschancen in einem engen Zusammenhang stehen (vgl. Street 1995, 110): Societies differ in the way they distribute their communicative resources, while at the same time social classes and individuals within these classes differ in the extent to which they have access to these resources. As such, schooling rather than literacy can be regarded as the most important resource for social organization and economic advancement. (Verhoeven 1994a, 13) In vielen dieser Arbeiten wird daher vielfach die Auffassung vertreten, dass die schulisch etablierten Formen des Umgangs mit Schriftsprache in westlichen Gesellschaften die von Mittelschichtfamilien widerspiegeln, d.h. dass die literalen Praktiken 35 in der Mittelschichtfamilie als Modell und als Norm für literale Praktiken in der Schule gelten (vgl. Street 1995, 104; vgl. Irvine/ Larson 2001, 52). Ehlich/ Rehbein (1986, 172) bezeichnen die Schule daher als eine „Mittelschichtinstitution”, die das zu vermittelnde Wissen den sozialen Normen der Mittelschicht entsprechend auswählt und reproduziert. 36 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind im Aufnahmeland nicht nur mit einer neuen Sprache, sondern vielfach auch mit soziokulturell und schichtspezifisch geprägten literalen Praktiken konfrontiert, die ihnen fremd sind. [...] children who receive literacy instruction in a second language are faced with a dual task: as well as the characteristics of written language, they will have to learn an unfamiliar language, referring partly to an unfamiliar cultural background. (Verhoeven 1997, 220) Um die schulischen Anforderungen bewältigen zu können, müssen Zweitsprachenlernende daher nicht nur über Sprach- und Textkompetenz, sondern auch über ein Wissen um die spezifischen Gebrauchszusammenhänge schriftsprachlicher Kommunikation im jeweiligen soziokulturellen Kontext verfügen und jene literalen Praktiken beherrschen, die das Fundament für einen erfolgreichen Wissenserwerb in der Schule bilden. 3.3.2 Soziale Herkunft, Literalität und Schulerfolg In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien durchgeführt, in denen der Einfluss von sozialen, sozioökonomischen und soziokulturellen Faktoren auf die literale Entwicklung und den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund untersucht wurde (Minami/ Ovando 2001, 427; Peltzer-Karpf et al. 2003; Akkuş/ Brizić/ de Cillia 2005; Brizić 2003, 2006a; 35 Der Begriff „literale Praktiken” wird seit Beginn der 80er Jahre in Arbeiten verwendet, die soziologische, anthropologische und linguistische Ansätze verknüpfen (vgl. Thonhauser 2002, 47). Gemeint ist damit die Praxis im Umgang mit Texten. 36 In einer Untersuchung von Williams (1998) konnten auch starke Ähnlichkeiten zwischen den literalen Praktiken in Mittelschichtfamilien und jenen in Kindergärten festgestellt werden. <?page no="42"?> 42 Bacher 2006; Wrobleski 2006). In diesen Arbeiten wird meist davon ausgegangen, dass ein enger Zusammenhang zwischen den schulischen Leistungen und der sozialen Herkunft bzw. dem sozioökonomischen Status der Schülerinnen und Schüler besteht und Kinder mit Migrationshintergrund von den negativen Auswirkungen dieser Korrelation überproportional stark betroffen sind. Auf den engen Zusammenhang zwischen den literalen Fähigkeiten und dem sozioökonomischen Status der Familie von Kindern mit Migrationshintergrund hat Verhoeven schon Ende der 90er Jahre hingewiesen (Verhoeven 1997). Er hat Kinder im Vorschulalter untersucht und konnte große Unterschiede zwischen Angehörigen der Mittel- und Unterschicht feststellen - erstere sind nach Verhoeven vor allem im Bereich ihrer metalinguistischen Fähigkeiten signifikant besser als letztere. Lesemann (1997) hat die Textkompetenz von Erwachsenen untersucht und ihr literales Umfeld in ihrer Kindheit erhoben. Er konnte einen Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Situation in der Familie und der Textkompetenz im Erwachsenenalter nur dann feststellen, wenn es sich um Erwachsene mit einer sehr geringen oder mit einer sehr hohen Textkompetenz handelte: Erstere stammten überwiegend aus sozial niedrigeren Schichten, letztere aus sozial höheren Schichten; dazwischen gab es eine große Bandbreite an Korrelationen zwischen dem Sozialstatus und den schriftsprachlichen Kompetenzen der Probandinnen und Probanden. Rüesch (1998) hat den Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf den Lernerfolg von Zweitsprachenlernenden in der dritten Schulstufe untersucht und kam zum Ergebnis, dass sie in ihren Leseleistungen auch dann hinter einheimischen Kindern zurücklagen, wenn sie unter ähnlichen sozioökonomischen Bedingungen aufgewachsen sind. Gibbons et al. (1999) zufolge können auch Zweitsprachenlernende aus sozial benachteiligten Familien in der Schule erfolgreich sein. Dies ist auch das Ergebnis einer Studie von Peltzer-Karpf et al. (2003), derzufolge auch Migrantenkinder aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen in der Lage sind, anspruchsvolle Texte zu verstehen bzw. selbst kohärente Texte mit komplexen Satzstrukturen zu produzieren (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 282 ff.). Reich/ Roth (2002, 28) kommen in ihrer überblicksartigen Auswertung von Forschungsarbeiten, die sich mit dem Zusammenhang von soziokulturellen und sozioökonomischen Faktoren und dem Schulerfolg von Zweitsprachenlernenden beschäftigen, zum Schluss, dass die soziale Zugehörigkeit von Migrantenkindern zwar höchst relevant ist, jedoch auch andere Faktoren für den Schulerfolg von Bedeutung sind. Brizić kommt in einer soziolinguistischen Langzeituntersuchung (2003) zum Ergebnis, dass der sozioökonomische Hintergrund für den Lernerfolg in der Zweitsprache hoch signifikant ist; das betrifft insbesondere den Beruf <?page no="43"?> 43 und den Bildungshintergrund der Eltern, 37 deren Einkommen, die soziale Positionierung und auch die Wohnverhältnisse der Familie (vgl. Brizić 2003, 37; Weiss 2006, 30). Auch das Sprachprestige der Herkunftssprache und die Tatsache, ob diese Sprache eine Minderheiten- oder eine Mehrheitssprache im Aufnahmeland ist, hat einen großen Einfluss auf die Bewertung der eigenen Sprache der MigrantInnen sowie auf das Sprachverhalten und die Motivation, eine Zweitsprache zu lernen (vgl. Brizić 2006a). In einer neueren soziolinguistischen Untersuchung hat Brizić herausgefunden, dass die sozioökonomische Positionierung der Familie den Bildungsweg der Kinder in der Migration stärker bestimmt als ihre individuell vorhandenen Potentiale (vgl. Brizić 2006a, 63). Auch jüngere Analysen auf der Basis von ECHP- 38 und PISA-Daten haben ergeben, dass die soziale Herkunft und der sozioökonomische Status eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Bildungsungleichheiten spielen (vgl. Bacher 2006, 13); dies bestätigen auch die jüngsten Ergebnisse von PISA 2006 (OECD 2007). Es ist somit von einem durchaus starken Zusammenhang zwischen dem schulischen Erfolg und der sozialen und sozioökonomischen Positionierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auszugehen, aber auch davon, dass Chancen auf Bildungserfolg bei ausreichender Förderung trotz sozialer Benachteiligung gegeben sind - diesen Handlungsspielraum gilt es für die Didaktik zu nutzen. 37 Das Bildungscurriculum der Eltern wirkt sich vor allem auf die Entwicklung der Erstsprache der Kinder aus, die einen wichtigen Faktor für den Schulerfolg darstellt (s. Kap. 4). Auch im Bezug auf die Deutschkenntnisse konnte ein Zusammenhang zum Bildungsniveau der Eltern festgestellt werden: Kinder, deren Eltern nur die Pflichtschule besucht hatten, waren in der Schule signifikant schlechter als Kinder, deren Eltern einen Gymnasialbzw. Studienabschluss hatten (vgl. Brizić 2003). 38 In der ECHP-Studie (European Community Household Panel) wurde die Bildungsbeteiligung von 16bis 19-Jährigen im Zeitraum von 1996 bis 1999 untersucht. In die Analyse einbezogen wurden ca. 1400 ProbantInnen (vgl. Bacher 2006, 10 f.). <?page no="44"?> 44 4 Die Rolle der Erstsprache für das zweitsprachliche Lernen 4.1 Die Erstsprache als Basis der Zweitsprache Die meisten der derzeit gängigen Förderprogramme für Zweitsprachenlernende in der Schule sehen eine allgemeine Sprachförderung in der Zweitsprache vor, die außerhalb des regulären Unterrichts stattfindet. Diese Form der Sprachförderung hat sich vielfach ebenso wenig bewährt wie ein Unterricht in sprachlich homogenen Gruppen, in denen Zweitsprachenlernende mit derselben Herkunftssprache zusammengeführt werden. Der Übertritt in die Regelklassen verläuft für Lernende, die diese Form der Sprachförderung durchlaufen, meist sowohl sprachlich als auch sozial und im Bezug auf den Lernerfolg problematisch (vgl. Reich/ Roth 2001, 25). Auch der seit Beginn der 90er Jahre europaweit eingeführte „Muttersprachliche Unterricht” 39 (Herkunftssprachenunterricht) hat die Erwartungen in den letzten Jahren vielfach nicht erfüllt. Empirische Untersuchungen zur Effizienz dieses Unterrichts haben gezeigt, dass diese Unterrichtsform zwar Fortschritte in der allgemeinen Sprachkompetenz in der Erstsprache, aber meist keine Steigerung der schulischen Leistungen in der Zweitsprache bewirkt (vgl. de Bot/ Driessen/ Jungbluth 1989, 1991). 40 Dies liegt vor allem daran, dass: • eine Didaktik des Herkunftssprachenunterrichts bisher nur in Ansätzen entwickelt ist (vgl. Belke 2001; Siebert-Ott 2001); • der Herkunftssprachenunterricht in der Regel nicht mit dem Unterricht in der Zweitsprache in den verschiedenen Sprach- und Sachfächern 41 koordiniert ist; • der Herkunftssprachenunterricht primär in Form einer allgemeinen Sprachförderung erfolgt und nicht gezielt auf eine Förderung der Textkompetenz hin ausgerichtet ist. Eine Förderung der Erstsprache ist dennoch von großer Bedeutung, denn: • eine kontinuierliche Entwicklung der Erstsprache lässt positive sprachliche und kognitive Effekte erwarten; eine unterbrochene Entwicklung 39 Die Bezeichnung „Muttersprache” ist nicht immer zutreffend, vor allem dann nicht, wenn es sich um Lernende der zweiten oder der dritten Einwanderergeneration handelt, die bereits im Zielsprachenland geboren sind. In dieser Arbeit wird diese Bezeichnung dennoch als Synonym für den Begriff „Erstsprache” verwendet. 40 Es gibt derzeit noch keine systematische Evaluierung der verschiedenen Förderansätze - dies gilt für den Muttersprachenunterricht ebenso wie für den Förderunterricht in der Zweitsprache (vgl. Wroblewski 2006, 48). 41 Im Rahmen dieser Arbeit wird die Mathematik den Sachfächern zugeordnet. <?page no="45"?> 45 der Erstsprache hingegen beeinträchtigt die allgemeine kognitive und sprachliche Dynamik (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003); sie kann dazu führen, dass Zweitsprachenlernende beide Sprachen nur mangelhaft beherrschen und halbsprachig werden (Semilingualismus) 42 bzw. die Zweitsprache nicht mehr weiter ausbauen (Fossilisierung) (vgl. Durgunoğlu/ Verhoeven 1998b, xiii). • Eine solide erstsprachliche Entwicklung stärkt das Selbstvertrauen der Lernenden, eine neue Sprache zu lernen - sie wirkt sich positiv auf die Einstellung gegenüber der Zweitsprache und auf den Zweitspracherwerb aus (vgl. Schiesser/ Theurl 2001; vgl. Brizić 2006a, 67). Erfolgreiche Zweitsprachenlernende sind in der Regel hoch motiviert, ihre Erstsprache zu verwenden und weiter auszubauen (vgl. Brizić 2006a, 54). 43 • Migrantenkinder, die in ihrer Erstsprache alphabetisiert wurden, erwerben einen größeren und differenzierteren Wortschatz und schreiben variationsreichere Texte in der Zweitsprache (vgl. Brizić 2003, 31). • Kognitive Operationen, die in der Schule gefordert sind (z.B. das Rechnen), werden von den Zweitsprachenlernenden vielfach in ihrer Erstsprache durchgeführt, wenn sie diese bereits in der Schule in ihrem Herkunftsland kennen gelernt haben (vgl. Oomen-Welke 2006). 44 Eine Berücksichtigung der Erstsprache im Unterricht könnte dazu beitragen, dass das erstsprachlich erworbene Wissen für Lernaufgaben in der Zweitsprache besser genutzt werden kann. • Eine stabile Erstsprache, in der auch schriftsprachliche Kompetenzen aufgebaut wurden, stellt ein wichtiges Fundament für das Lernen in der Zweitsprache dar (vgl. Baur/ Meder 1992). Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die in der Schule geforderte Textkompetenz von der Erstin die Zweitsprache transferiert werden kann. Nach Brizić (2006b) ist das so genannte sprachliche Kapital für den Zweitsprachenerwerb und den schulischen Erfolg von Migrantenkindern höchst 42 Der Begriff „Semilingualismus” oder „Halbsprachigkeit” wurde von Hansegård (1968) in die Diskussion eingebracht, er wurde im englischsprachigen Raum als „semilingualism” und später auch als „doppelte Halbsprachigkeit” zum Teil sehr kontrovers diskutiert (vgl. Ott 2003, 197). Semilingualismus bedeutet, dass die sprachliche Entwicklung in beiden Sprachen nicht altersgemäß verläuft und weder die Erstnoch die Zweitsprache vollständig erworben werden kann. 43 Brizić (2006a, 54) konnte zeigen, dass nicht die schwachen, sondern vielmehr die erfolgreichen Deutschlernenden am höchsten motiviert waren, ihre Muttersprache gut zu beherrschen, während die schwachen Deutschlernenden diejenigen mit der höchsten Motivation für das Deutschlernen waren. 44 Aus einer von Oomen-Welke (1999) durchgeführten Kurzbefragung von 170 zweisprachigen Elternpaaren geht etwa hervor, dass durchschnittlich 72 % der Befragten in ihrer Erstsprache rechnen (bei 0-5 Jahren Aufenthalt: 87,5 %, bei 6-10 Jahren Aufenthalt: 86,7 %, bei 11-15 Jahren Aufenthalt: 61,5 %, bei über 15 Jahren Aufenthalt: 64 %). Nach Gogolin et al. (2004, 151) kommen Lernende, die bereits über längere schulbezogene Erfahrungen in ihrer Erstsprache verfügen, mit mathematischen Textaufgaben besser zurecht als Lernende, die in der Zweitsprache eingeschult wurden. <?page no="46"?> 46 relevant. Damit ist jene Sprachkompetenz gemeint, die die Eltern im Laufe ihrer Sozialisation erwerben und an ihre Kinder weitergeben. Eltern geben ihre eigene Muttersprache speziell dann an ihre Kinder weiter, wenn sie in ihrem eigenen Spracherwerb günstige gesellschaftlich-politische Bedingungen genossen haben. Eltern aber, die selbst unter großen Benachteiligungen zu leiden hatten, neigen stark dazu, die Muttersprache aufzugeben, um ihren Kindern diese Benachteiligungen zu ersparen. (Brizić 2006b, 35) Der Erstspracherwerb der Eltern ist auf diese Weise mit dem Zweitspracherwerb der Kinder über die „Klammer” der gesellschaftlich-politischen Bedingungen eng verbunden. Kinder, deren Eltern die Erstsprache auf bildungssprachlichem Niveau beherrschen, schneiden nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auch in der Zweitsprache besser ab als Kinder, deren Eltern sich die Muttersprache nicht auf diesem Niveau angeeignet haben (vgl. Brizić 2006a, 61). 45 Knapp (1997) konnte in seiner Analyse von Erzähltexten zeigen, dass die Fähigkeit des Erkennens von narrativen Mustern und das Herstellen von Textkohärenz bei Migrantenkindern, die erst im Zielsprachenland eingeschult wurden, schlechter entwickelt war als bei Lernenden, die schon einen Teil ihrer Schulzeit im Herkunftsland verbracht hatten, obwohl erstere im grammatikalischen und lexikalischen Bereich bereits ein höheres Niveau erreicht hatten als die später eingewanderten Schülerinnen und Schüler (vgl. Knapp 1997, 159). Die im Zielsprachenland geborenen Lernenden verfügten nicht nur über eine geringere Erzählkompetenz, sie konnten ihre Texte auch nicht in derselben Weise sprachlich differenziert gestalten. Jene Lernenden, die literale Fähigkeiten bereits in ihrer Erstsprache aufbauen konnten, hatten einen entscheidenden Vorteil gegenüber jenen, die diese Fähigkeit erst in der Zweitsprache entwickeln mussten (vgl. Knapp 1997, 206). Am besten schnitten diejenigen ab, die in ihrem Herkunftsland bereits vier Jahre lang die Schule besucht hatten - sie waren anderen, die nur zwei Jahre in ihrem Herkunftsland in der Schule waren und auch jenen, die erst im Zielsprachenland eingeschult wurden, deutlich überlegen. Genesee (1983) ist bereits Anfang der 80er Jahre zu ähnlichen Resultaten gelangt: Schülerinnen und Schüler erreichten nach nur einem Jahr Immersionsunterricht in der 7. Schulstufe bessere Leistungen als Lernende nach drei Jahren Immersionsunterricht, beginnend mit der ersten Schulstufe. Die später eingeschulten SchülerInnen erbrachten vor allem dann bessere Leistungen, wenn schriftsprachliche Kompetenzen gefordert waren. Auch 45 Eltern aus der Türkei, deren Erstsprache als Minderheitensprache vom Sprachverlust bedroht ist, verwenden vielfach Türkisch als Familiensprache, eine Sprache, die sie selbst nur eingeschränkt beherrschen. Sie sind daher oft auch nicht in der Lage, z.B. Märchen und Erzählungen an ihre Kinder weiterzugeben, da sie das Türkische nicht ausreichend beherrschen (vgl. Brizić 2006b, 35). Die Kinder erhalten auf diese Weise nicht jenen funktional differenzierten Input, den sie brauchen würden, um jene literalen Fähigkeiten in ihrer Erstsprache aufzubauen, die sie für einen erfolgreichen Wissenserwerb in der Schule benötigen würden (vgl. Brizić 2006a, 61). <?page no="47"?> 47 Verhoeven/ Aarts (1998) konnten zeigen, dass später eingewanderte Schülerinnen und Schüler bessere schulische Leistungen als SchülerInnen erbrachten, die ihre gesamte Schulzeit im Zielsprachenland verbracht hatten. Auch neueren soziolinguistischen Studien zufolge ist ein mehrjähriger Schulunterricht in der Erstsprache eine gute Voraussetzung dafür, dass die in der Schule geforderten Leistungen in der Zweitsprache erbracht werden können (vgl. Brizić 2003, 34). Eine Förderung der allgemeinen Sprachkenntnisse in der Erst- oder der Zweitsprache, wie sie bislang meist praktiziert wird, greift daher als Maßnahme zur Verbesserung der schulischen Leistungen in der Zweitsprache vielfach zu kurz: Gefordert ist vielmehr eine gezielte Förderung der Textkompetenz in der Erst- und in der Zweitsprache. Ausgehend davon, dass die in der Erstsprache entwickelte Textkompetenz auch für den Wissenserwerb in der Zweitsprache genutzt werden kann, stellt sich die Frage, wie ein Transfer von der Erstin die Zweitsprache vorstellbar ist, aus welchen sprachenübergreifenden Teilkomponenten Textkompetenz besteht und wie diese in Sprachverarbeitungsprozessen aufeinander wirken und interagieren. Zunächst werden jene Hypothesen erläutert und diskutiert, die den fachlichen Diskurs in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren weitgehend bestimmt haben. 4.2 Interaktive und kognitiv-akademische Sprachkompetenz Ein wichtiger Anstoß für die Diskussion über den Einfluss der Erstsprache auf die schulischen Leistungen in der Zweitsprache kam von Cummins (1979, 1991). 46 Im Zentrum seines Interesses stand die Frage, wie die häufig auftretenden schulischen Probleme von Zweitsprachenlernenden erklärt werden können. Ausgehend von der Annahme, dass ein starker Zusammenhang zwischen der Erst- und der Zweitsprache besteht, 47 hat sich Cummins zunächst auf die Forschungsarbeiten von Skutnabb-Kangas/ Toukomaa 46 Die Hypothesen von Cummins wurden im bildungspolitischen Bereich breit rezipiert und führten dazu, dass in vielen Ländern ein Herkunftssprachenunterricht eingeführt wurde. Diese Programme wurden jedoch nie flächendeckend realisiert, mittlerweile wurden sie an vielen Orten bereits wieder zurückgenommen. 47 In den meisten Untersuchungen, die sich auf die Cummins’schen Hypothesen beziehen, wird nach dem Verhältnis der Kompetenzen in den beiden Sprachen gefragt. Das Spektrum dieser Untersuchungen reicht von einfachen Fehlerzählungen über Wortschatzerhebungen bis hin zu Analysen von Sprech- und Schreibproduktionen im Hinblick auf grammatische, lexikalische und pragmatische Aspekte (vgl. Reich/ Roth 2001, 15). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können mehrheitlich als Bestätigung der Hypothesen von Cummins im Bezug auf den postulierten Zusammenhang der erst- und der zweitsprachlichen Entwicklung interpretiert werden (vgl. Preibusch/ Kröner 1987; Reich 2000). <?page no="48"?> 48 (1976) gestützt, 48 denen zufolge Zweitsprachenlernende meist genügend Input aus ihrer zielsprachlichen Umgebung erhalten, um relativ rasch ein gutes Niveau der mündlichen Sprachkompetenz in der Zweitsprache zu erreichen, jedoch aufgrund mangelnder schriftsprachlicher Fähigkeiten nicht in der Lage sind, die schulischen Anforderungen zu meistern. Knapp (1997) spricht in diesem Zusammenhang von „verdeckten Sprachschwierigkeiten”, die von den Lehrenden oft nicht erkannt werden. Die gut entwickelten alltagsbezogenen, mündlichen Interaktionsfähigkeiten täuschen darüber hinweg, dass Zweitsprachenlernende mit den schriftsprachlichen Anforderungen nicht zurande kommen. Es wird daher fälschlicherweise von den Lehrenden vielfach angenommen, dass die Zweitsprachenlernenden dem Unterricht bereits mühelos folgen können und in der Lage sind, die geforderten schulischen Leistungen zu erbringen. Diese Kluft zwischen den alltagsbezogenen mündlichen Sprachfähigkeiten und den schriftsprachlichen Kompetenzen wurde von Cummins (1996) auch in einer Langzeituntersuchung belegt, derzufolge Zweitsprachenlernende schon nach ungefähr zwei Jahren ungesteuerten Spracherwerbs in der Lage sind, sich im Alltag gut zu verständigen, jedoch durchschnittlich fünf bis sieben Jahre brauchen, um schulisch einigermaßen mithalten zu können. Daraus ergibt sich eine Spanne von mehreren Jahren, in der die SchülerInnen in ihren Möglichkeiten, die Lernanforderungen im Unterricht zu bewältigen, falsch eingeschätzt werden können. Cummins unterscheidet daher zwischen den alltagsbezogenen Interaktionsfähigkeiten (basic interpersonal communication skills = BICS) und der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit (cognitive-academic language proficiency = CALP) (vgl. Cummins 1979). 49 Alltagsbezogene Interaktionsfähigkeiten kommen nach Cummins vor allem in situativ eingebetteten, mündlichen Situationen zum Tragen (vgl. Cummins 1979). Es handelt sich dabei prototypischerweise um Gespräche, in denen sich die InteraktionspartnerInnen in einem gegenseitig bekannten Kontext bewegen. Die Bedeutung des Gesagten ist aus der Situation, aus nonverbalen und paraverbalen Signalen sowie mithilfe des Vorwissens der am Gespräch Beteiligten erschließbar. 50 48 Untersucht wurden SchülerInnen mit Finnisch als Erstsprache und Schwedisch als Zweitsprache. 49 Diese Unterscheidung wurde vielfach kritisiert; so findet etwa Wode (1995, 143), dass die von Cummins postulierte Trennung zwischen den beiden Kompetenzbereichen zu scharf und daher psycholinguistisch nicht haltbar sei. Zydatiß (2000, 96) plädiert dafür, die Kompetenzbereiche auf einer Skala anzusiedeln, die dynamische Wechselbeziehungen erlaubt. Cummins selbst nimmt von der ursprünglich strikten Trennung der Kompetenzbereiche (Cummins 1979) in späteren Arbeiten Abstand (Cummins 1991). 50 Cummins ersetzt den Begriff der „basic interpersonal communicative skills” später durch „conversational language proficiency” (Cummins 2000, 75), um deutlich zu machen, dass auch im alltagsbezogenen, mündlichen Sprachgebrauch ein anspruchsvoller, dekontextualisierter Sprachgebrauch gefordert sein kann. <?page no="49"?> 49 Das Lernen in der Zweitsprache erfordert nach Cummins kognitivakademische Sprachkompetenz (vgl. Cummins 1979), die er als eine allgemeine Basiskompetenz (common underlying proficiency = CUP) und als die zentrale Grundlage des Lernens ansetzt (vgl. Cummins 1979, 197, 1991, 77 ff.). Diese Fähigkeit macht es seiner Auffassung nach erst möglich, abstrakte, nicht aus der Situation erschließbare Inhalte zu verstehen bzw. darzustellen. Mit der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz sieht Cummins höhere kognitive Anforderungen verbunden als mit der alltagsbezogenen Interaktionsfähigkeit. Der Entwicklungsstand dieser Fähigkeit in der Erstsprache bestimmt seiner Ansicht nach die Lernmöglichkeiten in der Zweitsprache (vgl. Cummins 1991, 77 f.). 4.3 „Schwellen” und Transfer von Kompetenzen Die Unterscheidung zwischen der alltagsbezogenen Interaktionsfähigkeit und der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz ist der Ausgangspunkt für die Cummins’schen Hypothesen im Hinblick auf sprachliche „Schwellen” und den Transfer von Kompetenzen zwischen der Erst- und der Zweitsprache. Cummins stützt sich dabei wiederum auf Forschungsarbeiten von Skutnabb-Kangas/ Toukomaa (1976), die in ihrer „Interdependenzhypothese” davon ausgehen, dass sich Fertigkeiten in der Erstsprache nur langsam bzw. nicht mehr weiter entwickeln, wenn Zweitsprachenlernende zu früh mit einer fremdsprachigen Lernumgebung konfrontiert werden: Wird ihre Erstsprache nicht mehr weiter gefördert, fehlt ihnen eine wesentliche Grundlage für das Lernen in der Zweitsprache. Nach Cummins ist die alltagsbezogene Interaktionsfähigkeit sprachspezifisch und daher für jede Sprache neu zu lernen. Die kognitivakademische Sprachfähigkeit ist seiner Ansicht nach hingegen sprachenübergreifend, d.h. zwischen den einzelnen Sprachen transferierbar 51 - und daher auch nur einmal zu lernen. 52 Ein Transfer von Kompetenzen zwischen der Erst- und der Zweitsprache 53 hängt nach Cummins (1979) vom bereits 51 Cummins nimmt an, dass etwa Strategien des Leseverstehens und des Schreibens von einer Sprache auf die andere übertragbar sind (vgl. Cummins 1991). 52 Cummins und Swain (1986) verweisen auf empirische Untersuchungen, die eine positive Korrelation zwischen überdurchschnittlichen Ergebnissen in IQ-Tests und den Ergebnissen von Tests aufweisen, in denen schriftsprachliche Fähigkeiten erhoben wurden; zwischen dem IQ und den Ergebnissen der mündlichen Interaktionsfähigkeit liegt kein solcher Zusammenhang vor. Einer Studie von Verhoeven (1994b) zufolge gibt es keine Korrelationen zwischen dem IQ und der Entwicklung des lexikalischen und des syntaktischen Wissens, wohl aber zwischen dem IQ und den literalen Fähigkeiten der Lernenden. 53 Auch Verhoeven/ Arts (1998, 113) gehen davon aus, dass es neben nicht transferierbaren sprachspezifischen Fähigkeiten, die sich vor allem auf die sprachliche Oberfläche beziehen (Orthographie, Morphologie, Grammatik etc.) sprachenübergreifende schriftsprachliche Fähigkeiten gibt, die zwischen den Sprachen transferiert werden können. <?page no="50"?> 50 erreichten Kompetenzniveau in diesen Sprachen ab. Seiner Auffassung nach muss eine bestimmte „Schwelle” der Sprachkompetenz (in der Erst- oder in der Zweitsprache) erreicht sein, damit es zu einer Transferleistung kommen kann. In seiner Schwellenhypothese setzt er zwei „Schwellen” der Sprachkompetenz an, die er mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung der Lernenden in Beziehung setzt. 54 Lernende, die unter der ersten Schwelle (lower proficiency threshold) in einer Sprache bleiben, sind nach Cummins nicht in der Lage, ihr kognitives Potential beim Gebrauch dieser Sprache zu entfalten. Wenn der Entwicklungsstand der Zweitsprache diese untere Schwelle nicht erreicht, ist mit Semilingualismus bzw. mit Lernproblemen zu rechnen (Skutnabb-Kangas/ Toukomaa 1976). 55 Ist das untere Schwellenniveau in der Zweitsprache jedoch erreicht, so haben Zweitsprachenlernende nach Cummins gute Voraussetzungen, die schulischen Anforderungen zu meistern, vorausgesetzt, ihre Erstsprache wird kontinuierlich weiter entwickelt (vgl. Cummins 1991, 85). Die erwartbaren kognitiven Effekte sind unter diesen Bedingungen, so Cummins, weder positiv noch negativ. Um positive Effekte für die kognitive Entwicklung sowie im Bezug auf den schulischen Lernerfolg zu erzielen, muss das obere Schwellenniveau der Sprachkompetenz in beiden Sprachen erreicht sein. The attainment of a second higher level of bilingual competence might be necessary to lead to accelerated cognitive growth. (Cummins 1979, 230) Eine hohe Kompetenz in der Erst- und in der Zweitsprache führt zu mehr Sprachbewusstsein, zu einem Ausbau der metakognitiven und der metalinguistischen Fähigkeiten, zu einem größeren Repertoire an Lernstrategien sowie zu mehr Toleranz, Kreativität und sozialer Kompetenz (vgl. Cummins 1979; vgl. Jessner 1995, 68 f.; vgl. Oomen-Welke 1997, 33; vgl. Portmann- Tselikas 1998, 36; vgl. de Cillia 1998, 241; vgl. Zydatiß 2000, 112; vgl. Verhoeven 1997, 224). 56 Portmann-Tselikas (2001a, b) greift die Hypothesen von Cummins auf, er sieht in der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz jedoch keine sprachliche Fähigkeit im engeren Sinne, sondern vielmehr eine kognitive Kompetenz 54 Darüber, wo diese „Schwellen” der Sprachkompetenz genau liegen, trifft Cummins keine klaren Aussagen; auch nicht dahingehend, welche sprachlichen Kompetenzbereiche im Einzelnen betroffen sind bzw. ob sich „Schwellenniveaus” alters- oder kontextbedingt verändern. Zydatiß (2007) ist es mittlerweile gelungen, die Cummins’ sche Schwellenhypothese empirisch nachzuweisen. 55 In Bezug auf das untere Schwellenniveau kann nicht genau gesagt werden, über welches Inventar an Strukturen bzw. lexikalischen Einheiten Lernende verfügen müssen, damit das Lernen in der Fremd- oder Zweitsprache keine sprachlichen und kognitiven Defizite nach sich zieht (vgl. Zydatiß 2007, 18). 56 So konnte etwa Boeckmann (1997) nachweisen, dass zweisprachig erzogene Kinder (mit Kroatisch oder Ungarisch als Muttersprache) aufgrund ihrer Zweisprachigkeit in der Schule nicht nur keine Nachteile zu erwarten haben, sondern vielfach sogar überdurchschnittlich gute Leistungen erbringen. <?page no="51"?> 51 im Umgang mit Sprache. Er bezeichnet sie als Textkompetenz, d.h. als eine Fähigkeit, die die konzeptuelle Basis für alle Lernprozesse im Unterricht darstellt und zwischen der Erst- und der Zweitsprache transferiert werden kann (vgl. Portmann-Tselikas 2001b, 13). 4.4 Sprachkompetenz und Textkompetenz Der fachliche Diskurs über sprachliche Kompetenzen bezieht sich auf begriffliche Bestimmungen, die in verschiedenen Kontexten verankert sind. Das Ziel dieses Kapitels ist es nicht, vorhandene Definitionen umfassend darzustellen und zu bewerten, sondern vielmehr jene Aspekte herauszuarbeiten, die für das Forschungsinteresse dieser Arbeit von Interesse sind. Dazu zählt unter anderem der Versuch einer terminologischen Abgrenzung zwischen Sprachkompetenz und Textkompetenz. Sprachkompetenz ist als eine genuin menschliche Fähigkeit zu betrachten, die es ermöglicht, sich auszudrücken und zu kommunizieren. Sprachkompetenz besteht aus einem Konglomerat an sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten und Wissensbeständen, über die Lernende verfügen und auf die sie im Prozess der Sprachverarbeitung zurückgreifen können. Im folgenden Schema wird davon ausgegangen, dass Textkompetenz keineswegs deckungsgleich mit Sprachkompetenz ist, sondern vielmehr einen eigenständigen Kompetenzbereich darstellt, der im Verbund mit der Interaktionskompetenz und der Sprachbasis die Sprachkompetenz eines Individuums ausmacht. Sprachliches Handeln Abb. 2 Die Sprachbasis umfasst grundlegende Kenntnisse in verschiedenen sprachlichen Bereichen (phonologisches, orthographisches, lexikalisches, grammatisches Wissen). Sprachliches Handeln erfordert jedoch mehr als bloß ein <?page no="52"?> 52 Wissen um sprachliche Mittel und Strukturen, es bedarf auch der Fähigkeit, sie im jeweiligen Kontext adäquat einzusetzen. Die Interaktionskompetenz wird als Fähigkeit des Verstehens und Äußerns von mündlich geprägter, situativ verankerter Sprache betrachtet, während Textkompetenz die Fähigkeit des produktiven und rezeptiven Umgangs mit schriftsprachlich geprägter Sprache darstellt. Textkompetenz umfasst ein ganzes Bündel an Teilkompetenzen, die in Sprachverarbeitungsprozessen zum Tragen kommen und miteinander auf komplexe Weise interagieren. Diese Teilkompetenzen sind eng aneinander gekoppelt und teilweise überlappend und werden im Textverarbeitungsprozess immer wieder neu aufgerufen, restrukturiert und erweitert. 57 Zu den zentralen Teilkomponenten von Textkompetenz zählen: • die Kohärenzkompetenz • die Kontextualisierungskompetenz • die Kommunikationskompetenz • die Textoptimierungskompetenz • die strategische Kompetenz • die Formulierungskompetenz • die Textgestaltungskompetenz • die Textmusterkompetenz • die Stilkompetenz Kohärenzfähigkeit ist die Fähigkeit, inhaltliche Zusammenhänge im Bezug auf die Tiefenstruktur eines Textes zu erkennen bzw. selbst global-semantische Strukturen in einem Text herzustellen. Kontextualisierungskompetenz ist die Fähigkeit, vom eigenen Kontextwissen zu abstrahieren und Bedeutungen im Bezug auf textrelevante Kontexte zu konstruieren bzw. Kontexte explizit zu benennen. Kommunikationskompetenz ist die Fähigkeit, die kommunikative Funktion von Texten zu erkennen bzw. Texte entsprechend den eigenen Textintentionen adressatengerecht auszurichten. Textoptimierungskompetenz ist die Fähigkeit, Texte im Hinblick auf ein Schreibziel zu überarbeiten und zu verbessern. 58 Strategische Kompetenz ist die Fähigkeit, Texte anhand eines vielfältigen Repertoires an Lese- und Schreibstrategien zu erschließen, zu verarbeiten, zu gestalten und zu strukturieren. Formulierungskompetenz ist die Fähigkeit, das, was in einem Text mitgeteilt werden soll, mit adäquaten sprachlichen Mitteln auszudrücken. Textgestaltungskompetenz ist die Fähigkeit, einen sprachlich differenzierten, variantenreichen Text zu konsti- 57 Die Sprachbasis kann demgegenüber als mehr oder weniger stabil angenommen werden, sobald ein bestimmtes Niveau der Sprachkenntnisse erreicht ist. 58 Nach Weidacher (2007, 49) besteht Textkompetenz aus den Teilfähigkeiten der Kohärenzkompetenz, der Kontextualisierungskompetenz, der Stabilisierungs-/ Formulierungskompetenz bzw. der Rezeptionskompetenz, der Kommunikationskompetenz, der Sprachkompetenz, der Medienkompetenz, der Sachkompetenz, der Textmusterkompetenz, der Stilkompetenz und der metatextuellen Kompetenz. <?page no="53"?> 53 tuieren. Textmusterkompetenz ist die Fähigkeit, konventionalisierte, kulturspezifisch geprägte Aufbauprinzipien eines Textes zu erkennen bzw. selbst zu befolgen. Stilkompetenz ist die Fähigkeit, Texte den jeweiligen Absichten entsprechend effektiv und auf persönliche Art und Weise zu gestalten. Darüber hinaus spielt auch die metatextuelle Kompetenz (Weidacher 2007, 45 f.) im Umgang mit Texten eine wichtige Rolle: Sie wird benötigt, um über Texte kommunizieren und Texte besser verarbeiten zu können. 59 4.4.1 Textkompetenz und Interaktionskompetenz Die Interaktionskompetenz und die Textkompetenz werden als dynamische Fähigkeiten im Umgang mit Sprache betrachtet, die sich immer erst im konkreten Sprachgebrauch manifestieren - erst im Moment des sprachlichen Handelns zeigt es sich, über welche sprachlichen Kenntnisse und Kompetenzen im Umgang mit Sprache die Lernenden verfügen und inwieweit sie in der Lage sind, sie im jeweiligen Kontext einzusetzen und zu erweitern. Sprachhandlungskompetenzen werden daher als individuell verfügbare bzw. erlernbare Fähigkeiten betrachtet, die sich im konkreten Tun zeigen und durch das eigene Tun ausgebildet werden. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Hypothese, dass die Interaktionskompetenz und die Textkompetenz weitgehend getrennt voneinander existieren und sowohl aus einzelsprachlich gebundenen als auch aus sprachenübergreifenden Teilkompetenzen bestehen; während die Interaktionskompetenz überwiegend aus sprachengebundenen, nicht transferierbaren Teilfähigkeiten besteht, umfasst Textkompetenz hauptsächlich sprachenübergreifende, weitgehend transferierbare Teilkompetenzen. 60 Dazu können gezählt werden: • die Kohärenzkompetenz 61 • die Kontextualisierungskompetenz • die Kommunikationskompetenz • die Textoptimierungskompetenz • die strategische Kompetenz 62 59 Die metatextuelle Kompetenz kommt nach Weidacher (2007) nur dann zum Tragen, wenn die Rezeption oder die Produktion von Texten ins Bewusstsein der Sprachhandelnden rückt und im Zentrum ihrer Wahrnehmung steht. 60 Cummins (1979, 1991) hat lediglich der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz Transferfähigkeit zugeschrieben und nicht unterschieden zwischen sprachengebundenen und sprachenübergreifenden Teilkomponenten des jeweiligen Kompetenzbereichs. 61 Dass die Fähigkeit des Erkennens und Herstellens von Textkohärenz transferiert werden kann, wurde bereits mehrfach belegt (vgl. Reich/ Roth 2001). 62 Auch der Nachweis darüber, dass Lese- und Schreibstrategien sowie das Prinzip der Schriftlichkeit als solches transferierbar sind, wurde bereits in zahlreichen Studien erbracht (vgl. Edwards 1998; Durgunoğlu/ Verhoeven 1998b). <?page no="54"?> 54 Zu den überwiegend sprachengebundenen, nicht transferfähigen Teilkomponenten der Textkompetenz können gezählt werden: • die Formulierungskompetenz • die Textgestaltungskompetenz • die Textmusterkompetenz • die Stilkompetenz Die Hypothese, dass die Bereiche der Interaktionskompetenz und der Textkompetenz weitgehend getrennt voneinander existieren, kann unter anderem durch folgende Beobachtungen aus dem Fremd- und Zweitspracherwerb gestützt werden: • die Weiterentwicklung der Interaktionskompetenz bewirkt nicht zwingend einen Zuwachs an Textkompetenz und • die Weiterentwicklung der Textkompetenz führt nicht automatisch zu einem Ausbau der Interaktionskompetenz. Wie bereits mehrfach festgestellt wurde, verfügen Zweitsprachenlernende im Schulalter zwar vielfach über eine gut ausgebaute mündliche Sprachkompetenz in der Zweitsprache, jedoch nicht über eine gut entwickelte Textkompetenz (vgl. Skutnabb-Kangas/ Toukomaa 1976). Demgegenüber gelangen Lernende jedoch mitunter auch dann zu einem hohen Niveau der Textkompetenz in der Unterrichtssprache, wenn sie über keine gut entwickelte Interaktionskompetenz in dieser Sprache verfügen. Dies ist vor allem bei jenen Lernenden der Fall, die über eine hohe Textkompetenz in ihrer Erstsprache verfügen, im Unterricht gezielt im Aufbau ihrer Textkompetenz gefördert werden und die Unterrichtssprache nicht durch ungesteuerten Spracherwerb im alltagsbezogenen Kontext erwerben können. 63 Auch wenn daher davon auszugehen ist, dass die Interaktionskompetenz und die Textkompetenz weitgehend getrennt voneinander zu betrachten sind, kann angenommen werden, dass Wechselwirkungen zwischen diesen Kompetenzbereichen bestehen. So werden etwa Erzählkompetenzen im Laufe der literalen Entwicklung zunächst in interaktiven Zusammenhängen der alltagsbezogenen Kommunikation entwickelt und erst später in schriftlichen Texten eingesetzt und erweitert; auch die Fähigkeiten des Argumentierens, Diskutierens und Interpretierens werden in situationsbezogenen Interaktionen im Mündlichen grundgelegt und in der schriftlichen Kommunikation weiter entwickelt. Es kann daher angenommen werden, dass die Grenze zwischen der Interaktionskompetenz und der Textkompetenz keineswegs parallel zu jener zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verläuft. 63 Dies ist häufig der Fall bei Immersions- oder bilingualen Unterrichtsmodellen, in denen eine Fremdsprache als Arbeitssprache eingesetzt wird, die Lernenden im Hinblick auf die Sprach- und Textkompetenz in ihrer Erstsprache ausgewählt werden und aus Familien mit großem Bildungsinteresse stammen. <?page no="55"?> 55 4.4.2 Sprachbasis und Sprachhandlungskompetenzen Die Kenntnis von grundlegenden sprachlichen Mitteln und Strukturen, für die der Begriff der Sprachbasis eingeführt wurde, ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass Sprache im jeweiligen soziokulturellen Kontext verstanden und verwendet werden kann. Wenn Zweitsprachenlernende über eingeschränkte sprachliche Grundkenntnisse verfügen, fällt ihnen das Erkennen von sprachlichen Funktionen und Strukturen sowie von semantisch relevanten Informationen im Input schwer (vgl. Portmann-Tselikas 1999, 346). Dies bewirkt etwa beim Lesen, dass sie stockend und ineffizient lesen und Textinhalte nicht ausreichend verstehen. Auch in der Sprachproduktion wirkt sich fehlendes sprachliches Wissen negativ aus - eine zu schmale Sprachbasis in der Zweitsprache beeinträchtigt sowohl das Lesen und Verstehen als auch das Sprechen und Schreiben. There seems to be a good correlation between precision in orthography, syntax and morphology (the core linguistic aspects) and academic achievement. Precision in the details of orthography, morphology and syntax can be attained only when these details are perceived as relevant. Students must be able to process the information-rich, conceptually loaded input thoroughly and deeply in order to allow insight into the nature and function of such „minor” linguistic elements. (Portmann-Tselikas 2001a, 76) Zweitsprachenlernende, die hingegen über umfassende und differenzierte lexikalische Kenntnisse verfügen, 64 produzieren anspruchsvollere und kohärentere Texte als Lernende, die über ein eingeschränktes Wortschatzwissen verfügen (Peltzer-Karpf et al. 2003). Auch ein Lernfortschritt im Bereich der Sprachhandlungskompetenzen kann zu positiven Effekten auf die Sprachbasis führen - so erleichtert es etwa ein Zuwachs an Textkompetenz, den schriftsprachlichen Input zu verstehen und trägt zur Erweiterung der lexikalischen Kenntnisse der Lernenden bei; auch die aktive Teilnahme an alltagsbezogenen Sprachhandlungen festigt und vergrößert ihren Wortschatz, was wiederum zum Ausbau und zur Erweiterung der Sprachbasis der Lernenden führt. Ausgehend von den bisherigen Ausführungen ist im Folgenden nicht mehr von der Interaktionskompetenz und der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz im Sinne von Cummins bzw. der Sprachkompetenz und der Textkompetenz im Sinne von Portmann-Tselikas die Rede, sondern von der Interaktionskompetenz und der Textkompetenz. 64 Dies betrifft sowohl den Wortschatzumfang als auch die Verfügbarkeit von Wortbildungsprozessen, die paradigmatischen Beziehungen der Synonymie, Antonymie und Hyponomie sowie die Wahl der angemessenen Kollokationen (vgl. Zydatiß 2007). <?page no="56"?> 56 4.5 Die „Schwelle” der Textkompetenz In diesem Kapitel werden die Hypothesen von Cummins (1979, 1991) und Portmann-Tselikas (2001b) noch einmal aufgegriffen und im Hinblick auf den Transfer von Kompetenzen zwischen der Erst- und der Zweitsprache diskutiert. Portmann-Tselikas modifiziert die „Schwellenhypothese” von Cummins, indem er anstelle eines Schwellenniveaus der Sprachkompetenz ein Schwellenniveau der Textkompetenz ansetzt. Erst wenn eine bestimmte „Schwelle der Textkompetenz” in der Erstsprache erreicht ist, ist Textkompetenz seiner Auffassung nach von der Erstin die Zweitsprache transferierbar (vgl. Portmann-Tselikas 2001b). Die gängige Situation, dass Zweitsprachenlernende die Interaktionskompetenz schneller und besser als Fähigkeiten im Umgang mit Texten erwerben, ist nicht nur aufgrund des Inputs durch ungesteuerten Spracherwerb, sondern auch mithilfe dieser Annahme erklärbar - wenn Lernende in ihrer Erstsprache keine ausreichende Textkompetenz entwickelt haben, kann auch kein Transfer in die Zweitsprache stattfinden. Wo genau diese „Schwelle der Textkompetenz” liegt, wird nicht definiert. Dies könnte zum einen daran liegen, dass sich Textkompetenz immer erst im Moment des konkreten sprachlichen Handelns manifestiert; zum anderen aber auch daran, dass Schwellen-Phänomene nicht bloß statische Konstrukte sind, sondern vielmehr individuelle Momente in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung, die nicht immer mit allgemeinen Parametern der Entwicklung korrelieren. Es kann daher angenommen werden, dass die Schwelle der Textkompetenz entsprechend den individuellen Voraussetzungen und kommunikativen Bedingungen im jeweiligen soziokulturellen Kontext einer Sprachhandlungssituation variiert. Exkurs Aufschlussreiche Beobachtungen in diesem Zusammenhang wurden auch in Klassen gemacht, die nach dem Modell eines Immersionsunterrichts in der Fremdsprache geführt werden. Die im Folgenden geschilderten Beobachtungen gehen auf Unterrichtshospitationen in einer Schule zurück, in der die Fremdsprache Englisch als Arbeitssprache im Unterricht verwendet wird. 65 Das Konzept dieser Schule sieht vor, dass in den ersten Monaten nach Schuleintritt der Fokus des Unterrichts in allen Fächern auf dem Spracherwerb liegt. Das Sachlernen wird also ganz in den Dienst des Sprachlernens gestellt. Langjährige Erfahrungen haben gezeigt, dass es vielen SchülerInnen meist von Beginn an gelingt, die Anforderungen des Lernens in der Fremd- 65 Die Unterrichtssprache hat in dieser Schule ebenso wie die Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler ein hohes gesellschaftliches Prestige. Alle Lehrenden beherrschen sowohl die Fremdsprache als auch die Erstsprache der SchülerInnen. Die Erstsprache der Lernenden ist auch die Umgebungssprache. <?page no="57"?> 57 sprache in den verschiedenen Fächern zu meistern. Es gibt aber auch Lernende, die mit der Situation des Lernens in einer Fremdsprache in allen Fächern zunächst überfordert sind. Diese Überforderung verschwindet jedoch in der Regel nach einigen Monaten ganz plötzlich und die SchülerInnen können dem Unterricht von nun an folgen. Die Qualität ihrer Texte steigt von diesem Moment an geradezu sprunghaft an - und zwar sowohl im Bezug auf die sprachliche Korrektheit, die lexikalische und die stilistische Gestaltung als auch im Hinblick auf die Textstrukturierung und Textkohärenz. 66 Für diese Beobachtung eines plötzlich eintretenden Entwicklungsschubes greift auch die Hypothese eines „Schwellenniveaus der Textkompetenz” (Portmann-Tselikas 2001b) als Erklärung zu kurz: Eine hohe Textkompetenz ist bei diesen SchülerInnen in der Erstsprache zwar gegeben, 67 nicht alle können sie jedoch in der Fremdsprache von Beginn an nutzen. Es kann daher angenommen werden, dass erst dann, wenn eine ausreichende Sprachbasis in der Fremd- oder Zweitsprache vorhanden ist, die in der Erstsprache bereits vorhandene Textkompetenz genutzt werden kann. Es bedarf also nicht nur einer „Schwelle der Textkompetenz” in der Erstsprache, sondern auch einer Sprachbasis in der Zweitsprache. Erst dann ist ein Transfer der Textkompetenz von der Erstin die Zweitsprache möglich. 68 Wie breit diese Sprachbasis sein muss, damit ein Transfer stattfinden kann, ist nicht zu klären, es ist jedoch anzunehmen, dass es nicht allzu großer sprachlicher Grundkenntnisse bedarf, damit ein Transfer von der Erstin die Zweitsprache erfolgen kann. 69 66 Nach den Erfahrungen der Lehrenden tritt dieser Effekt nach ungefähr drei bis vier Monaten ein. 67 Die SchülerInnen werden in einem aufwändigen Auswahlverfahren nach ihrer Sprach- und Textkompetenz ausgewählt. Die meisten von ihnen verfügen daher schon bei Schuleintritt über eine gut entwickelte Textkompetenz in der Erstsprache. Sie stammen überwiegend aus Familien mit einem hohen Bildungsniveau und befinden sich zu Hause in einem anregenden literalen Umfeld, in dem sie es gewohnt sind, viel zu lesen, zu schreiben und über Texte zu diskutieren. 68 Die Arbeiten von Wolff (vgl. 2002, 283) weisen auch in diese Richtung: Erst wenn Lernende über ein bestimmtes Niveau in ihrer Erstsprache verfügen, können Verarbeitungsstrategien aus der Erstin die Zweitsprache übertragen werden. Verhoeven (1997, 237) hat türkische und marokkanische Kinder am Ende ihrer Grundschulzeit und in der Sekundarstufe im Hinblick auf ihren schulischen Erfolg untersucht und festgestellt, dass ihre schulischen Leistungen in der Sekundarstufe vor allem von ihren schriftsprachlichen Kompetenzen in der Erstsprache, aber auch von ihrer Sprachkompetenz in der Zweitsprache und von allgemeinen kognitiven Kompetenzen abhängig waren. 69 Wolff (2002) geht davon aus, dass Lernende von Beginn an versuchen, ihr defizitäres Sprachwissen in der Zweitsprache durch Rückgriffe auf die in der Erstsprache erworbenen Strategien zu kompensieren (vgl. Wolff 2002, 286). Diese Rückgriffe auf Strategien in der Erstsprache können jedoch erst gelingen, wenn Lernende über ein ausreichendes Sprachwissen in der Zweitsprache verfügen (vgl. Wolff 2002, 303). Sichtbar werden diese Rückgriffe etwa darin, dass die Zahl der Inferierungs- und <?page no="58"?> 58 Untersuchungen zu Transferleistungen zwischen Minderheiten- und Mehrheitssprachen haben ergeben, dass ein Transfer von sprachlichen Kompetenzen grundsätzlich in beide Richtungen möglich ist; vorausgesetzt, es sind grundlegende Sprachkenntnisse und ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen in der Erst- und der Zweitsprache vorhanden (vgl. Verhoeven/ Aarts 1998, 113; Brizić 2007, 50 f.). Auch die Art und die Intensität der schulischen Förderung der Erstsprache und das Ausmaß der Integration des erstsprachlichen Unterrichts in den Kanon der Fächer spielen für das Gelingen bzw. die Intensität dieses Transfers eine Rolle (vgl. Brizić 2007, 70). Transferleistungen sind darüber hinaus auch von den sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig, die die Erwerbssituation in der Zweitsprache bestimmen; dort, wo es sich bei der Erstsprache um eine gesellschaftlich gering bewertete Sprache handelt, erfolgt ein Transfer der Textkompetenz häufiger von der Erstin die Zweitsprache als umgekehrt. (Lambert 1991; Cummins 1991, 82) 4.6 Ein dynamisches Transfermodell Im Zusammenhang mit dem Transfer von Kompetenzen zwischen der Erst- und der Zweitsprache stellt sich die Frage, wie man sich diese Prozesse konkret vorstellen könnte. Nach Richard Kern (2000) handelt es sich bei Rückgriffen auf verfügbare sprachliche Kompetenzen weniger um Transferphänomene als darum, dass Lernende in Sprachverarbeitungsprozessen auf alle verfügbaren Kompetenzen, Strategien und Wissensbestände zurückgreifen, die dazu dienen, kommunikative Ziele zu erreichen (borrowing), unabhängig davon, ob sie in der Erstsprache oder in der Zweitsprache aufgebaut wurden (vgl. Kern 2000, 118 ff.). Er veranschaulicht das am Beispiel des Lesens: [...] the role of the first language in second language reading seems not to be an issue of wholesale transfer, but rather of selective and strategic uses of L1 linguistic and schematic resources to facilitate comprehension of L2 texts. The advantage of this characterization is that it gives greater agency to the reader, who is choosing among all available resources, both L1and L2-related, in an attempt to fulfill particular purposes in particular contexts of reading as appropriately as he or she can. (Kern 2000, 121) Wenn man davon ausgeht, dass Textkompetenz nicht nur als Gesamtkomplex, sondern auch in ihren Teilkomponenten flexibel zwischen den Sprachen transferiert werden kann und die Lernenden dabei selektiv auf alle bisher erworbenen Fähigkeiten und Wissensbestände in der Erst- und in der Elaborierungsprozesse in der zweitsprachlichen Sprachverarbeitung wesentlich höher ist als beim Gebrauch der Erstsprache, dass Zweitsprachenlernende öfter auf ihr Weltwissen zurückgreifen und auch häufiger als Muttersprachige Top-down-Prozesse durchlaufen (Wolff 2002, 303). <?page no="59"?> 59 Zweitsprache zurückgreifen können, so sind Wechselwirkungen zwischen einzelnen Sprachen in Prozessen der Sprachverarbeitung weit dynamischer als bisher angenommen. In diese Richtung weisen auch Faerch/ Kasper (1988), die davon ausgehen, dass neben der getrennten Speicherung von sprachenspezifischen Fähigkeiten und Wissensbeständen ein verschmolzenes System von Kompetenzen existiert (compound system), das sowohl Elemente aus der Erstals auch der Zweitsprache umfasst, auf die im Prozess der Sprachverarbeitung rekurriert werden kann. Dies kann als Bestätigung der Hypothese betrachtet werden, dass Textkompetenz aus verschiedenen Wissensbeständen und Teilkompetenzen besteht, die neben sprachenübergreifenden und transferierbaren auch einzelsprachliche, nichttransferierbare Komponenten umfasst. Wie Wechselwirkungen zwischen den Sprachen im Einzelnen ablaufen und welche Einflussfaktoren in konkreten Situationen des Sprachgebrauchs wirksam werden, kann derzeit nicht im Detail geklärt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Wechselwirkungen zwischen der Erst- und der Zweitsprache bestehen, die durch einen individuellen Rückgriff der Lernenden auf vorhandene Kompetenzen und Kenntnisse in den jeweils verfügbaren Sprachen zustande kommen. Stellt man sich diesen Transfer von Kompetenzen zwischen verschiedenen Sprachen als einen dynamischen Prozess des Rückgriffs von Lernenden auf bereits erworbenes Wissen und Können in der Erst- oder der Zweitsprache vor, so wird deutlich, dass den individuellen Fähigkeiten der Lernenden im Sprachverarbeitungsprozess eine weitaus größere Rolle zukommt als bisher meist angenommen. <?page no="60"?> 60 5 Kognitive Implikationen des textbasierten Wissenserwerbs Ein effektiver Wissenserwerb setzt einen Zugriff der Lernenden auf Texte voraus, in dem die Oberfläche eines Textes nicht einfach reproduziert, sondern der Text und seine Inhalte zum Thema der Bewertung und Reflexion werden. Dieser zugleich interpretatorische und reflexive Zugriff auf Texte erfordert die Konstruktion und Transformation von mentalen Repräsentationen. 70 Textkompetenz kann daher auch als die Fähigkeit betrachtet werden, „komplexe und rein sprachlich vermittelte Sinnkontexte selbständig durch die Konstruktion mentaler Modelle aufzubauen, zu prüfen und zu verändern.” (Portmann-Tselikas 2007, 275) Der Aufbau und die Restrukturierung mentaler Repräsentationen in der Arbeit an Texten ist daher eine wesentliche Bedingung dafür, dass Lernende ihr vorhandenes Wissen aktivieren und restrukturieren können, sprich: dass sie mittels Texten lernen können. 71 Die Intensität des Lernens anhand von Texten ist somit stärker von den mentalen Repräsentationen als von den Texten selber abhängig (vgl. Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 133). Within the cognitive framework, the active construction of mental representation is the central mediating activity between the learning process and its outcome (e.g., Kintsch/ Kintsch 1996; Lonka 1997; Mayer 1984, 1992). And, as in qualitative research, the quality and richness of mental representation is considered more crucial than the mere quantity of knowledge. The manner in which knowledge is represented is thought to determine understanding and to influence problem solving. The active transformation of knowledge - rather than its reproduction - is thought to lead to a deep-level mental representation. (Bereiter/ Scardamalia 70 Der Begriff der mentalen Repräsentationen wird in dieser Arbeit analog zum Begriff der „mentalen Modelle” nach der Definition von Rickheit/ Sichelschmidt/ Strohner (2002, 68) verwendet. Mentale Modelle sind ganzheitliche, interne Repräsentationen von externen Objekten, Sachverhalten oder Ereignissen. Es handelt sich dabei um aktuelle, flexible Wissensstrukturen, die das schematische Wissen und das allgemeine Situations- und Weltwissen integrieren und in ihrem semantischen Gehalt über das im Text explizit Gesagte hinausreichen. Sie sind holistisch, da sie die Gesamtsituation umfassen, analog, da die Struktur der Situation aus der Repräsentation ablesbar ist und dynamisch, da sie auch Veränderungen der Situation abbilden. Bei der Konstruktion von Bedeutungen handelt es sich um situationsbedingte, individuelle Konstruktionen, die auf der Grundlage von Repräsentationen erfolgen. Damit steht dieser Begriff des „mentalen Modells” für eine ganze Reihe von psycholinguistischen Ansätzen, zu der nach Rickheit/ Sichelschmidt/ Strohner (2002, 68) außer dem eigentlichen „mental models”- Ansatz (Johnson-Laird 1983) auch konstruktivistische Ansätze zu zählen sind. 71 Der Aufbau und die Transformation von kognitiven Repräsentationen ist daher nach Portmann-Tselikas (vgl. 2006a, 53) der zentrale Modus des Lernens. Er stützt sich dabei vor allem auf das konnektionistisch-konstruktivistische Konzept von Karmiloff-Smith (1992) und die Lerntheorie von J. R. Anderson (1996). <?page no="61"?> 61 1987; Chi/ Glaser/ Far 1988; Glaser/ Bassok 1989; Mannes/ Kintsch 1987). (Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 133) Karmiloff-Smith (1992) bezeichnet die Transformation von kognitiven Repräsentationen als representational redescription: [...] representational redescription is a process by which implicit information in the mind subsequently becomes explicit knowledge to the mind, first within a domain and then sometimes across domains. (Karmiloff-Smith 1992, 18) Der Aufbau und die Transformation von kognitiven Repräsentationen erfordert die Fähigkeit, die in einem Text kodierten bzw. zu versprachlichenden Informationen als kohärente Sinngebilde beim Lesen zu erkennen bzw. beim Schreiben eines Textes darzustellen und zu kontextualisieren. Bei der Rezeption von Texten muss ein Sinngebilde mit bestehenden Wissensbeständen verknüpft werden, bei der Produktion von Texten muss es sprachlich konzeptualisiert und für RezipientInnen zugänglich gemacht werden. Diese als rekursiv zu denkenden Prozesse sind vor allem dann lerneffizient, wenn die Lernenden über die Fähigkeit der Distanzierung, der kritischen Bewertung und der mehrperspektivischen Betrachtung von Texten sowie über die Fähigkeit verfügen, eigene Kompetenzen, Kenntnisse und Strategien zum Thema zu machen (vgl. Portmann-Tselikas 2006a): 72 Dieses Thematisch-Werden ist in den meisten Lerntheorien Voraussetzung des Lernens, und in manchen von ihnen ist es verknüpft mit dem Konzept der Rekodierung. Es wird eine neue Spur, eine zusätzliche Repräsentation angelegt, die sich auf bereits Bekanntes bezieht oder es in sich aufnimmt und so die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten in einer Domäne erweitert. (Portmann- Tselikas 2006a, 60) Nach Bereiter/ Scardamalia (1987) zeigt sich die Fähigkeit des Aufbaus und der Transformation von kognitiven Repräsentationen beim Schreiben vor allem in der Strategie des „knowledge-transforming”. Diese Strategie ermöglicht es den Lernenden, das eigene Wissen im Schreibprozess neu zu formieren und zu erweitern. Kognitive Operationen und Prozesse im Umgang mit Texten sind darüber hinaus stark von der Fähigkeit der Lernenden abhängig, Informationen zu selektieren, zu fokussieren, zu abstrahieren und zu reorganisieren sowie Sinnzusammenhänge selbständig zu erkennen und herzustellen. Damit verbunden sind komplexe kognitive Prozesse, die den Wissenserwerb anhand von Texten vorantreiben: 72 Molitor-Lübbert (1996) weist darauf hin, dass das Wissen über die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten eine zentrale Voraussetzung für den effektiven Umgang mit kognitiven Ressourcen darstellt. Auch Schmidt (1990) betont, dass ein Lernen neuer Inhalte ohne fokussierte Aufmerksamkeit nicht möglich sei. In späteren Arbeiten (Schmidt 1995) schwächt er diese Annahme insofern ab, als er sich auf die verallgemeinernde Aussage zurückzieht, dass ein Zuwachs an Aufmerksamkeit potentiell immer zu einem Lernzuwachs führt (vgl. Eckerth/ Riemer 2000). <?page no="62"?> 62 • In Reorganisationsprozessen werden bestehende Wissensstrukturen neu geordnet und mit neuen Informationen verknüpft. • In Abstraktionsprozessen werden neue und alte Wissensstrukturen auf eine höhere Ebene der Abstraktheit und der Allgemeingültigkeit gehoben. • In Selektionsprozessen werden vorhandene Strukturen getilgt bzw. in den Hintergrund gerückt und durch neue, relevantere Wissensstrukturen ersetzt. • In Substitutionsprozessen werden einzelne Begriffe oder Textpassagen ersetzt. • In Inferierungsprozessen werden „unsichtbare”, nicht explizit genannte Informationen anhand von bestehendem Wissen erschlossen. • In Kohärenzprozessen wird vorhandenes Wissen zur Sinnkonstitution eingesetzt. Die in diesen Prozessen geforderten kognitiven Aktivitäten sind beim Lesen, Verarbeiten und Schreiben von Texten eng aufeinander bezogen und auf komplexe Weise miteinander vernetzt. Van Dijk/ Kintsch (1983) unterscheiden drei Formen von Repräsentationen, die in Prozessen der textbasierten Sprachverarbeitung zum Tragen kommen; sie haben jeweils eigene Merkmale, interagieren jedoch auf vielfältige und komplexe Weise. Es sind dies • ein Oberflächengedächtnis aktueller Wörter und Sätze; • eine Textbasis, die die Informationseinheiten eines Textes organisiert und miteinander verknüpft und • ein situatives Modell, das dafür sorgt, dass der Inhalt eines Textes mit dem Vorwissen der Lernenden verbunden wird. Das Verstehen eines Textes basiert nach Kintsch (1986) vor allem auf der Textbasis. Die Repräsentation der Textbasis ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Textinhalte verstanden, memoriert und reproduziert werden können. Eine bloße Reproduktion von Textinhalten führt in der Regel nicht dazu, dass das Wissen der Lernenden erweitert wird. Größere Lerneffekte sind nach Kintsch erst dann zu erwarten, wenn auch ein situatives Modell in der Arbeit an einem Text aufgebaut wird. Auf dieser Grundlage kann das vorhandene Wissen der Lernenden transformiert und mit neuen Informationen verknüpft werden. Auf diese Weise können neue Wissensstrukturen aufgebaut werden, die auch in späteren Lernprozessen verfügbar sind. Eine Repräsentation des situativen Modells erfordert komplexere kognitive Verarbeitungsprozesse als die Repräsentation der sprachlichen Oberfläche und der Textbasis (vgl. Wolff 2000, 94 f.; vgl. Klix 1990). Auch Portmann-Tselikas (2007) nennt drei mentale Modelle, die seiner Auffassung nach aufgebaut werden müssen, damit ein Text verstanden und zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden kann. Es sind dies das mentale Modell des Textes, das mentale Modell der Sache und das mentale Modell des Sprechens und Schreibens. Das mentale Modell des Textes kodiert die neue Information, während das mentale Modell der Sache als Hintergrund und Beurtei- <?page no="63"?