eBooks

Lernstrategien erwachsener L2-Lerner der Deutschen Gebärdensprache

Eine Analyse auf der Grundlage handlungstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Modelle

0123
2008
978-3-8233-7377-3
978-3-8233-6377-4
Gunter Narr Verlag 
Christiane Metzger

Die Studie untersucht den Gebrauch von Lernstrategien hörender erwachsener Lerner der Deutschen Gebärdensprache mit verschiedenen Experimenten. Die Arbeit bettet das Strategiekonstrukt in einen neuen theoretischen Hintergrund ein und entwickelt daraus ein Klassifizierungsmodell: Auf der Grundlage der Handlungstheorie von Habermas werden Lern-, Sprachverwendungs- und Regulierungsstrategien sowie Fertigkeiten trainierende Strategien unterschieden. Die Basiselemente von Strategien sind elementare kognitive Operationen. Zu deren Analyse im Kontext des Gebärdensprachlernens werden die Arbeiten zu Heurismen von Polya und Dörner sowie die Beschreibung von Lompscher herangezogen. Die Basis für die Klassifizierung der kognitiven Lernstrategien bietet das Modell der Entwicklungsstufen von Piaget. Außerdem wird der Zusammenhang zwischen Strategien und der interindividuellen Variable Lernstil nach Kolb untersucht. Aus dem Inhalt: Einleitung · Zur sprachlichen Situation Gehörloser und der Gebärdensprachlehre in Deutschland · Gebärdensprachlehren und -lernen als Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion · Neurologische Erklärungen für Schwierigkeiten beim Gebärdensprachlernen · Lernstrategien: Definitionen und Klassifizierungsansätze · Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit · Grundlagen für die Klassifizierung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien · Lernstile: Definitionen und Klassifizierungsansätze · Methodologie und Beschreibung der Erhebungen · Strategien zugrunde liegende Heurismen und elementare kognitive Operationen · Klassifizierung kognitiver Lernstrategien auf der Grundlage von Piagets Entwicklungsstufen · Klassifizierung metakognitiver Lernstrategien · Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren · Produktionsstrategien · Rezeptionsstrategien · Auswertung der Lernstiluntersuchung · Fazit

<?page no="0"?> Christiane Metzger Lernstrategien erwachsener L2-Lerner der Deutschen Gebärdensprache Eine Analyse auf der Grundlage handlungstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Modelle Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik Series A: Language Development 33 edited by Sascha W. Felix Jürgen M. Meisel Henning Wode <?page no="3"?> Christiane Metzger Lernstrategien erwachsener L2-Lerner der Deutschen Gebärdensprache Eine Analyse auf der Grundlage handlungstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Modelle Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Verarbeitung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0939-7973 ISBN 978-3-8233-6377-4 <?page no="5"?> Inhalt 1 Einleitung..............................................................................................................1 2 Zur sprachlichen Situation Gehörloser und der Gebärdensprachlehre in Deutschland ...................................................................................................11 2.1 Zur sprachlichen Situation Gehörloser ...............................................11 2.2 Zur Situation der Gebärdensprachlehre in Deutschland .................14 2.2.1 Kurse.............................................................................................14 2.2.2 Ausbildungssituation für Gebärdensprachdozenten............15 3 Gebärdensprachlehren und -lernen als Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion .........................................................................17 3.1 Gebärdensprachlehre im Lichte der Zweitsprachenerwerbsforschung ........................................................18 3.2 Gebärdensprachlernen im Lichte der Zweitsprachenerwerbsforschung ........................................................20 3.2.1 Gebärdensprachlernen auf dem Hintergrund des „Acculturation Model“ Schumann (1977)...............................20 3.2.2 Weitere Untersuchungen von Einflussfaktoren auf das Lernen einer Gebärdensprache ................................................26 4 Neurologische Erklärungen für Schwierigkeiten beim Gebärdensprachlernen .....................................................................................35 4.1 Zur Rolle neurologischer Erkenntnisse beim Lernen von Sprache.35 4.2 Erkenntnisse bzgl. einer „sensiblen Phase“ beim Gebärdenspracherwerb .........................................................................38 4.3 „Sprachperformanz = Sprachkompetenz + Sprachverarbeitung“ ..40 4.4 Probleme der Verarbeitung simultaner visueller Signale bei der Sprachrezeption ......................................................................................41 4.5 Auswirkungen auf nichtsprachliche Aspekte der visuellräumlichen Kognition ............................................................................46 4.6 Die Rolle von Ikonizität bei der Verarbeitung von Gebärden .........47 5 Lernstrategien: Definitionen und Klassifizierungsansätze ......................49 5.1 Definition des Strategiebegriffs ............................................................49 5.1.1 Merkmale von Strategien ..........................................................50 5.2 Strategien der Sprachverwendung ......................................................55 5.3 Eigenschaften eines „guten Fremdsprachenlerners“ ........................65 5.4 Modelle zur Klassifizierung von Lernstrategien ...............................66 5.4.1 Unterscheidung zwischen kognitiven und metakognitiven Lernstrategien ...............................................67 5.4.2 Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Lernstrategien .............................................................................74 5.4.3 Unterscheidung von Strategien, die sich auf verschiedene Sprachlernaktivitäten beziehen ........................77 v <?page no="6"?> 5.4.4 Unterscheidung von fertigkeitsbezogenen Strategien .........79 5.5 Einflussfaktoren auf die Verwendung von Lernstrategien..............82 5.6 Strategietraining .....................................................................................84 5.6.1 Begründungszusammenhänge für ein Training von Lernstrategien .............................................................................85 5.6.2 Argumente gegen ein Training von Lernstrategien .............89 5.6.3 Dimensionen zur Unterscheidung von Trainingsmaßnahmen ...............................................................90 5.6.4 Modell für Trainingssequenzen und Formen der Kognitivierung bei der Strategievermittlung .........................92 5.6.5 Effektivität von Strategien und Strategietraining ..................93 5.6.6 Implikationen und Konsequenzen für den Unterricht .........97 5.6.7 Forschungsperspektiven .........................................................101 6 Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit..............................................................103 6.1 Der Handlungsbegriff nach Habermas .............................................105 6.2 Übertragung des Habermasschen Handlungsmodells auf Lernstrategien .......................................................................................109 6.3 Strategien und Handlungen zugrunde liegende kognitive Operationen...........................................................................................115 6.3.1 Lernen als Problemlösungsprozess ......................................115 6.3.2 Heurismen nach Polya.............................................................118 6.3.3 Klassifizierung von Heurismen..............................................121 6.3.4 Elementare kognitive Operationen ........................................123 7 Grundlagen für die Klassifizierung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien......................................................................129 7.1 Piagets Modell der Entwicklungsstufen als Klassifizierungsgrundlage für kognitive Strategien .......................129 7.1.1 Entwicklungsstufen nach Piaget ............................................132 7.1.2 Zur Übertragung von Piagets Stufenmodell auf das Lernen Erwachsener.................................................................135 7.2 Metakognitive Kontrollen als Klassifizierungsgrundlage für kognitive Strategien .............................................................................141 8 Lernstile: Definitionen und Klassifizierungsansätze ..............................147 8.1 Charakterisierung des Verhältnisses von Stilen und Strategien ...147 8.2 Konkretisierung des Stilkonstrukts ...................................................150 8.2.1 Abgrenzung zu Fähigkeiten....................................................153 8.2.2 Abgrenzung zu Persönlichkeitsmerkmalen .........................154 8.3 Unterschiedliche Modelle der Klassifizierung von Stilen ..............155 8.3.1 Currys „Onion“-Modell...........................................................156 8.3.2 Das Modell der Lernstilfamilien nach Coffield et al. ..........156 8.3.3 Reduzierung auf die Dimensionen holistisch - analytisch und verbal - visuell nach Riding und Cheema ......................158 vi <?page no="7"?> 8.3.4 Kognitiv-zentrierte, persönlichkeits-zentrierte und aktivitäts-zentrierte Stile nach Sternberg und Grigorenko .......161 8.3.5 Kognitiv-zentrierte Stile und der learning-centred approach nach Riding und Rayner ........................................162 8.3.6 Jonassen und Grabowski: Individual Differences, Learning and Instruction .........................................................163 8.3.7 Das Cognitive Control Model von Riding ............................167 8.4 Lernstile in der L2-Forschung.............................................................169 8.5 Lernstile und Gebärdensprachlernen ................................................175 8.6 Lernstile nach Kolb...............................................................................178 8.7 Zum Stilkonstrukt verwandte Konstrukte .......................................184 8.7.1 Pask: Holistische und serialistische Strategie.......................184 8.7.2 Marton und Säljö: surface level of approaching und deep level of approaching .......................................................185 8.7.3 Approaches to learning ...........................................................187 9 Methodologie und Beschreibung der Erhebungen ..................................191 9.1 Methoden der Ermittlung von Lernstrategien .................................192 9.2 Erhebungen der vorliegenden Arbeit zur Ermittlung von Lernstrategien .......................................................................................194 9.2.1 Auswahl der Informantinnen .................................................195 9.2.2 Zur Sprachlernsituation der Informantinnen.......................196 9.2.3 Erhebung I: Introspektive Interviews zur Ermittlung von Lernstrategien....................................................................197 9.2.4 Erhebung II: Laut-Denk-Experimente zur Ermittlung und Verifizierung von Lernstrategien...................................199 9.2.5 Erhebung III: Experte-Novize-Experimente zur Ermittlung von Lern- und Gebrauchsstrategien..................209 9.3 Transkription.........................................................................................212 9.4 Strategie-Datenbank ............................................................................215 10 Strategien zugrunde liegende Heurismen und elementare kognitive Operationen ............................................................217 10.1 Heurismen ...........................................................................................217 10.1.1 Analogiebildung .....................................................................217 10.1.2 Modellbildung ........................................................................219 10.1.3 Metaphorik ..............................................................................219 10.1.4 Imagination .............................................................................223 10.1.5 Versuch-und-Irrtum-Verhalten ............................................224 10.2 Elementare kognitive Operationen ..................................................224 10.2.1 Zergliedern ..............................................................................224 10.2.2 Erfassen der Eigenschaften ...................................................226 10.2.3 Vergleichen ..............................................................................226 10.2.4 Ordnen .....................................................................................226 10.2.5 Abstrahieren ............................................................................227 10.2.6 Verallgemeinern .....................................................................228 vii <?page no="8"?> 10.2.7 Klassifizieren ...........................................................................230 10.2.8 Konkretisieren .........................................................................230 10.2.9 Weitere Operationen ..............................................................230 10.3 Rückschau............................................................................................231 11 Klassifizierung kognitiver Lernstrategien auf der Grundlage von Piagets Entwicklungsstufen ........................................................................235 11.1 Strategien auf dem sensomotorischen Niveau...............................235 11.2 Strategien auf dem intuitiv-prälogischen/ eskapistischen Niveau ..................................................................................................237 11.3 Strategien auf dem konkret-anschaulichen Niveau ......................240 11.4 Strategien auf dem formal-abstrakten Niveau...............................252 11.4.1 Analogiebildung .....................................................................252 11.4.2 Zergliedern ..............................................................................254 11.4.3 Erfassen der Eigenschaften ...................................................255 11.4.4 Vergleichen ..............................................................................261 11.4.5 Ordnen .....................................................................................271 11.4.6 Abstrahieren ............................................................................271 11.4.7 Verallgemeinern .....................................................................273 11.4.8 Klassifizieren ...........................................................................279 11.4.9 Transfer ....................................................................................280 11.5 Rückschau............................................................................................284 12 Klassifizierung metakognitiver Lernstrategien ......................................287 12.1 Metakognitive Kontrollen bezogen auf die Zielsprache...............287 12.1.1 Orientierung ............................................................................287 12.1.2 Planung ...................................................................................288 12.1.3 Regulierung .............................................................................288 12.1.4 Überwachung..........................................................................293 12.1.5 Überprüfung............................................................................300 12.1.6 Evaluation................................................................................312 12.2 Metakognitive Kontrollen bezogen auf Lernobjekte und die Lernumgebung ..................................................................................315 12.2.1 Orientierung ............................................................................315 12.2.2 Planung ....................................................................................317 12.2.3 Regulierung .............................................................................318 12.3 Metakognitive Kontrollen bezogen auf das Vorgehen beim Lernen.........................................................................................324 12.3.1 Planung ....................................................................................324 12.3.2 Überwachung..........................................................................326 12.3.3 Evaluation................................................................................327 12.4 Rückschau............................................................................................328 13 Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren ...............333 13.1 Artikulation .........................................................................................333 13.2 Memorierung ......................................................................................334 13.2.1 Wiederholung .........................................................................335 viii <?page no="9"?> 14 Produktionsstrategien ..................................................................................339 14.1 Produktionsstrategien, die den möglichst korrekten Ausdruck zum Ziel haben.................................................................339 14.1.1 Prozess/ Abläufe von Ereignissen mitbeschreiben, nicht nur das Ergebnis (ID 50) ..............................................339 14.1.2 Strukturierung und Planung des eigenen sprachlichen Outputs ....................................................................................344 14.2 Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden...............................................................................353 14.2.1 Verfahren der Gebärdenbildung ..........................................354 14.2.2 Erhobene Strategien ...............................................................363 14.3 Vermeidungsstrategien .....................................................................421 14.3.1 Strategien, die den eigenen sprachlichen Output betreffen ...................................................................................421 14.3.2 Strategien, die beim Bearbeiten einer Aufgabe eingesetzt werden...................................................................423 14.4 Affektive Strategien............................................................................424 14.4.1 In Kauf nehmen, Fehler zu machen (ID 53) .......................424 14.4.2 Sich selbst Mut zusprechen (ID 67)......................................425 14.5 Interaktionsstrategien ........................................................................425 14.5.1 Nachfragen (ID 23) .................................................................426 14.5.2 Äußerung mit fragendem Gesichtsausdruck versehen (ID 56) und Äußerung mit „STIMMT? “ ergänzen (ID 57) ..............................................................................................................427 14.6 Soziale Gesprächsstrategien..............................................................428 15 Rezeptionsstrategien.....................................................................................43 1 15.1 Wiederholungsstrategien ..................................................................431 15.2 Kompensationsstrategien, die bei der Sprachrez e ption eingesetzt werden...............................................................................432 15.2.1 Inferenzen ................................................................................432 15.2.2 Auf das Wortbild sehen (um besser zu verstehen) (ID 48) .......................................................................................434 15.2.3 Nachschlagen (ID 26) .............................................................435 15.2.4 Deutsche Übersetzung als Verstehenshilfe nutzen (ID 157) und Glossenumschrift als Verstehenshilfe nutzen (ID 154) .......................................................................437 15.3 Interaktionsstrategien ........................................................................438 15.3.1 Nachfragen (ID 23) .................................................................438 15.4 Metakognitive Kontrolle: Orientierung ..........................................439 16 Auswertung der Lernstiluntersuchung.....................................................44 3 16.1 Auswertung nach dem Kolbschen Verfahren ................................443 16.2 Faktorenanalyse ..................................................................................446 16.3 Clusteranalyse.....................................................................................449 16.4 Ergebnis ...............................................................................................449 ix <?page no="10"?