> 63 lungsgrundlage beim Interpretieren und Diskutieren eines Textes dient (vgl. Portmann-Tselikas 2007). Das mentale Modell des Sprechens und Schreibens ist erforderlich, um Aussageabsichten realisieren zu können, die eine gewisse Komplexität überschreiten. Erst das Zusammenspiel dieser drei mentalen Modelle erlaubt es nach Portmann-Tselikas, die Relevanz, Richtigkeit und Adäquatheit dessen zu beurteilen, was man gelesen hat und das, was man selbst mitzuteilen hat, zu überprüfen, zu kontrollieren und zu beurteilen. Mentale Modelle sind demnach die entscheidende kognitive Instanz, die es erlaubt, Wissen zu organisieren und mit Wissen aktiv zu operieren (vgl. Portmann-Tselikas 2007). Sie ermöglichen es sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben, sich in einem Text zu orientieren und sind damit eine zentrale Bedingung dafür, dass Informationen aus Texten aufgenommen und weiterverarbeitet werden können. Unterrichtsbeobachtungen von Lernenden beim Schreiben von Texten lassen annehmen, dass deren Fähigkeit, komplexe kognitive Repräsentationen aufzubauen und zu transformieren, sich vor allem darin zeigt, wie sie Texte planen, revidieren, bewerten und optimieren bzw. wie sie satzübergreifende Sinnzusammenhänge in einem Text (re)konstruieren. Diese Fähigkeit wird auch darin sichtbar, wie Lernende im Schreibprozess auf vorgegebene Text- oder Bildimpulse rekurrieren. Von Lernenden, die im Schreibprozess selten, dafür aber umso gezielter auf Vorlagen zurückgreifen, kann angenommen werden, dass sie von Beginn an über eine komplexere mentale Repräsentation des Textes verfügen als Lernende, die im Prozess des Formulierens ständig auf die Vorgabe zurückgreifen. Auch beim Lesen manifestiert sich die Fähigkeit, mentale Repräsentationen auszubilden und zu transformieren, in der Art des Zugriffs auf Texte. Sie zeigt sich etwa darin, ob Lernende relevante Informationen in Texten erkennen, fokussieren und mit vorhandenen Wissensbeständen verknüpfen können bzw. inwieweit sie in der Lage sind, Textinhalte in eigenen Worten wiederzugeben. Lernende, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, tendieren dazu, vorgegebene Texte auswendig zu lernen und Textelemente unverändert bzw. zusammenhanglos wiederzugeben. Sie sind bei der Wiedergabe des Textes vor allem auf ihr Gedächtnis der sprachlichen Oberfläche eines Textes angewiesen und können bloß jene Wörter und Phrasen reproduzieren, die sie sich auswendig gemerkt haben. Die Schaltstelle ist in solchen Fällen der gelesene Text und nicht die mentale Repräsentation dieses Textes. Ein zentrales Kriterium für den Wissenserwerb ist in solchen Lernsituationen nicht gegeben; es ist das Kriterium der Sinnkonstitution (vgl. Portmann-Tselikas 2007). Lernen anhand von Texten kann nur stattfinden, wenn das zu Lernende von den Lernenden selbst in einen Sinnzusammenhang gestellt und mit vorhandenem Wissen verknüpft werden kann. Dies bedeutet für den Wissenserwerb in der Schule, dass die in Texten konstituierten Sinnzusammenhänge von den Lernenden erkannt und auf der Grundlage komplexer mentaler Repräsentationen (re)konstruiert werden müssen. <?page no="64"?> 64 6 Texte als Momentaufnahmen von Textkompetenz Texte sind Momentaufnahmen der Textkompetenz der Lernenden und machen sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihre Probleme im Umgang mit Texten sichtbar (vgl. Schmidlin/ Feilke 2005, 9). Die folgenden Analysen, die im Rahmen von qualitativen Fallstudien durchgeführt wurden, sollen es ermöglichen, die Textkompetenz der Lernenden zu beurteilen. Neben Texten von Lernenden wurden auch deren individuelle Herangehensweisen und Strategien beim Lesen und Schreiben von Texten analysiert, um herauszufinden, wie Lernende im Einzelfall mit Textaufgaben im schulischen Kontext umgehen und ob sie überhaupt in der Lage sind, sie als solche zu erkennen und gezielt zu bearbeiten. 73 Die Ergebnisse dieser Fallanalysen wurden mit einschlägigen empirischen Studien korreliert, um auf dieser Grundlage Stadien der literalen Entwicklung und Indikatoren für Textkompetenz herauszuarbeiten. 74 Sie stellen ein Instrument der Beurteilung von Textkompetenz und gleichzeitig eine Alternative zu gängigen Verfahren der schulischen Leistungsbeurteilung dar. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden sie primär als Grundlage für die Konzeption eines didaktischen Instrumentariums zur Förderung der Textkompetenz 75 genutzt. Im Mittelpunkt der folgenden Textanalysen steht nicht die Frage: „Wie gut oder wie schlecht ist dieser Text? ”, sondern „Wie ist dieser Text? ” und: „Welche Hinweise gibt er uns auf die vorhandene Textkompetenz der Lernenden? ” Auf diese Weise sollen nicht nur die Defizite, sondern auch die Stärken der Lernenden sichtbar gemacht werden - das, was sie können, wird auf diese Weise ebenso wichtig wie das, was sie nicht können. Analysiert werden Texte von Schülerinnen und Schülern an der Schnittstelle zwischen der Volksschule und der Sekundarstufe I sowie zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II bzw. dem Eintritt in die Berufswelt. 76 Gelungene Texte werden weniger gelungenen Texten gegenübergestellt, um Merkmale einer altersgemäß relativ hohen bzw. niedrigen Textkompetenz herausarbeiten zu können. Miteinander verglichen werden Texte von Zweitsprachenlernenden und Texte von muttersprachigen Schülerinnen 73 Kern/ Ware/ Warschauer (2004) betonen, dass mit der Berücksichtigung soziokultureller Kontexte in der Literacy-Forschung eine verstärkte Hinwendung zu qualitativen Methoden erforderlich sei, in der nicht nur die Texte der Lernenden, sondern auch die Prozesse der Textverwendung untersucht werden. 74 Siehe Kapitel 8 und 9. 75 Siehe Teil II dieser Arbeit. 76 Die Probleme der SchülerInnen, die schriftsprachlichen Anforderungen im Unterricht zu bewältigen, setzen mit Eintritt in die Sekundarstufe aufgrund der Differenzierung in verschiedene Fächer massiv ein; die Differenzen zwischen den Leistungsstarken und den Leistungsschwachen nehmen daher in der Sekundarschulzeit stark zu. <?page no="65"?> 65 und Schülern, um das Spektrum der in einer Altersgruppe potentiell vorhandenen Textkompetenz skizzieren zu können. 77 Zunächst werden Texte analysiert, in denen Lernende ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Rahmen einer freien Schreibaufgabe schildern, anschließend geht es um Texte, in denen vorgegebene Erzähltexte bzw. Sachtexte zusammengefasst werden sollen. Die Lernertexte werden im Hinblick auf verschiedene Faktoren und deren Zusammenspiel untersucht. Im Fokus der Analyse stehen die folgenden Aspekte: • Fokussierung auf ein Textthema: Wie handelt ein Text von seinem Gegenstand? • Themenentfaltung: Wie sind einzelne Informationen im Text aufeinander bezogen? Folgen die Textsequenzen logisch aufeinander? • Textstrukturierung: Wie ist der Text gegliedert? Sind innere und äußere Gliederung kongruent? • Sprachliche Qualität: Wie ist ein Text syntaktisch und lexikalisch gestaltet? Sind die verwendeten sprachlichen Mittel und Strukturen korrekt bzw. angemessen? Vorweg ist festzuhalten, dass die Probleme im Umgang mit Texten, die sich in den Texten der Lernenden zeigen, keine typischen Schwierigkeiten von kurdisch-, türkisch- oder bosnischsprachigen SchülerInnen beim Erlernen der deutschen Sprache darstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um Probleme im Umgang mit Texten, die unabhängig vom Unterrichtskontext, der Aufgabenstellung und der Erstsprache generell bei Lernenden häufig vorkommen, die über keine altersgemäß gut entwickelte Textkompetenz verfügen. Dass Zweitsprachenlernende in der Entwicklung ihrer Textkompetenz nachhinken, ist daher zwar durchaus symptomatisch, aber keineswegs generalisierbar; Zweitsprachenlernende, die in ihrer literalen Entwicklung gefördert werden, können ebenso wie Muttersprachige eine hohe Textkompetenz entwickeln, die es ihnen in der Schule erlaubt, Texte als ein Instrument des Lernens im Unterricht zu nutzen. 78 6.1 Vom expressiven zum gestaltenden Schreiben Die folgenden Texte stammen von Schülerinnen der vierten Klasse Volksschule. Die Aufgabe hatte gelautet, anhand des Stichworts „Winter” einen 77 Die Entscheidung, Texte von Zweitsprachenlernenden mit Texten von Muttersprachigen zu vergleichen, hat unter anderem auch damit zu tun, dass der Einsatz von Strategien im Umgang mit Texten bei Zweit- und Muttersprachigen grundsätzlich auf dieselbe bzw. ähnliche Weise erfolgt (vgl. Wolff 2002, 313). Darüber hinaus wird in Betracht gezogen, dass letztlich alle Lernenden in der Schule vor dieselben Anforderungen im Umgang mit Texten gestellt sind und diese zu bewältigen haben. 78 Ogbu (1991, 29) hat etwa festgestellt, dass AsiatInnen häufig über gut entwickelte literale Fähigkeiten verfügen und im Bildungssystem sehr erfolgreich sind. <?page no="66"?> 66 Text zu verfassen. 79 Es gab keine Vorgaben hinsichtlich der Textsorte, des Inhalts oder der Länge des zu schreibenden Textes. Im Folgenden geht es vor allem um die Frage, inwieweit es den Schülerinnen gelungen ist, einen verständlichen, kohärenten Text zu schreiben. 80 6.1.1 „Renate macht es Spaß”: Schreiben aus subjektivbiographischer Sicht Der erste Text stammt von Gönül, Secil und Marija. Gönül und Secil sind türkischer Abstammung, Marija kommt aus Serbien. Gönül wurde in Österreich geboren und gehört damit der „zweiten Generation” von Einwandererkindern an, 81 Secil und Marija sind im Kindergartenalter nach Österreich gekommen; sie haben Deutsch vor allem ungesteuert im außerschulischen Alltag erworben. Gönül spricht akzentfreies Deutsch und erzählt, dass sie sich im Deutschen wohler fühlt als im Türkischen. Mit ihren Eltern unterhält sie sich ausschließlich auf Türkisch. Die Zweitsprache Deutsch ist ihr im Schriftlichen vertrauter, auf Türkisch kann sie kaum schreiben. Marija wirkt introvertiert und schüchtern, sie spricht wenig, wenn sie etwas sagt, wirkt sie unsicher und ängstlich. Im Mündlichen macht sie zwar Fehler, kann aber auf Deutsch alltagsbezogen mühelos kommunizieren; zu Hause spricht sie ausschließlich Serbisch. Secil ist extrovertierter als Marija, auch sie wirkt im Gespräch unsicher; zuhause spricht sie Türkisch. Die drei Mädchen haben den folgenden Text verfasst: WINTER W inter ist gekommen wir wollen Schlitten fahren. I rgent wo im Österreich müsste irgentwo Schnee geben ich glaube in N orden gibt es sicher viel Schnee T iefer Schnee gibt es, dass wir Schlliten fahren. E reicht haben wirs. R enate macht es Spaß. Marija, Secil und Gönül haben diesen Text aus einer subjektiv-biographischen Erlebnisperspektive heraus verfasst, spontane Gedanken und Ideen zum Thema sind unmittelbar zur Sprache gebracht worden. 82 Sie haben ihre 79 Die Buchstaben dieses Wortes wurden von der Lehrerin untereinander an die Tafel geschrieben (Akrostichon) und sollten als Schreibimpuls dienen. 80 Es wird davon ausgegangen, dass die Schülerinnen versucht haben, einen zusammenhängenden Text zu verfassen, auch wenn ihre Aufmerksamkeit durch die Aufgabenstellung sehr auf einzelne Buchstaben und Sätze gelenkt war. 81 Kinder aus Migrantenfamilien zeigen auch dann noch, wenn sie bereits der zweiten oder dritten Einwanderergeneration angehören, in der Regel schwächere schulische Leistungen als Kinder aus einheimischen Familien (vgl. Brizić 2007, 16). 82 Aus dieser erlebnisorientierten Schilderung der Ereignisse ergibt sich das Strukturprinzip der narrativen Reihung, das für Augst/ Faigel (1986) am Beginn jeder Schreibentwicklung steht. In der Textordnungsmuster-Typologie von Feilke (1988) wäre der Text dem „linear-entwickelten Textordnungsmuster” zuzuordnen und im Rahmen des Schreibmodells von Bereiter (1980) liegt hier ein Beispiel für „assoziatives Schreiben” vor. <?page no="67"?> 67 persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen zum Thema verarbeitet, darüber hinaus aber auch auf Ereignisse Bezug genommen, die außerhalb ihrer eigenen Erfahrungswelt liegen („Irgent wo im Österreich müsste irgentwo Schnee geben”; „in Norden gibt es sicher viel Schnee”). Dem Text scheint keine bewusste Planung und textübergreifende Konzeptualisierung vorangegangen zu sein. 83 Spuren von Mündlichkeit zeigen sich in der variationsarmen Lexik, im einfachen Satzbau, im unpräzisen und vagen Gebrauch einzelner Wörter sowie in einigen Ellipsen, Redundanzen und grammatischen Fehlern (z.B. im Satz „Irgent wo im Österreich müsste irgentwo Schnee geben”) bzw. auch darin, dass textstrukturierende Elemente weitgehend fehlen. Darüber hinaus verwenden die drei aber in ihrem Text auch Formulierungen, die sie im Mündlichen vermutlich nicht gebrauchen würden (z.B. „Winter ist gekommen wir wollen Schlitten fahren”). Konzeptionelle Mündlichkeit manifestiert sich in diesem Text auch darin, dass außersprachliche Kontexte nicht explizit hergestellt werden: Die drei Mädchen scheinen selbstverständlich davon auszugehen, dass die Lesenden über dasselbe Situations- und Weltwissen verfügen wie sie selbst und „Lücken” im Text problemlos ergänzen. 84 Dies zeigt sich etwa im Satz: „Ereicht haben wirs” - dieser Satz steht in keinem Zusammenhang mit den vorangegangenen Sätzen - nur wer weiß, dass dieser Text zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als es nach einem langen, schneearmen Winter plötzlich viel geschneit hat, weiß, was hier gemeint ist. 85 Die fehlende Leserorientierung dürfte nicht nur an der mangelnden Textkompetenz, sondern auch am Alter der Schreibenden liegen: 9bis 10-jährige 83 Feilke (1993, 25 f.) weist darauf hin, dass Kinder bis zu einem Alter von 10 Jahren meist nicht zwischen Planungs- und Textproduktionsprozessen unterscheiden können. Wenn sie mit einer Schreibaufgabe konfrontiert werden, beginnen sie meist unmittelbar mit dem Schreiben. Seinen Untersuchungen zufolge ist aber bereits bei 10-Jährigen eine Zunahme von konzeptionellen Leistungen beim Schreiben festzustellen, ein deutlicher Entwicklungsfortschritt zeigt sich jedoch meist erst bei 14-Jährigen - erst in diesem Alter sind Lernende in der Lage, Planungsvon Schreibaktivitäten bewusst zu trennen. Die Fähigkeit zur gezielten Entwicklung eines Textplans mit einer eigenen, vom Textinhalt abstrahierten und konzeptuell unabhängigen Struktur (markiert durch Gliederungssymbole, Kernsätze etc.) kann nach Feilke erst bei Lernenden ab etwa 18 Jahren vorausgesetzt werden. 84 Nach Cummins (1984) ist die sprachliche Handlungsfähigkeit der Lernenden eine Funktion von Kontextualisierung und kognitiver Anforderung - dort, wo in der direkten Interaktion situative Bezüge gegeben sind, ist der kognitive Aufwand für das Herstellen von Kontexten meist gering; dort, wo schriftsprachliches Handeln gefordert ist, ist der kognitive Aufwand für das Herstellen von Kontexten entsprechend höher. 85 Verstehensstrategien sind so angelegt, dass wir selbst dann, wenn Kontexte in einem Text sprachlich nicht explizit hergestellt werden, Zusammenhänge aufgrund unseres Vorwissens konstruieren. Wir schaffen als Lesende „Textzwischenstücke”, die das Verstehen eines Textes erleichtern. Ein Text muss daher nicht „alles” sagen - das informativ Nötige entspricht nicht dem kommunikativ Erforderlichen (vgl. Feilke 2000, 17). Zu wenige Informationen können jedoch zu Verstehensproblemen führen. <?page no="68"?> 68 Kinder sind meist noch nicht in der Lage, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen und deren Verstehensprobleme zu antizipieren. Die Fähigkeit, den eigenen Text aus der Perspektive anderer zu beurteilen, ist in diesem Alter noch kaum entwickelt. 86 Darüber hinaus mag auch die schulische Schreibsituation dazu beigetragen haben, dass das Wissen über außersprachliche Kontexte bei den Lesenden einfach vorausgesetzt wird. Texte, die in der Schule geschrieben werden, sind meist nur für die Lehrerin oder den Lehrer gedacht, von denen die SchülerInnen wissen oder zumindest annehmen können, dass sie die für das Textverständnis nötigen Kontexte ohnedies kennen. Eine fehlende Leserorientierung in einem Text hat daher nicht immer nur mit fehlenden Schreibkompetenzen, sondern vielfach auch damit zu tun, dass Texte, die in der Schule geschrieben werden, nicht für reale Zwecke gedacht sind. Lernertexte weisen daher oft auch auf Probleme der schulischen Schreibsituation hin: Wenn Texte nicht geschrieben werden, um jemandem etwas zu erzählen, ihn zu informieren oder von etwas zu überzeugen, dann fehlt der Textproduktion eine reale kommunikative Funktion und damit eine zentrale Steuerungsinstanz für das Schreiben. Ein Blick auf die Themenentfaltung in diesem Text zeigt, dass der Sinnzusammenhang mit zunehmender Textlänge verloren geht; während die Abfolge der Informationen in der ersten Texthälfte noch weitgehend stringent ist, werden sie in der zweiten Texthälfte nur noch lose miteinander verknüpft; so ist etwa am Ende des Textes nicht klar, was die Kinder „erreicht” haben und wer „Renate” ist, die plötzlich auftaucht - sie wird als Protagonistin weder eingeführt noch näher charakterisiert. Auch der fehlende bzw. ungenaue Einsatz von Kohäsionsmitteln 87 („Winter ist 86 Schülerinnen und Schüler der vierten Schulstufe sind nach Bereiter noch kaum in der Lage, den Sprung vom „assoziativen” zum „performativen” Schreiben zu schaffen. Diese auf das Alter der Schreibenden bezogene Perspektive ist vielfach kritisiert worden, da nichtkommunikatives Schreiben auch noch bei älteren Schreibenden vorkommt und weil SchülerInnnen mitunter auch schon früher in der Lage sind, adressatenorientiert zu schreiben, wenn sie dazu aufgefordert werden. Die Schreibentwicklung ist daher nicht nur als ein altersabhängiger Prozess zu betrachten, sondern auch an individuellen Schreiberfahrungen auszurichten (vgl. Ossner 1996). 87 Kohäsionsmittel dienen dazu, einzelne Textelemente zu einem sinnvollen Textganzen zu verknüpfen. Der Einsatz von Kohäsionsmitteln ist ein zuverlässiger Indikator für die Schreibentwicklung (vgl. Bachmann 2002, 204 f.). Die Berücksichtigung bzw. Vernachlässigung bestimmter Kohäsionsmittel korrespondiert mit der Ausdifferenzierung bestimmter Schreibfähigkeiten (vgl. Bachmann 2005, 167). Die Häufigkeit des Auftretens von Kohäsionsmitteln allein ist jedoch noch kein Indikator für eine gut entwickelte Textkompetenz. Frühe Stadien der Schreibentwicklung sind durch fehlendes oder bloß vereinzeltes Auftreten von kohärenzstiftenden Mitteln gekennzeichnet, in den mittleren Stadien treten sie gehäuft auf und in entwickelteren Stadien werden Kohäsionsmittel zunehmend durch textstrukturierende Mittel ersetzt, die nicht an der Oberfläche eines Textes ersichtlich sind und es werden „voraussetzungsreichere” sprachliche Mittel des Verweisens, Verknüpfens und Textstrukturierens verwendet (vgl. Bachmann 2005, 164). Die Notwendigkeit ihres Einsatzes wird von den Schreibenden kritisch überprüft und dies mit Blick auf die spezifischen Bedürfnisse <?page no="69"?> 69 gekommen wir wollen Schlitten fahren.” „Tiefer Schnee gibt es, dass wir Schlliten fahren.”) weist darauf hin, dass es den Lernenden offenbar zunehmend schwer fiel, Informationen logisch-adäquat zu verknüpfen und einen kohärenten Text zu konstruieren. 88 Die Struktur des Textes wird zunehmend brüchig, bis sie am Ende schließlich beinahe ganz zerfällt. Dies entspricht den Ergebnissen einer empirischen Studie von Knapp (1997), in der Erzähltexte von deutschsprachigen SchülerInnen und Migrantenkindern analysiert wurden. Dieser Studie zufolge beginnen Lernende mit geringer Textkompetenz Texte vielfach auf einem Niveau, das sie nicht bis zum Ende durchhalten (Knapp 1997, 144). Dies dürfte vor allem daran liegen, dass es mit zunehmender Länge eines Textes zu Einschränkungen hinsichtlich der semantisch und pragmatisch zulässigen Anschlussmöglichkeiten kommt. Die logisch-schlüssige Verknüpfung von einzelnen Textelementen wird daher mit zunehmender Textlänge schwieriger. Auch die Länge eines Textes ist ein Hinweis auf die Fähigkeit der Lernenden, komplexe Textstrukturen zu entwickeln. Knapp (1997) konnte feststellen, dass die kürzesten Texte von jenen Schülerinnen und Schülern stammten, die - wie Gönül, Marija und Secil - bereits in einer deutschsprachigen Schule eingeschult wurden. Die Fähigkeit, komplexe Textstrukturen zu entwickeln, ist bei diesen Lernenden bei weitem geringer als bei deutschsprachigen SchülerInnen bzw. auch bei Zweitsprachenlernenden, die schon in ihrem Herkunftsland eine Schule besucht hatten und schriftsprachliche Fähigkeiten bereits in ihrer Erstsprache aufbauen konnten (vgl. Knapp 1997, 142). 89 und das Vorwissen der AdressatInnen (vgl. Bachmann 2005, 170). Je anspruchsvoller diese Mittel sind, desto spärlicher ist ihr Einsatz, da sie im Hinblick auf das Textganze ein größeres „Kohäsionspotential” haben. Es werden also im Laufe der Schreibentwicklung weniger, dafür aber anspruchsvollere Kohäsionsmittel eingesetzt (vgl. Bachmann 2005, 175). Relevant ist daher nicht nur die Häufigkeit des Einsatzes von kohärenzstiftenden Elementen, sondern auch die Frage, wie diese eingesetzt sind. 88 In der vierten Schulstufe haben viele Kinder noch erhebliche Schwierigkeiten mit dem Einsatz von Kohäsionsmitteln (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003). 89 Kinder aus Sprachminderheiten mit einer langen Aufenthaltsdauer verfügen nach Knapp (1997) nur über ein geringes Repertoire an narrativen Gestaltungselementen und sind meist nicht in der Lage, Erzählelemente wie etwa Markierungen der Plötzlichkeit zu realisieren (vgl. Knapp 1997, 161). Dies lässt darauf schließen, dass die Textkompetenz von Kindern aus Sprachminderheiten der zweiten Generation, die bereits im Zielsprachenland aufgewachsen sind, tendenziell weniger gut entwickelt ist als bei Kindern, die schon einen Teil ihrer Schulzeit im Herkunftsland verbracht haben. Dazu liegt auch eine Studie aus den Niederlanden vor, in der der Schriftspracherwerb auf Türkisch und Niederländisch untersucht wurde (Verhoeven/ Aarts 1998). Auch in dieser Studie wird zwischen früher und später eingewanderten Gruppen von SchülerInnen unterschieden: Die später eingewanderten SchülerInnen, die noch die Schule im Herkunftsland besucht hatten, erbrachten bessere schulische Leistungen als diejenigen, die ihre ganze Schulzeit in den Niederlanden verbracht hatten. Es scheint daher ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Aufenthaltsdauer, den schriftsprachlichen Kompetenzen und der schulischen Leistungsfähigkeit zu bestehen. <?page no="70"?> 70 6.1.2 „… ich kann ja in den Teich hupfen”: Vom assoziativen zum strukturierenden Schreiben Der zweite Text, der zur selben Schreibaufgabe entstanden ist, stammt von Mira, einer neunjährigen deutschsprachigen Schülerin. 90 Mira hat ihren Text alleine verfasst, es handelt sich daher in diesem Fall nicht wie zuvor um eine kooperative, sondern um eine individuelle Schreibleistung. 91 WINTER „Wow Mami, es schneit schon wieder schau mal! ” Ich heiße Mira und bin neun Jahre alt. Natürlich freue ich mich jedes Jahr wen der WINTER kommt. Ich liebe den WINTER. Trotzem ist manchmal kein Schnee das ist dann nicht so lustig, die Bäume sind kahl, der Wind weht und es ist zu kalt zum Rausgehen. Endlich ist wieder Sommer und man kann schwimmen gehen und wandern. Rodln gehen ist zwar vorbei aber ich kann ja in den Teich hupfen. „Tschüs! ” Der Text ist umfangreicher, 92 inhaltlich anspruchsvoller und sprachlich korrekter als jener von Marija, Secil und Gönül. Er ist lexikalisch und syntaktisch differenzierter, enthält komplexere Sätze und mehr Relativsätze. Mira setzt vor allem Konjunktionen ein, die eine lineare Textstruktur konstituieren; ihre Textverknüpfungen sind nicht durchgehend angemessen - so signalisiert etwa die Konjunktion „trotzdem” eine Einräumung, die im Text nicht entsprechend hergeleitet wird. 93 Brüche in der Sinnstruktur des Textes finden sich weiters am Beginn des Textes, wo der Einleitungssatz mit der Vorstellung des Mädchens semantisch nicht verknüpft ist oder etwa im Bereich des thematischen Übergangs zwischen „Winter” und „Sommer”, wo das temporal gesetzte „endlich” funktional nicht entsprechend eingebettet ist. Mira setzt in ihrem Text zahlreiche Erzählelemente ein, die zur sprachlichen Ausgestaltung des Textes beitragen. So verwendet sie etwa eine Reihe verschiedener Bewegungsverben („schwimmen gehen”, „wandern”, „in den 90 Mira stammt aus einem familiären Umfeld mit einem hohen Bildungsniveau. Ihr wurde von Kind an viel vorgelesen, seit sie selbst lesen kann, liest sie gerne und viel. 91 Die Synergiepotentiale, die beim gemeinsamen Schreiben entstehen, indem Lernende ihre Ideen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zusammentragen und bündeln, konnten daher bei dieser Schreibaufgabe nicht genutzt werden. 92 Die Textlänge ist ein Kriterium für den Einfallsreichtum, sofern der größere Wortumfang nicht auf einer bloßen Wiederholung von Wörtern beruht (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2006, 121). 93 Nach Feilke (2001) sind sowohl Relativsätze als auch Konjunktionen wichtige Indikatoren für Textkompetenz. Konjunktionen geben Aufschluss über die Fähigkeit zur satzübergreifenden Textbildung. Mit zunehmender Schreibkompetenz geht der Gebrauch von Konjunktionen allerdings wieder zurück - überall dort, wo die Schreibenden davon ausgehen, dass die Lesenden Zusammenhänge zwischen Sätzen selbst herstellen können, wird auf Konjunktionen verzichtet (vgl. Feilke 2001, 115 f.). <?page no="71"?> 71 Teich hupfen”, „Rodln gehen”) 94 und verbindet die subjektive Perspektive auf das Thema mit einem allgemeinen Interesse. Sie beschreibt den Winter als eine Jahreszeit mit seinen typischen Erscheinungsformen, bringt gleichzeitig aber auch eigene Gefühle und Vorlieben im Bezug auf das Thema ins Spiel: „Natürlich freue ich mich jedes Jahr wen der WINTER kommt. […] Trotzem ist manchmal kein Schnee das ist dann nicht so lustig, die Bäume sind kahl, der Wind weht und es ist zu kalt zum Rausgehen.” 95 Die Schilderung konkreter, beobachtbarer Vorgänge und Zustände („… es schneit schon wieder, schau mal! ”, „die Bäume sind kahl …”) wechselt ab mit der Darstellung eigener Gefühle und Vorlieben („Natürlich freue ich mich jedes Jahr wen der WINTER kommt. Ich liebe den WINTER.”). Durch die Verzahnung von subjektiven und verallgemeinernden Aussagen wird eine Emotionalisierung und persönliche Färbung des Textes erreicht („… ist manchmal kein Schnee [allg.] das ist dann nicht so lustig [pers.], die Bäume sind kahl, der Wind weht und es ist zu kalt zum Rausgehen [allg.]. Endlich ist wieder Sommer [pers.] und man kann schwimmen gehen und wandern” [allg.]), wenngleich die persönlichen Assoziationen nicht immer entsprechend kontextualisiert sind und in der Chronologie der Darstellung nicht durchwegs nachvollziehbar erscheinen („Rodln gehen ist zwar vorbei aber ich kann ja in den Teich hupfen”). 96 Der thematische Kontrast zwischen Winter und Sommer, den die Verfasserin konstruiert, zeigt ihr Bemühen, das vorgegebene Thema in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Sie hebt diesen Gegensatz auch typographisch hervor, indem sie WINTER und SOMMER in Großbuchstaben schreibt. Am Ende des Textes führt sie die beiden thematischen Stränge zusammen, sodass eine thematische „Klammer” entsteht, die das Gegensatzpaar Winter - Sommer verbindet. 94 Marija, Secil und Gönül verwenden nur ein einziges Verb, das eine Handlung anzeigt („Schlitten fahren”). Bewegungsverben, die mit einer Handlung der Geschichte in Verbindung stehen, sind nach Peltzer-Karpf et al. (2003) Indizien für „Sequenzen”, die gegenüber „punktuellen Beschreibungen” einen Fortschritt in der Entwicklung der Textkompetenz anzeigen. Die Mehrheit der von ihr untersuchten Zweitsprachenlernenden war im vierten Schuljahr bereits in der Lage, einfache Texte ohne Erzählkern bzw. einfache Erzählungen mit Kern zu produzieren (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 155). Die meisten deutschsprachigen SchülerInnen konnten im vierten Schuljahr bereits kohärente Erzählungen bzw. Erzählungen mit geringer Kohärenzstörung produzieren. 95 Auch im Text von Marija, Secil und Gönül kommt ein Wechsel zwischen der persönlichen Ebene und der allgemeinen Sachebene vor: Auf beiden Ebenen ist die Informationsdichte jedoch gering, Inhalte werden kaum variiert (z.B. auf der Sachebene: „Irgent wo im Österreich müsste irgentwo Schnee geben …” - „in Norden gibt es sicher viel Schnee …” - „Tiefer Schnee gibt es …” und auf der persönlichen Ebene: „… wir wollen Schlitten fahren” - „… dass wir Schlliten fahren”) bzw. sind teilweise unverständlich. 96 Diese Äußerung deutet an, dass die Grenze zwischen persönlichen und verallgemeinernden Aussagen bisweilen verschwimmt - mit „man kann schwimmen gehen und wandern” könnte auch gemeint sein „ich kann schwimmen gehen und wandern”. <?page no="72"?> 72 Auch in Miras Text finden sich Spuren von Mündlichkeit: Sie spricht die Lesenden direkt und ganz persönlich an, indem sie sich am Beginn des Textes vorstellt („Ich heiße Mira und bin neun Jahre alt.”) und am Ende verabschiedet („Tschüs! ”). Mira orientiert sich damit bereits bewusster an potentiellen Lesenden als Gönül, Secil und Marija. Dies mag an ihrer höheren Schreibkompetenz liegen oder aber auch daran, dass sie sich beim Schreiben stärker als die anderen an schulisch vorgegebenen Normen orientiert. Sie hat im Unterricht gelernt, dass man sich die Lesenden vorstellen soll 97 und dass direkte Reden dazu beitragen, einen Text lebendiger zu machen, da sie Ereignisse dramatisieren bzw. in Szene setzen („Wow Mami, es schneit schon wieder schau mal! ”). 98 Die Unterschiede in der Qualität der beiden Texte könnten auch darauf zurückzuführen sein, dass die Schülerinnen den schriftsprachlichen Anforderungen dieser Aufgabe nicht gleichermaßen gewachsen waren - Mira hat diese Textaufgabe bewusster als eine Textaufgabe wahrgenommen und mithilfe effizienterer Strategien als Gönül, Secil und Marija bearbeitet. 6.2 Texte als Lernmedien im Sprach- und im Sachunterricht Die Schwierigkeiten von Lernenden, Texte zu verstehen und die daraus gewonnenen Informationen als Grundlage des Lernens zu nutzen, bestehen in der Schule meist vor allem in der Arbeit mit Sachtexten. 99 Während die Aufmerksamkeit im Sprachunterricht primär auf den sprachlichen Aspekten liegt, wird im Sachunterricht meist keine gezielte Spracharbeit geleistet. Es wird vielmehr selbstverständlich vorausgesetzt, dass Zweitsprachenlernen- 97 Schwächen in der Gestaltung des Textes zeigen sich u.a. darin, dass die Vorstellung der Erzählerin am Beginn des Textes und die Verabschiedung am Ende ziemlich abrupt und ohne Einbettung in den Gesamttext erfolgen. 98 In der Schule werden die Kinder meist gegen Ende der Grundschulzeit zunehmend dazu gedrängt, direkte Reden in ihren Texten zu verwenden. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass der Anteil der wörtlichen Reden in den Texten der ViertklässlerInnen am höchsten ist (zur siebten Klasse hin fällt er wieder ab) (vgl. Pohl 2005, 96). Direkte Reden werden aber mitunter auch verwendet, um komplexe Strukturen zu vermeiden (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 191). 99 Zu Sachtexten werden im Rahmen dieser Arbeit all jene Texte gezählt, die über Sachverhalte informieren, d.h. auch didaktisch instruktive Texte, die fachspezifische Inhalte thematisieren (vgl. Bock 2005, 109). Die Probleme des Textverstehens sind im Umgang mit Sachtexten in der Schule am größten - dies gilt für Zweitsprachenlernende ebenso wie für Muttersprachige (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 186). Eine Untersuchung des Textverständnisses von Kindern im dritten Schuljahr hat ergeben, dass das Verstehen von Sachtexten für 50 % der untersuchten Migrantenkinder eine schwer überwindbare Hürde darstellt (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 185). <?page no="73"?> 73 de die für das Verstehen von Sachtexten nötigen Voraussetzungen bereits mitbringen. 100 Im Zentrum der folgenden Analysen stehen Zusammenfassungen, die auf der Grundlage eines literarischen Textes und mehrerer Sachtexte entstanden sind. Mithilfe von Textanalysen sollen Rückschlüsse auf die Schreibkompetenzen, aber auch auf die Verstehensfähigkeiten der Lernenden gezogen werden. Es geht dabei vor allem um die Frage, worin die häufigsten Schwierigkeiten beim Verstehen und Wiedergeben von Texten zu Sachthemen bestehen und inwieweit Lernende in der Lage sind, • zentrale Themenaspekte in einem Text zu erkennen und zu fokussieren; • Textinhalte zu verstehen und nachvollziehbar wiederzugeben; • sprachliche Normen einzuhalten; • Texte zu reflektieren, zu bewerten und aus subjektiver Perspektive wiederzugeben. 6.2.1 Texte verstehen und wiedergeben Das Textverstehen ist ein hochkomplexer Prozess der kognitiven Sprach- und Informationsverarbeitung. Mangelnde Textkompetenz zeigt sich beim Lesen und Verarbeiten von Texten etwa darin, dass Lernende nicht in der Lage sind, vom Verstehen der einzelnen sprachlichen Elemente an der Textoberfläche zu einem tiefer gehenden Sinnverstehen des Textes vorzudringen (vgl. Hornung 2005, 129). Wird ein Text in seiner Sinnstruktur nicht verstanden, so gelingt es auch nicht, die tiefer liegende logische Verknüpfung der Gedanken bei der Wiedergabe des Textes deutlich zu machen (vgl. Hornung 2005, 130 f.). Was bedeutet es daher, einen Text zu verstehen und verständlich wiederzugeben? Beim Textverstehen sind komplexe Prozesse der Sprachverarbeitung involviert, in denen der Sinn eines Textes konstruiert werden muss. Diese konstruktiven Prozesse verlaufen nicht in geordneten Reihenfolgen, sondern sind vielmehr gekennzeichnet durch ein simultanes Neben- und Miteinander von Prozeduren (vgl. Heinemann/ Heinemann 2002, 176 f.). Dabei werden nach van Dijk/ Kintsch (1978) zunächst minimale semantische Einheiten fokussiert („Mikropropositionen”), die die Basis für das Konstruieren von größeren Bedeutungseinheiten bilden. Sie umfassen den Kern der im Text enthaltenen Informationen („Makropropositionen”). 101 Im 100 Auch ein Blick auf gängige Schulbücher für den Sachunterricht zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler kaum Hilfestellungen dabei erhalten, Sachtexte gezielt zu erschließen und zu bearbeiten. Am häufigsten kommen Textverständnisfragen vor, die jedoch gerade schwächere Leserinnen und Leser kaum dabei unterstützen, einen Text zu verstehen (vgl. Nodari 2005a, 50). Darüber hinaus sind die Texte selbst in den Schulbüchern oft von mangelnder Qualität. 101 Das Modell von van Dijk/ Kintsch (1978) ist ein allgemeines Sprachverarbeitungsmodell, das nicht primär auf die Verarbeitung schriftlicher Texte abhebt. <?page no="74"?> 74 Gedächtnis werden schließlich nur jene Informationen behalten, die für die Lernenden relevant sind, irrelevante Informationen werden gelöscht. 102 Zu den zentralen kognitiven Operationen beim Textverstehen zählen neben dem Identifizieren, Hypothesenbilden, Klassifizieren, Relativieren, Vergleichen, Generalisieren, Abstrahieren und Schlussfolgern vor allem das Inferieren und Elaborieren von Informationen. Diese Operationen und Prozesse dienen dazu, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge in Texten zu erkennen und das Wissen der Lernenden mit den im Text enthaltenen Informationen zu verbinden (vgl. Wolff 2002, 138, 153, 184). 103 • Inferierungsprozesse erlauben es, Lücken in einem Text zu schließen und kausale Beziehungen zwischen einzelnen Aussagen bzw. zwischen dem Text und dem Kontext herzustellen; • Elaborierungsprozesse ermöglichen es, die explizit in einem Text dargestellten Inhalte durch das bestehende Wissen zu ergänzen. Lernende greifen in Textverstehensprozessen nicht nur auf die im Text enthaltenen Informationen, sondern auch auf ihr bereits vorhandenes Wissen zurück. Dabei bringen sie auch ihre individuellen, kulturspezifisch geprägten Bewertungen, Einstellungen und Interpretationen ins Spiel. 104 Die sprachliche Oberfläche spielt in Textverstehensprozessen keine unbedeutende, jedoch keine vordergründige Rolle. Entscheidend ist vielmehr, ob ein Text in seiner Texttiefenstruktur kohärent ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Syntax, die Grammatik und die Orthographie eines Textes für das Textverstehen nicht relevant wären. So werden etwa einfache syntaktische Strukturen schneller aufgenommen und leichter verarbeitet, komplexe Sätze und Wörter hingegen sind schwerer zu verstehen und zu verarbeiten (vgl. Heinemann/ Heinemann 2002, 175). Beim Textverstehen spielen aber auch Wissensbestände eine Rolle, auf die die Lernenden beim Lesen zurückgreifen können. Einen Text zu verstehen, bedeutet daher nicht nur, die Wörter und den Sinnzusammenhang eines Textes zu erkennen, sondern auch über grundlegende Informationen darüber zu verfügen, wovon der Text handelt. Darüber hinaus spielt auch die Leseabsicht für das Textverstehen eine Rolle: Sie steuert die Art und die Intensität des Verstehensprozesses und kann dazu führen, dass verfügbare kognitive Operationen gezielter ausgewählt, aufeinander abgestimmt und für die Entwicklung von Textverstehensstrategien genutzt werden. 102 Dies entspricht der „Schema-Theorie”, der zufolge Sprachverarbeitungprozesse primär auf Selektions- und Abstraktionsfunktionen beruhen (vgl. Spiro 1980; Alba/ Hasher 1983). 103 Während van Dijk/ Kintsch (1978) davon ausgehen, dass Inferierungsprozesse nur bei mangelnder Kohärenz von Aussagen vorkommen, nehmen Schank/ Abelson (1977) an, dass in Sprachverarbeitungsprozessen ständig inferiert wird (vgl. Wolff 2002, 159). 104 Zweitsprachenlernenden fehlt häufig das mit einem Thema verbundene kulturspezifische Weltwissen, das erforderlich ist, um einen Text zu verstehen. <?page no="75"?> 75 Zusammenfassungen sind nie einfach nur Abbildungen eines vorgegebenen Textes, sondern vielmehr Resultate eines komplexen Verarbeitungsprozesses, in dem inhaltliche und sprachliche Elemente fokussiert, selektiert und in eine neue Struktur gebracht werden müssen (vgl. Wolff 2002, 154; Rickheit/ Strohner 1989, 222). Die Analyse von Zusammenfassungen zählt in der Textrezeptionsforschung zu einer Standardmethode zur Überprüfung von Verstehens-, Gedächtnis- und Rekonstruktionsleistungen (vgl. Molitor-Lübbert 1996, 1021 f.). Das Interesse gilt dabei in den meisten Arbeiten vor allem den Problemlösestrategien bei der Verdichtung von Informationen sowie den konstruktiven Ergänzungen bei der Wiedergabe des Textes. Im schulischen Kontext eignen sich Zusammenfassungen auch deshalb für Textanalysen, weil die vorgegebenen Texte unmittelbar zugänglich sind und daher rekonstruiert werden kann, welche Informationen von den Lernenden berücksichtigt wurden und welche nicht (vgl. Keseling 1993, 2). 6.2.2 „In diesem geschicht Lernen wir die Johanna und ihre Mutter kennen”: Zusammenfassungen eines Erzähltextes Zunächst zu den Zusammenfassungen, die auf der Grundlage des literarischen Textes im Deutschunterricht in der 4. Klasse einer Hauptschule entstanden sind. 105 Beim Vorlagentext handelt es sich um die von Dora Grünberg verfasste Erzählung „Heil Hitler”. 106 Sie spielt im Zweiten Weltkrieg und hat aufklärerischen Charakter. Der Band, in dem die Erzählung erschienen ist, trägt den Titel: „Mut im Bauch. 12 Geschichten über Zivilcourage” (Groiß/ Likar 2000) und ist an Jugendliche gerichtet. Bei den SchülerInnen, die die Zusammenfassungen geschrieben haben, handelt es sich um drei 15-jährige SchülerInnen, zwei davon, Aynur und Emre, sind türkischer Herkunft mit Kurdisch als Muttersprache, Dominik ist deutschsprachig und kommt aus Österreich. Der Fokus der Textanalysen liegt auf den Texten von Aynur und Emre. 107 Emre ist vor vier Jahren nach Österreich gekommen. Zum Zeitpunkt, als der Text entstand, hat er mit seinem Vater und seinem Bruder zusammengelebt, seine Mutter ist kurz davor in die Türkei zurückgekehrt. Laut Auskunft der Lehrerin ist er sehr introvertiert und wortkarg. Emre hat in der Schule in allen Fächern Probleme. Das türkische Mädchen Aynur lebt seit der zweiten Klasse Volksschule in Österreich. Auch sie hat in den meisten Fächern Probleme. Ihr beruflicher Weg ist vorgezeichnet - sie soll nach der Schule im Geschäft ihres Vaters arbeiten. Aynur ist darüber sehr unglücklich - sie wünscht sich sehnlich, selbst einen Beruf wählen zu dürfen. 105 Das entspricht der 8. Schulstufe. 106 Originaltext siehe Anhang Seite 224. 107 Lernertexte siehe Anhang. <?page no="76"?> 76 Die SchülerInnen hatten die Aufgabe, die Erzählung zu lesen und auf einer knappen Heftseite zusammenzufassen. Der vorgegebene Text war mit Aynur und Emre zuvor im Unterricht ausführlich besprochen worden. Das Zusammenfassen von Texten war anhand verschiedener Textvorlagen mehrfach geübt worden. Heil Hitler In diesem geschicht Lernen wir die Johanna und ihre Mutter kennen. Diese Geschich spielt im 2. Weltkrieg. Sie Leben in einem Deutschen Staad. die Johanna hat Angst wenn sie schlafen geht, weil jeden Nacht werden die Deutsche Staäde Bombardiert. Deshalb sie ihre Verwande ins Land gezogen. Die Famielie bezitst ein Bauernhof im Land. Aber Johannas Mutter war mutig sie bleibte in der Staad und leitet ein Brotfabrik Damit wenigsten noch die Menschen Brot haben. Sie beliefert die Krankenhäusen Altesheimer und 8 Filialen Brot. Die Johanna bewundert ihre Mutter weil sie so mutig ist. Am 13. August kamen zwei SA Männer in das Brotfabrik und mächten ein Angebot machen. Die Mutter soll für Hitler arbeiten und die BDM-Madchen Unterrichten damit sie Segeschi lernen. Aber die Mutter lehnte das Angebot. Die Männer sagten es wird Konsequenzen haben. (Aynur E.) Heil Hitler In dieser Geschichte lernen wir Johanna mit seinem Mutter. Der Zeit der zweite Weltkrieg. In Johannas Stadt wird es Bombatriert. Deshalb Johannas Verwandern verlassen der Stadt gehen in einem Land einen Bauhof. Nur bleibt Johannas Mutter in der Stadt und leitet ein Brotfabrik, damit Krankenhäuse, Altesheim und Menschen etwas zu brot essen. Fast gibt es in der Stadt Bombenalarm. Die Menschen laufen in der Luftschutzkeller. Viele Menschen wird von Bombentriemer gestorben und von SA Männer abgeholt, so wie Johannas Vater. Ein tag kommen SA Männer zu den Brotfabrik gehen zum Johannas Mutter. Johannas Mutter wird abgelehnt, aber Johannas Mutter will nicht von Hitler zu tun haben. (Emre K.) Heil Hitler In dieser Geschichte lernen wir ein 14-jähriges Mädchen Namens Johanna und ihre Mutter kennen. Die Geschichte spielt im 2. Weltkrieg. Eines Tages kommen zwei uniformierte Männer in die Bäckerei der Mutter. Sie machen ihr ein Angebot. Die Mutter lehnt es aber ab. Beide sind gegen Hitler. Die Verwanten von Johanna fliehen aufs Land, aber Johanna und ihre Mutter bleiben zurück. Die Mutter versorgt Waisenhäuser und Krankenhäuser mit Brot. Dann, eines Tages kommen die zwei Männer wieder. Sie bieten der Mutter an Segelflug- und Schilehrerin beim Deutschen Bundesheer zu werden. Die Mutter lehnt wieder ein mal ab. Sie wurde als Kind schon einmal aus einem Verein geschmissen. Die Mutter muss mit argen Konsequenzen rechnen. Sie geht zum Tresor und hohlt das letzt Packerl Kaffee heraus. (Dominik R.) 6.2.2.1 Thematische Schwerpunkte Die Überschrift „Heil Hitler” wurde von der Lehrerin vorgegeben. Der Hitlergruß ist in der Erzählung von Grünberg ein Symbol für die gewaltsame Repression im Dritten Reich. Gleichzeitig symbolisiert dieser Gruß auch den Widerstand gegen das autoritäre Regime. Die Mutter von Johanna, <?page no="77"?> 77 die zentrale Figur dieser Erzählung, verweigert den Hitlergruß ganz offen und riskiert damit ihr Leben. Der Hitlergruß ist nur in der Zusammenfassung von Aynur ein zentrales Textthema. 108 Aynur stellt die Protagonistin Johanna und ihre Mutter ins Zentrum ihres Textes. Sie schildert, wie Johanna ihre Mutter für die Zivilcourage und ihr mutiges Auftreten gegenüber den Machthabern bewundert - auch Johanna wäre gerne so mutig wie sie, empfindet sich selbst jedoch als ängstlich und feige. 109 Aynur beschreibt Johannas Gefühle sowie ihre inneren Konflikte, Wünsche und Sehnsüchte auf sprachlich differenzierte und einfühlsame Weise. In der Zusammenfassung von Emre stehen Johanna und ihre Mutter nicht auf dieselbe Weise im Mittelpunkt, das zentrale Thema in seiner Zusammenfassung sind vielmehr die kriegerischen Ereignisse in der Stadt und deren zerstörerische Folgen. Emre schildert diese Geschehnisse nüchtern, sachlich und distanziert. Der Hitlergruß ist in seinem Text nur am Rande ein Thema. In der Zusammenfassung von Dominik stehen die Begegnungen der Mutter mit den SA-Männern im Zentrum. Beide Treffen sind ausführlich geschildert, obwohl nur die erste Konfrontation der Mutter mit den SA- Männern in der Erzählung von Grünberg vorkommt und dort auch nur am Rande erwähnt wird. Dominik setzt diese Begegnung an den Beginn seines Textes und führt sie detaillierter aus als im Original - er erfindet einzelne Fakten und fügt sie jenen, die in der Erzählung von Grünberg vorkommen, hinzu. 6.2.2.2 Emotionalität und Identifikation Während Dominik in seinem Text keine erkennbare emotionale Beteiligung zeigt, scheint Emre vor allem von den kriegerischen Ereignissen, die in der Erzählung geschildert werden, emotional stark angesprochen zu sein. Er konzentriert sich in seiner Zusammenfassung weniger auf einzelne Personen als auf die Geschehnisse des Krieges. Die Protagonisten sind, was deren Ziele, Beweggründe und Emotionen betrifft, in seinem Text nicht näher beschrieben, ihr Verhältnis zueinander wird distanziert und sachlich geschildert. Emre erwähnt den Vater, der in den Zusammenfassungen der beiden anderen nicht vorkommt. 110 Die Tatsache, dass Emre seinen Vater ins Zentrum rückt und Dominik die SA-Männer in den Mittelpunkt stellt, während Aynur die weiblichen 108 Aynur nimmt zwar nicht explizit Bezug darauf, wofür dieser Gruß inhaltlich steht, implizit bildet er jedoch den thematischen Kern dieses Textes. 109 In den Textanalysen von Arzt (1999, 162) hat es sich weiters auch gezeigt, dass Mädchen - stärker als Jungen - den Widerstand, allgemein und im Speziellen von Frauen, zum Thema machen. 110 Emre schreibt, dass Johannas Vater von SA-Männern abgeholt worden ist, offen bleibt jedoch in der Zusammenfassung von Emre wie auch in der Erzählung von Grünberg, was mit dem Vater danach passiert. <?page no="78"?> 78 Protagonistinnen fokussiert, könnte auf eine geschlechterspezifische Tendenz in der Wahrnehmung der Erzählinhalte und der Identifikation mit den ProtagonistInnen hinweisen. Schon Dahrendorf hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Mädchen bei der Wiedergabe von Erzähltexten eher mit weiblichen und Jungen eher mit männlichen Figuren identifizieren (vgl. Dahrendorf 1987; Arzt 1999), sie sind empathischer und stärker an Beziehungen interessiert, fühlen sich mehr in die Figuren einer Erzählung hinein und drücken dies auch sprachlich auf differenziertere Weise als männliche Schreibende aus. 111 Darüber hinaus schreiben sie längere Texte, weichen stärker von den vorgegebenen Inhalten ab und nehmen häufiger subjektive Positionen ein (vgl. Arzt 1999, 164). 112 Aynur, die als Angehörige der kurdischen Volksgruppe selbst mit der Erfahrung der Repression, der Angst und der Flucht konfrontiert war und sich laut Aussage der Lehrerin auch in Österreich durch rigide soziale und familiäre Vorgaben eingeengt fühlt, scheint durch die Situation von Johanna und deren innerem Zwiespalt zwischen Anpassung und Widerstand persönlich stark angesprochen zu sein. Man meint in ihrem Text zu spüren, wie sehr sie diese Erzählung aufwühlt und hat den Eindruck, dass sie sich mit Johanna, ihren Ängsten und Zweifeln stark identifiziert. In ihrem Text sind die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle der weiblichen Protagonistinnen auf differenzierte und einfühlsame Weise dargestellt. Für die Charakterisierung der Figuren verwendet Aynur als einzige von den drei Schüler- Innen Attribute; so beschreibt sie etwa ihre Mutter als „mutig” und Johanna als eine, die „Angst” hat und ihre Mutter „bewundert”. Diese Bewertungen erfolgen aufgrund persönlicher Interpretationen; sie kommen im Vorlagentext nicht in derselben Weise vor. Aynur dürfte nicht erst beim Schreiben, sondern auch bereits beim Lesen emotional stark beteiligt gewesen sein. Sie hat die Erzählung offenbar bereits aufmerksam gelesen und kann die dargestellten Ereignisse und die ProtagonistInnen daher ausführlich und genau beschreiben. 113 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung ihrer Lehrerin, die meint, dass Aynur immer dann, wenn sie von einem Thema oder einem Text persönlich stark angesprochen ist, sprachlich geradezu 111 Dies ist auch das Ergebnis der Studie von Arzt (1999), in der Zusammenfassungen von Bibeltexten analysiert wurden. Die empirische Grundlage bestand in Texten von 10bis 15-jährigen SchülerInnen (vgl. Arzt 1999), die die Aufgabe hatten, einen Bibeltext („Die Geschichte der Waschti”) aus dem Buch „Ester” (Altes Testament) zusammenzufassen. 112 Aynurs Text ist mit 135 Wörtern der längste, gefolgt von Dominiks Text (124 Wörter) und Emres Text (106 Wörter). 113 Eine emotionale Beteiligung beim Lesen wirkt sich positiv auf die Rekonstruktion von Informationen beim Wiedergeben von Texten aus. Dabei spielen auch kulturelle Aspekte eine Rolle - so motiviert etwa eine Geschichte, die die Lesenden emotional stark anspricht, weil sie kulturell determinierte positive Assoziationen weckt, zu einer ausführlicheren und lebendigeren Wiedergabe als eine Geschichte, in der vieles vorkommt, das die Lernenden aufgrund fremdkultureller Implikationen nicht anspricht (vgl. Knapp 1997, 35). <?page no="79"?> 79 „über sich hinauswächst”. Ihre Schreibleistungen liegen dann weit über dem sonst von ihr in Texten erreichten Niveau. Diese Beobachtung bestätigt die Hypothese von Anderson (1996), der zufolge ein subjektives Interesse an Texten die Wiedergabe- und Merkleistungen deutlich positiv beeinflusst. Auch Dehn (1996, 177) geht davon aus, dass die Fähigkeit von Lernenden, kohärente Textstrukturen zu entwickeln, nicht nur abhängig ist von der Komplexität der Inhalte, sondern auch von der emotionalen Beteiligung derjenigen, die sie verfassen. 6.2.2.3 Sprachlich-formale Gestaltung Die Texte von Aynur und Emre weisen auf der sprachlichen Normebene eine Reihe von Defiziten auf. In der folgenden Fehleranalyse geht es darum herauszufinden, inwieweit die Sprachkompetenz der Lernenden mit deren Textkompetenz korreliert. Aynurs Text wird im Textverlauf zusehends korrekter, 114 auch stilistisch wird er flüssiger und sicherer. Sprachliche Normverletzungen kommen vor allem in den folgenden sprachlichen Bereichen vor: 115 • Genusbildungen und Deklinationen („in diesem geschicht”, „in einem Deutschen Staad”, „die Famielie bezitst ein Bauernhof”, „leitet ein Brotfabrik”) 116 • Präpositionen („bezitst ein Bauernhof im Land”); • Pluralbildungen („beliefert die Krankenhäusen Altesheimer”, „Staäde”); • Groß-/ Kleinschreibung („In diesem geschicht”, „in einem Deutschen Staad”, „die BDM-Madchen Unterrichten”, „Bombardiert”); • Buchstabenauslassungen („In diesem geschicht”, „Diese Geschich”, „wenigsten”); • Orthographie („Staad”, „Famielie”); • Tempuswechsel bzw. Präteritumbildung („Aber Johannas Mutter war mutig sie bleibte in der Staad und leitet ein Brotfabrik”, „… kamen zwei SA Männer in das Brotfabrik und mächten ein Angebot machen”). Emres sprachliche Normverletzungen betreffen insbesondere • die Genusbildungen und Deklinationen („Der Zeit der zweite Weltkrieg”, „mit seinem Mutter”, „verlassen der Stadt”, „zu den Brotfabrik”); • die Präpositionen („will nicht von Hitler zu tun haben”); • die Richtungsangaben („laufen in der Luftschutzkeller”, „gehen in einem Land einen Bauhof”, „zum Johannas Mutter”); 114 Dies zeigt sich z.B. in den Nebensatzkonstruktionen und in der Orthographie. 115 Es werden nur jene Fehler genannt, die mehrfach im Text auftauchen. Dort, wo mehrere Fehlerquellen gleichzeitig vorkommen, werden sie nur einer Kategorie zugeordnet. 116 Es ist nicht immer genau festzustellen, ob es sich in den einzelnen Fällen um Deklinationsfehler handelt oder ob den Lernenden das richtige Genus nicht bekannt ist. Zum Teil verwendet Aynur den Artikel einmal richtig und dann wieder falsch. <?page no="80"?> 80 • die Wortstellung im Satz („Deshalb Johannas Verwandern verlassen der Stadt”, „Nur bleibt Johannas Mutter”); • die Verbauslassungen („lernen wir Johanna mit seinem Mutter [kennen]”, „Der Zeit [war] der zweite Weltkrieg”); • das Passiv („Viele Menschen wird von Bombentriemer gestorben”, „Johannas Mutter wird abgelehnt”); • die Pluralbildungen („Krankenhäuse”, „Altesheim”); • die Groß-/ Kleinschreibung („Bombatriert”, „Ein tag”, „brot essen”). Beim Gebrauch des Genus fällt auf, dass Emre immer dann, wenn er unsicher ist, sich für das maskuline Geschlecht des Nomens entscheidet („seinem Mutter”, „der Zeit”). Er macht wenige orthographische Fehler und beherrscht die Verbstellung im Satz weitgehend sicher. Er setzt einige Spannungselemente ein und experimentiert mit verschiedenen Satzanfängen. Zum Teil ist er in seinen Formulierungen jedoch noch sehr unsicher („Ein tag”). Fehler in den Bereichen der Wortstellung, des Genus und im Bezug auf Auslassungen werden im Textverlauf seltener, zugleich wird der Text gegen Ende hin schwerer verständlich - es ist nicht ganz klar, was mit dem Verb „abgelehnt” gemeint ist und ob die Mutter tatsächlich verhaftet wurde oder nicht. Wenn man die Texte von Emre und Aynur auf der Normebene miteinander vergleicht, so zeigt es sich, dass die Defizite, die in Emres Text im Bereich der Wortstellung, der Verbauslassungen und der Konstruktion des Passivs vorkommen, in Aynurs Text nicht im selben Ausmaß vorhanden sind. In ihrem Text kommt es dafür gehäuft zu Buchstabenauslassungen und fehlerhaften Präteritum- und Tempusbildungen. Während Emres Text durchgehend im Präsens gehalten ist, nimmt Aynur mehrere Tempuswechsel vor, wobei ihr bei der Bildung des Präteritums einige Fehler unterlaufen. Diese Fehler könnten ein Hinweis darauf sein, dass Aynur gerade dabei ist, eine neue grammatische Kategorie zu erwerben - das gilt auch für den Erwerb der Artikel, bei deren Gebrauch sie ebenfalls noch sehr unsicher ist. Aus dieser Perspektive erscheinen die grammatischen Fehler von Aynur nicht als Rückschritt, sondern als ein möglicher Fortschritt in ihrer lernersprachlichen Entwicklung. Dominiks Text ist auf der Normebene kaum zu beanstanden. Bis auf zwei kleinere orthographische Fehler ist sein Text sprachlich korrekt. 6.2.2.4 Textstrukturierung und Textkohärenz In den Texten von Aynur, Emre und Dominik soll nun untersucht werden, wie sie in ihren Zusammenfassungen verweisen und auf welche Weise sie sprachliche Elemente einsetzen, um sinnstiftende Zusammenhänge in ihrem Text zu erzeugen. Das Augenmerk gilt dabei vor allem der Wiederauf- <?page no="81"?> 81 nahmestruktur in ihren Texten, da sie auf besondere Weise dazu geeignet ist, die Textkompetenz der Lernenden festzustellen. 117 Der von der Lehrerin vorgegebene Textbeginn („In dieser Geschichte lernen wir … kennen”) 118 ist in den drei Lernertexten mit den jeweils nachfolgenden Textteilen verschieden eng und sachlogisch verknüpft. Während Emre nahtlos an die vorgegebene Einleitung anschließt („In dieser Geschichte lernen wir Johanna mit seinem Mutter. Der Zeit der zweite Weltkrieg.”), verknüpft Aynur den ersten mit dem dritten statt mit dem zweiten Satz durch Pronomen („Sie Leben in einem Deutschen Staad.”). Am losesten ist die Verknüpfung im Text von Dominik: „Die Geschichte spielt im 2. Weltkrieg. Eines Tages kommen zwei uniformierte Männer in die Bäckerei der Mutter.” Sowohl Emre als auch Aynur stellen am Beginn ihrer Zusammenfassung einen allgemeinen situativen Rahmen her und schildern den Lauf der alltäglichen Ereignisse, wie er in der Erzählung geschildert ist. Dann werden Johanna und ihre Mutter als Protagonistinnen eingeführt und mit ihren individuellen Lebensgeschichten vorgestellt. Damit wird eine Grenze zur allgemeinen Schilderung der Ereignisse markiert, die sprachlich durch den Einsatz der Konnektoren „aber“ bei Aynur und „nur“ bei Emre angezeigt wird. 119 Betrachtet man die drei Texte in ihrem gesamten Verlauf, so wird deutlich, dass Emre die Informationen weitgehend nachvollziehbar anordnet und miteinander verknüpft. Seine Wiederaufnahmen sind überwiegend angemessen, wenngleich nur durch wenig Variation gekennzeichnet. Er verwendet kaum Substitutionen und Pronomen, Wiederaufnahmen erfolgen fast nur durch Rekurrenzen. Der logische Zusammenhang ist in seinem Text an einigen Stellen brüchig, das zeigt vor allem sein Einsatz von Konnektoren - so sind etwa die Sätze „Fast gibt es in der Stadt Bombenalarm. Die Menschen laufen in der Luftschutzkeller” nicht schlüssig: 120 Wenn es noch keinen Bombenalarm in der Stadt gegeben hat, ist die Reaktion der Menschen, in die Luftschutzkeller zu laufen, nicht nachvollziehbar - im Original ist an dieser Stelle ganz allgemein davon die Rede, dass es in deutschen Städten häufig Bombenalarm gibt und dass die Menschen in solchen Situationen immer in Luftschutzkeller fliehen. Es ist daher anzunehmen, dass Emre 117 Lernende mit niedriger Textkompetenz sind daran zu erkennen, dass sie die Wiederaufnahmestruktur kaum variieren, Abfolgeregeln nicht einhalten und thematische Bezüge nicht eindeutig herstellen. Nach Knapp (1997, 100) ist die Analyse der Wiederaufnahmestruktur in Schülertexten ein sehr wichtiges Instrument zur Diagnose von Textkompetenz, da es genau in jenem Bereich trennscharf ist, in dem zentrale Probleme im Umgang mit Texten vielfach sichtbar werden. 118 Solche einleitenden „chunks” sind für Schreibende oft sehr hilfreich: Sie unterstützen sie dabei, Schreibblockaden zu überwinden und Sicherheit am Beginn eines Textes zu gewinnen (vgl. Knapp 1997, 159). 119 Dieser gezielte Einsatz von sprachlichen Mitteln der Textverknüpfung, der einen Gegensatz bzw. eine Besonderheit anzeigt, findet sich im Text von Dominik nicht. 120 Emre setzt insgesamt fünf verschiedene Konnektoren ein. <?page no="82"?> 82 diese Textpassage nicht ganz verstanden hat oder aber sich über die Bedeutung des Wortes „fast” nicht im Klaren ist. Ähnliche Beispiele finden sich auch an anderen Stellen des Textes, zum Beispiel im Satz: „Nur bleibt Johannas Mutter in der Stadt und leitet ein Brotfabrik, damit Krankenhäuse, Altesheim und Menschen etwas zu brot essen” - nicht Krankenhäuser und Altersheime brauchen Brot zum Essen, sondern die Menschen, die in der Stadt leben. Im Satz „Johannas Mutter wird abgelehnt, aber Johannas Mutter will nicht von Hitler zu tun haben” wird die Konjunktion „aber” nicht adäquat eingesetzt. Dies könnte darauf zurückgeführt werden, dass Emre diese Konjunktion in ihrer Bedeutung nicht genau kennt oder aber die Wörter „ablehnen” und „anbieten” nicht ganz versteht. 121 In Aynurs Text sind die Handlungen der Protagonisten genau hergeleitet und die einzelnen Textelemente schlüssig aufeinander bezogen. Das zeigt sich sowohl in den Wiederaufnahmen 122 als auch im Einsatz der logischen Konnektoren. Aynur verwendet zahlreiche Textverknüpfungsmittel 123 und setzt sie im jeweiligen Kontext adäquat ein. Die Art der Auswahl und Verknüpfung der Informationen lässt darauf schließen, dass sie den vorgegebenen Erzähltext sowohl als Ganzes als auch in den Details gut verstanden hat. 124 In Dominiks Text bestehen demgegenüber im Bezug auf die sinnadäquate Verknüpfung einzelner Textelemente grobe Mängel. Textverknüpfungen durch logische Konnektoren sind kaum vorhanden bzw. sie sind dort, wo sie vorkommen, nicht indiziert. Die Wiederaufnahmen sind teilweise unpräzise und lassen die Lesenden darüber im Unklaren, worauf sie sich beziehen, so z.B. in der Textpassage: „Sie machen ihr ein Angebot. Die Mutter lehnt es aber ab. Beide sind gegen Hitler.” Die Substitution „beide” ist nicht eindeutig, denn es ist unklar, welche Personen damit eigentlich gemeint sind. Auch der Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen ist nicht immer gegeben: 1. Beide sind gegen Hitler. Die Verwanten von Johanna fliehen aufs Land, aber Johanna und ihre Mutter bleiben zurück. 2. Die Mutter lehnt wieder ein mal ab. Sie wurde als Kind schon einmal aus einem Verein geschmissen. 121 Richtigerweise müsste es heißen: „Johannas Mutter wird etwas angeboten, aber …” Probleme beim Verständnis einzelner Wörter zeigen sich auch noch an anderen Stellen, so z.B. im Satz „Viele Menschen wird von Bombentriemer gestorben …” Gemeint sind hier vermutlich die „Trümmer” der Bomben, von denen im Original die Rede ist. 122 Aynur verwendet in diesem kurzen Text insgesamt 8 Konnektoren, darunter 5 verschiedene. Sie sind alle angemessen, mit einer Ausnahme: Das Pronomen „Sie” im dritten Satz bezieht sich auf „Johanna und ihre Mutter” im ersten Satz, damit „überspringt” sie quasi in ihrer Wiederaufnahme den zweiten Satz. 123 Sie konstruiert Wiederaufnahmen nicht nur durch Rekurrenzen, sondern auch durch Pro-Formen. 124 Ein Verständnisproblem dürfte der Verwendung des Wortes „Segeschi” zugrunde liegen, bei dem Aynur vermutlich die Wörter „Segeln” und „Schifahren” vermischt hat. <?page no="83"?> 83 3. Die Mutter muss mit argen Konsequenzen rechnen. Sie geht zum Tresor und hohlt das letzt Packerl Kaffee heraus. Wenn Dominik schreibt, dass „beide [Johanna und ihre Mutter] gegen Hitler sind”, so ist die Schlussfolgerung, dass sie deshalb anders als ihre Verwandten nicht aufs Land fliehen, sondern in der Stadt bleiben, nicht nachvollziehbar. Und wenn Dominik davon spricht, dass die Mutter es „wieder ein mal ablehnt” [Segelflug- und Schilehrerin zu werden], ist nicht klar, was damit genau gemeint ist. Die Begründung, die er dafür anführt, ist logisch nicht schlüssig. Thematische Übergänge sind somit in Dominiks Text nicht immer klar und Sinnzusammenhänge sind nicht immer gegeben. Ein Grund dafür könnte sein, dass er die vorgegebene Erzählung nicht gut verstanden oder aber nur ungenau gelesen hat. Für Letzteres spricht, dass er inhaltlich relevante Textteile zum Teil auslässt bzw. nur ungenau rekonstruiert. So berichtet er etwa von „Waisenhäusern” statt von Altersheimen und davon, dass die Mutter „Segelflug- und Schilehrerin” beim „Deutschen Bundesheer” werden soll und „als Kind schon einmal aus einem Verein geschmissen” wurde - all das steht so nicht in Grünbergs Erzählung. Resümee Der Vergleich der drei Texte zeigt, dass die Fähigkeit, sprachlich korrekte Texte zu schreiben mit der Fähigkeit, kohärente, global-strukturierte Texte zu verfassen, nicht in jedem Fall korreliert. Dies wird durch den Vergleich der Texte von Aynur, Emre und Dominik deutlich sichtbar. Die Texte der Zweitsprachenlernenden sind an der sprachlichen Oberfläche zwar zum Teil mangelhaft, dennoch aber weitgehend nachvollziehbar und kohärent. Demgegenüber ist Dominiks Text auf der sprachlichen Normebene kaum zu beanstanden, im Bezug auf die Herleitung der Handlung und der sachlogischen Verknüpfung der einzelnen Textelemente jedoch defizitär. Aus der Fähigkeit von Lernenden sprachlich korrekte Texte zu schreiben, kann daher nicht a priori geschlossen werden, dass sie auch in der Lage sind, Texte gut zu verstehen und wiederzugeben. Umgekehrt sind Lernende, die zahlreiche sprachliche Fehler in ihren Texten machen, potentiell durchaus in der Lage, Textinhalte gut zu verstehen und zusammenhängend wiederzugeben. 6.2.3 „mit dem Stadt recht aus Stadten”: Sachtexte verstehen und wiedergeben In den folgenden Textanalysen werden schriftliche und mündliche Zusammenfassungen von Sachtexten analysiert und auch die Lese- und Verstehensprozesse beobachtet, die dem Schreiben der Texte vorangingen. <?page no="84"?> 84 6.2.3.1 Zugänge zu den Texten finden Der Auftrag an die SchülerInnen hatte gelautet, sich zu zweit Texte aus einem Sachbuch zum Thema „Mittelalter” auszusuchen, sie zu lesen, zu besprechen, schriftlich zusammenzufassen und die wichtigsten Inhalte in einer der nächsten Stunden mündlich im Plenum zu präsentieren. Im Mittelpunkt der folgenden Analysen stehen die Zusammenfassungen von Nuran, 125 einer türkischsprachigen Schülerin, die im Beobachtungszeitraum die zweite Klasse 126 einer Hauptschule in Graz besucht hat. Nuran arbeitet bei dieser Aufgabe mit ihrer deutschsprachigen Mitschülerin Birgit zusammen. Obwohl sie den Auftrag haben, gemeinsam eine Zusammenfassung zu schreiben, verfassen die beiden schließlich jeweils eigene Texte. Die mündliche Präsentation ein paar Tage später wird von Nuran allein gehalten, da Birgit in dieser Stunde gefehlt hat. Im Vergleich dazu wird eine Zusammenfassung analysiert, die von einer deutschsprachigen Schülerin stammt, der 10-jährigen Mira, die im Beobachtungszeitraum die fünfte Schulstufe, also die erste Klasse einer AHS, 127 besucht hat. 128 Durch diesen Vergleich soll exemplarisch gezeigt werden, wie Lernende in diesem Alter an Textaufgaben dieser Art herangehen, mit welchen Anforderungen und Problemen sie dabei konfrontiert sind und wie erfolgreich die Strategien sind, die sie beim Verstehen und Produzieren der Texte entwickeln und anwenden. a) Nurans Vorgangsweise beim Lesen Nuran und Birgit wurden sowohl beim Lesen als auch beim schriftlichen Zusammenfassen der Sachtexte beobachtet. Sie entscheiden sich für das Thema „Städte im Mittelalter” und lesen einander die Texte zunächst abwechselnd laut vor. 129 Nuran zeigt während des Lesens mit dem Zeigefinger 125 Nuran hat türkische Eltern und ist in Österreich geboren. Sie spricht zu Hause Türkisch, den Türkischunterricht in der Schule besucht sie nicht. Sie kann Türkisch lesen, besitzt aber kein türkisches Buch. Deutsche Bücher liest sie nur selten. Im Mündlichen ist ihr kaum anzumerken, dass Deutsch ihre Zweitsprache ist. Sie ist eine aufmerksame und eifrige Schülerin, die den Unterricht ernst nimmt und alle Aufgaben möglichst gut zu erledigen versucht. Ihre schulischen Leistungen sind schwach, vor allem in Deutsch und in Mathematik. Birgit ist österreichischer Herkunft und eine durchschnittlich gute Schülerin. Sie liest gerne und hat laut Auskunft der Lehrerin ein breiteres Allgemeinwissen als Nuran. Ihr Interesse am Unterricht ist mäßig; sie macht, was von ihr verlangt wird, darüber hinaus ist sie kaum motiviert, mehr als das unbedingt Notwendige zu leisten. 126 Das entspricht der 6. Schulstufe. 127 AHS steht für Allgemeinbildende Höhere Schule (Gymnasium). 128 Mira ist auch die Autorin des „Winter”-Textes, der im Kap. 6.1.2 vorkommt. 129 Diese Vorgangsweise führt nicht selten zu Verstehensproblemen, denn das persönliche Lesetempo ist entsprechend den individuellen Lesefähigkeiten und den Vorkenntnissen zum Thema des Textes verschieden. Wird ein Text im Unterricht vorgelesen, so können die Lernenden nicht ihrem eigenen Lese- und Verstehenstempo folgen, sondern müssen den Text in der vorgetragenen Geschwindigkeit zu verstehen versuchen. <?page no="85"?> 85 auf jedes Wort, das sie gerade liest. Der Finger scheint ihr dabei zu helfen, den Blick auf einer Linie zu halten und sich auf jedes einzelne Wort zu konzentrieren. 130 Dies dürfte es jedoch mit sich bringen, dass sie deren Kontext nicht ausreichend wahrnimmt und relevante Wörter nicht von weniger relevanten unterscheiden kann. Es scheint ihr auch die Flexibilität von geübten Lesenden zu fehlen, einzelne Wörter zu überspringen und diese gezielt für den Aufbau des Textverständnisses zu nutzen. 131 Im weiteren Verlauf der Textarbeit bestätigt sich diese Vermutung - Nuran scheint zwar die meisten Wörter isoliert zu verstehen, es fällt ihr jedoch offensichtlich schwer, sie im Kontext zu entschlüsseln und mit den Bedeutungen anderer, für das Textverständnis relevanter Wörter und Textpassagen zu verknüpfen. Sie ist daher auch nicht in der Lage, größere Sinnzusammenhänge im Text zu verstehen, die über die Bedeutung der einzelnen Wörter hinausreichen. b) Textmarkierungsstrategien von Birgit und Nuran Nach dem Lesen der Texte überlegen Birgit und Nuran, wie sie weiter vorgehen sollen. Nuran drängt darauf, dem Auftrag der Lehrerin nachzukommen und die wichtigsten Inhalte der Texte zu besprechen. Birgit hat kein Interesse, das zu tun, Nuran akzeptiert das. Birgit wirkt von Anfang an sicherer und selbstbewusster als Nuran und übernimmt in der Teamarbeit zunehmend die leitende Rolle. Nuran widerspricht Birgits Entscheidungen nie, macht selten eigene Vorschläge und versucht sich vor allem nie gegen den Widerstand von Birgit durchzusetzen. Die beiden sind unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollen; schließlich wird ihnen von der Lehrerin geraten, zunächst das Wichtigste in den Texten zu unterstreichen. Sie nehmen diesen Vorschlag auf und beginnen, jene Informationen im Text zu markieren, die sie für wichtig halten. 132 Dabei arbeitet jede weitgehend für sich alleine - nur wenn eine der beiden merkt, dass die andere mit den Unterstreichungen fortfährt, wird sie neugierig und schaut nach, was die andere gerade gemacht hat. Die beiden reden kaum miteinander, sie besprechen auch nicht, warum welche Informationen wichtig sein könnten; sie sagen meist nur: „Das ist wichtig”, ohne es zu begründen. Beide unterstreichen nur Textpassagen in den ersten beiden Dazu kommt, dass schwache LeserInnen oft nicht in der Lage sind, Texte sinnerfassend vorzulesen und Wörter bzw. Textstellen oftmals falsch betonen. 130 In weiteren Analysen zur selben Aufgabenstellung wurde die Beobachtung gemacht, dass SchülerInnen während des Lesens mitunter auch die Lippen mitbewegen oder mit einem Stift die Zeilen beim Lesen entlangfahren. Die Gründe für dieses Verhalten dürften bei manchen in einer mangelnden Textkompetenz liegen; zum Teil ist es aber auch ein Zeichen von großer Konzentration. 131 Diese Fähigkeit setzt voraus, dass Hypothesen zum Inhalt des Textes konstruiert und der Text gezielt nach jenen Informationen abgesucht werden kann, die der Bestätigung bzw. Widerlegung dieser Hypothesen dienen (vgl. Wolff 2002, 167). 132 Siehe Unterstreichungen im Text „Städte entstehen”. <?page no="86"?> 86 Texten; auf die Frage, warum sie im dritten Text nichts unterstreichen, antwortet Birgit: „Weil nichts mehr wichtig ist! ” Städte entstehen Der Ursprung vieler Städte in Europa reicht ins Mittelalter zurück. Städte entstanden an Stellen, wo es günstig war, Handel zu treiben, z.B. an Kreuzungspunkten wichtiger Handelsstraßen, bei Flussübergängen und Furten (Bruck, Innsbruck, Klagenfurt von „Glanfurt”). Man gründete sie dort, wo der Schutz einer Burg gegeben war (Salzburg, Radkersburg). Oder die Menschen belebten alte Römersiedlungen wieder, die im Lauf der Jahrhunderte verfallen oder zerstört worden waren (z.B. Wien). Bei diesen Handelsplätzen ließen sich auch Handwerker nieder. Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten. Sie arbeiteten als Schmied, Schuster, Zimmermann oder Leinenweber für den Bedarf der Händler, der Kaufleute oder des Grundherrn. Wer die Städte fördert Die Grundherren (= Stadtherren) dieser aufstrebenden Orte sicherten den Kaufleuten und Handwerkern besondere Rechte und große Freiheiten zu. So z.B. das Recht, Waren zu handeln und zu verkaufen (= Marktrecht). Auf solche Weise förderten sie den Handel und das Gewerbe. Als Gegenleistung erhielten sie einen Teil der Einnahmen der Kaufleute und Handwerker als Steuern. Seit dem 12. Jh. begannen die Könige, Fürsten, Grafen, Bischöfe und Äbte planmäßig, solche Orte mit besonderen Rechten, dem Stadtrecht, auszustatten. Danach hatten sie das Recht und die Pflicht, täglich Markt zu halten, eine Stadtmauer zu bauen und die Stadt mit Waffen zu verteidigen. Die Stadt sollte so sicher sein wie eine Burg. Innerhalb der Stadtmauern war es allerdings verboten, Streitigkeiten mit Waffen auszutragen, und auf dem Markt galt der Marktfriede. Die Geschäfte durften nicht gestört werden. Von allen Städten Österreichs besitzt Enns das älteste Stadtrecht aus dem Jahr 1212. Von Wien ist ein Stadtrecht aus dem Jahr 1221 überliefert. Gotische Kirchen wuchsen in den Himmel Die tiefe mittelalterliche Frömmigkeit bewog die Stadtbewohner dazu, neue Kirchen zu bauen. Sie sollten die bisherigen an Größe und Höhe übertreffen. Heute bezeichnet man diesen Baustil als Gotik. Im Unterschied zu den Kirchen im romanischen Stil war die Gotik hochragend und schlank. Die Wände waren durch große, bunt leuchtende Glasfenster durchbrochen. (Wald/ Scheucher/ Scheipl 2000) Nuran und Birgit unterstreichen durchgängig ganze Sätze, zum Teil markieren sie unwichtige Informationen („Bruck, Innsbruck, …”) und lassen wichtige aus. Dies lässt vermuten, dass sie inhaltlich relevante Textstellen nicht immer erkennen und im Verstehensprozess fokussieren. Dass sie vor allem Textpassagen hervorheben, in denen konkrete Beispiele gegeben werden (z.B. „Sie arbeiteten als Schmied, Schuster, Zimmermann …”), lässt annehmen, dass sie sich eher auf alltagsbezogene Ereignisse und konkret <?page no="87"?> 87 Erfahrbares konzentrieren als auf abstrakte, der unmittelbaren Erfahrung nicht zugängliche Informationen. 133 c) Miras Strategien des Lesens und der Textbearbeitung Miras Herangehensweise an die Bearbeitung der Sachtexte ist jener von Birgit und Nuran in vielerlei Hinsicht ähnlich, es sind jedoch auch Unterschiede zu erkennen. Sie liest die Sachtexte zunächst einmal durch und unterbricht den Leseprozess nur, um nach der Bedeutung der ihr unbekannten Wörter zu fragen (z.B. „Furten”). 134 Miras Aufmerksamkeit liegt von Beginn an sowohl auf der lokalen als auch auf der globalen Ebene des Textes. Auf diese Weise gelingt es ihr, sich beim Lesen rasch Orientierung im Text zu verschaffen und wesentliche Sinnzusammenhänge zu verstehen. Im zweiten Lesedurchgang markiert sie jene Textpassagen, die ihr wichtig erscheinen. 135 Städte entstehen Der Ursprung vieler Städte in Europa reicht ins Mittelalter zurück. Städte entstanden an Stellen, wo es günstig war, Handel zu treiben, z.B. an Kreuzungspunkten wichtiger Handelsstraßen, bei Flussübergängen und Furten (Bruck, Innsbruck, Klagenfurt von „Glanfurt”). Man gründete sie dort, wo der Schutz einer Burg gegeben war (Salzburg, Radkersburg). Oder die Menschen belebten alte Römersiedlungen wieder, die im Lauf der Jahrhunderte verfallen oder zerstört worden waren (z.B. Wien). Bei diesen Handelsplätzen ließen sich auch Handwerker nieder. Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten. Sie arbeiteten als Schmied, Schuster, Zimmermann oder Leinenweber für den Bedarf der Händler, der Kaufleute oder des Grundherrn. 133 Konkrete sprachliche Items auf der Wort-, Satz- und Textebene führen zu höheren Behaltensleistungen als abstrakte Informationseinheiten (Marschark/ Paivio 1977). Es ist anzunehmen, dass Lernende schneller Vorstellungen zu konkreten Items generieren und dass Informationen, die sowohl bildlich als auch verbal aufgenommen werden, leichter verstanden werden können (vgl. Groeben/ Christmann 1989, 177). Nach Gogolin et al. (2004, 130) verfügen weniger erfolgreiche Zweitsprachenlernende über ein eingeschränktes Repertoire an Lösungsstrategien, die überwiegend beispielgebunden sind. Produktive Strategien auf abstraktem Niveau sowie strukturierende Strategien werden vor allem von leistungsstarken SchülerInnen ohne Migrationshintergrund eingesetzt (vgl. Gogolin et al. 2004, 135). 134 Birgit hat nur in einem Fall, Nuran hat nie nach den Bedeutungen von einzelnen Wörtern gefragt, obwohl im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich wurde, dass sie nicht alle Wörter im Text versteht. 135 Birgit und Nuran mussten erst dazu aufgefordert werden, den Text ein zweites Mal durchzulesen und sich dabei auf relevante Informationen zu konzentrieren. Dieser Befund bestätigt die Ergebnisse von Keseling (1993, 13), dass SchülerInnen, die über kein großes Repertoire an Lese- und Verstehensstrategien verfügen, Texte meist nur einmal durchlesen, nichts oder nur wenig markieren und auch kaum Fragen zum Text stellen. Für Schreiberfahrene ist es hingegen selbstverständlich, einen schwierigen Text mehrfach zu lesen und dabei verschiedene Strategien des Hervorhebens von Informationen einzusetzen. <?page no="88"?> 88 Wer die Städte fördert Die Grundherren (= Stadtherren) dieser aufstrebenden Orte sicherten den Kaufleuten und Handwerkern besondere Rechte und große Freiheiten zu. So z.B. das Recht, Waren zu handeln und zu verkaufen (= Marktrecht). Auf solche Weise förderten sie den Handel und das Gewerbe. Als Gegenleistung erhielten sie einen Teil der Einnahmen der Kaufleute und Handwerker als Steuern. Seit dem 12. Jh. begannen die Könige, Fürsten, Grafen, Bischöfe und Äbte planmäßig, solche Orte mit besonderen Rechten, dem Stadtrecht, auszustatten. Danach hatten sie das Recht und die Pflicht, täglich Markt zu halten, eine Stadtmauer zu bauen und die Stadt mit Waffen zu verteidigen. Die Stadt sollte so sicher sein wie eine Burg. Innerhalb der Stadtmauern war es allerdings verboten, Streitigkeiten mit Waffen auszutragen, und auf dem Markt galt der Marktfriede. Die Geschäfte durften nicht gestört werden. Von allen Städten Österreichs besitzt Enns das älteste Stadtrecht aus dem Jahr 1212. Von Wien ist ein Stadtrecht aus dem Jahr 1221 überliefert. Gotische Kirchen wuchsen in den Himmel Die tiefe mittelalterliche Frömmigkeit bewog die Stadtbewohner dazu, neue Kirchen zu bauen. Sie sollten die bisherigen an Größe und Höhe übertreffen. Heute bezeichnet man diesen Baustil als Gotik. Im Unterschied zu den Kirchen im romanischen Stil war die Gotik hochragend und schlank. Die Wände waren durch große, bunt leuchtende Glasfenster durchbrochen. Bei ihren Unterstreichungen arbeitet Mira ganz ähnlich wie Birgit und Nuran: Sie unterstreicht fast durchgängig ganze Sätze, lässt einige wesentliche Informationen aus (z.B. „Bei diesen Handelsplätzen …”), berücksichtigt jedoch anders als Birgit auch den dritten Text der Vorlage. 6.2.3.2 Das Schreiben der Zusammenfassungen Nach dem Unterstreichen beginnen Nuran und Birgit die unterstrichenen Textteile abzuschreiben. Diese Vorgangsweise scheint für sie ein gewohntes und selbstverständliches Verfahren zu sein. Als sie die Lehrerin auffordert, nicht abzuschreiben, sondern die wichtigsten Inhalte der Texte in eigenen Worten wiederzugeben, sind sie irritiert und brechen die Schreibarbeit ab. Sie sind ratlos, ihre Motivation, weiterzuschreiben, scheint verloren. Nur mit Mühe gelingt es, sie dazu zu bewegen, dass sie mit der Schreibarbeit fortfahren. Als sie schließlich weiterschreiben, arbeitet wiederum jede für sich alleine. Sie werden nun zunehmend unruhig, weil sie fürchten, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Sie lassen sich weiterhin nicht dazu bringen, einander zunächst Formulierungen vorzuschlagen und sie vor der Verschriftlichung zu diskutieren. Wenn sie auf den Vorlagentext zurückgreifen, dann immer so, dass sie die unterstrichenen Sätze in chronologischer Reihenfolge lesen, sie greifen jedoch nie auf Informationen vor oder nach diesen Sätzen zurück. Birgit scheint mehrmals kurz davor, aufzugeben und sich darauf zu beschränken, den Text einfach abzuschreiben. Nuran arbeitet hingegen konzentriert und ernsthaft weiter. <?page no="89"?> 89 Trotz sinkender Motivation gelingt es Birgit, die Qualität ihres Textes zu steigern; sie löst sich immer mehr von der Vorlage und formuliert zusehends eigenständiger. Sie setzt sich nun auch zunehmend aufmerksam mit der Bedeutung einzelner Wörter auseinander und fragt des Öfteren nach, wenn sie etwas nicht genau verstanden hat. So fragt sie etwa, was mit dem Wort „aufstrebend” gemeint ist und ob man es durch „reich” ersetzen könne. Nachdem sie „reichen Orte” notiert hat, schaut sie in Nurans Text nach, welches Wort sie verwendet hat und bemerkt, dass sie das Wort „aufstrebend” direkt von der Vorlage übernommen hat. Daraufhin fragt sie Nuran, ob sie die Bedeutung dieses Wortes überhaupt kenne und Nuran verneint. Nun schaut Nuran in Birgits Text nach, welches Wort sie verwendet hat und streicht daraufhin „aufstrebend” im eigenen Text durch und ersetzt es durch „reichend”. 6.2.3.3 Die Lernertexte a) Die schriftlichen Zusammenfassungen von Nuran und Birgit Nuran und Birgit schließen ihre Arbeit schließlich innerhalb der vorgegebenen Schulstunde ab. Obwohl die Aufgabe gelautet hat, gemeinsam eine Zusammenfassung zu schreiben, entstehen zwei verschiedene Texte: Z. Text von Nuran Text von Birgit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Städte entstanden an Stellen, wo es günstig ist, Handel zu treiben. z.B. Flussübergängen, Furten in den Burg Radkersburg. Das Die ehemalige Bauersöhne waren oft, die keinen eigenen Hof erben konnten. Sie arbeiten als Schmied, Schuster, Zimmermann oder Leinenweber für Bedarf der Händler, Kaufleute des Grundherrn. Die Grundherren (= Stadtherren) dieser aufstrebenden reichenden Orte sicherten den Kaufleuten und Handwerken besondere Rechte und große Freiheiten zu z.B. das Recht, Waren zu handeln und zu verkaufen. Seit dem 12. Jh begannen die Könige, Fürsten Grafen, solche Orte mit besonderen Städte entstähen: Städte an Stellen, wo es günstig ist zu Handel z.B. Flüssubergangen u. Furten in der Burg Ratkasburg. Das waren ehemalige Bauernsöhne die oft keinen Hof, erben konnten. Sie arbeiteten als Schmied, Schuster und Zimmermann oder Leinenweber für Bedarf der Handel, Kaufleute, Grundheren. Die Grundheeren dieser reichen Orte sicherten den Kaufleuten und Handwerker besonderer Rechte und große Freiheiten zu. Z.B. das Recht, Waren zu handeln und zu verkaufen. Seit dem 12. Jh. begannen die Könige, Fursten usw. solche Orte mit besonderen Rechten, dem Stadtrecht auszusdaaten. Sie hatten das Recht und die Pflicht, täglich Markt zu halten <?page no="90"?> 90 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Rechten, dem Stadt recht aus zu Stadten. Sie hatten das Recht und die Flucht täglich mach zu halten. Von allen Städten Österreichs besitzt Enns das älteste Stadtrecht aus dem Jahr 1212. Von Wien ist ein Stadtrecht aus dem Jahr 1221 überlifert. Von allen Städten Österreichs besitzt Enns das älteste Städtrecht aus dem Jahr 1212. Von Wien ist ein Stadtrecht aus dem 1221 überliefert. Im Folgenden werden die Sätze der Reihe nach analysiert: Nuran gibt am Beginn ihres ersten Satzes jene Textpassage, die sie im Original unterstrichen hat, fast identisch wieder, im zweiten Teil des Satzes reiht sie einzelne, aus der Vorlage entnommene Wörter weitgehend unverbunden aneinander. Sie folgt in dieser Aufzählung der Chronologie der Vorlage, lässt jedoch Präpositionen, Konjunktionen und auch die Erklärung, warum Radkersburg im Mittelalter zu einer Stadt wurde, weg. Durch die fehlende konzeptuelle Verknüpfung von „Furten” und „in den Burg Radkersburg” wird diese Textpassage inkohärent; der im Vorlagentext konstruierte kausale Zusammenhang ist damit nicht wiedergegeben. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Nuran die Erklärung dafür, warum Furten dort gegründet worden waren, wo der Schutz einer Burg gegeben war, nicht verstanden und Radkersburg auch nicht als ein Beispiel für eine Burg erkannt hat, wo dies der Fall war. Dieses Verstehensproblem könnte auch daran liegen, dass sie den Begriff „Furt” nicht gekannt hat und daher auch den sachbezogenen Kontext für das Satz- und Textverständnis nicht nutzen konnte. Birgit beginnt den ersten Satz mit einer Aufzählung, die allerdings sowohl vor als auch nach dem Doppelpunkt, der sie einleitet, bruchstückhaft ist („Städte entstähen: Städte an Stellen, …”). Die Sinnstruktur in diesem Satz ist brüchig, gleichzeitig kann er als ein Versuch gewertet werden, dass sie nicht nur einfach abschreiben, sondern eigenständig formulieren wollte; dies wird etwa deutlich in der Textpassage: „… wo es günstig ist zu Handel” (anstelle von „… wo es günstig war, Handel zu treiben”); offenbar hat sie hier die beiden Formulierungen „Handel zu treiben” und „zu handeln” vermischt. Birgit lässt in diesem ersten Satz ihrer Zusammenfassung dieselben Präpositionen wie Nuran aus und verzichtet ebenso auf eine Erklärung, warum Radkersburg zu einer Stadt wurde - daraus ist zu schließen, dass auch sie den ersten Satz des Vorlagentextes nicht ganz verstanden hat. An der Textoberfläche ist Birgits Satz fehlerhafter als jener von Nuran (insbesondere im Bereich der Zeichensetzung und der Umlaute: „entstähen”, „Flüssubergangen”, „Ratkasburg”). In ihrem zweiten Satz hält sich Nuran wiederum weitgehend an die Unterstreichungen der Vorlage. Da sie den Satz im Vorlagentext („Bei diesen Handelsplätzen ließen sich auch Handwerker nieder.”), der mit dem nachfolgenden Satz pronominal verknüpft ist („Das waren oft …”), nicht <?page no="91"?> 91 berücksichtigt, schließt der zweite Satz in ihrer Zusammenfassung an den vorangegangenen Satz nicht nahtlos an - sie versucht die fehlende pronominale Verknüpfung auszugleichen, indem sie das einleitende „das” durchstreicht und den Satz mit „Die [Bauersöhne]” beginnt; die Kohärenz ist an dieser Stelle dennoch beeinträchtigt. In der Zusammenfassung von Birgit tritt dieses Problem noch deutlicher zutage; sie unternimmt nicht einmal den Versuch einer „Reparatur” der Wiederaufnahmestruktur ihres Textes - die Pro-Form am Beginn ihres zweiten Satzes „Das waren ehemalige Bauernsöhne …” greift ins Leere, es fehlt der Referent, auf den sie sich bezieht. Der dritte Satz ist von Nuran fast bis zum Ende abgeschrieben, im zweiten Satzteil fehlen Artikel und die Konjunktion „oder”, die die Begriffe „Kaufleute” und „Grundherrn” im Vorlagentext konzeptuell verknüpft (Original: „Sie arbeiteten […] für den Bedarf […] der Kaufleute oder des Grundherrn”; Nuran: „Sie arbeiten […] für Bedarf der Händler, Kaufleute des Grundherrn.” Durch das fehlende „oder” wird ein neuer Referenzbezug hergestellt, der semantische Zusammenhang zwischen „Kaufleute” und „Grundherren” wird dadurch verändert: Die „Kaufleute”, die sich im Original auf den „Bedarf” beziehen, werden in Nurans Text durch die Auslassung der Konjunktion „oder” den Grundherren („Kaufleute des Grundherrn”) zugeordnet. Im Text von Birgit findet sich im dritten Satz ein orthographischer Fehler („Grundheren”), sie lässt Artikel aus, verwendet das Wort „Handel” anstatt von „Händler”, der Inhalt des vorgegebenen Textes ist aber dennoch weitgehend verständlich. Der vierte Satz in Nurans Zusammenfassung ist bis auf die von Birgit angeregte Korrektur von „aufstrebend” (→ reichend), die Auslassung des satzeinleitenden Konnektors „So” und das Weglassen der in Klammern gesetzten Erklärung „Marktrecht” mit der Vorlage identisch. Durch die fehlende Absatzgliederung ist nicht zu erkennen, dass an dieser Stelle bereits die Wiedergabe des zweiten Vorlagentextes beginnt („Wer die Städte fördert”). Birgit bleibt in dieser Textpassage näher am Original, indem sie sich für zwei Sätze entscheidet; auch sie lässt aber die in der Vorlage verwendete Konjunktion „So” als Beginn des zweiten Satzes aus. In ihrem Satz bleiben neben dem in Parenthese gesetzten Begriff „Marktrecht” auch die „Stadtherren” unerwähnt. Der fünfte und der sechste Satz in der Zusammenfassung von Nuran zeigen, dass es ihr offenbar zunehmend schwer fällt, die vorgegebenen Texte zu verstehen und verständlich wiederzugeben: So lässt etwa die Formulierung „mit […] dem Stadt recht aus zu Stadten” darauf schließen, dass sie die Textpassage „mit dem Stadtrecht ausstatten” nicht ganz verstanden hat. In einer mündlichen Textwiedergabe wäre dies vermutlich erst gar nicht bemerkt worden, da man die Formulierung im Mündlichen wohl bestenfalls als Ungenauigkeit in der Aussprache, aber nicht als Indiz für ein Verstehensproblem identifiziert hätte. Ähnliches gilt auch für den nächsten Satz: „Sie hatten das Recht und die Flucht täglich mach zu halten.” Auch hier würde eine mündliche Textwiedergabe vermutlich darauf schließen lassen, dass <?page no="92"?> 92 Nuran ohnehin das Richtige meint und bloß ungenau in ihrer Aussprache ist. In beiden Fällen ermöglicht es erst die Verschriftlichung, auf ein Verstehensproblem aufmerksam zu werden. Birgit kürzt die vorgegebene Aufzählung in ihrem fünften Satz ab (und markiert diese Reduktion durch „usw.”) und nennt bloß die „Könige” und die „Fursten”; möglicherweise sind ihr diese Personengruppen vertrauter als andere im Vorlagentext genannte (Grafen, Bischöfe, Äbte). 136 Der sechste Satz ist ebenfalls knapp, auf wesentliche Informationen beschränkt, jedoch gut verständlich. Den vorletzten und letzten Satz übernimmt Nuran ganz von der Vorlage. Dies gilt weitgehend auch für Birgit. Sie baut jedoch einige sprachliche und inhaltliche Fehler ein (z.B. „Städtrecht”). Diese Ungenauigkeiten könnten an ihrer nachlassenden Konzentration oder auch am Zeitdruck liegen, der durch das nahende Ende der Schulstunde entsteht. Birgit zeigt dennoch mit ihrer Zusammenfassung, dass ihr die Aufgabe, wesentliche Inhalte der vorgegebenen Texte auf verständliche Weise wiederzugeben, zumindest ansatzweise gelingt. Zwar weist ihr Text vor allem am Beginn zahlreiche sprachliche Mängel (insbesondere im Bereich der Orthographie, der Zeichensetzung und der Grammatik) und Schwächen in der Wiederaufnahmestruktur auf, mit zunehmendem Textverlauf wird er jedoch kohärenter und sprachlich korrekter. Nurans Text weist demgegenüber zahlreiche Lücken und Brüche auf, die die Kohärenz des Textes gegen Ende hin zunehmend beeinträchtigen: Auffällig ist vor allem das Fehlen von grammatikalischen Elementen (Präpositionen, Artikel) und Textverknüpfungsmitteln (v.a. Konjunktionen). Die Gründe dafür dürften neben sprachlichen Defiziten vor allem Verstehensprobleme im Bezug auf einzelne Wörter und deren Kontexte sowie den Text als Ganzes sein. Diese Annahme kann auch dadurch gestützt werden, dass sie Wörter und Textpassagen aus dem Vorlagentext zum Teil völlig falsch abschreibt 137 und am Ende des Textes wieder ganz auf die Vorlage zurückgreift - ihre Energie scheint nicht mehr länger auszureichen, um die Anstrengung, die Inhalte des Textes fokussiert und in eigenen Worten wiederzugeben, länger auf sich zu nehmen. b) Die schriftliche Zusammenfassung von Mira Mira schreibt von Beginn an zügig, ohne lange nachzudenken und auf die Vorlage zu schauen. 138 Sie hat sich die wichtigsten Inhalte der Sachtexte nach dreimaliger Lektüre so gut gemerkt, dass sie während des Schreibens nur 136 Sie nimmt nur weltliche Personengruppen auf, Kleriker lässt sie unerwähnt. 137 Das zeigt sich z.B. in Satz 5 und 6. 138 Eine Studie von Kirby/ Pedwell (1991) hat ergeben, dass Lernende, die die Vorlagentexte beim Zusammenfassen nicht verwendet haben, tiefer gehende Textverarbeitungsprozesse durchliefen als Lernende, die beim Schreiben auf die vorgegebenen Texte zurückgriffen. <?page no="93"?> 93 noch auf ihr Gedächtnis zurückzugreifen braucht. Mira benötigt für den Schreibprozess zwanzig Minuten. 139 Summery Bis zum Mittelalter reicht der Ursprung unserer Städte in Europa zurück. Die meisten Städte entstanden an Stellen wo man gut Handel treiben konnte. Z.b. an Kreuzungspunkten wichtiger Handelsstraßen, bei Flussübergängen und Furten (Bruck, Innsbruck, Klagenfurt von „Glangfurt”). Sie wurden dort gegründet wo die Burg auch geschützt war (Salzburg, Radkersburg.) Aber die Menschen belebten auch alte Römersiedlungen die mit der Zeit verfallen oder zerstört wurden (zb. Wien). An diesen Handelsplätzen blieben auch Handwerker. Meistens waren das ehemalige Bauerssöhne die keinen eigenen Hof erben konnten. Die Grundherren sicherten den Kaufleuten und Handwerkern besondere Rechte und große Freiheiten zu. Seit dem 12. J.h. herschten die Könige, Fürste, Grafen, Bischöfe und Äbte. Sie erstellten viele neue Rechte. So durften und mussten die Leute Markt halten. Genauso hatten sie die Pflicht die Stadt zu sichern und mit Waffen auszustatten, die sie allerdings untereinander nicht verwenden durften. Diese Menschen waren sehr from und wollten viele neue gotische Kirchen bauen. Mira hat die vorgegebenen Texte nicht nur gut verstanden, 140 sondern ist auch in der Lage, sie auf sachadäquate, sprachlich differenzierte und strukturierte Weise wiederzugeben. Während Birgit nach jedem Satz einen Absatz macht und Nuran dort keine setzt, wo welche angebracht wären, sind Miras Absätze durchgehend angemessen. 141 Durch genauere Überleitungen hätte sie den thematischen Zusammenhang zwischen den Absätzen jedoch noch verdeutlichen können. 142 Mira setzt eine Reihe von Textverknüpfungsmitteln ein, 143 sodass eine beinahe lückenlose Wiederaufnahmestruktur entsteht. Gegenüber der Vorlage nimmt sie zahlreiche Veränderungen vor, indem sie zum Beispiel • komplizierte Konstruktionen durch einfachere ersetzt: Miras Text Originaltext Diese Menschen waren sehr from und wollten viele neue gotische Kirchen bauen. Die tiefe mittelalterliche Frömmigkeit bewog die Stadtbewohner dazu, neue Kirchen zu bauen. 139 Damit benötigte sie nur ca. die Hälfte der Zeit im Vergleich zu Birgit und Nuran, die fast eine ganze Schulstunde damit beschäftigt waren. 140 Nur der Satz „Sie wurden dort gegründet wo die Burg auch geschützt war” weist auf eine Verständnislücke hin. 141 Sie orientiert sich mit den Absätzen, die sie setzt, an den drei vorgegebenen Texten. 142 Darüber hinaus gibt es auch innerhalb der einzelnen Absätze kleinere Brüche in der logischen Struktur ihres Textes, siehe z.B. Satz 3 („Sie wurden dort gegründet …”) und Satz 7 („Seit dem 12. J.h. …”). 143 Nuran und Birgit setzen fast keine Kohäsionsmittel ein bzw. entnehmen sie fast immer direkt der Vorlage. <?page no="94"?> 94 • einzelne Teile auslässt und die nicht getilgten Teile neu kombiniert: Miras Text Originaltext So durften und mussten die Leute Markt halten. Genauso hatten sie die Pflicht die Stadt zu sichern und mit Waffen auszustatten, die sie allerdings untereinander nicht verwenden durften. Danach hatten sie das Recht und die Pflicht, täglich Markt zu halten, eine Stadtmauer zu bauen und die Stadt mit Waffen zu verteidigen. Die Stadt sollte so sicher sein wie eine Burg. Innerhalb der Stadtmauern war es allerdings verboten, Streitigkeiten mit Waffen auszutragen, und auf dem Markt galt der Marktfriede. • eine Reihe von Wiederaufnahmen einsetzt, 144 durch die sie zum Teil auch neue Bedeutungsaspekte einbringt: Miras Text Originaltext … der Ursprung unserer Städte … Die meisten Städte entstanden … Der Ursprung vieler Städte … Städte entstanden … • überwiegend inhaltlich adäquate Paraphrasen 145 verwendet: Miras Text Originaltext … wo man gut Handel treiben konnte. … wo es günstig war, Handel zu treiben … • Fokussierungen vornimmt: Miras Text Originaltext Seit dem 12. J.h. herschten die Könige, Fürste, Grafen, Bischöfe und Äbte. Seit dem 12. Jh. begannen die Könige, Fürsten, Grafen, Bischöfe und Äbte planmäßig, solche Orte mit besonderen Rechten, dem Stadtrecht, auszustatten. Mira gelingt es durch diese Veränderungen, eigenständige Formulierungen zu finden, wenngleich auch sie den vorgegebenen Text nicht konzeptuell, sondern bloß an der Oberfläche verändert. 146 Im Verlauf ihrer Zusammen- 144 Am häufigsten kommen Substitutionen vor (5x), gefolgt von Konjunktionen (3x) und Pro-Formen (2x). 145 Nicht ganz gelungen ist z.B. die Paraphrasierung von „… wo der Schutz einer Burg gegeben war …” mit „… wo die Burg auch geschützt war …”; teilweise sind die Paraphrasen sprachlich nicht ganz korrekt („Sie erstellten viele neue Rechte.”). 146 Dies dürfte damit zu tun haben, dass Eingriffe in die Textoberfläche generell einfacher sind als konzeptionelle Veränderungen des Textes, da sie weniger Distanz von den vorgegebenen Formulierungen und Inhalten der Texte erfordern (vgl. Keseling 1993, 117). <?page no="95"?> 95 fassung verwendet sie zunehmend freie Paraphrasen, auch Fokussierungen werden häufiger. 147 Sie löst sich damit immer mehr von der Vorlage; dies zeigt sich etwa im Satz „Genauso hatten sie die Pflicht die Stadt zu sichern und mit Waffen auszustatten, die sie allerdings untereinander nicht verwenden durften.” Damit fasst sie Informationen zusammen, die sich in den vorgegebenen Texten über mehrere Sätze verteilen. Sie entfernt sich dadurch bereits relativ weit von der Vorlage, setzt damit aber gleichzeitig einen eigenständigen inhaltlichen Akzent. 6.2.3.4 Textinhalte mündlich wiedergeben In der folgenden Analyse soll am Beispiel eines Satzes noch genauer herausgearbeitet werden, welche Probleme sich für Nuran durch den Auftrag ergeben haben, den Text in eigenen Worten wiederzugeben. a) Von der schriftlichen zur mündlichen Textwiedergabe Der Satz, um den es dabei geht, lautet im Original: „Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten.” Nach dem Lesen des Textes fasst Nuran diesen Satz (1.) zunächst mündlich (2.), dann schriftlich (3.) 148 und schließlich noch einmal mündlich (4.) 149 für die Präsentation zusammen. 1. Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten. 2. Bauernsöhne, die keinen selbst Hof erben. 3. Die ehemalige Bauersöhne waren oft, die keinen eigenen Hof erben konnten. 4. Die ehemalige (…) Bürgersöhne … (schaut in der Zusammenfassung nach) ah (…) Bauersöhne waren oft keine (…) die hatten keinen Hof und die nicht erben konnten. Beim ersten Formulierungsversuch (2.) löst Nuran eine ganze Wortgruppe aus dem vorgegebenen Satz heraus („Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten.”), sie vertauscht das dritte gegen das vierte Wort und setzt „keinen” vor „selbst”. Durch diese Vertauschung von Wörtern wird die Wortstellung fehlerhaft; die Auslassung sinntragender Wörter trägt zusätzlich dazu bei, dass der Sinnzusammenhang in diesem Satz verloren geht. Beim schriftlichen Formulierungsversuch („Die ehemalige Bauersöhne waren oft, die keinen eigenen Hof erben konnten.”) kopiert Nuran beinahe den gesamten Satz aus der Vorlage und vertauscht im ersten Satzteil ein- 147 Dies bestätigt einmal mehr die Beobachtung, dass sich eine hohe Textkompetenz im Verlauf eines Textes in einer zunehmenden Textqualität zeigt, während eine geringe Textkompetenz meist zu inkohärenten Texten führt (vgl. Knapp 1997; siehe auch Kap. 5.2). 148 Beim schriftlichen Zusammenfassen der Texte waren die Textvorlagen für die Schülerinnen zugänglich, während die mündlichen Zusammenfassungen ohne Rückgriff auf die schriftlichen Vorlagen erfolgten. 149 Die Präsentation fand eine Woche nach dem Lesen und schriftlichen Zusammenfassen des Textes statt. <?page no="96"?> 96 zelne Wörter, 150 sodass die Wortstellung im Satz durcheinander gerät. Im zweiten Satzteil ersetzt sie das Wort „selbst” durch „eigenen” („… die keinen eigenen Hof erben konnten”), es gelingt ihr dabei jedoch, die Wortstellung richtig zu konstruieren. Ihre Probleme, den vorgegebenen Satz korrekt und verständlich zu reformulieren, treten in der zweiten mündlichen Wiedergabe (4.) noch deutlicher als in den schriftlichen Formulierungsversuchen hervor: Die ehemalige (…) Bürgersöhne … (schaut in der Zusammenfassung nach) ah (…) Bauersöhne waren oft keine (…) die hatten keinen Hof und die nicht erben konnten. Sie baut in diesem Satz noch mehr Fehler ein als zuvor, obwohl sie den Inhalt dieses Satzes zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach rekapituliert hat. Der Anteil der von ihr selbst ins Spiel gebrachten Wörter ist in diesem Satz zwar etwas höher, 151 der Sinnzusammenhang geht jedoch fast ganz verloren. 152 Nurans Versuch, den Inhalt des Satzes in eigenen Worten wiederzugeben, besteht somit fast ausschließlich in der Reproduktion von Versatzstücken aus dem vorgegebenen Text. Dabei vertauscht sie einzelne Wörter und reiht isolierte Wörter bzw. Wortgruppen bruchstückhaft aneinander. Dies führt zu einer Beeinträchtigung der Syntax 153 und zu gravierenden Mängeln im Bezug auf die Textkohärenz; Nurans Sätze sind ohne Kenntnis der Vorlage kaum zu verstehen. 154 b) Die mündliche Präsentation von Nuran In der Schulstunde, in der die Präsentationen vor der Klasse stattfinden sollten, war Birgit nicht in der Schule, sodass Nuran die Aufgabe, das Thema „Städte im Mittelalter” der Klasse zu präsentieren, allein zu bewältigen hatte. 150 Die Reihenfolge gegenüber dem Original ist folgende: 1-4-5-2-3-6-7-8-9. 151 Die unterstrichenen Wörter sind der Vorlage entnommen. 152 Dieser Satz umfasst die gesamte mündliche Textwiedergabe, ihr Umfang beträgt nur knapp 38 % der schriftlichen Zusammenfassung. 153 Syntaktische Fähigkeiten sind Indikatoren für Textkompetenz. Sie entwickeln sich mit und durch die Entfaltung der Textkompetenz (vgl. Feilke/ Augst 1989; Feilke 1996) und zeigen sich vor allem in der Textproduktion. Während Syntaxkenntnisse beim Textverstehen eine relativ untergeordnete Rolle spielen, müssen Lernende ihre Aufmerksamkeit beim Produzieren eines Textes zunächst von der semantischen auf die syntaktische Ebene lenken (vgl. Vollmer 2000, 265). Eine hohe Textkompetenz zeigt sich schließlich darin, dass sich Schreibende in der syntaktischen Strukturierung von Texten an den Kriterien der Kohärenz orientieren: Mit zunehmender Textkompetenz geht die Bedeutung der syntaktischen Verknüpfung für die Herstellung von Kohärenz zurück, an ihre Stelle tritt syntaktische Integration und durch Textstrukturen erzeugte Kohärenz (vgl. Feilke 1996, 1184). 154 Dies gilt vor allem für die beiden mündlich produzierten Sätze. <?page no="97"?> 97 Nuran ist sehr nervös und liest als einzige in der Klasse ihre schriftliche Zusammenfassung vor der Präsentation mehrmals durch. Als sie schließlich an der Reihe ist, findet sie keinen Anfang. Sie will nochmals in der schriftlichen Zusammenfassung nachlesen, die Lehrerin ermuntert sie jedoch, frei vor der Klasse zu sprechen, ohne den Text noch einmal zu Hilfe zu nehmen. Erst nach längerem, aufgeregtem Stammeln darf sie die Zusammenfassung nochmals lesen. Danach beginnt Nuran zu sprechen, sie redet schnell, hastig, fast so, als könnte sie den Satz, den sie gerade begonnen hat, gleich wieder verlieren. Sie reproduziert dabei offenbar auswendig Gelerntes, denn schon bald stockt sie wieder, der nächste Satz ist ihr entfallen. Es kommt zu einer langen Pause, schließlich fährt sie zögernd fort, merkt jedoch dabei gleich, dass das Gesagte nicht ganz richtig ist und verfällt daher gleich wieder in Schweigen. Erst nachdem sie wiederum einen Blick auf die schriftliche Zusammenfassung werfen darf, spricht sie weiter, wiederum hastig, dann bricht der Redefluss ein zweites Mal ab, diesmal endgültig. Nuran ist sichtlich enttäuscht; sie hatte gehofft, mehr und flüssiger erzählen zu können - ihre große Mühe hat sich nicht gelohnt. Mit ihrer mündlichen Zusammenfassung berücksichtigt Nuran nur noch den ersten der drei vorgegebenen Sachtexte: Städte entstanden an Stellen, wo es günstig ist, Handel zu treiben, zum Beispiel Fluss (…) übergäng, Furten in den Burg Radkersburg, ah (…) Die (…) (bricht ab, lange Pause) Die ehemalige (…) Burgersöhne (…) (bricht ab, lange Pause, schaut nochmals auf die Zusammenfassung) ah … Bauersöhne waren oft (ähh) keinen (…) die hatten keinen Hof und die (…) nicht erben konnten. Während sie in ihrer schriftlichen Zusammenfassung noch zwei Texte aus der Vorlage wiedergeben konnte, scheint ihre Energie im Mündlichen nicht mehr so weit auszureichen. Die zwei Sätze der mündlichen Zusammenfassung sind offenbar auswendig gelernt, die Grundlage ist der schriftlich von ihr verfasste Text. Nuran hat also offenbar versucht, sich die konkreten Formulierungen der einzelnen Sätze auswendig zu merken, um sie sodann wortwörtlich mündlich zu reproduzieren. Ein Satzgedächtnis ist jedoch in der Regel sehr unscharf und auch begrenzt. Nuran gelingt es daher nur in Etappen, sich einzelne Passagen zu merken und sie unmittelbar zu reproduzieren. Dazwischen stockt sie und macht Pausen, ihre Präsentation wird dadurch holprig und bricht alsbald ab. c) Die mündliche Präsentation von Mira Für Mira hingegen scheint die Aufgabe, die Inhalte der vorgegebenen Sachtexte mündlich wiederzugeben, zu einer alltäglichen, leicht zu bewältigenden Anforderung zu zählen. Ohne lange nachzudenken beginnt sie den Inhalt des vorgegebenen Textes wiederzugeben, sie spricht ruhig, klar, verständlich und sehr lebendig. Während sich ihr erster Satz noch weitgehend mit dem Beginn ihrer schriftlichen Zusammenfassung deckt, löst sie sich zunehmend von der Vorlage: <?page no="98"?> 98 Bis zum Mittelalter reicht der Ursprung unserer Städte in Europa zurück und die ganzen Städte sind halt dort ent… ah (...) erstellt worden, wo man halt gut Handel hat treiben können, z.B. so an Furten o… ahm … ja. Und die Römer haben halt auch (korrigiert sich selbst) die Menschen hab’n halt auch so alte Römersiedlungen belebt, z.B. in Wien is eine und dann so ab dem 12. Jahrhundert hab’n halt die Könige, Fürsten, Grafen und Äbte halt g’herrscht und die hab’n neue Gesetze erstellt und da hab’n dann die Menschen Markt treiben müssen und das … da hab’n halt noch ganz viele andere Gesetze geb’n und die Menschen dort die waren halt sehr fromm und die wollten auch ganz ganz viele neue gotische Kirchen erstellen. Mira spricht anfangs relativ schnell, dann zeitweise langsamer und dann wieder schneller, sie scheint immer wieder Zeit zum Nachdenken zu brauchen. Sie korrigiert sich selbst mehrere Male, indem sie begonnene oder auch bereits ausgesprochene Wörter durch andere ersetzt („Städte sind halt dort ent... ah [korrigiert sich selbst] erstellt worden”). Die logische Abfolge der Informationen ist weitgehend gegeben, nur an einzelnen Stellen sind ihre Formulierungen nicht ganz präzise, z.B. in der Passage „… ganz viele andere Gesetze geb’n und die Menschen dort die waren halt sehr fromm …” An dieser Stelle ist nicht ganz nachvollziehbar, wie die Informationen in diesem Satzteil thematisch zusammenhängen. Ihre mündliche Zusammenfassung unterscheidet sich von der schriftlichen vor allem im Bezug auf folgende Aspekte: • Ungenauigkeiten auf der lexikalischen Ebene (mündlich: „Städte sind … erstellt worden …” - schriftlich: „… Städte entstanden …”; im Original heißt es: „Städte entstanden …”); • Tilgung einzelner Wörter oder Sätze - sie lässt z.B. Elemente in Aufzählungen aus (so erwähnt sie etwa mündlich nur die Furten, nicht aber die Kreuzungspunkte wichtiger Handelsstraßen und die Flussübergänge; bei der Aufzählung der Herrscher fehlen im Mündlichen die Bischöfe). 155 • Verallgemeinerungen durch Verzicht auf nähere Erläuterungen (mündlich: „da hab’n halt noch ganz viele andere Gesetze geb’n”, statt schriftlich: „Genauso hatten sie die Pflicht die Stadt zu sichern und mit Waffen auszustatten, die sie allerdings untereinander nicht verwenden durften.”); • Mündlicher Duktus: Sie setzt Pausenfüller ein (ah …), verwendet Ellipsen (g’herrscht, geb’n, hab’n, is), sprechsprachliche Elemente (halt, so, ganz ganz viele) bzw. gebraucht das Perfekt. Miras mündliche Zusammenfassung ist wesentlich länger als jene von Nuran (125 : 30 Wörter). In Relation zur schriftlichen Wiedergabe beträgt der Wortumfang im Mündlichen bei Mira 81,6 %, bei Nuran hingegen nur 23,8 %. Mira hat im Mündlichen 125 und im Schriftlichen 153 Wörter 155 Ein Grund dafür, dass sie auf Einzelheiten verzichtet, dürften Erinnerungslücken sein oder aber die Tatsache, dass sie manchen Aussagen kaum Bedeutung beimisst. <?page no="99"?> 99 verwendet, Nuran setzt im Mündlichen 30, im Schriftlichen 126 Wörter ein. Die quantitative Differenz zwischen den beiden Textproduktionen ist im Schriftlichen somit nur gering, im Mündlichen hingegen relativ groß. 6.2.3.5 Fazit Mira schien es nicht schwer gefallen zu sein, die wichtigsten Informationen in den vorgegebenen Sachtexten zu erkennen und in eigenen Worten verständlich wiederzugeben. 156 Ihre Vorgangsweise beim Lesen, Schreiben und mündlichen Reproduzieren der Texte lässt darauf schließen, dass sie schon während des Lesens vielfältige Aktivitäten des Fokussierens und Selektierens von Textinformationen gesetzt hat; sie hat Wörter und Textpassagen paraphrasiert, getilgt, ergänzt bzw. neu kombiniert. Ihre Aufmerksamkeit lag sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben nicht nur auf der lokalen, sondern auch auf der globalen Ebene des Textes; sie hat nicht nur einzelne Wörter, sondern auch deren Kontexte und den Text als Ganzes beachtet. Mira hat damit gezeigt, dass sie bereits auf ein beachtliches Repertoire an Textverstehens- und Textproduktionsstrategien zurückgreifen kann und in der Lage ist, komplexe kognitive Repräsentationen in Sprachverarbeitungsprozessen aufzubauen und zu restrukturieren. Nuran hingegen ist es nicht gelungen, relevante Informationen in den vorgegebenen Sachtexten zu fokussieren und in den Mittelpunkt der Textverstehens- und Schreibarbeit zu rücken. Sie hat sich beim Lesen vor allem auf einzelne Wörter und nicht auf den Text als Ganzes konzentriert. Ihre Konzentration auf einzelne Wörter dürfte zu einer starken Verlangsamung des Textverarbeitungsprozesses und auch dazu geführt haben, dass sie die satzübergreifenden Sinnzusammenhänge im Text nicht erkannt und die für das Verstehen und Wiedergeben der Texte nötige Orientierung weitgehend verloren hat. Beim Wiedergeben der Texte hat Nuran nicht nur die markierten Textteile, sondern auch Passagen berücksichtigt, die sie zuvor nicht markiert hat; sie hat die unterstrichenen Textteile bei der Textwiedergabe teilweise nicht berücksichtigt. 157 Es ist daher anzunehmen, dass das Markieren einzelner Textpassagen beim Lesen für Nuran primär dem Aufbau des Textverständnisses gedient hat, während sie diese beim Schreiben für die Sinnkonstitution ihres Textes nicht nutzen konnte. Im Prozess des Formulierens sind für sie möglicherweise neue Notwendigkeiten entstanden, auf die Vorlagentexte zurückzugreifen. Operationen der Tilgung, der Verallgemeinerung oder der Fokussierung wurden von Nuran kaum durchge- 156 Konzeptuelle Mündlichkeit in schriftlichen Äußerungen kann durchaus auch ein Zeichen für eine gut entwickelte Textkompetenz sein. Lernende, die Texte gut verstehen und verarbeiten können, sind meist in der Lage, sie sowohl konzeptuell schriftlich als auch mündlich verständlich wiederzugeben. 157 Dies betrifft z.B. den Anfang des Vorlagentextes, der nicht markiert ist („Der Ursprung vieler Städte …”), der aber sehr wohl in ihrer Zusammenfassung inhaltlich vorkommt. <?page no="100"?> 100 führt, es gelingt ihr daher auch nicht, eine kohärente Zusammenfassung zu schreiben. 158 Sie hat schließlich ganze Textpassagen aus der Vorlage reproduziert und weitgehend unverbunden aneinandergereiht. In ihrer mündlichen Textwiedergabe hat sie vor allem auswendig gelernte Sätze wiedergegeben, ein thematischer Zusammenhang ist in dieser Zusammenfassung kaum noch gegeben. Auffallend ist, dass sie auch beim mündlichen Zusammenfassen der Texte durchgehend am schriftsprachlichen Duktus der Vorlage festhält; sie scheint also nicht in der Lage zu sein, flexibel zwischen mündlich und schriftlich geprägter Sprache zu pendeln. Nuran verfügt offenbar nur über eingeschränkte Strategien im Umgang mit Texten und scheint keine komplexen kognitiven Repräsentationen aufbauen zu können, sodass sie gezwungen war, die vorgegebenen Sachtexte bloß abzuschreiben oder aber auswendig zu reproduzieren. 159 Die Textanalysen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die Fähigkeit von Lernenden, Texte im Unterricht zu verstehen und verständlich wiederzugeben, eine grundlegende Voraussetzung, zugleich aber auch eine große Hürde im schulischen Wissenserwerb darstellt. Mangelhafte schulische Leistungen haben somit nicht unbedingt mit fehlendem Interesse oder unzureichendem Lernwillen zu tun. Hätte man bloß die mündliche Präsentation von Nuran bewertet, so wäre man leicht zu dieser Ansicht gelangt. Wenn man jedoch weiß, wie Nurans Zusammenfassungen zustande kamen, welche Probleme sie schon beim Verstehen und später beim Wiedergeben der Texte hatte und welche Mühe sie sich gab, diese Textaufgabe zu bearbeiten, gewinnt man ein völlig anderes Bild: Man erkennt, dass Nuran schlicht überfordert und - aufgrund mangelnder Textkompetenz - einfach nicht in der Lage war, sie besser zu lösen. Eine lerneradäquate Beurteilung der Leistungen von Lernenden setzt daher eine differenzierte Analyse ihrer Lernvoraussetzungen und der Lernbedingungen im Unterricht voraus. Dies erfordert auch eine eingehende Auseinandersetzung mit der Frage, ob Lernende überhaupt in der Lage sind, die Textaufgaben, mit denen sie im Unterricht konfrontiert werden, als solche wahrzunehmen und zu bearbeiten. 158 Diese Operationen dienen nach van Dijk/ Kintsch (1978) der Umwandlung von mikrostrukturellen in makrostrukturelle Informationen. 159 Es ist daher anzunehmen, dass die Fähigkeit zur Herausbildung von Repräsentationen, nicht - wie dies Keseling (1993, 6) behauptet - beim Lesen „mehr oder weniger automatisch” und „en passant”erworben wird. <?page no="101"?> 101 7 Textkompetenz und der Prozess der Textproduktion Die Produktion von Texten ist nicht einfach eine Umkehrung der Rezeption von Texten, sondern ist in nahezu jeder Hinsicht voraussetzungsreicher und komplexer (vgl. Feilke 2007). Entscheidend sind dabei nicht nur die auf die Oberfläche des Textes bezogenen sprachlichen Handlungen, sondern die auf die Textbasis bezogenen Planungs- und Überarbeitungsaktivitäten. Im Folgenden geht es um die Frage, wie sich Textkompetenz im Prozess der Textproduktion zeigt und in welchem Zusammenhang dieser Prozess mit dem dabei entstehenden Schreibprodukt steht. Die Textproduktionsprozesse, die im Folgenden analysiert werden sollen, 160 sind im Rahmen einer kooperativen Schreibaufgabe entstanden, bei der es darum ging, gemeinsam eine Bildergeschichte zu verfassen. 161 7.1 Kooperatives Schreiben Wenn Lernende einen Text gemeinsam verfassen, müssen sie ihre Gedanken, Ideen und Überlegungen zunächst mündlich formulieren, bevor sie sie zu Papier bringen: Sie müssen miteinander besprechen und aushandeln, was sie schreiben. 162 Wenn wir Lernende beim gemeinsamen Schreiben eines Textes beobachten, können wir sehen und hören, wie sie ihren Text planen, gestalten und überarbeiten. Dabei werden jene Bewusstseinsinhalte und Denkvorgänge ein Stück weit zugänglich, die uns sonst meist verschlossen bleiben. Prozesse der Sprachverarbeitung, die normalerweise parallel bzw. weitgehend automatisiert ablaufen, sind beim kooperativen Schreiben 160 Es werden in diesem Kapitel nur ausgewählte Beispiele analysiert, als Grundlage für die Erstellung der „Indikatoren für Textkompetenz” (siehe Teil I, Kapitel 9) wurden weitere vierzig Fallbeispiele berücksichtigt. 161 Die Vergleichbarkeit der sprachlichen Daten wird dadurch erleichtert, dass der Erzählinhalt in Bildergeschichten standardisiert und die Erzählschritte vorgegeben sind. Bildergeschichten haben sich daher als ein probates Mittel zur Untersuchung der Textkompetenz erwiesen, zahlreiche Studien bedienen sich dieses Erhebungsinstrumentes (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2006, 113). 162 Beim kooperativen Schreiben ist der „Zwang” zu wechselseitigen Formulierungsvorschlägen und Evaluierungen kommunikativ funktional (vgl. Antos 1989, 30). Swain (1985) schreibt diesem „erzwungenen Sprachgebrauch” (pushed language use) eine wichtige Rolle zu, da die Lernenden dazu angehalten werden, Hypothesen immer wieder neu zu überprüfen und zu verwerfen oder aber neu zu konstruieren (vgl. Henrici 1995, 17). <?page no="102"?> 102 verlangsamt und können bei der Analyse von Textproduktionsprozessen transparent gemacht werden. 163 Die Analyse von Interaktionen beim kooperativen Schreiben ist daher eine entscheidende methodische Erweiterung für die Untersuchung des Erwerbs von Schreibfähigkeiten (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2005, 7). Aufschlussreich sind vor allem die metasprachlichen 164 und die metakognitiven Aktivitäten, 165 die infolge des Nachdenkens über die Vorstellungen, Schwierigkeiten und Strategien bei der Erstellung des Textes entstehen. Metasprachliche Äußerungen manifestieren sich vor allem in Prätexten, also in den sprachlich realisierten, jedoch noch nicht schriftlich fixierten Vorformulierungen des Textes (vgl. Wrobel 2002, 94). Es sind dabei meist vor allem die Momente des Zurückweisens bzw. Akzeptierens von Formulierungen, die zeigen, inwieweit die Schreibenden in der Lage sind, die kognitiven und sprachlichen Aktivitäten beim Formulieren gezielt zu steuern, zu kontrollieren und aufeinander abzustimmen (Portmann-Tselikas 1997a, 68 f.). Was als Fehler oder spontane Selbstkorrektur, als Neuaufnahme oder Tilgung sprachlicher Elemente erscheint, ist vielfach eine restrukturierende Aktivität im Prozess des Schreibens, die der Optimierung des Textes dient. Kooperatives Schreiben ist nicht nur ein Forschungs-, sondern auch ein Lerninstrument. Das gemeinsame Verfassen eines Textes ermöglicht es, dass Lernende ihre Textkompetenz aktivieren, bündeln und weiter entwickeln. Dieses Potential auszuloten, ist das Ziel der im Folgenden durchgeführten Textanalysen. Sie sollen in weiterer Folge als Grundlage für die Modellierung von Schreibaufgaben dienen, die darauf abzielen, die Textkompetenz der Lernenden gezielt zu fördern (siehe Teil II). 7.2 „Die kleine Maus”: eine Bildergeschichte entsteht Im Folgenden werden Textproduktionsprozesse in Gruppen von Zweitsprachenlernenden und von Muttersprachigen untersucht. 166 Es handelt sich dabei um dieselben Kinder, die bereits als Verfasserinnen der „Winter”- 163 Der Moment der Zerdehnung der Sprechsituation (Ehlich 1983) kommt im Prozess der gemeinsamen Textproduktion stärker als in der individuellen Textproduktion zum Tragen (vgl. Wrobel 2002, 94). Die Verlangsamung macht es für die Lernenden möglich, Formulierungsprobleme selbst zu erkennen und zu bearbeiten (vgl. Wrobel 2002, 85). 164 Mit metasprachlichen Aktivitäten sind Äußerungen über Sprache gemeint. 165 Metakognitive Aktivitäten sind keine spezifischen Schreibstrategien, sondern vielmehr allgemeine Problemlösestrategien, die dazu dienen, Lernprozesse besser zu koordinieren, zu steuern und zu kontrollieren. Metakognitive Aktivitäten befähigen Lernende dazu, individuelle Lernstrategien zu entwickeln und eigene Kompetenzen und Kenntnisse genauer einzuschätzen. Im Textproduktionsprozess zählen dazu vor allem Planungsaktivitäten, Kontrollprozeduren, Bewertungen und Revisionen. 166 Antos (1989, 45) hat schon Ende der 80er Jahre für eine die Erst- und die Zweitsprache integrierende Textproduktionsforschung plädiert, dennoch gibt es bislang kaum Arbeiten, die diese Zielsetzung verfolgen. <?page no="103"?> 103 Texte (Kap. 6.1) eine Rolle gespielt haben: Es sind dies Gönül, Marija und Secil sowie Mira, die nun mit Christina, einem gleichaltrigen deutschsprachigen Mädchen, zusammenarbeitet. 167 7.2.1 Die gemeinsam erzählte Bildergeschichte Vor dem gemeinsamen Schreiben hatten die Schülerinnen den Auftrag, die Bildergeschichte mündlich allein zu erzählen. 168 Während Marija, Secil und Gönül spontan zu erzählen begannen, hatten Mira und Christina Mühe, einen Anfang zu finden. Sie brauchten relativ lange, bis sie den ersten Satz formuliert hatten. Diese Pause am Beginn des Schreibprozesses könnte damit zu tun haben, dass die beiden zunächst versuchten, sich einen Überblick über die Bildergeschichte zu verschaffen und eine mentale Repräsentation der Geschichte aufzubauen. Es könnte aber auch sein, dass sie anfangs mit der Aufgabe überfordert waren. Die Aufgabe, einen schriftsprachlich geprägten Text mündlich spontan zu formulieren, ist schwierig, denn sie erfolgt unter Zeitdruck und es bestehen keine Möglichkeiten der Planung, Kontrolle und Revision wie beim Schreiben. 169 Dazu kommt, dass der Anfang bei der Konstituierung von Texten generell häufig Probleme bereitet (vgl. Pätzold 2005, 79). Gerade der Beginn eines Textes, in dem es noch keine Anknüpfungsmöglichkeiten und Beschränkungen durch vorgängige Textelemente gibt, erfordert oft größere Anstrengungen als die Fortsetzung von bereits vorhandenen Textteilen (vgl. Keseling 1993, 79). Dafür sprechen auch die Ergebnisse von Wrobel (2000, 462), denen zufolge unerfahrene SchreiberInnen relativ wenig Zeit auf Planungsaktivitäten verwenden, während erfahrene SchreiberInnen die Zeitentlastung, die sich durch das Schreiben ergibt, meist effektiver nutzen, indem sie die pragmatischen und inhaltlichen Anforderungen der Schreibaufgabe länger reflektieren sowie differenziertere Textpläne entwickeln. Beim schriftlichen Verfassen der Bildergeschichte waren Mira und Christina schließlich mit großer Begeisterung dabei. Sie betonten immer wieder, dass ihnen das Schreiben der Bildergeschichte nun viel mehr Spaß macht als das Erzählen. Auf die Frage, warum ihnen das Erzählen anfangs so schwer fiel, sagt Mira, dass sie dabei zu wenig Zeit gehabt hätten, um nachzudenken, Pausen zu machen und Äußerungen zu korrigieren: „Man kann 167 Im Alter dieser Kinder ist die Fähigkeit, den eigenen Schreibprozess zu reflektieren, vor allem im Hinblick auf globalstrukturelle Aspekte sehr unterschiedlich ausgeprägt; neben metasprachlichen Formulierungen finden sich in der Regel narrative Diskurseinheiten, in denen die eigenen Schreibstrategien nicht aus reflektiver Distanz geschildert werden können (Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2005, 7). 168 Bei Bildergeschichten handelt es sich laut Brinker (1988) um eine Mischform zwischen einer Erzählung und einer Beschreibung; deskriptive und narrative Strukturen werden in der Regel integriert. 169 Gönül, Marija und Secil haben die Zeitentlastung, die sich durch das Schreiben ergab, kaum genutzt: Sie benötigten für das Schreiben der Bildergeschichte nur halb soviel Zeit wie Mira und Christina (16,40 Minuten : 30,47 Minuten). <?page no="104"?> 104 sich beim Schreiben einfach alles besser vorstellen”, so ihr Kommentar und „Wenn man etwas erzählen muss, da muss man es sagen, wenn man etwas schreiben muss, kann man es sich aufschreiben und es noch ausbessern, beim Sagen geht das nicht so gut …” 7.2.2 Dokumentation der Textproduktionsprozesse Abb. 3 Die Gespräche der Kinder, die sie beim gemeinsamen Schreiben der Bildergeschichte 170 geführt haben, wurden aufgenommen und transkripiert, um sie der Analyse zugänglich zu machen: 171 170 Die Bildergeschichte stammt aus Gerngross/ Krenn/ Puchta (1998). 