> 17 Fazit ..................................................................................................................45 1 17.1 Gebärdensprachspezifische Strategien............................................451 17.2 Vergleich der Strategievorkommen zwischen den einzelnen Experimenten ......................................................................................453 17.2.1 Wurden die Strategien, die in den Interviews genannt wurden, auch tatsächlich benutzt? ......................................454 17.2.2 Verteilung der Strategien auf die Laut-Denk- und auf die Experte-Novize-Experimente .........................................457 17.3 Rückschau............................................................................................462 17.4 Zur Übertragung der Ergebnisse in die Lehre ...............................464 Literatur ................................................................................................................46 7 Anhang .................................................................................................................49 1 Anhang 1: Fragebogen zur Erfassung von Lernstilen...........................491 Anhang 2: Handform-Phoneme der DGS ...............................................495 Anhang 3: Deutsches Fingeralphabet......................................................496 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 497 Tabellenverzeichnis ...........................................................................................50 1 x <?page no="11"?> Vorwort Im Mittelpunkt meiner Tätigkeit am IDGS steht seit längerer Zeit die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien für die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Bedingt durch diese Arbeit, mein Studium und eigene Lernerfahrungen entstand die Idee, mich im Rahmen meiner Dissertation mit der Verwendung von Lernstrategien beim Lernen der DGS zu beschäftigen. Bisher war DGS ausschließlich Untersuchungsgegenstand der Linguistik, im Wesentlichen im Hinblick auf systemlinguistische Aspekte. Während es einige Arbeiten zum Erstspracherwerb gibt, existieren - auch für andere Gebärdensprachen - so gut wie keine Studien, die Lernprozesse aus der Perspektive der L2-Forschung betrachten. Aus diesem Umstand ergibt sich die Situation, dass die Gebärdensprache für Zweitsprachenerwerbsforscher ein unbekannter Gegenstand ist - ebenso wie die Theorien der L2-Forschung den Gebärdensprachlinguisten fremd sind. Der Versuch, die Bedürfnisse und Ansprüche beider Gruppen zu berücksichtigen, bringt es mit sich, dass die vorliegende Arbeit vergleichsweise umfangreich ist. Ein weiterer Grund für den Umfang sind die fotografischen Abbildungen, die gebärdensprachliche Äußerungen verdeutlichen sollen. Während zu Beginn der Arbeit die Idee stand, Erkenntnisse aus der Dissertation direkt für die Gebärdensprachlehre oder Kursleiterausbildung verfügbar zu machen, ergab sich im Laufe der Zeit die Notwendigkeit einer theoretischen Ausarbeitung des Strategiekonstrukts. Diese ließ die didaktische Umsetzung in den Hintergrund treten - allerdings nur für den Rahmen der Dissertation. Das Ziel, Ergebnisse der Arbeit in die Praxis zu übertragen, bleibt bestehen. Dass die Arbeit in dieser Form vorliegt, verdanke ich einer Reihe von Menschen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Prof. Dr. Siegmund Prillwitz und Prof. Dr. Wolfgang Börner danke ich für ihre Betreuung. Sie haben mich beraten und in jeder Hinsicht großzügig unterstützt. Außerdem möchte ich all denen danken, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben: Dr. des. Karen Bayer, Birgit Funke, Dr. Barbara Hänel, Thomas Hanke, Johannes Hetzenegger, Sung-Eun Hong, Simon Kollien, Alexander von Meyenn, Tobias Meyer-Janson, Katrin Riekmann und Prof. Dr. Rolf Schulmeister sowie natürlich den Informantinnen, ohne deren bereitwillige und interessierte Teilnahme die Arbeit nie zustande gekommen wäre. <?page no="13"?> 1 Einleitung Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Lernstilen und Lernstrategien von erwachsenen hörenden L2-Lernern der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Personen, die eine Gebärdensprache als Fremdsprache lernen, stehen in vielerlei Hinsicht vor einer Herausforderung: Sie wagen sich an das Erlernen einer visuell-gestischen Sprache, der bis vor sehr kurzer Zeit noch der Status einer eigenständigen, vollwertigen Sprache abgesprochen wurde. Sie müssen eine ihnen vertraute Sprachmodalität aufgeben und sich auf z.T. völlig andere Artikulatoren einlassen. Eine weitere für den Lernprozess gravierende Erfahrung ist der Umgang mit einer Sprache, für die es keine bzw. keine verbreitete Gebrauchsschrift gibt. Es existieren zwar diverse Notationssysteme; diese sind jedoch meist für die wissenschaftliche Notation zu Forschungszwecken gedacht. Somit entfallen für Gebärdensprachlerner die Fertigkeiten Lesen und Schreiben, und der Lernprozess findet fast ausschließlich in Face-to-Face-Kommunikation statt 1 . Kommunikation mit Muttersprachlern ist außerhalb des Unterrichts nicht selten schwierig zu realisieren - gibt es doch kein „Gehörlosien“, in das Lerner reisen könnten, um sich authentischem Input auszusetzen. Somit stehen Lerner einer Gebärdensprache vor einer in vielerlei Hinsicht besonderen Situation. Angesichts dieser Situation erschien es notwendig und sinnvoll, den Prozess des Gebärdensprachlernens genauer zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen soll erstmals untersucht werden, welche Strategien Lerner einer Gebärdensprache einsetzen. Im Mittelpunkt stehen dabei kognitive und metakognitive Lernstrategien, aber auch Sprachverwendungsstrategien wurden erhoben und analysiert. Zum anderen soll das Strategiekonstrukt, das bisher in der Zweitsprachenerwerbsforschung wenig oder gar nicht theoretisch fundiert ist, in einen übergeordneten theoretischen Rahmen eingebettet werden. Dafür wird die Theorie des kommunikativen Handelns gewählt. Aufgrund der Beobachtung, dass Lerner anscheinend auf den Lernstrategien zugrunde liegende Prinzipien zurückgreifen, die aus der ontogenetischen Entwicklung bekannt sind, wird das Modell der kognitiven Denkniveaus zur Beschreibung unterschiedlicher Arten von Lernstrategien herangezogen. Aus einer differentialpsychologischen Perspektive wird weiterhin die Hypothese überprüft, ob sich die unterschiedliche Strategieverwendung von Lernern 1 Die wenigen bisher existierenden Sprachlernmaterialien sowie die seltenen Gelegenheiten, wenn Gebärdensprache im Fernsehen gezeigt wird, können kaum mit der Fülle an schriftlichem Input verglichen werden, der Lernern der meisten Fremdsprachen zur Verfügung steht. 1 <?page no="14"?> auf das jeweilige Lernstil-Profil einer Person zurückführen und so durch dieses erklären lässt. Um den Lernprozess beim Lernen einer Gebärdensprache näher zu betrachten, werden folgende Disziplinen herangezogen: Untersuchungen und Modelle der Zweitsprachenerwerbsforschung zum Strategiekonstrukt und zum Lernen von Gebärdensprachen, die Neurolinguistik, das Lernstilkonstrukt aus der differentiellen Psychologie, die philosophische Handlungstheorie und die genetische Epistemologie sowie Untersuchungen zur Heuristik und zu elementaren kognitiven Operationen. Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wird kurz die sprachliche Situation Gehörloser sowie der Gebärdensprachlehre in Deutschland geschildert (Kapitel 2). Es folgt ein kurzer Überblick über bisherige Untersuchungen, bei denen das Lehren und Lernen einer Gebärdensprache aus dem Blickwinkel der Zweitsprachenerwerbsforschung im Mittelpunkt steht (Kapitel 3). Solche Untersuchungen sind rar, und bzgl. des Gebrauchs von Lernstrategien gibt es keine Studien. Auch das Gebiet der Neurolinguistik bietet kaum Erkenntnisse, die sich auf das L2-Lernen einer Gebärdensprache beziehen und aus denen sich didaktische Maßnahmen ableiten ließen (Kapitel 4): Bisher existieren kaum Untersuchungen dazu, wie die Verarbeitung von Gebärdensprache bei L2- Lernern vonstatten geht. Diesen Darlegungen folgt eine Diskussion des Strategiebegriffs, der sowohl in der L2-Forschung als auch in der Psychologie kein einheitliches Konstrukt darstellt (Kapitel 5). Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Lernstrategien in der Zweitsprachenerwerbsforschung war die Frage, welche Eigenschaften einen guten Fremdsprachenlerner ausmachen (Rubin 1975, Stern 1975, Naiman et al. 1978). Ausgehend von dieser Frage wird die historische Entwicklung des Konstrukts - insbesondere auch die Frage nach dem Sinn der getrennten Betrachtung von Lern- und so genannten Kommunikationsstrategien - anhand der wichtigsten Klassifizierungsmodelle aufgezeigt. Der Beschreibung bisher identifizierter Einflussfaktoren auf den Gebrauch von Lernstrategien folgt eine Erläuterung zum Strategietraining. Bisherige Klassifizierungsansätze für Lernstrategien aus der Zweitsprachenerwerbsforschung sind jedoch kaum oder gar nicht theoretisch verankert. Angesichts dieses Defizits wurde in der vorliegenden Arbeit versucht, das Strategiekonstrukt in einen theoretischen Rahmen einzuordnen. Wesentlich für den hier gewählten Ansatz ist der Versuch, Lernstrategien innerhalb eines übergeordneten handlungstheoretischen Rahmens zu interpretieren. Dazu wurden die Handlungstheorie von Jürgen Habermas (1995) sowie der Ansatz von Michael Wendt (1997) herangezogen (Kapitel 6). Dieser Interpretation zufolge sind Strategien als internalisierte Grundstrukturen von Handlungen anzusehen. Das Ziel einer Strategie besteht in der Erreichung des jeweiligen Handlungsziels. Strategien wiederum liegen elemen- 2 <?page no="15"?> tare kognitive Operationen zugrunde. Diese haben keine Ziele im Sinne von Handlungszielen, sondern tragen zu deren Erreichung bei. Der Begriff „kommunikatives Handeln“ von Habermas ist nicht gleichbedeutend mit der Tätigkeit des Kommunizierens oder einer alltagstheoretischen Vorstellung von Kommunikation, sondern er bezeichnet eine Ausgrenzung aus dem Gesamtspektrum des Handelns: Kommunikative, normenregulierte Handlungen, die auf Sprache angewiesen sind und die symbolisch vermittelt werden, werden abgegrenzt vom zweckrationalen Modell des instrumentellen Handelns im naturwissenschaftlichen Paradigma. Kommunikatives Handeln ist nicht eine subjektive Theorie, sondern eine methodologische Kategorie der Erklärungslogik, kein didaktisches Konzept für den praktischen Unterricht. Nicht gemeint ist damit kommunikatives Handeln als Unterrichtsprinzip oder Lehr-Lernmethode oder als sozial-kommunikative Handlungskompetenz. Die Handlungstheorie dient in der vorliegenden Arbeit als theoretischer Rahmen für die Entwicklung eines Klassifikationsmodells für Strategien und nicht für die Begründung oder Gestaltung eines didaktischen Modells. Sie liefert wertvolle und nützliche Unterscheidungen wie z.B. die von instrumentellem, strategischem und kommunikativem Handeln und die Basis für die Unterscheidung von Körperbewegungen, kognitiven Operationen, Fertigkeiten und kommunikativem Handeln. Aus einer handlungstheoretischen Perspektive ist es wichtig zu betonen, dass Sprachenlernen nicht stets auch Kommunikation sein muss, sondern eine Reihe von kognitiven Operationen und Fertigkeiten benötigt, die zunächst von ihrer systematischen Substanz her nicht kommunikativ sind. Diese Feststellung innerhalb eines abstrakten Modells, das Strategien in einen handlungstheoretischen Rahmen einordnet, macht a priori keine Aussage über die Vermittlung sprachlicher Kompetenzen im Unterricht. Es geht vielmehr um die Feststellung der Bestandteile, aus denen Handeln (im Habermasschen Sinne) überhaupt besteht. Der Fertigkeitsbegriff der Handlungstheorie unterscheidet sich fundamental von dem Fertigkeitsbegriff der Zweitsprachenerwerbsforschung. Damit sind nicht die vier Fertigkeiten Sprechen, (Hör-) Verstehen, Lesen und Schreiben gemeint. In der Habermasschen Theorie bezeichnet der Begriff der Fertigkeit solche Handlungen, bei denen unselbständige Handlungen trainiert werden, bis eine selbständige Handlung wie bspw. Fußballspielen oder Singen perfekt ausgeführt werden kann. Diese Perfektionierung bezieht Habermas sowohl auf die Koordinierung der mitvollzogenen physischen Bewegungen als auch auf Operationen. Übertragen auf das Lernen einer Fremdsprache ist unter Fertigkeiten das Instrumentarium zu verstehen, das der Lerner benötigt, um sich zielsprachlich auszudrücken: Artikulation, Wortschatz und Grammatik als Bestandteile von Sprache sind die Elemente, mit denen eine Person kommunikative Handlungen vollziehen kann. Diese theoretische Differenzierung zwischen den artikulatorischen, 3 <?page no="16"?> lexikalischen und grammatischen Kompetenzen bzw. deren Erwerb und der kommunikativen Handlung als solcher impliziert nicht, dass sie getrennt voneinander oder gar aufeinander aufbauend gelehrt und gelernt werden müssten. Die Unterscheidung stellt lediglich fest, dass es sich dabei um Aktivitäten von unterschiedlicher Qualität handelt: Im Fall der Fertigkeiten besteht keinerlei kommunikative Absicht; Fertigkeiten sind nach Habermas unselbständige Handlungen, die in kommunikativen Handlungen mitvollzogen werden. In dem gewählten handlungstheoretischen Rahmen nach Habermas und Wendt sind die Basiselemente, die Strategien und damit auch Handlungen zugrunde liegen, die elementaren kognitiven Operationen. Damit sind die Grundbausteine des Denkens wie Ordnen, Vergleichen, Klassifizieren, Analogiebilden etc. gemeint. In der vorliegenden Arbeit sollte dementsprechend auch untersucht werden, welche kognitiven Operationen den Strategien zugrunde liegen, die beim Lernen einer Gebärdenspache eingesetzt werden. Für diese Analyse wurde nach Ansätzen gesucht, die eine Klassifizierung solcher basaler kognitiver Operationen bieten. Letztlich wurden Arbeiten von George Polya (2004), Dietrich Dörner (1976) und Joachim Lompscher (1972) herangezogen: Polya und Dörner beschäftigten sich mit dem Bereich der Heuristik, der einen Teil kognitiver Operationen bearbeitet. Versteht man Lernen als einen Problemlöseprozess, so umfasst die Beschäftigung damit auch die Beachtung heuristischer Verfahren. Vor allem in Anlehnung an Dörner wurden sechs Heurismen ausgemacht, die als Basiselemente von Strategien angesehen werden können: Analogiebildung, Modellbildung, Abstraktion, Metaphorik, Imagination und Versuch-und-Irrtum-Verhalten. Diese heuristischen Operationen sind jedoch nicht die kleinsten Bestandteile von Handlungen. Lompscher identifizierte acht elementare kognitive Operationen. Die Arbeiten von Dörner und Lompscher dienen also im Rahmen der vorliegenden Arbeit dazu, solche Basiselemente zu benennen und zu klassifizieren, die Strategien nach dem Verständnis von Habermas und Wendt zugrunde liegen. Anhand der Habermasschen Theorie können menschliche Aktivitäten unterschiedlichen Kategorien zugeteilt und ihr Bezug untereinander verdeutlicht werden: Intentionalen Handlungen auf einer obersten Ebene liegen Operationen, Körperbewegungen und Fertigkeiten zugrunde. Handlungen wiederum können in Abhängigkeit von ihren Zielen (z.B. Verständnis- oder Erfolgsorientierung) in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Eine ontogenetische Perspektive auf Strategien bietet sich mit dem Modell der Entwicklungsstufen von Jean Piaget (1969, 1971, 1972, 1974, 1978). Anhand dieser kann die Qualität von Handlungen aus einer Entwicklungsperspektive unterschieden werden. Zur Klassifizierung der kognitiven Strategien wurde daher dieses Modell herangezogen (Kapitel 7). 4 <?page no="17"?> Piagets Theorie ist eine Ontologie der epistemologischen Tätigkeit, die aus Handlungen besteht. Um Erkenntnisse zu gewinnen, handelt eine Person - angetrieben durch das Bestreben nach einem Äquilibrium. „Daß die Intelligenz dem Handeln entspringt - eine Interpretation, die mit der von der französischsprachigen Psychologie seit Jahrzehnten verfolgten Linie übereinstimmt -, führt zu einer fundamentalen Schlußfolgerung: Auch in ihren höher gearteten Äußerungen, wo sie nur noch dank den Mitteln des Denkens funktioniert, besteht die Intelligenz immer noch darin, Handlungen zu vollziehen und zu koordinieren, allerdings in einer verinnerlichten und überlegenden Form. […] Demgemäß ist die Intelligenz auf jeder Stufe eine Assimilation des Gegebenen an Transformationsstrukturen sowie der elementaren Handlungsstrukturen an höhere Operationsstrukturen, und diese Strukturierungen bestehen darin, die Wirklichkeit im Handeln oder im Denken zu organisieren, und nicht, sie einfach nachzuahmen." (Piaget 1978, S. 31) Lernen und (frühkindliche) Entwicklung verlaufen bei Piaget eine ganze Zeit lang parallel, und ihr Charakter unterscheidet sich hinsichtlich vier Entwicklungsstufen: Die sensomotorische, die intuitiv-prälogische, die konkret-anschauliche und die formal-abstrakte Stufe bauen aufeinander auf, jede Entwicklungsstufe schließt die vorhergehende(n) mit ein. Der Grundmechanismus der kognitiven Entwicklung ist lange - bis zur Ablösung durch das formale Lernen - der Äquilibriumsmechanismus, Assimilation und Akkomodation. Dieses Modell ist für die Einordnung Piagets als Konstruktivist verantwortlich: „Mit dem Konzept der Äquilibration hebt Piaget seine Theorie von den Widerspiegelungstheorien (Locke, Hume, Mill) ab. Nicht Abbildung, sondern Konstruktion ist die Idee im Konzept der Äquilibration. Die Konstruktion kann durch Erfahrungen, Wort [sic] Bild oder Beispiele beeinflußt oder angeregt sein, sie ist aber nicht empirisches Lernen, sondern eine neue Strukturierung und Organisation, ob kreativ und selbständig entdeckt oder nur nachvollzogen.“ (Stangl 2003 2 ; Hervorhebung im Original) Piaget ging davon aus, dass die Entwicklungsstufen invariant sind, also durch formales Lernen nicht veränderbar seien. Erst wenn das Individuum „bereit“ ist, kann es Informationen auch auf dem formal-abstrakten Niveau aufnehmen. Es hat viele Experimente gegeben, die mit der Absicht durchgeführt wurden, dies zu widerlegen. Kurzfristige Erfolge sind häufig nach Ausbleiben weiterer Trainings wieder zurückgenommen worden. Im Erwachsenenalter übernimmt die Sprache die führende Rolle der Denkentwicklung. Lernen kommt dann (unter bestimmten Voraussetzungen) ohne 2 Bei diesem Zitat handelt es sich um einen Auszug aus einem Online-Artikel; auch im Folgenden enthalten solche Zitate keine Seitenangaben, wenn in dem betreffenden Artikel keine diesbzgl. Angaben vorhanden sind. 5 <?page no="18"?