171 Diese Transkripte sind am Gesprächsanalytischen Transkriptionsverfahrens (GAT) orientiert. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit und Vergleichbarkeit sind nicht alle Normen dieses Transkriptionsverfahrens eingehalten; berücksichtigt sind: [ ] Überlappungen und Simultansprechen, (.) Mikropause, (-) kurze und (- -) längere Pause; ah (Verzögerungssignale); akZENT (Primärbzw. Hauptakzent); ((lacht)) (para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse); <<erstaunt>> (interpretierende Kommentare); (solche) vermuteter Wortlaut; ( ) (unverständliche Passage); : (Dehnung, Längung); ? (Tonhöhe hoch steigend); , (Tonhöhe mittel steigend); - (Tonhöhe gleichbleibend); ; (Tonhöhe mittel fallend); . (Tohnhöhe tief fallend). <?page no="105"?> 105 Bild Gruppe A: Gönül, Marija, Secil Gruppe B: Mira, Christina 1 Gönül erzählt die Bildergeschichte zuerst alleine; erst dann ist sie bereit, sie gemeinsam mit den anderen für die Verschriftlichung zu formulieren. Nach einer kurzen Diskussion beginnen die drei mit dem Schreiben. G: also kommt’s, hilf mir; was schreib ma jetz; das, was ich eben, ( ) M: ah ah an einem schönen - S: an einem (schreibt) schönen G. nen tag, (.) an einem schönen tag, (.) hatte die kleine maus, S: hatte die kleine maus, (schreibt) G: maus, einen RIEsenhunger; S: einen riesen hunger (.) einen riesigEN hunger; oder? G: ja, einen riesigEN hunger; S: mit scharfem ß oder? <<M., S. und G. diskutieren die Schreibweise von „riesigen”: doppel ss, s oder ß? ; i oder ie? >> G.: einen riesigen hunger, (.) punkt. Mira und Christina diskutieren darüber, wer zu schreiben beginnt und vereinbaren, dass sie abwechselnd je einen Satz schreiben. Mira beginnt mit der Überschrift; sie schreibt ganz langsam und verziert dabei die Schrift. M: ok wie schreib’n ma den ersten Satz? C: ahm (.) du hast schon mit DIE angfangen gell? M: die kleine maus, C: die kleine maus ging eines schönen tages, aus ihrem [ ] mäuseloch hinaus; M: sagn ma WILLI die maus, das hab ich bei der geschichte erzählt das klingt so gut; C: die kleine maus willi, M: NEIN willi, die kleine MAUS C: nein, du hast aber schon die kleine maus; M: die kleine maus ist die ÜBERschrift C: aso, ok. eines schönen tages ging willi, die maus, aus ihrem mäuseloch hinaus. M: das hätt ich auch g’sagt, das reimt sich sogar; (-) ( ) C: das ist LUStig; gell, M: das alleine erzählen hat mir überhaupt keinen spass g’macht; C: na; das is so - ( ) 2 G: so, und jetzt bis DU aber dran, schaun, ob du’s besser kannst; M: der maus drehte sich um, G: hm M: was is? G: SCHAUte sich um; M: sich um, dass niemand kommt; G: nein, wart; du musst es dir M: sie hat einen RIE: sen hunger; und schaute sich AUFgeregt um, ob sie was zu fressen fand. C: schreib nur - ( ) M: ja beim schreiben is es viel leichter; (-) C: beim schreiben kann ich mir mehr drunter VORstelln. M: ich AUCH, C: kann man sie auch a bissl <?page no="106"?> 106 überlegen nicht gleich schreiben; schau; die maus schaute sich um, (.) und dachte sich, wo kann ich mir futter stabitzen; anders schreiben? ( ) (- -) M: fressen FINden KONNte; oder? statt fand; C: fressen find, (.) fressen fand, M: sie hat einen (.) sie hat einen riesen hunger und schaute sich um als, (.) aufgeregt, und schaute sich aufgeregt um, ob sie was zu fressen finden konnte. (.) oder? C: ob sie etwas (.) zum fressen? M: sie SUCHte danach und sie hat’s nicht gefunden; (.) finden konnte; oder? C: schreib hin, was du glaubst! M: ja, aber wir müssen ja gemeinsam; (diskutieren über die Schreibaufgabe) finden konnte? C: ok 3 G: und sah hier einen käse ok schreib, komm, (G diktiert) die maus, (.) schaute sich um, (-) um, (.) ob sie was stabitzen kann; M: ob sie was? <<unsicher>> G: << ungehalten>> ob sie was staBITZEN kann; (-) punkt. (.) M: kann (-) G: ja [ ] und sah, (.) und sah auf (.) M: sie sah; [ ] G: die kleine M (.) nein warte; M: SIE sah, G: ja (.) SIE sah; hast recht; sie sah, auf einem tisch, sie sah, M: auf einem tisch, haben hier einen kühlschrank; G: im kühlschrank? wie soll sie bitte den kühlschrank aufkriegen; die kleine maus? M: sie sah auf einem tisch, (.) tisch, (schreibt) käse; (schreibt) punkt. [ ] G: und dachte sich - (M. schreibt) WIE komm ich da M: das dritte bild ( ) C: sie roch sie roch den geruch von käse und sie, (.) M: genau (.) sie sie roch, sie roch aus einem aus einem großen schrank, einen käseduft; C: genau; M: und ging dem geruch nach; C: genau, schreib hin! (M. schreibt) M: (flüstern) großEN oder großEM; sie roch aus einer großen, ( ) C: warte mal (-) M: sie roch aus einer großen schüssel, (.) dritter fall; großEM; C: ( ) kleinen schrANK, mira! M: für sie is es GROSS (.) C: ja! M: für die maus; (.) die maus is so KLEIN der schrank ist so GROSS - ( ) C: warum hast du nicht abgeteilt? (.) M: wollt ich nicht; (.) dann tu ich halt abteilen; schrank is eine sil- <?page no="107"?> 107 rauf? (M. schreibt) ahm [ ] wie komm ich da rauf, und überlegte sich sie hatte schon eine idee; M: die maus G: warte mal (.) die kleine maus hatte schon eine idee; M: (schreibt, sagt Wort für Wort laut) hatte schon eine einen [ ] G: eine idee ich sag schon eine; ((lachen)) die kleine maus hatte schon eine idee; (M. schreibt) (-) idee wer will jetzt schreiben? eine idee (.) be, kann ich nicht abteilen; (.) C: schrank kann man nicht abteilen; hast recht - ((M. schreibt)) M: und folgte dem, oder? C: und folgte der (.) klingt besser; M: ( ) folgte dem. C: kann man das lesen? (-) Ok. 4 G: er klett sie klett ((lachen)) S: er G: er? DIE kleine maus habn ma ja gesagt; ( ) M: ja ( ) die kleine maus, G: sie kletterte, S: sie kletterte G: warte mal; sie kletterte rauf; (S. schreibt) S: rauf? G: rauf, kletterte RAUF, (S. schreibt) C: sie sprang aufs - ( ) sie sprang [ ] aufs regal hinauf, und - [ ] M: na sie versuchte, [ ] sie versuchte auf den schrank hinaufzu, ( ) sie versuchte auf den schrank hinaufzu [ ] sie versuchte auf den schrank hinaufzu, (.) warte - (.) noch einmal; (.) sie versuchte auf den Schrank, (.) zuerst du oder zuerst ich? C: ich M: ok C: sie versuchte auf den schrank zu springen, (.) und - (-) M: und - (.) ich hab was besseres sie, ( ) sie versuchte, auf den schrank hinaufzukrabbeln, das war am anfang zwar ziemlich wackelig, aber am ende gelung geling ge ge gelung es ihr doch. C: noch mal ansagen! M: sie versuchte auf den auf den schrank zu kraxeln (.) auf den schrank zu klettern (-) bist du einverstanden? C: ja M: auf den schrank zu klettern? (.) auf den schrank zu klettern; (.) punkt; oder? da geht man runter mit der stimme; - (-) <?page no="108"?> 108 punkt. am anfang war es zwar ziemlich wackelig, (schreibt) C: du kannst so schön in der zeile schreiben, wenn gar kein linienspiegel is das kann ich überhaupt nicht; M: aber am ende ge ge ge - C: war es zwar - M: ziemlich wackelig, ( ) nicht mit H, wer ziemlich näm (.) wer nämlich ziemlich dämlich mit h schreibt, ist nämlich ziemlich dämlich C: am anfang war es zwar ziemlich wackelig, (.) wie schreibt man wackelig? M: mit CK, darf ich? (schreibt) C: du hast a ganz a andere schrift (.) ich kann deine schrift net lesen; (.) tschuldigung; (.) kannst du meine lesen? M: so mittel; C: ich kann deine überhaupt net lesen ((lacht)) M: jeder hat seine eigene schrift - C: ich weiß (.) ok M: musst mal da mami ihre lesen; C: ziemlich wackelig, M: aber am ende gelung es ihr doch; (.) beistrich. (schreibt) C: aber; M: beistrich (.) gelang? oder, gelangt? gelung? C: ja; gelangt is besser ; M: gelangt es ihr doch; C: punkt. ( ) 5 vorweggenommen - siehe Bild 3 M: ( ) und DA: , stand schon das große, duftende stück käse; C: das is lustig; na aber mit UND sollte man den satz net beginnen; (.) frau haider hat g’sagt, keinen satz sollt ma mit UND beginnen; M: PLÖTZlich sah sie schon das <?page no="109"?> 109 GRO: ße DUFtende stück käse; C: nein (.) VOR ihren augen; M: vor ihren augen, sah sie schon das große duftende stück käse; das is gut; das is am besten; (.) gut besser am besten. C: passt das? M: nein meins war gut, dann war’s noch besser, dann war deins am besten; (.) C: vor - M: ihren augen, (schreibt) groß duftende gell, (.) beistrich; C: große, (schreibt) M: beistrich, wenn ma kein UND schreibt - dann is immer beistrich. (.) C: große - (schreibt) M: duftENDE; ( ) is falsch; (.) duftENDE; duftEN, duftENDE? C: sicher? M: ja. ( ) C: (schreibt)) punkt. 6 G: rauf, und aß sich voll; (-) PUNKT, und aß sich voll; (S. schreibt) punkt. C: sie nahm einen kleinen happen, und konnte nachher nicht mehr aufhören; M: nana das is besser (.) warte, na mir liegt’s auf der zunge; (-) erFREUT STÜRZte sie sich stürzte sie sich stürzte sich WILLI auf das stück, und fraß fast alles bis auf ein paar krümel auf. C: noch einmal ansagen. ((schreibt)) M: erfreut, (diktiert den Satz) stürzte sie sich auf das stück käse (-) SIE sich, C: nein M: stürzte ES das ist kein es das is - C: ER sich [ ] erfreut, [ ] erfreut stürzte WILLI, M: ja nachher schreib SIE! die maus ist eine SIE! die maus (.) <?page no="110"?> 110 wir sprechen über die maus, willi habn ma net eing’halten. (.) ich weiß; die maus, aber da steht DIE maus; also is es eine SIE oder? ( ) eines tages ging (.) ging die maus; dann streich ich das willi weg; ( ) ja weil dann könn ma SIE schreiben für DIE MAUS ( ) C: ok. erfreut stürzte sie sich, M: erfreut stürzte sie sich auf das stück käse; C: auf das große stück käse - M: auf das große stück käse, (-) auf das große stück käse; punkt g’hört da. ( ) auf das große stück käse, (schreibt) sie fraß alles auf, und laß laß und ließ nur noch ein paar krümel übrig C: schau mal wie klein ich g’schriebn hab; und wie groß du, ( ) schaut irgendwie komisch aus; zwei schriften g’mischt gell? M: einverstanden überhaupt? C: ja - M: ups; ließ falsch oder richtig; da bin ich mir nicht sicher; ließ mit scharfem ß, (-) ein paar schuhe groß; wenn’s zwei sind, schreibt man’s groß wenn’s mehrere sind klein; gell? C: ja. (M. schreibt) die krümel schreibt ma sowieso groß; M: ja. (- -) 7 G: sie legte sich hin mit m dicken bauch; (.) sie, (- -) M: nein sie - (schreibt) hin; (flüstern) G: mit m dicken bauch, und legte sich hin; (.) wart mal; (.) sie legte sich - (.) WAS hast du da g’schriebn? ja, - (.) ja es schaut so wie ein KIM aus; ge - M: ja meine schrift is so - ((lacht verlegen)) schiach; (G. und M. M: da legte sie sich hin [ ] mit schwerem bauch [ ] legte sie sich hin und schlief; C: nein; ganz VOLLgeFRESSen - M: mit schwerem bauch - [ ] mit ganz vollgefressenem und schwerem bauch - [ ] C: legte sie sich auf den teller [ ] M: legte sie sich auf den teller, wo das stü wo früher das stück käse stand, und schlief, <?page no="111"?> 111 diskutieren über M.s Schrift) hin mit m dicken bauch, und leg (.) und (.) und schlief ein; (schreibt) so. ok. C: das stück käse stand tät ich wegstreichen; M: legte sie sich auf den teller und schlief, schlaf, C: und schlief, M: schlief schlief C: ja - M: hab ich eh gsagt C: schlief längere zeit; M: schlief ruhig ein; ruhig und glücklich; schlief glücklich ein. also noch einmal; C: schlief RUHig ein, is besser; M: mit vollem bauch, [ ] C: mit vollem bauch, M: legte sie sich auf den teller, und schlief glücklich ein; C: nein, M: da LACHT sie ja; da hat sie einen SMIlie - C: ja ok; M: schlief glücklich ein. ok (schreibt) ups, jetzt hab ich auf das SIE vergessen; is wurscht. 8 G: da kam der dicke mann, M: da kam der dicke mann, (schreibt) G: und dachte sich ich hab SO einen hunger; [ ] dachte sich ich hab einen riesen hunger. (M. schreibt ) aber ich weiß schon was ich ess; (.) nein nein doch nicht - C: ich tät den dicken mann manfred nennen; M: MANfred is besser als otto, ich hab’n otto gnannt, C: ich hab ihn manfred gnannt bei der gschicht; (M. schreibt) schreibst du manfred? M: manfred; is besser; C: manfred is VIEL besser find ich - M: ok schlief ruhig ein; (.) hungrig kam plötzlich manfred in die küche, C: ja M: ich hab der hausbesitzer - ( ) C: hungrig kam manfred die tür hinein; um ein stück käse zu essen; M: in die die küche, HUNgrig; [ ] ich hab eine idee; HUNgrig öffnete manfred die küchentür, <?page no="112"?> 112 um sich ein stück käse zu holen. C: NEIN er kommt ja erst NACHher; M: ja da sind wir sind bei dem bild, C: ja, eh ahm - [ ] M: hungrig, C: nein ( ) mira, hör mir mal ! ZU! M: ich wollt dir grad sagen, dass ma das mit dem stück käse weglassn; (.) hungrig, C: ja M: hungrig öffnete manfred die küchentür - C: und wollte sich was zu essen holen; M: und wollte sich was zu essen holen; das passt dann auch her (schreibt lange) C: ( ) um sich was zu essen holen; M: und wollte sich etwas zu essen holen; C: und wollte sich etwas zu essen holen? M: etwas; ( ) um sich etwas zu essen, ( ) um sich etwas ((streicht etwas durch)) zu essen holen; (.) das is besser gell? (schreibt) um sich etwas zu essen holen. C: mmh - 9 S: er denkte G: er dachte sich [ ] ich hatten noch käse; S: er dachte sich ich hab noch eine KÄSE (-) G: ich hatten, (.) noch, (.) käse; ja - (.) klingt komisch; oder? ((M. lacht)) ich HATTEN noch käse. M: er denk dach G: ja er dachte sich, ich hatten noch käse im; M: im SCHRANK; (.) oder M: da FIEL ihm das große stück käse, was er heute in der früh beim supermarkt gekauft hatte, ein C: genau, da fehlt a PUNKT; M: da, C: das is a punkt? <<unterhalten sich über punkte 0.31>> M: DA fiel ihm das GROße stück käse ein [ ] was er heute in der früh beim supermarkt gekauft hatte; [ ] C: jetzt lass mich einmal reden; <?page no="113"?> 113 nicht? G: ja im schrank kann schon sein, ja sie hat schon recht, aber; (.) ich hatten noch ein stück käse (-) ich hatten noch einen stück, ich hatten noch ein stück käse am (.) tisch. M: am schrank? ((lachen)) G: im schrank schon, aber ich (.) a ja, wieso haben wir das nicht vorher gschriebn, dass da OFFen war; (.) wart; les ma’s noch einmal; (lesen den Text im Chor nochmals bis „er dachte sich”) M: ich muss schauen ich hatten noch ein stück käse; G: JA ich muss schaun, M: ich muss schaun - (schreibt) G: ich hatten, noch ein stück käse; (M. schreibt) käse; ok. ich hatten noch ein stück käse; ok sonst krieg ma a durcheinander; M: ok. C: da fiel ihm das große stück käse ein, das er heute im supermarkt gekauft hatte; (.) gekauft hatte. M: in der FRÜH, weil da is es ja am nachmittag, er muss es ja irgendwann gekauft haben; C: mein gott. da is es auch schon egal; auf jeden fall wird es dann eine zeitergänzung; M: das weiß ich auch, obwohl beim supermarkt is eine ortsergänzung. C: ja, (-) und manfred is subjekt - (M. schreibt) ( ) 10 G: ( ) sie ah sie ah er NA: ,HM den teller; er nahm den teller, M: er öffnete die schranktür, C: und fand nur mehr kleine krümel; M: und fand nur mehr kleine krümel, wo früher das große stück käse stand, (.) wo früher das stück käse stand, am teller; C: nein; ich tät’s so schreiben er fand nur mehr das kleine, er fand nur mehr die krümel käse, die auf dem teller lagen; M: vom käse, vom großen vom stück käse; C: klingt das besser? M: nein; aber man muss erklären, weil sonst weiß man nicht; C: mein gott, das weiß man doch ganz sicher, M: ja, aber der manfred, (.) also der manfred, wenn der manfred jemandem das erzählt hätt, hätt der das nicht gwusst; <?page no="114"?> 114 C: du machst das so kompliZIERT; M: die MAUS hätt’s gwusst; aber der manfred wenn er’s jemanden erzählt hätt dass er nur mehr ein krümel am teller findet, und sich ein stück käse kauft, der hätt ja keine ahnung, von was der teller is; die maus hätt’s gwusst; weil die hat das ja aufgfressen; C: ich komm noch durcheinander; wenn du mir soviel erzählst - M: ok. er öffnete die schranktür, und sah nur noch kleine krümel vom stück käse am teller liegen; M. (flüstert) christina; die schranktür war ja offen; weil die maus drinnen war; die kann ja nicht zu g’wesn sein; er öffnete geht ja gar nicht; schau die war ja offen; C: aJA: , M: weil die maus drinnen war; C: shit. M: streich’s durch, C: nein; (.) er fand die schranktür offen, und ging nachschauen; M: ja, die schranktür WAR ja offen; die maus kann ja keine schranktür öffnen; M: er ging zur schranktür, und sah auf den teller, wo früher das große stück käse war; punkt. C: wart; ok M: am teller lagen nur noch kleine krümel. C: nein. jetzt sag mir bitte den ganzen satz; M: er sah, er sah, (.) jetzt hab ich grad jetzt hab ich grad den SATZ g’habt; C: er fand, M: er fand auf dem teller, wo <?page no="115"?> 115 früher das große stück käse war, nur noch ein paar kleine krümel; C: nein; er fand die offene schranktür und ging M: nein, die schranktür WAR ja offen; die maus kann sie ja nicht aufmachen; C: ja aber er FAND die schranktür OFFEN; M: ja, aber er hat sie ja selber offen lassen; (.) deswegen, C: shit. was mach ma? (.) ok; jetzt sag mal an, M: ja. er sah auf den teller, wo früher das große stück käse war, er sah auf den teller, wo früher das große stück käse war; C: nur mehr ein paar krümel (schreibt) M: punkt. da gehen ma runter. C: käse, M: er sah auf den teller, wo früher das große stück käse WA: r; punkt. C: waRUM, (-) aber da lagen nur noch ein paar kleine krümel am teller; M: vorsichtig und das nächste bild dann; vorsichtig hob er den teller hoch, um das ganze noch einmal genauer zu untersuchen. C: ok. er sah auf den teller, wo früher das große stück käse war, punkt? M: punkt. ja da gehen ma runter mit der stimme; aber warum lagen da nur noch ein paar kleine krümel auf dem teller; M: vorsichtig hob manfred den teller auf, C: mei jetz sag mir noch einmal den ganzen satz - (schreibt) M: aber warum waren da nur noch ein paar kleine krümel am teller; (-) nur mehr (.) nur nur <?page no="116"?> 116 mehr (-) ein paar kleine krümel am teller; (.) <<diskutieren über die schreibung>> C: fragezeichen; M: vorsichtig hob manfred den te: ller auf, um das ganze noch mal genauer zu untersuchen; C: ANzusehen M: zu untersuchen; er will’s ja ansehen, ja anzusehen; C: ja ok passt; ok sag mal an; ( ) M: da kannst weiterschreiben; C: ok; sag jetzt an M: vorsichtig, VO: ,RsichTIG hO: ,b MA: ,Nfre: ,d C: wie schreibst du manfred; M: MANfred; normal; weiter; fre: d, wie freddy, aber nur mit einem d; manfred den teller auf, um sich das noch mal genauer anzusehen; DASS doppel „ss” oder? mit EINEM s? ( ) das rentier, das schreibt man mit einem s; weil es ein begleiter is und, dass sich noch einmal genauer anzusehen, da hast du kein namenwort dahinter; also is es kein begleiter; also schreibt man’s mit doppel „ss” ( ) ah, weil’ s etwas darstellt; oder? sich also das noch einmal genauer anzusehen ( ) C: nein; vorsichtig hob manfred den teller auf, (.) um sich das - M: um sich das ganze noch einmal, noch einmal genauer anzusehen; (.) um sich DAS ganZE, noch einmal genauer anzusehen; C: genauer? na das geht sich sicher nicht; doch geht sich schon aus - 11 G: und sah: , (-) M: und sah, (.) G: was sah er denn - ((lachen)) die maus auf dem teller liegen; M: als er den teller schon in den händen hielt, sprang plötzlich eine KLEIne maus von dem teller; C: ansagen. (C. schreibt) <?page no="117"?> 117 M: und sah die maus - ( ) G: auf dem teller liegen; M: als er den teller schon in den händen hielt, (C. schreibt) hielt, sprang eine KLEIne maus vom teller; (C. schreibt) 12 G: er schm schmeiß(.)te - <<unsicher>> was tun ma’n da; M: er schmeißte, G: er schmeißte, er schmeißte; M: er schmeißte den - ( ) G: NEIN M: er schmiss ( ) G: ja aber es gibt noch etwas; oder? er ließ den teller aus der hand, <<wieder unsicher>> ja, (.) er ließ, da ah ( ) er ließ ja (.) den teller, ((schreibt)) aus der hand, M: aus der hand, ( ) G: JA er ließ den teller doch aus der ha: ,nd; oder? wenn man sich erschreckt, und wenn man da eine spinnerin sieht, lasst ma’s immer fallen. ( ) M: er ließ den teller aus der hand; (.) punkt. (-) G: er ließ den teller aus der hand, (-) [ ] aus der hand, M: und rannte, G: und rannte weg. ((zu Secil gewandt)) du kannst dir auch mal was überlegen. überleg dir schon einmal, was man da noch erzählen könnt; ( ) M: und rannte weg, G: sei du still M: punkt. (.) G: du bist still; M: wollt auch mal was sagen (( ) lachen)) S: der teller zerbrach in hundert teile; G: in 1000 stücken sagt man oder? (diktiert) de: r TEller, (.) zerbrach ich hab net DAS teller gsagt - (diskutieren über die M: wie findest du’s für den nächsten satz; erschreckt ließ manfred den teller fallen, und rann, rannte aus der aus der küche, C: na dann, warte mal - M: erschreckt ließ manfred, [ ] lass mich nur mal erzählen, hör mir mal ! ZU! (.) erschreckt ließ manfred den teller fallen, und RANnte aus der küche; leider lagen am boden nur noch kleine scherben vom teller; C: nein; das würd ich weglassen, das andere; M: ich habe eine idee, C: [ ] das war ein schreckhaftes erlebnis; M: nein nein nein ich hab eine bessere idee; erschreckt ließ manfred den teller auf den boden fallen, auf den auf den boden fallen; und der teller sprang in zwei; das war ein aufregendes erlebnis, für willi, die maus; für die maus. C: ok; los geht’s M: ja SCHREIB; (lacht)) also erschreckt ließ manfred den teller, ((lacht)) erschreckt ließ manfred den teller auf den boden fallen; und der teller sprang in zwei; (C. schreibt) und der teller sprang (M. diktiert) auf den boden fallen, (C. schreibt) und der teller, beistrich, und der teller sprang in zwei; (C. schreibt) DAS war ein aufregendes erlebnis für die beiden, oder? oder für manfred und die maus, weil der manfred hat auch ein <?page no="118"?> 118 Schreibweise von Teller) der teller, (M. schreibt) zerbrach in tausend stücken. M: überschrift haben wir noch nicht; G: ja; die kleine maus, (-) so punkt. (16,40 Minuten, 112 Wörter) aufregendes erlebnis ghabt; C: mmh M: für die beiden; oder? C: sprang in zwei, punkt. gell, M: das war ein aufregendes erlebnis für die beiden. C: ja. (30,47 Minuten, 208 Wörter) Gönül, Marija und Secil lesen ihren Text, nachdem sie ihn zu Papier gebracht haben, noch einmal gemeinsam durch, sie nehmen jedoch keine Veränderungen vor. Mira und Christina finden es nicht mehr nötig, ihren fertig geschriebenen Text noch einmal durchzulesen. Revisionen von Formulierungen, die bereits zu Papier gebracht wurden, kommen somit in beiden Gruppen nicht vor. Sobald sich die Schülerinnen für eine Formulierung entschieden haben, wird sie notiert und nicht mehr weiter verändert; Revisionen und Textoptimierungen erfolgen ausschließlich an den mündlichen Vorformulierungen des Textes. 7.2.3 Textproduktionsprozess I: Mira und Christina entwickeln ihre Geschichte 7.2.3.1 Revisionen und Textoptimierungen Der Textproduktionsprozess von Mira und Christina ist durch zahlreiche sprach- und inhaltsgerichtete Aktivitäten gekennzeichnet. Die beiden entwickeln ständig neue Ideen, um ihren Text zu verbessern. In zahlreichen Aktivitäten des Bewertens und Optimierens von Formulierungen gelingt es ihnen, ihren Text sukzessive inhaltlich und sprachlich auszugestalten. (Bild 7) M: da legte sie sich hin [ ] mit schwerem bauch [ ] legte sie sich hin und schlief; C: nein; ganz VOLLgeFRESSen - M: mit schwerem bauch - [ ] mit ganz vollgefressenem und schwerem bauch - [ ] C: legte sie sich auf den teller [ ] M: legte sie sich auf den teller, wo das stü wo früher das stück käse stand, und schlief, C: das stück käse stand tät ich wegstreichen; M: legte sie sich auf den teller und schlief, schlaf, C: und schlief, M: schlief schlief C: ja - M: hab ich eh gsagt C: schlief längere zeit; M: schlief ruhig ein; ruhig und glücklich; schlief glücklich ein. also noch einmal; C: schlief RUHig ein, is besser; M: mit vollem bauch, [ ] C: mit vollem bauch, <?page no="119"?> 119 M: legte sie sich auf den teller, und schlief glücklich ein; C: nein, M: da LACHT sie ja; da hat sie einen SMIlie - C: ja ok; M: schlief glücklich ein. ok (schreibt) ups, jetzt hab ich auf das SIE vergessen; is wurscht. 172 Bereits geäußerte Formulierungen werden von Mira und Christina immer wieder aufs Neue überprüft, bestätigt, verworfen oder revidiert; einzelne Textelemente werden dabei getilgt, ersetzt oder erweitert. 173 Die Revisionen dienen in den meisten Fällen dazu, Formulierungen zu präzisieren bzw. Inhalte zu erklären oder zu verdeutlichen. (Bild 8) C: ich tät den dicken mann manfred nennen; M: MANfred is besser als otto, ich hab’n otto gnannt, C: ich hab ihn manfred gnannt bei der gschicht; (M. schreibt) schreibst du manfred? M: manfred; is besser; C: manfred is VIEL besser find ich - M: ok schlief ruhig ein; (.) hungrig kam plötzlich manfred in die küche, C: ja M: ich hab der hausbesitzer - ( ) C: hungrig kam manfred die tür hinein; um ein stück käse zu essen; M: in die die küche, HUNgrig; [ ] ich hab eine idee; HUNgrig öffnete manfred die küchentür, um sich ein stück käse zu holen. C: NEIN er kommt ja erst NACHher; M: ja da sind wir sind bei dem bild, C: ja, eh ahm - [ ] M: hungrig, C: nein ( ) mira, hör mir mal ! ZU! M: ich wollt dir grad sagen, dass ma das mit dem stück käse weglassn; (.) hungrig, C: ja M: hungrig öffnete manfred die küchentür - C: und wollte sich was zu essen holen; M: und wollte sich was zu essen holen; das passt dann auch her (schreibt lange) C: ( ) um sich was zu essen holen; M: und wollte sich etwas zu essen holen; C: und wollte sich etwas zu essen holen? M: etwas; ( ) um sich etwas zu essen, ( ) um sich etwas ((streicht etwas durch)) zu essen holen; (.) das is besser gell? (schreibt) um sich etwas zu essen holen; C: mmh - 174 172 Siehe auch Bild 4, 5, 12 etc. 173 Ersetzungen kommen bei Gönül, Secil und Marija insgesamt zehnmal und bei Mira und Christina 38-mal vor; bei den Hinzufügungen besteht ein Verhältnis von 3 : 14. Beim Einsatz von wiederholend-alternativen Textelementen besteht ein Verhältnis von 44 : 8 zugunsten der muttersprachigen Schülerinnen. 174 Siehe auch Bild 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10 und 12. <?page no="120"?> 120 Lexikalische Revisionen werden von Mira und Christina vor allem dazu eingesetzt, um die stilistische Varianz und die Verständlichkeit ihres Textes zu erhöhen. Veränderungen im sprachlich-normativen Bereich erfolgen vor allem in Form von orthographischen und morphosyntaktischen Korrekturen - einzelne Wörter und Textpassagen werden immer wieder im Hinblick auf grammatische Korrektheit und Orthographie überprüft. 175 (Bild 6) M: ups; ließ falsch oder richtig; da bin ich mir nicht sicher; ließ mit scharfem ß, (-) ein paar schuhe groß; wenn’s zwei sind, schreibt man’s groß wenn’s mehrere sind klein; gell? C: ja. (M. schreibt) die krümel schreibt ma sowieso groß; M: ja. (- -) Im Zuge der Korrekturen auf der Ebene sprachlicher Normen bringen die beiden immer wieder grammatische Terminologie ins Spiel: (Bild 9) M: da FIEL ihm das große stück käse, was er heute in der früh beim supermarkt gekauft hatte, ein C: genau, da fehlt a PUNKT; M: da, C: das is a punkt? <<unterhalten sich über punkte 0.31>> M: DA fiel ihm das GROße stück käse ein [ ] was er heute in der früh beim supermarkt gekauft hatte; [ ] C: jetzt lass mich einmal reden; ok sonst krieg ma a durcheinander; M: ok. C: da fiel ihm das große stück käse ein, das er heute im supermarkt gekauft hatte; (.) gekauft hatte. M: in der FRÜH, weil da is es ja am nachmittag, er muss es ja irgendwann gekauft haben; C: mein gott. da is es auch schon egal; auf jeden fall wird es dann eine zeitergänzung; M: das weiß ich auch, obwohl beim supermarkt is eine ortsergänzung. C: ja, (-) und manfred is subjekt - In ihren Revisionen und Textoptimierungen beziehen sich Mira und Christina nicht nur auf einzelne Wörter und Sätze, sondern auch auf den Text als Ganzes. 176 Dies zeigt sich etwa darin, dass sie nicht nur auf unmittelbar zuvor geäußerte Formulierungen zurückgreifen, sondern auch auf bereits länger zurückliegende Äußerungen, die sie im Hinblick auf das Textganze überprüfen und optimieren. (Bild 6) C: sie nahm einen kleinen happen, und konnte nachher nicht mehr aufhören; 175 Hier dürfte auch der lehrerseitige Einfluss im Hinblick auf die Einhaltung von Normen gewirkt haben - gerade bei jüngeren Schulkindern ist dieser Einfluss oft noch sehr stark (Antos 1989, 27). 176 Siehe z.B. die Versprachlichung zu Bild 3. <?page no="121"?> 121 M: nana das is besser (.) warte, na mir liegt’s auf der zunge; (-) erFREUT STÜRZte sie sich stürzte sie sich stürzte sich WILLI auf das stück, und fraß fast alles bis auf ein paar krümel auf. C: noch einmal ansagen. ((schreibt)) M: erfreut, (diktiert den Satz) stürzte sie sich auf das stück käse (-) SIE sich, C: nein M: stürzte ES das ist kein es das is - C: ER sich [ ] erfreut, [ ] erfreut stürzte WILLI, M: ja nachher schreib SIE! die maus ist eine SIE! die maus (.) wir sprechen über die maus, willi habn ma net eing’halten. (.) ich weiß; die maus, aber da steht DIE maus; also is es eine SIE oder? ( ) eines tages ging (.) ging die maus; dann streich ich das willi weg; ( ) ja weil dann könn ma SIE schreiben für DIE MAUS ( ) C: ok. erfreut stürzte sie sich, M: erfreut stürzte sie sich auf das stück käse; Die Vorgangsweise von Mira und Christina beim gemeinsamen Verfassen dieser Bildergeschichte macht deutlich, dass sie bereits über beachtliche lexikalische, stilistische und grammatische Kenntnisse sowie über ein großes Repertoire an Strategien im Umgang mit Texten verfügen. Sie setzen zahlreiche Aktivitäten der Textoptimierung, die im Prozess des gemeinsamen Formulierens eng ineinander greifen und letztendlich bewirken, dass ein dynamischer Prozess des Schreibens entsteht. 7.2.3.2 Phasen im Prozess der Arbeit am Text Im Textproduktionsprozess von Mira und Christina lässt sich eine bestimmte Abfolge von Sequenzen erkennen, die die beiden beim gemeinsamen Schreiben Bild für Bild wiederholen: 177 Zunächst formulieren sie eine Kernaussage zum jeweiligen Bild, mit der sie das Dargestellte inhaltlich grob umreißen. Dann beginnen sie, diese Kernaussage sowohl sprachlich als auch inhaltlich auszugestalten; sie differenzieren, präzisieren und erweitern die zuvor formulierte Aussage. Danach überprüfen und präzisieren sie logische Zusammenhänge im Satz bzw. im Text, 178 verbessern die lexikalische und die stilistische Gestaltung der Sätze und kontrollieren bzw. korrigieren etwaige grammatische und orthographische Fehler. Ihre Aufmerksamkeit liegt somit immer zunächst auf dem wichtigsten Inhalt der im Bild dargestellten Szene; sie sagen also zunächst, „was Sache ist”, bevor sie eine differenziertere Beschreibung der bildlich dargestellten Handlungen liefern. (Bild 1) M: ok wie schreib’n ma den ersten Satz? C: ahm (.) du hast schon mit DIE angfangen gell? M: die kleine maus, C: die kleine maus ging eines schönen tages, aus ihrem [ ] mäuseloch hinaus; 177 Diese Phasen sind nicht immer klar voneinander getrennt; sie kehren jedoch so regelmäßig wieder, dass sie als Muster zu betrachten sind. 178 Z.B. im Text zu Bild 6. <?page no="122"?> 122 M: sagn ma WILLI die maus, das hab ich bei der geschichte erzählt das klingt so gut; C: die kleine maus willi, M: NEIN willi, die kleine MAUS C: nein, du hast aber schon die kleine maus; M: die kleine maus ist die ÜBERschrift C: aso, ok. eines schönen tages ging willi, die maus, aus ihrem mäuseloch hinaus. M: das hätt ich auch g’sagt, das reimt sich sogar; (-) ( ) C: das ist LUStig; gell, M: das alleine erzählen hat mir überhaupt keinen spass g’macht; C: na; das is so - ( ) Diese Vorgangsweise lässt annehmen, dass die beiden die Geschichte von Beginn an als mentale Vorstellung „im Kopf” hatten und im Prozess des Schreibens auf komplexe kognitive Repräsentationen des Textes zurückgreifen konnten, die sie bereits am Beginn des Schreibprozesses aufgebaut hatten und während des Schreibens restrukturieren konnten. Darauf deutet nicht nur das mehrfache Überprüfen logischer Zusammenhänge, sondern auch die Tatsache hin, dass sie während des Schreibens weitgehend ohne Blick auf die Vorlage auskamen. 7.2.4 Textproduktionsprozess II: Gönül, Marija und Secil erarbeiten ihren Text Gönül, Secil und Marija bringen ihre Formulierungsvorschläge meist unmittelbar zu Papier, ohne sie lange zu überarbeiten. Die häufigste Strategie, die sie anwenden, ist die Fortführung von Textelementen: Sie reihen Wort für Wort und Satz für Satz linear aneinander. 179 Sie beschreiben die Bilder der Geschichte knapp, sachlich und ohne Einbettung in größere Kontexte. Dabei verzichten sie fast durchgängig auf inhaltliche Details und eine differenziertere sprachliche Gestaltung. 180 Dies dürfte nicht nur an fehlenden Schreibstrategien, sondern auch an ihrem eingeschränkten Repertoire an sprachlichen Mitteln liegen. Während des Textproduktionsprozesses greifen sie nur selten auf Formulierungen zurück, die sie bereits einmal geäußert haben. Ihre Revisionen sind fast ausschließlich oberflächenorientiert und bedeutungserhaltend und beschränken sich meist auf einzelne Wörter und Phrasen. 181 Ihre Aufmerk- 179 Eine Fortführung von Textelementen bedeutet, dass ein neues Textelement zu keinem der bereits vorliegenden Elemente alternativ gesetzt wird, sondern den Formulierungsprozess bloß weiterführt. 180 Die Beobachtung, dass Schreibende Details, wenn sie sprachliche Schwierigkeiten bei der Wiedergabe von Inhalten haben, einfach weglassen, wird auch schon von Wolff gemacht (2002, 309). 181 Nach Wolff (1992, 119, 121) deutet eine Beschränkung auf einzelne Wörter und Phrasen bei Zweitsprachenlernenden meist weniger auf Defizite im Sprachwissen als vielmehr darauf hin, dass Lernende nicht auf das in ihrer Erstsprache erworbene Reper- <?page no="123"?> 123 samkeit bei den Textrevisionen ist vor allem auf die grammatische und orthographische Korrektheit gerichtet („Riesenhunger” oder „riesigen Hunger? ”; „riesig mit ss oder ß? ” etc.): 182 (Bild 12): G: er schm schmeiß(.)te - <<unsicher>> was tun ma’n da; M: er schmeißte, G: er schmeißte, er schmeißte; M: er schmeißte den - ( ) G: NEIN M: er schmiss ( ) G: ja aber es gibt noch etwas; oder? er ließ den teller aus der hand, <<wieder unsicher>> ja, (.) er ließ, da ah ( ) er ließ ja (.) den teller, ((schreibt)) aus der hand, M: aus der hand, ( ) G: JA er ließ den teller doch aus der ha: ,nd; oder? wenn man sich erschreckt, und wenn man da eine spinnerin sieht, lasst ma’s immer fallen. ( ) M: er ließ den teller aus der hand; (.) punkt. (-) G: er ließ den teller aus der hand, (-) [ ] aus der hand, M: und rannte, G: und rannte weg. ((zu Secil gewandt)) du kannst dir auch mal was überlegen. überleg dir schon einmal, was man da noch erzählen könnt; ( ) M: und rannte weg, G: sei du still M: punkt. (.) G: du bist still; M: wollt auch mal was sagen (( ) lachen)) S: der teller zerbrach in hundert teile; G: in 1000 stücken sagt man oder? (diktiert) de: r TEller, (.) zerbrach ich hab net DAS teller gsagt - (diskutieren über die Schreibweise von Teller) der teller, (M. schreibt) zerbrach in tausend stücken. M: überschrift haben wir noch nicht; G: ja; die kleine maus, (-) so punkt. Fragen der sprachlichen Korrektheit und lexikalischen Gestaltung beschäftigen die drei Schreiberinnen mehr als Fragen der globalen Sinnkonstitution des Textes. Begründungszusammenhänge werden meist implizit konstruiert, während sie von Mira und Christina überwiegend explizit hergestellt werden (z.B. durch die Verwendung von logischen Konnektoren wie etwa im Satz: „hungrig kam manfred die tür hinein; um ein stück käse zu toire an Textverarbeitungsstrategien zurückgreifen können bzw. auch in ihrer Erstsprache über keine zielführenden Strategien im Umgang mit Texten verfügen. 182 In diesem Zusammenhang ist die Untersuchung von Faigley/ Witte (1981) interessant, in der das Überarbeitungsverhalten von 16-jährigen, unerfahrenen SchreiberInnen mit dem von SchreibexpertInnen verglichen wurde. Dabei hat es sich gezeigt, dass die ExpertInnen sich in ihren Überarbeitungen zu 65 % mit Änderungen befassten, die die Textbasis betreffen, demgegenüber waren die unerfahrenen Schreibenden zu 88 % mit Veränderungen der sprachlichen Oberfläche und mit der Einhaltung sprachlicher Normen beschäftigt. <?page no="124"?> 124 essen; ”). Kernaussagen zu den einzelnen Bildern werden von Marija, Secil und Gönül nur vereinzelt formuliert; 183 in der Folge jedoch meist weder sprachlich noch inhaltlich weiter ausgebaut. Marija, Secil und Gönül haben die Bildergeschichte während des gesamten Formulierungsprozesses vor sich liegen und schauen die Bilder ständig an. Dennoch kommen einige Bilder in ihrer Geschichte nicht vor. So haben sie etwa das fünfte Bild nicht berücksichtigt und die Bilder 10 und 11 nur knapp zusammengefasst: 184 (Bild 10) G: ( ) sie ah sie ah er NA: ,HM den teller; er nahm den teller, (Bild 11) G: und sah: , (-) M: und sah, (.) G: was sah er denn - ((lachen)) die maus auf dem teller liegen; M: und sah die maus - ( ) G: auf dem teller liegen; Aus dieser Vorgangsweise wird deutlich, dass Marija, Secil und Gönül ihre Bildergeschichte nicht schon von Schreibbeginn an als „Geschichte” im Kopf hatten, sondern erst nach und nach Bild für Bild konstruierten. Sie waren offenbar nicht in der Lage, eine ganzheitliche Vorstellung der Geschichte zu entwickeln und sie im Prozess der Textproduktion auszudifferenzieren. 185 7.2.5 Die Textproduktionsprozesse im Vergleich 7.2.5.1 Sprachliche Gestaltung der Texte Mira und Christina versuchen ihren Text möglichst spannend zu erzählen; sie möchten, dass es „gut klingt”. Um Spannung zu erzeugen und Emotionalität zu vermitteln, verwenden sie zahlreiche Adjektive und Adverbien („das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden”, „schaute sich aufgeregt um”, „erfreut stürzte sie sich auf das Stück Käse”; „mit ganz vollgefressenem und schwerem Bauch”, „schlief ruhig und glücklich ein”; „erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen”), 186 Markierungen der Plötzlichkeit („plötzlich sah sie schon das große duftende Stück Käse”, „Hungrig kam 183 Z.B. in Bild 7 und 8. 184 Zu diesen Bildern entstand bei Mira und Christina eine intensive Diskussion. 185 Lernende mit geringer Textkompetenz tendieren generell dazu, Bild für Bild zu beschreiben und können keine integrierte Vorstellung der Geschichte entwickeln (Oakhill/ Cain 1998, 184). 186 Während die beiden im Prozess des mündlichen Vorformulierens häufig eine Aneinanderreihung von mehreren Adjektiven vornehmen, entscheiden sie sich in der schriftlichen Textfassung meist wieder für eine Reduktion; so verwenden sie z.B. statt „vollgefressenem und schwerem Bauch” in der mündlichen Vorformulierung im schriftlichen Text „vollem Bauch” und statt „schlief ruhig und glücklich ein” schreiben sie „schlief ruhig ein”. <?page no="125"?> 125 plötzlich Manfred in die Küche”, „und da stand schon das große, duftende Stück Käse …”) 187 und sich steigernde Wiederholungen: (Bild 5): M: ( ) und DA: , stand schon das große, duftende stück käse; C: das is lustig; na aber mit UND sollte man den satz net beginnen; (.) frau haider hat g’sagt, keinen satz sollt ma mit UND beginnen; M: PLÖTZlich sah sie schon das GRO: ße DUFtende stück käse; C: nein (.) VOR ihren augen; M: vor ihren augen, sah sie schon das große duftende stück käse; Auch die formelhaften Wendungen, die Mira und Christina verwenden, dienen dazu, den Text sprachlich auszugestalten und zu strukturieren. So heißt es etwa am Beginn ihrer Geschichte: „Eines schönen Tages ging die Maus aus ihrem Mäuseloch hinaus” 188 und am Ende: „Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden.” Daraus kann geschlossen werden, dass sie im Prozess des Schreibens dieser Bildergeschichte auf schriftsprachliche Formen zurückgreifen, die sie in vorgängigen Erfahrungen mit Texten kennen gelernt haben (vgl. Quasthoff/ Ohlhus/ Stude 2003, 12). 189 Eine Emotionalisierung der Geschichte wird von den beiden auch damit erreicht, dass sie den handelnden Personen in ihrer Geschichte Namen geben: Die Maus wird „Willi” genannt und der Mann, der in die Küche kommt, wird als „Manfred” bezeichnet. 190 In der Gruppe von Gönül, Secil und Marija ist die Maus einfach „die Maus” und der Mann ist „der Mann”. 191 Damit zeigen sie, dass sie sich mit den handelnden Protagonisten identifizieren und beim Erzählen der Geschichte selbst emotional beteiligt sind. Auch mit dem differenzierten Einsatz von Verben zeigen Mira und Christina, dass sie über sprachliche Mittel der Textgestaltung verfügen, die es ihnen erlauben, die Ereignisse geschickt in Szene zu setzen. Sie verwen- 187 Markierungen der Plötzlichkeit werden zum Teil zunächst eingesetzt und dann wieder zurückgenommen, was sich jedoch jeweils auf die sprachliche Gestaltung und die Wiederaufnahmestruktur positiv auswirkt. 188 In der Gruppe von Gönül, Marija und Secil findet sich eine ähnliche, aber etwas weniger formelhafte Wendung: „An einem schönen Tag …”; am Textende findet sich keine derartige Wendung. 189 Fomelhafte Wendungen kommen bei Marija, Secil und Gönül nicht vor; die Formulierung „An einem schönen Tag …” am Anfang ihres Textes könnte jedoch als Versuch interpretiert werden, eine formelhafte Wendung zu rekapitulieren und einzubauen. Die Formel als solche ist jedoch nur rudimentär wiedergegeben und als Mittel der Textstrukturierung nicht voll in den Satz integriert. 190 Um sich in die Gedankenwelt eines Protagonisten einer Geschichte hineinversetzen und diese auch sprachlich vermitteln zu können, bedarf es nach Peltzer-Karpf et al. (2003, 192) eines kognitiven Entwicklungsstandes, der bei 9bis 10-Jährigen noch nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. 191 Die Tendenz, den Aktanten in Bildergeschichten Namen zu geben, zählt zu den Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen beim Schreiben von Bildergeschichten (vgl. Peltzer-Karpf 2007). <?page no="126"?> 126 den nicht nur ca. doppelt so viele, sondern auch komplexere Verben der Bewegung 192 als Marija, Secil und Gönül: 193 (BILD 4): C: sie sprang aufs - ( ) sie sprang [ ] aufs regal hinauf, und - [ ] M: na sie versuchte, [ ] sie versuchte auf den schrank hinaufzu, ( ) sie versuchte auf den schrank hinaufzu [ ] sie versuchte auf den schrank hinaufzu, (.) warte - (.) noch einmal; (.) sie versuchte auf den Schrank, (.) zuerst du oder zuerst ich? C: ich M: ok C: sie versuchte auf den schrank zu springen, (.) und - (-) M: und - (.) ich hab was besseres sie, ( ) sie versuchte, auf den schrank hinaufzukrabbeln, das war am anfang zwar ziemlich wackelig, aber am ende gelung geling ge ge gelung es ihr doch. C: noch mal ansagen! M: sie versuchte auf den auf den schrank zu kraxeln (.) auf den schrank zu klettern (-) bist du einverstanden? C: ja M: auf den schrank zu klettern? (.) auf den schrank zu klettern; (.) punkt; oder? da geht man runter mit der stimme; - (-) punkt. Mit den Bewegungsverben, die Mira und Christina verwenden, beziehen sie sich meist auf eine Veränderung des Standortes der Protagonisten, d.h. sie verwenden häufiger Bewegungsverben, die anzeigen, dass sich die Protagonisten bewegen (siehe Kategorie A) als Verben, 194 wo die Protagonisten die Bewegung (bzw. Ortsveränderung) eines Gegenstandes bewirken (siehe Kategorie B). 195 Mira, Christina Gönül, Secil, Marija Kategorie A: Protagonist bewegt sich Bild 1: hinausgehen Bild 2: sich umschauen Bild 3: nachgehen, folgen Bild 2: sich umdrehen/ sich umschauen Bild 3: sich umschauen 192 „Verben der Bewegung” dienen dazu, Bewegung und Dynamik im Raum sprachlich zu markieren (vgl. Peltzer-Karpf 2003, 2007). Die Verwendung von Bewegungsverben ist nach Peltzer-Karpf et al. (2003) ein Indikator für lexikalische Kenntnisse und für schriftsprachliche Kompetenzen. 193 Mira und Christina verwenden insgesamt 14 Bewegungsverben, Gönül, Marija und Secil hingegen nur 9 bzw. 7 (in zwei Fällen suchen sie erst nach dem passenden Ausdruck: umdrehen/ umschauen zu Bild 2 und schmeißen/ aus der Hand lassen zu Bild 12). 194 Mira und Christina verwenden doppelt so viele Bewegungsverben, die anzeigen, dass sich ein Protagonist bewegt, wie Gönül, Secil und Marija (12 : 6). 195 Bewegungsverben sind nach Peltzer-Karpf (2007) mit verschiedenen Körperteilen assoziiert; d.h. die Wahrnehmung von Bewegungsverben aktiviert das jeweilige motorische System. <?page no="127"?> 127 Bild 4: hinaufspringen, hinaufkrabbeln, kraxeln, klettern Bild 6: sich stürzen Bild 7: sich hinlegen Bild 8: hineinkommen Bild 11: springen Bild 4: raufklettern Bild 7: sich hinlegen Bild 8: kommen (gemeint: hereinkommen) Bild 12: wegrennen Kategorie B: Protagonist bewirkt Bewegung Bild 8: öffnen (→ Küchentür) Bild 10: öffnen (→ Schranktür) hochheben (→ Teller) aufheben (→ Teller) Bild 12: fallen lassen (→ Teller) Bild 10: nehmen (→ Teller) Bild 12: schmeißen/ aus der Hand lassen (→ Teller) Mira und Christina verwenden zahlreiche Verben, die die Richtung einer Bewegung anzeigen, z.B. hinausgehen, sich umschauen, nachgehen. 196 Diese Verben stehen in Verbindung mit Partikeln und sorgen für die Dynamik von Ausdrücken. In der Bildergeschichte von Marija, Secil und Gönül kommen demgegenüber nur etwa halb so viele Bewegungsverben dieser Kategorie vor (sich umdrehen/ sich umschauen, raufklettern, sich hinlegen, wegrennen). 197 Als sprachliches Gestaltungselement setzen Mira und Christina weiters auch den Perspektivenwechsel ein. So nehmen sie etwa in ihrer Bildergeschichte einmal die Perspektive der Maus, ein anderes Mal jene von „Manfred” ein, ein paar Mal betrachten sie das Geschehen auch von zwei verschiedenen Seiten: 196 Weiters: hinaufspringen, hinaufkrabbeln, sich hinlegen, hineinkommen, hochheben, aufheben. 197 In den von Peltzer-Karpf et al. (2003, 199 ff.) untersuchten Erzählungen sind nur in den Bildergeschichten der deutschsprachigen Kinder semantisch differenzierte Verben zu finden; im lexikalischen Repertoire der nichtdeutschsprachigen SchülerInnen fehlen sie fast völlig. Peltzer-Karpf et al. nehmen an, dass diese Unterschiede nicht zuletzt mit sprachtypologischen Differenzen zu tun haben: Türkischsprachige Lernende neigen dazu, die Dynamik in ihren Erzählungen abzuschwächen und Szenen statisch zu beschreiben. <?page no="128"?> 128 (Bild 12) M: (…) also erschreckt ließ manfred den teller, ((lacht)) erschreckt ließ manfred den teller auf den boden fallen; und der teller sprang in zwei; (C. schreibt) und der teller sprang (M. diktiert) auf den boden fallen, (C. schreibt) und der teller, beistrich, und der teller sprang in zwei; (C. schreibt) DAS war ein aufregendes erlebnis für die beiden, oder? oder für manfred und die maus, weil der manfred hat auch ein aufregendes erlebnis ghabt; C: mmh M: für die beiden; oder? C: sprang in zwei, punkt. gell, M: das war ein aufregendes erlebnis für die beiden. C: ja. Perspektivenwechsel kommen bei Secil, Marija und Gönül nicht vor, 198 Markierungen der Plötzlichkeit fehlen zur Gänze. Sie nehmen auch kaum Bezug auf die Gedanken und Gefühle der Protagonisten, 199 ihr Text ist durch eine geringere stilistische Variation, 200 durch einen eingeschränkteren und weniger differenzierten Wortschatz 201 sowie durch eine einfachere und variantenärmere Syntax gekennzeichnet. 7.2.5.2 Soziale und affektive Faktoren Soziale und affektive Faktoren prägen das emotionale Klima in einer Gruppe, bestimmen die Intensität der Interaktion und damit auch die Resultate gemeinsamen Schreibens. Eine ausgewogene soziale Konstellation und eine positive emotionale Atmosphäre in der Gruppe können die gemeinsame Arbeit an einem Text intensivieren. Im Folgenden geht es um die Frage, auf welche Weise soziale und affektive Faktoren den Prozess der Textproduktion beeinflussen bzw. inwieweit sie dazu beitragen können, die Textkompetenz der Lernenden zu bündeln oder aber zu hemmen. 202 Zwischen Mira und Christina besteht ein freundschaftliches Verhältnis und die Bereitschaft, sich zu äußern, ist bei beiden sehr hoch. Sie widmen 198 Im Text von Gönül, Marija und Secil gibt es nur einen Perspektivenwechsel: Bei der Beschreibung zu Bild 8 wird von der Perspektive der Maus zur Perspektive des Mannes gewechselt. Diese Perspektive wird bis zum Ende eingehalten. 199 Peltzer-Karpf et al. (2003, 193) haben in ihrer Untersuchung von Volksschulkindern in mehrsprachigen Klassen festgestellt, dass Muttersprachige der 4. Schulstufe doppelt so oft bzw. teilweise sogar viermal so oft auf die Gedanken der Hauptfigur in einer Bildergeschichte Bezug nahmen wie Zweitsprachenlernende. 200 Dies wird insbesondere im Einleitungs- und im Schlussteil der Geschichte deutlich. 201 Eine Überprüfung der „type-token-ratio” zeigt, dass sich die im Text der Zweitsprachenlernenden verwendeten Wörter zu den verschiedenen Wörtern als ein Verhältnis von 74 : 112 und im Text der muttersprachigen Schreiberinnen als ein Verhältnis von 140 : 208 darstellt. 202 Bennett/ Cass (1989) haben in ihrer Studie zur Erforschung der Effekte von Gruppenarbeiten auf die Prozesse der Interaktion und des Verstehens herausgefunden, dass SchülerInnen mit guten sprachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten mehr als doppelt so viele Erklärungen, Antworten und Bewertungen abgaben als jene, die schlechtere Lernvoraussetzungen hatten (vgl. Fisher 1994, 161). <?page no="129"?> 129 sich mit großem Engagement und Begeisterung dieser Aufgabe, bestärken einander und geben einander im Prozess des Schreibens immer wieder positives Feedback. (Bild 10) M: er öffnete die schranktür, C: und fand nur mehr kleine krümel; M: und fand nur mehr kleine krümel, wo früher das große stück käse stand, (.) wo früher das stück käse stand, am teller; C: nein; ich tät’s so schreiben er fand nur mehr das kleine, er fand nur mehr die krümel käse, die auf dem teller lagen; M: vom käse, vom großen vom stück käse; C: klingt das besser? M: nein; aber man muss erklären, weil sonst weiß man nicht; C: mein gott, das weiß man doch ganz sicher, M: ja, aber der manfred, (.) also der manfred, wenn der manfred jemandem das erzählt hätt, hätt der das nicht gwusst; C: du machst das so kompliZIERT; M: die MAUS hätt’s gwusst; aber der manfred wenn er’s jemanden erzählt hätt dass er nur mehr ein krümel am teller findet, und sich ein stück käse kauft, der hätt ja keine ahnung, von was der teller is; die maus hätt’s gwusst; weil die hat das ja aufgfressen; C: ich komm noch durcheinander; wenn du mir soviel erzählst - M: ok. er öffnete die schranktür, und sah nur noch kleine krümel vom stück käse am teller liegen; M. (flüstert) christina; die schranktür war ja offen; Mitunter entsteht eine leichte Dominanz von Mira, Christina hat jedoch in solchen Situationen nie Probleme, sich Aufmerksamkeit und Gehör zu verschaffen: (Bild 8) C: ich tät den dicken mann manfred nennen; M: MANfred is besser als otto, ich hab’n otto gnannt, C: ich hab ihn manfred gnannt bei der gschicht; (M. schreibt) schreibst du manfred? M: manfred; is besser; C: manfred is VIEL besser find ich - M: ok schlief ruhig ein; (.) hungrig kam plötzlich manfred in die küche, C: ja M: ich hab der hausbesitzer - ( ) C: hungrig kam manfred die tür hinein; um ein stück käse zu essen; M: in die die küche, HUNgrig; [ ] ich hab eine idee; HUNgrig öffnete manfred die küchentür, um sich ein stück käse zu holen. C: NEIN er kommt ja erst NACHher; M: ja da sind wir sind bei dem bild, C: ja, eh ahm - [ ] M: hungrig, C: nein ( ) mira, hör mir mal ! ZU! M: ich wollt dir grad sagen, dass ma das mit dem stück käse weglassn; (.) hungrig, <?page no="130"?> 130 C: ja M: hungrig öffnete manfred die küchentür - C: und wollte sich was zu essen holen; M: und wollte sich was zu essen holen; das passt dann auch her (schreibt lange) C: ( ) um sich was zu essen holen; M: und wollte sich etwas zu essen holen; C: und wollte sich etwas zu essen holen? M: etwas; ( ) um sich etwas zu essen, ( ) um sich etwas ((streicht etwas durch)) zu essen holen; (.) das is besser gell? (schreibt) um sich etwas zu essen holen. C: mmh - Das positive emotionale Klima zwischen Mira und Christina scheint daher eine gute Voraussetzung dafür zu sein, dass die beiden ihre Ideen und Gedanken im Prozess des Formulierens konstruktiv einbringen und ihre Textkompetenz in der gemeinsamen Arbeit am Text entfalten können. In der Gruppe der Zweitsprachenlernenden ist Gönül von Beginn an sehr dominant. So beginnt sie etwa die Gruppenarbeit damit, dass sie die Bildergeschichte alleine noch einmal erzählt, obwohl gemeinsames Schreiben gefordert ist; als sie damit fertig ist, erteilt sie den anderen das Wort: (Bild 2) G: so, und jetzt bis DU aber dran, schaun, ob du’s besser kannst; M: der maus drehte sich um, G: hm M: was is? G: SCHAUte sich um; M: sich um, dass niemand kommt; G: nein, wart; du musst es dir überlegen nicht gleich schreiben; schau; die maus schaute sich um, (.) und dachte sich, wo kann ich mir futter stabitzen; Gönül entwickelt viel Eifer und Engagement für die Sache, vor Begeisterung scheint sie kaum zu bemerken, wie sehr sie die beiden anderen dominiert. Sie lässt Secil und Marija kaum Zeit, um nachzudenken und Formulierungsvorschläge zu machen bzw. ihre Äußerungen zu bewerten. Secil und Marija wirken sehr schüchtern und sprechen leiser als Gönül, die eine laute und klare Stimme hat. Vor allem Marija bringt ihre Ideen sehr zurückhaltend und unsicher vor und versichert sich stets der Zustimmung von Gönül. Gönül ist schließlich auch diejenige, die bestimmt, wann die beiden etwas sagen dürfen und wann nicht und setzt sie selbst durch ihre Aufforderung, sich mit eigenen Vorschlägen einzubringen, unter Druck. Sie fällt Secil und Marija ständig ins Wort, weist sie immer wieder zurecht und ist mitunter sehr herablassend. Sie bestimmt schließlich weitgehend alleine, welche Formulierungen zu Papier gebracht werden und welche nicht. (Bild 9) S: er denkte G: er dachte sich [ ] ich hatten noch käse; S: er dachte sich ich hab noch eine KÄSE (-) G: ich hatten, (.) noch, (.) käse; ja - (.) klingt komisch; oder? ((M. lacht)) ich HATTEN noch käse. <?page no="131"?> 131 M: er denk dach G: ja er dachte sich, ich hatten noch käse im; M: im SCHRANK; (.) oder nicht? G: ja im schrank kann schon sein, ja sie hat schon recht, aber; Der Vergleich der beiden Textproduktionsprozesse lässt darauf schließen, dass Synergieeffekte beim gemeinsamen Schreiben vor allem dann entstehen, wenn die Gruppe sozial ausgewogen und kooperativ ist. Dies ist eine wesentliche Bedingung dafür, dass die vorhandene Textkompetenz der einzelnen Lernenden aktiviert, gebündelt und in der gemeinsamen Arbeit am Text genützt werden kann. Texte, die im Rahmen von kooperativen Schreibaufgaben verfasst wurden, sind daher nicht a priori ein Resultat „gebündelter” Textkompetenz. 203 Es ist vielmehr davon auszugehen, dass kooperative Schreibaufgaben nur dann zur Entfaltung der individuellen Textkompetenz der Lernenden führen, wenn alle in einer Gruppe bereit und motiviert sind, mit der Gruppe - und für die Gruppe - an einem Text zu arbeiten. 204 7.2.5.3 Die mündlich und die schriftlich erzählten Bildergeschichten im Vergleich Die Bildergeschichten, die die Lernenden mündlich vor dem gemeinsamen Schreiben erzählt haben, machen ihre individuellen Fähigkeiten im Umgang mit dieser Schreibaufgabe ein Stück weit sichtbar. Das Interesse galt insbesondere der Frage, ob die gemeinsam geschriebenen Texte eine deutliche Verbesserung in Bezug auf die einzeln verfassten Geschichten darstellten, d.h. ob man annehmen kann, dass die Lernenden im Prozess des kooperativen Schreibens mit- und voneinander gelernt haben. 205 1. Die Textproduktionen von Gönül, Secil und Marija a) Gönüls mündlich erzählte Geschichte In der ersten Gruppe beginnt Gönül damit, die Bildergeschichte zu erzählen. Sie erzählt die Geschichte lebendig und emotional und moduliert ihre Stimme, um Spannung und Interesse zu erzeugen. Sie erzählt flüssig und macht kaum Pausen; nur wenn es um Präteritumbildungen geht, stockt sie und ist spürbar verunsichert. 203 SchülerInnen beteiligen sich mitunter auch dann, wenn sie über eine hohe Textkompetenz verfügen, nicht oder nur am Rande am gemeinsamen Formulierungsprozess. Die Gründe dafür sind vor allem in sozialen, zum Teil aber auch in geschlechterspezifischen Dynamiken zu vermuten. 204 Nach Grabe/ Kaplan (1996) sind Gruppenaktivitäten vor allem dann ergebnisreich, wenn Lernende hoch motiviert sind (vgl. Grabe/ Kaplan 1996). 205 Die Vergleichbarkeit ist eingeschränkt, da es sich auf der einen Seite um mündlich produzierte Bildergeschichten handelt und zum anderen um schriftliche Texte. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um Aufgaben, die mit schriftsprachlichen Anforderungen verbunden sind. <?page no="132"?> 132 Gönüls mündlich erzählte Geschichte die gemeinsam verfasste Geschichte EINma: l, ging eine mau: : s aus ihrem mauseloch raus; (.) und sa: h, (.) ein käse. sie schaute und schaute wie sie heraufkommen konnte. sie hatte eine idee; (.) sie kletterte RAUF, und, (.) iß [ ] aß den ganzen käse. nur ein kleines stück war übrig. dann hatte sie einen vollen BAU: ch, (.) UND schlaf ein. DA kam der mann; und denkte sich ich hatte einen käse; hab ICH einen hunger; und sah, eine maus, (.) liegen. er LASSte; (.) den teller einfach FA: lln - und rann weg. ! HILFE! schrie er und der teller war in tausend stücke zerbrochen. (99 Wörter, 0: 52 Minuten) An einem schönen Tag hatte die kleine Maus einen riesigen Hunger. Die Maus schaute sich um ob sie was stabizen kann. Sie sah auf einem Tisch Käse. Und dachte sich wie komm ich da rauf. Die kleine Maus hatte schon eine Idee. Sie kletterte rauf. Und aß sich voll. Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. Da kam der dicke Mann und dachte sich ich hab einen rießen hunger. er dachte ich muss schaun ich hatten noch ein stück Käse. Er nahm den Teller und sah die Maus auf den Teller liegen. Er ließ den Teller aus der Hand. Und rannte weg. Der Teller zerbrach in taußend stücken. (112 Wörter, 591 Zeichen) Im Gegensatz zur gemeinsam verfassten Bildergeschichte enthält Gönüls mündlich erzählte Geschichte mehr Grammatikfehler (v.a. im Bereich der Präteritumbildung), weniger lexikalische Variationen (geringere Anzahl von Adjektiven) und die Verben sind zum Teil unpräzise und inadäquat verwendet; so wird etwa im zweiten Satz nicht erklärt, warum die Maus hinaufkommen 206 möchte. Teilweise fehlen Überleitungen, Erklärungen und Begründungen, der Sinnzusammenhang ist stellenweise brüchig, etwa im Bereich des Übergangs zum vorletzten Satz: „Da kam der Mann und denkte sich: Ich hatte einen Käse, hab ich einen Hunger und sah eine Maus liegen. Er lasste den Teller einfach fallen und rann weg.” b) Secils mündlich erzählte Geschichte Auch Secil erzählt die Geschichte flüssig, sie spricht jedoch leiser als Gönül und moduliert ihre Stimme kaum. Sie macht immer wieder kurze Pausen, der Redefluss bricht aber nie ab. Secils mündlich erzählte Geschichte die gemeinsam verfasste Geschichte ein maus, kommt von sein mauseloch heraus. er geht - (.) er schaut zu dass ein mann da i - [ ] kommt, (.) er geht zu schra: nk, (.) und; er geht zu An einem schönen Tag hatte die kleine Maus einen riesigen Hunger. Die Maus schaute sich um ob sie was stabizen kann. Sie sah auf 206 Fälschlicherweise verwendet sie „heraufkommen”. <?page no="133"?> 133 schrank, und schaut dass schrank auf ist, und, ging dahin. er dachte; diese käse schmeckt ganz GUT er isst das alles, nur ein bisschen blieb übrig; einmal ging dahin, und sag(te) geh (.) wird mich nie schmeckn sicher. er macht das schrank auf, aber käse war nur ein BISSchen. da sah ein da sah er ein maus, und verschreck (.) verschreckte sich, und laufte weg. (-) und der teller war kaputt. (105 Wörter, 1: 07 Minuten) einem Tisch Käse. Und dachte sich wie komm ich da rauf. Die kleine Maus hatte schon eine Idee. Sie kletterte rauf. Und aß sich voll. Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. Da kam der dicke Mann und dachte sich ich hab einen rießen hunger. er dachte ich muss schaun ich hatten noch ein stück Käse. Er nahm den Teller und sah die Maus auf den Teller liegen. Er ließ den Teller aus der Hand. Und rannte weg. Der Teller zerbrach in taußend stücken. (112 Wörter, 591 Zeichen) Vergleicht man den Text von Secil mit der gemeinsam produzierten Bildergeschichte, so zeigt es sich, dass sie zahlreiche Grammatikfehler macht (v.a im Bereich des Genus und der Präpositionen), unzulässige Tempuswechsel durchführt und Nebensätze zum Teil nicht adäquat einleitet (mit dass statt ob). An einigen Stellen ist auch die Syntax fehlerhaft und die Verwendung einzelner Wörter unpräzise (z.B. „ging dahin” statt ging weg, „schaut zu” statt schaut nach, „essen” statt aufessen, „verschreckte sich” statt erschrak). Auch der Sinnzusammenhang ist nicht immer gegeben: er geht - (.) er schaut zu dass ein mann da i - [ ] kommt, (.) er geht zu schra: nk, (.) und; er geht zu schrank, und schaut dass schrank auf ist, und, ging dahin. c) Marijas Geschichte Beim mündlichen Erzählen ist Marija kaum zu verstehen, sie redet sehr leise, wirkt unsicher, stockt immer wieder und spricht sehr monoton. Marijas mündlich erzählte Geschichte die gemeinsam verfasste Geschichte einmal ging ein mäuschen, aus ein(em) häuschen, (.) er schaute dass niemand herein kommt, er er sah, einen (-) ah (-) einen kühlschrank, (und auf) einem teller war ein stück käse, da ging er ( ) und sah (da oben war) in ein teller war ein stück käse, da fangt der maus den käse zu essen. (-) d der maus, sitz leg legte sich auf den teller und im teller war ein kleines stück käse. da kam ein mann in die küche. er er denkt, an die käse; An einem schönen Tag hatte die kleine Maus einen riesigen Hunger. Die Maus schaute sich um ob sie was stabizen kann. Sie sah auf einem Tisch Käse. Und dachte sich wie komm ich da rauf. Die kleine Maus hatte schon eine Idee. Sie kletterte rauf. Und aß sich voll. Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. Da kam der dicke Mann und dachte sich ich hab einen rießen hunger. er dach- <?page no="134"?> 134 wenn er, den kühlschrank aufmachte, sah er nur ein stückchen käse; und einen maus. (-) er gibt (-) er - (- -) er schmeißt, der maus, (-) ging weg. und der mann, gibt ein bissi käse runter. der mann, hatte vor ihm angst. er schmiss das teller; runter das teller wird wis ka (-) zerbrichen und der mann ging weg (149 Wörter, 2: 17 Min.) te ich muss schaun ich hatten noch ein stück Käse. Er nahm den Teller und sah die Maus auf den Teller liegen. Er ließ den Teller aus der Hand. Und rannte weg. Der Teller zerbrach in taußend stücken. (112 Wörter, 591 Zeichen) Marijas Bildergeschichte enthält im Vergleich zum gemeinsam verfassten Text eine deutlich höhere Anzahl an sprachlichen Fehlern. Dies betrifft vor allem die Präpositionen, die trennbaren Verben, die Genusmarkierungen, die Präteritumbildung und die Tempuswechsel. Die Sätze sind teilweise unvollständig und inadäquat eingeleitet, mitunter auch fehlerhaft in der Wortstellung. Der Sinnzusammenhang ist im Text nicht durchgängig gegeben, einzelne Textelemente sind gegen Ende hin nur noch lose aneinandergereiht, Überleitungen fehlen. Resümierend ist festzuhalten, dass die Unterschiede in der Art und Weise, wie die drei Schülerinnen an diese Aufgabe herangehen, nicht nur in ihren Formulierungen, sondern auch darin deutlich werden, ob sie die Geschichte spannend und emotional zu erzählen versuchen. Dies zeigt sich nicht nur in der sprachlichen Gestaltung, sondern auch in der Prosodie, etwa darin, wie sie ihre Stimme beim Erzählen modulieren und einzelne Wörter bzw. Sätze betonen. Im Vergleich der drei mündlich erzählten Bildergeschichten fällt Gönül als diejenige auf, die am sichersten, flüssigsten und gewandtesten formuliert, während Marija sehr unsicher ist, leise spricht und mitunter fast unverständlich artikuliert sowie zahlreiche Fehler und lange Pausen macht. Auch Secil gerät beim Reden immer wieder ins Stocken und macht Fehler, allerdings deutlich weniger als Marija. All die in den mündlich erzählten Bildergeschichten festgestellten sprachlichen Defizite sind im gemeinsam verfassten Text von Gönül, Secil und Marija nicht mehr bzw. kaum noch vorhanden: 207 dies betrifft etwa die Präteritumfehler, die Gönül beim mündlichen Erzählen noch gemacht hat, die inadäquaten Tempuswechsel oder die Genusfehler, die Marija und Secil in ihrer mündlichen Erzählung unterlaufen sind. 208 Auch die Schwächen im 207 Davon darf selbst dann ausgegangen werden, wenn man in Rechnung stellt, dass den Schülerinnen das spontane mündliche Formulieren der Geschichte möglicherweise schwerer als das Schreiben gefallen ist und sie die Bildergeschichte beim Schreiben bereits zum zweiten Mal erzählt haben. 208 Eckerth (2003) hat festgestellt, dass in 78 % jener Fälle, in denen einer der beiden Lernenden eine falsche Form verwendete und der andere eine korrekte, sich die beiden in Aushandlungsprozessen auf die richtige sprachliche Form einigen konnten. <?page no="135"?> 135 Bereich der Lexik und in der logischen Strukturierung sind im gemeinsam geschriebenen Text kaum mehr vorhanden. Dazu ein paar Beispiele: • Genusfehler: Als Secil beim gemeinsamen Schreiben ein falsches Pronomen für die Maus einsetzt („er”), 209 wird sie von Gönül korrigiert. Von diesem Moment an verwendet sie den Artikel für die Maus richtig. G: er klett sie klett ((lachen)) S: er G: er? DIE kleine maus habn ma ja gesagt; ( ) M: ja ( ) die kleine maus, G: sie kletterte, S: sie kletterte G: warte mal; sie kletterte rauf; (S. schreibt) S: rauf? G: rauf, kletterte RAUF, • Präteritumbildung: Gönül, die in ihrer mündlichen Erzählung das Präteritum mehrmals falsch verwendet, korrigiert Secil beim gemeinsamen Schreiben, als sie „denkte” verwendet - ein Fehler, den Gönül selbst kurz zuvor noch gemacht hat. Der Grund dafür könnte sein, dass sie aus ihren eigenen Fehlern bereits gelernt hat: 210 S: er denkte G: er dachte sich [ ] ich hatte noch käse; S: er dachte sich ich hab noch eine KÄSE (-) Als Gönül ein falsches Präteritum verwendet („schmeißte”), wird sie von Marija, die diese Form selbst kurz zuvor noch falsch verwendet hat, korrigiert; von da an bildet Gönül das Präteritum richtig. G: er schm schmeiß(.)te - <<unsicher>> was tun ma’n da; M: er schmeißte, G: er schmeißte, er schmeißte; M: er schmeißte den - ( ) G: NEIN M: er schmiss ( ) • Präpositionen: Als Marija beim gemeinsamen Schreiben dieselben Fehler beim Gebrauch der Präpositionen wie in ihrem Einzeltext macht, wird sie von Gönül korrigiert; von diesem Moment an macht Marija keine weiteren Fehler in diesem Bereich. G: ja im schrank kann schon sein, ja sie hat schon recht, aber; (.) ich hatte noch ein stück käse (-) ich hatte noch einen stück, ich hatte noch ein stück käse am (.) tisch. M: am schrank? ((lachen)) 209 Dieser Fehler ist ihr auch in der allein erzählten Geschichte unterlaufen. 210 Es könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass sie dieses grammatikalische Phänomen noch nicht ganz erworben hat, jedoch gerade dabei ist, es zu lernen. <?page no="136"?> 136 G: im schrank schon, aber ich (.) a ja, wieso haben wir das nicht vorher gschriebn, dass da OFFen war; (.) wart; les ma’s noch einmal; (lesen den Text im Chor nochmals bis „er dachte sich”) All jene Fehlerbereiche, die in den einzeln formulierten Bildergeschichten von Gönül, Marija und Secil vorkamen, wurden im Prozess des kooperativen Schreibens durch gezielte Korrektur- und Textoptimierungshandlungen bearbeitet - und überwunden. 211 Die drei Schülerinnen haben also in allen sprachlichen Bereichen, in denen sie beim Formulieren ihrer Einzeltexte noch unsicher waren und Fehler produziert haben, durch die gemeinsame Arbeit am Text mit- und voneinander gelernt. 1. Die Textproduktionen von Mira und Christina a) Die Geschichte von Mira Als Mira die Bildergeschichte erzählt, spricht sie mit lauter, klarer Stimme. Sie erzählt zügig, selbstsicher und lebendig und versucht die Ereignisse möglichst spannend zu schildern und in Szene zu setzen. Dazu setzt sie lexikalische und prosodische Mittel wirkungsvoll ein; sie moduliert ihre Stimme, betont einzelne sprachliche Elemente und hebt sie damit hervor. 212 Grammatikalisch und syntaktisch ist ihre mündlich erzählte Bildergeschichte weitgehend korrekt, bis auf den Schlussteil ist sie auch kohärent. Im Vergleich zu den anderen mündlich erzählten Bildergeschichte ist die Geschichte von Mira am längsten. Miras mündlich erzählte Geschichte die gemeinsam verfasste Geschichte an einem schönen tag, ging willi die maus, wieder aus ihrem mäuseloch. sie hatte einen RIE: snhunger; und schaute sich um, ob IRgendwo etwas zu fressen war. und DA sah sie schon was; auf einem OFFenen kasten, stand ein GRO: ßes stück käse. vorsichtig, aber doch geschickt; klettert sie auf den kasten hinauf. und da STAND schon das stück käse; sie STÜRzte sich darAUF, und fraß FAST alles auf. es lagen nur noch, ein paar kleine krümel dort herum. müde lag (.) Eines schönen Tages ging die Maus aus ihrem Mäuseloch hinaus. Sie hatte einen riesen-Hunger und schaute sich aufgeregt um ob sie etwas zu fressen finden konnte. Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. Sie versuchte auf den Schrank zu klettern. Am Anfang war es zwar ziemlich wackelig, aber am Ende gelangt es ihr doch. Vor ihren Augen sah sie schon das große, duftende Stück Käse. Erfreut stürtzte sie sich auf 211 Eine Ausnahme bilden unangemessene Tempuswechsel. 212 Quasthoff/ Ohlhus/ Stude (2003, 11) konnten feststellen, dass Kinder, die in mündlichen Erzählungen starken Gebrauch von gestischen und prosodischen Mitteln machen, beim Übergang ins Schriftliche meist weniger Probleme haben als Lernende, die sich beim Erzählen stärker auf verbale Formen stützen. <?page no="137"?> 137 legte sich willi die maus auf den teller. da kommt plötzlich otto der hausbesitzer; und er dachte; (.) wo ist denn mein stück KÄse hin; - UND da SAH er es auch schon; er sah das ANgeknabberte das ANgeknabberte stück käse; es waren nur noch ein PAAR kleine krümel da. als er den teller, vo ausm schrank nahm, sprang (.) FLOG willi, die maus, flog willi die maus vom teller herunter; und der teller zerbrach. otto, der hausbesitzer, rannte nur noch schreiend aus dem haus, und (- -) und legte sich ins bett. (174 Wörter, 1: 15 Minuten) das große Stück Käse. Sie fraß alles auf und ließ nur noch ein paar Krümel übrig. Mit vollem Bauch legte sie sich auf den Teller und schlief ruhig ein. Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. Da fiel ihm das große Stück Käse ein das er heute in der Früh im Supermarkt gekauft hatte. Er sah auf dem Teller wo früher das große Stück Käse war. Aber warum waren da nur mehr ein paar kleine Krümel am Teller? Vorsichtig hob Manfred den Teller auf um sich das ganze noch einmal genauer anzusehen. Als er den Teller schon in den Händen hielt sprang eine kleine Maus vom Teller. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. (208 Wörter, 1170 Zeichen) Der gemeinsam geschriebene Text unterscheidet sich von der mündlich erzählten Bildergeschichte vor allem durch die folgenden Aspekte: 1. thematische Zusammenhänge werden genauer hergeleitet und detaillierter dargestellt: einzeln erzählt gemeinsam erzählt da kommt plötzlich otto der hausbesitzer; und er dachte; (.) wo ist denn mein stück KÄse hin; - Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. Da fiel ihm das große Stück Käse ein das er heute in der Früh im Supermarkt gekauft hatte. 2. Sprache wird expliziter und präziser verwendet: einzeln erzählt gemeinsam erzählt DA sah sie schon was; Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. <?page no="138"?> 138 3. es werden komplexere Strukturen verwendet: einzeln erzählt gemeinsam erzählt ob IRgendwo etwas zu fressen war. ob sie etwas zu fressen finden konnte 4. es werden mehr Adverbien eingesetzt: einzeln erzählt gemeinsam erzählt sie (…) schaute sich um Sie (…) schaute sich aufgeregt um 5. es werden mehr Adjektive verwendet: einzeln erzählt gemeinsam erzählt da STAND schon das stück käse; Vor ihren Augen sah sie schon das große, duftende Stück Käse. 6. Informationen sind sachlogischer miteinander verknüpft: einzeln erzählt gemeinsam erzählt otto, der hausbesitzer, rannte nur noch schreiend aus dem haus, und (- -) und legte sich ins bett. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. b) Christinas Geschichte Auch Christina erzählt die Bildergeschichte lebendig und mit klarer, deutlich vernehmbarer Stimme, sie unterbricht den Redefluss zwar immer wieder, um nachzudenken, macht jedoch keine längeren Pausen. Auch sie versucht Spannung durch die Modulation ihrer Stimme zu erzeugen. Christinas mündlich erzählte Geschichte die gemeinsam verfasste Geschichte eines schönes tages ging die maus, aus ihrem mäuseloch. ( ) sie schaute sich nach was zu fressen um sie (.) sie roch einen geru: ch nach käse; (-) und kraxelte, auf das regal hinauf. sie sah ihn und fing an zu knabbern. ( ) und fing an zu knabbern, (-) ihr schmeckt es SEHR gut, sie konnte einfach nicht aufhören zu fressen. als nur mehr ein WINziges stück käse da war, machte s - (-) legte sie sich hin und schlief ein. manfred hatte hunger, und kam zu(r) in die küche hinein. er dachte; MMh (-) JETZT eß ich Eines schönen Tages ging die Maus aus ihrem Mäuseloch hinaus. Sie hatte einen riesen-Hunger und schaute sich aufgeregt um ob sie etwas zu fressen finden konnte. Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. Sie versuchte auf den Schrank zu klettern. Am Anfang war es zwar ziemlich wackelig, aber am Ende gelangt es ihr doch. Vor ihren Augen sah sie schon das große, duftende Stück Käse. Erfreut stürtzte sie sich auf das große Stück Käse. Sie fraß alles auf <?page no="139"?> 139 lieber käse. er machte das regal auf, und sah NUR mehr ein KLEInes stück, er holte es heraus und schaute sich das genauer an; und sah eine maus - (.) darauf. er hatte angst, und lief zur tür hinaus; (138 Wörter, 1: 40 Minuten) und ließ nur noch ein paar Krümel übrig. Mit vollem Bauch legte sie sich auf den Teller und schlief ruhig ein. Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. Da fiel ihm das große Stück Käse ein das er heute in der Früh im Supermarkt gekauft hatte. Er sah auf dem Teller wo früher das große Stück Käse war. Aber warum waren da nur mehr ein paar kleine Krümel am Teller? Vorsichtig hob Manfred den Teller auf um sich das ganze noch einmal genauer anzusehen. Als er den Teller schon in den Händen hielt sprang eine kleine Maus vom Teller. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. (208 Wörter, 1170 Zeichen) Christinas mündlich erzählte Bildergeschichte unterscheidet sich von dem gemeinsam mit Mira verfassten Text vor allem durch die folgenden Aspekte: 1. die Handlungen werden meist genauer hergeleitet: 213 einzeln erzählt gemeinsam erzählt er machte das regal auf, und sah NUR mehr ein KLEInes stück, er holte es heraus und schaute sich das genauer an; und sah eine maus - (.) darauf. er hatte angst, und lief zur tür hinaus; Vorsichtig hob Manfred den Teller auf um sich das ganze noch einmal genauer anzusehen. Als er den Teller schon in den Händen hielt sprang eine kleine Maus vom Teller. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. 213 Ausnahmen gibt es etwa an der Stelle: „Er dachte: Mmh … jetzt eß ich lieber Käse”; „lieber” ist in diesem Kontext inadäquat, da kein Vergleich gezogen wird. <?page no="140"?> 140 2. es werden mehr umgangssprachliche Ausdrücke verwendet: einzeln erzählt gemeinsam erzählt sie schaute sich nach was zu fressen um sie (.) sie roch einen geru: ch nach käse; (-) und kraxelte, auf das regal hinauf. Sie hatte einen riesen-Hunger und schaute sich aufgeregt um ob sie etwas zu fressen finden konnte. Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. Sie versuchte auf den Schrank zu klettern. 3. es werden einfachere Formulierungen und Satzstrukturen verwendet: einzeln erzählt gemeinsam erzählt manfred hatte hunger, und kam zu(r) in die küche hinein. Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. Auch in diesem Fall sind die Defizite der Einzeltexte im gemeinsam formulierten schriftlichen Text nicht mehr vorhanden. Sie wurden von Mira und Christina im Textproduktionsprozess in zahlreichen Aushandlungs- und Textoptimierungshandlungen behoben. So haben sie etwa beim gemeinsamen Schreiben daran gearbeitet, • Handlungen präziser und nachvollziehbarer herzuleiten; 214 • einfache durch komplexere Strukturen zu ersetzen; 215 • den Text lexikalisch differenzierter zu gestalten; • den Text stilistisch stärker zu variieren; 216 • mehr und verschiedene Erzählelemente einzusetzen; • umgangssprachliche, mündlich geprägte Ausdrücke durch schriftsprachliche Formulierungen zu ersetzen; 217 • Ereignisse präziser darzustellen und sprachlich expliziter auszudrücken; • den Text logisch-kohärenter zu konstituieren. 218 Auch Mira und Christina ist es somit gelungen, die in den mündlich erzählten Geschichten noch vorhandenen Defizite und Schwächen in den Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit an ihrer Bildergeschichte zu rücken und im Textproduktionsprozess solange zu bearbeiten, bis sie behoben waren: 219 Sie 214 Siehe zum Beispiel die Gespräche zum Bild 3, 5, 6, 7, 10 und 12. 215 Siehe zum Beispiel Bild 2 und 8. 216 Siehe zum Beispiel Bild 4, 5, 7, 10, 12. 217 Siehe zum Beispiel Bild 4. 218 Dies zeigt sich etwa darin, dass sie eine inhaltliche „Klammer” konstruieren: Sie verwenden eine Anfangsfloskel („Eines schönen Tages …”) und eine Endformel („Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden.”), die den Text „umrahmt”. 219 In einer Reihe weiterer Analysen hat es sich gezeigt, dass kooperatives Schreiben keineswegs immer zu einer Verbesserung der vorab individuell verfassten Texte führt. Dies entspricht auch dem Ergebnis einer Studie von Eckerth (2003), der zufolge nur <?page no="141"?> 141 haben sich in ihren Revisionshandlungen gezielt auf jene Bereiche konzentriert, in denen sie beim mündlichen Erzählen der Geschichte noch unsicher waren bzw. Fehler gemacht haben. Auch in diesem Fall haben die Schülerinnen somit im Prozess des gemeinsamen Schreibens mit- und voneinander gelernt. 220 Sowohl in den Textproduktionsprozessen als auch in den Texten, die in diesen beiden Gruppen entstanden sind, manifestieren sich die unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen der Lernenden hinsichtlich ihrer Textkompetenz. Dazu eine Gegenüberstellung der beiden gemeinsam verfassten Texte, die als Resultat jeweils das Ende der Textproduktionsprozesse markieren: die Geschichte von Gönül, Marija und Secil die Geschichte von Mira und Christina An einem schönen Tag hatte die kleine Maus einen riesigen Hunger. Die Maus schaute sich um ob sie was stabizen kann. Sie sah auf einem Tisch Käse. Und dachte sich wie komm ich da rauf. Die kleine Maus hatte schon eine Idee. Sie kletterte rauf. Und aß sich voll. Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. Da kam der dicke Mann und dachte sich ich hab einen rießen hunger. er dachte ich muss schaun ich hatten noch ein stück Käse. Er nahm den Teller und sah die Maus auf den Teller liegen. Er ließ den Teller aus der Hand. Und rannte weg. Der Teller zerbrach in taußend stücken. (112 Wörter, 591 Zeichen) Eines schönen Tages ging die Maus aus ihrem Mäuseloch hinaus. Sie hatte einen riesen-Hunger und schaute sich aufgeregt um ob sie etwas zu fressen finden konnte. Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. Sie versuchte auf den Schrank zu klettern. Am Anfang war es zwar ziemlich wackelig, aber am Ende gelangt es ihr doch. Vor ihren Augen sah sie schon das große, duftende Stück Käse. Erfreut stürtzte sie sich auf das große Stück Käse. Sie fraß alles auf und ließ nur noch ein paar Krümel übrig. Mit vollem Bauch legte sie sich auf den Teller und schlief ruhig ein. Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. Da fiel ihm das große Stück Käse ein das er heute in der Früh im Supermarkt gekauft hatte. Er sah auf dem Teller wo früher das große Stück Käse war. Aber warum waren da nur 38 % der Lernenden ihre individuell konstruierten, inadäquaten Hypothesen durch Interaktionen beim gemeinsamen Schreiben in zielsprachenkonforme Hypothesen abgeändert haben (vgl. Eckert 2003). 220 Soziale Interaktion wirkt sich im Textproduktionsprozess nicht nur positiv auf die Gestaltung von gemeinsam verfassten Texten aus, sondern führt auch zu positiven Veränderungen des Schreibverhaltens in individuellen Schreibaktivitäten. Dies ist das Ergebnis einer Studie von Daiute et al. (1993, 60), die unter 9bis 10-jährigen SchülerInnen durchgeführt wurde. <?page no="142"?> 142 mehr ein paar kleine Krümel am Teller? Vorsichtig hob Manfred den Teller auf um sich das ganze noch einmal genauer anzusehen. Als er den Teller schon in den Händen hielt sprang eine kleine Maus vom Teller. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. (208 Wörter, 1170 Zeichen) Aus dem Vergleich der Textproduktionsprozesse und der Schreibprodukte 221 wird deutlich, dass ein dynamischer Textproduktionsprozess, der durch zahlreiche Formulierungs-, Evaluierungs- und Überarbeitungsaktivitäten sowie durch vielfältige metasprachliche und metakognitive Handlungen gekennzeichnet ist, eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, dass kohärente und sprachlich variationsreiche Texte entstehen. 221 Zuordnung der Texte zu den einzelnen Bildern siehe Anhang. <?page no="143"?> 143 8 Stadien der literalen Entwicklung Im Laufe der literalen Entwicklung werden die schriftsprachlichen Fähigkeiten der Lernenden sukzessive entfaltet, ausdifferenziert und integriert. Die Reihenfolge der Entwicklungsabläufe ist trotz Diskontinuitäten und einem Nebeneinander verschiedener Entwicklungsstadien keineswegs beliebig (vgl. Feilke 2003, 181). 222 Es zeichnen sich Stadien der literalen Entwicklung im Schulalter ab, die einander auf vielfältige Weise durchdringen und überlappen. 223 Die folgende Darstellung ist skizzenhaft und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie führt lediglich die Resultate der Fallanalysen 224 mit Ergebnissen einschlägiger Studien zu Entwicklungsaspekten beim Schreiben zusammen. Ein empirisch abgesichertes Wissen in Bezug auf die literale Entwicklung im Schulalter ist ein Desiderat weiterführender Forschung. 8.1 Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit Im Laufe der literalen Entwicklung wird die mündlich geprägte Sprachpraxis sukzessive durch schriftsprachlich geprägte Sprachhandlungsformen ersetzt. Auch in der Schule kommt es zu einer Verschiebung der im Unterricht vorherrschenden Sprachgebrauchsformen von alltagsbezogenen, konzeptuell mündlichen Interaktionsformen hin zu fachsprachlich geprägten, konzeptuell schriftlichen Kommunikationsweisen. Damit geht eine Hinwendung zu fachbezogenen Denkweisen einher, die die Orientierung an konkreten, im Alltag verankerten Erlebnissen und Erfahrungen zunehmend ablöst. 225 Lernende mit einer schwach ausgebildeten Textkompetenz haben vielfältige Probleme, die mit dieser Entwicklung verbundenen kognitiven und sprachlichen Anforderungen zu bewältigen. Dies zeigt sich im Unterricht 222 Die literale Entwicklung im Schulalter hängt nicht nur von entwicklungsspezifischen Faktoren ab, sondern auch von den schriftsprachlichen Anforderungen und der Förderung von Textkompetenz im Unterricht (vgl. Feilke 2003, 182). Sie ist weiters domänenabhängig, d.h. dass SchülerInnen, die z.B. bereits fortgeschrittene instruktive Texte produzieren, sich etwa beim schriftlichen Argumentieren noch auf einer weniger weit entwickelten Stufe befinden. 223 In dieser Darstellung werden lediglich allgemeine Entwicklungstendenzen beschrieben, von einer Spezifizierung nach Textsorten, Domänen oder spezifischen Lernendengruppen wird abgesehen. Eine genauere Beschreibung der literalen Entwicklung im Schulalter bedarf einer lerner-, textsorten- und domänenspezifischen Ausdifferenzierung, wie sie in einigen jüngeren Studien zur Schreibforschung bereits angelegt ist (Feilke/ Portmann 1996; Becker-Mrotzek 1997; Schmidlin/ Feilke 2005; Feilke 2006b). 224 Siehe Kapitel 6 und 7. 225 Siehe Kap. 1. <?page no="144"?> 144 nicht nur beim Lesen und Schreiben, sondern auch beim mündlichen Wiedergeben von Texten. Gerade in diesem Übergangsbereich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird es meist deutlich, inwieweit Lernende in der Lage sind, flexibel mit konzeptionell mündlicher bzw. schriftlich geprägter Sprache im jeweiligen Kontext umzugehen und Wissen anhand von Texten zu gewinnen bzw. selbst sprachlich darzustellen. Lernende, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, haben meist große Probleme, Texte als ein Instrument des Lernens im Sprach- und im Sachunterricht zu nutzen. 8.2 Von der subjektiven zur integrativen Perspektive Im Bezug auf das Schreiben ist die Entwicklung von der subjektiven zur allgemeinen Perspektive dadurch gekennzeichnet, dass Inhalte zunächst ausschließlich aufgrund persönlicher Zugänge zum Schreibgegenstand generiert werden. Dies führt zu Texten, in denen Gedanken und Informationen weitgehend unverbunden aneinander gereiht werden; das Verknüpfungsprinzip ist assoziativ, als Produktionsstrategie ist die „knowledge telling”- Strategie im Sinne von Bereiter/ Scardamalia (1987) vorherrschend. Erst im Laufe der weiteren literalen Entwicklung gewinnen soziale Bezüge und sachlogische Ordnungen an Bedeutung, bis schließlich der Text und dessen formale Gestaltung in den Vordergrund rückt. Diese Entwicklung folgt nach Feilke (1988) dem Grundmuster der Dezentralisierung der Perspektiven und manifestiert sich in Textordnungsmustern in einem Übergang von der Ich- Perspektive über die Sachperspektive und die Sozial-Perspektive zur Text- Perspektive. 226 Im Laufe der literalen Entwicklung richten Lernende demnach ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf Sachverhalte und schließlich auf den Text als autonomes sprachliches Gebilde. Damit geht eine Ausdifferenzierung und Integration von schriftsprachlichen Elementen einher, Textmuster werden geordnet und Situationsbezüge werden zunehmend sprachlich konstituiert. Es werden Mittel der Textbildung erworben, die es ermöglichen, Informationen zu verdichten und komplexe Aussagen zu konstruieren (vgl. Feilke 2006b, 42). Zur Generierung von Inhalten werden nicht mehr primär subjektive Zugänge zu einem Thema gewählt; es werden vielmehr bestimmte Sachverhaltsbeziehungen aus einem Gegenstandsbereich ausgewählt und dargestellt. 227 Streng sachlogische Konstruktionen werden im 226 Im Bezug auf die Entwicklung der argumentativen Schreibkompetenz hat Feilke (1988) eine Entwicklungslinie im Erwerb von Textordnungsmustern gezeichnet, die von linear-entwickelten Textordnungsmustern ausgeht (Ich-Perspektive), über materialsystematische Textordnungsmuster (Sach-Perspektive) und linear-dialogische Textordnungsmuster (Sozial-Perspektive) bis hin zu formal-systematischen Textordnungsmustern (Text- Perspektive) führt (vgl. Feilke 1988, 73 f.). 227 Typisch für dieses Entwicklungsstadium ist der häufige und rekurrente Einsatz von Konnektoren, die ausgewählte Sachverhaltsbeziehungen sprachlich explizieren (z.B. „und dann”; vgl. Pohl 2006, 11). <?page no="145"?> 145 Laufe der weiteren Entwicklung wiederum aufgebrochen; es entstehen unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand; der Text wird zum mehrperspektivischen, mehrdimensionalen Gebilde (vgl. Pohl 2006, 11). Eine Synthese und Integration der auf einzelne Textteile bezogenen Perspektiven und die Wahrnehmung und Gestaltung des Textes in seiner Funktionalität gelingen den Lernenden erst im Zuge der fortgeschrittenen literalen Entwicklung. Die subjektive Perspektive wird somit im Laufe der literalen Entwicklung zunehmend durch eine auf die Sache und den Text gerichtete Sichtweise ersetzt, in der verschiedene Perspektiven wahrgenommen und integriert werden. Informationen, die an konkrete, persönliche Erfahrungen gebunden sind, spielen dabei eine immer geringere Rolle; demgegenüber gewinnen Informationen an Bedeutung, die an abstrakte, nicht unmittelbar zugängliche Sachverhalte geknüpft sind, die mit dem unmittelbaren Lebensumfeld der Lernenden wenig zu tun haben. 228 8.3 Von der Linearität zur Komplexität Die literale Entwicklung lässt sich weiters begreifen als ein sukzessiver Aufbau von textueller Komplexität. Während Lernende in einem frühen Stadium des Schreibens dazu tendieren, Wort für Wort und Satz für Satz linear aneinander zu reihen, werden Texte in späteren Entwicklungsphasen zunehmend als Textganzes gestaltet, die Textstrukturierung wird integrierter und die Textkohäsion wird erhöht. Der Wortschatz und die Syntax werden erweitert und durch komplexere Formen angereichert sowie zunehmend ausdifferenziert und integriert. Die Entwicklung von der Linearität zur Komplexität zeigt sich nicht nur in den Schreibprodukten, sondern auch im Prozess der Herstellung von Texten. In Textproduktionsprozessen manifestieren sich Fortschritte in der literalen Entwicklung vor allem in einer zunehmenden Dynamik und Intensität der metakognitiven und der metasprachlichen Aktivitäten; parallel dazu erfolgt eine Hinwendung von lokalen zu globalen Aspekten der Problemstrukturierung (vgl. Feilke 2006b, 40). 8.4 Vom performativen zum epistemischen Stadium Fortschritte in der literalen Entwicklung zeigen sich weiters darin, dass Lernende vom performativen über das funktionale und informationelle Stadium zum epistemischen Stadium gelangen (vgl. Wells 1991). Während sie Informationen aus Texten im performativen Stadium bloß reproduzieren, führen sie im funktionalen Stadium bereits einfache literale Handlungen durch (Zei- 228 Siehe Kapitel 4.3.4. <?page no="146"?> 146 tung lesen, Ausfüllen von Formularen etc.). Im informationellen Stadium lesen sie, um sich zu informieren und sie schreiben, um Informationen festzuhalten. Im epistemischen Stadium steht der Wissenserwerb mittels Texten im Zentrum; erst dann sind Lernende in der Lage, eine schriftsprachlich geprägte Sprache als ein Instrument des Lernens zu nutzen und mit Sprache reflektierend und kreativ umzugehen (Wells 1991, 52 f.). Bereiter (1980) sieht vor allem im epistemischen Schreiben eine Option, um das vorhandene Wissen der Lernenden in der Auseinandersetzung mit Texten zu erweitern. Das epistemische Schreiben setzt die Fähigkeit voraus, relevante Informationen in Texten zu erkennen und zu verarbeiten und komplexe Problemlösesituationen im Prozess der Textverarbeitung eigenständig zu lösen. <?page no="147"?> 147 9 Indikatoren für Textkompetenz Im Folgenden werden Indikatoren für Textkompetenz genannt, die Lehrende dabei unterstützen sollen, die Textkompetenz ihrer Lernenden zu beurteilen. 229 Sie markieren jeweils „hohe” bzw. „niedrige” Textkompetenz und sind an zwei Polen einer Skala angesiedelt, auf der vielfältige individuelle Variablen möglich sind. Die Indikatoren beziehen sich jeweils auf Lese- und Schreibprozesse (9.1), auf Texte (9.2, 9.3), auf Schreibprozesse und Texte (9.4, 9.5) bzw. nur auf Textproduktionsprozesse (9.6). 9.1 Perspektivenwechsel und Strategienvielfalt Damit gemeint ist die Fähigkeit, Texte beim Lesen oder beim Schreiben aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und anhand verschiedener Lese- und Schreibstrategien zu erschließen, zu bearbeiten und zu gestalten. Lesen hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • Aufmerksamkeit auf der lokalen und der globalen Ebene des Textes • Aufmerksamkeit ausschließlich auf der lokalen Ebene des Textes • mehrfaches Lesen, Lesestrategien werden variiert • einmaliges Lesen, keine Variation der Lesestrategien • selektives, globales als auch detailliertes Lesen • wortbezogenes, detailliertes Lesen • verschiedene Techniken der Hervorhebung (Unterstreichungen, Exzerpieren etc.) • keine Hervorhebungen durch Unterstreichungen, Exzerpieren etc. • Vor- und Rückgriffe im Text • keine Vor- und Rückgriffe im Text Schreiben hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • gezielte, flexible Nutzung von Hervorhebungen bei der Wiedergabe von Texten • keine gezielte Nutzung von Hervorhebungen bei der Wiedergabe von Texten • Aufmerksamkeit auf der lo- • Aufmerksamkeit nur auf der 229 Diese Indikatoren für Textkompetenz wurden bereits in Schmölzer-Eibinger (2006a, b; 2007) überblicksartig skizziert. Sie werden in weiterer Folge auch für die Konzeption eines didaktischen Instrumentariums zur Förderung der Textkompetenz genutzt (siehe Teil II). <?page no="148"?> 148 kalen und der globalen Ebene des Textes lokalen Ebene des Textes • distanzierte Haltung zum Text (Perspektivenwechsel, LeserInnenorientierung, Metakommunikation) • keine Distanz zum Text (kein Perspektivenwechsel, keine LeserInnenorientierung, keine Metakommunikation) • mehrfache Überprüfung von Formulierungen im Bezug auf sprachliche und außersprachliche Kontexte, den Gesamtzusammenhang eines Textes etc. • keine Überprüfung von Formulierungen im Bezug auf außersprachliche Kontexte und den Gesamtzusammenhang eines Textes 9.2 Bedeutungskonstruktion im Kontext Textkompetenz zeigt sich auch darin, dass die Wortbedeutungen und Sinnstrukturen eines Textes beim Lesen im jeweiligen Zusammenhang richtig verstanden und beim Schreiben adäquat aufgebaut werden. Lesen hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • die Bedeutung eines einzelnen Wortes wird verstanden • die Bedeutung eines einzelnen Wortes wird nicht verstanden • die Bedeutungen einzelner Wörter können verknüpft werden • die Bedeutungen einzelner Wörter werden nicht verknüpft • das Thema eines Textes wird erkannt • das Thema eines Textes wird nicht erkannt • es werden Hypothesen zum Inhalt des Textes gebildet und erprobt • es werden keine Hypothesen zum Inhalt des Textes gebildet und erprobt • eigenes Vorwissen zum Thema wird für den Aufbau des Textverständnisses genutzt • eigene Vorkenntnisse zum Thema werden für das Textverstehen nicht genutzt • Wissen aus Erfahrungen mit anderen Texten ist verfügbar und wird genutzt • es ist kein Wissen aus Erfahrungen mit anderen Texten verfügbar • der Gesamtsinn eines Textes wird verstanden • der Gesamtsinn eines Textes wird nicht verstanden Schreiben hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • Begriffe werden im jeweiligen Kontext angemessen verwendet • Begriffe werden nicht kontextadäquat verwendet • Begriffe werden präzise und • Begriffe werden ungenau und <?page no="149"?> 149 explizit verwendet uneindeutig verwendet • Äußerungen sind vollständig und nachvollziehbar • Äußerungen sind unvollständig und unverständlich • Wissen über außersprachliche Kontexte wird explizit hergestellt • Wissen über außersprachliche Kontexte wird bei den Lesenden vorausgesetzt 9.3 Fokussierung von Kernaussaugen Die Fähigkeit, zentrale Inhalte in einem Text zu erkennen und zu fokussieren, ist sowohl in der Rezeption als auch in der Produktion von Texten zentral. Lesen hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • relevante Informationen werden rasch erkannt und gut verstanden • relevante Informationen werden nicht erkannt bzw. nicht genau verstanden • relevante Informationen werden anhand unterschiedlicher Strategien hervorgehoben • relevante Informationen werden nicht bzw. nur anhand weniger Strategien hervorgehoben • relevante Informationen werden sachadäquat miteinander verknüpft • keine sachadäquate Verknüpfung relevanter Informationen • Konzentration auf inhaltstragende Wörter/ Textpassagen • Wort-für-Wort-Verstehen Schreiben hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • zentrale Inhalte/ Ereignisse stehen im Zentrum • keine Fokussierung zentraler Inhalte/ Ereignisse • Fokussierung auf das Textthema • keine Fokussierung auf das Textthema • Kernaussagen als Basis der Textproduktion • keine Kernaussagen als Basis der Textproduktion • zentrale Inhalte werden im Bezug auf den Gesamtzusammenhang des Textes mehrfach überprüft und verdeutlicht • keine Überprüfung und Verdeutlichung von zentralen Inhalten im Bezug auf den Gesamtsinn des Textes Die folgenden Indikatoren beziehen sich auf den Schreibprozess und auf Texte. <?page no="150"?> 150 9.4 Themenentfaltung und Textkohärenz Textkompetenz wird auch darin manifest, inwieweit Sinnstrukturen in einem Text erkannt bzw aufgebaut werden und auf welche Weise ein Thema in einem Text dargelegt wird. hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • der Text ist durch eine nachvollziehbare Wiederaufnahmestruktur gekennzeichnet • der Text ist durch keine nachvollziehbare Wiederaufnahmestruktur gekennzeichnet • sprachliche Elemente sind schlüssig aufeinander bezogen • sprachliche Elemente sind nicht schlüssig aufeinander bezogen • der Text enthält ausreichend viele, angemessen eingesetzte Kohäsionsmittel • der Text enthält zu wenige bzw. unangemessen eingesetzte Kohäsionsmittel • der Text enthält neben einfachen auch anspruchsvolle Kohäsionsmittel • der Text enthält nur einfache, wenig anspruchsvolle Kohäsionsmittel • thematische Zusammenhänge werden explizit und nachvollziehbar dargestellt • thematische Zusammenhänge werden unpräzise und schwer verständlich dargelegt • Informationen werden logischadäquat miteinander verknüpft • keine logisch nachvollziehbare Verknüpfung von Informationen • abstrakte Zusammenhänge werden verständlich und im Detail erklärt • abstrakte Zusammenhänge werden ausgespart bzw. nicht verständlich erklärt • die Textqualität ist konstant • die Textqualität ist schwankend • der Text ist klar strukturiert (z.B. durch Absätze) • der Text ist nicht klar strukturiert (z.B. keine/ unangemessene Absätze) 9.5 Veränderungen am Text Die Quantität, aber auch die Qualität der Textrevisionen lässt Rückschlüsse auf die vorhandene Textkompetenz der Lernenden zu. Dies betrifft nicht nur Revisionen von schriftlichen Formulierungen, sondern auch die Überarbeitungen von mündlichen Äußerungen im Prozess der Textproduktion. a) Intensität der Veränderung hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • Äußerungen werden mehrfach korrigiert und verbessert • Äußerungen werden nicht korrigiert und verbessert <?page no="151"?> 151 • Überarbeitungen erfolgen anhand unterschiedlicher, effizienter Strategien • Überarbeitungen erfolgen anhand weniger, nicht effizienter Strategien • Textrevisionen dauern längere Zeit an • einmal begonnene Textrevisionen brechen bald wieder ab • bereits veränderte Äußerungen werden mehrfach überprüft und verändert • bereits veränderte Äußerungen werden nicht nochmals überprüft und verändert b) Art der Veränderung hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • die Veränderungen sind sowohl bedeutungserhaltend als auch bedeutungsverändernd • Veränderungen sind ausschließlich bedeutungserhaltend • Wörter/ Textpassagen werden paraphrasiert und präzisiert • Veränderungen nur auf der Wortebene und in Form lexikalischer Vereinfachungen • Tilgungen und Fokussierungen werden regelmäßig durchgeführt • keine Tilgungen und Fokussierungen • Generalisierungen und Expansionen kommen vor • keine Generalisierungen und Expansionen • es werden Erklärungen und Erläuterungen gegeben • keine Erklärungen und Erläuterungen • Wiederaufnahmen häufig durch Substitutionen und Pro-Formen • keine Wiederaufnahmen bzw. nur durch Rekurrenzen • es erfolgen Neukombinationen von Wörtern und Textpassagen • keine Neukombinationen von Wörtern und Textpassagen • Revisionen führen zu Textoptimierungen • Revisionen führen mitunter auch zu neuen Fehlern c) Ort der Veränderung hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • Revisionen auf lokaler und globaler Ebene • Revisionen nur auf lokaler Ebene • Veränderungen erfolgen auf der Wort-, Satz- und Textebene • Veränderungen nur auf der Wortebene • Revisionen auf der Textoberfläche und der Texttiefenstruktur • Veränderungen nur auf der sprachlichen Oberfläche 9.6 Sprachliche Variation Sprachliche Variation ist sowohl im Schreibprozess als auch in Schreibprodukten daran erkennbar, dass Lernende ihre Gedanken, Ideen und <?page no="152"?> 152 Informationen auf sprachlich differenzierte, kreative und variantenreiche Weise darstellen. hohe Textkompetenz niedrige Textkompetenz • stilistisch variantenreiche Gestaltung • keine stilistische Variation • umfangreicher, differenzierter und spezifischer Wortschatz • reduzierter, einfacher Wortschatz • Verwendung einfacher und komplexer Sätze • Verwendung ausschließlich einfacher Sätze • Einsatz verschiedener Erzählelemente (Markierungen der Plötzlichkeit etc.) • Reproduktion ganzer Sätze und Wortgruppen aus dem Input • flexibles „Pendeln” zwischen mündlich und schriftlich geprägter Sprache • kein flexibles „Pendeln” zwischen mündlich und schriftlich geprägter Sprache Diese Indikatoren sind keineswegs trennscharf, sie bedingen und beeinflussen einander vielmehr auf komplexe und vielfältige Weise. Bei der Beurteilung von Textkompetenz sind sie nie isoliert, sondern immer in Bezug zueinander zu sehen. Es ist Aufgabe weiterführender Forschung, sie im Hinblick auf lerner- und entwicklungsbezogene Faktoren zu spezifizieren. In den bisherigen Ausführungen wurden grundlegende, für die Didaktik relevante Aspekte und Zusammenhänge der Textkompetenz und des Lernens in der Zweitsprache aufgezeigt und anhand von einschlägigen Forschungsarbeiten aus verschiedenen Disziplinen erläutert und diskutiert. Man weiß aufgrund dieser theoretischen Konzepte, Erkenntnisse und empirisch gestützten Analyseergebnisse jedoch noch nicht, was im Unterricht konkret zu tun ist, um die Textkompetenz der Lernenden fördern zu können. Das Ziel der weiteren Ausführungen besteht daher darin, die in diesem ersten Teil des Buches dargelegten theoretischen Grundlagen für die Konzeption von konkreten Handlungsvorschlägen für den Unterricht zu nutzen. Sie sollen es ermöglichen, die Textkompetenz von Lernenden in mehrsprachigen Klassen gezielt zu fördern. <?page no="153"?> 153 TEIL II: DIE LITERALE DIDAKTIK Die Literale Didaktik ist ein didaktisches Instrumentarium zur Förderung der Textkompetenz, das primär für Zweitsprachenlernende gedacht ist, die bereits über gute mündliche Sprachfähigkeiten verfügen, jedoch Probleme im Umgang mit Texten haben. Die Literale Didaktik ist darüber hinaus aber auch zur Förderung der Textkompetenz von Muttersprachigen geeignet, sei es in der Schule oder in anderen Lernkontexten, in denen es darum geht, Wissen anhand von Texten zu vermitteln und zu erwerben. Traditionelle Grenzziehungen zwischen der Muttersprachendidaktik, der Fremdsprachendidaktik und der Zweitsprachendidaktik werden damit überwunden. Die Literale Didaktik baut auf den im ersten Teil dieser Arbeit dargelegten theoretischen Erkenntnissen auf, berücksichtigt konkrete Probleme im Umgang mit Texten, wie sie sich in Unterrichtsbeobachtungen herauskristallisiert haben (Kap. 1.1) und relevante Ansätze zur Förderung von Textkompetenz, die im Rahmen bestehender didaktischer Konzeptionen entwickelt wurden. 230 Zunächst soll dargelegt werden, worin die häufigsten Probleme im Unterricht bestehen (Kap. 1.1) und inwieweit bestehende didaktische Ansätze geeignete Lösungsvorschläge für diese Probleme anbieten (Kap. 1.2). Danach werden die Zielsetzungen der Literalen Didaktik skizziert (Kap. 2), die der Konzeption der Verfahren und Aufgaben zur Förderung der Textkompetenz zugrunde gelegt wurden. Schließlich werden die drei Hauptkomponenten der Literalen Didaktik vorgestellt: • die didaktischen Prinzipien (Kap. 3), • das 3-Phasen-Modell zur Förderung der Textkompetenz (Kap. 4) und • die Aufgabentypologie (Kap. 5). Diese drei Komponenten sind systematisch aufeinander bezogen und miteinander vernetzt. Sie erlauben es, die Textkompetenz der Lernenden aufzubauen und auf differenzierte Weise zu fördern. Damit soll Lehrerinnen und Lehrern ein flexibel handhabbares didaktisches Instrumentarium zur Verfügung gestellt werden, das es ihnen erlaubt, die Textkompetenz der Lernenden gezielt zu fördern. 230 Es handelt sich dabei um Ansätze aus der Schreibdidaktik, der Konstruktivistischen Didaktik, dem Aufgabenorientierten Unterricht und dem „literacy-based approach” von Kern (2000) (Kap. 1.2). <?page no="154"?> 154 1 Ausgangslage: Unterrichtsprobleme und didaktische Lösungen 1.1 Probleme im Unterricht in mehrsprachigen Klassen Die im Folgenden genannten Probleme treten in mehrsprachigen Klassen gehäuft bzw. verschärft auf, sie kommen darüber hinaus aber im Unterricht generell häufig vor. Während das erste Problemfeld im Rahmen dieser Arbeit bereits ausführlich besprochen wurde, 231 werden die anderen Problembereiche in die Diskussion neu eingebracht. • Die Welt der Texte ist den Lernenden nicht vertraut. Auch Lernende, die über gute mündliche Sprachfähigkeiten in der Zweitsprache verfügen, sind mit der Welt der Texte oft nicht vertraut. Sie verfügen nicht über jene literalen Praktiken und Strategien, die es ihnen ermöglichen würden, Texte für den Wissenserwerb im Unterricht zu nutzen und sind nicht in der Lage, Bedeutungen im jeweiligen Kontext zu verstehen, Sinnzusammenhänge in Texten zu erkennen und selbst beim Schreiben zu konstruieren. Sie können Texte nicht distanziert und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten und haben sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen Probleme, relevante Informationen zu erkennen und zu verknüpfen. Auch bei großer Mühe und Anstrengung gelingt es ihnen nicht, Textinhalte verständlich mitzuteilen und selbst kohärente Texte zu produzieren. Sie können am literalen Diskurs in der Klasse nicht teilhaben und die Lernchancen, die sich für sie aus der Arbeit an Texten ergeben, nicht ausreichend wahrnehmen und nutzen. Dies gilt nicht nur für viele Zweitsprachenlernende, sondern auch für Fremdsprachenlernende und Muttersprachige. Für Zweitsprachenlernende, denen es nicht nur an Textkompetenz, sondern auch an grundlegenden Sprachkenntnissen in der Zweitsprache fehlt, werden die textuellen Anforderungen im Unterricht jedoch oftmals zur unüberwindbaren Hürde - mangelnde lexikalische und grammatische Kenntnisse ziehen ineffiziente Strategien im Umgang mit Texten nach sich, was den Wissenserwerb in der Zweitsprache stark beeinträchtigt. • Im Unterricht wird zu wenig aktiv sprachlich gehandelt. Im gängigen Schulunterricht gelingt es Zweitsprachenlernenden oft nicht, ihre vorhandenen sprachlichen Kompetenzen und Kenntnisse zu mobilisieren und in der themen- und aufgabenbezogenen Interaktion in der Klasse 231 Siehe Teil I dieser Arbeit. <?page no="155"?> 155 einzusetzen und zu erweitern. 232 Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Unterricht in der Schule meist nach wie vor hauptsächlich lehrergesteuert ist. In einem lehrergesteuerten Unterricht wird der überwiegende Teil der Gesprächszeit von den Lehrenden beansprucht, sodass die SchülerInnen wenig Gelegenheit haben, selbst aktiv sprachlich zu handeln und ihre sprachlichen Kompetenzen dabei zu erweitern. 233 Unter diesen Bedingungen haben sprachlernfördernde Aktivitäten wie etwa bestätigende, verständnissichernde oder klärende Rückfragen, die Reflexion eigener oder fremder Äußerungen oder die Diskussion eines Themas oder Textes kaum Platz (vgl. Doughty/ Pica 1986). Es mangelt an aktiven, auf die Aufgabe und die Situation des Unterrichts bezogenen Sprachhandlungen, sodass die Lernchancen, die sich daraus ergeben könnten, vielfach ungenützt bleiben. • Wissen wird reproduziert statt aktiv und individuell konstruiert. Der Wissenserwerb in der Schule findet nach wie vor vielfach als bloße Reproduktion von vorgegebenem Wissen und nicht als aktive, individuelle Wissenskonstruktion statt. Die Wissensvermittlung ist überwiegend an vorab festgelegten Inhalten und an vereinfachten Themen und Texten und nicht am vorhandenen Wissen und an den bestehenden Interessen und Erfahrungen der Lernenden orientiert. Inhalte werden überwiegend monologisch, vor allem in Form von Lehrervorträgen vermittelt. Lernende sind unter diesen Bedingungen kaum gefordert, ihr vorhandenes Wissen zu einem Thema zu mobilisieren, Inhalte autonom zu erarbeiten und kreative Problemlösungen zu entwickeln. Ein auf diese Weise gewonnenes Wissen kann nicht eigenständig angewendet und in andere Lernkontexte transferiert werden. Das Schreiben als ein Mittel des Wissenserwerbs wird in der Schule vor allem in den Sachfächern kaum genutzt: Die gängigen Schreibaktivitäten im Unterricht sind meist auf das bloße Abschreiben oder stichwortartige „Festhalten” von Informationen beschränkt, die die SchülerInnen von ihren LehrerInnen oder aus Schulbüchern erhalten. • Sprachliches und inhaltliches Lernen sind nicht koordiniert. Die Vermittlung von Fachwissen wird in der Schule meist ausschließlich als Aufgabe der Sachfächer betrachtet und Sprachförderung als Sache der Sprachfächer. Sachthemen finden nur selten Eingang in die Curricula der Sprachfächer und im Sachunterricht findet keine gezielte Spracharbeit statt. Eine Vermittlung der für das Sachlernen nötigen sprachlichen Mittel und Handlungen findet im Sachunterricht in der Regel nicht und im Sprachunterricht nicht systematisch bzw. nicht zum gegebenen Zeitpunkt statt. Das 232 Im Bezug auf die Gesprächskultur im Unterricht gibt es lerner- und kulturspezifische Unterschiede. 233 Während der Anteil an Lehreräußerungen im lehrergesteuerten Unterricht ca. zwei Drittel der Redezeit ausmacht, umfasst der Gesprächsanteil der SchülerInnen im Durchschnitt nur circa ein Drittel (vgl. Chaudron 1988, 50). <?page no="156"?> 156 betrifft etwa das Benennen, Identifizieren, Beschreiben, Fragestellen, Erklären, Schlussfolgern, Begründen, Definieren, Hypothesenbilden, das Klassifizieren, das Versprachlichen von Diagrammen und Graphiken oder das Erkennen und Ausdrücken von Beziehungen zwischen Ursache - Wirkung, Teil - Ganzes oder Mittel und Zweck (vgl. Zydatiß 2007, 22). Die damit verbundenen Äußerungen müssen in linguistisch komplexe Strukturen integriert werden, vorwiegend im Rahmen der Textsorten Zusammenfassung, Bericht, Kommentar, Anleitung, Erläuterung oder Argumentation (vgl. Zydatiß 2007, 22). Dies erfordert nicht nur eine anspruchsvolle inhaltliche, sondern auch eine präzise sprachliche Arbeit, die in einem koordinierten Sprach- und Sachunterricht anzuleiten und zu leisten wäre. Im Sprachunterricht haben Schreibprobleme vielfach damit zu tun, dass Lernende nicht über ausreichende Sachkenntnisse verfügen - und daher gezwungen sind, alles hinzuschreiben, was sie wissen. Textbildende Operationen wie etwa das Selektieren, das Fokussieren oder Gewichten von Informationen können unter diesen Bedingungen nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt werden (vgl. Portmann-Tselikas 2005a, 182). Eine Bezugnahme auf die im Sachunterricht behandelten Themen im Sprachunterricht könnte dazu beitragen, diese Operationen zu ermöglichen und die Schreibanforderungen überschaubar und bewältigbar zu machen. Die wechselseitig nutzbaren Potentiale des Sach- und des Sprachlernens, die sich aus einer Koordinierung der Sprach- und Sachfächer ergeben könnten, liegen in gängigen Unterrichtsformen bisher meist brach. 1.2 Lösungspotentiale bestehender didaktischer Konzepte Im Folgenden werden Ansätze aus verschiedenen didaktischen Konzepten dahingehend überprüft, ob sie als Lösungen für die skizzierten Unterrichtsprobleme geeignet sind. Diese Analyse dient dazu, bestehende Verfahren zur Förderung der Textkompetenz dahingehend zu bewerten, ob sie als Grundlage für ein didaktisches Konzept zur Förderung der Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen genutzt werden können. Zu diesem Zweck werden die folgenden Ansätze einer näheren Betrachtung unterzogen: • Die Kommunikative Didaktik, das nach wie vor populärste Konzept im Bereich der Fremdsprachendidaktik. Obwohl es in seiner Grundkonzeption nicht für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen gedacht ist, wird es in diesem Lernkontext häufig eingesetzt. • Die Interkulturelle Didaktik ist spezifisch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen konzipiert und hat in den letzten Jahren vor allem im Hinblick auf soziale und pädagogische Dimensionen an Profil gewonnen. • Die Fremdsprachliche Schreibdidaktik wird im Zusammenhang mit dem Lernen in der Zweitsprache meist nur am Rande berücksichtigt, obwohl <?page no="157"?> 157 sie vielversprechende Ansätze für eine Förderung der Textkompetenz bereitstellt. • Der bislang in Europa kaum noch rezipierte „literacy-based approach” von Kern (2000) stellt innovative Verfahren zur Förderung der Textkompetenz im Studium zur Verfügung, die für die Schule adaptiert werden könnten. • Der Aufgabenorientierte Unterricht definiert allgemeine Prinzipien, die auch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen von Bedeutung sind. • Die Konstruktivistische Didaktik liefert relevante lerntheoretische Grundlagen, die für das Lernen in der Zweitsprache von Interesse sind. 1.2.1 Die Kommunikative Didaktik Die Kommunikative Didaktik ist das derzeit einflussreichste Konzept in der Fremdsprachendidaktik, das sowohl Unterrichtsverfahren als auch Curricula und Lehrwerke seit mehr als zwanzig Jahren maßgebend prägt. Es ist am Lernziel der kommunikativen Kompetenz orientiert, das in seiner ursprünglichen Konzeption auf alle Fertigkeiten bezogen war (vgl. Canale/ Swain 1980; Canale 1983), später jedoch vor allem auf mündliche Sprachfähigkeiten in alltäglichen Situationen fokussiert wurde. Das Ziel der Kommunikativen Didaktik besteht darin, die kommunikative Kompetenz der Lernenden im Unterricht zu schulen. Die SchülerInnen lernen die fremde Sprache, so die Annahme, indem sie kommunizieren. Kommunizieren und Lernen werden also gleichgesetzt. 234 In diesem Punkt geht die Kommunikative Didaktik über den pragmatischen Kommunikationsbegriff hinaus, der ihr ursprünglich zugrunde gelegt war - im Begriffsverständnis der Pragmatik ist eine Verbindung zwischen Kommunikation, Lernprozesen, Lernresultaten und didaktischen Verfahren nicht angelegt (vgl. Portmann-Tselikas 1997b, 221). 235 In kommunikativen Lehrwerken werden sprachliche Mittel zur Verfügung gestellt, die dazu gedacht sind, bestimmte Sprechakte in simulierten Situationen des fremdsprachlichen Alltags zu realisieren - so zum Beispiel „nach etwas fragen”, „sich beschweren”, „jemanden einladen”, „etwas bestellen” (vgl. Krenn 2000, 13). 236 Der Auswahl dieser sprachlichen Mittel liegt 234 Portmann (1991, 25) plädiert daher für eine begriffliche Differenzierung, die den Spracherwerb nicht nur in Begriffen der Kommunikation fasst. 235 Die Kommunikative Didaktik ist gestützt auf die Pragmatik und hier insbesondere auf die Sprechakttheorie, deren Kategorisierung von kommunikativen Ereignissen in Sprechakte und Sprechintentionen weitgehend übernommen wurde. 236 Die Unterrichtsverfahren der Kommunikativen Didaktik werden nicht lerntheoretisch begründet, sondern aus der Definition von kommunikativer Kompetenz direkt abgeleitet (vgl. Krenn 2000, 19 ff.). <?page no="158"?> 158 ein needs survey 237 (Yalden 1987) im Hinblick auf zu erwartende Situationen im zielsprachlichen Alltag zugrunde. Die auf diese Weise simulierenden Unterrichtssituationen stellen eine weitgehend „künstliche” Form des sprachlichen Handelns dar, die auf fiktive Situationen des zielsprachlichen Alltags und nicht auf das „Hier und Jetzt” des Unterrichts bezogen ist. Die Künstlichkeit dieser Situationen wird dadurch verstärkt, dass die in gängigen Lehrwerken präsentierten Themen und Texte mit der Lebenswelt der Lernenden wenig zu tun haben - dies gilt für Lernende mit Migrationshintergrund in besonderem Maße. In neueren Lehrwerken sind jedoch Ansätze einer Hinwendung zu Einzelaspekten der fremdsprachlichen Kommunikation zu bemerken - so wird etwa der Aspekt des initiierenden, aktiven und nicht bloß reaktiven Sprechens zum Teil bewusst hervorgehoben (vgl. Portmann-Tselikas 1997b, 222). 238 Im Bezug auf die genannten Probleme des Unterrichts (siehe Kapitel 1.1) bietet die Kommunikative Didaktik dennoch nur eingeschränkt zielführende Lösungsansätze an: • Literale Förderung: Die Kommunikative Didaktik ist zielführend, wenn es um die Ausbildung mündlicher Sprachhandlungskompetenzen im fremdsprachlichen, alltagsbezogenen Lernkontext geht (vgl. Kern 2000, 19). Wenn das Ziel des Unterrichts jedoch darin besteht, die Textkompetenz der Lernenden in der Zweitsprache zu fördern, ist die Kommunikative Didaktik wenig erfolgversprechend, denn die Unterrichtsverfahren der Kommunikativen Didaktik sind nicht daraufhin angelegt, jene literalen Praktiken und Strategien im Umgang mit Texten zu schulen, die es Lernenden erlauben, mit Texten im Unterricht im jeweiligen Kontext kompetent umgehen zu können. Das gilt nicht nur für das Lesen und Schreiben, sondern auch für den alltagsbezogenen, mündlichen Sprachgebrauch. 239 • Aktives Sprachhandeln: Sprachliche Aktivitäten werden in der Kommunikativen Didaktik vor allem im Rahmen eines imitativen, simulierenden Sprachhandelns geschult, in dem vorgegebene sprachliche Mittel dazu verwendet werden, bestimmte Sprechakte zu realisieren. Eine aktive, in 237 Dieser needs survey ist an einer fiktiven Adressatengruppe und nicht an den konkreten Lernenden orientiert (vgl. Krenn 2000, 20). Auch Laufer/ Hulstijn (2001) gehen in ihrer Involviertheitshypothese (Involvement Load Hypothesis) von so genannten „needs” der Lernenden aus, sie fassen diese jedoch weiter und verstehen darunter auch die interne bzw. externe Motivation der Lernenden, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen. 238 Dies zeigt sich zum Beispiel in den „information gap”-Übungen, bei denen nicht alle Lernenden dieselben Informationen haben - Aufgaben, in denen Informationen von den Lernenden ausgetauscht werden müssen, sind lernwirksamer als Aufgaben, bei denen die LernpartnerInnen über die gleiche Information verfügen (vgl. Doughty/ Pica 1986; Pica/ Kanagy/ Falodun 1993). 239 Das Lesen und Schreiben hat in der Kommunikativen Didaktik nur eine Hilfsfunktion, der Schwerpunkt der Textarbeit liegt auf dem Lesen und Verstehen von so genannten authentischen Texten (vgl. Krenn 2000, 23 f.). <?page no="159"?> 159 der Situation des Unterrichts verankerte Sprachpraxis, in der die Lernenden gefordert sind, sprachliche Probleme selbst zu erkennen und zu bearbeiten und Bedeutungen in der Interaktion mit anderen zu konstruieren, steht nicht im Zentrum des Interesses. • Individuelle Wissenskonstruktion: Die Kommunikative Didaktik ist auf den Aufbau von kommunikativer Kompetenz in Alltagssituationen fokussiert. Sowohl die Situationen als auch die sprachlichen Mittel sind weitgehend vorgegeben. Die Kommunikative Didaktik ist daher grundsätzlich - mit Ausnahme einzelner Aufgabenstellungen - nicht dazu geeignet, eine Form des Wissenserwerbs zu fördern, bei der Wissen von den Lernenden aktiv, autonom und durch kooperatives Lernen mit anderen in der Klasse konstruiert wird. • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: Die Kommunikative Didaktik ist auf die Realisierung sprachlicher Lernziele ausgerichtet. Eine Verknüpfung des Sachlernens mit dem Sprachlernen im Hinblick auf den schulischen Wissenserwerb zählt nicht zu den vordergründigen Zielen der Kommunikativen Didaktik. Die Leistung der Kommunikativen Didaktik besteht vor allem darin, dass sie die Lernenden ins Zentrum des Unterrichts gestellt hat und die Bedeutung der Interaktion für das Sprachlernen betont. Jene Lernanforderungen, mit denen Zweitsprachenlernende in der Schule konfrontiert sind, stehen jedoch nicht im Zentrum des Interesses. Das zeigt sich schon in der Grundkonzeption der Kommunikativen Didaktik, aber auch in der Auswahl der Themen und der Texte sowie in den einzelnen Aufgaben. Auch die Situation, dass Zweitsprachenlernende aufgrund ihres ungesteuerten Spracherwerbs in der alltagssprachlichen Umgebung meist bereits über gut entwickelte mündliche, alltagsbezogene Kommunikationsfähigkeiten verfügen, wird in der Kommunikativen Didaktik nicht beachtet. Die Kommunikative Didaktik ist daher nur eingeschränkt dafür geeignet, Zweitsprachenlernende in ihrer Textkompetenz zu fördern und sie bei der Bewältigung der schriftsprachlichen Anforderungen in der Schule zu unterstützen. 1.2.2 Die Interkulturelle Didaktik Die verschiedenen Ansätze der Interkulturellen Didaktik sind trotz gemeinsamer Bezugspunkte heterogen, sodass von der Interkulturellen Didaktik nicht die Rede sein kann. Die Bezeichnung Interkulturelle Didaktik ist vielmehr ein Überbegriff für all jene didaktischen Ansätze, die sich auf das Lehren und Lernen fremder Sprachen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität beziehen (vgl. Krumm 2003, 138). Wie zahlreiche andere Konzepte, die in verschiedenen Disziplinen und Praxisfeldern seit Beginn der 80er Jahre als Reaktion auf die zunehmende Multikulturalität der Gesellschaft entstanden sind, orientiert sich auch dieses Konzept am Topos der <?page no="160"?> 160 Interkulturalität. In Bezug auf seine Funktion und Rolle für den Unterricht ist dieser Begriff jedoch keineswegs klar definiert (vgl. Krumm 2003, 139). 240 Erste Impulse für eine Interkulturelle Didaktik kamen aus der Pädagogik, die das Problem der Integration in den 60er und 70er Jahren zunächst mit dem Konzept der Ausländer- und Migrationspädagogik zu lösen versuchte und auf Kompensations- und Separationsmodelle setzte (vgl. Hummelsberger 2001, 1). Diese Konzepte wurden abgelöst durch Modelle der interkulturellen Erziehung bzw. der interkulturellen Bildung, deren Interesse vor allem darin bestand, die Schule als einen Ort des konfliktfreien Zusammenlebens und der offenen Begegnung von Kindern unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Herkunft zu etablieren. Eine weitere Zielsetzung bestand darin, jene strukturellen Barrieren aufzudecken, die zur Bildungsbenachteiligung von Schülerinnen und Schülern führen und den „monolingualen Habitus” (Gogolin 1994) der Schule konstituieren. Im Zentrum der Interkulturellen Didaktik steht das Lernziel der interkulturellen Kommunikation. Die Lernenden sollen fremdkulturelle Perspektiven kennen und verstehen lernen und mit den eigenen kulturellen Sichtweisen und Prägungen vergleichen. 241 Die sprachliche und kulturelle Vielfalt in der Klasse soll bewusst wahrgenommen und reflektiert werden. Durch die Fokussierung sozialer und affektiver Lernziele werden sprachliche Lernziele jedoch zum Teil vernachlässigt. 242 In den Konzepten einer „Mehrsprachigkeitsdidaktik” (Meißner/ Reinfried 1998) werden Lernziele wie Sprachbegegnung, Sprachsensibilisierung, Sprachaufmerksamkeit, Sprachreflexion und metasprachliche Kommunikation ins Zentrum gerückt. Sie sollen dazu beitragen, ein Bewusstsein für Sprachenvielfalt in der Klasse zu erzeugen (vgl. Rösch 2003; Schader 2000). Diese Konzepte gehen auf die in Großbritannien entwickelten „Language Awareness”-Ansätze zurück, in denen dafür plädiert wird, die sprachlichen und kulturellen Erfahrungen und Kenntnisse der Lernenden im Rahmen 240 Edmondson/ House (1998) sind der Auffassung, dass fremdsprachliches Lernen per se interkulturelles Lernen sei und sich eine Orientierung am Begriff der Interkulturalität daher erübrige. Eindeutige Begriffsdefinitionen und klare terminologische Abgrenzungen zwischen den verschiedenen, auf die Situation der Mehrsprachigkeit in der Schule bezogenen Konzepten stehen bislang aus. 241 Die damit verbundene Polarisierung in eigen und fremd ist vielfach kritisiert worden. Es wurde daher dafür plädiert, nicht von den Unterschieden, sondern von den Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen auszugehen und diese zur Grundlage von Konzepten des Sprachenlernens und der Sprachvermittlung zu machen (vgl. Barkowski 1998; Krumm 2003, 140; Gogolin 2003, 100). 242 In einigen neueren Arbeiten zur Interkulturellen Landeskunde gibt es Ansätze einer gezielten Spracharbeit etwa im Hinblick auf kulturgeprägte Aspekte des Sprachgebrauchs, z.B. in Bezug auf die Routinen und Rituale im Alltag (vgl. Lüger 1993) oder die soziokulturellen Dimensionen beim Gebrauch einzelner Wörter (vgl. Müller 1994). <?page no="161"?> 161 von sprachfächerübergreifenden Unterrichtsformen zu nutzen. 243 Diese Ansätze liegen auch dem von Luchtenberg (1995) konzipierten Konzept einer interkulturellen sprachlichen Bildung zugrunde, die es ermöglichen soll, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Lernenden aus verschiedenen Sprachen mit allgemeinen sprachlichen Kompetenzen zu verknüpfen. Hegele/ Pommerin (1983) und Oomen-Welke (1994) versuchen den Deutschunterricht für interkulturelle Fragestellungen und die Lebenswelt von Zweitsprachenlernenden zu öffnen. Pommerin et al. (1996) plädieren für eine stärkere Berücksichtigung kreativer Schreibformen im Unterricht in mehrsprachigen Klassen, um die Erfahrungen und Gefühle der Lernenden besser berücksichtigen und integrieren zu können. Dieses Interesse steht auch im Zentrum der „plurilingualen Schreibdidaktik” (Hornung 1999), bei der experimentelle Schreibverfahren dazu genutzt werden sollen, die spontanen Ideen, Gefühle und Mitteilungsbedürfnisse der Lernenden zum Ausdruck zu bringen und für den Lernprozess in der Fremd- oder Zweitsprache zu nutzen. Die zentralen Probleme des Unterrichts in mehrsprachigen Klassen (siehe Kap. 1.1) sind jedoch auch mit der Interkulturellen Didaktik nur teilweise zu lösen: • Literale Förderung: Die Interkulturelle Didaktik ist vor allem auf soziale und pädagogische Zielsetzungen fokussiert und versucht ein friedliches, konfliktfreies Zusammenleben in einer Atmosphäre der Wertschätzung und des gegenseitigen Respekts zu fördern. Die Aufmerksamkeit gilt vor allem den kulturspezifisch geprägten Gebrauchszusammenhängen von gesprochener Sprache im Alltag. Texte fungieren weniger als Lernmedien denn als Träger von sprachlichen und kulturellen Informationen. Die Vermittlung von literalen Praktiken und Strategien im Umgang mit Texten steht nicht im Zentrum des Interesses. 244 • Aktives Sprachhandeln: Die sprachsensibilisierenden und kulturvergleichenden Verfahren der Interkulturellen Didaktik sind dazu geeignet, ein aktives sprachliches Handeln in interaktiven Kontexten im Unterricht zu initiieren. Auch die Einbeziehung der kulturellen Erfahrungen und der individuellen Sichtweisen der Lernenden kann sie dazu anregen, im Unterricht sprachlich aktiv zu handeln. • Individuelle Wissenskonstruktion: Jene Aufgaben, die die Lernenden für Sprache sensibilisieren und sie dazu motivieren, Sprache aufmerksam wahrzunehmen, zu betrachten und zu reflektieren, sind grundsätzlich auch dazu geeignet, Prozesse der individuellen Wissenskonstruktion zu initiieren. Eine gezielte Aktivierung und Weiterentwicklung des Wissens 243 Dieser Ansatz wurde mittlerweile für verschiedene Lernbereiche und Zielgruppen spezifiziert, z.B. im Bezug auf das Grammatiklernen (vgl. Luchtenberg 2001; Hornung 2001) oder auf den frühen Fremdsprachenunterricht (vgl. Macaire 2001). 244 Im Zusammenhang mit dem akademischen Schreiben in der Fremdsprache sind in den letzten Jahren Arbeiten entstanden, die sich mit der Analyse und der Vermittlung von kulturgeprägten Textsorten beschäftigen (vgl. Eßer 1997; Mohr 2000; Hufeisen 2002). <?page no="162"?> 162 der Lernenden mit dem Ziel, den Wissenserwerb in der Schule zu effektivieren, steht jedoch nicht im Zentrum des Interesses. • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: In neueren Arbeiten zur Interkulturellen Didaktik wird dafür plädiert, das Sprachlernen mit dem Sachlernen im Rahmen eines fächerübergreifenden Curriculums zu verknüpfen und auch im Sachunterricht gezielt Spracharbeit zu leisten (vgl. Luchtenberg 2001; Kupfer-Schreiner 2001, 23). Konkrete didaktische Vorschläge für einen Unterricht, im dem das Sprachlernen mit dem Sachlernen koordiniert wird, sind bislang jedoch erst in Ansätzen vorhanden. 245 Das besondere Verdienst der Interkulturellen Didaktik besteht darin, sich mit der Situation der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität in der Klasse bewusst auseinanderzusetzen und eine sprachliche und kulturelle Sensibilisierung anzustreben. Dennoch handelt es sich bei der Interkulturellen Didaktik um kein Konzept, das wesentlich dazu beiträgt, Zweitsprachenlernende in der Entwicklung ihrer Textkompetenz zu fördern und dabei zu unterstützen, die schriftsprachlichen Anforderungen in der Schule besser bewältigen zu können. 1.2.3 Die Konstruktivistische Didaktik Ebenso wenig wie es den Konstruktivismus gibt, gibt es eine übergreifende Konstruktivistische Didaktik. Unter diesem Begriff können vielmehr Lernkonzepte subsumiert werden, die sich implizit oder explizit auf erkenntnistheoretische Grundlagen beziehen. 246 Im Folgenden wird keine systematische Darstellung der Konstruktivistischen Didaktik und ihrer verschiedenen Strömungen gegeben, es werden lediglich Grundannahmen der Konstruktivistischen Didaktik diskutiert, die für die Konzeption der Literalen Didaktik von Belang sind. 247 245 Eine Ausnahme bilden die im angloamerikanischen Raum entwickelten „language across the curriculum”-Konzepte, die mit fächerübergreifenden Ansätzen verbunden sind. Sie wurden bislang im deutschsprachigen Raum jedoch kaum noch aufgenommen, abgesehen vom Konzept der „Sprach- & Kulturerziehung”, das als übergreifendes Schulsprachenkonzept angedacht, jedoch bislang nicht realisiert ist (vgl. Huber/ Huber-Kriegler/ Heindler 1995; 1996). 246 Eine Ableitung didaktischer Prinzipien aus der Erkenntnistheorie wird mittlerweile ebenso kritisiert (vgl. Hoops 2001, 50) wie eine strikte Trennung zwischen „Instruktion” und „Konstruktion”. Diese Dichotomie besteht in jüngeren Arbeiten meist nicht mehr, es wird eher für eine Kombination aus konstruktivistisch und instruktivistisch geprägten Unterrichtsverfahren plädiert (vgl. Müller 2001, 38). 247 Der Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretisch fundierte Theorie, die sich mit der Entstehung von Wissen beschäftigt und auf psychologisch-philosophischen bzw. neurobiologischen Grundlagen beruht. Konstruktivistische Grundannahmen wurden in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen aufgegriffen (unter anderem in der Philosophie, in der Pädagogik, in der Mathematik und in der Biologie). <?page no="163"?> 163 Die Konstruktivistische Didaktik beruht auf der Hypothese, dass es sich beim Wissenserwerb um einen aktiven, kreativen und dynamischen Prozess der Wissenskonstruktion handelt, der sich im Spannungsfeld zwischen Hypothesenbilden und -testen vollzieht und bei dem Lernende neues Wissen auf der Basis ihrer vorhandenen Erfahrungen und Kenntnisse gewinnen. Die Frage, was Lernende bereits können, wird damit zentral. Die Prinzipien der Interaktion, der Handlungsorientierung und der Situierung von Lernaufgaben spielen in der Konstruktivistischen Didaktik eine wichtige Rolle. Aufgaben sollen relevant und „problemhaltig” sein (vgl. Müller 2001, 20) und die Lernenden in ihrer „kognitiven Flexibilität” (Spiro et al. 1992) schulen, damit sie ein Wissen aufbauen, das in unterschiedlichen Lernkontexten einsetzbar ist. Es wird für komplexe Lernumgebungen plädiert, die ein vielfältiges Angebot an Materialien bereitstellen, die den Lernenden individuelle Zugänge und Lernwege ermöglichen und dazu motivieren, Lernaufgaben selbständig und kreativ zu lösen. Zu den ersten konstruktivistischen Ansätzen, die didaktisch genutzt wurden, zählt der epistemologische Konstruktivismus von Piaget (1976). Die kognitive Ontogenese des Menschen wird dabei als ein Konstruktionsprozess betrachtet, der den Prinzipien der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstorganisation unterliegt und mit komplexen Wissenstransformationen verbunden ist - neue Wissensbestände werden an bestehendes Wissen angepasst (Assimilation) und vorhandene kognitive Strukturen werden durch neues Wissen modifiziert (Akkomodation). Nach Piaget handelt es sich dabei um grundlegende Mechanismen des Lernens, die darauf angelegt sind, innere Schematisierungen mit der Umwelt abzugleichen und ein „Gleichgewicht” beim Lernen zu erreichen (Äquilibration) (vgl. Wolff 2000, 97). Mit diesem Konzept war Piaget für konstruktivistische Lernkonzepte zunächst wegweisend, später wurde er vor allem wegen seiner Sichtweise von Misserfolgen und Störungen beim Lernen kritisiert (vgl. Müller 1996a, 39 f.). Das Konzept der konstruktivistischen Lernkultur, wie es von Müller (1996a) vertreten wird, beruht auf Grundannahmen der Wissenspsychologie, denen zufolge Wissenserwerb immer dynamisch und vernetzt erfolgt. Lernprozesse können demnach nicht von außen determiniert, sondern lediglich gelenkt werden. Müller betont den Gegensatz zwischen konstruktivistischen Ansätzen und dem so genannten informationstheoretisch kognitiven Paradigma (vgl. Müller 1996b, 72 f.). 248 Er berücksichtigt aber auch kognitive Ansätze, 248 Der Gegensatz zwischen konstruktivistischen und kognitivistischen Ansätzen zeigt sich für Müller etwa im Begriff der Repräsentation. Repräsentationen sind im Sinne des informationstheoretisch ausgerichteten kognitiven Paradigmas unmittelbare Abbilder der Wirklichkeit, in denen weder situative noch individuelle Aspekte der Sprachverarbeitung modelliert sind. In neueren konstruktivistischen Konzepten wird der Begriff der Repräsentation für die Idee der Konstruktion geöffnet - nach Wolff (2002) führt die Verknüpfung von vorhandenem Wissen mit neuem Wissen zur Ausbildung von mentalen Repräsentationen, die den Ausgangspunkt von weiteren Konstruktions- <?page no="164"?> 164 die er als „semikonstruktivistisch” bezeichnet, etwa die Wahrnehmungsmodelle von Neisser (1974) oder die linguistischen Modelle zum Textverstehen und zur Textverarbeitung von van Dijk/ Kintsch (1978). Im Konzept der Random Access Instruction (Spiro/ Jehng 1990) liegt das didaktische Interesse primär in der Entwicklung von kognitiver Flexibilität. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Wissen flexibel anzuwenden und zu transformieren. Dies soll erreicht werden, indem Lernende mit komplexen Problemstellungen konfrontiert werden (ill-structured-Probleme), die eine Umstrukturierung des vorhandenen Wissens erfordern. Zur Schulung der kognitiven Flexibilität werden Verfahren eingesetzt, mit denen die Lernenden in ihrem mehrperspektivischen Denken und in ihrer aktiven Problemlösekompetenz gefordert sind. Auf diese Weise sollen sie individuelle Zugänge und Perspektiven auf ein Thema entwickeln und als „kognitive Wanderer” zunächst zufällige Eindrücke im Lernfeld gewinnen (random access), um diese schließlich selbständig zu einem Sinnganzen zusammenzufügen (vgl. Müller 1996b, 78). Auf diese Weise sollen sie lernen, Wissen bei der Lösung von Problemen nicht bloß wiederzugeben, sondern in verschiedenen Kontexten flexibel anzuwenden. Im konstruktivistischen Lernkonzept der anchored-instruction steht die Zielsetzung, anwendungs- und transferfähiges Wissen zu erzeugen, im Vordergrund. Mithilfe eines narrativen „Ankers” sollen realitätsnahe, komplexe und problemhaltige Lernsituationen erzeugt werden, die die Lernenden dazu anregen, eigenständige Lösungsstrategien zu entwickeln (vgl. Müller 1996b, 80). Den Ausgangspunkt dafür bilden Geschichten, die Problemlöseszenarios enthalten, für die die Lernenden Lösungen entwickeln müssen (vgl. Müller 2001, 27). Durch den Vergleich der Geschichten sollen mehrperspektivische Zugänge zu einem Thema gewonnen werden; durch eine Koordinierung verschiedener Wissensgebiete soll eine fächerübergreifende Vernetzung der Themen erreicht werden. Auch die Situated-Action-Konzepte zielen darauf ab, Lernende mit komplexen Problemstellungen zu konfrontieren und sie dazu anzuregen, selbst jenes Wissen zu mobilisieren, das sie zur Lösung von Problemstellungen brauchen. So basiert etwa das Cognitive-Apprenticeship-Verfahren auf der Annahme, dass Lernsituationen per se jene Handlungen auslösen, die den Aufbau von bedeutsamen Wissensstrukturen ermöglichen (vgl. Richter 1996b, 173). Darüber hinaus wird versucht, den gezielten Einsatz von Problemlösestrategien in unterschiedlichen Kontexten durch eine systematische Bewusstmachung zu fördern und Lösungsansätze gemeinsam zu reflektieren. Auf diese Weise sollen Fähigkeiten des Erkennens und Lösens von Problemen im Rahmen von komplexen Lernaufgaben geschult werden. Als Vorprozessen darstellen und Transformationen von Wissen bewirken. In der vorliegenden Arbeit wird die Definition von Repräsentationen von Rickheit/ Sichelschmidt/ Strohner (2002) verwendet, in der kognitionstheoretische Annahmen mit konstruktivistischen Ansätzen verknüpft sind (siehe Teil I, Kapitel 5). <?page no="165"?> 165 bild für Cognitive-Apprenticeship-Verfahren dient die traditionelle Handwerkerlehre, bei der ein Lernender die Aktivitäten des Meisters zunächst beobachtet und nachahmt, um sie schließlich selbst unter seiner Anleitung durchzuführen. Im Unterricht fungiert der Lehrer zunächst als Vorbild, er zieht sich jedoch immer mehr zurück und überlässt den Lernenden zunehmend die Initiative. Cognitive-Apprenticeship-Verfahren wurden primär als eine Methode entwickelt, um abstrakte Wissensdomänen zu vermitteln. Sie werden auch zur Förderung des Textverstehens bei lern- und leseschwachen Kindern eingesetzt (vgl. Meixner 1997, 93). Beim so genannten „reziproken Texterarbeiten” arbeiten die Lernenden gruppenweise zusammen; sie haben die Aufgabe, einen Text abschnittweise zusammenzufassen, zu erläutern, Fachbegriffe zu diskutieren, abstracts zu verfassen bzw. Textinhalte in eigenen Worten wiederzugeben (vgl. Müller 1996b, 92). Die Leistung konstruktivistisch orientierter Lernkonzepte besteht vor allem darin, dass sie die Prinzipien der Lernerzentrierung und der Prozessorientierung in den Vordergrund gerückt haben (vgl. Richter 1996a, 152; vgl. Meixner 1997, 23). Für die Lösung der skizzierten Problembereiche (siehe Kapitel 1.1) bieten sie einige relevante Ansätze: • Literale Förderung: Die Schulung der Textkompetenz zählt in der Konstruktivistischen Didaktik nicht zu den vordergründigen Zielsetzungen. Der zweitsprachliche Lernkontext in der Schule und die damit verbundenen Lernanforderungen werden zwar in einigen Ansätzen berücksichtigt, jedoch nicht umfassend in einem kohärenten darauf bezogenen Konzept. Relevant sind vor allem die Verfahren, die im Rahmen des Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes entwickelt wurden sowie Aufgaben zur „produktiven Semantisierung”, wie sie von Meixner entwickelt wurden (vgl. Meixner 1997). • Aktives Sprachhandeln: Eine Zielsetzung der Konstruktivistischen Didaktik besteht darin, Interaktionen im Rahmen konkreter Situationen und in der themenbezogenen Arbeit im Unterricht anzuregen, die der gemeinsamen Problemlösung dienen. „Problemhaltige” Aufgaben sollen ein aktives und bedeutungsvolles sprachliches Handeln im Unterricht initiieren. • Individuelle Wissenskonstruktion: Die Frage, wie Lernkonzepte zu gestalten sind, die es ermöglichen, aktive, individuelle Wissenskonstruktionen der Lernenden anzuregen, steht in allen konstruktivistischen Lernkonzepten im Zentrum (vgl. Müller 1996a, 62). Wissen soll nicht einfach transferiert, sondern im Rahmen kreativer, dynamischer Prozesse von den Lernenden aktiv aufgebaut werden; das, was die Lernenden an Kenntnissen und Kompetenzen in den Unterricht mitbringen, ist der Ausgangpunkt des Lernens. • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: Konstruktivistische Lernkonzepte werden auf verschiedene Bereiche des Sprach- und Sachlernens angewandt. Es gibt daher sowohl Handlungsvorschläge für den Sprach- <?page no="166"?> 166 unterricht 249 als auch für den Sachunterricht; 250 ein fächerübergreifendes didaktisches Konzept, in dem das Sprachlernen und das Sachlernen integriert wird, existiert bislang jedoch nicht. Bei den verschiedenen Ansätzen der Konstruktivistischen Didaktik handelt es sich somit weitgehend um allgemeine Lernkonzepte, die nicht auf die spezifische Situation des schulischen Wissenserwerbs in der Zweitsprache fokussiert sind. Dennoch stellen sie mit ihren Grundannahmen und Zielsetzungen sowie mit einzelnen didaktischen Verfahren Problemlöseansätze bereit, die für die Literale Didaktik relevant sind. 1.2.4 Die Fremdsprachliche Schreibdidaktik Die Schreibdidaktik kann sich auf ein umfangreiches, empirisch abgesichertes Wissen über Schreibprozesse, Schreibentwicklungen und Texte stützen (vgl. Feilke/ Portmann 1996, 14). 251 Seit Beginn der 80er Jahre wurde die Diskussion über die Entwicklung der Schreibfähigkeiten aus ihrer ursprünglich rein fachdidaktischen Ausrichtung und den Debatten über Aufsatzerziehung herausgenommen und in einen weiteren fachwissenschaftlichen Kontext gestellt (vgl. Feilke 2003, 178). Durch die damit verbundene theoretische Neuorientierung wurden neue Akzente in der Schreibdidaktik gesetzt, die sich vor allem in der Betonung der Entwicklungsaspekte und der Prozesshaftigkeit des Schreibens manifestieren. Diese neuen Tendenzen prägen sowohl die Muttersprachendidaktik als auch die Fremdsprachendidaktik der letzten Jahre. Das Schreiben in der Zweitsprache unterscheidet sich vom Schreiben in der Erstsprache bei alphabetisierten Lernenden vor allem dadurch, dass Schreiberfahrungen und Kenntnisse der Schrift bereits in der Erstsprache vorhanden sind; fremdsprachlich bedingte Schwierigkeiten kommen jedoch erschwerend hinzu. Das sind meist vor allem Wortschatzprobleme oder textpragmatische Probleme, die sich aus der Kulturspezifik der Textsorten und des Textgebrauchs im jeweiligen soziokulturellen Kontext ergeben. Das Schreiben in der Zweitsprache ist daher meist weniger effizient als das Schreiben in der Erstsprache (vgl. Kern 2000, 177), vor allem dann, wenn differenziertere Fähigkeiten der schriftlichen Textbildung in der Erstsprache fehlen. Aus der Fülle der bestehenden schreibdidaktischen Konzepte und Verfahren werden im Folgenden nur jene Ansätze aufgegriffen, die sich als relevant für eine Förderung der Textkompetenz von Zweitsprachenler- 249 Z.B. im Bezug auf Fragen des Bedeutungs- und Wortschatzerwerbs und des Formulierens als Problemlösen (vgl. Meixner 1997). 250 Z.B. für den Geographie-, den Geschichts- und den Physikunterricht (vgl. Meixner 1997; Daum 2001; Häuptle-Barceló 2001; von Aufschnaiter 2001). 251 Einen umfassenden Überblick zur Schreibforschung geben die Bände „Schrift und Schriftlichkeit” (Günther/ Ludwig 1994). <?page no="167"?> 167 nenden in der Schule erweisen. Produktorientierte Ansätze, die die Schreibdidaktik seit den 40er Jahren und auch heute noch weithin prägen, sind konzentriert auf die strukturellen und formalen Aspekte in Texten sowie auf die Einhaltung sprachlicher Konventionen und Normen im Hinblick auf Textaufbau, Einsatz von Textelementen und Mitteln der Textgestaltung (vgl. Kern 2000, 180). 252 In produktorientierten Schreibverfahren, wie sie in der Schule weithin eingesetzt werden, geht es primär um Fehlervermeidung und darum, Texte nach vorgegebenen Mustern zu entwickeln. 253 In prozessorientierten Ansätzen geht es demgegenüber weniger um die Frage, was Schreibende tun sollen, wenn sie einen Text verfassen als darum, was sie tatsächlich tun, wenn sie einen Text schreiben (vgl. Eigler et al. 1990, 14). Die prozessorientierte Schreibdidaktik ist kognitionspsychologisch fundiert und gestützt auf Schreibmodelle, die das Verfassen eines Textes als einen komplexen und vielschichtigen Vorgang des Problemlösens beschreiben. Diese Modelle gehen davon aus, dass Schreibprozesse nicht linear und sukzessiv, sondern parallel, interaktiv, rekursiv und zunehmend routinisiert verlaufen (vgl. Baurmann 2005, 49). 254 Prozessorientierte Schreibaufgaben sind auf einzelne Phasen im Schreibprozess konzentriert und stellen Strategien bereit, die dazu dienen, die komplexen Anforderungen des Schreibens zu reduzieren. So werden etwa die Teilprozesse des Ideensammelns, des Formulierens, des Überprüfens und Überarbeitens von Äußerungen isoliert und didaktisch gezielt angeleitet (vgl. Sieber 2005, 10; Portmann-Tselikas 2005a, 175). Im Rahmen der prozessorientierten Schreibdidaktik wurden aber auch Aufgaben entwickelt, die die schöpferischen und kreativen Potentiale der Lernenden im Schreibprozess zu entfalten versuchen und mit der Zielsetzung verbunden sind, die Ideen, Gedanken und Gefühle der Lernenden durch freies, assoziatives oder experimentelles Schreiben aufzurufen 252 Wenn in diesem Kapitel zwischen produkt- und prozessorientierten Ausrichtungen der Schreibdidaktik unterschieden wird, so geschieht dies durchaus im Wissen darüber, dass es eine Reihe weiterer Klassifizierungen in der Fremdsprachlichen Schreibdidaktik gibt. So unterscheidet etwa Portmann (1991, 10, 374 ff.) zwischen der direktiven Position, dem textlinguistischen Ansatz und dem prozessorientierten Ansatz bzw. zwischen dem präkommunikativen Schreiben und dem produktiven Schreiben oder Eßer (2003, 293) zwischen dem Ansatz des freien Schreibens, dem kommunikativ-funktionalen Ansatz und dem prozessorientierten Ansatz. 253 Die Schreibverfahren der produktorientierten Schreibdidaktik sind in der Regel konzentriert auf beschreibende, erzählende, expositorische und argumentative Texte (vgl. Kern 2000, 181). 254 In der Schreibforschung ist die Frage, welche kognitiven Prozesse beim Schreiben stattfinden und wie diese in Schreibmodellen erfasst werden können, zentral. Die ersten Schreibmodelle waren auf die Schreibentwicklung in der Erstsprache fokussiert; zu den einflussreichsten zählt nach wie vor jenes von Hayes/ Flower (1980). Später wurden Schreibmodelle entwickelt, die an kognitionspsychologischen Grundlagen orientiert sind (Überblick siehe z.B. Molitor-Lübbert 1996). Mittlerweile gibt es zahlreiche Modifizierungen, auch im Hinblick auf das Schreibenlernen in der Fremdsprache (vgl. z.B. Wolff 2002). <?page no="168"?> 168 und zu artikulieren (vgl. Hornung 1999; Kupfer-Schreiner 2001, 28). 255 Darüber hinaus wurden im Zusammenhang mit prozessorientierten Schreibverfahren auch Aufgaben entwickelt, die die „epistemische”, d.h. die wissensgewinnende Funktion des Schreibens betonen (vgl. Bräuer 1998; Brugger 2004). In jüngeren Arbeiten zur Schreibdidaktik gilt das Interesse zunehmend den individuellen Voraussetzungen der Lernenden beim Schreiben und der Art und Weise, wie literale Praktiken im jeweiligen soziokulturellen Kontext eingesetzt werden (vgl. Feilke/ Portmann 1996, 8). So plädiert etwa Sieber (2005, 1) dafür, den Aufbau von Textkompetenz zu einem zentralen Gegenstand der Schreibdidaktik zu machen. Aspekte der Literalität, der Textualität und der Textkompetenz sind also in der Schreibdidaktik zunehmend von Interesse. 256 Für die Lösung der vorab skizzierten Probleme des Unterrichts (siehe Kapitel 1.1) bietet die Schreibdidaktik zahlreiche zielführende Ansätze an: • Literale Förderung: Die Schreibdidaktik ist fokussiert auf die Entwicklung von Schreibkompetenzen. Andere Dimensionen des literalen Handelns, wie etwa jene des mündlichen Gebrauchs von schriftsprachlich geprägter Sprache, werden nicht beachtet. Auch soziokulturelle Aspekte des literalen Handelns bleiben weitgehend unberücksichtigt. Die Aufgaben sind primär auf Lernende ausgerichtet, von denen angenommen wird, dass sie mit der Welt der Texte bereits vertraut sind. Zweitsprachenlernende verfügen jedoch auch in ihrer Erstsprache oft nicht über jene literalen Erfahrungen und Strategien, die es ihnen erlauben würden, die Schreibanforderungen im Unterricht zu bewältigen. Eine Schreibdidaktik, die auf diese Zielgruppe fokussiert ist, existiert bislang nicht. • Aktives Sprachhandeln: Die Förderung des aktiven Sprachhandelns im interaktiven Kontext zählt nicht zu den vordergründigen Zielen der Schreibdidaktik. Anhand von prozessorientierten Verfahren, die das Schreiben als Problemlösen betrachten, kann der aktive Gebrauch von situationsbezogener Sprache aber durchaus angeregt werden. Das Potential von prozessorientierten Schreibverfahren für das aktive Sprachhandeln im Unterricht in mehrsprachigen Klassen wurde bislang jedoch kaum genutzt. • Individuelle Wissenskonstruktion: Verfahren, die die individuelle Konstruktion und flexible Anwendung von Wissen in verschiedenen Lernkontexten fördern, finden sich sowohl in prozessorientierten als auch in produktorientierten Ansätzen der Schreibdidaktik. Relevant sind in die- 255 Aspekte der Planung und Überarbeitung von Texten im Schreibprozess spielen in diesen Verfahren eine untergeordnete Rolle (vgl. Kupfer-Schreiner 2001, 26 f.). 256 Maßgeblich dazu beigetragen haben kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenz zwischen Oralität und Literalität (vgl. Ong 1982) sowie sprachtheoretische Neukonzeptionen im Bezug auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wie sie etwa von Koch/ Oesterreicher (1994) entwickelt wurden. <?page no="169"?> 169 sem Zuammenhang vor allem jene Schreibaufgaben, die die Wissen schaffende Funktion des Schreibens betonen (vgl. Ossner 1995; Antos 1996; Marenbach 2005). • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: Die Schreibdidaktik ist sowohl in ihren produktorientierten als auch in ihren prozessorientierten Ansätzen fokussiert auf den Sprachunterricht. Die Sachdimension spielt nur eine untergeordnete Rolle: Die Zielsetzung der Schreibaufgaben besteht primär in der Entwicklung von Schreibfähigkeiten und nicht im Aufbau von Sachwissen. In einigen Arbeiten wird für eine fächerübergreifende Schreibförderung plädiert; konkrete Vorschläge für eine Realisierung dieser Vorschläge stehen bislang jedoch weitgehend aus. Wenn es darum geht, Zweitsprachenlernende dabei zu unterstützen, die komplexen schriftsprachlichen Anforderungen in der Schule zu bewältigen, greift eine Schreibdidaktik, die sich ausschließlich auf prozessorientierte Verfahren stützt, zu kurz (vgl. Kern 2000, 185). Dies zeigt sich im Unterricht in mehrsprachigen Klassen meist vor allem dann, wenn Zweitsprachenlernende gefordert sind, Texte zu schreiben, in denen Sachinhalte präzise, schlüssig und nachvollziehbar dargestellt werden müssen. Auch eine Schreibförderung, die ausschließlich produktorientierten Ansätzen folgt, eröffnet für Zweitsprachenlernende kaum Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein: Viele von ihnen sind lange Zeit nicht in der Lage, das geforderte Niveau der sprachlichen Korrektheit in ihren Texten zu erreichen. Der Schlüssel liegt daher in Schreibverfahren, die eine Prozess- und eine Produktorientierung integrieren. 1.2.5 Der „literacy-based approach” Der literacy-based approach von Kern (2000) stützt sich auf eine breite, interdisziplinäre Forschung (vgl. Scribner/ Cole 1981; Kress 1994; Gee 1996; Cope/ Kalantzis 2000). Es handelt sich dabei um den ersten umfassenden didaktischen Ansatz, der den Begriff literacy ins Zentrum des Interesses stellt und ein Modell zur Förderung der Textkompetenz von fremdsprachigen Studierenden anbietet. Literalität wird in diesem Ansatz nicht nur als eine Fähigkeit betrachtet, Texte lesen und schreiben zu können, sondern auch als Fähigkeit, mittels Texten eine neue Welt zu erschließen (vgl. Kern 2000, 6, 15). Die Lernenden sollen dabei unterstützt werden, ein neues Denken über Sprache, Kommunikation und Kultur zu entwickeln, das es ihnen erlaubt, jene kulturellen Orientierungen und Werte kennen zu lernen, die dem Gebrauch einer Fremdsprache zugrunde liegen (vgl. Kern 2000, 1). Sie sollen jene diskursiven Fähigkeiten aufbauen, die es ermöglichen, eine Fremdsprache im jeweiligen soziokulturellen Kontext zu verstehen und adäquat einsetzen zu können. Lese- und Schreibaktivitäten werden in diesem Ansatz nicht isoliert, sondern als kognitive und soziale Praktiken betrachtet, die nicht nur die Kenntnis von Wörtern und Strukturen, sondern auch die <?page no="170"?> 170 Kenntnis der soziokulturellen Konventionen des Gebrauchs von schriftlicher und mündlicher Sprache erfordern (vgl. Kern 2000, 111). Texte werden als Impulse für eigenständige Interpretationen betrachtet, die im jeweiligen diskursiven Kontext verankert sind: 257 The pedagogical focus shifts from „what texts mean” in some absolute sense, to what people mean by texts, and what texts mean to people who belong to different discourse communities. (Kern 2004, 3) Kern grenzt sich mit diesem Ansatz bewusst von traditionellen Fremdsprachencurricula ab, die durch einen normorientierten, beschreibenden Zugang zu Texten gekennzeichnet sind und erst auf höherem Sprachniveau kulturelle, ästhetische und analytische Dimensionen von Texten in den Blick nehmen. Diese Aspekte stehen im literacy-based approach von Beginn an im Zentrum aller Lernaktivitäten (vgl. Kern 2000, 2004). Auch curriculare Trennungen zwischen dem Lesen und Schreiben oder dem mündlichen und dem schriftlichen Sprachgebrauch bzw. zwischen sprachlichem und inhaltlichem Lernen werden in diesem Ansatz aufgehoben. Kern orientiert sich in seinem didaktischen Modell an vier curricularen Komponenten, die von der New London Group (1996) ausgearbeitet wurden. Es werden dabei sprachliche, kognitive und auch soziokulturelle Dimensionen berücksichtigt (vgl. Kern 2000, 133 f., 2004, 6 f.): • Situated practice ist mit der Zielsetzung verbunden, Immersionssituationen im Unterricht zu schaffen, die den Lernenden die Gelegenheit geben, Gefühle, Gedanken, Erfahrungen und Ideen in der Arbeit an Texten spontan zu formulieren. 258 • Overt instruction zielt auf die Entwicklung metasprachlicher Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit Texten ab und versucht Lernende in ihrer Fähigkeit zu fördern, über Sprache nachzudenken und sich über Sprache zu äußern. • Critical framing ist fokussiert auf die reflexive und analytische Dimension von Sprache. Die Lernenden sollen dabei angeleitet werden, Zusammenhänge zwischen sprachlichen, kommunikativen und soziokulturellen Dimensionen von Texten zu erkennen und selbst herzustellen. • Transformed practice soll Lernenden die Gelegenheit geben, Texte zu interpretieren, zu bewerten und deren Bedeutungen zu transferieren. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion von Bedeutungen in verschiedenen Kontexten beim Schreiben. 257 Flower (1990) spricht in diesem Zusammenhang von critical thinking: „[...] critical thinking which involves the ability to think about and through written texts: to read not only for facts but also for intentions, to question sources, to identify others’ and one’s own assumptions, and to transform information for new purposes.” (Flower 1990, 5) 258 Situated practice wäre im Modell von Cummins den basic interpersonal communicative skills zuzuordnen, während sich die drei anderen curricularen Komponenten auf die Förderung literaler Kompetenzen im akademischen Kontext beziehen. <?page no="171"?> 171 Mit diesem Ansatz soll den Interessen, Fähigkeiten, Meinungen, Ideen und Emotionen der Lernenden Rechnung getragen und deren Fähigkeiten des aktiven Problemlösens und der individuellen Konstruktion von Bedeutungen gefördert werden. Den Lehrenden obliegt eine begleitende, moderierende und unterstützende Rolle (vgl. Kern 2000, 307). Ihre Aufgabe besteht darin, im Unterricht eine Kultur des Lernens zu etablieren, in der kritisches Denken, aktives Problemlösen, metasprachliche Kommunikation und Reflexion angeregt werden. 259 Im Hinblick auf die skizzierten Probleme des Unterrichts (siehe Kapitel 1.1) bietet dieser literacy-based approach zahlreiche fruchtbare Lösungsansätze: • Literale Förderung: Literale Förderung ist das übergeordnete Ziel dieses Ansatzes. Literalität soll sowohl im Schriftlichen als auch im Mündlichen geschult werden. Das didaktische Interesse gilt also nicht nur dem Lesen und Schreiben, sondern auch dem mündlichen Gebrauch von schriftsprachlich geprägter Sprache. Im Zentrum steht die Schulung der Fähigkeit des Interpretierens, Analysierens, Reflektierens und Evaluierens von Texten im jeweiligen soziokulturellen Kontext. • Aktives Sprachhandeln: Der aktive Gebrauch von Sprache im „Hier und Jetzt” des Unterrichts ist ein Grundprinzip dieses Ansatzes; Bedeutungen sollen von den Lernenden immer im jeweiligen soziokulturellen Kontext konstruiert und erprobt werden. • Individuelle Wissenskonstruktion: Wissen soll von den Lernenden aktiv aufgebaut und mit dem vorhandenen Wissen in Beziehung gesetzt werden. Texte spielen dabei eine besondere Rolle; sie sollen nicht nur gelesen werden, um Fakten zu gewinnen, sondern um daran eigene Interpretationen, Fragen und Zielsetzungen zu entwickeln (vgl. Kern 2000, 29). • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: Bedeutungskonstruktionen im Rahmen literaler Handlungen erfordern nach Kern einen Rückgriff auf Sprache und Inhalte. Er plädiert daher dafür, das Sprachlernen mit dem Sachlernen eng zu verknüpfen. Dabei bezieht er sich jedoch nur auf den Kontext des Studiums und nicht auf die Schule. Sowohl die Prinzipien als auch die Verfahren dieses literacy-based approach sind für die schulische Förderung von Textkompetenz im mehrsprachigen Kontext von Interesse. Modifizierungen und Adaptierungen sind jedoch aus verschiedenen Gründen notwendig: 259 Kern fordert eine kritisch-reflektierende Haltung der Lehrenden in Bezug auf ihre Rollen, die sie im Unterricht spielen. Ihr Rollenverständnis zeigt sich seiner Auffassung nach vor allem in der Art und Weise, wie sie Fragen stellen und beantworten, wie sie Themen aufwerfen, auf Vorschläge der Lernenden reagieren bzw. wie sie Interaktionsprozesse anregen und gestalten. <?page no="172"?> 172 • Der literacy-based approach von Kern ist auf den akademischen Kontext des Lernens einer Fremdsprache und nicht auf den schulischen Kontext des Lernens in einer Zweitsprache ausgerichtet. Die didaktischen Verfahren setzen daher auf einem Kenntnis- und Kompetenzniveau an, auf dem sich Zweitsprachenlernende in der Schule noch nicht befinden. • Dieser literacy-based approach ist für Studierende gedacht, die über eine gut entwickelte Textkompetenz in ihrer Erstsprache verfügen. Auf Zweitsprachenlernende, die über keine gut entwickelte Textkompetenz in ihrer Erstsprache verfügen, wie es bei Migrantenkindern vielfach der Fall ist, ist dieser Ansatz nicht ausgerichtet. Das besondere Verdienst dieses Ansatzes besteht darin, den soziokulturell ausgerichteten Begriff der Literalität ins Zentrum didaktischer Fragestellungen gestellt und konkrete Verfahren für den Unterricht entwickelt zu haben, die auf die Förderung der literalen Fähigkeiten der Lernenden abheben. 1.2.6 Der Aufgabenorientierte Unterricht Aufgaben gehören zu den wichtigsten Instrumenten der Steuerung von Lernprozessen im Unterricht (vgl. Portmann-Tselikas 2006b). Aufgaben haben daher in den letzten Jahren in der Fremdsprachendidaktik stark an Bedeutung gewonnen. Mit dem task based approach wurde ein didaktischer Ansatz entwickelt, in dem Aufgaben im Zentrum der Lernaktivitäten im Unterricht stehen (vgl. Nunan 1989; Crookes/ Gass 1993; Legutke/ Thomas 1991). Das Ziel dieses Ansatzes besteht darin, intensive Prozesse des Sprachlernens im Unterricht anzuregen, die sprachlerntheoretisch legitimiert werden können (vgl. Krenn 2000; vgl. Häuptle-Barceló 2001, 228). Beim Aufgabenorientierten Unterricht handelt es sich weniger um ein geschlossenes didaktisches Konzept als um ein Konglomerat aus verschiedenen Ansätzen, die auf ähnlichen Grundlagen beruhen. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt besteht darin, that individuals acquire a foreign language through the process of interacting, negotiating, and conveying meanings in the language in purposeful situations. Thus a task, in this sense, is seen as a forum within which such meaningful interaction between two or more participants can take place. (Williams/ Burden 1997, 169) Die im Aufgabenorientierten Unterricht bevorzugten Arbeitsformen erfordern vielfältige und komplexe Lernaktivitäten und stehen in Zusammenhang mit Prinzipien wie „Lernerorientierung”, „Lernerautonomie” und „selbstgesteuertes Lernen” (vgl. Portmann-Tselikas 2006b). Ein Grundprinzip des Aufgabenorientierten Unterrichts ist Signifikanz (vgl. Krenn 2002, 77). Aufgaben, die den Lernenden als signifikant, d.h. als persönlich bedeutsam erscheinen, ermöglichen es, Lernende ins Unterrichtsgeschehen zu involvieren und sie zum aktiven Sprachhandeln zu bewegen. <?page no="173"?> 173 Eine gezielte Förderung der Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden in mehrsprachigen Klassen zählt bislang nicht zu den vordergründigen Zielen des Aufgabenorientierten Unterrichts. Dennoch bietet dieser Ansatz im Hinblick auf die genannten Problemfelder (siehe Kapitel 1.1) einige viel versprechende Lösungsansätze: • Literale Förderung: Konzepte des Aufgabenorientierten Unterrichts sind meist fokussiert auf einzelne Fertigkeitsbereiche (z.B. auf das Lesen). Aufgaben zur Förderung der Textkompetenz, die produktive und rezeptive Fertigkeiten integrieren und literale Fähigkeiten sowohl im Bereich des mündlichen als auch des schriftlichen Gebrauchs von Schriftsprache schulen, sind nur vereinzelt vorhanden. • Aktives Sprachhandeln: Die im Aufgabenorientierten Unterricht vorgeschlagenen Aufgaben sind auf authentische, in der Situation des Unterrichts verankerte Kommunikationssituationen ausgerichtet (vgl. Westhoff 2006, 60). Sie regen die Lernenden dazu an, Bedeutungen interaktiv auszuhandeln, eigenständige Problemlösungen im Unterricht zu entwickeln und Lernprozesse autonom zu steuern und zu gestalten. • Individuelle Wissenskonstruktion: Eine autonome, aktive Konstruktion von Wissen liegt durchaus im Interesse dieses Ansatzes - die Möglichkeiten der Bearbeitung einer Aufgabe sind vorgezeichnet, aber nicht bis ins letzte Detail festgelegt; die Lernerprodukte sind grob umrissen, aber nicht vorab genau definiert. Daraus ergibt sich für die Lernenden die Möglichkeit, eigene Problemlösungen zu entwickeln und Lernprozesse individuell zu gestalten. • Koordiniertes Sprach- und Sachlernen: Mit dem Aufgabenorientierten Unterricht soll primär das sprachliche Lernen angeregt und intensiviert werden. Eine gezielte Integration des Sprach- und Sachlernens im schulischen Kontext zählt nicht zu den vordergründigen Zielsetzungen dieses Ansatzes. Aus den verschiedenen Ansätzen des Aufgabenorientierten Unterrichts werden im Folgenden einige Kriterien herausgearbeitet, die sowohl für die Konzeption als auch für die Beurteilung von Aufgaben im Unterricht herangezogen werden können. Am Beispiel einiger Unterrichtsbeobachtungen, die in mehrsprachigen Klassen durchgeführt wurden, soll exemplarisch gezeigt werden, wie sie als Planungs- und Reflexionsinstrument im Unterricht genützt werden können. Exkurs: Reflexion und Beurteilung von Aufgaben im Unterricht 1. Die Aufgabe ist verständlich formuliert und klar definiert. Nur wenn die Lernenden verstehen, wie eine Aufgabe gemeint ist und welche Anforderungen damit verbunden sind, können sie diese gezielt bearbeiten. 2. Die Zielsetzung der Aufgabe ist transparent. <?page no="174"?> 174 Nur wenn die Lernenden über die Zielsetzung einer Aufgabe genau Bescheid wissen, können sie sich orientieren und die nötigen Schritte setzen, um dieses Ziel zu erreichen. 3. Die Aufgabe erlaubt unterschiedliche Lernresultate. Wenn Lernende die Möglichkeit haben, Lernergebnisse selbständig zu definieren, zu planen und zu verantworten, sind sie meist hoch motiviert, ein gutes Ergebnis zustande zu bringen. 4. Die Aufgabe bietet Wahlmöglichkeiten. Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die Auswahl und die Bearbeitung einer Aufgabe ermöglichen es den Lernenden, eigene Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen einzubringen. 5. Die Aufgabe ist in einen realen Kontext eingebettet. Eine Aufgabe gewinnt an Relevanz, wenn sie eine konkrete Funktion, einen praktischen Nutzen und einen realen Adressaten hat. 260 6. Das Lernresultat ist für andere sichtbar. Die Motivation, ein gutes Lernergebnis zustande zu bringen, steigt, wenn das Ergebnis veröffentlicht wird und für andere zugänglich und bewertbar ist. 261 7. Die Aufgabe ist mit anderen Aufgaben verknüpft. Wenn das Produkt einer Aufgabe als Basis einer weiteren Aufgabe verwendet wird, können größere Lernzusammenhänge erkannt und Erfahrungen mit einer Aufgabe bei der Bearbeitung weiterer Aufgaben genützt werden. Eine Orientierung an diesen Kriterien ist oft bereits mit geringfügigen Veränderungen von Aufgabenstellungen zu erreichen. Dazu ein Beispiel: Bei der Aufgabe „Lest diesen Text” ist nicht klar, worin die Funktion und das Ziel dieser Aufgabe besteht. Warum, für wen und zu welchem Zweck soll der Text gelesen werden? Wenn die Aufgabe hingegen lauten würde „Sucht gemeinsam eine Überschrift für diesen Text”, wäre das Ziel dieser Aufgabe klar, das Lernprodukt könnte selbst bestimmt und die Strategien bei der Bearbeitung der Aufgabe von den Lernenden selbst gewählt werden. Wenn die Aufgabe lauten würde „Schreibt eine Zusammenfassung dieses Textes für eure MitschülerInnen, die diesen Text nicht kennen”, 262 hätte diese Aufgabe nicht nur eine erkennbare Zielsetzung und Funktion, sondern würde auch Wahlmöglichkeiten bei der Bearbeitung erlauben, ebenso verschiedene Lernresultate und das Lernergebnis wäre darüber hinaus für andere zugänglich. 260 Auch die MitschülerInnen in der Klasse können als AdressatInnen eines Textes fungieren: Ihr Feedback kann ein positiver Beitrag zu einer lebendigen Diskussionskultur in der Klasse sein und ihre Fähigkeit schärfen, Lernprodukte kritisch zu bewerten und Kritik auch positiv zu formulieren. 261 Von den ReformpädagogInnen der 30er Jahre stammt die Idee, gemeinsam Gegenstände, z.B. Bücher im Unterricht zu erarbeiten. Dieser Ansatz ist modernen Formen der Projektarbeit ähnlich. 262 Jede Gruppe erhält andere Texte. <?page no="175"?> 175 Im Folgenden werden einige Unterrichtsbeobachtungen anhand dieser Kriterien reflektiert und bewertet. 263 Das erste Beispiel stammt aus einer Unterrichtsstunde im Fach Geschichte, beobachtet in einer mehrsprachigen Klasse einer Hauptschule (6. Schulstufe): Unterrichtsbeispiel 1 Die SchülerInnen arbeiten in Gruppen und sollen sich aus mehreren Texten zum Themenbereich „Olympische Spiele” einen Text aus dem Schulbuch aussuchen. Sie haben die Aufgabe, den Text zu lesen und nach der Lektüre die wichtigsten Informationen zu unterstreichen. Danach sollen sie sich gegenseitig über den Inhalt des Textes informieren. Die meisten SchülerInnen arbeiten nur kurz an dieser Aufgabe, viele beginnen sich bald anderen Dingen zuzuwenden. Manche schlagen das Buch erst gar nicht auf, andere lesen den Text, bearbeiten ihn jedoch nicht. Einige beginnen den Text zu unterstreichen, die Aufmerksamkeit lässt aber bei vielen schon nach kurzer Zeit nach. Die geringe Motivation der SchülerInnen, sich mit dieser Aufgabe auseinander zu setzen, dürfte zunächst an der fehlenden Signifikanz dieser Aufgabe liegen: Anderen Informationen zu geben, über die sie bereits verfügen, macht wenig Sinn. Eine Alternative zu dieser Aufgabe wäre: Man gibt den verschiedenen Gruppen jeweils andere Texte zum selben Thema und fordert die SchülerInnen dazu auf, relevante Textpassagen zu unterstreichen, sich in der Gruppe auf gemeinsame Unterstreichungen zu einigen und schließlich gemeinsam eine Zusammenfassung für eine andere Gruppe zu schreiben, die den wiedergegebenen Text nicht kennt. Auf diese Weise könnten die Lernergebnisse selbst festgelegt werden; es wären ein realer Kontext und ein konkreter Adressatenbezug sowie eine Verknüpfung mehrerer Aufgaben im Sinne der zuvor genannten Kriterien gegeben. Die Zusammenfassungen der Lernenden könnten in Form einer Wandzeitung, eines Plakates oder auf einer Homepage veröffentlicht werden; damit wäre auch das Kriterium der Sichtbarmachung von Lernergebnissen erfüllt. Unterrichtsbeispiel 1 (Fortsetzung) Im Laufe der weiteren Unterrichtsstunde werden die SchülerInnen dazu aufgefordert, die wichtigsten Informationen im Text zu notieren. Anschließend soll je ein Schüler bzw. eine Schülerin in eine andere Gruppe gehen und dort über den Inhalt des gelesenen Textes berichten. Einige SchülerInnen lesen die Stichwörter, die sie sich notiert haben, mehrmals durch, bevor sie die Gruppe wechseln. Beim mündlichen Wiedergeben der Texte sind jedoch nur wenige SchülerInnen in der Lage, sich den anderen gegenüber verständlich auszudrücken. Während die einen ihre Notizen einfach vorlesen, versuchen andere, frei zu sprechen, verlieren dabei aber ständig den Faden. Einige stützen sich auf ihre Notizen, nur wenigen gelingt es aber, den Redefluss aufrecht zu erhalten. Die 263 Diese Unterrichtshospitationen fanden zwischen 2002 und 2004 in verschiedenen Schulen in Graz (Österreich) statt. Die Beobachtungen in bilingualen Klassen sollen dazu dienen, herauszufinden, inwieweit die zugrunde liegenden Unterrichtsmodelle auch für mehrsprachige Klassen relevant sind bzw. der Lernsituation und den Voraussetzungen der SchülerInnen entsprechend adaptiert werden können. <?page no="176"?> 176 meisten beginnen immer wieder von vorne oder geben irgendwann auf. Andere weigern sich von vorneherein, sich auf diese Aufgabe einzulassen - die Anstrengung, die sie erwarten, ist ihnen sichtlich zu groß. Es gab jedoch auch Situationen, die zu positiven Lerneffekten im Rahmen der Bearbeitung dieser Aufgabe führten, etwa, als den SchülerInnen plötzlich bewusst wurde, dass sie nun die ExpertInnen sind, die über ein Wissen verfügen, das die anderen in der Klasse nicht haben. So wurde beispielsweise in einer Gruppe gefragt, ob auch Frauen früher bei den Olympischen Spielen zuschauen durften. Der Schüler, an den diese Frage gerichtet war, konnte diese Frage nicht beantworten, nahm seinen Text jedoch gleich zur Hand und suchte ihn nach den entsprechenden Informationen ab. Als er sie schließlich fand und eine Antwort geben konnte, war er sichtlich stolz. 264 Situationen, in denen die SchülerInnen zu ExpertInnen werden, zählen zu den Schlüsselmomenten im Unterricht, die auf besondere Weise lernwirksam sind. Dazu ein weiteres Beispiel aus derselben Klasse: Unterrichtsbeispiel 2 In der Klasse wird das Thema „Schrift” besprochen. Die Lehrerin führt das Thema ein, indem sie ein Gespräch mit ihren SchülerInnen beginnt. Sie fragt, ob sie wissen, was ein Alphabet ist, wie viele Buchstaben es hat, welche Alphabete sie kennen und in welchen Unterrichtsfächern Alphabete verwendet werden. Die SchülerInnen dieser Klasse, die im Unterricht meist sehr unruhig und unkonzentriert sind, beteiligen sich plötzlich mit großem Interesse. Nachdem die Lehrerin einige Buchstaben aus dem griechischen Alphabet mit ihnen besprochen hat, fragt sie die SchülerInnen, ob sie auch noch andere Buchstaben kennen. Daraufhin meldet sich ein bosnischsprachiger Schüler und schreibt einige Buchstaben aus dem kyrillischen Alphabet auf. Auf die Frage einer Mitschülerin, wie man das ausspricht, demonstriert er, wie die Buchstaben ausgesprochen werden. Daraufhin meldet sich ein albanischer Schüler: Auch er schreibt einige Buchstaben aus seiner Muttersprache an die Tafel und spricht sie den anderen laut vor. Die Stunde endet damit, dass die Lehrerin mit den SchülerInnen vereinbart, dass sie in der nächsten Stunde Bücher in ihrer jeweiligen Mutterprache mitbringen, aus denen sie den anderen vorlesen. Auch in dieser Stunde hat sich das Verhalten der SchülerInnen in jenem Moment ganz plötzlich verändert, als ihnen bewusst wurde, dass sie nun diejenigen sind, die den anderen etwas sagen können, was sie noch nicht wissen. Die anderen sind von diesem Moment an den Ausführungen ihrer MitschülerInnen aufmerksam gefolgt. Eine weitere Unterrichtsstunde wurde im Englischunterricht in einem bilingualen Gymnasium (5. Schulstufe) beobachtet. Es geht um zwei Paare, die die Aufgabe hatten, Überschriften für Texte zu finden: 265 264 Der Lerneffekt, der sich in dieser Situation ergab, bestand auch darin, dass der Schüler den Text noch einmal gelesen und dadurch ein weiteres Mal durchgearbeitet hat. 265 Die Texte waren 10-15 Zeilen lang und behandelten dasselbe Thema. <?page no="177"?> 177 Unterrichtsbeispiel 3 In beiden Gruppen überlegen die Schülerinnen zunächst, wie sie an diese Aufgabe herangehen könnten. Das erste Paar entscheidet sich für eine Aufteilung der Texte und bestimmt, dass jede von ihnen drei Texte liest und dann der anderen erzählt, worum es in diesen Texten geht. Die Schülerinnen vereinbaren, einander zu fragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Jede Schülerin soll sich Überschriften zu ihren Texten überlegen; die andere darf Einwände formulieren. Genommen werden immer nur von beiden akzeptierte Lösungen. Jeder Vorschlag muss begründet werden. („Wenn eine einen Vorschlag für eine Überschrift hat, dann sagt sie der anderen auch, warum sie glaubt, dass das ein guter Vorschlag ist! ”) Die Schülerinnen arbeiten konzentriert und halten sich genau an die anfangs getroffene Vereinbarung: Sie machen einander Vorschläge und begründen, diskutieren und verbessern diese solange, bis sie von beiden für gut befunden werden. Das zweite Paar geht anders vor: Die beiden Schülerinnen entscheiden sich dafür, dieselben Texte zu lesen und einander alternierend Formulierungsvorschläge zu machen. Auch sie vereinbaren, alle Vorschläge solange zu diskutieren, bis sie von beiden akzeptiert sind. Die Arbeit an dieser Aufgabe war in beiden Gruppen durch rege sprach- und inhaltsgerichtete Aktivitäten gekennzeichnet. Die Schülerinnen haben ihr Textverständnis gegenseitig überprüft und ihre Formulierungsvorschläge reflektiert und verändert. In beiden Gruppen schien es für die Schülerinnen sehr motivierend, sich mit ihren Lernpartnerinnen auszutauschen und gemeinsam Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Solche Aufgaben erfüllen die eingangs genannten Kriterien, da die Funktion und das Ziel der Aufgabe klar definiert waren und Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Lernergebnisses bestanden. Möglichkeiten einer Optimierung bestehen im Hinblick auf eine Veröffentlichung der Lernergebnisse, einer Einbettung in reale Kontexte und einer Verknüpfung mit weiteren Aufgaben. Die in diesem Kapitel überblicksartig skizzierten didaktischen Konzepte sind für eine Förderung der Textkompetenz im Unterricht von unterschiedlicher Relevanz. Die Analyse vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Probleme (Kapitel 1.1) hat gezeigt, dass keines dieser Konzepte als Gesamtlösung für diese Probleme geeignet ist - sie sind allesamt nicht darauf ausgerichtet, die Textkompetenz der Lernenden als ein Instrument des Lernens in der Zweitsprache gezielt zu fördern. Dennoch enthalten sie einige Ansätze, die in modifizierter Form genutzt werden können. <?page no="178"?> 178 2 Die Ziele der Literalen Didaktik Die Literale Didaktik setzt an zentralen Problemen des Unterrichts an (Kap. 1.1) und bietet dafür eine umfassende Gesamtlösung. Zunächst werden die Zielsetzungen 266 der Literalen Didaktik formuliert, die neben unterrichtspraktischen und didaktischen Aspekten auch die im ersten Teil dieser Arbeit dargelegten theoretischen Grundlagen berücksichtigen. 2.1 Literale Förderung Literale Förderung ist die übergeordnete Zielsetzung dieses didaktischen Instrumentariums zur Förderung der Textkompetenz. Zweitsprachenlernende sollen dazu befähigt werden, sich in der Welt der Texte zu orientieren und Texte lesen, verstehen, diskutieren, schreiben und als ein Instrument des Lernens nutzen zu können. Die Literale Didaktik setzt an der Basis der Verstehens- und Schreibarbeit an - es sollen grundlegende Strategien und Praktiken im Umgang mit Texten geschult werden, die unabhängig von der Komplexität der Texte, den textsortenspezifischen Merkmalen und den Inhalten der Texte beherrscht werden müssen, um anhand von Texten kommunizieren und lernen zu können. Das Ziel der Literalen Didaktik besteht also nicht darin, Texte zu vereinfachen, sondern sie für Lernende erfassbar und als ein Instrument des Lernens nutzbar zu machen. Der Ausgangspunkt ist dabei nicht nur das, was die Lernenden im Umgang mit Texten können sollen, sondern vor allem das, was sie können. Es wird also nicht einfach vorausgesetzt, dass die Lernenden die für den schulischen Wissenserwerb in der Zweitsprache erforderliche Textkompetenz bereits mitbringen - die Literale Didaktik setzt an der vorhandenen Textkompetenz der Lernenden an und versucht sie im Rahmen individueller Lernmöglichkeiten zu erweitern. Vor dem Hintergrund dieser übergeordneten Zielsetzung sollten für den schulischen Lernkontext 267 detailliertere Lehr- und Lernziele ins Auge gefasst werden. Es geht vor allem darum, die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, • sich im Symbolfeld des Unterrichts zu orientieren, d.h. fachspezifische Informationen im Kontext rein verbal konstituierter Zusammenhänge verstehen und selbst kohärent darstellen zu können; • sich am literalen Diskurs in der Klasse zu beteiligen, d.h. soziokulturell geprägte literale Praktiken im jeweiligen Kontext adäquat verwenden zu können; 266 Die Ziele der Literalen Didaktik wurden bereits in Schmölzer-Eibinger (2007) skizziert. 267 Grundlagen dazu siehe auch Teil I, Kap. 1. <?page no="179"?> 179 • eine schriftsprachlich geprägte Sprache in unterschiedlichen Sprachhandlungssituationen zu verwenden, d.h. mit einer textgeprägten Sprache sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen umgehen zu können; • komplexe fachsprachliche Texte zu verstehen und wiederzugeben, d.h. über vielfältige Strategien des Verstehens und Reproduzierens von komplexen Texten zu verfügen; • strukturierte, zusammenhängende Texte zu schreiben, d.h., über verschiedene Strategien der Herstellung von Textkohärenz und der Gestaltung und Strukturierung von Texten zu verfügen; • das schulisch vermittelte Wissen mit dem eigenen Vorwissen zu einem Thema zu verknüpfen, d.h. Informationen aus Texten nicht bloß reproduzieren, sondern mit eigenen Erfahrungen und Kenntnissen zum Thema verknüpfen zu können; • Texte für das weitere Denken und Lernen zu nutzen, d.h. Texte vor dem Hintergrund eigener Fragestellungen und Hypothesen zu rezipieren, zu interpretieren und zu bewerten und mit anderen Texten zum Thema in Beziehung setzen zu können. Ausgehend von den im ersten Teil dieser Arbeit skizzierten Stadien der literalen Entwicklung (siehe Teil I, Kap. 8) und den Indikatoren für Textkompetenz (siehe Teil I, Kap. 9) geht es darüber hinaus ganz grundsätzlich darum, die Lernenden beim Lesen, Schreiben bzw. Überarbeiten von Texten sukzessive an höherstufige Niveaus ihrer Textkompetenz heranzuführen, d.h. sie dazu zu befähigen, • Texte aus unterschiedlichen Perspektiven und anhand unterschiedlicher Lese- und Schreibstrategien zu bearbeiten und zu gestalten (Perspektivenwechsel und Strategienvielfalt, siehe Teil I, Kap. 9.1); • Wortbedeutungen und Sinnstrukturen im jeweiligen Kontext zu verstehen und beim Schreiben eigener Texte selbst aufzubauen (Bedeutungskonstruktion im Kontext, siehe Teil I, Kap. 9.2); • relevante Informationen in einem Text zu erkennen, mit anderen Informationen zu verknüpfen und beim Schreiben eigener Texte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen (Fokussierung von Kernthemen, siehe Teil I, Kap. 9.3); • ein Thema in einem Text nachvollziehbar zu entwickeln und sprachliche Elemente so zu verknüpfen, dass satzübergreifende Sinnzusammenhänge konstruiert werden können (Themenentfaltung und Textkohärenz, siehe Teil I, Kap. 9.4); • Texte sowohl als Schreibprodukte als auch in Bezug auf den Entstehungsprozess zu reflektieren, zu bewerten und zu optimieren (Veränderungen am Text, siehe Teil I, Kap. 9.5); • Gedanken und Informationen auf sprachlich differenzierte und variantenreiche Weise darzustellen (Sprachliche Variation, siehe Teil I, Kap. 9.6). <?page no="180"?> 180 Durch die Förderung dieser grundlegenden literalen Fähigkeiten sollen jene kognitiven Prozesse angeregt werden, die als besonders lernwirksam gelten können (siehe Teil I, Kap. 5); z.B. das Hypothesenbilden und -testen, das Selektieren, Fokussieren, Abstrahieren und Reorganisieren von Informationen sowie das Erkennen und Herstellen von Textkohärenz. Lernende sollen daher in ihrer Fähigkeit gefördert werden, • Textelemente zu rekonstruieren, zu tilgen, zu ergänzen, neu zu kombinieren bzw. zu erweitern; • relevante Informationen zu erkennen, mit anderen Informationen zu verknüpfen und schlüssig darzustellen; • komplexe Sinnstrukturen in einem Text zu verstehen und in eigenen Texten aufzubauen; • metasprachliche und metakognitive Aktivitäten zu entwickeln und sowohl Texte als auch Textproduktionsprozesse kritisch zu reflektieren. Prozesse des Lesens, Verstehens und Produzierens von Texten werden in den Aufgaben und Verfahren der Literalen Didaktik systematisch aufeinander bezogen und integriert. 268 Es geht also nicht nur darum, Texte zu lesen und zu schreiben, sondern auch über Texte mündlich zu kommunizieren und Textinhalte in eigenen Worten zusammenhängend und verständlich wiederzugeben. Dadurch soll ein flexibles „Pendeln” zwischen mündlich und schriftlich geprägten Sprachgebrauchsweisen geschult werden, um mehr Sicherheit im Bereich jenes Übergangs zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu erlangen, der Lernenden mit geringer Textkompetenz oft große Probleme bereitet. Ausgehend von diesen Zielsetzungen werden aus der Schreibdidaktik jene Verfahren aufgegriffen, die darauf angelegt sind, produktorientiertes mit prozessorientiertem Schreiben zu verknüpfen und die es erlauben, die individuellen Voraussetzungen der Lernenden zu berücksichtigen und soziokulturelle Kontexte miteinzubeziehen (siehe Teil II, Kap. 3.6). Kooperative Schreibaufgaben werden herangezogen, um die spontanen Ideen, Assoziationen und Gedanken sowie die vorhandenen sprachlichen und themenbezogenen Kenntnisse und Kompetenzen der Lernenden zu aktivieren, in der gemeinsamen Arbeit am Text zu bündeln und weiter zu entwickeln sowie Prozesse des Hypothesenbildens, des Fokussierens und des Vergleichens von Informationen in Gang zu setzen bzw. zu intensivieren. Das gemeinsame Schreiben wird somit nicht nur als ein Mittel der Reproduktion, sondern auch als ein Instrument der Generierung von Wissen eingesetzt. Aus dem „literacy-based approach” von Kern (2000) werden vor allem jene Verfahren aufgegriffen, die den Aspekt der Konstruktion und der 268 In traditionellen Fremdsprachencurricula werden die Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Sprechens meist als getrennte Fertigkeiten betrachtet und dementsprechend in linear und sequentiell konzipierten Unterrichtsverfahren geschult (vgl. Kern 2000, 130 f.). <?page no="181"?> 181 Transformation von Bedeutungen fokussieren und die Reflexion auf Sprache und Sprachgebrauch in den Mittelpunkt der Lernaktivitäten stellen. 2.2 Aktives Sprachhandeln Mit den Aufgaben der Literalen Didaktik soll ein aktives sprachliches Handeln in der Arbeit mit Texten angeregt werden. Die Lernenden sollen eigenständige Problemlösungen durch Rückgriffe auf vorhandene Kenntnisse und Kompetenzen entwickeln. 269 Durch aktives sprachliches Handeln wird den Lernenden auch die Differenz zwischen dem, was sie sagen möchten und dem, was sie sagen können, vielfach bewusst. „Output promotes noticing” - die Wahrnehmung dieser Kluft ist eine starke Triebfeder des Spracherwerbs (Swain 1998, 66 ff.): 270 By noticing the gaps between their own and others’ interpretations of texts, by noticing the gaps between their own and others’ writing on a given topic, language students learn to become more aware of the linguistic, rhetorical, and cognitive options available to them as readers and writers. (Kern 2000, 61) Didaktische Konzepte, die sich an der Output-Hypothese orientieren, sind von vorneherein an die Kenntnisse und Kompetenzen der Lernenden angepasst - der aktuelle Wissens- und Könnensstand der Lernenden ist der Ausgangspunkt aller sprachlichen Handlungen. Aktives Sprachhandeln im Unterricht wirkt sich positiv auf die Leistungen der Lernenden im Bereich des Verstehens und der Sprachproduktion aus (vgl. Chaudron 1988, 99; Swain 1998, 69). Es führt jedoch nicht nur zu positiven Effekten auf das Sprachlernen, sondern auch auf das Sachlernen; Bedeutungen müssen beim gemeinsamen Problemlösen aktiv konstruiert und Verstehensprobleme ad hoc gelöst werden. Um inhaltliche Probleme in der Arbeit an Texten lösen zu können, müssen die Lernenden ihre vorhandenen themenbezogenen Kenntnisse im Moment des sprachlichen Handelns mobilisieren und ein- 269 Um den Lernenden genügend Raum für aktives sprachliches Handeln zu geben, sollen Lehrende so weit als möglich aus dem Unterrichtsgeschehen zurücktreten und den Lernprozess eher moderieren und begleiten als bis ins letzte Detail planen und steuern. 