> Anschauung aus. Verschiedene Publikationen verdeutlichen, dass sich die für die kindliche Entwicklung konzipierten vier Stufen auch auf Denkniveaus Erwachsener anwenden lassen. Das Streben nach Erkenntnis, das Lernen, vollzieht sich also im Handeln. Lernen ist das Resultat der Entwicklung; Entwicklung ist der Grundmechanismus für das Lernen. Solange Entwicklung und Lernen ontogenetisch verbunden sind, unterscheidet sich die Art des Lernens zwar je nach den epistemologisch unterschiedenen Entwicklungsstufen, aber erst im formalen Lernen, das Entwicklung und Lernen auseinanderbricht, wird der Unterschied relevant 3 . Da also die Erkenntnisentwicklung auch eine Entwicklung des Handelns ist, ist es sinnvoll, Lernen im Rahmen einer Handlungstheorie zu betrachten. Sowohl Habermas als auch Piaget sind Vertreter eines „erkenntnistheoretischen Konstruktivismus“: Angestrebt wird eine genetische Epistemologie, die sich mit der Formation und Bedeutung des Wissens auseinandersetzt (vgl. Schulmeister 2002, S. 73). „Konstruktivistisch an Piagets Theorie ist die Vorstellung, dass das Individuum die kognitiven Konzepte selbst generiert, dass das Individuum Wissen nur im Austausch mit der Umwelt erwirbt und dass die Austauschprozesse nur temporär ein Equilibrium erreichen, so dass Assimilation und Akkomodation die Entwicklung der Kognition beim Individuum stets vorantreiben. Die Vorstellung dieser Prozesse bildet den Motor für die kognitive Entwicklung und für das selbsttätige Lernen des Individuums. Kognition organisiert die Welt, indem sie sich selbst organisiert. So betrachtete Piaget sogar die mentalen Operationen, die in mathematischen Lernprozessen impliziert sind, als Produkte spontaner Rekonstruktion. Das Kind selbst generiert Konzepte wie Reversibilität, Transitivität, Rekursion, Reziprozität von Relationen, Klasseninklusion, die Erhaltung numerischer Mengen und die Organisation räumlicher Referenzen.“ (Schulmeister 2002, S. 73) Auch Habermas vertritt einen epistemologischen Konstruktivismus dieser Art. Ausdrücklich unter Bezugnahme auf Piaget legt er sein Verständnis von Erkenntnisgewinn dar: „Um Schwierigkeiten dieser Art zu begegnen, schlage ich eine systematisch begründbare Einteilung in kognitive, sprachliche und interaktive Entwicklung vor; ich werde diesen Dimensionen entsprechend kognitive, sprachliche und interaktive Kompetenzen unterscheiden. Dieser Vorschlag bedeutet, daß sich für jede dieser Dimensionen eine besondere, entwicklungslogisch geordnete, universale Reihe von Strukturen angeben läßt. Im Anschluß an Piaget stelle ich mir vor, daß sich diese allgemeinen Strukturen der Erkenntnis-, Sprach- und Handlungsfähigkeit in einer zugleich konstruktiven und adaptiven Auseinandersetzung des Sub- 3 Mit der Bildung und der formalen Erziehung hat sich Piaget (1978) auf der Grundlage seines ontologischen Entwicklungsmodells auseinandergesetzt. 6 <?page no="19"?> jekts mit seiner Umwelt ausbilden, wobei die Umwelt in sich differenziert ist nach äußerer Natur, Sprache und Gesellschaft. Der strukturenbildende Lernprozeß ist insoweit auch ein Selbsterzeugungsprozeß, als sich das Subjekt darin zum erkenntnis-, sprach- und handlungsfähigen Subjekt erst heranbildet.“ (Habermas 1995, S. 191/ 192; Hervorhebung im Original) Sowohl Piaget als auch Habermas stehen also für einen Lernbegriff, bei dem Lernen durch Handeln stattfindet. Die Strukturen des Handelns und Denkens sowie neues Wissen werden unter dem Einfluss der Umwelt laufend neu konstruiert: Eine Person lernt, indem sie Handlungen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt vollzieht. Lernen geschieht dabei nicht durch Nachahmen, sondern dadurch, dass das Individuum - basierend auf seinen eigenen Erfahrungen und Kenntnissen - Zusammenhänge für sich konstruiert. Ein solcher erkenntnistheoretischer Konstruktivismus kann auf verschiedene Weisen in Unterrichtsmethoden umgesetzt werden. Beispiele für einen solchen pädagogischen Konstruktivismus sind z.B. das didaktische Modell von Seymour Papert (1980, 1992), das er als „constructionism“ bezeichnet hat, und der Ansatz von Hans G. Furth, der Piagets Gedanken in einem Grundschulmodell umsetzte („thinking goes to school“; Furth 1975). Auch die Einführung der Mengenlehre geht auf Piaget zurück. Einer der bekanntesten, der die Theorie des kognitiven Lernens für didaktische Zwecke ausdeutete, ist Jerome Bruner; er gewann mit dem Entdeckenden Lernen ein didaktisches Konzept für die Gestaltung des Unterrichts (Bruner 1961, 1966, 1992). Wolff (2002), der eine konstruktivistische Fremdsprachendidaktik entwickelt, hält fest: „SPRACHLERNEN IST SPRACHGEBRAUCH IST KONSTRUKTION.“ (Wolff 2002, S. 6 4 ) Während das Piagetsche Modell den Einsatz von Strategien aus einer ontologischen Entwicklungsperspektive sieht, wurde in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, das Strategiekonstrukt mit der interindividuellen Variable Lernstil in Zusammenhang zu bringen; diese könnte als Erklärung dafür dienen, warum verschiedene Personen unterschiedliche Strategien einsetzen. Dafür wurde das Lernstilkonstrukt aus der differentiellen Psychologie herangezogen (vgl. Kapitel 8). Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass sich die Auswahl von Strategien durch das jeweilige Lernstil-Profil einer Person erklären lässt. Einer Definition des Stilbegriffs folgt die Darstellung der einflussreichsten Lernstilmodelle sowie der historischen Entwicklung des Konstrukts. Für die Untersuchung des jeweiligen Lernstils der Informantinnen der vorliegenden Arbeit wurde das Modell von David A. 4 Die Frage nach einer konstruktivistischen Fremdsprachendidaktik wird in Kapitel 17.4 „Zur Übertragung der Ergebnisse in die Lehre“ erneut aufgegriffen. 7 <?page no="20"?> Kolb gewählt, das in der Entwicklungspsychologie verwurzelt ist und das auf Arbeiten von John Dewey, Kurt Lewin und Jean Piaget basiert. In der vorliegenden Arbeit wird also der Versuch unternommen, das Strategiekonstrukt durch heuristische, kognitionswissenschaftliche und handlungstheoretische Modelle zu fundieren. Das der Kategorisierung von Strategien zugrunde liegende Ordnungsprinzip in dieser Arbeit ist das der Intention, mit der Handlungen ausgeführt werden. Strategien werden also nicht nach den beobachtbaren oder vermutungsweise vollzogenen Handlungen klassifiziert, sondern nach den Intentionen, die mit der Ausführung von Handlungen verbunden sind. Diese Art der Kategorisierung ist darauf zurückzuführen, dass nach dem hier vertretenen Verständnis von Handlungen diese stets mit einer Intention durchgeführt werden - und dass diese Intentionen Strategien als internalisierten Grundstrukturen von Handlungen ebenfalls zugrunde liegen. Dementsprechend kann eine Handlung verschiedenen Kategorien zugeordnet werden, in Abhängigkeit davon, welches Ziel die Handlung verfolgt. Dieser Ansatz impliziert, dass die Handlungen, die in dieser Arbeit verschiedenen Kategorien zugeordnet wurden, theoretisch auch anderen Klassen angehören können. Dementsprechend bezieht sich die Beschreibung nur auf die Vorkommen, die im Rahmen der Arbeit erhoben wurden. Aufgrund des bisher defizitären Forschungsstandes musste die Untersuchung notwendigerweise einen explorativen und qualitativen Charakter annehmen. An der Erhebung nahmen 14 Personen teil, die DGS im Rahmen ihres Studiums im Magisterstudiengang Gebärdensprachen oder im Diplomstudiengang Gebärdensprachdolmetschen an der Universität Hamburg erlernten. Mit vier verschiedenen Erhebungsmethoden (Fragebogen, Interview, Laut-Denk- und Experte-Novize-Experimenten) wurde untersucht, welchem Lerntyp die Informantinnen zuzuordnen sind und welche Strategien sie beim Lernen verwenden. Alle Versuchssituationen wurden gefilmt, und es ergab sich ein umfangreiches Datenkorpus: Insgesamt wurden annähernd 22 Stunden Datenmaterial transkribiert und analysiert. Selbstverständlich sind die Ergebnisse dieser Analyse vor dem Hintergrund des experimentellen Designs sowie der ausgewählten Stichprobe zu sehen. Die Art und Weise der Erhebung sowie der individuelle Hintergrund der Informantinnen (Bildungsniveau, Sprachlernerfahrung, Alter, Motivation etc.) sind konstitutiv für die Resultate. Die Darstellung allgemeiner Aspekte zu Methoden der Erhebung von Lernstrategien sowie des experimentellen Designs dieser Untersuchung (Kapitel 9) leiten zum empirischen Teil der Arbeit über. Zunächst wird analysiert, welche elementaren kognitiven Operationen den erhobenen Strategien zugrunde liegen (Kapitel 10): Die Strategien werden Heurismen nach Dörner und kognitiven Operationen nach Lompscher zugeordnet. 8 <?page no="21"?> Für die Klassifizierung der kognitiven Strategien wurde wie erwähnt das Modell der vier Entwicklungsstufen von Piaget herangezogen (Kapitel 11). Die kognitiven Strategien werden gemäß der vier Denkniveaus (sensomotorisch - prälogisch-intuitiv - konkret-anschaulich - formal-abstrakt) klassifiziert. Auch metakognitive Strategien wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhoben. Sie werden in Anlehnung an Konrad (2004) sechs Kategorien zugeordnet: Orientieren, Planen, Überwachen, Regulieren, Überprüfen und Evaluieren (Kapitel 12). Anschließend werden solche Strategien klassifiziert, die die Entwicklung von Fertigkeiten im Habermasschen Sinne trainieren (Kapitel 13). Dabei wird lediglich festgestellt, dass diese Strategien von ihrer Natur her dem Üben der „Werkzeuge“ dienen, mit denen sprachliche Handlungen vollzogen werden können (Artikulatoren, Lexik, Grammatik); es wird nicht die Ansicht vertreten, dass in einer Didaktik solche Fertigkeiten separat trainiert werden sollten. Da Gebärdensprachen im Wesentlichen durch Face-to-Face-Kommunikation erlernt werden, wurden nicht nur solche Strategien untersucht, die in der Zweitsprachenerwerbsliteratur üblicherweise als Lernstrategien bezeichnet werden. Ebenso wurden Strategien betrachtet, die während der Sprachverwendung von den Informantinnen eingesetzt wurden (Produktions- und Rezeptionsstrategien, Kapitel 14 und 15). Einer Darstellung des Ergebnisses der Lernstiluntersuchung (Kapitel 16) folgt schließlich das Fazit (Kapitel 17): Hier wird rekapituliert, inwiefern die erhobenen Strategien spezifisch für das Lernen einer Gebärdensprache sind und sich von Strategien unterscheiden, die von anderen Autoren erhoben wurden. Anschließend wird beschrieben, wie die Verteilung der einzelnen Strategien über die unterschiedlichen Experimente hinweg ausfiel. Einer allgemeinen Rückschau folgen Überlegungen zur Übertragung der Ergebnisse in die Gebärdensprachlehre. 9 <?page no="23"?> 2 Zur sprachlichen Situation Gehörloser und der Gebärdensprachlehre in Deutschland 2.1 Zur sprachlichen Situation Gehörloser Die meisten Gehörlosen in Deutschland wachsen heutzutage in einem eingeschränkten Sinne bilingual auf. In der Schule und durch die sie umgebende hörende Mehrheitsgesellschaft lernen sie die deutsche Lautsprache. Der Zugang zur Lautsprache ist jedoch für sie, bedingt durch ihre Hörschädigung, nur in eingeschränktem Maße möglich, anders als der Zugang zur visuellen Gebärdensprache. Gebärdensprachen sind visuell-gestische Sprachsysteme, die natürlich entstanden sind. Das Informationsblatt „Hörgeschädigte Kinder - gehörlose Erwachsene: Informationen und Empfehlungen“ fasst grundlegende Informationen hinsichtlich der DGS kurz zusammen: „Für die Kommunikation unter Gehörlosen gelten die folgenden allgemeinen Bedingungen: Die Verständigung folgt anderen als den in der Lautsprache üblichen Konventionen bzw. grammatischen Regeln. Das gesamte sichtbare Ausdrucksrepertoire des Körpers (Hände, Arme, Oberkörper, Kopf, Gesicht) wird ausgeschöpft. […] Die räumliche Dimension der körperlichen Darstellung spielt dabei eine besondere Rolle. Häufig wird fälschlicherweise angenommen, Gebärdensprache sei eine universale Sprache, und meistens geht dies mit der irrigen Vorstellung einher, bei der Gebärdensprache handele es sich um eine bewußt konstruierte und eingeführte Sprache. Tatsächlich jedoch sind die verschiedenen Gebärdensprachen wie gesprochene Sprachen auch in bestimmten Benutzergemeinschaften naturwüchsig entstanden und unterscheiden sich von Land zu Land. Mit der Bezeichnung ‚Deutsche Gebärdensprache‘ (DGS) grenzen die Gehörlosen Deutschlands ihre Gebärdensprache von anderen Gebärdensprachen wie etwa der Französischen, Britischen oder Amerikanischen Gebärdensprache ab. […] Wie bereits erwähnt, ist die Deutsche Gebärdensprache dialektal gegliedert, d.h., in unterschiedlichen Regionen Deutschlands werden gleiche Inhalte zum Teil mit unterschiedlichen Gebärden bezeichnet. Die innerhalb der deutschen Gehörlosengemeinschaft gewachsene Gebärdensprache folgt eigenen Regeln, die sich von den Regeln der gesprochenen Deutschen Sprache deutlich unterscheiden. Im Mittelpunkt der gebärdensprachlichen Verständigung stehen die Gebärden, die konventionellen Handzeichen Gehörloser also, aber auch Mimik, Körperausdruck und tonlos gesprochene Wörter sind 11 <?page no="24"?> von großer Bedeutung. Gebärden werden zu Folgen und Sätzen verknüpft, die eine ganz andere Reihenfolge und einen ganz anderen Aufbau haben als bedeutungsgleiche Sätze der Lautsprache. Satzarten (Aussagesätze, Fragen, Befehlssätze) werden mimisch markiert. Beziehungen zwischen Satzteilen (Subjekt, Objekt) werden durch die Ausführungsrichtung der Verbgebärde gekennzeichnet. Personen und Objekte werden im Gebärdenraum plaziert und stehen für weitere Bezugnahmen zur Verfügung. Räumliche Verhältnisse werden durch eine analoge räumliche Darstellung der Hände wiedergegeben. Der Bewegungsaspekt vieler vorgangsbezeichnender Gebärden kann modifiziert werden, um die Verlaufsweise eines bestimmten Vorgangs zu charakterisieren usw.“ (Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e. V. 1998, S. 25/ 26) Gebärdensprachen wurden jedoch als solche erst in den 1960er Jahren erkannt. Als „Vater der Gebärdensprachlinguistik“ gilt William Stokoe, der durch seine Untersuchungen erstmals den eigenständigen, vollwertigen linguistischen Status der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL) belegte (Stokoe 1960). Erst in seinem Gefolge begann die Untersuchung anderer Gebärdensprachen und auch ihre Lehre. In Deutschland wird die DGS seit den 1980er Jahren linguistisch erforscht und unterrichtet (Prillwitz et al. 1985). Auch als Erwachsene sind Gehörlose - auch wenn sie in die Gebärdensprachgemeinschaft integriert sind und DGS als ihre bevorzugte Sprache ansehen - als Mitglieder einer sprachlichen Minderheit ständig mit der deutschen Lautsprache konfrontiert, sei es in der Familie, am Arbeitsplatz, durch die Medien oder andere Umstände. Das Erlernen der DGS, der zweiten Sprache, die im Idealfall die Erstsprache ist, wird jedoch in Deutschland gegenwärtig in den Gehörlosenschulen immer noch nicht bzw. nicht ausreichend gefördert. Da nur etwa 10% aller Gehörlosen in Deutschland Kinder gehörloser Eltern sind und somit die Chance haben, DGS von Geburt an natürlich als Muttersprache zu erwerben, wäre es gerade wichtig, dass DGS möglichst früh als für Gehörlose zugängliche visuelle Sprache eingesetzt wird (für eine ausführliche Darlegung dieser Überlegungen vgl. für ASL Neidle et al. 2000, Kapitel 2.2). Aufgrund der nur zögerlich voranschreitenden pädagogischen und politischen Anerkennung tritt die DGS als Unterrichtssprache und/ oder Unterrichtsfach jedoch bisher nur in den wenigen vorhandenen bilingualen Schulversuchen auf, so in Hamburg seit 1993, außerdem in Berlin und Heidelberg-Neckargemünd; darüber hinaus wird der bilinguale Unterricht nur in vereinzelten Klassen auf Eigeninitiative von Lehrkräften durchgeführt, meines Wissens nach in Bremen, Homberg/ Efze, Osnabrück und Frankfurt 1 , und kaum institutionell gefördert. Demzufolge wird die Grammatik der DGS bislang so gut wie gar nicht explizit unterrichtet, so dass gehörlose Kinder ihre DGS-Kenntnisse „nebenbei“ auf dem 1 Vgl. hierzu bspw. http: / / www.erzwiss.uni-hamburg.de/ taubenschlag/ fernsehturm/ bilingua.htm und http: / / www.kestner.de/ elternhilfe/ bischulen.html 12 <?page no="25"?> Schulhof oder in der Freizeit im Austausch mit anderen bereits DGS-kompetenten Kindern (meist gehörloser Eltern) erwerben. Diese in der oralen Tradition der Deutschen Methode stehende Negierung und Unterdrückung der DGS in Schule und Bildung Gehörloser trägt zu der heutigen Situation, dass sich keine einheitliche „Hochform“ der DGS unter den Gebärdensprachbenutzern findet, ebenso bei, wie die mit den pädagogischen Verhältnissen in Zusammenhang stehende Förderung der sogenannten lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG). Solche Manualysteme existieren neben den genuinen Gebärdensprachen; durch sie wird gesprochene Sprache simultan zum Sprechen mit den Händen sichtbar gemacht. Lautsprachbegleitende Gebärden stellen allerdings kein Sprachsystem dar, sondern sie sind eine manuelle Visualisierungsform der Lautsprache, um das Wahrnehmen der gesprochenen Sprache zu erleichtern. Diese Systeme variieren hinsichtlich des Grades an Genauigkeit, mit der sie die Grammatik - insbesondere die Morphologie - von gesprochener Sprache wiedergeben. An Gehörlosenschulen wird - sofern überhaupt manuelle Zeichen im Unterricht benutzt werden - LBG im Unterricht eingesetzt, da sich viele Schulen immer noch in erster Linie dem einseitigen Ziel des Lautspracherwerbs verpflichtet sehen 2 . Die Existenz zweier (bzw. mehrerer) manueller Systeme, von denen die Gebärdensprache meist als minderwertiges Kommunikationsmittel herabgesetzt und nur selten ausdrücklich vermittelt wurde bzw. wird, steuert zur Vermischung der Sprachformen bei. Obwohl es gerade in Großstädten relativ starke und selbstbewusste Gehörlosengemeinschaften gibt, findet sich angesichts dieser Sprachkontaktsituation keine absolut homogene DGS. Dies stellt für eine natürliche Sprache eine besondere Situation dar, die sich jedoch durch die genannten Gründe erklärt. Allgemein wird auch in der Literatur zu anderen Gebärdensprachen von einem Kontinuum gesprochen, das von LBG bis hin zur eigenständigen Gebärdensprache reicht. „The literate signer, therefore, controls several visual languages, ranging from ASL to any one of a variety of visual codes for English. However, it is clear that the degree of proficiency for each of these languages varies from signer to signer. It is also apparent that there is no definite line of demarcation between varieties. Thus we may say that there is a continuum of visual language, and the point on the contiuum chosen by a signer is determined by the sociological and sociolinguistic circumstances of discourse.“ (Friedmann 1975, S. 943; für ausführliche Beschreibungen dieser soziolinguistischen Problematik vgl. auch Boyes Braem 1995, S. 132f. sowie speziell für ASL auch Neidle et a. 2000, Kap. 2.2) 2 Aus diesem Grund bleibt an Schulen, an denen nicht bilingual unterrichtet wird, häufig der Sachunterricht auf der Strecke: Zur Vermittlung von fachlichen Inhalten wird nicht DGS, sondern allenfalls LBG verwendet. Da dieses Manualsystem jedoch das Spiegelbild der Lautsprache ist, die Gehörlosen nicht auf natürliche Weise zugänglich ist, misslingt meist die Vermittlung von Informationen. 13 <?page no="26"?> Die Tatsache, dass es zwischen diesen Gebärdensystemen fließende Übergänge gibt, erschwert es, den Unterrichts- und Forschungsgegenstand DGS klar zu identifizieren und zu definieren. 2.2 Zur Situation der Gebärdensprachlehre in Deutschland 2.2.1 Kurse Das Angebot an Gebärdensprachkursen in Deutschland hat in den letzten Jahren - nicht zuletzt durch die wachsende linguistische, gesellschaftliche, pädagogische und politische Anerkennung der DGS - an Zuwachs gewonnen. Seit Ende der 1990er Jahre gibt es vermehrt digitale Medien, mit denen Gebärdensprachkenntnisse selbständig erworben werden können. Dies sind in erster Linie Vokabel- und Phrasensammlungen wie bspw. „777 Gebärden“ das „DGS-Basis- und Aufbau-Lexikon“, die „DGS-Phrasensammlung“, „Grundgebärden 1 und 2“, „Tommys Gebärdenwelt“ etc. (für eine umfangreiche Liste an existierendem Lernmaterial s. http: / / www.signlang.uni-hamburg.de/ BibWeb/ DGS-Kurse.html). Den einzigen eigenständigen und umfassenden Selbstlernkurs stellen die Sprachlernprogramme „Die Firma 1“ und „Die Firma 2“ dar (Metzger, Schulmeister und Zienert 2000 und 2004). Eine wesentlich ältere Historie haben die Präsenzkurse für DGS. In Deutschland gibt seit etwa 20 bis 30 Jahren Unterricht, der jedoch gerade in den Anfängen kein DGS-Unterricht war, sondern vielmehr aus Kursen bestand, in denen LBG - oftmals auch von Hörenden - gelehrt wurde. Mit der wachsenden Anerkennung von DGS wurden vermehrt „echte“ Gebärdensprachkurse zunehmend von Gehörlosen selbst durchgeführt. DGS-Unterricht findet heute in sehr verschiedenen Einrichtungen statt, in Einrichtungen von Gehörlosen wie bspw. Landesverbänden, aber auch in Firmen, Betrieben, Behörden etc., in Schulen, Sprachschulen, Universitäten und Fachhochschulen und nicht zuletzt an Volkshochschulen. Auf der Internetseite des Deutschen Gehörlosen-Bund e.V. (DGB) werden DGS-Kurse unterschiedlicher Niveaus von über 35 Anbietern bzw. Links zu weiteren Internetseiten mit Kursangeboten aufgelistet (s. http: / / www.gehoerlosenbund.de/ gebaerdensprache/ gebaerdensprach_angebote.htm; DGB 2006). Auch die Unterrichtsmaterialien für die Präsenzkurse gewinnen in den letzten Jahren an Quantität und Qualität. Gab es noch Mitte der 90er Jahre in vielen Kursen (wenn überhaupt) lediglich Vokabelzeichnungen von Einzelgebärden, so existieren mittlerweile mehrere kurstragende Werke wie der Kurs „Deutsche Gebärdensprache I bis IV“ (Hillenmeyer et al. 1995, 14 <?page no="27"?> 1996), der „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, Stufe 1 und 2“ (Beecken et al. 1999, 2002) und „DGS Deutsche Gebärdensprache 1 und 2“ (Happ 2000 und 2001). 2.2.2 Ausbildungssituation für Gebärdensprachdozenten Erst seit sehr kurzer Zeit zeichnet sich in Deutschland das Berufsbild „Gebärdensprachdozent-/ lehrer“ ab, und diese Tätigkeit beginnt sich zu professionalisieren (vgl. Arbeitsgruppe Berufsbild „Gebärdensprachdozent/ -lehrer“ 2006a, b). Bis in die Gegenwart gibt es nur sehr wenige Kursleiter, die hauptberuflich als solche arbeiten. Aufgrund mangelnder institutionalisierter Ausbildungen sind die meisten Dozenten immer noch Autodidakten, die sich in jahrelanger Unterrichtserfahrung eigene didaktische und linguistische Kenntnisse in der Praxis erworben haben. Viele von ihnen sind Nichtakademiker und arbeiten bisher meist semi-professionell. Viele der tätigen Dozenten zeichnen sich durch sehr hohes Engagement und große Weiterbildungsbereitschaft aus. Seit langem haben sich z. B. DGS-Dozenten in Landesverbänden und in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Dozenten für Gebärdensprache e.V. (BDG) zusammengeschlossen. Momentan besteht nur an zwei Institutionen die Möglichkeit, eine Ausbildung zum Gebärdensprachlehrer/ -dozent zu machen: Zum einen bietet das Gehörlosen Institut Bayern (GIB) eine berufsbegleitende Ausbildung in sechs Semestern an (s. http: / / www.giby.de). Diese staatlich anerkannte Ausbildung umfasst ca. 700 Unterrichtsstunden mit Theorie (Didaktik, Linguistik, Psychologie, Geschichte, Soziologie und Kultur Gehörloser, Kommunikationstraining und Recht) und Praxis. Es beginnt jährlich ein neuer Ausbildungsgang. Zum anderen ist in Kooperation des Landesverbands der Gehörlosen in Brandenburg e.V. mit dem Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation Gehörloser Berlin/ Brandenburg e.V. im September 2005 eine zweijährige berufsbegleitende Weiterbildung zum Gebärdensprachdozenten/ -lehrer angelaufen (s. http: / / www.deafcom.de.). Als Weiterbildungsmaßnahme existiert außerdem in Hessen eine 77stündige „sprachwissenschaftliche Qualifikation hörgeschädigter Gebärdenkursleiter/ -innen zum/ zur DGS-Dozenten/ Dozentin“, die vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur II (J.W. Goethe Universität/ Frankfurt a.M., Fachbereich Neuere Philologien) angeboten und vom Landesverband der Gehörlosen Hessen e.V. organisiert wird (s. http: / / cms.dgs-werk.de/ 03/ dozent/ schule03.php). Eine einbzw. zweiwöchige Schulung für den Gebärdensprachunterricht mit dem „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache“ (Beecken et al. 1999a, b, 2002 a, b) wird von Dozenten des Instituts für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation (Universität Hamburg) in unregelmäßigen Abständen durchgeführt. Von 2001 bis 2003 gab es das Modellprojekt „Planung, Durchführung und Evaluation einer Ausbildung zum Gebärdensprachlehrer in NRW“, das 15 <?page no="28"?> an der Universität zu Köln und der RWTH Aachen in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der Gehörlosen NRW e.V. und der Landesarbeitsgemeinschaft der Dozenten für Gebärdensprache NRW e.V. durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses Projektes erhielten 20 Teilnehmer das Abschlusszertifikat (Becker et al. 2002; Becker, Brücher und Louis-Nouvertné 2004). Im Staatlichen Prüfungsamt für Dolmetscher und Übersetzer Darmstadt (AfL) 3 kann seit Mai 2004 eine übergeordnete und ausbildungsunabhängige „Staatliche Prüfung zum Gebärdensprachdozenten“ abgelegt werden. Die Verordnung über die Prüfung für Gebärdensprachdozenten orientiert sich an den Rahmenvorgaben im „Berufsbild“ und legt folgende Zulassungsvoraussetzungen zur Prüfung zum Gebärdensprachdozenten fest: • Realschulabschluss, gleichwertiger Abschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. • Einschlägige Ausbildung und/ oder entsprechende mindestens fünfjährige Tätigkeit als Gebärdensprachdozentin oder Gebärdensprachdozent mit dem Nachweis von mindestens 500 Dozentenstunden 4 . Auch wenn sich eine Vereinheitlichung der Kursleiterausbildung abzeichnet, ist der Ausbildungshintergrund der zur Zeit aktiven Gebärdensprachdozenten noch äußerst heterogen. 3 Amt für Lehrerausbildung (AfL), Dezernat Staatliche Prüfungen für Übersetzerinnen und Übersetzer und Dolmetscherinnen und Dolmetscher und Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher und Gebärdensprachdozentinnen und Gebärdensprachdozenten. 4 Prüfungsverordnung § 5 Abs. 1 und 2. Im Juni 2007 wurden zum ersten Mal staatliche Prüfungen für Dozentinnen und Dozenten der Gebärdensprache durchgeführt. 16 <?page no="29"?> 3 Gebärdensprachlehren und -lernen als Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion Wie die Gebärdensprachlinguistik ist die Gebärdensprachlehr- und lernforschung eine vergleichsweise junge Disziplin. Auch hier kommt den USA eine Vorreiterrolle zu. Nachdem Stokoe 1960 den Status von ASL als linguistisch vollwertiger Sprache nachgewiesen hatte und ASL durch gesellschaftspolitische Diskussionen vermehrt ins Licht der Öffentlichkeit trat, stieg in den USA die Nachfrage nach ASL-Kursen immens an. Aber natürlich war auch ASL als Gegenstand gesteuerten L2-Unterrichts zunächst ein Exot wie sich bspw. der Aussage von John W. Cross entnehmen lässt: „Contrary to my expectations, the experience of learning a sign language is essentially the same in nature as the experience of learning a spoken language.“ (Cross 1977, S. 277) Im Zuge der Ausbreitung von ASL-Kursen begann man zunehmend, sich über Lehrer und Lerner sowie über Unterrichtsinhalte und -methoden Gedanken zu machen. So gab es seit Ende der 1970er Jahre das National Symposium on Sign Language Research and Teaching, das insgesamt viermal (1977, 1978, 1980 und 1986) abgehalten wurde 1 . In diesem Rahmen wurden wissenschaftliche Beiträge zu ASL als Sprache und als Gegenstand des L2-Unterrichts vorgetragen 2 . Über die Jahre ist eine Verschiebung der allgemeinen Interessensschwerpunkte zu beobachten: Während in den Anfängen Diskussionen über den Unterrichtsgegenstand als solchen (ASL vs. lautsprachbegleitende Manualsysteme 3 ) und zu den Eigenschaften und der Rolle des Gebärdensprachlehrers die Tagesordnung bestimmten, rückten später auch die Lerner in den Mittelpunkt des Interesses. 1 In den USA existiert seit 1975 mit dem Sign Instructors Guidance Network (SIGN), später American Sign Language Teachers Association (ASLTA), eine nationale Vereinigung der ASL-Kursleiter. Seit Januar 2004 ist die ASLTA nicht mehr Mitglied der National Association of the Deaf (NAD), sondern eine eigenständige Organisation (NAD 2006). 2 Die Tatsache, dass das Interesse an der wissenschaftlichen Betrachtung der Gebärdensprachlehre seit Mitte der 1980er Jahre zurückging, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass zu diesem Zeitpunkt die allerersten Anfangsschwierigkeiten überwunden schienen: Die ersten Curricula waren entwickelt, und so sank anscheinend der Bedarf an breiter Diskussion. 3 In den USA gibt es bspw. Signing Exact English, Seeing Essential English, Signed English, Contact Signing, die unter dem Begriff Manually Coded English (MCE) zusammengefasst werden können. 17 <?page no="30"?> Da im Fokus der vorliegenden Arbeit die Lerner einer Gebärdensprache stehen, werden im Folgenden solche Arbeiten, die sich mit der Rolle des Lehrers, Curricula und Testverfahren beschäftigen, nur kurz zusammenfassend beschrieben. Untersuchungen, die sich mit dem Lernprozess und der Lernerperspektive erwachsener L2-Lerner einer Gebärdensprache im gesteuerten Unterricht befassen, werden dagegen ausführlicher dargestellt. 3.1 Gebärdensprachlehre im Lichte der Zweitsprachenerwerbsforschung Vor allem die Symposien waren Forum für einen ersten, institutionalisierten Austausch bzgl. der Gebärdensprachlehre (und -forschung). Dabei stand zunächst die Rolle des gehörlosen Lehrers im Mittelpunkt der Betrachtungen. Vor allem wurde seine Verantwortung als Vertreter der Gebärdensprachgemeinschaft und ihrer Kultur herausgehoben (vgl. z.B. Kannapell 1977; Lentz 1978). Aber auch der lückenhafte Forschungsstand in Gebärdensprachlinguistik, -methodik und -didaktik wurde beklagt (Lentz 1978; Battison und Cogen 1978). Aufgrund dieser defizitären Situation waren Gebärdensprachlehrer fast ausschließlich auf autodidaktische Fähigkeiten und eigene Kreativität angewiesen. Großen Raum nahm auch die Frage des Lehrgegenstands ein (s. z.B. Battison und Cogen 1978). So wurde festgestellt, dass teilweise nicht ASL, sondern vielmehr das lautsprachbegleitende Signed English 4 unterrichtet wurde. Dies war durch verschiedene Umstände motiviert: Einerseits fand der Unterricht häufig nur auf dem Niveau von Vokabeltraining statt. Dies hatte zur Folge, dass Lerner zur Kommunikation automatisch in den ihnen bekannt englischen Satzbau verfielen, da ihnen die Gebärdensprachgrammatik nicht bekannt war. Das soziale Verhältnis zwischen den Lehrern als Mitgliedern einer Minderheit und den Lernern als Mitgliedern einer Mehrheitsgesellschaft wurde als Faktor gesehen, der den Gebrauch von Signed English förderte: „Another assumption with a political consequence: generally we learn a foreign language in order to find out more about the people who use it, and to interact more easily in their society. But systematic instruction about deaf culture and history, and how it relates to language use, is seldom offered. Contrary to the instructional situation with spoken languages, the emphasis has never been on integrating the Sign Language learner (hearing) into the deaf world, but rather the eventual integration of deaf people into the world of the hearing majority. For this reason, many ‚ASL‘ classes turn into Sign English classes, despite the best efforts of skilled teachers.“ (Battison und Cogen 1978, S. 145; Hervorhebung im Original) 4 Einige Autoren sprechen von Sign English, z.B. Battison und Cogen (1978) im folgenden Zitat. 18 <?page no="31"?> Aber auch ein nicht zu unterschätzendes Maß an Unkenntnis trug zur Verbreitung von Signed English-Unterricht bei, das darin bestand, dass einige Lerner fälschlicherweise annahmen, ASL sei Signed English. In diese Diskussion spielte die Frage hinein, wann der Gebrauch des Fingeralphabets 5 im Unterricht eingeführt werden sollte (Battison und Cogen 1978). Lernerseitige Probleme wurden auch gesehen. Jedoch wurde zunächst nicht der Lernprozess auf dem Hintergrund von Modellen oder Theorien aus der Zweitsprachenerwerbsforschung betrachtet; vielmehr standen allgemeine äußere Faktoren im Blickpunkt des Interesses, die das Lernen von ASL erschwerten (z.B. Battison und Cogen 1978). Zum einen wurde beobachtet, dass ASL-Lerner z.T. Schwierigkeiten hatten, sich mit dem Körper ausdrücken; dies wurde auf den für sie ungewohnten und teilweise befremdenden Gebrauch der Gebärdensprachartikulatoren (Hände, Oberkörper, Gesicht) zurückgeführt. Als hinderlicher Faktor wurde auch die fehlende Grammatik- und Schrift-Tradition beschrieben, die die Lerner aus anderem Fremdsprachenunterricht gewohnt waren. Eine weitere Schwierigkeit stellte (damals wie heute) die Tatsache dar, dass die Lerner nicht in das Zielsprachland reisen konnten, um sich authentischem Input auszusetzen. Auch die große Dialektvielfalt sowie die stark ausgeprägte Idiosynkrasie wurde als ein Hindernis für Lerner identifiziert. ASL-Lehrer und -Lerner trafen also auf widrige Umstände. Folgendes Zitat spiegelt die damalige Situation gut wider - Zustände, die heutzutage (auch in Deutschland) zum Großteil überwunden sind: „Sign language instruction often takes place in informal classes where the participants are not screened or evaluated for the level of the class; typically, a basic sign vocabulary consisting of morphologically simple forms is provided, and the structure of sentences and conversations are left to the discretion of each individual student. This naturally results in the intrusion of English structure in the student’s language, especially in terms of vocabulary choice and the order of signs in a sentence. Instruction in ASL grammar is sometimes confused with ‚non-verbal communication‘; discussion of sentence patterns might only occur in advanced classes, where so-called ‚idioms‘ are introduced. Pronunciation and the 5 „Das Fingeralphabet ist eine Kommunikationsform, bei der einzelne Handformen den einzelnen Buchstaben des Alphabets entsprechen. Mit dem Fingeralphabet können Wörter der Lautsprache statt auf Papier in der Luft buchstabiert werden. Das Wort Mann beispielsweise kann mit vier aufeinanderfolgenden Handformen buchstabiert werden (M-A-N-N) […], während in der Gebärdensprache eine einzige Gebärde dem Inhalt Mann entspricht […]. Buchstabiert wird normalerweise an derselben Stelle (vor der Brust), mit derselben Handstellung (Handfläche zum Adressaten gerichtet) und, mit Ausnahme der Übergänge von einem Buchstaben zum nächsten, mit so wenig Bewegung wie möglich.“ (Boyes-Braem 1995, S. 146; Hervorhebung im Original). Das Fingeralphabet wird z.B. dazu benutzt, Eigennamen oder Fremdwörter zu buchstabieren, zu „fingern“, für die es keine Gebärden gibt. Eine Abbildung des deutschen Fingeralphabets findet sich in Anhang 3 der vorliegenden Arbeit. 19 <?page no="32"?> ‚intonational‘ aspects of signs are often summed up in one instruction: use a lot of facial expression.“ (Battison und Cogen 1978, S. 143) Während also zunächst noch zur Diskussion stand, wie genau überhaupt die Zielsprache aussehen sollte (Gebärdensprache vs. LBG vs. Fingeralphabet) und welche Rolle ein ASL-Lehrer auszufüllen hatte, entwickelten sich ab den 1980er Jahren v.a. Überlegungen zu ASL-Curricula (Baker- Shenk und Cokely 1980; Ingram 1982) 6 , zum Testen von Sprachkompetenz (z.B. Kemp 1988, 1998) sowie zur Unterrichtung von ASL-spezifischen Grammatikelementen (z.B. Lentz 1986; Mikos 1986). 3.2 Gebärdensprachlernen im Lichte der Zweitsprachenerwerbsforschung 3.2.1 Gebärdensprachlernen auf dem Hintergrund des „Acculturation Model“ Schumann (1977) Die ersten Arbeiten, die sich eingehender mit dem Lernen einer Gebärdensprache aus Lernersicht beschäftigen, stützten sich auf das „Acculturation Model“ von Schumann (1977). Sie untersuchten nicht die kognitiven Variablen, die den Lernprozess steuern, sondern sahen das Fremdsprachenlernen im Zusammenspiel mit sozialen und psychologischen Aspekten. Die Wahl dieses Modells liegt vermutlich einerseits im psychologischen und pädagogischen Ausbildungshintergrund einiger Autoren begründet. Andererseits kann festgestellt werden, dass in der Tat beim Lernen einer Gebärdensprache viele soziale und psychologische Faktoren eine Rolle spielen, die beim Lernen gesprochener Sprachen in dieser Form nicht zum Tragen kommen - vor allem, wenn es sich um Zielsprachen handelt, die traditionell unterrichtet werden und deren Kenntnis als angesehene Qualifikation gilt. Die ersten Vertreter dieses Ansatzes waren Kyle, Woll und Llewellyn- Jones (1981) und Kyle und Woll (1985), die sich mit dem Lernen von Britischer Gebärdensprache (BSL) beschäftigten - später folgten Kemp für ASL (1998a, 1998b) und Jeavons (1999) für Australische Gebärdensprache (AUS- LAN). Schumanns Modell zufolge beeinflusst der Grad der Identifikation mit der zielsprachlichen Kultur den Grad der Beherrschung der Zielsprache. „‚Acculturation‘ wird durch zwei Bündel von Faktoren operationalisiert - soziale Distanz und psychologische Distanz. Je größer die Distanzierung, desto niedriger die ‚acculturation‘ und daher der Grad der Beherrschung der L2.“ (Edmondson und House 1993, S. 194) 6 Für einen Überblick über ASL-Lehrmethoden s. Wilcox und Wilcox 1997, S. 83-86 20 <?page no="33"?> Kyle, Woll und Llewellyn-Jones stellten fest, dass demnach die Voraussetzungen, um BSL zu lernen, eher schlecht seien: (Hörende) BSL-Lerner befänden sich in einer Situation, die - z.T. unabhängig von individuellen Faktoren - geprägt sei von einer vergleichsweise großen sozialen und psychologischen Distanz zwischen den Kulturen von Ausgangs- und Zielsprache (Kyle, Woll und Llewellyn-Jones 1981, S. 156). So seien hörende Personen Mitglieder der dominanten Kultur. Dies äußere sich bspw. im Hinblick auf politische und finanzielle Kontrolle der Hörenden gegenüber gehörlosen Menschen (Kyle und Woll 1985, S. 175). Aufgrund des i.d.R. niedrigeren sozialen Status der gehörlosen (Lehr-) Person könne es in der Kommunikation mit hörenden Lernern zu einer für den Lernprozess ungünstigen Situation kommen: Zum einen würden Fehler des Lerners u.U. nicht korrigiert, da die statusniedrigere gehörlose Person dies nicht wage. Zum anderen könne im Fall eines durch den Lerner im Rahmen einer Vermeidungsstrategie initiierten Themenwechsels dazu kommen, dass der Gehörlose es nicht wage, den hörenden Lerner zur Beibehaltung des Themas zu nötigen (ebd., S. 177) 7 . Im niedrigen Ansehen der Zielsprache und ihrer Gemeinschaft liege auch ein besonderer affektiver Faktor begründet: Da weder Gebärdensprache noch gehörlose Menschen einen hohen Status hätten, müsse der Wille und die Motivation, BSL lernen zu wollen, sehr ausgeprägt sein, um die negativen Konnotationen und Spannungen (z.B. das Vorurteil „Alle Hörenden, die Gebärdensprache lernen und/ oder sich mit Gehörlosen beschäftigen, haben ein Helfersyndrom.“) überwinden zu können (ebd., S. 178/ 179). Neben dem Dominanzfaktor trage zur psychologischen Distanz auch die Tatsache bei, dass Lerner von BSL nicht die Identifikation mit den gehörlosen Mitgliedern der Zielsprachkultur anstrebten; es sei davon auszugehen, dass die Lerner ihren Hörstatus nicht ändern wollten. Diese Distanz zwischen der Ausgangs- und der Zielsprachkultur führten schließlich dazu, dass sich die Lerner meist nicht länger als ein paar Stunden in der „Gehörlosenwelt“ aufhielten. Dies wiederum führe zu einem minimalen Kontakt zur Zielsprache, ihren Mitgliedern und ihrer Kultur. Darüber hinaus könne die Einstellung des Lerners gegenüber gehörlosen Menschen eine entscheidende Rolle spielen: Bspw. setze sich ein hörender Lerner der Gefahr aus, einen „Kulturschock“ zu erleiden, da sich u.U. viele seiner Vorurteile bzw. die der Gesellschaft, aus der er komme, als falsch herausstellten. So zeigten sich die „kommunikationsbehinderten“ gehörlosen Menschen keineswegs „sprachlos“. Ferner sei in der Sprachlehrsi- 7 Kyle und Woll verwenden den Strategiebegriff nicht im hier gebrauchten Sinne. Sie beschreiben einerseits zwei Fehlertypen, die beim L2-Lernen auftreten ((Über-) Generalisierung, Interferenzen), sowie einen Strategietyp (Vermeidung) und berücksichtigen unter diesem Begriff auch affektive und sozio-kulturelle Faktoren sowie die Variable Alter (Kyle und Woll 1985, S. 176-184). 21 <?page no="34"?> tuation der Gehörlose, dem sich der Hörende vielleicht intuitiv zur Hilfe verpflichtet fühle, alles andere als hilfsbedürftig, sondern vielmehr in der Rolle des (sprachlich) überlegenen Lehrers (Kyle und Woll, S. 179/ 180). Die von Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) sowie von Kyle und Woll (1985) geschilderte Situation gibt die Verhältnisse in Großbritannien zu Beginn und Mitte der 1980er Jahre wieder: Das Bewusstsein und die Anerkennung von BSL als eigenständiger, wertvoller Sprache war auf vielen Seiten (Gesellschaft, Lerner, Lehrer) nicht gegeben, häufig unterrichteten Hörende BSL, die selbst nicht ausreichend sprachkompetent waren, die linguistische Forschung steckte in den Kinderschuhen, erst recht die Zweitsprachenerwerbsforschung. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse von Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) zu sehen, die die Untersuchung der Gebärdensprachkompetenz von L2-Lernern ergab. Sie untersuchten in umfangreichen Experimenten die rezeptive sowie die produktive Sprachkompetenz sowie allgemeine Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten von 134 Sozialarbeitern, die Gehörlose betreuten. Die Tests ergaben, dass die BSL-Lerner bzw. Nutzer (sie hatten zwischen 0 und 16 oder mehr Jahren Spracherfahrung mit BSL) ihre Kompetenz mit der Zeit zwar verbessern konnten; allerdings verbesserten sie sich langsamer als die Französisch-Lerner der Kontrollgruppe (ebd., S. 161). Dies führten Kyle, Woll und Llewellyn-Jones auf den vergleichsweise geringen zielsprachlichen Input zurück, der BSL-Lernern zur Verfügung gestanden habe. Außerdem kamen Kyle, Woll und Llewellyn-Jones zu einem erstaunlichen Befund: Die Auswertung der Daten zeigte, dass die produktiven Fähigkeiten fortgeschrittener BSL-Lerner besser ausgebildet waren als die rezeptiven Fähigkeiten. Dies sei z.B. bei Lernern des Französischen umgekehrt: Mit vermehrter Spracherfahrung sei bei ihnen die rezeptive Sprachkompetenz besser als die produktive. Die Autoren sehen dieses Ergebnis als Bestätigung für ein verbreitetes Empfinden über die Stärken und Schwächen von Gebärdensprachlernern: „It emphasizes the commonly held belief that deaf people understand hearing people’s use of signs better than hearing people understand the signing of deaf people.“ 8 (ebd., S. 165) Dieses Ergebnis erklärt sich durch die eben beschriebenen Umstände der damaligen Zeit: Die Kurse wurden in der Mehrzahl von Hörenden durchgeführt. Zudem spielte im BSL-Kurs Englisch eine große, teilweise die dominierende Rolle und wurde in fast der Hälfte aller Kurse als hauptsächliche Unterrichtssprache benutzt (ebd., S. 175). Demzufolge hatten die Lerner we- 8 Dies bedeutet m.E. nicht zwingend, dass Hörende wirklich eine gute produktive Kompetenz haben, sondern ist möglicherweise Ausdruck der Tatsache, dass Gehörlose sehr geübt in der Interpretation und im Verständnis des Outputs von Hörenden sind. 22 <?page no="35"?> nig Kontakt zu Sprechern der Zielsprache und zu muttersprachlichem Input, so dass sie keine entsprechenden Kompetenzen entwickeln konnten. Außerdem wurde aufgrund der wenig entwickelten linguistischen Forschung auch keine oder nur wenig Grammatik im Unterricht vermittelt. Dies führte quasi automatisch dazu, dass die Lerner auf die Grammatik ihrer L1 zurückgriffen, was vor allem im Gebrauch der englischen Syntax resultierte. Es lässt sich vermuten, dass die Lerner also entweder aus der Not heraus auf das Englische zurückgriffen oder sogar ihre Gebärden für korrektes BSL hielten. Neben dieser Interferenz aus dem Englischen stellten Kyle, Woll und Llewellyn-Jones zwei weitere Unterschiede im Output von Muttersprachlern im Vergleich zu dem von Lernern fest. Dies betraf die Merkmale Simultanität, Mimikgebrauch 9 und Wortbildverwendung 10 . Hörende Lerner benutzten demnach (auch nach langjähriger Sprachlernerfahrung und -praxis) weniger simultane Klassifikatorkonstruktionen 11 , weniger Constructed Action sowie mehr Wortbilder als Muttersprachler von BSL. Diese Unterschiede fassten Kyle, Woll und Llewellyn-Jones vorläufig als „Stil“-Differenzen zusammen (ebd., S. 167-172). Sie vermuteten, dass dieser „Stil“ des L2-Nutzers z.T. sogar gewollt sei: Sie stellten die Hypothese auf, dass diese Art des Gebärdens gleichsam als „erzieherische Maßnahme“ eingesetzt würde, „i.e. as helping deaf people to see English-based sign as it more closely reflects the written word“ (S. 172). Diese Einstellung erschwere die Akzeptanz von BSL als Sprache und trage zur Distanz zwischen den Kulturen bei (Kyle und Woll 1985, S. 183). Jedoch konnten Kyle, Woll und Llewellyn-Jones sta- 9 Kyle, Woll und Llewellyn-Jones sprechen hier von „Use of mime“ (S. 167). Aus den aufgeführten Beispielen wird klar, dass sie damit nach heutigem Sprachgebrauch Constructed Action meinen. Unter Constructed Action wird eine Ausdrucksform verstanden, bei der der Gebärdende gleichsam in die Rolle eines anderen schlüpft und dessen Verhalten und emotionale Verfassung wiedergibt. Für weitere Ausführungen vgl. Kapitel 14.2). 10 Als Wortbilder (auch: Ablesewörter oder Mundbilder) werden solche die Handzeichen begleitenden Mundbewegungen bezeichnet, die sich auf Wörter der Lautsprache zurückführen lassen (vgl. Kapitel 14.2). 11 Unter Klassifikatoren werden bestimmte Handformen verstanden, mit denen Objekte aufgrund von Eigenschaften zu Klassen zusammengefasst werden. Als Klassifikatorkonstruktionen bezeichne ich im Folgenden „die hochproduktive Kombination einer Reihe von Morphemen, die Darstellung, Hintergrund, Bewegung, Position, Orientierung, Richtung, Art, Aspekt, Ausdehnung, Form und Distribution“ in einer Gebärde bzw. einer komplexen Zweihandgebärde ausdrücken (Schembri 2000, S. 472). Für eine Zusammenfassung der Diskussion des Klassifikatorbegriffs s. z.B. Emmorey 2002, S. 87-91; für eine Beschreibung einer möglichen Kategorisierung von Klassifikatoren s. Kapitel 14.2. 23 <?page no="36"?> tistisch keinen konsistenten Zusammenhang zwischen Einstellung und Sprachkompetenz nachweisen 12 . Kylie und Woll (1985) kamen zu dem Schluss, dass Schumanns „Acculturation Model“ sich gut dafür eigne, um die Pidginisierung zu erklären, die sie bei den von ihnen untersuchten Lernern vorfanden. Auch Kemp (1998a, 1998b) setzte sich auf dem Hintergrund des „Acculturation Models“ von Schumann (1987, 1986) mit der Frage auseinander, warum einige Lerner von ASL erfolgreicher sind als andere. Er identifizierte für ASL-Lerner in den USA eine sehr ähnliche Situation hinsichtlich sozialer und psychologischer Distanz wie Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) bzw. Kyle und Woll (1985) für BSL in Großbritannien. Auch beim Lernen von ASL spielt demnach die Dominanzverteilung, die (Un-) Ähnlichkeit der Sprachen und Kulturen und die Motivation eine Rolle. Zusätzlich zu den von den britischen Wissenschaftlern beschriebenen Faktoren geht Kemp näher auf sprachliche Unterschiede zwischen Grund- und Zielsprache ein: Er nennt insbesondere den Gebrauch der anderen Artikulatoren, der Hände sowie den Einsatz von Nonmanualia, Art und Einsatz von Kommunikationssignalen, Rezipientenfeedback und den andauernden Blickkontakt während der Kommunikation, die für den Lerner zunächst ungewohnt und teilweise befremdlich seien. Problematisch sei darüber hinaus, dass ein Monitoring nicht möglich sei, da man sich selbst nicht gebärden sehe (Kemp 1998b, S. 258). Um die Distanz zu minimieren und damit den Akkulturationsprozess zu stärken schlägt Kemp (1998a) eine Reihe von Aktivitäten vor: Für Lernanfänger gehört dazu in erster Linie die Aufklärung im ASL-Unterricht, die Stereotypen gegenüber Gebärdensprache und Gehörlosen entgegenwirken und das Bild von Gehörlosen differenzieren soll (Kemp 1998a, S. 223-225). Zu den von Kemp beschriebenen Aufklärungsmaßnahmen gehört die Empfehlung von entsprechendem Lesestoff, die Konfrontation mit Gehörlosen unterschiedlicher ethnischer Gruppen im Kurs sowie die Aufklärung über die Wahrnehmung von Gehörlosigkeit als pathologischem Defizit im Gegensatz zur Wahrnehmung als Merkmal einer kulturellen Minderheit. Auf diese Weise sollen die Lerner von vorhandenen Vorurteilen befreit und für die Zielsprachgemeinschaft sensibilisiert werden, so dass ihre Einstellung gegenüber Gehörlosen positiv beeinflusst wird. Auch Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache und ihren Kulturen stellen Schumann zufolge ein Akkulturationshindernis dar. Diese Variable überträgt Kemp 12 Außerdem untersuchten Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) die Korrelation zwischen BSL-Lernen und dem Faktor Alter sowie einigen kognitiven Faktoren (dargestellt in Kyle und Woll (1985)). „In summary, there is positive predictive value in tests of cognitive abilities in relation to sign language proficiency, but the effects are not as consistent as one might hope and they are outweighed in magnitude by the age at which sign language is learned“ (Kyle und Woll 1985, S. 188). 24 <?page no="37"?> auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen hinsichtlich Blick und Mimik in der Kultur der Hörenden im Gegensatz zu der der Gehörlosen (ebd., S. 225): Die visuelle Sprachmodalität von ASL erfordere kontinuierlichen Blickkontakt, der von Hörenden oft als einschüchternd oder aufdringlich empfunden werde. Auch der extensive, in ASL grammatische Gebrauch von Mimik werde von Anfängern als unangenehm empfunden. Das gleiche könne auf anderes in Gebärdensprachkommunikation auftretendes Kommunikationsverhalten zutreffen, z.B. Schulterklopfen als Kommunikationssignal, nonmanuelles Feedback seitens des Rezipienten u.Ä. Zur Überwindung dieser kulturellen Unterschiede 13 empfiehlt Kemp ausgewählte Lektüre und Übungen. Auch fortgeschrittenere Lerner können Kemp zufolge von der Berücksichtigung sozialer und affektiver Faktoren profitieren, durch die das Lernen günstig beeinflusst werden kann (ebd., S. 226-228). Dazu zählt die Bemühung um Kontakt und Integration zu Gehörlosen, z.B. in Form einer Art „Stammtisch“ mit Gehörlosen und Hörenden. Um den Kontakt zu Sprachbenutzern so lange wie möglich zu halten, gelte es, Gebärdensprachkurse so attraktiv wie möglich zu gestalten: einerseits bspw. durch spezielle Zertifikate nach der Absolvierung mehrere Kurse, andererseits und vor allem aber durch einen qualitativ hochwertigen Unterricht. Neben sozialen Faktoren gelte es, auch affektive Komponenten zu berücksichtigen: Die Schaffung einer entspannten Unterrichtsatmosphäre erlaube es dem Lerner, sich eher auf neue Ideen und Konzepte einzulassen. Die Thematisierung der Lernmotivation und des Kulturschocks könne sich darüber hinaus ebenso günstig auf den Lernprozess auswirken wie Maßnahmen zur Überwindung des „Sprachschocks“ , den viele Lerner aufgrund der anderen Sprachmodalität erlitten. Die von Kemp aufgegriffenen sozialen und kulturellen Faktoren sowie seine sehr konkreten Vorschläge für Maßnahmen im Unterricht sind sicherlich hilfreich und sollten vor allem in Kursleiterausbildungen vermittelt werden. Auch sind die Schaffung einer „guten“ Lernatmosphäre, die Herstellung des Kontakts zu Muttersprachlern, die positive Vermittlung der Zielsprache und der Kultur der Sprachgemeinschaft etc. in der Praxis alles andere als leicht. Aus lerntheoretischer Sicht erscheint es aber eher trivial festzustellen, dass eine positive Einstellung zur Zielsprache und zur Sprachgemeinschaft sowie ausgeprägte Sprachpraxis das Lernen begünstigen. Auch für (AUSLAN) wurde - in der Tradition von Kyle, Woll und Llewellyn-Jones, Kyle und Woll sowie von Kemp - eine Untersuchung auf dem Hintergrund des Schumannschen Modells vorgenommen. Jeavons un- 13 Unterschiede dieser Art betreffen nicht nur die Kultur einer Gemeinschaft im Sinne von Verhalten, Werten oder Normen, sondern auf Seiten der Gebärdensprache berühren sie teilweise fundamentale sprachliche Elemente wie im Fall der nonmanuellen grammatischen Signale. 25 <?page no="38"?> tersuchte 136 Studierende eines Dolmetscherstudiengangs an einem TAFE College in Western Australia (Jeavons 1999, S. 60, 64). Sie überprüfte in ihrer Arbeit die Korrelation der Variablen Bildung, Motivation, Einschätzung der eigenen Gebärdensprachkompetenz, Anzahl der Stunden an Gebärdensprachbenutzung pro Woche, Art und Umfang des Kontakts mit Gehörlosen, Geselligkeit/ Extrovertiertheit, Umfang der Lernerfahrung und Alter mit rezeptiver und produktiver Sprachkompetenz sowie mit einer Bewertung der Lernerleistungen durch den Lehrer. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Motivation, die Anzahl der Stunden an Sprachpraxis pro Woche, die Bildung sowie die Selbsteinschätzung der Lerner Indikatoren für Sprachkompetenz in AUSLAN seien (Jeavons 1999, S. 94). 3.2.2 Weitere Untersuchungen von Einflussfaktoren auf das Lernen einer Gebärdensprache Neben diesen Untersuchungen, die das Lernen einer Gebärdensprache anhand von Schumanns „Acculturation Model“ betrachten, gibt es andere Arbeiten, die sich zwar auch mit Einflussfaktoren auf das Gebärdensprachlernen beschäftigen, jedoch nicht vor dem Hintergrund einer Theorie oder eines Modells. In einer umfangreichen Studie betrachteten McKee und McKee (1992) Faktoren, die das Lernen von ASL erschweren. Auch hier spiegeln sich die Aspekte wieder, die Battison und Cogen bereits 1978 ansatzweise beschrieben hatten. McKee und McKee führten eine Befragung von zwölf Lehrern (sechs Gehörlose, sechs Hörende) und 72 fortgeschrittenen Lernern (im Wesentlichen Studierende des B.A-Studiengangs „Deaf Studies“ an der California State University, Northridge) durch, um die Aspekte zu erheben, die von ihnen als schwierig wahrgenommen wurden. Dies betraf sowohl sprachliche Elemente als auch soziolinguistische und affektive Gesichtspunkte. Unterrichtssprache war (im Gegensatz zu den von Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) und Kyle und Woll (1985) beschriebenen BSL-Kursen) ausschließlich die Zielsprache (McKee und McKee 1992, S. 132). McKee und McKee identifizierten folgende sprachliche Elemente, die von den Lernern und Lehrern als schwierig eingestuft wurden (beginnend mit dem schwierigsten) (McKee und McKee 1992, S. 134): 26 <?page no="39"?> Auffällig ist, dass Lerner und Lehrer zwar darin übereinstimmen, welche sprachlichen Elemente schwierig zu lernen sind 14 ; die unterschiedlichen Aspekte werden jedoch im Allgemeinen von den Lehrern jeweils für schwieriger gehalten als von den Lernern. Bemerkenswert ist weiterhin, dass sowohl Lerner als auch Lehrer dazu neigen, die Schwierigkeit von ASL-Strukturen dahingehend zu beurteilen, wie verschieden diese vom Englischen sind (McKee und McKee 1992, S. 153). Zu soziolinguistischen Schwierigkeiten machten die Lerner folgende Angaben 15 : 14 Die Merkmale scheinen aus einem linguistischen Blickwinkel teilweise sehr grob klassifiziert. McKee und McKee erklären jedoch, „the categories of difficulty […] are largely generated by the students’ own responses to the open-ended questionnaire, rather than reflecting the researchers’ beliefs about what may or may not be significant to learning ASL“ (McKee und McKee 1992, S. 134). Diese Herangehensweise erklärt die aufgestellten Klassen - zumal bei den Studierenden vermutlich kein umfangreiches linguistisches Wissen vorausgesetzt werden kann, demzufolge sie feinere Kategorien hätten bilden können. 15 R = Rarely, A = At times, O = Often Feature Students’ median ratings Teachers’ median ratings Thinking in ASL Expressing thoughts easily in ASL 5 5 6 6 Grammar/ syntax Coordination & Fluency Nonmanual signals Focus on signers’ hands & face 4 4 5 3 3 3 6 5 Performance aspect of ASL Vocabulary Classifiers Listening behaviours 3 3 4 3 2 2 4 4 Spatial indexing Directional verbs Articulation (handshape & movement) Distinguish neg. vs affirm. statements 2 2 3 3 2 2 3 2 Getting clarification in class 1 2 Tab. 1: Als schwierig eingeschätzte ASL-Elemente aus: McKee und McKee 1992, S. 134 27 <?page no="40"?> Die Lehrer stellten beim Output ihrer Lerner eine Fossilisierung 16 fest (McKee und McKee 1992, S. 148/ 149). Sie sahen dies in sozial-affektiven Aspekten begründet: Zum einen beobachteten sie nur eine geringe Risikobereitschaft bei den Lernern, Fehler zu machen. Dies würde den Lehrern angemessene Korrekturen erschweren, die die Kompetenz der Lerner erweitern würde. Zum anderen meinten die Lehrer, dass die Beobachtung und der Gebrauch von lautsprachbegleitenden Manualsystemen beim Kontakt mit Hörenden und Gehörlosen zur Fossilisierung beitrage. Der Gebrauch von Signed English stellte überhaupt - wie auch von Kyle, Woll und Llewellyn-Jones (1981) und Kyle und Woll (1985) beschrieben - eine besondere Problematik dar: „Students feel short-changed, lacking exposure to ‚real‘ ASL when Deaf signers (including teachers) switch to a more English-like form of ASL in their presence, 16 Fossilisierung ist ein psycholinguistisches Phänomen. Sie bezeichnet Sprachformen, die der Norm der Zielsprache nicht entsprechen, jedoch stabile Elemente der Lernersprache bleiben: Sie erstarren unabhängig von Alter und Input, und bleiben trotz intensiven Unterrichts oder jahrelangen Aufenthalts im Land der Zielsprache erhalten. Soziale und affektive Faktoren spielen dabei vermutlich eine wichtige Rolle. R A O Feel overwhelmed or inferior when with fluent ASL signers. Feel awkward approaching Deaf people just to practice ASL. 9 16 18 16 45 40 Expressive signing skills are better than your comprehension causing problems in conversation with other signers. Comprehension skills are better than your expressive signing, causing problems in conversation with other signers. Deaf people switch to English-like signing when they realize you are hearing. Paying attention in class for long periods of time, relying on your eyes for information - physical/ mental fatigue. 25 27 28 31 39 24 18 34 19 14 15 14 Understanding and following the rules of Deaf culture & Deaf behavior, which are different from hearing norms. Feel uncomfortable about using face and body to communicate. Deaf people are impatient with your level of ASL skill. Making constant eye contact. 32 36 32 29 36 37 29 29 8 7 7 6 Tab. 2: Als schwierig eingeschätzte soziolinguistische Aspekte aus: McKee und McKee 1992, S. 143 28 <?page no="41"?> and teachers in turn feel anxious about their natural tendency towards using this foreigner-talk register with hearing learners.“ (McKee und McKee 1992, S. 154) Bei der Untersuchung von Ansichten über die Unterschiede zwischen gehörlosen und hörenden ASL-Lehrern stellte sich heraus, dass die Lerner der Ansicht waren, dass Unterricht mit einem gehörlosen ASL-Lehrer die bessere Sprachlernerfahrung darstelle: „Students perceive Deaf teachers to be not necessarily easier to learn from, but more trustworthy as models of, and authorities on, the language. The learning experience with a Deaf teacher is regarded as more extending of students’ skills, both receptive and expressive.“ (ebd., S. 150) Diese Einschätzung traf nicht nur auf die sprachlichen Fähigkeiten zu, sondern auch auf kulturelle Aspekte (ebd., S. 151). Die von McKee und McKee erhobenen Faktoren werden von Hofstätter (1998) aufgegriffen. Diese Arbeit bietet in einer zusammenfassenden Systematisierung eine ausführliche Beschreibung von in der Literatur genannten möglichen sprach- und modalitätsspezifischen sowie psychologisch und sozial bedingten Schwierigkeiten beim Lernen von Gebärdensprache (insbesondere ebd., Kapitel 5). Hofstätter beschreibt folgende Variablen: Abb. 1: Systematisierung von Schwierigkeiten beim Lernen einer Gebärdensprache nach: Hofstätter 1998 29 <?page no="42"?