270 Die Output-Hypothese von Swain beruht auf der Einsicht, dass Input in naturalistischen Lernumgebungen oft nicht ausreicht, um eine differenzierte grammatische Kompetenz zu entwickeln. Erst wenn Lernende den Input bewusst wahrnehmen, werden Lernprozesse in Gang gesetzt, die es ermöglichen, komplexe zielsprachliche Formen auszubilden (vgl. Schulz 2006, 14). Swain (1995, 128) nennt in diesem Zusammenhang drei relevante Funktionen für die Sprachproduktion: 1. noticing/ triggering: durch die eigene Sprachproduktion werden die Lernenden auf Probleme und Defizite aufmerksam; 2. hypothesis-testing: Lernende erproben und testen eigene Sprachkenntnisse; 3. metalinguistic awareness: die Sprachproduktion regt zu metasprachlichen Aktivitäten, zur Reflexion und Analyse an (vgl. Schulz 2006, 16). Von der spracherwerbsrelevanten Bedeutung des Bemerkens einer Lücke („noticing the gap”) ist bereits bei Schmidt (1990) die Rede. <?page no="182"?> 182 setzen. Gleichzeitig erwerben sie voneinander und durch den Input im Unterricht neue thematische Kenntnisse, die ihr Wissen erweitern. Die Bedeutung des aktiven Sprachhandelns für das Sprachlernen wird sowohl im Aufgabenorientierten Unterricht als auch in der Konstruktivistischen Didaktik, im literacy-based approach von Kern (2000) und in der prozessorientierten Schreibdidaktik betont. Aus der Schreibdidaktik werden in der Literalen Didaktik vor allem jene Verfahren aufgenommen, die den Aspekt des aktiven Sprachhandelns im Prozess des kooperativen Schreibens betonen. Die Lernenden müssen sich im Rahmen dieser Aufgaben intensiv mit dem sprachlichen Input anderer befassen und selbst verständlichen Output produzieren - sie müssen einander ihre Schreibideen mitteilen, sie begründen und diskutieren, bevor sie sie zu Papier bringen. Sie sind dabei gefordert, über die Formulierungsvorschläge der anderen nachzudenken, sie zu überprüfen und zu bewerten und selbst Alternativen zu finden. Kooperatives Schreiben ist daher auf besondere Weise dazu geeignet, Lernende zum aktiven Sprachhandeln anzuregen (vgl. Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 12). Die Förderung des aktiven, auf die Situation des Unterrichts bezogenen sprachlichen Handelns ist in allen Phasen und Aufgaben der Literalen Didaktik eine zentrale Zielsetzung - die Lernenden sind mit jeder Aufgabenstellung gefordert, die Zweitsprache aktiv, situations- und kontextadäquat zu verwenden. Sie müssen die Probleme, die durch die Aufgaben aufgeworfen werden, selbständig und mit Rückgriff auf ihre vorhandenen Sprach- und Sachkenntnisse sowie auf den Input, den sie im Unterricht erhalten, lösen, Bedeutungen in der Diskussion mit anderen aushandeln und Strategien im Umgang mit Texten selbständig entwickeln und erproben. 271 2.3 Individuelle Wissenskonstruktion Jede Form des Wissenserwerbs beruht auf Prozessen der aktiven, individuellen Konstruktion von Wissen, in dem das vorhandene Wissen der Lernenden mit neuem Wissen verknüpft wird (vgl. Müller 1996a, 51, 62). Mit den Aufgaben der Literalen Didaktik sollen die Lernenden dazu angeregt werden, das im Unterricht erhaltene Wissen nicht bloß zu reproduzieren, sondern im Rahmen kreativer und selbst verantworteter Lernprozesse aufzubauen. Die Aufgaben sind daher so angelegt, dass die Lernenden das aus den Texten gewonnene Wissen nicht bloß wiedergeben, sondern subjektiv bewerten, interpretieren, selektieren und mit den bereits vorhandenen Er- 271 Studien in mehrsprachigen Klassen haben ergeben, dass es unterschiedliche kulturelle Erwartungen im Bezug auf die aktive Beteiligung im Unterricht gibt: So hat es sich etwa gezeigt, dass z.B. Afrikaner oder Hispanics dazu tendieren, im Unterricht weniger direkt die Initiative zu ergreifen als andere ethnische Gruppen (vgl. Chaudron 1988, 105). Diese kulturspezifischen Verhaltensweisen sind im Unterricht zu berücksichtigen; sie können ein Grund dafür sein, warum der Raum, der den Lernenden zur Verfügung gestellt wird, nicht in der erwarteten Weise genützt werden kann. <?page no="183"?> 183 fahrungen und Kenntnissen zum jeweiligen Thema verknüpfen müssen. Auf diese Weise werden sie dazu angeregt, selbst jenes Wissen zu mobilisieren, das sie brauchen, um Inhalte selbständig zu erschließen und zu verarbeiten. Sie sollen eigenständige Problemlösungen entwickeln und effiziente Strategien im Umgang mit Texten selbst erkennen und gezielt einsetzen. Auf diese Weise sollen flexible Wissensstrukturen aufgebaut werden, die in verschiedenen Lernkontexten verfügbar sind. Aufgaben, die die individuelle Konstruktion von Wissen im Unterricht fördern, sind sowohl in prozessorientierten Ansätzen der Schreibdidaktik als auch in der Konstruktivistischen Didaktik und im literacy-based approach von Kern (2000) zu finden. In der Literalen Didaktik werden vor allem jene Verfahren berücksichtigt, die die Rolle der aktiven Bedeutungskonstruktion, der Transformation von Wissen und die kritische Reflexion von Sprache und Sprachgebrauch in der Arbeit an Texten betonen. Ausgehend davon, dass das vorhandene Wissen der Lernenden ein wesentliches Fundament der Aufnahme und Verarbeitung von neuem Wissen darstellt, wird der Aktivierung des Lernerwissens in der Literalen Didaktik eine besondere Rolle zugesprochen. Die Lernenden sollen mit bestimmten Aufgabenstellungen dazu angeregt werden, ihr vorhandenes Wissen zu einem Thema aufzurufen und ihre persönlichen Erfahrungen, Kenntnisse und Emotionen in den Lernprozess einfließen zu lassen und das im Unterricht vermittelte Wissen mit den eigenen Kenntnissen und Erfahrungen zu verknüpfen und selbständig anzuwenden. 2.4 Integrierter Sprach- und Wissenserwerb In den letzten Jahren wurden zahlreiche Modelle eines sprach- und inhaltsintegrierten Fremdsprachenlernens entwickelt (Content and Language Integrated Learning = CLIL), 272 die darauf abzielen, die fremdsprachliche Kompetenz der Lernenden durch die Verwendung einer Fremdsprache als Arbeitssprache in den Sachfächern zu erweitern. 273 Viel Input in der Zweit- 272 Das ist die derzeit gebräuchlichste Bezeichnung für sprach- und inhaltsintegrierende Lernkonzepte in der Fremdsprachendidaktik, als Synonym kann zum Beispiel der Begriff Content-Based Language Teaching verwendet werden. 273 Die Situation der Immersion ist dadurch gekennzeichnet, dass Lernende in die Fremdsprache wie in ein Sprachbad „eintauchen”. Die LehrerInnen beherrschen die Erstsprache der Lernenden und die im Unterricht verwendete Fremdsprache. Lernende, die solche Modelle durchlaufen, erreichen rezeptiv meist fast ein muttersprachliches Niveau, im Bereich der produktiven Sprachfähigkeiten bestehen jedoch häufig Defizite im Bezug auf die sprachliche Präzision bzw. die Verwendung komplexerer Sprachformen (vgl. Doughty/ Williams 1998a, 7). SchülerInnen mit Migrationshintergrund sind demgegenüber gezwungen, in allen Fächern in der fremden Sprache zu lernen. Die Unterrichtenden beherrschen die Muttersprachen ihrer SchülerInnen meist nicht und sind daher auch nicht in der Lage, ihre Lernprobleme immer gleich zu erkennen. <?page no="184"?> 184 sprache ist jedoch meist nicht ausreichend, um die komplexen sprachlichen Anforderungen im Unterricht zu bewältigen; die geforderten schriftsprachlichen Kompetenzen stellen sich nicht „beiläufig” ein, sondern müssen vielmehr gezielt aufgebaut werden. In der Literalen Didaktik geht es daher nicht primär um die Frage, wie Inhalte als Vehikel für den Spracherwerb genutzt werden können, sondern vielmehr darum, wie Lernende dabei unterstützt werden können, die Zweitsprache zur Bewältigung komplexer schriftsprachlicher Anforderungen im Unterricht einzusetzen. Von Interesse sind daher nicht nur Ansätze eines inhalts- und „input”-orientierten Fremdsprachenlernens, sondern auch Konzepte, die den Fokus auf Inhalte (focus on content) durch einen Fokus auf Sprache ergänzen. Das ist etwa der Focus-on-Form-Ansatz 274 (Doughty/ Williams 1998b), in dem Lernende durch eine bestimmte Art der Aufgabenstellung dazu angeregt werden, sich auf die Form, die Bedeutung und den Gebrauch von Sprache zu konzentrieren und selbst jene Probleme zu erkennen und zu lösen, die in der Sprachproduktion auftauchen (vgl. Long/ Robinson 1998, 23). Weiters werden Aufgaben aus dem literacy-based approach von Kern (2000) und dem Aufgabenorientierten Unterricht aufgenommen, in denen die Aufmerksamkeit der Lernenden sowohl auf die Sprache als auch auf die Inhalte gelenkt wird. Aus der Schreibdidaktik werden jene Verfahren genutzt, in denen sowohl die sprachliche Präzision, Explizitheit und Kohärenz von Texten als auch die Prozesse des Schreibens eine Rolle spielen. Diese Ausführungen haben gezeigt, dass die Zielsetzungen der Literalen Didaktik unmittelbar auf die eingangs skizzierten Probleme (Kap. 1.1) bezogen sind. Im Folgenden wird dargelegt, wie sie für konkrete Handlungsanweisungen genutzt werden können. Zunächst werden die didaktischen Prinzipien zur Förderung von Textkompetenz vorgestellt, die dem 3-Phasen- Modell (Kap. 4) und der Aufgabentypologie zur Förderung von Textkompetenz (Kap. 5) zugrunde liegen. Dabei werden alle bisher skizzierten, relevanten theoretischen und didaktischen Grundlagen berücksichtigt und zusammengeführt. Sie sollen zeigen, wie die Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden gezielt gefördert und ein effizienter Wissens- und Spracherwerb im Unterricht in mehrsprachigen Klassen ermöglicht werden kann. Zweitsprachenlernende geraten daher nicht selten in eine Situation der Submersion, in der sie Gefahr laufen, im „Sprachbad” unterzugehen (vgl. Sarter 1991). 274 Der Begriff „Form” ist im Focus-on-Form-Ansatz weit gefasst und bezieht sich auf alle Ebenen des Sprachsystems, also auch auf Prinzipien, Normen und Konventionen des schriftsprachlichen Sprachgebrauchs (vgl. Doughty/ Williams 1998b, 212). <?page no="185"?> 185 3 Die Prinzipien der Literalen Didaktik Die Prinzipien der Literalen Didaktik sind eine zentrale Grundlage für das 3- Phasen-Modell zur Förderung von Textkompetenz (siehe Teil II, Kap. 4) und die darauf aufbauende Aufgabentypologie (siehe Teil II, Kap. 5). 275 Es handelt sich dabei nicht um allgemeine didaktische Prinzipien im Sinne von Grundorientierungen für das Handeln im Unterricht, sondern um spezifische Prinzipien, die als Leitlinien für die Konzeption von Aufgaben und Verfahren gedacht sind, die gezielt auf eine Förderung der Textkompetenz von Zweitsprachenlernenden abheben. Grundsätzlich sind nicht nur einzelne, sondern immer alle der im Folgenden genannten Prinzipien zu berücksichtigen. 3.1 Integriertes Sprach- und Sachlernen Durch ein integriertes Sprach- und Sachlernen werden nicht nur die Lerngegenstände leichter zugänglich, auch die Zweitsprache wird schneller und effektiver erworben (vgl. Genesee 1994, 2). Dieses Prinzip erfordert Aufgaben, die die Aufmerksamkeit der Lernenden sowohl auf Sprache als auch auf Inhalte lenken. In der Schule kann ein integriertes Sprach- und Sachlernen etwa schon dadurch angeregt werden, dass die Beschäftigung mit einem Thema gleichzeitig in mehreren Fächern erfolgt. Auf diese Weise wird es für die SchülerInnen aus verschiedenen, fachspezifischen Perspektiven erfahrbar; die wichtigsten Inhalte und sprachlichen Mittel werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet und dadurch mehrfach verarbeitet. 276 Eine Integration des Sprach- und Sachlernens wird etwa auch durch eine Bearbeitung von Sachthemen im Sprachunterricht angeregt bzw. dadurch, dass im Sachunterricht eine gezielte Spracharbeit erfolgt. Dies erfordert den Einsatz von sprachlernfördernden Aufgaben bzw. Textsorten, die sonst eher dem Sprachunterricht vorbehalten sind. So können etwa Erzählungen im Sachunterricht subjektive Perspektiven auf ein Thema eröffnen, neue thematische Zusammenhänge aufzeigen bzw. mitunter auch zeigen, wie sich eine Fülle von Gedanken, Ideen und Emotionen in einem Text „bändigen” lässt. 275 Diese Prinzipien wurden bereits in Schmölzer-Eibinger (2005a, b; 2007) skizziert. 276 In den Niederlanden wurden Materialien für einen sprachfächerübergreifenden Unterricht entwickelt (z.B. „TRIAS” und „Taalplan Kleuters”), in denen Themen zunächst in der Erstsprache und dann in der Zweitsprache behandelt werden. Dabei konnten deutliche Lerneffekte sowohl im Bezug auf das Lesen als auch auf die Wortschatzentwicklung festgestellt werden (vgl. Reich/ Roth 2002, 38). Auch in Österreich wurden fächerübergreifende Projekte entwickelt, in denen eine Integration des Sachlernens mit dem Sprachlernen und eine Vernetzung des Herkunftsmit dem Zweitsprachenunterricht angestrebt wurden. Eine wissenschaftliche Evaluation dieser Projekte steht bislang aus. <?page no="186"?> 186 Umgekehrt können auch im Sprachunterricht Textsorten eingesetzt werden, die sonst eher dem Sachunterricht vorbehalten sind, z.B. funktionale Texte wie etwa Anleitungen. Sie können in ihren textsortenspezifischen Merkmalen analysiert und im Hinblick auf ihre Funktionalität erprobt werden - etwa indem die SchülerInnen selbst Anleitungen für Experimente oder die Bedienung von Geräten verfassen, die von ihren MitschülerInnen ausgeführt werden. Anhand von Sachtexten lässt sich im Sprachunterricht darüber hinaus exemplarisch zeigen, wie Informationen in einem Text explizit, verständlich und kohärent darstellbar sind. Als besonders geeignete Aufgabenform für ein integriertes Sprach- und Sachlernen erweist sich das kooperative Schreiben: Beim gemeinsamen Schreiben entwickeln die Lernenden Problemlösefähigkeiten (vgl. Kenyon 1989), 277 die es erlauben, neues Wissen auch in komplexen Domänen des Sachunterrichts zu erwerben (vgl. Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 20). 278 This approach modified the students’ attitude toward learning science concepts because they recognised that the construction of plausible and shareable explanations of scientific phenomena through collaborative writing is of greater value than giving the right answer. Obliged to discuss what to write in a report, the students had to express their ideas more clearly and continuously negotiate meanings. Engaged in a process of meaningful learning, they constructed their own understanding of scientific concepts. (Tynjäla/ Mason/ Lonka 2001, 16 über die Studie von Keys 1994) Schreibaufgaben wirken sich nicht nur positiv auf den Wissenserwerb in Sachfächern wie Geschichte, Biologie oder Geographie aus, sondern auch auf das mathematische Lernen (Rose 1989): Writing down mathematical concepts, processes, and applications in order to inform, explain or report invites students to record their understanding through written language, a process that also improves fluency [...] Writing in the mathematics classroom allows students to proceed at their own rate, using their own experiences and language; increases writing fluency; combats passivity; facilitates personal engagement in learning; provides the teacher with a unique diagnostic tool; keeps a record of students individual travel through their mathematical experiences; and promotes a caring and cooperative atmosphere through writing interaction. Also, as students write expressively to learn mathematics, their writing becomes the transactional record or expression of that process of acquisition. (Rose 1989, 17 ff.) 277 Der Zusammenhang zwischen Problemlösefähigkeiten in den Sachfächern, den Schreibfähigkeiten und dem Migrationshintergrund der Lernenden wurde bislang nicht untersucht. Nach Gogolin et al. (2004) sind jedoch SchülerInnen, die über gute schriftsprachliche Kompetenzen verfügen, eher in der Lage, lösungsorientierte Ansätze zu formulieren. Problemlösefähigkeiten korrelieren mit der Textkompetenz, nicht jedoch mit den allgemeinen Sprachfähigkeiten der Lernenden (vgl. Meixner 2001, 151). 278 Das zeigt sich nach Tynjälä/ Mason/ Lonka (2001, 98) vor allem im Hinblick auf Unterrichtssituationen, in denen es darum geht, neue Themen zu verstehen, Informationen zu bewerten, Zweifel auszudrücken oder veränderte Standpunkte klarzulegen. <?page no="187"?> 187 Als unterrichtsorganisatorischer Rahmen für die Umsetzung des Prinzips integriertes Sprach- und Sachlernen bietet sich ein fächerübergreifendes Sprachcurriculum an. In mehrsprachigen Klassen ist damit die Notwendigkeit einer Koordination des muttersprachlichen und des herkunftssprachlichen Unterrichts verbunden: Unterrichtsaktivitäten von MuttersprachenlehrerInnen und RegellehrerInnen sind aufeinander abzustimmen; im Idealfall sind Themen und Texte sowohl in der Erstsprache als auch in der Zweitsprache der Lernenden zu bearbeiten. Ein integriertes Sprach- und Sachlernen erfordert darüber hinaus auch ein neues Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer: SachlehrerInnen sollten sich immer auch als SprachlehrerInnen begreifen und SprachlehrerInnen sollten sich mitverantwortlich für die Vermittlung von Sachwissen fühlen. Liegt die Aufmerksamkeit der LehrerInnen im Sachunterricht nicht nur auf den Inhalten, sondern auch auf der Sprache, werden Themen und Texte in der Regel von vorneherein anders - nämlich auch im Hinblick auf sprachliche Anforderungen ausgewählt und bearbeitet. 3.2 Authentische Sprachpraxis Mit authentischer Sprachpraxis ist gemeint, dass die Lernenden im Unterricht aktiv sprachlich handeln und die Unterrichtssprache situations-, themen- und aufgabenbezogen verwenden. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie bereit und in der Lage sind, sich für die Lösung einer Aufgabe zu engagieren und im Prozess des Problemlösens miteinander zu interagieren. Diese Situation entsteht im Unterricht meist vor allem dann, wenn die Lernenden mit relevanten Problemstellungen bzw. mit Fragen konfrontiert sind, deren Antworten nicht schon vorformuliert, sondern tatsächlich erst zu finden sind. Das folgende Beispiel zeigt, wie sich das Verhalten von SchülerInnen ganz plötzlich verändern kann, wenn sie zu Expertinnen und Experten im Unterricht werden: 279 Unterrichtsbeispiel Den SchülerInnen werden Wörter und Wendungen aus dem Themenbereich „Wasser” 280 erklärt. Es wird ihnen gesagt, dass die aus England stammende Lehrerin kein Deutsch versteht. Eine Gruppe von sechs SchülerInnen steht mit der Lehrerin im Kreis, jede/ r hat eine Wörterliste vor sich, es wird Wort für Wort besprochen. Die SchülerInnen kommen der Reihe nach dran, sie versuchen die Wörter in der Fremdsprache zu erklären oder in die Muttersprache zu übersetzen. Dort, wo das nicht gelingt, werden sie von der Lehrerin unterstützt. Die Schüler- Innen arbeiten aufmerksam und konzentriert, jedoch ohne großes Interesse. Sie 279 Diese Unterrichtsbeobachtung fand 2002 in der fünften Schulstufe eines bilingualen Gymnasiums statt. 280 Dieses Thema stand im Mittelpunkt eines dreiwöchigen, fächerübergreifenden Projekts, das in den Fächern Englisch, Biologie und Geographie durchgeführt wurde. <?page no="188"?> 188 scheinen zu ahnen, dass die Lehrerin die Wörter, die sie besprechen, sehr wohl auch auf Deutsch versteht. Eine plötzliche Wendung tritt ein, als die Lehrerin ein Wort auf Deutsch tatsächlich nicht kennt und versucht, dessen Bedeutung zu erraten: Sie strengt sich sichtlich an, eine angemessene Übersetzung zu finden, schaut die SchülerInnen dabei immer wieder fragend an, kommt jedoch zu keiner zufrieden stellenden Lösung. Sie wendet sich den SchülerInnen nun sehr aufmerksam zu und nimmt sie sichtlich auf andere Weise, nämlich als Expertinnen und Experten, wahr. Für die SchülerInnen ist sofort klar, dass es sich nun um eine echte Frage der Lehrerin handelt und sie nun tatsächlich ein Wissensdefizit hat, das es zu beheben gilt. Die Lernenden sind nun äußerst motiviert und bemühen sich mit vereinten Kräften, das Problem der Lehrerin zu lösen und ihr die Wörter anhand unterschiedlicher Strategien zu erklären. Es entsteht eine angeregte Diskussion, an der sich alle in der Gruppe rege beteiligen. Die Kommunikationssituation hat sich in dieser Unterrichtsstunde durch das Wissensdefizit der Lehrerin ganz plötzlich verändert - nun sind die SchülerInnen diejenigen, die der Lehrerin etwas zu sagen haben. Diese Situation hat angeregte Sprachlernaktivitäten entstehen lassen, die maßgeblich auf die Intitiative der SchülerInnen zurückgehen. Eine authentische Sprachpraxis kann durch kooperative Aufgaben auf besondere Weise angeregt werden - um zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, müssen die Lernenden ihr vorhandenes Wissen aufrufen, austauschen und diskutieren (vgl. Wolff 2002, 324). 281 [The classroom] can become the meeting-place for realistically motivated communication-as-learning, communication about learning, and metacommunication. It can be a forum where knowledge may be jointly offered and sought, reflected upon, and acted upon. (Breen/ Candlin 1980, 98) Problemlöseaktivitäten im Rahmen kooperativer Aufgaben sind daher immer mit Interaktion, also mit aktiven sprachlichen Handlungen verbunden. Sie regen metasprachliche und metakognitive Aktivitäten an, die es den Lernenden ermöglichen, Beziehungen zwischen Formen und Funktionen von Sprache im jeweiligen Kontext selbst zu erkennen und zu reflektieren (vgl. Swain 1998, 67 ff.). 3.3 Sprachaufmerksamkeit und -reflexion Sprachaufmerksamkeit bewirkt nicht nur einen bewussten und reflektierten Umgang mit Sprache, sondern auch ein Nachdenken über Inhalte. Sprachaufmerksamkeit treibt nicht nur den Spracherwerb, sondern auch den Wissenserwerb entscheidend voran (vgl. Kern 2000, 320). Sie entsteht im 281 Kooperation ist nach Vygotsky (1978) eine Möglichkeit für Lernende, von anderen zu profitieren, die bereits über besser entwickelte Fähigkeiten und Kenntnisse als sie selbst verfügen. Vygotsky (1978) spricht in diesem Zusammenhang von der „zone of proximal development“, die durch die Zusammenarbeit mit kompetenteren LernpartnerInnen erreicht werden kann (s. Kap. 1.2.3.1). <?page no="189"?> 189 Unterricht vor allem dann, wenn es gelingt, dass die Lernenden die Aufmerksamkeit auf das eigene sprachliche Handeln oder auf das der anderen lenken und die Probleme, Bedingungen und Strategien gelingender Spracharbeit erkennen und reflektieren. 282 Wenn die Lernenden etwa bemerken, dass sie eine Textpassage nicht ganz verstehen oder etwas nicht so ausdrücken können wie sie möchten, rückt dieses Problem ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit und die Beziehungen zwischen Wörtern, Sätzen, Strukturen und Bedeutungen werden zum Thema. Dieses Bewusstwerden ist eine Bedingung dafür, dass die wahrgenommenen sprachlichen Phänomene in ihrer Bedeutung und Funktion adäquat eingeschätzt und verstanden werden können (vgl. Portmann-Tselikas 2001c, 19). Das Schreiben spielt auch in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle. Es ist laut Vygotsky (1986) eine bewusstere und gleichzeitig auch eine stärker bewusst machende Aktivität als das Sprechen (vgl. Wolff 2002, 381) - beim Schreiben wird das eigene sprachliche Handeln und Denken zum Gegenstand von Reflexion. 3.4 Integrierte Fertigkeiten Eine Integration der Fertigkeiten ist im Unterricht gegeben, wenn es gelingt, Lese-, Sprech- und Schreibaktivitäten in eine enge Verbindung zu bringen. Aufgaben, in denen nicht nur gelesen oder geschrieben, sondern gelesen, geschrieben und über Texte gesprochen wird, ermöglichen es, die Textkompetenz der Lernenden nicht nur im Schriftlichen, sondern auch im Mündlichen voranzutreiben (vgl. Daiute et al. 1993; Kern/ Schultz 2005, 384). Sind verschiedene Fertigkeiten bei der Bearbeitung einer Aufgabe im Spiel, so müssen sowohl Inhalte als auch Formulierungen immer wieder neu überprüft und angepasst werden. Dabei entstehen zahlreiche metasprachliche und metakognitive Aktivitäten, die sich auf das Sprach- und auf das Sachlernen positiv auswirken. Effective participation in a verbal debate or formal discussion demands „literate” speech, whereas writing and engaging narrative often involves conveying an „orate” tone of personal involvement. The ability to write well cannot be learned without reading. Moreover, writing demands some understanding of readers and how they will likely read the text. By the same token, sensitive, analytic reading may require a „writer’s eye”. (Kern 2004, 5) Eine Integration der Fertigkeiten ermöglicht vielfach auch einen Transfer von Textkompetenz zwischen den einzelnen Fertigkeitsbereichen. Lernende, die in der Lage sind, Inhalte im Schriftlichen kohärent darzustellen, bilden diese Fähigkeit meist auch im Mündlichen rasch aus (vgl. Portmann 1991, 269 f.). 282 Schmidt (1990) hat den Begriff des „noticing” geprägt, der in der Lernersprachforschung seither weithin verwendet wird. <?page no="190"?> 190 Kooperatives Schreiben ist auch in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Beim gemeinsamen Schreiben muss ein Text mehrfach gelesen, kommentiert, bewertet und überarbeitet werden, Formulierungen müssen begründet und in der Gruppe durchgesetzt werden - dabei kommen sowohl die rezeptiven Fertigkeiten des Lesens und Hörens als auch die produktiven Fertigkeiten des Sprechens und Schreibens ins Spiel. 3.5 Kooperation Spracherwerb und Sachlernen vollziehen sich in kooperativen Aufgaben immer im Rahmen situativer, kontextualisierter Interaktion (vgl. Bruner 1983). Die soziale Interaktion im Rahmen von kooperativen Aufgaben fördert die sprachliche und kognitive Entwicklung mehr als das rein individuelle Lernen (vgl. Zydatiß 2005, 159). Lernende können ihr Potential in kooperativen Lernaufgaben daher meist besser entfalten als in Aufgaben, in denen sie ganz auf sich alleine gestellt sind (vgl. Rulon/ McCreary 1986; Chaudron 1988, 108; Verhoeven 1997, 228). 283 Whether in monolingual or multilingual classrooms, equal outcomes for all children can be maximized, regardless of their cultural and linguistic background, by providing collaborative learning opportunities that integrate a wide range of uses of oral and written language. For the success with which children engage in literate thinking depends less on their competence in the specific language or languages they know than on the ways in which they use their linguistic resources to come to know and to communicate their understanding with others. Where learning is conceptualized in this way, children develop their thinking and their language as well. (Wells/ Chang/ Maher 1990, 119 f.) In Gruppenarbeiten fühlen sich Lernende meist mehr für das Lernergebnis verantwortlich als dies in Einzelarbeiten der Fall ist und sind vielfach auch eher bereit, sich im Unterricht aktiv zu beteiligen (vgl. Murray 1994, 67; Wolff 2002, 364). Lernende ergreifen in kooperativen Arbeiten häufiger die Initiative, stellen mehr Fragen und beziehen öfters Stellung als dies sonst im Unterricht meist der Fall ist (vgl. Daiute et al. 1993, 56). Fehler bekommen dadurch ein anderes Gewicht und werden durch die Beiträge der anderen vielfach relativiert. Zweitsprachenlernende haben in Gruppenarbeiten meist weniger Hemmungen, sich in der Zweitsprache zu äußern und ihre Probleme im Umgang mit Texten zu artikulieren - es beteiligen sich daher oft auch jene, die sonst eher zurückhaltend sind, weil sie fürchten, Fehler zu machen. 284 283 In Klassen, in denen gezielt kooperative Aufgaben durchgeführt werden, erbringen SchülerInnen bessere Lernergebnisse als in Klassen mit traditionell lehrergesteuertem Unterricht (vgl. Slavin 1977; Slavin/ Oickle 1981; Lucker et al. 1976; Slavin 2001). 284 Zweitsprachenlernende profitieren von kooperativen Aufgaben vor allem dann, wenn sie mit Muttersprachigen zusammenarbeiten (vgl. Mohr 2005, 20). So konnte etwa Fisher (1994, 161 f.) feststellen, dass in Gruppen, in denen bessere SchülerInnen mit <?page no="191"?> 191 3.6 Fokus auf Schreiben Schreibaufgaben sind stets bedeutungsbezogen, problemorientiert und kontextualisiert und daher auf besondere Weise dazu geeignet, die Textkompetenz der Lernenden zu fördern. 285 Dies gilt vor allem für Schreibaufgaben, die eine Integration des prozess- und produktorientierten Schreibens im Rahmen von kooperativen Lernaktivitäten gewährleisten. Beim kooperativen Schreiben wird die Fähigkeit der Lernenden geschult, einen Text gemeinsam zu planen, zu reflektieren, zu bewerten und solange zu optimieren, bis das Schreibziel erreicht ist. Dabei müssen die Schreibenden immer wieder auf Distanz zum eigenen Text gehen und ihn aus der Perspektive von Lesenden betrachten. Dieses Pendeln zwischen der Autor- und der Leserperspektive ermöglicht es ihnen, die kommunikative Struktur ihres Textes sukzessive zu verbessern (vgl. Feilke 1993, 29 f.). Auch Inhalte werden im Prozess des gemeinsamen Schreibens mehrfach durchdacht und dadurch meist tiefer verarbeitet und besser verstanden (vgl. Connolly 1989, 3). 286 Kooperatives Schreiben stimuliert Lernende vielfach über die gemeinsame Bearbeitung einer Aufgabe hinaus. Eine positive Einstellung beim kooperativen Schreiben wirkt sich nicht nur günstig auf die Schreibresultate, sondern auch auf das Schreibverhalten in individuellen Schreibaktivitäten aus (vgl. Daiute et al. 1993, 60). 287 Es trägt darüber hinaus vielfach dazu bei, die sozialen Kontakte im Unterricht zu verbessern. So konnte etwa Slavin (2001, 631) nachweisen, dass freundschaftliche Beziehungen zwischen SchülerInnen unterschiedlicher Herkunft intensiviert wurden, wenn sie im Unterricht regelmäßig gemeinsam Texte verfassten - es entstanden nicht nur häufigere, sondern auch engere und länger andauernde Freundschaften als in Klassen, in denen nicht oder nur wenig gemeinsam geschrieben wurde. 288 schlechteren SchülerInnen zusammenarbeiteten, mehr gesprochen wurde als in leistungshomogenen Gruppen - sie haben häufiger geantwortet, öfters Erklärungen gegeben und häufiger selbst Vorschläge gemacht. Unter den homogenen Gruppen kam es bei den Leistungsstarken zu mehr Interaktion als bei den Leistungsschwachen. 285 Faistauer (1997, 10) hat als eine der ersten explizit darauf hingewiesen, dass kooperatives Schreiben zu Lerneffekten auf allen Ebenen der Textproduktion führt (vgl. Faistauer 1997, 10, 25). 286 Eine Auswertung von Interviews unter GymnasiallehrerInnen ergab, dass sich Zweitsprachenlernende mit der Überarbeitung eigener Texte meist sehr schwer tun. Mohr (vgl. 2005, 15) plädiert daher dafür, Textrevisionsstrategien als einen zentralen Lernbereich im Unterricht zu verankern. 287 Dies ist das Ergebnis einer Studie von Daiute et al. (1993, 60), die ein Jahr lang unter 9bis 10-jährigen SchülerInnen durchgeführt wurde. 288 Zu diesem Ergebnis kamen auch schon frühe Studien, die in den 50er Jahren (vgl. Allport 1953) und später in den 70er Jahren (vgl. Edwards/ DeVries/ Slavin 1978) bzw. in den 80er Jahren (vgl. Cooper et al. 1980) durchgeführt wurden. <?page no="192"?> 192 4 Das 3-Phasen-Modell zur Förderung von Textkompetenz Das 3-Phasen-Modell zur Förderung von Textkompetenz 289 ist ein flexibel einsetzbares didaktisches Instrumentarium, das es ermöglicht, die Textkompetenz der Lernenden im Unterricht gezielt zu fördern. Die in diesem Modell vorgeschlagenen Aufgaben und Verfahren können Lernende dabei unterstützen, die schriftsprachlichen Anforderungen im rezeptiven und produktiven Umgang mit Texten zu bewältigen und Texte verstehen, verarbeiten, verfassen und als ein Instrument des Lernens im Unterricht nutzen zu können. Das Modell umfasst die Phase der Wissensaktivierung (Kap. 4.1), die Phase der Arbeit an Texten (Kap. 4.2) und die Phase der Texttransformation (Kap. 4.3). Diese Phasen sind eng aufeinander bezogen und ergeben einen Ablauf an Aktivitäten, der ein zielgerichtetes, reflexives Handeln mit Texten in authentischen Sprachlernsituationen ermöglicht. Dadurch werden intensive Prozesse des Lesens, Schreibens und Diskutierens über Texte angeregt, die im Rahmen von kooperativen Lernhandlungen erfolgen und sich sowohl auf Prozesse als auch auf Produkte der Arbeit an Texten beziehen. Sie sind durch vielfältige metasprachliche und metakognitive Aktivitäten und durch eine enge Verzahnung von inhalts- und sprachbezogenen Lernhandlungen gekennzeichnet. 290 Die sprachlichen und kognitiven Anforderungen werden durch die Progression der Aufgaben schrittweise erhöht. Die drei Phasen des Modells werden zunächst überblicksartig und anschließend detaillierter und anhand von Beispielen präsentiert: 1. In der Phase der Wissensaktivierung (Kap. 4.1 und 5.1) sollen die Gedanken und Assoziationen der Lernenden zu einem Thema aufgerufen und für die Arbeit an Texten verfügbar gemacht werden. Dies soll vor allem durch Aufgaben zum assoziativen Schreiben und Sprechen erreicht werden. 2. Die Arbeit an Texten (Kap. 4.2 und 5.2) bildet den Kernbereich in diesem Modell. Es geht in dieser Phase darum, Texte aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Kontexten zu lesen, zu interpretieren, zu schreiben, zu diskutieren, zu reflektieren, zu rekonstruieren und zu überarbeiten. Mündliche und schriftliche Aktivitäten sowie sprach- und inhaltsbezogene Aspekte werden dabei in eine enge Verbindung gebracht. In drei Stufen der Textarbeit (Textkonstruktion, Textrekonstruktion, Textfokussierung & Textexpansion) werden jeweils andere Aspekte im Umgang 289 Das Modell wurde in groben Umrissen bereits in Schmölzer-Eibinger (2006a, b, 2007) vorgestellt. 290 Auf diese Weise wird dieser stark individualisierende Ansatz an die soziale Situation der Lernenden rückgebunden. <?page no="193"?> 193 mit Texten in den Mittelpunkt gerückt. In den Textkonstruktionsaufgaben (Kap. 4.2.1, 5.2.1) geht es darum, Textfragmente zu ergänzen, in den Aufgaben der Textrekonstruktion (Kap. 4.2.2, 5.2.2) sind lückenhafte Texte zu vervollständigen bzw. gelesene oder gehörte Texte wiederzugeben, in den Aufgaben zur Textfokussierung (Kap. 4.2.3, 5.2.3) müssen zentrale Inhalte eines Textes fokussiert und auf das Wesentliche reduziert werden und in den Aufgaben zur Textexpansion (Kap. 4.2.3, 5.2.3) müssen Texte sprach- und sachadäquat ausgebaut werden. 3. In der Phase der Texttransformation (Kap. 4.3 und 5.3) werden Texte aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und in neue Kontexte transferiert. Dazu müssen sowohl Textstrukturen als auch Bedeutungen von Texten rekonstruiert bzw. in anderen Kontexten neu aufgebaut werden. Die Lernenden sind in dieser Phase noch stärker als in den vorangegangenen Phasen gefordert, Lernprozesse autonom zu steuern und zu gestalten. Als Rahmen für die Umsetzung dieses Modells ist ein integriertes Sprach- und Sachcurriculum auf besondere Weise geeignet. 291 Als Zielgruppe auf Seiten der Lehrenden ist daher sowohl an die Gruppe der SprachlehrerInnen als auch der SachlehrerInnen gedacht. Im Folgenden werden die einzelnen Phasen dieses Modells näher beschrieben. Hinweise auf die darauf bezogene Aufgabentypologie (Kap. 5) finden sich jeweils am Beginn der Kapitel. 4.1 Wissensaktivierung Lernprozesse sind vor allem dann effektiv, wenn das vorhandene Wissen der Lernenden aktiviert und mit neuem Wissen verknüpft wird (vgl. Wolff 2002, 92). 292 So entwickeln sich etwa komplexe Schreibfertigkeiten nicht nur dadurch, dass Lernende neues Wissen in Bezug auf das Schreiben erwerben, sondern auch, indem sie bereits vorhandene Schreibkenntnisse aufrufen und mit dem neuen Wissen verbinden (vgl. Portmann-Tselikas 1993a, 99, 114). Fehlendes Vorwissen führt hingegen häufig zu Schwierigkeiten bei der Bedeutungs- und Sinnkonstitution - dies gilt für das Lesen ebenso wie für das Schreiben (vgl. Wolff 2002, 295). 293 Die Aufgaben zur Wissensaktivierung sollen dazu beitragen, die komplexen Anforderungen des Lernens anhand von Texten zu reduzieren. Sie sollen die Lernenden dazu anregen, ihre vorhandenen Erfahrungen und 291 Siehe Kap. 3.1, Teil I. 292 Siehe auch Kap. 6.2, Teil I. 293 Nach Nunan (1984) stellt das bestehende thematische Wissen der Lernenden einen wichtigeren Faktor beim Textverstehen dar als die syntaktische Komplexität. siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.1 <?page no="194"?> 194 Kenntnisse sowie ihre spontanen Gedanken und Ideen zu einem Thema zu aktivieren (vgl. Droop/ Verhoeven 1998, 207 f.; Hudelson 1991; vgl. Afflerbach 1998, 354). Aufgaben zum assoziativen Schreiben und Sprechen eignen sich dafür auf besondere Weise. 294 In den Aufgaben zum assoziativen Sprechen müssen sich die Lernenden mündlich spontan zu einem Thema äußern. Mit den Aufgaben zum assoziativen Schreiben 295 werden die Lernenden dazu angeregt, Gedanken und Ideen zu einem Thema unmittelbar zu Papier zu bringen. Es geht dabei nicht nur um die Freisetzung von Kreativität und Emotionen, sondern auch um die Aktivierung von themenbezogenem Wissen. Ausgehend von einem Stimulus zum Thema sollen die Lernenden alles aufschreiben, was ihnen dazu einfällt, ohne abzusetzen und ohne den Schreibfluss zu unterbrechen. 296 Es steht ihnen frei, in welcher Sprache sie schreiben, grundsätzlich können alle Sprachen, die ihnen gerade in den Sinn kommen, verwendet werden: Man kann also durchaus in einer Fremdsprache beginnen und irgendwann in die Muttersprache wechseln und umgekehrt. Wichtig ist, dass man […] 297 nicht aus dem Schreibfluss gerät, d.h. der Stift soll möglichst immer in Kontakt mit dem Papier bleiben und in Bewegung sein. Deshalb wird, falls die Gedanken stocken sollten, in der Mechanik des Schreibens so lange mit lllllll fortgefahren, bis wieder irgendein Gedanke kommt. Das lllllll eignet sich vor allem, weil es die Schreibbewegung nicht unterbricht. (Hornung 1996, 228) Mit Aufgaben zum assoziativen Schreiben wird ein kreativer und gleichzeitig reflexiver Umgang mit Sprache gefördert, der auch die persönlichen 294 Der Begriff der „Assoziation” wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen verwendet. So versteht man etwa in der Psychologie unter „Assoziieren” ein Verknüpfen von mehreren Elementen: zwei (oder mehr) ursprünglich isolierte psychische Inhalte (Assoziationsglieder) gehen eine Verbindung ein, sodass das Aufrufen eines Assoziationsgliedes das Auftreten eines oder mehrerer weiterer Assoziationsglieder bewirkt. Es wird angenommen, dass die Leistungen des Gedächtnisses prinzipiell auf Assoziationsketten beruhen. Das Assoziieren ist daher eine wichtige Voraussetzung für das Lernen. In der Gehirnforschung wird Assoziation als eine Eigenschaft neuronaler Netzwerke im Rahmen der Mustererkennung betrachtet. 295 Diese Aufgabenform beruht auf Verfahren der Plurilingualen Schreibdidaktik (Hornung 1999), die an der „écriture automatique” der französischen Surrealisten orientiert sind (vgl. Hornung 1999, 85 ff.). Hornung (1996, 1999) spricht in diesem Zusammenhang vom „experimentellen Schreiben” und grenzt sich damit vom „kreativen Schreiben” ab. 296 Als Schreibimpuls kann ein Wort, ein Satz, ein Bild oder ein Musikstück dienen (vgl. Hornung 1996, 228). An diesem Punkt ergeben sich auch zahlreiche Möglichkeiten für fächerübergreifendes Arbeiten - so kann etwa die Arbeit mit einem Bild dazu genützt werden, den Kunstunterricht einzubeziehen und die Arbeit mit einem Musikimpuls bietet sich an, um den Musikunterricht einzubeziehen. 297 Hornung schlägt zehn Minuten als Zeitvorgabe für das assoziative Schreiben vor. Erfahrungen mit jüngeren Zweitsprachenlernenden haben jedoch gezeigt, dass diese Zeitspanne vielfach zu lang ist. Die Zeitvorgabe sollte daher von der Lehrerin/ dem Lehrer an die Lernenden jeweils angepasst werden. <?page no="195"?> 195 Standpunkte und Befindlichkeiten der Lernenden berücksichtigt. Aufgaben zum assoziativen Schreiben sind nicht mit den sonst in der Schule üblichen Ansprüchen an die Einhaltung von sprachlichen Normen und Standards verbunden - es gibt keine Sanktionen für falsch Geschriebenes oder nicht berücksichtigte Textsortennormen (vgl. Hornung 1999, 1996, 225 f.). 298 Assoziative Schreibaufgaben tragen daher vielfach dazu bei, dass Schreibblockaden abgebaut werden und die Lernenden beginnen, in den Schreibfluss „einzutauchen”. Dies ist gerade bei Zweitsprachenlernenden von besonderer Bedeutung, denn für viele von ihnen ist die Auseinandersetzung mit Texten oft jahrelang mit der Erfahrung des Scheiterns verbunden, sodass sie nicht selten beginnen, die Arbeit an Texten abzulehnen oder sogar zu verweigern. Die folgende Aufgabenabfolge beginnt mit einer assoziativen Schreibaufgabe. Sie ist auf den Geschichtsunterricht bezogen (6. Schulstufe) und behandelt das Thema „Städte im Mittelalter”: 1. Einzelarbeit: Schreib fünf Minuten lang alles auf, was dir zum Thema „Städte im Mittelalter” einfällt. Lass den Schreibfluss nicht abreißen und schreib auch dann weiter, wenn dir gerade nichts einfällt (z.B. llllll...). Schreib in ganzen Sätzen. 2. Partnerarbeit: Lest einander die Texte vor, die ihr geschrieben habt. Verwendet eure Gedanken zum Thema für einen gemeinsamen Text, mit dem ihr euch an einem Text-Wettbewerb in eurer Klasse beteiligt. 3. Gruppenarbeit: Entscheidet euch für drei Kriterien, nach denen die Texte für den Wettbewerb beurteilt und gereiht werden sollen. 4. Plenum: Einigt euch auf fünf Kriterien der Textbeurteilung. (Drei SchülerInnen beobachten den Einigungsprozess und erzählen euch nachher, was ihnen aufgefallen ist.) 5. Gruppenarbeit/ Plenum: Bewertet die Texte der anderen in der Gruppe, vergebt Punkte und erstellt eine Reihung im Plenum. 6. Gruppenarbeit: Sammelt eure Erfahrungen und überlegt gemeinsam, worauf ihr beim Schreiben das nächste Mal besonders achten wollt. Aufgaben zur Wissensaktivierung, die im Vorfeld der Arbeit an Texten eingesetzt werden, bewirken vielfach, dass Texte, die anschließend zu bearbeiten sind, aufmerksamer gelesen und dadurch auch besser verstanden werden. 298 Assoziatives Schreiben ist eine prozessorientierte Form des Schreibens, die oft auch mit dem Begriff „freewriting” bezeichnet wird. <?page no="196"?> 196 4.2 Arbeit an Texten siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.2 In der Phase der Arbeit an Texten sind die Lernenden gefordert, Texte zu lesen, wiederzugeben, zu reflektieren, zu diskutieren, zu interpretieren, zu schreiben und als ein Instrument des Lernens zu nutzen. Es gilt Texte in ihren jeweiligen fachlichen, kommunikativen und soziokulturellen Kontexten zu verstehen und sowohl rezeptive als auch produktive Strategien beim Lesen und Schreiben von Texten zu entwickeln und zu erproben. Die kognitiven Operationen des Selektierens, des Fokussierens, des Elaborierens, des Inferierens 299 und des Expandierens spielen in den Aufgaben der Arbeit an Texten ebenso eine wichtige Rolle wie das Hypothesenbilden und -testen sowie das Konstruieren von Bedeutungen im jeweiligen Kontext. Die Aufgaben in dieser Phase sind daher vielfach mit einer Reorganisation, Tilgung und Abstraktion von Informationen bzw. damit verbunden, dass das vorhandene Wissen aufgerufen, restrukturiert und erweitert wird. Die meisten der vorgeschlagenen Aufgaben beziehen sich auf vorgegebene Texte, wie sie im Sachunterricht verwendet werden. Durch eine intensive Arbeit an diesen Texten sollen die Lernenden sukzessive mit den Anforderungen an den Wissenserwerb anhand von Texten vertraut gemacht werden. Sie sollen auch lernen, die eigenen Schreibfähigkeiten mit „Expertentexten” in Relation zu setzen und sukzessive auszubauen. Es geht dabei nicht um bloße Imitation, sondern um die Weiterentwicklung der individuell vorhandenen Textkompetenz durch die Orientierung an Vorbildern. 300 Die Texte, die die Lernenden im Unterricht schreiben, sollen von ihnen selbst und von ihren LernpartnerInnen bewertet und verbessert werden. 301 Damit soll ihre Fähigkeit geschult werden, Texte kritisch zu bewerten, Kritik auch konstruktiv zu formulieren und Texte zielgerichtet zu optimieren. 302 In drei Stufen der Textarbeit (Textkonstruktion, Textrekonstruktion, Textfokussierung & Textexpansion) werden jeweils andere Aspekte im Umgang mit Texten hervorgehoben und in den Mittelpunkt der Arbeit an Texten ge- 299 Zum Begriff des „Inferierens” siehe Kap. 4.2.1, Teil I. 300 Damit erfolgt eine Abgrenzung zu der in der Schreibdidaktik vorherrschenden Orientierung an der Figur des „Experten”. Eine ausschließliche Orientierung an den Leistungen von SchreibexpertInnen vermag den Möglichkeiten von Zweitsprachenlernenden vielfach nicht Rechnung zu tragen. Es wird daher versucht, an den individuell vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnissen anzusetzen und dabei den Blick auf Expertentexte nicht zu verlieren. 301 Im Bezug auf den Aufbau von Beurteilungskompetenzen hinsichtlich der Qualität eines Textes bestehen im Schulunterricht nach Sieber (2005, 14) noch große Defizite. 302 Die Beurteilung der eigenen Texte in den Aufgaben zur Wissensaktivierung bereitet Textvergleiche in der Arbeit an Texten vor. Die Fortschritte sollten regelmäßig durch die Selbsteinschätzung der Lernenden thematisiert und mit der Einschätzung der LehrerInnen verglichen werden (siehe dazu auch Schiesser/ Nodari 2005a, b). <?page no="197"?> 197 rückt. Der Anteil der Wiedergabe, des Ergänzens, Konstruierens und Transformierens vorgegebener Texte ist in den verschiedenen Phasen des Modells jeweils anders gewichtet und mit zunehmend höheren sprachlichen und kognitiven Anforderungen verknüpft. 4.2.1 Textkonstruktion siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.2.1 In den Aufgaben zur Textkonstruktion erhalten die Lernenden Fragmente eines Textes, 303 die sie erweitern bzw. vervollständigen müssen. 304 Es sollen kohärente, für Lesende nachvollziehbare, sachadäquate und sprachlich homogene Texte entstehen. Die Lernenden müssen dabei sowohl sprachlich als auch thematisch „Neuland” betreten - sie sind gefordert, „Lücken” im Text zu schließen, ihr vorhandenes Wissen aufzurufen und in verfügbare Informationen zu integrieren. Die Textfragmente sind sowohl inhaltlich als auch sprachlich Vorgaben für die eigene Textproduktion. Je reduzierter sie sind, desto eher geben sie den Lernenden die Möglichkeit, ihre Kreativität und Phantasie in der Textproduktion zu entfalten und eigene Assoziationen und Gedanken beim Schreiben einfließen zu lassen; 305 sind die Vorgaben umfangreicher, so ist der Spielraum für Eigenes eingeschränkter, gleichzeitig sind größere Textfragmente aber auch eine Hilfestellung für die eigene Textproduktion, die Halt und Orientierung gibt. Beim Ergänzen der vorgegebenen Textteile müssen die vorhandenen Textteile immer wieder aufs Neue gelesen, überprüft, revidiert und weiter ausgebaut werden. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit der Lernenden abwechselnd auf die lokale und die globale Ebene des Textes gelenkt und es kommen sowohl sprachliche als auch inhaltliche Dimensionen ins Spiel. Die Lernenden müssen die Texte, die sie verfasst haben, schließlich untereinander austauschen und miteinander bzw. mit dem Original vergleichen. Dadurch soll ihre Fähigkeit geschult werden, Texte zu beurteilen und das Feedback von LernpartnerInnen für Textoptimierungen zu nutzen. Das folgende Beispiel bezieht sich auf einen Sachtext zum Thema „Städte im Mittelalter”, der in einem Geschichtebuch für die 6. Schulstufe erschienen ist (Wald/ Scheucher/ Scheipl 2000): 306 1. Paararbeit: Setze den folgenden Textausschnitt fort: „Siehst du nun, was eine Stadt ist? ” sagte der Ghini. „Und wenn sie jetzt schon so ist, 303 Zum Beispiel Anfangs- oder Endsätze, Schlüsselwörter, Überschriften, Definitionen. 304 Auf diese Weise wird im Unterricht eine ähnliche Situation wie im ungesteuerten Spracherwerb erzeugt, denn auch dort entstehen vielfach „Lücken”, die von den Zweitsprachenlernenden ergänzt werden müssen. 305 Dies ist bei literarischen Texten oft eher der Fall als bei Sachtexten - beim Ergänzen von Sachtexten ist meist vor allem ein konkretes thematisches Wissen gefordert. 306 Die Schwierigkeit der Aufgaben kann vor allem durch den Umfang der Textfragmente und durch die Komplexität der Texte gesteuert werden. <?page no="198"?> 198 wo sie noch nicht mal fertig ist, wie wird sie dann erst nachher sein? Ich sage dir, das wird ein ganz anderes Leben.” 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem eines anderen Paares und verfasst auf dieser Grundlage gemeinsam einen neuen Text, der euren Vorstellungen von einem gelungenen Text entspricht. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. 307 Was fällt euch auf? Die Lernenden haben in den Aufgaben zur Textkonstruktion die Möglichkeit, nur soviel und genau das zu schreiben, wozu sie in der Lage sind. Die Aufgaben sind daher zum einen mit komplexen Anforderungen verbunden, zum anderen aber immer auch an ihren aktuellen Sprach- und Wissensstand angepasst. Sie sind damit zugleich eine Herausforderung und eine Chance, die individuell vorhandene Textkompetenz zu entfalten und weiter zu entwickeln. 4.2.2 Textrekonstruktion siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.2.2 In der Phase der Textrekonstruktion sind die Lernenden gefordert, Texte, die sie gelesen oder gehört haben, möglichst genau zu rekonstruieren. Der Schwierigkeitsgrad der Texte sollte so gelagert sein, dass die sprachliche Oberfläche des Textes von den Lernenden nicht genau memoriert werden kann. Um die Gedächtnislücken schließen und kohärente Texte produzieren zu können, müssen sie ihre vorhandenen themen- und textbezogenen Kenntnisse mobilisieren und einsetzen. Der dabei entstehende Text muss mehrfach und aus unterschiedlichen Perspektiven gelesen werden; Sinnzusammenhänge sind immer wieder aufs Neue zu überprüfen und zu verdeutlichen. Ein Beispiel für eine Aufgabe zur Textrekonstruktion ist das Zusammensetzen eines zerschnittenen Textes. Diese Aufgabe fördert die Fähigkeit, logische Abfolgen in einem Text zu erkennen bzw. beim Schreiben selbst herzustellen (vgl. Kern 2000, 202). Solche Aufgaben tragen auch dazu bei, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf Fragen der Textstrukturierung und der Textkohärenz zu lenken (vgl. Wolff 2002, 385). Eine weitere Aufgabe, die die Fähigkeit der Rekonstruktion von Texten fördert, ist das Dictogloss (vgl. Wajnryb 1990). Ein Text wird zunächst vorgelesen und anschließend von den Lernenden gemeinsam rekonstruiert. Danach wird der rekonstruierte Text mit einem anderen Lernertext bzw. mit dem Originaltext verglichen. Diese Aufgabenstellung führt in der Regel ganz automatisch dazu, dass die Lernenden beim Vorlesen des Textes genau zuhören und sich beim Schreiben darum bemühen, den Text genau wieder- 307 Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt aus Umberto Ecos Roman „Baudolino” (2001), s. Anhang Seite 236. <?page no="199"?> 199 zugeben. Ihre Aufmerksamkeit liegt dabei sowohl auf der sprachlichen als auch auf der inhaltlichen Ebene des Textes. Beim Rekonstruieren des Textes entsteht meist eine angeregte Diskussion, in der rezeptive und produktive Aktivitäten ineinander übergehen. Es ist dabei nicht nur ein Verstehen des vorgegebenen Textes, sondern auch ein Verstehen der Redebeiträge der anderen gefordert. Die Lernenden erkennen dabei meist ganz von selbst, wo sie noch Probleme beim Verstehen oder Schreiben des Textes haben. It seems fairly clear that Dictogloss promotes oral fluency by motivating learners to engage in lively and realistic verbal interaction, realize a wide range of language functions, and develope effective communication strategies in competing for the conversational floor. Dictogloss tasks also appear to be a means of raising learners’ awareness of formal and semantic features of language in the way they give learners the opportunity to articulate their understandings of meaning and form in a specific context. (Murray 1994, 80 f.) Das folgende Beispiel bezieht sich wiederum auf das Thema „Städte im Mittelalter” und ist ein Ausschnitt aus einer längeren Aufgabenabfolge (siehe dazu Aufgabentypologie Kap. 5.2.2): 1. Gruppenarbeit: Eine/ r in der Gruppe liest den Text 308 vor, die anderen hören zu. Rekonstruiert den Text möglichst genau. Ergänzt die „Lücken” mithilfe eures vorhandenen Wissens. (Eine/ r in der Gruppe beobachtet den Schreibprozess und schildert nachher seine/ ihre Eindrücke.) Städte entstehen Der Ursprung vieler Städte in Europa reicht ins Mittelalter zurück. Städte entstanden an Stellen, wo es günstig war, Handel zu treiben, z.B. an Kreuzungspunkten wichtiger Handelsstraßen, bei Flussübergängen und Furten (Bruck, Innsbruck, Klagenfurt von „Glanfurt”). Man gründete sie dort, wo der Schutz einer Burg gegeben war (Salzburg, Radkersburg). Oder die Menschen belebten alte Römersiedlungen wieder, die im Lauf der Jahrhunderte verfallen oder zerstört worden waren (z.B. Wien). Bei diesen Handelsplätzen ließen sich auch Handwerker nieder. Das waren oft ehemalige Bauernsöhne, die selbst keinen Hof erben konnten. Sie arbeiteten als Schmied, Schuster, Zimmermann oder Leinenweber für den Bedarf der Händler, der Kaufleute oder des Grundherrn. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem einer anderen Gruppe. Macht euren Text verständlicher und informativer. Vergleicht ihn mit dem Original. Was fällt euch auf? Das Beispiel zeigt, dass in den Aufgaben zur Textrekonstruktion nicht nur Lese- und Schreibkompetenzen, sondern auch rezeptive Strategien des Erfassens und Verarbeitens von Informationen sowie Fähigkeiten der münd- 308 Vorgeschlagen werden die Schulbuchtexte zum Thema „Mittelalter”, mit denen bereits in Kap. 6.2.3 im Rahmen der Textanalysen gearbeitet wurde (zu empfehlen ist - wie hier vorgegeben - die Auswahl einer der drei Textabschnitte als Grundlage dieser Aufgabenabfolge). <?page no="200"?> 200 lichen Sprachproduktion geschult werden. Die Textkompetenz der Lernenden wird auf diese Weise sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen geschult. 4.2.3 Textfokussierung & Textexpansion siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.2.3 Das Erkennen und Fokussieren von relevanten Informationen ist für das Lernen anhand von Texten zentral. Dies gilt generell, vor allem aber für die Arbeit an informationsreichen, komplexen Texten, wie sie im Sachunterricht häufig vorkommen. In den Aufgaben zur Textfokussierung werden die Lernenden in ihrer Fähigkeit geschult, relevante Informationen in einem Text zu erkennen, zu gewichten und auf verständliche und sachadäquate Weise wiederzugeben. Dies erfordert Aktivitäten des Selektierens, des Interpretierens, des Löschens und des Reorganisierens von Informationen bzw. Textelementen. Diese Aktivitäten sind auf besondere Weise dazu geeignet, die Textkompetenz der Lernenden zu aktivieren und zu entfalten (vgl. Kern 2000, 157 f.). So ist etwa beim Zusammenfassen eines Textes die Fähigkeit der Lernenden gefordert, Inhalte auf ihre Relevanz hin zu beurteilen und zu gewichten, Bedeutungen zu transformieren und Textstrukturen neu aufzubauen (vgl. Wrobel 2000, 463). Ein Text, der zusammengefasst werden soll, muss aktiver rezipiert und genauer durchgearbeitet werden als dies beim bloßen Durchlesen der Fall ist (vgl. Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 46 f.) - er wird mehrfach, aus verschiedenen Perspektiven und mit einem jeweils anderen Wissensstand rezipiert und verarbeitet. Das Zusammenfassen eines Textes führt daher in der Regel zu einem besseren Textverständnis als dies bei einer bloßen Reproduktion eines Textes der Fall ist (vgl. Radmacher/ Latosi-Sawin 1995). Beim gemeinsamen Zusammenfassen eines Textes müssen Entscheidungen in Bezug auf die Auswahl und die Relevanz von Informationen gemeinsam getroffen und begründet werden. Die eigenen Verstehens- und Formulierungsprobleme werden den Lernenden dadurch meist ganz von selber bewusst. Zusammenfassungen lassen daher nicht nur Rückschlüsse auf die Schreibkompetenzen, sondern auch auf die Verstehensfähigkeiten der Lernenden zu (vgl. Smith/ Keister 1996, 20). Die Fähigkeit des Fokussierens von Informationen kann im Unterricht auch dadurch geschult werden, dass Lernende die zentrale Hypothese, Fragestellung oder die wichtigsten Informationen eines Textes in einem Satz zusammenfassen. Wichtig ist dabei, dass dieser Satz schriftlich formuliert wird, denn im Schriftlichen ist mehr Genauigkeit und Explizitheit als im Mündlichen gefordert. Die Reduktion des Textinhaltes auf nur einen Satz setzt voraus, dass die Lernenden die wichtigsten Informationen in einem vorgegebenen Text erkennen und auch schlüssig darstellen können. <?page no="201"?> 201 Im folgenden Beispiel schließt eine Aufgabe zur Textexpansion an eine Aufgabe zur Textfokussierung an. Es werden zwei Aufgabenabfolgen zur Auswahl angeboten: Vorgabe (Gruppe A): Schulbuchtext „Städte im Mittelalter” 309 1. Paararbeit: Formuliert den inhaltlichen Kern eures Textes in einem Satz (schriftlich). 2. Gruppenarbeit: Stellt euch diesen Satz gegenseitig vor und macht einander Verbesserungsvorschläge. Überarbeitet euren Satz anhand der Rückmeldungen. 3. Paararbeit: Schreibt einen Text für ein Schulbuch, in dem ihr diesen Satz einbaut. 4. Gruppenarbeit: Tauscht die Texte untereinander aus und teilt einander mit, was euch am Text gefällt/ nicht gefällt. Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen. Vorgabe (Gruppe B): Romanauszug aus Umberto Ecos „Baudolino” 310 1. Paararbeit: Sucht nach jener Textpassage, die am besten ausdrückt, worum es in diesem Text geht. 2. Gruppenarbeit: Teilt den anderen eure Entscheidung mit und begründet sie. Einigt euch auf eine Textpassage. 3. Paararbeit: Schreibt einen Phantasietext, in dem ihr diese Textpassage einbaut. 4. Gruppenarbeit: Tauscht eure Texte untereinander aus und teilt einander mit, was euch gefällt/ nicht gefällt. Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen. Ausgangspunkt der Aufgaben zur Textexpansion sind somit jene Lernertexte, die im Zuge der Textfokussierungsaufgaben entstanden sind. Während es am Beginn dieser Phase vor allem darum ging, zentrale Inhalte in Texten zu erkennen und zu formulieren, sind die Lernenden im Anschluss daran gefordert, Sätze bzw. Textfragmente wiederum auszubauen und mithilfe ihrer vorhandenen sprachlichen und themenbezogenen Kenntnisse zu erweitern. 4.3 Texttransformation siehe Aufgabentypologie Kapitel 5.3 In der Phase der Texttransformation sind die Lernenden gefordert, Bedeutungen aus dem Kontext des jeweiligen Textes herauszulösen und in einem anderen Kontext neu aufzubauen. Texte dienen in dieser Phase weniger als Vorgabe für rekonstruktiv-produktive Aktivitäten anhand vorgegebener 309 In diesem Fall ist die Arbeit mit allen drei Teiltexten zu empfehlen, siehe Kapitel 6.2.3. 310 Textausschnitt aus „Baudolino” s. Anhang Seite 236. <?page no="202"?> 202 Texte wie in den vorangegangenen Phasen, denn als Impuls für die Neukonzeption von Texten und als Ressource für Texte zu selbst gewählten Themen im Rahmen komplexerer Lernhandlungen. Learners themselves are to weave together texts and contexts to make meanings and to give power to words: they can no longer passively recognize a transcendental realm of pre-made units of meaning associated with pre-built texts but must begin actively to engage in discursive practices that create spoken and written texts and endow them with meanings. (Kramsch/ McConnell-Ginet 1992, 6) Es geht also in dieser Phase der Arbeit an Texten nicht bloß um das Reproduzieren, Reduzieren, Überarbeiten oder Erweitern eines Textes, sondern vielmehr darum, Texte aus subjektiver Sicht zu interpretieren und deren Bedeutungen für die Produktion von Texten in anderen Kontexten zu nutzen. Die epistemische Funktion des Wissenserwerbs steht daher in dieser Phase stärker als in den vorangegangenen Phasen im Zentrum. Die Aufgaben zur Texttransformation sind für Zweitsprachenlernende von besonderer Bedeutung, denn gerade sie haben vielfach Probleme, Bedeutungen im jeweiligen Kontext genau zu verstehen und in anderen Kontexten neu aufzubauen (vgl. Verhoeven 1997, 230). Im Folgenden wiederum ein Beispiel, das sich auf einen Sachtext zum Thema „Städte im Mittelalter” bezieht: 1. Paararbeit: Schreibt einen Text zum Thema „Städte im Mittelalter”, in dem ihr die Informationen aus dem Sachtext und dem literarischen Text zusammenführt. 311 Ergänzt, was ihr sonst noch über dieses Thema wisst. 312 2. Gruppenarbeit: Stellt euch eure Texte gegenseitig vor und kommentiert sie. 3. Paararbeit: Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen. (Eine/ r in der Gruppe beobachtet die Textüberarbeitung und sagt euch nachher, was er/ sie dabei bemerkt hat.) 4. Plenum: Sammelt und illustriert eure Texte in einem Themenheft „Städte im Mittelalter” oder macht eine Ausstellung zu diesem Thema in eurer Schule. Die Konfrontation mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Texten und einer Fülle von Informationen ist den Rahmenbedingungen des ungesteuerten Zweitsprachenerwerbs in gewisser Weise ähnlich, denn auch im Alltag sind Zweitsprachenlernende mit großen Informationsmengen kon- 311 Es kann sich dabei um einen Sachtext, eine Phantasieerzählung, ein Märchen oder auch um eine Kriminalgeschichte handeln. Wünschenswert sind verschiedene Textsorten, sodass das Thema in der Klasse aus unterschiedlichen Pespektiven beleuchtet wird. 312 Es sollte dabei auf das in den verschiedenen Phasen in diesem Modell aktivierte bzw. vermittelte Wissen, aber auch auf Internet- und Bücherrecherchen zurückgegriffen werden. <?page no="203"?