> Eine weitere Systematisierung der Variablen zum Erwerb und der Vermittlung von Gebärdensprache als Fremdsprache findet sich in der Dissertation von Fuchs (2004, Kapitel 7.2). In seiner Arbeit untersucht er empirisch das Artikulationsinventar der Finnischen Gebärdensprache (FinSL) sowie phonologische Prozesse. Basierend auf dieser Analyse entwirft er eine phonetische Didaktik für FinSL. Fuchs verwendet - analog zum Begriff „Ausspracheunterricht“ für Lautsprachen - den Terminus „Artikulationsunterricht“ für Gebärdensprachen. Er analysiert verschiedene phonetische Bereiche und bezieht sich auf drei Entwicklungsstufen beim Gebärdensprachlernen: Unterricht, der für Anfänger konzipiert wird, Unterricht für Fortgeschrittene sowie Unterricht für sehr weit Fortgeschrittene. Seine Didaktisierungsvorschläge enthalten detaillierte Angaben über die Vorgehensweise, wobei er unterschiedliche Szenarien entwirft (Unterricht für Anfänger an der Volkshochschule, Unterricht für Fortgeschrittene im Rahmen eines Elternkurses und Unterricht für sehr weit Fortgeschrittene in der Dolmetscherausbildung an einer Fachhochschule). Einen anderen Blickwinkel bzgl. des Lernens von ASL nimmt Jacobs (1996) ein: Sie beschäftigt sich zwar auch mit Faktoren, die das ASL-Lernen beeinflussen, jedoch mit dem Fokus auf der Frage, wie schwer ASL für Lerner mit Englisch als L1 im Vergleich zu anderen Fremd- oder Zweitprachen zu lernen ist. Ihre Einschätzung basiert auf den Unternehmungen des Foreign Service Institute (FSI) und des Defense Language Institute (DLI) der USA, Sprachen, die in den USA als Fremdsprachen gelehrt werden, in Kategorien einordnen - basierend darauf, wie schwer sie für Sprecher mit Englisch als L1 zu lernen sind. Dies wurde einerseits an sprachlichen Merkmalen festgemacht und andererseits daran, wie verbreitet und „traditionsreich“ der zielsprachliche Unterricht in den USA war. Jacobs ist der Ansicht, dass ASL als Truly Foreign Language (TFL) der höchsten Schwierigkeitsstufe angesehen werden müsse. Dies begründet sie detailliert anhand von sprachlichen, kulturellen und „pädagogischen“ Faktoren, die das Lernen von ASL ihrer Ansicht nach beeinflussen. Sie legt Wert auf diese Einstufung von ASL, da sie sich davon eine Verbesserung verschiedener Umstände in den USA erhofft: Sollte ASL einmal als „schwierig zu lernende Sprache“ anerkannt sein, so erhöhten sich die Chancen auf eine Professionalisierung und Institutionalisierung der Gebärdensprachlehre sowie der Kursleiterausbildung. Jacobs sieht dies vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Dolmetscherausbildung in den USA: Es könne eine erhebliche Verbesserung der Qualität von Dolmetschern erzielt werden, wenn einerseits die Sprachlehre verbessert würde; andererseits sollten aufgrund der Einstufung von ASL als TFL die Voraussetzungen für die Zulassung zu Dolmetscherausbildungen angehoben werden: Wenn die angehenden Dolmetscher beim Eintritt in die Ausbildung bereits über gute Sprachkenntnisse verfügten, käme dies auch der späteren Leistung beim Dolmetschen zugute (S. 186-192). 30 <?page no="43"?> Einen vergleichsweise frühen Versuch schließlich, Erkenntnisse aus der Zweitsprachenerwerbsforschung gesprochener Sprachen auf das Lernen einer Gebärdensprache zu übertragen, unternimmt McKee (1986). Er betrachtet neben Lehrerfeedback auch die lernerbezogene Seite des Fremdsprachenerwerbs, indem er die Rolle von Lernerfehlern im Allgemeinen erläutert. Diese Betrachtungen bleiben jedoch theoretischer Natur. Wie er selbst schreibt: „Dulay, Burt, and Krashen (1982) report that the majority of errors made by second language learners are intralingual errors, not interlingual errors as preciously believed. If this is the case for ASL learners, the knowledge of English may not have a major role on the learners’ errors. We do not know if this is true for sign language learners since there is no research in this particular area.“ (McKee 1986, S. 72) Nichtsdestoweniger ermuntert McKee Gebärdensprachlehrer, die Fehler ihrer Schüler zu analysieren. Ein Bereich, der vergleichsweise häufig untersucht wurde, ist das Wortschatzlernen. Verschiedene Studien belegten, dass - im Gegensatz zum kindlichen Erstspracherwerb - beim L2-Lernen von Gebärdensprach-Vokabeln die Ikonizität 17 eine große Rolle spielt. Die Untersuchungen ergaben, dass ikonische Gebärden bzw. vielmehr solche, die als ikonisch eingeschätzt wurden, von Lernern leichter behalten wurden als nicht-ikonische 18 . So zeigte eine viel zitierte Erhebung von Klima und Bellugi (1976, 1979), dass die Bedeutung von 81 von 90 ASL-Nomen von hörenden ASL-Unkundigen nicht identifiziert werden konnte. Nur bei etwa 10 % konnte die Bedeutung korrekt erraten werden. Diese Gebärden bezeichneten Klima und Bellugi als „transparent“. In einem weiteren Experiment stellte sich jedoch heraus, dass für über die Hälfte dieser 90 Gebärden, wenn zusätzlich zur Gebärde eine englische Übersetzung präsentiert wurde, die Beziehung zwischen Form und englischer Übersetzung einer Gebärde korrekt beschrieben werden konnte. Diese Gebärden wurden als „translucent“ bezeichnet. Die restlichen Gebärden, für die die Probanden keine Beziehung zwischen Form und Bedeutung erkennen konnten, nannten Klima und Bellugi „opaque“. Grosso (1993, 1997, zitiert in Boyes-Braem, Pizzuto und Volterra 2002) fand im Gegensatz dazu heraus, dass für hörende italienische Probanden, die die Italienische Gebärdensprache nicht beherrschten, 24 % der Gebärden transparent waren. Boyes Braem, Pizzuto und Volterra (2002) führen dies darauf zurück, dass die Italiener davon profitiert haben könnten, dass sie - im Gegensatz zu den Amerikanern - aus einer „gesture-prominent“ Kultur kom- 17 Zur Rolle von Ikonizität in Gebärdensprachen s. Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“. 18 Vgl. hierzu z.B. Mandel (1977) und Luftig und Lloyd (1981) für hörende Erwachsene ohne ASL-Kenntnisse sowie Beykirch, Holcomb und Harrington (1990) für Lerner von ASL. 31 <?page no="44"?> men (S. 190). Die Autorinnen wiesen in einer eigenen Studie nach, dass die Transparenz von Gebärden auch vom kulturellen Hintergrund der Probanden abhängt: Ähnelt die Gebärde der Geste einer (Laut-) Sprachgemeinschaft, so ist ihre Bedeutung für ein gebärdensprachunkundiges Mitglied dieser Gemeinschaft transparenter als für eine Person, der die Geste unbekannt ist. Sie belegten außerdem, dass Gehörlose besser im Erraten von Gebärdenbedeutungen einer für sie fremden Gebärdensprache sind als Personen, die keine Gebärdensprache beherrschen. Dye, Woll und Baker (2000) weisen ebenfalls auf die Rolle des kulturellen Hintergrunds von Probanden bei der Untersuchung von Gebärden-Transparenz hin; jedoch zielen sie nicht auf den in einer Kultur verankerten Gebrauch von Gesten ab, sondern vielmehr auf das allgemeine Weltwissen, das einer Kulturgemeinschaft eigen ist. Exemplarisch führen sie die britische Gebärde für ‚Fischer’ an [die Gebärde imitiert das Halten einer Angelrute, C.M.]: Diese sei vermutlich nur für eine Person transparent, die mit dieser Art des Fischens vertraut sei, nicht aber für jemanden, der Fische ausschließlich mit Netzen oder Speeren fange. Als zweiten Aspekt, den es bei der Betrachtung von Ikonizität neben dem kulturellen Hintergrund zu beachten gelte, nennen sie die Phonologie einer Gebärdensprache, von der die letztliche Ausprägung eines ikonischen Gehalts in einer Gebärde abhänge: „However we choose to interpret the term, there are at least two important things to keep in mind. Firstly, the rules of well-formedness within a sign language are more important than the iconic value of signs. Secondly, the iconicity of a sign is an attribution made by the observer. Such attributions are influenced by the experiences of the observer, which are determined by many factors, including age and culture.“ (Dye, Woll und Baker 2000) Ähnlichkeiten zwischen der Form einer Gebärde und ihrem Inhalt sind also nicht objektiv gegeben, sondern werden von den Zeichenbenutzern konstruiert (vgl. auch Becker 2003, S. 26). Lieberth und Gamble, die ebenfalls feststellten, dass ikonische Gebärden von Lernern leichter behalten wurden als nicht-ikonische, zogen aus dieser Erkenntnis Konsequenzen für den Unterricht. Sie schlugen vor, den Wortschatz zu Beginn eines Gebärdensprachkurses daraufhin auszuwählen, welche Gebärden aufgrund ihrer Transparenz für die Lerner voraussichtlich leicht zu lernen sind: „First, an initial functional receptive vocabulary that meets the needs of the client should be determined. Then, from this list, signs that are transparent and translucent to the client should be identified. This procedure gives the instructor and the client a core vocabulary of signs that are either immediately recognized, or recognized and retained after they are paired with their spoken and written word equivalents.“ (Lieberth und Gamble 1991, S. 97) Durch eine derartige Auswahl des Grundvokabulars könne zum einen eine stabile erste Kommunikationsgrundlage geschaffen werden. Zum anderen könne dieser „sichere“ Basiswortschatz als Bezugsgröße für das Ler- 32 <?page no="45"?> nen weiterer Gebärden dienen, die den „Basisgebärden“ in Form oder Bedeutung ähnelten, und so den Lernprozess erleichtern. Außerdem werde so Frustration auf Seiten der Lerner vermieden, die durch das Vergessen von Vokabeln entstehen könnte. Dies wiederum steigere die Motivation der Lerner. M.E. sollte der ikonische Anteil in lexikalischen Gebärden nicht überbetont werden. Neurologische Studien deuten darauf hin, dass die Ikonizität für Muttersprachler bei der Verarbeitung von DGS keine Rolle spielt (s. Kapitel 4.6 „Die Rolle von Ikonizität bei der Verarbeitung von Gebärden“). Auch wenn (volks-) etymologische Erklärungen das Behalten von Gebärden für Lerner erleichtern, weil eine Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und außersprachlichem Referenten hergestellt werden kann, so wird mit einer einseitigen Auswahl ikonischer Gebärden gerade zu Beginn des Lernprozesses das Bild von den lexikalischen Einheiten der Zielsprache verzerrt. Außerdem könnte es zu negativen Erlebnissen auf Seiten der Lerner kommen: Sind sie nach einer gewissen Zeit gewohnt, sich Vokabeln aufgrund deren ikonischen Motivierung sehr leicht merken zu können, so könnte sich eine gewisse Frustration einstellen, wenn dieser Effekt bei nicht ikonischen Gebärden ausbleibt. Die Rolle der Ikonizität beim Gebärdenlernen spielt auch für die vorliegende Arbeit eine große Rolle und wird in den Kapiteln 11.3 und 14.2 wieder aufgegriffen. Die Sichtung von Arbeiten, die sich mit dem Erlernen einer Gebärdensprache beschäftigen, zeigt, dass kognitive Faktoren in der Betrachtung des Lernprozesses bisher so gut wie nicht berücksichtigt wurden. Um aber auch im Bereich des Gebärdensprachlernens die Lerner zu einem autonomen Lernen zu befähigen, ist es unerlässlich, Erkenntnisse bzgl. kognitiver Aspekte zu gewinnen. 33 <?page no="47"?> 4 Neurologische Erklärungen für Schwierigkeiten beim Gebärdensprachlernen 4.1 Zur Rolle neurologischer Erkenntnisse beim Lernen von Sprache Die Neurolinguistik hat vor allem in den letzten 20 Jahren durch neue und verbesserte Verfahren fundamentale Erkenntnisse sowohl auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle als auch bzgl. der Funktion größerer Hirnareale erzielt. Dies geschah, indem man sprachliche und nichtsprachliche Leistungen nach Hirnschädigungen überprüfte und eine Beziehung zwischen Leistungsausfällen und der Lokalisation der ursächlichen Läsion herstellte. Andererseits wurden aber auch Experimente mit gesunden Menschen durchgeführt, und durch bildgebende Verfahren wie die Positronen- Emissionstomografie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) sowie durch die Messung neuraler Aktivität als einer Funktion von elektrischen Fluktuationen im Elektroenzephalogram (EEG) konnten neue Einblicke gewonnen werden. Im Laufe der Erforschung der zerebralen Verarbeitung von Gebärdensprachen lässt sich beobachten, dass die Beteiligung der beiden Hemisphären sehr unterschiedlich eingeschätzt wurde - und auch heute noch eingeschätzt wird: Frühe Annahmen gingen davon aus, dass die visuell-räumlich-(groß-)motorisch funktionierenden Gebärdensprachen aufgrund dieser Merkmale rechtshemisphärisch verarbeitet würden. Im Laufe der Zeit zeigten einige Studien, dass bei der zerebralen Verarbeitung von Gebärdensprachen auch die Hirnregionen beteiligt sind, deren Aktivität bereits für Lautsprachen nachgewiesen wurde (z.B. Neville et al. 1998; Klann et al. 2001a; McCullough und Emmorey 2004) 1 . Eine zentrale Rolle spielen dabei das Broca Areal 2 , das motorische Sprachzentrum, und das Wernicke Areal, das sensorische Sprachzentrum. Die Ergebnisse einiger anderer Studien legen 1 Dieses Resultat widerspricht der Hypothese, dass sich die Linkslateralisierung für die Verarbeitung von Sprache aufgrund des auditiven Inputs herausgebildet hat. Die linke Hemisphäre scheint vielmehr unabhängig von der Sprachmodalität eine genetische Disposition zur Sprachverarbeitung zu haben. 2 Während viele Studien eine Beteiligung des Broca Areals bei der Gebärdensprachverarbeitung nachweisen, konnte diese Aktivierung in einer Studie zur Verarbeitung von Ikonizität lexikalischer Gebärden in DGS von Klann et al. (2004) unerwarteterweise nicht bestätigt werden. 35 <?page no="48"?> mittlerweile darüber hinaus nahe, dass es auch eine beträchtlichere Beteiligung der rechten Hemisphäre bei der Verarbeitung von Gebärdensprachen als bei der von Lautsprachen gibt (Newman et al. 2002, Bavelier et al. 1998). MacSweeney et al. dagegen verglichen Gebärdensprache nicht mit geschriebener, sondern mit audio-visueller Lautsprache, und konnten keine stärkere Beteiligung der rechten Hemisphäre nachweisen. Sie fanden jedoch sowohl modalitätsabhängige als auch modalitätsunabhängige Sprachlokalisierungsmuster: „In relation to modality-independent patterns, regions activated by both BSL in deaf signers and by spoken English in hearing non-signers included inferior prefrontal regions bilaterally (including Broca’s area) and superior temporal regions bilaterally (including Wernicke’s area). Lateralization patterns were similar for the two languages. There was no evidence of enhanced right-hemisphere recruitment for BSL processing in comparison with audio-visual English. In relation to modality-specific patterns, audio-visual speech in hearing subjects generated greater activation in the primary and secondary auditory cortices than BSL in deaf signers, whereas BSL generated enhanced activation in the posterior occipito-temporal regions (V5), reflecting the greater movement component of BSL.“ (MacSweeney et al. 2002, S. 1583) Dennoch klafft nach wie vor eine große Erkenntnislücke zwischen dem Wissen über diese Organisationsebenen des Gehirns auf der einen und den tatsächlichen Funktionen sowie höheren Ebenen der Bedeutung und des Bewusstseins auf der anderen Seite. Denn durch die Verfahren, mit denen die Hirnaktivität untersucht wird, können keine direkten Einblicke in Funktionen des Gehirns gewonnen werden. Die Messungen aus bildgebenden Verfahren sowie aus EEGs lassen lediglich vermehrte Blutzufuhr bzw. elektrische Aktivität erkennen. Diese Aktivität zeigt also die Areale, die bei einer bestimmten Tätigkeit von Probanden aktiv werden. Daraus können jedoch nur indirekt Schlüsse auf Funktionen dieser Areale und auf die Verarbeitung von Input gezogen werden 3 . Auch wenn es mittlerweile Erkenntnisse hinsichtlich der zerebralen Verarbeitung und Speicherung von Input gibt, so beziehen sich diese Einsichten jedoch allenfalls auf eben die Verarbeitung von Informationen. Wie diese Informationen aber letztlich zu Bedeutungen und zu Wissen werden, wie wirkliches Lernen stattfindet, liegt bis- 3 S. hierzu auch einen kritischen Artikel von Poldrack (2006), der davor warnt, vorschnell Schlüsse bzgl. kognitiver Prozesse aus der Aktivierung einer bestimmten Gehirnregion zu ziehen. 36 <?page no="49"?> her noch im Dunkeln 4 . Nach dem aktuellen Stand der Forschung sind es einerseits Strukturen im limbischen System, andererseits die Wirkung von bestimmten Neurotransmittern, die zu einer Einspeicherung im Langzeitgedächtnis führen, und die für die Steuerung von Motivation und Aufmerksamkeit verantwortlich sind. Einzelheiten dieser Prozesse sind noch unbekannt; die Aufdeckung dieser Zusammenhänge von Beziehungen zwischen kognitiven Prozessen und Gehirnfunktionen werden jedoch für möglich gehalten (Scheich 2004, S. 39, Prinz 2004, S. 35). Auch der Zusammenhang von zerebralen Vorgängen und Bewusstsein ist zur Zeit noch unklar. Zum Verständnis solcher Beziehungen hält Prinz eine übergeordnete Theorie für erforderlich, „die die objektive Sprache, in der wir über Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene zueinander in Beziehung setzt und im Rahmen eines einheitlichen Systems den objektiven und den subjektiven Sachverhalten ihren Platz zuweist. […] Denn ebenso wenig wie sich Gehirnfunktionen auf Physik und Chemie reduzieren lassen, lassen sich soziale und kulturelle Phänomene auf Hirnphysiologie zurückführen“ (Prinz 2004, S. 35). Dennoch lassen sich bereits jetzt aus der Hirnforschung - v.a. durch die Zusammenschau vieler Studien - interessante Einsichten gewinnen. Dies betrifft neben anderen Bereichen auch die Verarbeitung von Sprache. So ergeben sich bspw. Hinweise auf die Ursachen von Fehlern bei der (mutter- 4 Vgl. hierzu bspw. Scheich, der feststellt, dass selbst Konditionierung „kein simples Reiz-Reaktions-Schema dar[stellt], wie Forscher früher annahmen. Schon Mäuse entwickeln ein umfassendes Verständnis davon, was es heißt, wenn ein Signal die Futterausgabe oder eine Gefahr ankündigt: Bleiben ihnen die erlernten Fluchtmöglichkeiten versperrt, finden sie schnell Alternativen, um sich auf das Signal hin in Sicherheit zu bringen. Die Tiere haben nicht nur gelernt, schematisch zu reagieren, sondern erkennen die allgemeine, höhere Bedeutung. Solche Zusammenhänge zu erkennen, bedarf es anderer Prinzipien: zielorientierte Konzepte und - beim Menschen - darüber hinaus die sprachliche Verständigung“ (Scheich 2004, S. 38). 37 <?page no="50"?> sprachlichen) Sprachrezeption oder -produktion 5 . Bzgl. des L2-Lernens von Gebärdensprachen gibt es bisher nur ausgesprochen wenig Untersuchungen. Studien wurden bisher fast ausschließlich mit Muttersprachlern durchgeführt sowie mit gehörlosen Menschen, die eine (Gebärden-) Sprache erst sehr spät als L1 erlernt haben. Dennoch bieten einige Ergebnisse bzgl. der muttersprachlichen Verarbeitung auch Hinweise auf mögliche Ursachen für Lernschwierigkeiten beim L2-Lernen - gerade wenn es um das Lernen einer Sprache geht, die eine andere Sprachmodalität hat als die Muttersprache der Lerner. 4.2 Erkenntnisse bzgl. einer „sensiblen Phase“ beim Gebärdenspracherwerb Hinweise auf eine „sensible Phase“ für das Gebärdensprachlernen ergaben fast ausschließlich Untersuchungen mit gehörlosen Späterwerbern, die eine L1 erst nach dem Kleinkindalter erworben haben (vgl. zusammenfassend Newport, Bavelier und Neville 2001). Diese Studien entstanden in erster Linie vor dem Hintergrund, dass nachgewiesen werden sollte (und wurde), dass es wichtig ist, Kinder so früh wie möglich an Sprache heranzuführen. „Zahlreiche Studien weisen nach, dass Gehörlose, die in den ersten Lebensjahren eine Gebärdensprache erlernt haben, bei einer Vielfalt von Aufgaben deutlich bessere Ergebnisse erzielen als Gehörlose, die erst im Schulalter oder noch später eine Gebärdensprache erlernt haben. Dies trifft zum Beispiel auf die Produktion und das Verstehen der Verbmorphologie zu (Newport 1990), auf die Satzwiederholung (Mayberry 1993), auf Grammatikalitätsurteile (Boudreault und Mayberry 2000) sowie auf mehrere Sprachverarbeitungsaufgaben […].“ (Morford 2004, S. 85) 5 Zu Studien für ASL vgl. hierzu bspw. Emmorey (2002), die das „binding problem“ behandelt; demzufolge kann eine mögliche Fehlerquelle bei der Rezeption von Gebärdensprache in der rein visuellen Wahrnehmung liegen: Beim Sehen müssen Informationen über Objekt-Bewegung, Objekt-Form (-Aussehen) und Objekt-Lokation integriert werden. Gelingt die reibungslose Integration nicht, so kann die Identifizierung bzw. Verarbeitung des Inputs misslingen (Emmorey 2002, S. 118); für potenzielle Fehlerquellen bei der Gebärdenerkennung vgl. außerdem Emmorey und Corina (1990b). Ihre Studien ergaben, dass bei der Gebärdenerkennung zunächst die lexikalische Auswahl durch die phonologischen Parameter Handform und Ausführungsstelle eingeschränkt wird. Danach führt die Identifizierung der phonologischen Bewegung zur Identifizierung der Gebärde. In diesen Schritten liegt ebenfalls eine mögliche Fehlerquelle bei der Rezeption von Gebärden: Wird bereits eine Handform oder Ausführungsstelle nicht richtig identifiziert, wird die falsche lexikalische Kohorte aktiviert. Demzufolge wird die Auswahl, aus der letztendlich das betreffende Lexem ausgewählt werden soll, falsch getroffen. Dasselbe kann auch im zweiten Identifizierungsschritt geschehen: Wird die Bewegung der Gebärde falsch wahrgenommen, wird die falsche Gebärde aktiviert. 38 <?page no="51"?> Da Lautsprachen gehörlosen Menschen auf natürliche Weise nicht zugänglich sind, muss eine Gebärdensprache so früh wie möglich eingesetzt werden. Ein Unterschied zwischen der Sprachverarbeitung von Muttersprachlern und dem hörender L2-Lerner, der auf eine sensible Phase im Gebärdenspracherwerb hindeutet, zeigte sich in Untersuchungen von Newman et al. (2002) und von Neville et al. (1997, 1998). Sie stellten fest, dass bei der muttersprachlichen zerebralen Verarbeitung von ASL bestimmte Bereiche der rechtshemisphärischen Regionen aktiv sind. Diese Bereiche wurden in den Studien nur von den (gehörlosen und hörenden) Muttersprachlern aktiviert, von den L2-Lernern nicht bzw. in sehr viel geringerem Maße. Der Gebrauch von ASL erfordert also möglicherweise die Aktivität von rechtshemisphärischen Regionen, die auf die Verarbeitung von bedeutungstragendem visuell-räumlichem Material spezialisiert sind. Die Plastizität dieser Regionen kann sich aber mit dem Heranwachsen ändern, was in einer „kritischen“ oder „sensiblen“ Phase bei der Sprachentwicklung resultieren könnte. Nur wenn ASL früh im Leben gelernt wird, können also anscheinend diese Regionen für die Verarbeitung von ASL in Anspruch genommen und entwikkelt werden. Die exakte Rolle der rechten Hemisphäre bei der ASL-Verarbeitung ist noch unbekannt. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass die phonologischen 6 (Johnson und Newport 1989, Weber-Fox und Neville 1996) und syntaktischen Fähigkeiten (Flege et al. 1999, Oyama 1976) bei spätem Erwerbsalter am meisten beeinträchtigt sind, liegt es nahe, dass die rechtshemisphärischen Regionen, deren Aktivität vom Erwerbsalter beeinflusst ist, bei einer oder bei beiden dieser sprachlichen Bereiche bei der ASL-Verarbeitung beteiligt sind. Ein gravierender Unterschied, der sich hinsichtlich neuronaler Aktivität bei Gehörlosen zeigt, ist die Beteiligung der Hörrinde bei der Verarbeitung visueller sprachlicher Signale. Dies zeigten Studien von Klann et al. (2001b) sowie von MacSweeney et al. (2002): Letztere untersuchten gehörlose und hörende Personen, deren Muttersprache Britische Gebärdensprache (BSL) war. Ziel war es, den Einfluss des Hörstatus bei der Verarbeitung von Gebärdensprache zu erkunden. Die Studie ergab, dass die Region, die bei Hörenden zum auditiven Wahrnehmen von Sprache zuständig ist, und die bei Gehörlosen aufgrund des Hörschadens kein Input erreicht, für die visuelle Verarbeitung umfunktioniert wird. Dieser auf der Hörschädigung beruhende zerebrale Verarbeitungsunterschied dürfte jedoch keine prinzipiellen Auswirkungen auf den Lernprozess haben, da die hörenden Probanden 6 Auch in der Gebärdensprachlinguistik spricht man von den Phonemen einer Gebärdensprache, obwohl es sich nicht um lautliche Einheiten handelt. Der Begriff hat sich i.S.v. kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache etabliert; dabei ist es irrelevant, in welcher Modalität diese Einheiten vorliegen. 39 <?page no="52"?> ebenfalls Muttersprachler von BSL waren und sie die Sprache genauso beherrschten, wie die Gehörlosen. Jedoch bleibt noch offen, welche Aktivitäten im neu rekrutierten Areal bei Gehörlosen ablaufen, und wie diese bei hörenden Muttersprachlern organisiert sind. 4.3 „Sprachperformanz = Sprachkompetenz + Sprachverarbeitung“ Morford stellt die Hypothese auf, dass der Grund für Performanzfehler nicht per se darin zu suchen ist, dass eine geringe Kompetenz vorliegt, sondern vielmehr weil es Probleme bei der Sprachverarbeitung gibt („Sprachperformanz = Sprachkompetenz + Sprachverarbeitung“; Morford 2004). Von ihr durchgeführte Untersuchungen wiesen darauf hin, dass „Späterwerber […] eine Gebärdensprache besser [beherrschen] als gedacht. Sie können diese Sprachkompetenz allerdings nur unter idealen Bedingungen zeigen. Anders gesagt, Sprachverarbeitungsprozesse werden vom Alter ebenso sehr, wenn nicht sogar noch mehr als der Spracherwerb beeinflusst“ (Morford 2004, S. 87). Morford untersuchte daraufhin zwei Teilprozesse des Sprachverstehens, die Sprachwahrnehmung und den lexikalischen Zugriff, bei gehörlosen Muttersprachlern und Späterwerbern von ASL sowie bei einer Kontrollgruppe, die aus hörenden L2-Lernern bestand. Ihre Untersuchungen ergaben, dass es bei der Erkennung von Phonemen nur minimale Unterschiede zwischen Muttersprachlern und Späterwerbern gab. Die L2- Lerner jedoch waren bei der Erkennung wesentlich langsamer als die Mitglieder der beiden anderen Gruppen. Das zweite Experiment, bei dem der lexikalische Zugriff getestet wurde, ergab allerdings, dass hier die Muttersprachler den anderen beiden Probandengruppen überlegen waren: Sie konnten die Gebärden schneller identifizieren als die Späterwerber und die L2-Lerner. Morford folgert: „Die Studie legt die Vermutung nahe, dass eine Ursache, warum Späterwerber Gebärdensprache langsamer verarbeiten, im lexikalischen Zugriff zu suchen ist. Späterwerber erkennen Wörter später, was alle Folgeprozesse mitbetrifft (vgl. Mayberry 1993). Satzinterpretation und Diskursanalyse können erst nach dem lexikalischen Zugriff bearbeitet werden, d.h. erst dann, wenn Gebärdende die Gebärden begriffen haben. Umgekehrt steht weniger Zeit für die Sprachproduktion zur Verfügung, um sich mit der grammatikalischen Zusammensetzung von Gebärden zu beschäftigen, wenn der lexikalische Zugriff zeitaufwendiger ist, d.h. wenn man länger mit der Suche nach den richtigen Gebärden zu tun hat.“ (Morford 2004, S. 88) Dieses Problem trifft auch auf die L2-Lerner zu. Darüber hinaus haben sie jedoch anscheinend noch Schwierigkeiten, die im Prozess vor dem lexikalischen Zugriff liegen: in der Wahrnehmung von Phonemen. Dieser Befund bestärkt die für den Erwerb von Lautsprachen entwickelte Hypothese, 40 <?page no="53"?> dass durch den L1-Erwerb die Sensibilisierung für ein bestimmtes Phoneminventar geprägt wird, und dass diesem Inventar fremde Einheiten später nicht leicht zu identifizieren sind. Wie Spitzer es ausdrückt: „Was nicht gehört bzw. nicht unterschieden wird, wird nicht kodiert und ist damit auch nicht verfügbar.“ (Spitzer 1996, S. 232) 7 Bzgl. des L2-Lernens von Gebärdensprachen könnte man argumentieren, dass dies - übertragen auf das Sehen - möglicherweise nicht zutrifft: Geht man davon aus, dass bei Hörenden mit dem L1-Erwerb lediglich Karten im auditiven Kortex belegt sind, nicht jedoch im visuellen Kortex (diesen könnte man als den äquivalenten Ort vermuten, wo visuelle Phoneme angesiedelt sein könnten), dann wären beim L2-Lernen einer visuellen Sprache noch keine Karten angelegt, wodurch sich ein bestimmtes Phoneminventar hätte etablieren können. Wie beschrieben wurde jedoch nachgewiesen, dass Gebärdensprachen in großen Teilen wie Lautsprachen verarbeitet zu werden scheinen. Dies ließe darauf schließen, dass, sobald durch den Erwerb irgendeiner Sprache - gleich welcher Modalität - ein Phoneminventar „aktiviert“ oder festgelegt ist, andere Phoneme schwieriger zu identifizieren (und damit auch zu produzieren) sind. Vor allem eine Untersuchung von bilingualen Hörenden, die eine Gebärdensprache und eine Lautsprache als Muttersprachen haben, scheint hierbei Aufschluss geben zu können. Sollten sich bei ihnen Lautkarten im auditiven Kortex und „Visemkarten“ im visuellen Kortex nachweisen lassen, so spräche dies für eine modalitätsabhängige Verarbeitung des Phoneminventars einer Sprache. 4.4 Probleme der Verarbeitung simultaner visueller Signale bei der Sprachrezeption Hintergrund für die von Morford beschriebenen Schwierigkeiten von L2-Lernern bei der Wahrnehmung von Phonemen könnte vielleicht ein Problem sein, über das immer wieder berichtet wird: Lerner schaffen es vor allem zu Beginn ihres Lernprozesses nicht, in gebärdensprachlicher Kommunikation die vielen simultan eingehenden visuellen Informationen zu erfas- 7 Spitzer bezieht seine Aussage auf die Schwierigkeit von Fremdsprachenlernern, zielsprachliche Phoneme, die nicht in ihrer Muttersprache vorkommen, zu identifizieren. In Experimenten wurde nachgewiesen, dass Säuglinge bereits im Alter von sechs Monaten unterschiedliche Reaktionen auf die Laute ihrer Muttersprache im Vergleich zu Lauten, die nicht in ihrer Muttersprache vorkommen, zeigen (Dehaene-Lambertz und Dehaene 1994). „Offensichtlich werden durch die erfahrenen lautlichen Inputmuster bereits Lautkarten [im auditiven Kortex, C.M.] angelegt, auf denen nur das repräsentiert wird, was tatsächlich gehört wurde. Ist die Karte erst einmal angelegt, wird es immer schwieriger, sie zu ändern“ (Spitzer 1996, S. 233). Diese Unfähigkeit, Phoneme zu erkennen, kann sowohl bei der Sprachrezeption als auch bei der Artikulation zu Fehlern führen. 41 <?page no="54"?> sen. Vielmehr konzentrieren sie sich meist stark auf die Hände, einige alternativ auch auf den Mund des Sprechers. Dieses Problem kann möglicherweise durch die Betrachtung der Verarbeitung von Signalen im visuellen Kortex erklärt werden. Im Kortex ist „die Körperoberfläche nicht proportional zur Fläche, sondern zur Bedeutung repräsentiert. […] Lippen und Hände liefern dem Menschen weitaus wichtigere Tastempfindungen als bspw. der Rücken. Entsprechend ist dem Rücken nur wenig Kortexfläche zugeordnet, wohingegen den Lippen und Händen ein recht großen Stück Kortex zur Verfügung steht. Damit können die Signale von Lippen und Händen sehr viel feiner analysiert werden, was für das Überleben äußerst sinnvoll ist“ (Spitzer 1996, S. 116). Die Organe bzw. Körperteile, die besonders wichtige Informationen liefern, nehmen also ein großes sensorisches Feld ein, d.h. sie sind im Kortex durch besonders viele Neuronen vertreten. Was den Sehsinn - der für die Rezeption von Gebärdensprachen fundamentale Sinn - angeht, so zeichnet sich dieser dadurch aus, dass es einen Bereich der schärfsten Wahrnehmung gibt: Das, was im Fokus der Betrachtung liegt, wird besonders gut wahrgenommen. Neurobiologisch betrachtet heißt das, dass es auf der Retina eine relativ kleine Zone gibt, die Fovea, auf die die Lichtsignale fixierter Objekt fallen. Und es sind die neurologischen Signale der Fovea, die vom größten Teil des für das Sehen zuständigen Kortex bearbeitet werden. Eben daher rührt die Schärfe des fokussierten Objekts: Die Aktivität sehr vieler Neuronen ermöglicht eine ungemein feine Abb. 2: Motorischer (links) und sensorischer (rechts) Homunculus aus: Posner und Raichle 1996 42 <?page no="55"?> Analyse der Signale. Solche Dinge dagegen, „die wir in der Peripherie wahrnehmen, werden von uns nur sehr ungenau gesehen, weil nur vergleichsweise wenige Neuronen zur Analyse der Signale zur Verfügung stehen“ (Spitzer 1996, S. 119). In Gebärdensprachen laufen viele Informationen zeitgleich auf einer relativ großen Projektionsfläche ab: Sowohl Hände als auch Kopf, Arme und Oberkörper steuern sprachliche Informationen bei. Zur Rezeption von gebärdensprachlichen Äußerungen reicht es also niemals aus, eine ganz bestimmte Stelle, etwa die Hände, zu fixieren und den Rest auszublenden. Für das Verständnis ist es erforderlich, vom Ausdruck der gesamten oberen Körperhälfte des Gesprächspartners möglichst viel möglichst genau wahrzunehmen. Dies fällt Gebärdensprachlernern häufig schwer: Sie sind zunächst nur in der Lage, einen vergleichsweise begrenzten Ausschnitt des sprachlichen Inputs aufzunehmen 8 . In einer Studie zur Verarbeitung visueller Signale von gehörlosen Menschen von Neville (Neville 2003, Bavelier et al. 2000) ergaben sich Hinweise darauf, dass einige Aspekte der visuellen Verarbeitung wie z.B. die Verarbeitung von Farb- und Forminformation bei Gehörlosen nicht sehr verändert sind. Die Wahrnehmung von Bewegung jedoch, insbesondere die Wahrnehmung von Bewegung in der äußersten visuellen Peripherie, ist bei Gehörlosen in der Tat stärker ausgeprägt: Die Präsentation von Stimuli in der Peripherie verursacht eine viel stärkere Hirnaktivität als bei Hörenden. „The effective connectivity between MT/ MST and the posterior parietal cortex was stronger in deaf than in hearing individuals during peripheral but not cen- 8 Diese Erfahrung wird auch in den Daten der vorliegenden Arbeit bestätigt. Eine Informantin vermutet bspw., dass ihre Konzentration auf das Wortbild und die damit einhergehende Vernachlässigung der Handzeichen eine Fehlerquelle bei der Abspeicherung von Vokabeln sei: „Ich habe mich da zeitweise ganz stark dran geklammert, ans Mundbild. Das ist mir gar nicht so bewusst aufgefallen, aber bei mir war es halt eher der umgekehrte Fall, als ich dann plötzlich so Aha-Erlebnisse hatte, als mein Sichtfeld sich mit - das hört sich jetzt beknackt an - aber mit auf die Hände erweiterte, ja? Natürlich habe ich die registriert und habe auch die Gebärden wahrgenommen, aber ich habe schon ziemlich stark mich (zeigt auf die untere Gesichtshälfte) in diesem Bereich aufgehalten. Und… das hat bestimmt auch mit dazu beigetragen, dass ich mir eben dann zum Beispiel Vokabeln nicht so gut - das fällt mir jetzt erst auf, so, aber - Vokabeln nicht so gut gemerkt habe. Wenn ich mir die nicht so genau angucke, dann… ist das natürlich problematisch! “ (Informantin M3, Interviewaussagen-ID 93). Es erscheint in der Tat plausibel, dass die Tatsache, dass der Form des Handzeichens wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, zu einer fehlerhaften oder ausbleibenden Speicherung führt - oder zu Fehlern bei der Erkennung von Gebärden (vgl. Morford 2004). Diese Problematik der unvollständigen Wahrnehmung des sprachlichen Inputs beschreiben selbst relativ fortgeschrittene und kompetente Lerner (Interviewaussagen-ID 92, 93); ebenso schildern sie jedoch auch, dass sie im Laufe der Zeit lernen, ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf einen kleinen Bereich zu fokussieren, sondern einen möglichst ganzheitlichen visuellen Eindruck der produzierten Gebärdensprache wahrzunehmen. 43 <?page no="56"?> tral attention. Thus, enhanced peripheral attention to moving stimuli in the deaf may be mediated by alterations of the connectivity between MT/ MST and the parietal cortex, one of the primary centers for spatial representation and attention.“ (Bavelier et al. 2000) Neville bietet zwei mögliche Erklärungen hierfür an: „It could be that the neural systems that mediate processing of the periphery and motion are more plastic, perhaps because of greater redundant connectivity early on, which enables experience to shape them more by pruning. Or it could be because these regions have special chemicals, more special chemical substances that are important for plasticity.“ (Neville 2003) Diese Veränderungen in der Zuständigkeit von Hirnarealen sind vermutlich als Konsequenz der veränderten perzeptiven Bedürfnisse Gehörlose anzusehen: „For example, hearing people rely on audition to detect potentially important events coming toward us from the periphery. But deaf people must rely on peripheral vision, so there's probably greater attention to and greater use of peripheral visual information by deaf subjects, and this may interact with other factors that are important in plasticity.“ (ebd.) Diese verbesserte Wahrnehmung von visuellen Reizen in der Peripherie des Blickfeldes kann sich m.E. nicht nur auf die Perzeption nicht-sprachlicher Signale, sondern ebenso auf die Nutzung von Gebärdensprache zurückführen lassen: Auch dort werden gewohnheitsmäßig Informationen aufgenommen, die außerhalb des Sicht-Fokus liegen. Eben diese vermehrte Übungspraxis könnte - auf der Grundlage der Fähigkeit des Gehirns zu „lernen“ - dazu führen, dass solche „außerordentlichen“ Fähigkeiten entstehen. In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die im Gehirn für die sensorische Wahrnehmung zuständigen Regionen prinzipiell fähig sind, sich ab- oder zunehmendem Input anzupassen und sich zu reorganisieren (Neville et al. 1998, S. 922). So zeigen z.B. Hörexperimente mit Affen, dass sich „mit dem Training […] die kortikale Repräsentation gehörter Frequenzen in der Weise [verändert], daß die zur Durchführung der Aufgabe wichtigen Frequenzen auf einem größeren Areal repräsentiert werden. Dadurch wird eine höhere Auflösung der Inputsignale erreicht, und die Unterscheidung auch nur geringgradig verschiedener Inputmuster kann besser durchgeführt werden“ (Spitzer 1996, S. 153). Dies gilt auch für den Tastsinn. So wurde bei blinden Menschen, die die Braille-Schrift erlernten, nachgewiesen, dass nach dem Lernprozess ein größerer kortikaler Bereich für die Fingerspitzen zuständig ist. Durch Training ist es also möglich, die kortikale Analyse zu verfeinern: Da mehr Neuronen für die Analyse zuständig sind, kann eine bessere Diskriminierung des Inputs erfolgen. Aus einer solchen Trainierbarkeit lässt sich eine Begründung für die Entwicklung von geeigneten Traningsmaßnahmen für das L2-Lernen ableiten, die zu einer genaueren Auswertung von Informationen aus der Peripherie des Blickfel- 44 <?page no="57"?> des und zu einer besseren Wahrnehmung von simultanem visuellem Input führen können 9 . Es wäre zu untersuchen, wie sich dieser Lernprozess in der Physiologie des Gehirns niederschlägt, ob sich also bspw. die entsprechenden Areale des visuellen Kortex von L2-Lernern einer Gebärdensprache dahingehend verändern, dass ein größeres kortikales Areal für die Wahrnehmung von visuellem Input zuständig ist als bei Nicht-Gebärdensprachbenutzern. Ferner ist es denkbar, dass sich Veränderungen nicht im visuellen Kortex zeigen, sondern vielleicht in dem Bereich des Gehirns, der für das allgemeine Problemlösen zuständig ist. Dies würde dafür sprechen, dass es bei diesem Lernprozess weniger um die Perzeption visueller Signale als solcher geht, sondern vielmehr um die Koordination simultan eingehender Signale. 9 Vertreter des perzeptiven Lernens sprechen sich hinsichtlich des Lernens von gesprochenen Sprachen für ein ausgeprägtes Hörverstehens-Training aus. Unter perzeptivem oder perzeptuellem Lernen wird die Verbesserung von Wahrnehmungsleistungen durch kontrollierte Übung verstanden. „Da das verstehende Hören eminent wichtig für den Spracherwerb ist, muss es auch im Fremdsprachenunterricht eine zeitlich umfangreiche Rolle einnehmen. […] Neue Funktionen, Wörter und Strukturen sollten immer erst ausgiebig perzeptiv präsentiert und benutzt werden, bevor sie produktiv verwendet werden“ (Tschirner 2000). Es wird argumentiert, dass, im Gegensatz zum Erstsprachenerwerb, in dem sprachliche Formen, Bedeutungen und Verknüpfungen zwischen diesen erst erworben werben, beim L2-Lernen ein Großteil möglicher Konzepte bereits über die L1 erworben wurde. D.h. „die Aufgabe fremdsprachlicher Lerner ist es vor allem, neue Formen, d.h. Lautfolgen, Morphemfolgen und Wortfolgen, und neue Verknüpfungen zwischen diesen Formen und bereits vorhandenen Konzepten herzustellen. Je klarer und deutlicher die neuen Formen im Fremdsprachenunterricht wahrgenommen werden können und je klarer und deutlicher Verknüpfungen zwischen diesen Formen und bekannten Bedeutungen gemacht werden können, desto schneller schreitet dieser grundlegende perzeptive Spracherwerb voran“ (ebd.). Natürlich müssen Wörter und Äußerungen darüber hinaus auch produktiv geübt werden, da die perzeptiv erworbenen Formen auditiver Art sind. Sie müssen in artikulatorische Formen übertragen werden, bevor sie produktiv verwendet werden können, was in entsprechenden Übungen trainiert werden muss. - Die mathematischen Modelle, meist neuronale Netzwerke, die versuchen, diese Lernphänomene zu beschreiben, sind umstritten; vgl. hierzu Herzog und Fahle (1998): „Die Ergebnisse unserer Versuche zeigen deutlich, daß die existierenden mathematischen Modelle des Lernens nicht in der Lage sind, perzeptuelles Lernen zu beschreiben. Die fehlende Übereinstimmung von Theorie und Experimenten ist in der Architektur der Modelle selbst begründet. Das Hauptproblem dieser Modelle besteht darin, daß Lernen als ausschließlich reizinduziert betrachtet wird und deshalb auch keine ‚top-down‘ Komponenten, die für perzeptuelles Lernen unerläßlich sind, integriert sind. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist, daß wesentliche biologische Parameter wie z.B. die hohe Anzahl der synaptischen Verbindungen im Neocortex nicht beachtet wird.“ Auch hier schlägt sich also die frühere behaviouristische Annahme, Lernen sei ein bloßes Reiz-Reaktions-Schema, nieder. 45 <?page no="58"?