> 203 frontiert, aus denen sie selbständig auswählen müssen. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Texten zu einem Thema aktiviert darüber hinaus auch jene Fähigkeiten, die für ein effizientes Sprach- und Sachlernen von besonderer Bedeutung sind - es sind dies die Fähigkeiten des Fokussierens und Selektierens, des Inferierens und des Abstrahierens von Bedeutungen sowie das Hypothesenbilden und -testen (vgl. Wolff 2002, 373). Projektarbeiten sind für Texttransformationen auf besondere Weise geeignet: Die Auseinandersetzung mit mehreren Texten zu einem Thema ist in Projektarbeiten von vorneherein angelegt (vgl. Kern 2004, 9; Tynjälä/ Mason/ Lonka 2001, 54) und Lernende sind in der Arbeit an Projekten meist stärker motiviert, sich aktiv am Lerngeschehen zu beteiligen und gute Lernresultate zustande zu bringen (vgl. Lonka/ Ahola 1995). Die Arbeit an Projekten bietet darüber hinaus zahlreiche Gelegenheiten, das aus den Texten gewonnene Wissen praktisch anzuwenden und mit den Alltagserfahrungen der Lernenden zu verknüpfen. Mit den Aufgaben zur Texttransformation wird der Bogen zurück zur ersten Phase der Wissensaktivierung gespannt, denn auch in dieser Phase stand das subjektive Interesse der Lernenden an einem Thema im Mittelpunkt der Lernaktivitäten. Während in dieser Phase jedoch primär das Aktivieren des Vorwissens der Lernenden und deren Erfahrungen und Gefühle im Bezug auf ein Thema im Mittelpunkt standen, geht es in der Phase der Texttransformation vielmehr darum, Wissen anhand von Texten vor dem Hintergrund eigener Zielsetzungen und Interessen zu gewinnen, zu vernetzen und anzuwenden. Betrachtet man das 3-Phasen-Modell in seinem Gesamtverlauf, so ergibt sich eine Progression, die sich in einer steigenden Komplexität der Aufgaben und in zunehmend höheren kognitiven und sprachlichen Anforderungen im Umgang mit Texten manifestiert - ausgehend von den relativ einfachen Aufgaben der Wissensaktivierung am Beginn dieses Modells sind die Anforderungen in der Arbeit an Texten bereits um einiges höher und werden schließlich in den Aufgaben der Wissenstransformation sehr komplex. Die Textkompetenz der Lernenden wird auf diese Weise schrittweise aufgebaut und ist gleichzeitig immer stärker gefordert. <?page no="204"?> 204 5 Aufgabentypologie zur Förderung von Textkompetenz Aufbauend auf dem 3-Phasen-Modell (Kap. 4) und den Prinzipien (Kap. 3) der Literalen Didaktik wird nun eine Aufgabentypologie zur Förderung der Textkompetenz präsentiert. 313 Diese Aufgabentypologie bietet einen reichen Fundus an Aufgaben, die flexibel und ohne großen Aufwand auf Texte unterschiedlicher Komplexität und Textsorten angewendet und an verschiedene Lernkontexte angepasst werden können. Sie zielen darauf ab, die Textkompetenz der Lernenden zu aktivieren und im Rahmen einer intensiven Auseinandersetzung mit Texten zu erweitern. 314 Die Aufgaben müssen von den Lehrenden im Hinblick auf die jeweiligen Texte ausgewählt und gegebenenfalls modifiziert werden - nicht alle Aufgaben sind in der vorgeschlagenen Reihenfolge und konkreten Ausformulierung unverändert auf beliebige Texte anwendbar. Es bedarf jedoch in der Regel nur geringfügiger Anpassungen, ohne die Grundkonzeption der Aufgaben deshalb verändern zu müssen. 315 Die Aufgaben, die im Folgenden vorgeschlagen werden, 316 sind innerhalb einer Aufgabenabfolge systematisch aufeinander bezogen. Es handelt sich dabei um Prototypen, die ihre spezifische Kontur erst durch konkrete Themen und Texte erhalten. Sie können auf vielfältige Weise miteinander kombiniert und an die individuellen Voraussetzungen der Lernenden angepasst werden. Einzelne Aufgaben sollten jedoch nicht isoliert herausgegriffen und beliebig aneinandergereiht werden, denn der Lerneffekt ergibt sich durch die spezifische Abfolge und Kombination der Aufgaben und den dafür vorgeschlagenen Handlungs- und Sozialformen. Die sprachlichen und kognitiven Anforderungen bei der Bearbeitung einer Aufgabe werden nicht nur durch die Aufgabe, sondern primär durch die Komplexität des Textes gesteuert: Je einfacher der Text, desto einfacher die Aufgabe. 313 Die Aufgaben können zur Förderung der Textkompetenz in der Zweit- und in der Erstsprache eingesetzt werden. Der erwartbare Lerneffekt ist dann am größten, wenn die Aufgaben sowohl anhand von Texten in der Erstals auch in der Zweitsprache der Lernenden durchgeführt werden. 314 Diese Kluft zwischen dem aktuellen und dem potentiellen Entwicklungsstand der Lernenden („zone of proximal development”, vgl. Vygotsky 1978, 86) bietet ein großes Lernpotential; ist die mit einer Aufgabe verbundene Anforderung zu hoch, kommt es zu einer Überforderung der Lernenden; ist sie zu niedrig, wird wenig gelernt. 315 Mitunter ist es auch sinnvoll, Aufgaben aus vorangegangenen Phasen nochmals aufzunehmen - so erweist sich etwa ein Rückgriff auf Aufgaben der Textkonstruktion nach der Bearbeitung von Aufgaben zur Textrekonstruktion vielfach als sinnvoll. 316 Die vorgeschlagenen Verfahren und Aufgaben beziehen sich auf Texte, wie sie in Sachfächern der 5.-8. Schulstufe eingesetzt werden. <?page no="205"?> 205 5.1 Phase 1: Wissensaktivierung Assoziatives Schreiben 317 (1) Vorgabe: ein themenbezogener Impuls (Stichwort, Bild, Gegenstand etc.) 1. Einzelarbeit: Schreib fünf Minuten lang 318 alles auf, was dir zu diesem Stichwort (Bild) einfällt. Lass den Schreibfluss nicht abreißen und schreib auch dann weiter, wenn dir gerade nichts einfällt (z.B. llllll...). 319 Schreib in ganzen Sätzen. 2. Gruppenarbeit: Lest einander die Texte vor, die ihr geschrieben habt. Verwendet eure Gedanken und Ideen zum Thema für einen Text, mit dem ihr euch an einem Text-Wettbewerb in eurer Klasse beteiligt. 3. Gruppenarbeit: Entscheidet euch für drei Kriterien, 320 nach denen die Texte beurteilt und gereiht werden sollen. 4. Partnerarbeit: Beurteilt euren eigenen Text anhand dieser Kriterien und überarbeitet ihn. 5. Plenum: Einigt euch auf fünf Kriterien der Textbeurteilung. (Drei SchülerInnen beobachten den Einigungsprozess und erzählen euch nachher, was ihnen aufgefallen ist.) 321 6. Gruppenarbeit/ Plenum: Bewertet die Texte der anderen in der Gruppe, vergebt Punkte und erstellt eine Reihung im Plenum. 7. Gruppenarbeit: Sammelt eure Erfahrungen und überlegt gemeinsam, worauf ihr beim Schreiben das nächste Mal besonders achten wollt. VARIATION: Die Texte können auch für eine Wandzeitung, ein Magazin oder eine Homepage verwendet werden. Anstelle der Kriterienfindung könnte eine gemeinsame Überarbeitung der Texte durchgeführt werden. Einwände zum Text müssen dabei von den Lernenden konstruktiv vorgebracht und die eigenen Texte anhand der Kritik der anderen überarbeitet werden. 317 Die Idee für diese Aufgabe beruht auf Verfahren der „Plurilingualen Schreibdidaktik”, wie sie von Antonie Hornung (1999) entwickelt wurden. 318 Die Dauer für diese Aktivität muss individuell festgelegt werden. Schreibunerfahrene brauchen erfahrungsgemäß länger als SchülerInnen, die über mehr Schreiberfahrung verfügen. 319 Dieses „mechanische Weiterschreiben” fällt manchen Lernenden anfangs schwer; erst wenn sie diese Schreibaufgabe öfters durchgeführt haben, wird ihnen dieses Verfahren meist geläufig. 320 Die Kriterien könnten z.B. sein: 1. TITEL: Passt der Titel zum Text? Klingt er interessant, ist er angemessen …? 2. EINLEITUNG: Wie ist der Text eingeleitet? Enthält die Einleitung alle wichtigen Informationen? Was fehlt? Macht die Einleitung Lust, weiter zu lesen? 3. TEXTORGANISATION: Ist der Text klar strukturiert oder wird von einer Idee/ Information zur anderen „gesprungen”? Ist der Text verständlich? Sind die Informationen gut miteinander verknüpft? 321 In den meisten Aufgabenabfolgen sind „Beobachteraufträge” integriert, um die Reflexion auf Lernprozesse und das strategische Wissen der Lernenden zu erhöhen. Sie haben den Vorteil, dass die BeobachterInnen selbst nicht in den Lernprozess involviert sind und das Lerngeschehen aus einer gewissen Distanz heraus beobachten können. <?page no="206"?> 206 Assoziatives Schreiben (2) Vorgabe: mehrere Bilder werden im Raum verteilt, neben jedem Bild hängt ein leeres Plakat (es sollen so viele Bilder und Plakate vorhanden sein, dass 4er-Gruppen gebildet werden können). 1. Einzelarbeit: Such dir ein Bild aus und schreib deine Gedanken zu diesem Bild spontan auf das Plakat. Wenn dir nichts mehr einfällt, geh zu einem anderen Bild und lies, was die anderen dazu geschrieben haben. 2. Gruppenarbeit: Geh zu dem Bild, das dich am meisten anspricht. Schreibt gemeinsam in der Gruppe einen Text zu diesem Bild. Berücksichtigt die Gedanken der anderen zu diesem Bild (siehe Plakat) in eurem Text. 3. Einzelarbeit: Tauscht eure Texte aus und schreibt Kommentare dazu. 4. Gruppenarbeit: Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen. Assoziatives Sprechen Vorgabe: mehrere Bilder zum Thema „Städte im Mittelalter” 1. Paararbeit: Sucht euch ein Bild aus und redet darüber fünf Minuten lang vor der Klasse, möglichst ohne zu unterbrechen. 2. Gruppenarbeit: Was hat euch an den Beschreibungen und Kommentaren zu den Bildern besonders angesprochen? Konzentriert euch auf drei besonders interessante oder auffällige Dinge, die gesagt wurden. Schreibt einen Text, in dem ihr darauf Bezug nehmt und fügt eure eigenen Ideen und Gedanken zum Bild hinzu. (Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet den Schreibprozess und teilt euch nachher seine/ ihre Eindrücke mit.) 3. Gruppenarbeit: Tauscht eure Texte aus und sagt den anderen, was euch daran besonders gut/ weniger gut gefällt. 322 Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen. 4. Plenum: Stellt die Bilder und die Texte in der Klasse aus oder verwendet sie für eine Projektmappe bzw. eine Seite auf eurer Klassenhomepage. VARIATION: Wenn es sich um Kunstbilder handelt, können die Lernenden sich über die Bilder in der Rolle von KunstexpertInnen und/ oder ReporterInnen unterhalten, um sie einem kunstinteressierten Publikum (der Klasse) in einer (simulierten) Radio- oder Fernsehsendung näher zu bringen. Die Zuhörenden schreiben anschließend ein kurzes Statement über das, was sie gehört haben. Dieses Statement soll zusammen mit dem Bild in einer Kunstzeitschrift, einem Schulbuch für Kunsterziehung oder einem Sachbuch veröffentlicht werden. 322 Die Textsorte kann freigestellt oder von der Lehrerin/ vom Lehrer vorgegeben werden. <?page no="207"?> 207 5.2 Phase 2: Arbeit an Texten 5.2.1 Textkonstruktion In den Aufgaben zur Textkonstruktion erhalten die Lernenden Fragmente eines Textes (einzelne Sätze, Absätze oder kurze Textpassagen), die als Grundlage der Aufgabenbearbeitung dienen. Erst danach erhalten sie den Originaltext. 323 einen Textanfang fortsetzen Vorgabe: die ersten Sätze eines Textes 1. Paararbeit: Ergänzt die Sätze und schreibt einen zusammenhängenden Text. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem eines anderen Paares und gebt euch gegenseitig Tipps, wie ihr den Text verbessern könnt. 3. Paararbeit: Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen. 4. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? einen Textanfang finden Vorgabe: die letzten Sätze eines Textes 1. Paararbeit: Ergänzt die Sätze um passende Textteile, die ihnen vorangestellt werden können. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem eines anderen Paares und verfasst gemeinsam einen neuen Text, der euren Vorstellungen von einem gelungenen Text entspricht. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? Textzwischenstücke ergänzen Vorgabe: die ersten und die letzten Sätze eines Textes 1. Paararbeit: Ergänzt diese Anfangs- und Endsätze um passende Textzwischenstücke, sodass ein zusammenhängender Text entsteht. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem eines anderen Paares und gebt euch gegenseitig Tipps, wie ihr den Text verbessern könnt. 3. Paararbeit: Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen. 4. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? VARIATION: Anstelle von Sätzen können auch Absätze vorgegeben werden. 323 Bei Sachtexten ist es fallweise notwendig, die Inhalte des Textes zunächst zu erarbeiten und erst dann die Aufgaben zur Textkonstruktion anzuschließen. <?page no="208"?> 208 Textteile fortsetzen Vorgabe: der erste Satz aus einem Text 1. Paararbeit (zwei bis drei Paare sitzen in Gruppen zusammen): Ergänzt den ersten Satz aus dem Originaltext um einen Satz (zu zweit). Faltet das Blatt so, dass man nur den letzten Satz lesen kann. Gebt den Text an ein anderes Paar weiter. Dieses ergänzt wiederum einen Satz und gibt den Text an das nächste Paar weiter usf. 324 2. Gruppenarbeit: Lest den gemeinsam verfassten Text durch und überarbeitet ihn so lange, bis er euren Vorstellungen von einem gelungenen Text entspricht. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? Absätze in einen Text einfügen Vorgabe: der Anfang von jedem Absatz eines Textes 1. Paararbeit: Ergänzt die Sätze, sodass zusammenhängende Absätze entstehen. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem eines anderen Paares und verfasst auf dieser Grundlage gemeinsam einen neuen Text, der allen in der Gruppe gefällt. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was fällt euch auf? Sätze in einen Text einfügen Vorgabe: jeder zweite Satz eines Textes 1. Paararbeit: Fügt nach jedem Satz einen neuen Satz ein. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht eure Texte paarweise und verfasst gemeinsam einen neuen Text, der euren Vorstellungen von einem gelungenen Text zu diesem Thema entspricht. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was ist gleich, was ist anders? VARIATION: Jeder zweite Absatz eines Textes wird vorgegeben. Konjunktionen ergänzen Vorgabe: Text ohne Konjunktionen 1. Paararbeit: Ergänzt die fehlenden Wörter im Text. 2. Gruppenarbeit: Vergleicht eure Lösungen und einigt euch auf gemeinsame Varianten. 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Originaltext. Was ist gleich, was ist anders? 324 Auf diese Weise entsteht zwangsläufig ein unzusammenhängender Text. Dies ist jedoch in dieser Aufgabe beabsichtigt, denn in weiterer Folge geht es darum, den Text so lange zu überarbeiten, bis er kohärent ist. <?page no="209"?> 209 5.2.2 Textrekonstruktion In den Aufgaben zur Textrekonstruktion arbeiten die Lernenden mit kurzen Texten oder Textabschnitten als Vorlage. Dictogloss Vorgabe: ein kurzer Text oder Textabschnitt, der von der Lehrerin/ vom Lehrer vorgelesen wird 325 1. Gruppenarbeit: Rekonstruiert den Text möglichst genau (schriftlich). Ergänzt die „Lücken”, sodass ein sinnvoller, zusammenhängender Text entsteht. (Eine/ r in der Gruppe beobachtet den Schreibprozess und schildert euch nachher seine/ ihre Eindrücke.) 2. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem einer anderen Gruppe. Was fällt euch auf? Wie könntet ihr euren Text verbessern? 3. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem Original. Was fällt euch auf? Absatzpuzzle Vorgabe: die Absätze eines Textes (jede/ r Lernende erhält einen anderen Absatz) 1. Einzelarbeit: Lest euren Absatz aufmerksam durch und legt ihn dann beiseite. Erzählt den anderen, worum es in diesem Absatz geht. 2. Gruppenarbeit: Bringt eure Absätze in eine sinnvolle Reihenfolge, ohne im Original nachzulesen. 3. Gruppenarbeit: Rekonstruiert den Text gemeinsam (schriftlich). Ergänzt die „Lücken”, sodass ein zusammenhängender, sinnvoller Text entsteht. 4. Gruppenarbeit: Vergleicht euren Text mit dem einer anderen Gruppe und anschließend mit dem Original. Was fällt euch auf? Im Anschluss an die Aufgaben zur Textrekonstruktion könnten auch nochmals Aufgaben zur Textkonstruktion eingesetzt werden. Dies ist vor allem bei der Arbeit an komplexen Sachtexten mitunter sinnvoll. 5.2.3 Textfokussierung & Textexpansion In den Aufgaben zur Textfokussierung & Textexpansion arbeiten die Lernenden mit ganzen Texten bzw. mit längeren Textabschnitten. einen Text zusammenfassen & erweitern Vorgabe: mehrere Texte (je zwei Paare haben denselben Text) 1. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn global zu verstehen. 326 325 In Gruppen mit guten LeserInnen kann der Text auch von den SchülerInnen vorgelesen werden. SchülerInnen sollten jedoch nur dann vorlesen, wenn sie auch wirklich in der Lage sind, Texte sinnerfassend zu lesen und entsprechend zu intonieren; dies ist bei Lernenden mit geringer Textkompetenz jedoch oft nicht der Fall. <?page no="210"?> 210 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal durch, versuche ihn im Detail zu verstehen und unterstreiche die wichtigsten Textstellen. 327 3. Paararbeit: Schreibt gemeinsam eine Zusammenfassung des Textes. 328 4. Gruppenarbeit: Sucht euch ein Paar, das denselben Text gelesen hat und tauscht eure Zusammenfassungen untereinander aus. Erweitert die Zusammenfassung, die ihr von den anderen bekommen habt, um das Dreifache. Ihr könnt auch eigene Erfahrungen und Kenntnisse zum Thema einbringen. (Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet den Schreibprozess und erzählt euch nachher, was ihm/ ihr aufgefallen ist.) VARIATION: Je zwei Lernende, die nicht denselben Text gelesen haben, arbeiten zusammen. Jede/ r fasst zunächst den gelesenen Text mündlich zusammen. Anhand der mündlichen Zusammenfassungen schreiben die Paare gemeinsam eine schriftliche Zusammenfassung. Gruppenweiser Austausch der Texte und gemeinsames Schreiben eines längeren Textes auf dieser Grundlage. mit Schlüsselwörtern arbeiten Vorgabe: ein Text auf Overheadfolie 1. Plenum: Was sind die Schlüsselwörter im Text? Deckt sie ab und versucht sie euch zu merken. 329 2. Gruppenarbeit: Schreibt anhand der Schlüsselwörter, die ihr euch gemerkt habt/ die euch vorgegeben werden, einen zusammenhängenden Text. 3. Plenum: Vergleicht eure Texte mit dem Originaltext. Was ist gleich, was ist anders? Korrigiert eure Lösungen. Textinformationen selektieren & ergänzen Vorgabe: Sachtext mit Alltagsbezügen 330 326 Das Lesetempo ist entsprechend den individuellen Lesefähigkeiten und -strategien sowie den Vorkenntnissen zum Thema eines Textes unterschiedlich. Die Texte sollten daher von den Lernenden zunächst alleine gelesen werden, um ihnen ein persönliches Lesetempo zu ermöglichen. Es sollte von den Lehrenden auch darauf hingewiesen werden, dass - sofern vorhanden - auch Bilder, Grafiken oder Tabellen von den Lernenden für das Textverständnis genutzt werden sollten, da sie den Inhalt eines Textes vielfach erklären, verdeutlichen oder veranschaulichen bzw. Zusatzinformationen liefern, die das Textverständnis erleichtern (vgl. Schiesser/ Nodari 2005b). 327 Die Texte sollten prinzipiell mehrfach gelesen werden; wichtig ist dabei, dass jeder Lesevorgang anhand einer anderen Lesestrategie erfolgt (detailliertes/ globales/ selektives Lesen, unterschiedliche Lesegeschwindigkeiten etc.) (vgl. Nodari 2005b). 328 Die Lernenden sollten darauf hingewiesen werden, dass der Titel sowie Unter- und Zwischentitel (sofern vorhanden), Randnotizen bzw. fett oder kursiv gedruckte Textstellen in der Regel auf relevante Informationen im Text hinweisen. 329 Bei den Schlüsselwörtern kann es sich sowohl um inhaltstragende Wörter als auch um Funktionswörter handeln; z.B. Konjunktionen, die in einem Kästchen vorgegeben und von den Lernenden in den Text eingesetzt werden müssen (z.B. bei Textaufgaben aus der Mathematik). <?page no="211"?> 211 1. Einzelarbeit: Lies den Text einmal durch und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal durch, versuche ihn ganz genau zu verstehen und unterstreiche die wichtigsten Textstellen. 3. Paararbeit, Gruppe A (halbe Klasse): Kürzt euren Text um alle alltagsbezogenen Informationen. Schreibt den Text neu, sodass ein zusammenhängender Text entsteht. 4. Paararbeit, Gruppe B (halbe Klasse): Kürzt euren Text um alle Sachinformationen. Schreibt den Text neu, sodass ein zusammenhängender Text entsteht. 5. Gruppenarbeit (2 Paare, die unterschiedliche Aufgaben bearbeitet haben): Vergleicht eure Texte. Was fällt euch auf? 6. Paararbeit, Gruppe A: Schreibt einen neuen Text, in dem ihr den gekürzten Text durch eigene Kenntnisse und Erfahrungen zum Thema ergänzt. 7. Paararbeit, Gruppe B: Erweitert den gekürzten Text durch eigene Sachkenntnisse zum Thema. Der Text soll möglichst informationsreich sein. 8. Paararbeit: Tauscht die Texte zwischen den Gruppen aus und macht einander Vorschläge zur Verbesserung des Textes. Überarbeitet diesen Text anhand dieser Vorschläge. Kernaussagen formulieren & ausbauen Vorgabe: ein Text pro Gruppe 1. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal durch, versuche ihn im Detail zu verstehen und unterstreiche die wichtigsten Textstellen. 3. Gruppenarbeit: Formuliert den inhaltlichen Kern des Textes in einem Satz (schriftlich). 4. Gruppenarbeit: Tauscht diesen Satz mit einer Gruppe aus, die einen anderen Text als ihr gelesen hat. Stellt drei Fragen zu dem Satz, den ihr bekommen habt. Sie sollen von der Gruppe, die den Satz formuliert hat, beantwortet werden. (Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet, wie ihr das macht und erzählt euch nachher darüber.) 5. Gruppenarbeit: Nun erweitert den Kernsatz eurer Gruppe und schreibt einen Text (ca. eine A4-Seite), in dem ihr euer Wissen zum Thema einbaut. 6. Gruppenarbeit: Tauscht die Texte untereinander aus und teilt einander mit, was euch am Text auffällt. Überarbeitet den Text anhand der Rückmeldungen, die euch die anderen geben. 330 Vorinformationen zum Thema sind bei dieser Aufgabe in der Regel nötig. Der Text muss im Hinblick auf seine Funktionalität für diese Aufgabe genau geprüft werden. <?page no="212"?> 212 Kerninhalte suchen & ergänzen Vorgabe: ein Text 1. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal durch, versuche ihn ganz genau zu verstehen und unterstreiche die wichtigsten Textstellen. 3. Paararbeit: Sucht nach jener Textpassage, die am besten ausdrückt, worum es in diesem Text geht. 4. Gruppenarbeit: Teilt den anderen eure Entscheidung mit und begründet sie. Einigt euch in der Gruppe auf eine Textpassage. 5. Paararbeit: Baut diese Textpassage zu einem Text aus, der euren Vorstellungen von einem gelungenen Text zu diesem Thema entspricht. 6. Gruppenarbeit: Vergleicht eure Texte und kommentiert sie. 7. Einzelarbeit: Wie seid ihr bei diesen Aufgaben vorgegangen? Schreibt auf, was ihr gemacht habt. Schlüsselpassagen suchen & erweitern Vorgabe: verschiedene Texte zu einem Thema 1. Paararbeit: Sucht euch einen Text aus. 2. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 3. Paararbeit: Lest den Text ein zweites Mal durch und unterstreicht die wichtigsten Textstellen. 4. Gruppenarbeit: Vergleicht die unterstrichenen Textpassagen und einigt euch auf die wichtigsten Textstellen. Schreibt anhand der hervorgehobenen Informationen einen Text, in dem ihr die anderen über die wesentlichen Inhalte eures Textes informiert. 5. Gruppenarbeit: Überarbeitet und erweitert euren Text anhand der Rückmeldungen der anderen und bereitet ihn für ein Themenheft, eine Wandzeitung oder eine Internetseite auf. 6. Einzelarbeit: Wie seid ihr bei diesen Aufgaben vorgegangen? Schreibt auf, was ihr gemacht habt und was ihr daraus gelernt habt. prägnante Beispiele suchen & weiterverwenden Vorgabe: ein Text (mit prägnanten Beispielen) 1. Einzelarbeit: Lies den Text einmal durch und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Paararbeit: Lest den Text ein zweites Mal durch und sucht nach einem Beispiel, das den Inhalt des Textes gut illustriert. 3. Gruppenarbeit: Teilt einander eure Entscheidung mit. Einigt euch auf ein Beispiel und macht ein Bild, eine Collage oder ein Plakat. 4. Paararbeit: Schreibt auf der Basis dieses Beispiels einen Erzähltext zum Thema des Textes. 5. Gruppenarbeit: Vergleicht eure Texte. Was fällt euch auf? <?page no="213"?> 213 schwierige Textpassagen umformulieren & ergänzen Vorgabe: ein Text mit schwierigen Textpassagen 1. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal durch. Welche Textpassage ist für dich besonders schwer zu verstehen? 3. Gruppenarbeit: Vergleicht, welche Textpassagen ihr ausgewählt habt. Versucht gemeinsam herauszufinden, was sie bedeuten und konzentriert euch dabei auf das, was ihr versteht. 331 4. Gruppenarbeit: Versucht diese Textpassage in eigenen Worten neu zu formulieren. 332 5. Gruppenarbeit: Erweitert die neu formulierte Textpassage zu einem Text, der den Inhalt des Originaltextes verständlich wiedergibt. 6. Einzelarbeit: Wie seid ihr bei diesen Aufgaben vorgegangen? Schreibt auf, was ihr gemacht habt und was ihr dabei gelernt habt. die zentrale Textpassage finden & weiterverarbeiten Vorgabe: ein Text 1. Einzelarbeit: Lies den Text und versuche ihn im Großen und Ganzen zu verstehen. 2. Einzelarbeit: Lies den Text ein zweites Mal und versuche ihn ganz genau zu verstehen. Welche Textstelle gibt die zentrale Aussage/ Idee des Textes am besten wieder? 3. Gruppenarbeit: Vergleicht eure Ergebnisse und einigt euch auf eine Textstelle, die die zentrale Aussage oder Idee des Textes am besten wiedergibt. Vergleicht euer Ergebnis mit dem einer anderen Gruppe. 4. Gruppenarbeit: Welche Textstellen unterstützen die zentrale Aussage bzw. Idee des Textes? Vergleicht euer Ergebnis mit dem einer anderen Gruppe. 5. Gruppenarbeit: Schreibt einen Text, in dem ihr die zentralen Aussagen/ Ideen eures Textes ins Zentrum stellt. Ergänzt diese Informationen um das, was ihr selbst über das Thema wisst und was euch wichtig erscheint. (Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet, wie ihr das macht und erzählt euch nachher über seine/ ihre Eindrücke.) 331 Das Fokussieren unbekannter Wörter oder Textpassagen hat meist zur Folge, dass die Lernenden das Unverstandene fixieren; durch eine Konzentration auf das, was die Lernenden verstehen, lassen sich Verstehensprobleme vielfach gemeinsam lösen (vgl. Nodari 2005a, 51). 332 Pearson/ Tierney (1984) haben festgestellt, dass solcherart neu formulierte Textpassagen meist nicht nur von den Schreibenden selbst besser verstanden werden, sondern auch von den anderen Lernenden in der Klasse. <?page no="214"?> 214 5.3 Phase 3: Texttransformation In der Phase der Texttransformation arbeiten die Lernenden mit einem längeren Text oder mit mehreren Texten zum selben Thema. 333 Die Texte sind zum Teil vorgegeben, teilweise aber auch von den Lernenden selbst zu recherchieren. Die Aufgaben haben projektartigen Charakter. Informationen einholen und verarbeiten Vorgabe: ein Text pro Gruppe zum selben Thema 1. Gruppenarbeit: Unterstreicht die wichtigsten Informationen im Text. 2. Gruppenarbeit: Holt Informationen zu eurem Thema aus anderen Gruppen ein, recherchiert in Büchern und im Internet und schreibt einen Text, in dem ihr alles verwendet, was euch wichtig und interessant erscheint. 3. Gruppenarbeit: Tauscht eure Texte gruppenweise aus und macht einander Verbesserungsvorschläge. Überarbeitet die Texte anhand der Rückmeldungen. (Eine/ r aus eurer Gruppe beobachtet den Schreibprozess und berichtet nachher über das, was er/ sie beobachtet hat.) 4. Gruppenarbeit: Präsentiert eure Texte in einem Heft zum Thema, das alle in der Klasse/ Schule erhalten. Illustriert die Texte mit Bildern, Zeichnungen und Fotos. Informationen fokussieren und zusammenführen Vorgabe: verschiedene Texte zum selben Thema, je zwei Gruppen haben denselben Text 1. Paararbeit: Schreibt eine Zusammenfassung eures Textes. 2. Gruppenarbeit (gebildet von zwei Paaren, die denselben Text gelesen haben): Formuliert die zentrale Idee, Fragestellung oder Hypothese eures Textes in einem Satz (schriftlich). 3. Gruppenarbeit (jeder in der Gruppe hat einen anderen Text gelesen): Schreibt einen Text zum Thema, der in einem Themenheft erscheinen soll, das alle in der Klasse erhalten. Berücksichtigt Informationen aus verschiedenen Texten. 4. Gruppenarbeit: Tauscht die Texte aus, stellt Fragen zum Text der anderen und macht einander Verbesserungsvorschläge. 5. Gruppenarbeit: Überarbeitet die Texte anhand der Rückmeldungen der anderen und sammelt sie in einem Themenheft, das alle in der Klasse erhalten. Illustriert die Texte mit Bildern, Zeichnungen oder Fotos. mit Texten argumentieren Vorgabe: argumentative Texte zu einem kontroversen Thema 1. Paararbeit: Markiert alle Stellen im Text, mit denen ihr einverstanden seid bzw. die nicht eurer Meinung entsprechen. Sammelt die im Text vorgebrachten Argumente und ergänzt sie durch eigene Argumente. 333 In einem Vorschlag ist ein Film die Grundlage einer Aufgabe. <?page no="215"?> 215 2. Plenum: Stellt eine Runde für eine Podiumsdiskussion zum Thema zusammen und spielt die Diskussion. 3. Plenum: Wie ist die Podiumsdiskussion gelaufen? Wie wurde argumentiert? 334 4. Paararbeit: Schreibt einen Bericht darüber für eine Tageszeitung. Sachtexte als Modelle Vorgabe: mehrere Sachtexte zu einem Thema 1. Paararbeit: Sucht euch einen Text aus und verwendet ihn als Modell für einen Text zu einem ähnlichen Thema. Versucht euren Text inhaltlich und sprachlich möglichst vorlagengetreu zu gestalten. 2. Paararbeit: Recherchiert Material zum Thema aus Büchern und aus dem Internet. 3. Gruppenarbeit: Lest einander eure Texte vor und gebt euch gegenseitig Tipps zur Verbesserung der Texte. 4. Paararbeit: Verbessert eure Texte anhand der Rückmeldungen eurer MitschülerInnen. Sammelt die Texte in einem Themenheft, das alle in der Klasse bekommen sollen. vom Sachtext zur Phantasieerzählung Vorgabe: mehrere Sachtexte zum selben Thema 1. Paararbeit: Verwendet die Texte als Impuls für eine Phantasieerzählung zum Thema. 2. Gruppenarbeit: Lest einander eure Texte vor und sagt, was euch an den Texten der anderen gefällt/ nicht gefällt. 3. Paararbeit: Überarbeitet euren Text anhand der Rückmeldungen. 4. Gruppenarbeit: Sammelt und illustriert eure Texte und stellt sie aus. VARIATION: Der Sachtext könnte auch für eine Fabel, ein Märchen, eine Abenteuergeschichte, eine Kriminalgeschichte etc. verwendet werden oder es könnte ein literarischer Text in einen Sachtext „umgeschrieben” werden. Lesetheater 335 Vorgabe: Sachtext oder Erzähltext 1. Gruppenarbeit: Schreibt den Text in einen szenischen Text mit mehreren Rollen um. Ihr könnt Textteile aus dem vorgegebenen Text verwenden, ihr könnt aber auch selbst Textteile ergänzen. 2. Gruppenarbeit: Verteilt die Rollen, lest den Text vor oder spielt die Szene. Ihr könnt diese Szene auch zu einem Theaterstück ausbauen und es aufführen. 3. Einzelarbeit: Schreibt eine Zusammenfassung der Szene, die euch am besten gefallen hat. 334 Es ist günstig, die Diskussion mit einer Kamera aufzuzeichnen, um sich einzelne Szenen noch einmal aus der Distanz anschauen und analysieren zu können. 335 Nach einer Idee von Richard Kern (2000, 141). <?page no="216"?> 216 Filmszenen Vorgabe: Film 1. Gruppenarbeit: Sucht euch eine Szene aus, die euch am besten gefällt. Schreibt ein Skript zu dieser Szene. Ihr könnt Details verändern oder hinzufügen. 2. Plenum: Spielt die Szene. Die anderen müssen erraten, um welche Szene es sich handelt. 3. Paararbeit: Schreibt eine Filmkritik zu der Szene, die euch am besten gefallen hat. Projekt Vorgabe: ein Themenbereich 1. Gruppenarbeit: Einigt euch auf fünf zentrale Fragen zum Thema. 2. Gruppenarbeit: Formuliert einen Arbeitstitel und überlegt euch ein Projektprodukt. Recherchiert Texte und Bilder anhand der Fragen. 3. Gruppenarbeit: Erstellt einen Projektplan und verteilt verschiedene Aufgaben in der Gruppe. Informiert die anderen in der Klasse regelmäßig über den Fortgang eures Projektes. 4. Gruppenarbeit: Schreibt Texte für eine Projektmappe, die alle in der Klasse bekommen. Überlegt euch, wie ihr eure LeserInnen ansprechen möchtet, welche Informationen ihr ihnen geben und auf welche Art ihr sie präsentieren wollt. Macht eine Titelseite, ein Inhaltsverzeichnis und schreibt ein Vorwort. Entwerft ein ansprechendes Layout und verwendet illustrative Bilder. Jede/ r in der Gruppe sollte zumindest zwei Beiträge für diese Projektmappe leisten. 5. Gruppenarbeit: Präsentiert euer Projekt. Jede/ r in der Gruppe übernimmt bei der Präsentation eine aktive Rolle. 6. Gruppenarbeit: Beurteilt das Projekt einer anderen Gruppe. Bewertet den Projektinhalt, die mündliche Präsentation und die Projektmappe. VARIATION: Das Projekt wird als ein Zeitungsprojekt durchgeführt. Es wird ein Redaktionsteam gebildet und es werden Rollen für verschiedene Bereiche (z.B. für das Schreiben der Artikel, für die Bildredaktion, für die grafische Gestaltung etc.) vergeben. Die Zeitung wird am Ende des Projektes präsentiert und allen SchülerInnen in der Klasse zur Verfügung gestellt. Die Aufgaben dieser Aufgabentypologie sind lernerorientiert, vielseitig, einfach zu handhaben und anhand verschiedenster Texte und in unterschiedlichsten Lernkontexten zu verwenden und: sie funktionieren, und zwar in dem Sinne, als sie einen Mechanismus in der Arbeit an Texten in Gang setzen, der intensive sprach- und inhaltsgerichtete Lernprozesse auslöst und es Lernenden damit erleichtert bzw. - im Falle vieler Zweitsprachenlernender - überhaupt erst ermöglicht, im Unterricht anhand von Texten zu lernen. <?page no="217"?> 217 ZUM ABSCHLUSS Das Ziel dieser Arbeit war es, relevante Aspekte und Zusammenhänge der Textkompetenz und des Lernens in der Zweitsprache aufzuzeigen und für die Entwicklung eines didaktischen Instrumentariums zur Förderung der Textkompetenz zu nutzen. Daraus ergeben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungarbeiten, ausgehend von stärker theoretisch, empirisch oder didaktisch orientierten Fragestellungen. Textkompetenz, Sprachkompetenz und Transfer Die Frage, welche Dynamiken im Prozess der zweitsprachlichen Sprachverarbeitung und des Wissenserwerbs in der Zweitsprache entstehen können und welche Rolle dabei die Textkompetenz der Lernenden in der Erst- und der Zweitsprache spielt, ist nicht abschließend geklärt. Bestehende Hypothesen in Bezug auf „Schwellen” der Sprach- und der Textkompetenz bzw. auf den Transfer von Kompetenzen zwischen der Erst- und der Zweitsprache bedürfen einer weiteren theoretischen und empirischen Fundierung. Forschungsarbeiten in diesem Bereich sind sowohl für die Zweitsprachenerwerbsforschung als auch für die Didaktik ein wichtiges Desiderat. Diagnose von Textkompetenz Das verfügbare Wissen in Bezug auf Entwicklungsstufen und Indikatoren von Textkompetenz bedarf einer weiteren Ausdifferenzierung und Absicherung auf quantitativ-empirischer Grundlage. Auf dieser Basis könnte ein altersbezogenes Instrument der Diagnose von Textkompetenz entwickelt werden, das im Bezug auf das Schreiben sowohl prozessals auch produktorientiert einsetzbar wäre. Dieser Bereich ist sowohl für die Didaktik als auch für die Textverstehens- und Schreibforschung von Interesse. Feststellung und Förderung früher literaler Kompetenzen Wie lässt sich frühe Literalität erkennen, beschreiben und klassifizieren? Wie können frühe literale Kompetenzen gefördert werden? Wie wirkt sich die literale Entwicklung im Vorschulalter auf den späteren Schulerfolg aus? Wie sind Lernangebote für Kinder zu gestalten, die bei Schuleintritt über eine altersgemäß relativ hohe bzw. niedrige Textkompetenz verfügen? Diese Fragen sind für die weiterführende Forschung im Bereich „early literacy”, aber auch für die Didaktik an der Schnittstelle zwischen Kindergarten und Schule relevant. Restrukturierung der Sprache durch den Schrifterwerb Durch den Schrifterwerb wird Sprache grundlegend verändert und restrukturiert. Zur Frage, wie sich der mündliche und der schriftliche Sprachgebrauch in diesem Prozess verändern und inwieweit interne Erwerbs- <?page no="218"?> 218 mechanismen bzw. äußere Einflüsse dabei eine Rolle spielen, ob es „Schübe” in diesem Entwicklungsprozess gibt bzw. inwieweit diese mit zweitsprachenerwerbsbezogenen Faktoren korrelieren, hat sich in den letzten Jahren ein lebendiger Fachdiskurs entwickelt, der aus der Perspektive des Unterrichts und der Didaktik bislang jedoch kaum diskutiert wurde. Literale Basiskompetenzen Kann man davon ausgehen, dass es sprachenübergreifende „literale Basiskompetenzen” gibt? Wenn ja, in welchem Zusammenhang steht deren Ausbildung mit gesellschaftlichen, soziokulturellen, sozialen bzw. individuellen Einflussfaktoren? Welche Rolle spielt dabei die Kenntnis von Textsorten, Wortschatz und Syntax? Diese Fragen bieten ein breites, weitgehend noch unerforschtes Betätigungsfeld für die Spracherwerbs- und die Schreibforschung, aber auch für die Didaktik. Manifestationen von Textkompetenz an der sprachlichen Oberfläche Wie manifestiert sich Textkompetenz an der sprachlichen Oberfläche eines Textes und wie verhält sie sich zur Texttiefenstruktur bzw. zu Sprachverarbeitungsprozessen in der Erst- und in der Zweitsprache? Welcher Zusammenhang besteht zwischen den verwendeten Wörtern und der Textkompetenz der Lernenden? Diese und weiterführende Fragen in diesem Bereich könnten interessante Ergebnisse für die Schreibentwicklungs- und Literalitätsforschung, aber auch für die Didaktik liefern. Modelladaptierungen der Literalen Didaktik Und schließlich könnte das in dieser Arbeit präsentierte 3-Phasen-Modell zur Förderung der Textkompetenz im Hinblick auf spezifische Lernkontexte und Zielgruppen diversifiziert und ausgebaut werden. Auf diese Weise könnten neben den skizzierten didaktischen Grundverfahren domänen- und textsortenspezifische Anwendungsformen zur Verfügung gestellt werden, die in verschiedenen Lernsituationen in der Schule, aber auch im Studium und in anderen Bildungskontexten einsetzbar wären. Damit sind nur einige jener weiterführenden Themen und Forschungsfragen genannt, die sich aus dieser Arbeit heraus ergeben. Sie zeigen, dass sich aus der engen Verknüpfung zwischen theoriegeleiteten Forschungsdisziplinen und der Didaktik vielfältige Perspektiven für weiterführende Forschungsarbeiten ergeben, die Rückkopplungen und Bereicherungen in beide Richtungen erlauben. <?page no="219"?> 219 ANHANG Tabelle 1: Sprachliche Probleme von SchülerInnen des dritten Schuljahres beim Lösen einer Mathematikaufgabe (vgl. Peltzer-Karpf et al. 2003, 182) Auswertung Sprachgruppen Türkisch B/ K/ S 336 andere Muttersprachen Deutsch alles richtig 20 % 41 % 17 % 72 % sprachliche Probleme 25 % 6% 14 % 4 % mathematische Probleme 17 % 14 % 11 % 3 % Rechenfehler prozentuelle Mittelwerte 20 % 16 % 22 % 11 % Tabelle 2: Gesprochene und geschriebene Sprache (vgl. Nussbaumer 1991, 278) GESPROCHENE SPRACHE GESCHRIEBENE SPRACHE • einfachere, kürzere, variationsärmere Lexik; mehr Floskeln • viele, typisch sprechsprachliche Partikel • einfache, variationsarme Syntax • „weiche”, nicht streng durchkomponierte Syntax • typisch sprechsprachliche grammatische Kategorien und morphologische Formen (z.B. Perfekt) • mehr „Fehler” • wenig komponierter Textbau (z.B. wenige und unscharfe Kohäsionsmittel) • typisch sprechsprachliche Metakommunikation • weniger Information im Verhältnis zur Textlänge • schwierigere, differenziertere, längere, variationsreichere Lexik • wenige Partikel • kompliziertere, variationsreichere Syntax • „harte”, streng durchkomponierte Syntax • typisch schriftsprachliche grammatische Kategorien und morphologische Formen • weniger „Fehler” • typisch schriftsprachliche Konstruktionen • „normalere” Wortstellung • stärker komponierter Textbau (z.B. konsequenterer Gebrauch von Kohäsionsmitteln) • typisch schriftsprachliche Metakommunikation • mehr Informationen im Verhältnis zur Textlänge 336 Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch. <?page no="220"?> 220 Tabelle 3: Pragmatische Bedingungen von gesprochener und geschriebener Sprache (nach Nussbaumer 1991, 279) PRAGMATISCHE BEDINGUNGEN VON GESPROCHENER SPRACHE PRAGMATISCHE BEDINGUNGEN VON GESCHRIEBENER SPRACHE • mündlich realisiert, lautlich materialisiert • dialogisch, zweiwegig • eher privat, wenige KommunikationspartnerInnen • ungeplant, spontan • kürzere Planungszeit (Produktion) • kürzere Verarbeitungszeit (Rezeption) • Zeit-/ Ortsgleichheit von Produktion und Rezeption • direktes Feedback, Rückfragen und Einspruch möglich • an Produzenten und an die Situation gebundenes sprachliches Produkt • situationseingebunden • diverse Zeichenkanäle und Zeichenarten • schriftlich realisiert, graphisch materialisiert • monologisch, einwegig • eher öffentlich, mehr AdressatInnen • geplant • lange Planungszeit (Produktion) • lange Verarbeitungszeit (Rezeption) • Zeit-/ Ortsversetztheit von Produktion und Rezeption • ohne direktes Feedback, Rückfragen und Einspruch nicht möglich • von Produzenten und Situation abgelöstes sprachliches Produkt • situationsenthoben, verselbständigt • ein Zeichenkanal, eine Zeichenart (verbal) Tabelle 4: Kommunikative Grundhaltungen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit (vgl. Sieber 1998, 188) Mündlichkeit Schriftlichkeit • das Wort nicht so ernst nehmen • alltagsbezogenes Verstehen • Orientierung an der Sprechhandlung • orientiert an Nähe • Erfahrungsdiskurs • das Wort beim Wort nehmen • sachbezogenes Verstehen • Orientierung am Sprachwerk 337 • orientiert an Distanz • Wissensdiskurs 337 Diese Unterscheidung geht auf Bühler (1965) zurück. <?page no="221"?> 221 Gönül, Secil und Marija Mira <?page no="222"?> 222 Aynur <?page no="223"?> 223 Emre <?page no="224"?> 224 HEIL HITLER Dora Grünberg Nur der Wecker! Kein Alarm! Bloß keine Panik, Johanna! Trotzdem! Tiefer Atemzug bis in den Bauch. Auch wenn ich in meinem eigenen Bett liege, mit meiner Lieblingsbettwäsche, rotweiß kariert, den abgeschabten Teddy, für den ich eigentlich schon viel zu alt bin, neben mir, rast mein Puls jedes Mal wie blöd, als ginge es um mein Leben. Jeden Morgen, wenn der verdammte Wecker mich aus dem Tiefschlaf reißt. Wenn man das überhaupt Tiefschlaf nennen kann. Dieses lauernde, schreckhafte Vor-sich-hin-Dämmern … Aber: mal wieder Glück gehabt! Eine Nacht ohne Alarm. Und ohne Bomben. Ich lebe noch. Ich ziehe die schwarzen Rollos hoch. Strahlend blauer Himmel. Und eine Sonne in Höchstform. Die schwarze Nacht ist endgültig vorbei. Eine Nacht ohne das schrille, unüberhörbare Geräusch der Sirenen, das die tödliche Bedrohung ankündigt. Keine eilige, panische Flucht mit dem Koffer, der gerade das Wichtigste enthält. Ausweispapiere, Dokumente, Schmuck und Silber. Immer wieder der kleine Abschied. Diese Nacht also im eigenen Bett. In dem Haus, das noch steht. Das aber in jeder Nacht dem Erdboden gleichgemacht werden könnte. Jede Nacht ein Schrecken. Ich hasse diese Nächte, in denen ich mich zu Tode fürchte. Die Nächte im feuchten Luftschutzkeller, Teddy im Arm, das Herz flatternd vor Angst … bis irgendwann die Sirene die erlösende Entwarnung gibt. Und doch bin ich noch hier. In dieser Stadt, aus der viele schon geflohen sind. Evakuiert nennt sich das. Wer es sich leisten kann, geht aufs Land. Auf dem Land lebt es sich auch in Zeiten des Krieges relativ sicher. Ich könnte auch auf dem Land sein. Aber ich habe mich für die Stadt entschieden. „Selber schuld, wenn du krepierst! ”, sagt Michael, mein Cousin. Da hat er Recht. In unserer Stadt ist es besonders gefährlich. Industriestädte mit Bergwerken und Fabriken sind die beliebtesten Angriffsziele für unsere Feinde, denen unser Land den Krieg erklärt hat. Und die jetzt erbarmungslos zurückschlagen. <?page no="225"?> 225 Wenn Fabriken, Brücken, wichtige Zufahrtsstraßen, Elektrizitätswerke zerstört sind, ist auch die Lebensgrundlage der Menschen zerstört. Wenn nichts mehr übrig bleibt, nur noch zerbombte Städte, dann haben wir den Krieg verloren. Diesen Krieg, der ein absurdes Verbrechen ist. Aber das darf man nicht laut sagen. Laut sagen darf man sowieso nichts mehr. Nur noch HEIL HITLER. Und das möglichst laut. Das habe ich begriffen. Aber ich habe diese beiden Wörter noch nie wirklich ausgesprochen. Mich immer daran vorbeigemogelt. Die Lippen bewegt. So getan als ob. Irgendwie feige. Ich weiß. Und was ich mir wirklich übel nehme: In der Schule hebe ich den Arm zum Hitler-Gruß. Weil es alle tun. Mogeln geht da nicht. Meine Mutter ist da mutiger. Sie zeigt, dass sie unseren Führer ablehnt. Sie verweigert den Gruß ganz offen. Niemals hebt sie den Arm in die gewünschte Position. Sie sagt „Guten Morgen! ” oder „Guten Tag! ” oder wenn sie besonders gut drauf ist, auch „Grüß Gott! ” Und das ist eine echte Provokation. Ich riskiere nicht wirklich etwas. Was kann mir schon passieren? Eigentlich nichts. Eine Arbeit kann man mir nicht wegnehmen, weil ich noch keine habe. Ins Gefängnis oder ins Arbeitslager kann man mich nicht stecken, weil ich zu jung bin. Ich bin ziemlich feige. Ich erfinde Ausreden. Jedes Mal, wenn die BDM-Führerin mir mal wieder die Mitgliedschaft für die Jungmädelschar aufdrücken will, erzähle ich ihr, dass in meiner Freizeit mein Einsatz in der Brotfabrik nötig ist. Die Brotfabrik gehört meinem Großvater. Aber der hat es vorgezogen, aufs Land zu gehen. Meine Mutter leitet jetzt die Fabrik. Ganz freiwillig. Sie hätte auch aufs Land ziehen können. Unsere Familie hat dort einen Bauernhof. Verhungert wären wir nicht. Wir hätten es dort sogar ziemlich gemütlich gehabt. So wie früher in den Ferien. Im Winter lange Abende in der Tenne am Kamin. Mit heißer Schokolade und Waffeln. Tante Mia, die Märchentante, mit ihren Geschichten. Im Sommer Kartoffelfeuer. Forellenangeln im Fluss. Die Milch immer frisch von der Kuh. Leberwurst vom eigenen Schwein. Der leise Landregen und der anschließende Regenbogen. <?page no="226"?> 226 Die große Küche mit dem knisternden Herdfeuer. Fido, der alte Jagdhund, vor seiner Hundehütte. Und die vielen Katzen … Ja, und dann die Gerüche. Das frisch geschlagene Holz. Das Heu auf den Wiesen. Der Rosinenkuchen am Samstag. Der Schweinebraten am Sonntag. Der Stallgeruch. Das Paradies. Das Einzige, was mich immer gestört hat, waren die Fliegen im Sommer. Das Gebrumme, mit dem sie näher kamen. Seit ich die Flugobjekte am Himmel mit ihren Geräuschen kennen gelernt habe, sehne ich mich nach dem harmlosen Gebrumme der Fliegen. Und jetzt habe ich freiwillig diesen Himmel gegen die Hölle eingetauscht. Warum das so ist, kann ich gar nicht so genau sagen. Vielleicht Trotz? Weil alle gegangen sind, bin ich geblieben? Um es Michael, meinem Cousin, zu zeigen, wie mutig ich bin (in meiner Feigheit)? Um meine Mutter zu unterstützen, die sich ganz bewusst dieser Herausforderung stellt? Die schon immer, auch als es mich noch nicht gab, gegen den Strom geschwommen ist? Um ihr nahe zu sein, weil ich sonst niemanden mehr habe, nachdem eines Tages zwei Männer in schwarzen Uniformen meinen Vater abgeholt haben? Es hat mich einige Kämpfe gekostet, in der Stadt bleiben zu dürfen. „Auf dem Land bist du sicherer! ”, sagte meine Mutter. „Wenn du nicht gehst, geh ich auch nicht! ”, sagte ich. Deshalb bin ich noch hier. Obwohl ich viel lieber in Sicherheit wäre. Aber das sage ich nicht. Niemandem. Trotz und Stolz. Das sind wohl meine markantesten Eigenschaften … Sommerferien. Anstatt faul auf der Wiese am Bach zu liegen, den Schmetterlingen und Libellen zuzuschauen, Eva und Ursula, den kleinen Cousinen, Blumenkränze aus Löwenzahn und Gänseblümchen zu flechten, den schlafenden Michael mit einem Grashalm wachzukitzeln, stehe ich im Laden und verkaufe Brot der Kriegsqualität. Täglich sind neu erfundene Mischungen im Angebot. Je nachdem was meine Mutter an Getreidesorten auftreiben konnte. „Eines Tages”, sagt sie, und das sagt sie jeden Tag, „gibt es kein Mehl mehr. Dann können auch wir die Stadt verlassen! ” Aber daran glaube ich nicht. Meine Mutter findet immer einen Weg. Keine Ahnung, wie sie das macht. Aber noch schafft sie es, die acht Filialen zu beliefern, auch die Krankenhäuser und Altersheime dieser Stadt. <?page no="227"?> 227 Auch sie könnte es sich leicht machen. Könnte jetzt mit ihrer Staffelei am Bach sitzen und ihren Lieblingsbaum, die Kopfweide, malen … Sie macht es sich schwer. Mit ihrem „Nein”. Aber so ist sie eben. Und ohne dieses „Nein” wäre meine Mutter nicht meine Mutter. „Warum gehst du nicht weg? Du könntest jetzt endlich in aller Ruhe deine Bilder malen! ” „Die Menschen brauchen Brot.” Das ist der einzige Grund. Sie findet, es ist ihre Pflicht. Mehr nicht. Niemals beklagt sie sich. Und sie macht nicht den Eindruck, dass sie unglücklich ist. Obwohl sie nie genug Schlaf bekommt und täglich dünner wird. Ihre Bilder malt sie am Sonntag in ihrem Büro. Nicht auf der Staffelei. Nein, einfach auf ihrem Schreibtisch. Freundliche Aquarelle. Die Kopfweiden am Bach zum Beispiel. Und die alte Silbermühle am Fluss … Mein Wecker zeigt sieben Uhr an. Schrecklich früh. Aber meine Mutter lässt sich schon um vier wecken. Das Kalenderblatt kündigt einen Unglückstag an. Heute ist Freitag, der 13. August. Ich bin gemäßigt abergläubisch. Heute für elf haben sich Besucher angesagt. Männer von der SA zur Betriebskontrolle. Was immer das heißt. „Bestimmt kommen sie, um den Betrieb dichtzumachen, den letzten Wagen zu beschlagnahmen und alles andere, was sie gebrauchen können! ” Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Das werden sie nicht wagen. Wer beliefert dann die Krankenhäuser und Altersheime? ” Meine Mutter fühlt sich sicher. Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich sie sehe, diese besonders deutschen Männer, hoch gewachsen, blond und blauäugig. In ihrer Dienstkleidung. Ich hasse das Braun ihrer Uniformen, das aufgenähte Hakenkreuz. Ihre Knüppel am Gürtel und die Pistolen. Sie haben nicht nur meinen Vater abgeholt … In unserer Straße hat es einige erwischt. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Herrn Schmidbauer, weil er verbotene Flugblätter gedruckt hat. Herrn Grünbaum, weil er eine jüdische Großmutter gehabt hat. Und Maria, die Tochter unserer Köchin, weil sie taubstumm ist. In unserer Straße ist nichts mehr so wie früher. Das Haus vom Schuhmacher Wedekind ist gleich beim ersten Bombenangriff voll erwischt worden. Bis zum Keller alles weg. Und die ganze Familie dazu. <?page no="228"?> 228 Von der Gaststätte Zum Pütt ist nur noch das Erdgeschoss übrig geblieben. Die Menschen waren zum Glück im Luftschutzkeller. Die sind jetzt bei Verwandten untergekrochen. Der Kirche fehlt die Kirchturmspitze. Die Straßenbahn fährt schon lange nicht mehr. Eine der ersten Bomben hat das Straßenbahndepot getroffen. Und da sie gegen Mitternacht fiel, standen alle Straßenbahnen schön ordentlich nebeneinander in den Hallen. … An die Trümmer habe ich mich inzwischen gewöhnt. Aber daran, dass einige Menschen für immer weg sind, daran kann ich mich nicht gewöhnen. Und die, die noch da sind, haben sich verändert. Die einen sind verstummt. Die anderen sind krank. Und die anderen tragen das Abzeichen oder die Uniform. Die Jasager. Aber die meiden uns. Auch meine allerbeste Freundin. Karin, die Tochter vom Gemüsehändler. Seit ihr Vater Sturmbannführer ist, redet sie nicht mehr mit mir. Das tut am meisten weh. Weil ich sie täglich sehe. Manchmal möchte ich dazugehören. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach mitfahren. Wenn sie in ihrer Einheitsbekleidung am Wochenende auf eine Fahrt gehen. Wenn sie am Lagerfeuer ihre Lieder singen. Und froh zu sein scheinen. Auch jetzt ist Karin unterwegs. Sommerlager an der Ostsee … Nein, weg mit diesen Gedanken. Ich springe aus dem Bett. Katzenwäsche mit kaltem Wasser. Zum Frühstück Haferbrei. Dann in den Laden. Manchmal schließen wir schon nach einer Stunde. Weil alles ausverkauft ist, was wir haben. Aber noch niemals ist es vorgekommen, dass wir den Laden nicht öffnen konnten. Heute schließen wir erst um elf. Schon lange gibt es keine weißen Brötchen aus Weizenmehl mehr. Auch keinen Kuchen, kein Gebäck. Seit Monaten gibt es nur noch eine Sorte Brot. Eine Mischung aus dem, was da ist. Meistens Roggen, Gerste und Hafer. Und obwohl es längst nicht mehr so gut riecht und schmeckt wie früher, ist immer alles ganz schnell ausverkauft. Und die Schlange vor dem Laden ist einige hundert Meter lang. Erika, die alte Erika, die im Laden arbeitet, seit ich auf der Welt bin, schließt die Ladentür. Sie lässt das alte Eisengitter runter. So wie früher, als sich ein Einbruch noch gelohnt hat. Dann kocht sie Kaffee, der nicht nach Kaffee riecht, weil er nicht aus Kaffeebohnen besteht. Aber er sieht so aus. Und ist besser als Wasser. Sagt sie. <?page no="229"?> 229 Ich bringe meiner Mutter eine Tasse ins Büro. Seit mein Großvater und mein Onkel aufs Land geflüchtet sind und der Buchhalter eingezogen wurde, macht meine Mutter die ganze Büroarbeit allein. Sie verzieht das Gesicht. Aber sie lächelt. Wenn meine Mutter wirklich etwas vermisst in diesem Krieg außer meinem Vater, dann ist das echter Bohnenkaffee und ab und zu eine gute Praline. Glaube ich. Im Tresor lagert die letzte Packung Kaffee. Aber die rührt sie nicht an. Die scheint ihr heilig zu sein. Sie schaut auf die Uhr. „Fünf nach elf. Normalerweise sind sie pünktlich! ” Ich setze mich an einen der verwaisten Schreibtische. Auf der grünen Unterlage aus Linoleum habe ich meine ersten Bilder gemalt … „Du gehst jetzt besser! ”, sagt meine Mutter. „Warum? ” „Es kann ungemütlich werden! Man kann nie wissen! ” Bis jetzt habe ich mich tatsächlich immer davongeschlichen, wenn Besuch in Uniform angesagt war. Habe mich im Gemüsegarten nützlich gemacht. Heute könnte ich zum Beispiel Kirschen pflücken. Nachschauen, wie viele Eier die Hühner gelegt haben. Aber heute bleibe ich auf meinem Drehstuhl sitzen. Meine Mutter putzt ihre Brille. Dann hören wir einen Wagen in den Hof fahren. Zwei Männer steigen aus. Die Angst kommt angekrochen. „Noch könntest du gehen! ”, sagt meine Mutter. „Durch die Hintertür.” „Heute nicht! ”, sage ich. Die Männer betreten das Büro ohne anzuklopfen. Sie stehen in der Eingangstür, die Hand zum Gruß am Mützenrand. „Heil Hitler! ” „Guten Morgen! ”, sagt meine Mutter. Ich sage nichts. „Wollen Sie Platz nehmen? ” Die Männer nicken. Meine Mutter führt sie in den Nebenraum, in das Zimmer mit den grünen Ledersesseln, das Zimmer ohne Schreibtische, ohne Schreibmaschinen, ohne Aktenschränke. Das Zimmer, in dem früher mein Großvater seinen Besuchern eine gute Zigarre und einen guten Tropfen angeboten hat. Meine Mutter bietet nur jeweils einen Sessel an. Ich bleibe in der Tür stehen. „Kommen wir gleich zur Sache, Frau Vonderburg! ”, sagt der Jüngere. „Wir haben Ihnen schon vor einem Jahr das Angebot gemacht, unsere BDM- <?page no="230"?> 230 Sportelite im Segelfliegen zu unterrichten. Sie haben sich damals geweigert. Wir haben Sie auch gebeten, der gleichen Gruppe im Skilanglauf einen Grundkurs zu erteilen. Auch dieses Angebot haben Sie ausgeschlagen. Wir haben Sie daraufhin aus beiden Vereinen ausgeschlossen.” Er macht eine Pause und fixiert meine Mutter. Mit seinen blauen Augen, die eigentlich ziemlich schön wären, wären sie nicht so kalt. Die große Leidenschaft meiner Mutter neben ihrer Malerei war das Segelfliegen und der Skisport. Sie war überhaupt eine der ersten Frauen in Deutschland, die den Segelflugschein gemacht haben. Und im Skilaufen hat sie alle möglichen Pokale geholt. Es muss ihr schrecklich wehgetan haben, als man sie aus den Vereinen ausgeschlossen hat. Aber auch wenn es so ist, meine Mutter zeigt es nicht. Sie schaut den Männern offen und ohne mit der Wimper zu zucken ins Gesicht. Blickt sie erwartungsvoll an. „Wir möchten, weil wir Ihre Fähigkeiten schätzen, heute unser Angebot wiederholen. Mir ist allerdings nicht entgangen, dass Sie uns und unserem Führer immer noch den Gruß vorenthalten, der ihm und uns, seinen Vertretern, gebührt! ” „Ich werde auch heute Ihr Angebot nicht annehmen! ”, sagt meine Mutter ruhig. „Das wird nicht ohne Konsequenzen für Sie bleiben! ”, sagt der Ältere. „Das ist Widerstand! Sie missachten die Befehle des Führers. Ist Ihnen das klar? ” Meine Mutter nickt. Die Männer springen auf. Zum Fürchten sehen sie aus. „Heil Hitler! ”, sagen sie im Chor und heben die Hand zum Gruß. „Auf Wiedersehen! ”, sagt meine Mutter. „Auf Wiedersehen! ”, höre ich mich sagen. Meine Mutter öffnet den Tresor. „Und nun? ” „Keine Ahnung! Aber es war gut so! ” Sie holt die letzte Packung Kaffee aus dem Versteck. Meine Mutter lächelt. Überhaupt nicht unglücklich. Egal, was passieren wird. „Hatten wir nicht noch eine allerletzte Packung Pralinen? ” Die Hand meiner Mutter greift in den Tresor … <?page no="231"?> 231 Nuran Birgit <?page no="232"?> 232 Mira <?page no="233"?> 233 Secil, Gönül, Marija <?page no="234"?> 234 Mira, Christina <?page no="235"?> 235 Schriftliche Bildbeschreibungen im Vergleich (Zuordnung zu den einzelnen Bildern): Bildbeschreibung (schriftlich) von Marija, Secil und Gönül Bildbeschreibung (schriftlich) von Mira und Christina 1 An einem schönen Tag hatte die kleine Maus einen riesigen Hunger. 1 Eines schönen Tages ging die Maus aus ihrem Mäuseloch hinaus. 2 Die Maus schaute sich um ob sie was stabizen kann. 2 Sie hatte einen riesen-Hunger und schaute sich aufgeregt um ob sie etwas zu fressen finden konnte. 3 Sie sah auf einem Tisch Käse. Und dachte sich wie komm ich da rauf. Die kleine Maus hatte schon eine Idee. 3 Sie roch aus einem großem Schrank einen guten Käsegeruch und folgte dem. 4 Sie kletterte rauf. 4 Sie versuchte auf den Schrank zu klettern. Am Anfang war es zwar ziemlich wackelig, aber am Ende gelangt es ihr doch. 5 5 Vor ihren Augen sah sie schon das große, duftende Stück Käse. 6 Und aß sich voll. 6 Erfreut stürtzte sie sich auf das große Stück Käse. Sie fraß alles auf und ließ nur noch ein paar Krümel übrig. 7 Sie legte sich hin mit dem dicken Bauch und schlief ein. 7 Mit vollem Bauch legte sie sich auf den Teller und schlief ruhig ein. 8 Da kam der dicke Mann und dachte sich ich hab einen rießen hunger. 8 Hungrig öffnete Manfred die Küchentür um sich etwas zu essen zu holen. 9 er dachte ich muss schaun ich hatten noch ein stück Käse. 9 Da fiel ihm das große Stück Käse ein das er heute in der Früh im Supermarkt gekauft hatte. 10 10 Er sah auf dem Teller wo früher das große Stück Käse war. Aber warum waren da nur mehr ein paar kleine Krümel am Teller? Vorsichtig hob Manfred den Teller auf um sich das ganze noch einmal genauer anzusehen. 11 Er nahm den Teller und sah die Maus auf den Teller liegen. Er ließ den Teller aus der Hand. 11 12 Und rannte weg. Der Teller zerbrach in taußend stücken. 12 Als er den Teller schon in den Händen hielt sprang eine kleine Maus vom Teller. Erschreckt ließ Manfred den Teller auf den Boden fallen, und der Teller sprang in zwei. Das war ein aufregendes Erlebnis für die beiden. <?page no="236"?> 236 Literarischer Text zur Didaktisierung (Kap. 4) BAUDOLINO Umberto Eco „Siehst du nun, was eine Stadt ist? ” sagte der Ghini. „Und wenn sie jetzt schon so ist, wo sie noch nicht mal fertig ist, wie wird sie dann erst nachher sein? Ich sage dir, das wird ein ganz anderes Leben. Jeden Tag siehst du neue Leute - für die Händler und Kaufleute, stell dir vor, muß das wie ein himmlisches Jerusalem sein, und was die Ritter betrifft, der Kaiser hat ihnen verboten, Land zu verkaufen, damit der Besitz nicht geteilt wird, und so sind sie elend verhungert auf ihrem Land. Hier dagegen befehligen sie Kompanien von Bogenschützen, kommen hoch zu Roß daher und erteilen Befehl nach rechts und nach links. Aber nicht nur den Rittern und den Kaufleuten geht es hier gut, es ist auch ein Segen für Leute wie für deinen Vater, der nicht viel Land hat, aber ein bißchen Vieh, denn in die Stadt kommen Leute, die danach fragen und mit richtigem Geld dafür bezahlen. Man bezahlt immer öfter mit klingender Münze und nicht mit anderen Waren im Tausch, ich weiß nicht, ob du begreifst, was das heißt: Wenn du zwei Hühner für drei Kaninchen nimmst, mußt du sie früher oder später essen, sonst werden sie schlecht, aber zwei Münzen, die kannst du unter deinem Bett verstecken, und die sind auch nach zehn Jahren noch gut, und wenn du Glück hast, bleiben sie sogar dort, wenn Feinde dein Haus überfallen. Und dann - so war es in Mailand und in Lodia und in Pavia, und so wird es auch hier kommen -, es ist nicht etwa so, daß hier die Ghinis oder Aularis den Mund halten müssen und nur die Guascos oder Trottis das Sagen haben, wir reden hier alle mit, wenn es was zu entscheiden gibt, hier kannst du was werden, auch wenn du kein Adliger bist, das ist das Schöne an einer Stadt, und es ist besonders schön für einen, der kein Adliger ist, dafür ist er sogar bereit, sich umbringen zu lassen, wenn’s nötig ist (aber lieber nicht), damit seine Kinder rumlaufen und sagen können: Ich heiße Ghini, und auch wenn du Trotti heißt, bis du trotzdem ein Depp.” (Eco 2001, 190 f.) <?page no="237"?> 237 LITERATUR ADA, Alma Flor (1990), „Creative reading: a relevant methodology for language minority children”, in: Walsh, Catherine E. (Hrsg.), Literacy as Praxis: Culture, Language and Pedagogy, Norwood: Ablex Publishing Corporation, 89-102. ADAMZIK, Kirsten (2002), „Zum Problem des Textbegriffs. 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