> 4.5 Auswirkungen auf nichtsprachliche Aspekte der visuell-räumlichen Kognition Weitere Hinweise darauf, dass der gewohnheitsmäßige, häufige Gebrauch einer Gebärdensprache Auswirkungen auf nichtsprachliche Aspekte der visuell-räumlichen Kognition hat, zeigen Untersuchungen des Salk Institute for Biological Studies (2006): Hier wurden erste Experimente zur Untersuchung des Verhaltens der Augen während der Rezeption und Produktion von ASL durchgeführt. Ziel der Studien war es, das Verhalten der Augen von gehörlosen Muttersprachlern von ASL mit dem von späten ASL- Lernern (hörend und gehörlos) während der Gebärden-Wahrnehmung und während des Gebärdens zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigten, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch einer visuell-räumlichen Sprache in der Tat Auswirkungen auf nichtsprachliche Aspekte der visuell-räumlichen Kognition hat. Die gebärdensprachliche Erfahrung scheint die Performanz innerhalb bestimmter kognitiver Domänen zu steigern oder zu verändern, während andere Domänen nicht betroffen werden. Dabei sind die betroffenen Domänen 10 : • Mentale Rotation und Bildgenerierung • Diskriminierung von Gesichtern und Verarbeitung von Gesichtsmerkmalen • Kategorisierung und grammatische Bestimmung (parsing) von Bewegung • Erinnerung von räumlichen Lokationen Nicht betroffene Domänen sind: • Visuo-konstruktive Fähigkeiten • Gesichtserkennung • Bewegungserkennung • Gedächtnis für visuelle Bilder Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen auch Bavelier et al. (1998): „Overall, available studies support the view of distinct brain systems for ASL and for nonlinguistic visuo-spatial abilities, such as the processing of visuo-spatial and biological motion information.“ Haben sich also bei kompetenten Gebärdensprachbenutzern spezielle Fähigkeiten herausgebildet, so sind die bei Lernern (noch) fehlenden Fähigkeiten eine mögliche Erklärung für Lernschwierigkeiten. In der Tat wird in der Literatur berichtet, dass Lerner in gebärdensprachlicher Kommunikation Probleme mit der mentalen Rotation (z.B. bei Wegbeschreibungen; vgl. Kapitel 9.2.4 „Erhebung II: Laut-Denk-Experimente zur Ermittlung und Verifizierung von Lernstrategien“), der Interpretation von Mimik sowie der 10 Viele dieser Domänen sind nur aus dem Blickwinkel der Erforschung von Lautsprachen nichtsprachlich. 46 <?page no="59"?> Zuweisung und Erinnerung räumlicher Lokationen haben (z.B. McKee und McKee 1992; Hofstätter 1998; Interviewaussagen der Erhebung der vorliegenden Arbeit, IDs 171, 208, 209). Diese Bereiche bedürfen also augenscheinlich besonderer Übung, um ein hohes Maß an Sprachkompetenz zu erreichen. 4.6 Die Rolle von Ikonizität bei der Verarbeitung von Gebärden Ein weiterer Unterschied in der Verarbeitung von Gebärden besteht darin, dass die Transparenz von Gebärden bei der muttersprachlichen Rezeption von Gebärdensprache keine Rolle spielt. Eine Studie von Emmorey et al. bspw. ergab, dass bei der Verarbeitung ikonischer vs. nicht-ikonischer Verben keine Unterschiede hinsichtlich der neuralen Aktivierung festgestellt werden konnte (Emmorey et al. 2004; außerdem Klann et al. 2004; Huber 2006). Dagegen nutzen L2-Lerner die bildhafte Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und dem außersprachlichen Referenten massiv aus, um Gebärden zu memorieren (s. Kapitel 3.2.2 „Weitere Untersuchungen von Einflussfaktoren auf das Lernen einer Gebärdensprache“). Es gibt bisher keine Studien darüber, ob und inwiefern diese Nutzung mit zunehmender Sprachkompetenz bei L2-Lernern nachlässt und sich demnach die Sprachverarbeitung an muttersprachliche Verarbeitung angleicht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es überhaupt nur sehr wenige Studien über die Verarbeitung von Gebärdensprache bei L2-Lernern gibt. Die vorhandenen Ergebnisse lassen nur in sehr geringem Maße Schlüsse darauf zu, inwiefern sich die diese von muttersprachlicher Verarbeitung unterscheidet und wobei Lerner bspw. auf perzeptueller Ebene Schwierigkeiten haben. Abgesicherte Erkenntnisse über diese Fragen könnten Hinweise darauf geben, welche Elemente der Zielsprache besonders geübt werden müssen. Bspw. könnten die Erkenntnisse von Neville (2003) und Bavelier et al. (2000), die zeigten, dass Muttersprachler von ASL Objekte in der Peripherie des Blickfeldes besser wahrnehmen als Nicht-Gebärdensprachbenutzer, darauf hinweisen, dass dem Training dieser Fähigkeiten im Lernprozess spezielle Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Die Untersuchung von Morford (2004) ergab, dass L2-Lerner nicht nur Probleme beim lexikalischen Zugriff, sondern ebenso Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Phonemen haben. Die Art und Weise wie solche Elemente geübt werden sollten, müsste in einer methodisch-didaktischen Diskussion bestimmt werden. Insgesamt ist jedoch über die Verarbeitung von Gebärdensprache bei Lernern zu wenig bekannt, als dass sich daraus Konsequenzen für den Unterricht oder gar für das Verständnis von Lernstrategien ableiten ließen. Dies trifft insbesondere für die Konstruktion von Bedeutung zu. 47 <?page no="61"?> 5 Lernstrategien: Definitionen und Klassifizierungsansätze Die Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Strategie“ ist in der Sprachlehr- und -lernforschung sehr viel verbreiteter als die Auseinandersetzung mit dem Stilkonstrukt. Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Lernstrategien ist die Charakterisierung des Fremdsprachenlernens als eines komplexen, vom Lerner aktiv gestalteten Informationsverarbeitungsprozesses (Tönshoff 1997, S. 204). Lernpsychologische Überlegungen gehen dabei davon aus, dass das kognitive System, das Lernen steuert, mehr ist als eine Ansammlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten. „Organisierende“ Prozesse des kognitiven Systems werden einem so genannten Strategiekonstrukt zugeordnet. Wie so viele Termini ist jedoch auch der Begriff der „Strategie“ in der Literatur nicht einheitlich definiert, was die Modellierung unterschiedlicher Strategieklassifizierungen zur Folge hat. 5.1 Definition des Strategiebegriffs Hinsichtlich eines Aspekts kann in der L2-Forschung Einigkeit unter den verschiedenen Arbeiten festgestellt werden: Im Fokus stehen „the behaviors and thought processes that learners use in the process of learning, not those variables which may provide a background to learning success […]. In this latter category we include: psychological characteristics (such as risk-taking, tolerance for ambiguity, field dependence, and empathy among others), affective variables (such as liking or disliking the teacher, the culture, the natives, one’s classmates or one’s state of mind at the time of the learning activity), or social style (such as degree of sociability and outgoingness or social compentence) and those social strategies which follow from social style. All of these variables may make important contributions to learning success but they are not the focus of what we here call learner strategies“ (Rubin 1987, S. 19; Hervorhebung im Original). Jedoch ist die Strategieforschung weit von einer einheitlichen Begriffsdefinition ihres Untersuchungsgegenstandes entfernt - dies trifft auf die Psychologie und Pädagogik im Allgemeinen ebenso zu wie auf den spezifischeren Bereich Zweitsprachenerwerbsforschung 1 . Dies liegt in unterschiedlichen Aspekten begründet: Zunächst repräsentiert das Strategiekonzept kein einheitliches wissenschaftliches Konstrukt, sondern entstammt verschiede- 1 Teilweise beziehen sich Definitionen allgemein auf Strategien, z.T. auf Lernerstrategien, meist jedoch auf Lernstrategien (für eine Differenzierung dieser Kategorien s.u.). 49 <?page no="62"?> nen theoretischen und auch alltagstheoretischen Orientierungen (Zimmermann 1997, S. 95). Außerdem trägt zur Unschärfe des Begriffs bei, dass er sehr unterschiedliche Aspekte des Lernverhaltens thematisiert. Teilweise wird der Strategiebegriff geradezu ausufernd im Sinne jedweder mentaler und externer (Teil-) Handlung verwendet. Zimmermann (1997, S. 103) bietet einen Überblick bisheriger Synonymien zum Strategiebegriff. Demnach werden in der Literatur Strategien auch als „techniques“, „tactics“, potentially conscious plans“, „consciously employed operations“, „learning skills“, „basic skills“, „functional skills“, „cognitive abilities“, „language processing strategies“, „problem solving procedures“, „learning behaviours“, „cognitive processes“ oder „mental techniques“ bezeichnet. Allein diese Begrifflichkeiten weisen auf die unterschiedlichen Auffassungen von „Strategie“ hin. Folgt man den verschiedenen Autoren, so sind Lernstrategien • Handlungssequenzen zur Erreichung eines Lernziels (Friedrich und Mandl 1992, S. 6; ähnlich Edmondson und House 1993, S. 220), • Entscheidungsregeln bzw. Handlungsprogramme (Clauß et al. 1986, S. 600; Lompscher 1992, S. 95), • Bestandteile eines Planungsprozesses (Færch und Kasper 1983, S. 30 2 ), • zum Lernen bzw. zur Regulierung des Lernprozesses eingesetzte Verhaltensweisen (Wenden 1987, S, 6, Wolff 1997), Aktionen (Oxford 1990, S. 8) und Gedanken (mit dem Fokus auf der Verarbeitung von Informationen, O’Malley und Chamot 1990, S. 1), • vom Lerner eingesetzte Operationen, die beim Erwerb, der Speicherung und dem Abrufen von Informationen helfen (Oxford 1990, S. 8, zitiert nach Rigney 1978 und Danserau 1985), • eine Form des Wissens, i.S.v. Wissen über das Lernen und die Strategien, die benutzt werden (Wenden 1987, S. 6/ 7). 5.1.1 Merkmale von Strategien Hinsichtlich der Definition des Strategiebegriffs spielen Kriterien eine entscheidende Rolle wie Bewusstheit und Intentionalität bei der Verwendung, Komplexität sowie die Frage, ob Strategien innere oder äußere Handlungen sind, also rein mentale Operationen oder beobachtbares Verhalten und Handlungen. Zur Komplizierung einer Definition trägt bei, dass Begriffe wie „Handlung“, „Verhalten“, „Prozess“ und „Operation“ nicht immer konkretisiert werden bzw. sich in den unterschiedlichen Ansätzen inhaltlich überschneiden. 2 Dieses Strategieverständnis entwickelten Færch und Kasper für Kommunikationsstrategien; es wird aber häufig für die Definition von Lernstrategien herangezogen. 50 <?page no="63"?> Ein Aspekt, hinsichtlich dessen sich Ansätze voneinander unterscheiden, ist die Frage nach der Bewusstheit von Strategien. Während jedoch für die einen die Bewusstheit ein konstituierendes Merkmal strategischen Lernens darstellt, gehen andere oft von einem liberaleren Strategiebegriff aus, in dem von einer potenziellen Bewusstseinsfähigkeit der strategischen Aktivitäten die Rede ist. Beispielsweise laufen Færch und Kasper zufolge Strategien potenziell bewusst ab (1983, S. 36). Zum einen stellen sie fest, dass Bewusstheit eher eine graduelle Frage als eine Frage des entweder-oder sei. Außerdem könne man nicht davon sprechen, dass bestimmte Strategien grundsätzlich bewusst oder unbewusst abliefen; vielmehr sei es bei verschiedenen Individuen jeweils unterschiedlich, ob eine Strategie bewusst eingesetzt werde oder nicht (S. 35). Ursprünglich bewusst eingesetzte Strategien können jedenfalls hochgradig automatisiert und damit bei der eigentlichen Verwendung unbewusst ablaufen. Prinzipiell sind demnach Strategien aber bewusstseinsfähig und können vom Lerner beschrieben und auch kontrolliert werden. Ähnlich äußern sich bspw. Knapp-Potthoff und Knapp (1982), Wenden (1987, S. 8), Oxford (1990, S. 9), O’Malley und Chamot (1990, S. 79-81), Hasselhorn (1992, S. 36), Grotjahn (1997, S. 51), Wendt (1997, S. 77) und Wolff (2002, S. 61). M.E. erscheint die Unterscheidung von Strategien vs. andere Operationen auf der Basis des Kriteriums Bewusstheit insofern nicht sinnvoll, als dann ein und dieselbe Handlung bzw. dieselbe Operation als Strategie eingestuft würde, wenn sie unbewusst abläuft, aber als etwas anderes, wenn sie bewusst abläuft. Daher und angesichts der Schwierigkeit, dass Bewusstheit im Einzelfall schwer überprüfbar ist, könnte die Unterscheidung zwischen intentional und inzidentell ablaufenden Operationen hilfreicher sein. Demnach wären nur solche Handlungen und/ oder Operationen strategisch, die zielgerichtet und absichtsvoll eingesetzt werden. In der Tat vertreten einige Autoren das Kriterium der Intentionalität, das Strategien von anderen Operationen unterscheidet (Raabe 2000, S. 179). Intentionalität ist zwar an Bewusstheit gekoppelt; die Intention betrifft jedoch das Ziel der Handlung und bedeutet nicht unbedingt, dass dem Handelnden der strategische Charakter seiner Handlung bewusst ist. Die von einigen Autoren vertretene Annahme, es bei Strategien mit einem bewussten Phänomen zu tun zu haben, macht die Erforschung von Strategien wesentlich viel versprechender, da von Lernern bewusst ausgeführte Aktivitäten leichter zu identifizieren und zu analysieren sind (Knapp-Potthoff und Knapp 1982, S. 137). Darauf weist auch Raabe hin (2000, S. 180): Gemeinhin gehe man davon aus, dass nur bewusstseinfähige, im deklarativen Wissen repräsentierte Strategien effektiv beforscht werden können. Nichtsdestoweniger ist aber die Untersuchung von Strategien auch dann nicht aussichtslos, wenn man davon ausgeht, dass sie nicht (zwangsläufig) bewusst ablaufen. So können beobachtbare äußere Handlungen 51 <?page no="64"?> durchaus als Indikator für mentale Prozesse dienen. Grotjahn, der Strategien als eine Teilmenge von (mentalen) Prozessen charakterisiert, unterscheidet z.B. drei Analyseebenen (1997, S. 52): 1) beobachtbares Verhalten und Handeln (z.B. im Wörterbuch nachschlagen) 2) nicht unmittelbar beobachtbare kognitive Prozesse (z.B. gezieltes mentales Assoziieren des Klangbildes eines neu zu lernenden fremdsprachlichen Wortes mit einem klangähnlichen und konkreten, nicht jedoch bedeutungsähnlichen Wort der Muttersprache in Form eines interaktiven Gedächtnisbildes (Schlüsselwortmethode)) 3) mentale Repräsentation im Gedächtnis (die Beschäftigung mit der Frage, ob die Fähigkeit zur Bildung von Schlüsselwörtern eher auf prozeduralen oder eher auf deklarativen Wissensbeständen beruht 3 ) Strategien der ersten Ebene bezeichnet Grotjahn als manifeste Strategien oder Techniken, die der zweiten Ebene als mentale Strategien, die der dritten Ebene als Strategiewissen. Für Grotjahn ist nicht das Kriterium der Bewusstheit entscheidend, sondern das der Optionalität (Grotjahn 1997, S. 51). Ein (mentaler) Prozess ist demnach nur dann strategisch, wenn er bei der Bearbeitung einer Aufgabe verwendet oder auch nicht verwendet werden kann. Dabei „impliziert das Kriterium der Optionalität, dass auch hochautomatisierte, nicht bewusst ablaufende Prozesse strategischer Natur sein können“ (ebd.). Im Gegensatz hierzu sieht Grotjahn Operationen, die per definitionem obligatorisch einge- 3 Das Begriffspaar deklarativ - prozedural wurde geprägt von Anderson, der es im Rahmen seines Modells des Adaptive Control of Thought (ACT) und dessen Fortführung ACT* verwendete. Dabei handelte es sich um eine Theorie kognitiver Architektur, d.h. eine Theorie der Grundprinzipien von Operationen, die im kognitiven System eingebaut sind (Anderson 1983, S. ix; für eine ausführlichere Beschreibung des Informationsverarbeitungsparadigmas s. auch Grotjahn 1997). Deklaratives Wissen ist „Wissen über etwas“; es steht für die eher statischen Informationen im Gedächtnis, wohingegen das prozedurale Wissen, das „Wissen wie“, für die dynamischen Informationen steht. Auch die Organisationsformen dieser Wissensarten sind nach Anderson unterschiedlich: Deklaratives Wissen ist im Gedächtnis in Netzwerken repräsentiert, es wird gespeichert in Form von propositionalen Netzwerken oder Schemata. Prozedurales Wissen hingegen ist im Gedächtnis in Produktionssystemen, z.B. in IF- THEN kausalen Beziehungen, repräsentiert. Während deklaratives Wissen am effektivsten durch das Aufbauen von und Verknüpfen mit Vorwissen erworben wird, wird prozedurales Wissen am wirksamsten durch häufige Anwendung gelernt. Deklaratives Wissen kann in einem Automatisierungsprozess, bei dem der Zugang zu Regeln verloren geht, durch häufig wiederholte Verwendung zu prozeduralem Wissen werden. Prozedurales Wissen ist der Basismechanismus, durch den Kontrolle über die Kognition ausgeübt wird (vgl. auch O’Malley und Chamot 1990, S. 20-25). 52 <?page no="65"?> setzt werden 4 . Als Beispiel für eine Operation führt er die Perzeption der Buchstaben beim Lesen eines Textes an (ebd.). Für Grotjahn sind Operationen also nicht Komponenten von Strategien und damit von Handlungen, sondern obligatorische Prozesse, die im Gegensatz zu den optionalen Strategien stehen. M.E. ist das Kriterium der Optionalität zwar durchaus sinnvoll, jedoch eher in dem Sinne, dass der Lerner nicht nur die Wahl zwischen „einem oder keinem“ Einsatz von Strategien hat, sondern vielmehr die Wahl zwischen mehreren (mindestens zwei) Vorgehensweisen hat. Dieses Verständnis von Optionalität vertreten bspw. Hasselhorn (1992, S. 36) und Krapp (1993, S. 292; s. auch Entwistle, McCune und Walker 2001). Auch erscheint der Begriff „obligatorisch“ als Charakterisierung für Operationen in diesem Sinne unpassend: Unter Obligationen versteht man üblicherweise Verpflichtungen, die Konsequenz eines Handelns sind. Bei Phänomenen i.S.v. von Grotjahns Beispiel handelt es sich dagegen eher um „eingebettete“, inhärente, perzeptuell bedingte Notwendigkeiten. Obligatheit setzt eine intentionale Handlung voraus - die eben auch nicht obligatorisch sein könnte. Es ist müßig, eine Handlung „obligatorisch“ zu nennen, die gar nicht optional sein kann. In den soeben angesprochenen Analyseebenen unterscheidet Grotjahn zwischen Strategien und Techniken. Auch diese Differenzierung dient der Abgrenzung von Strategien von anderen Erscheinungen, und einige Autoren grenzen den Begriff der Lernstrategie von dem der Lerntechnik bzw. Lerntaktik ab. Als ein Kriterium zur Unterscheidung wird häufig die Komplexität herangezogen: Lerntechniken/ -taktiken werden häufig als Einzelmaßnahmen verstanden, wohingegen Lernstrategien systematisch gebündelte Maßnahmen bezeichnen (vgl. Rampillon 2003, S. 340). Oxford und Cohen (1992) entwickelten eine Zuordnung von Strategien zu Taktiken, die diese Strategie unterstützen. Sie definieren Lerntaktik als „short-term art of using specific behaviors or devices […] to support one or more major learning strategies during day-to-day learning situations“ (Oxford und Cohen 1992, S. 4). Unter Lernstrategien dagegen verstehen sie „the long-range art of learning more easily and effectively by using major clusters of behaviors for forming concepts and hypotheses, testing hypotheses, personalizing linkages, embedding material in long-term memory, understanding one’s affective state, managing the learning process, and producing language while lacking adequate linguistic knowledge“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Auch Oxford und Cohen legen also das Kriterium der Komplexität an. 4 Eine andere Definition des Operations-Begriffs vertritt z.B. Wendt (1997, S. 79; ebenso Habermas 1995; s. Kapitel 6.1 „Der Handlungsbegriff nach Habermas“). Demnach sind Operationen „Komponenten von Handlungen. Sie haben keine Ziele im Sinne von Handlungszielen, sondern tragen zu deren Erreichung bei“. 53 <?page no="66"?> Krapp zitiert Kirby, der drei Hierachiestufen unterscheidet, auf denen die Fertigkeiten, Fähigkeiten, Vorlieben und organisierenden Prozesse, die beim Lernen beteiligt sind, angesiedelt sind (Krapp 1993, S. 292): „(1) Taktiken. Sie garantieren den geordneten Aufruf elementarer kognitiver Operationen (skills) in einem eng begrenzten Aufgabengebiet. Sie entsprechen dem, was wir üblicherweise mit Lerntechnik bezeichnen. (2) Strategien im engeren Sinn. Hier handelt es sich um eine Kombination solcher Taktiken, die zusammen einen Plan zur Bewältigung eines bestimmten Problems ergeben […]. Garner (1989) legt Wert auf die Feststellung, daß der Einsatz von Lernstrategien bewusst gesteuert wird und ihre Realisierung mit z.T. erheblicher Anstrengung verbunden ist. Strategien sind mental repräsentiert, d.h. sie sind im Gedächtnissystem als aufrufbare Handlungspläne gespeichert, wobei der kompetente Lerner für ein bestimmtes Problemfeld stets mehrere Startegievarianten zur Auswahl hat. (3) Lernstile. Wenn eine Person in vielen verschiedenen Situationen ähnliche Strategien verwendet, haben sie den Charakter von kognitiven Stilen. Im Gegensatz zu Lerntechniken und Lernstrategien werden sie als generalisierte Merkmale oder Eigenschaften einer Person aufgefaßt. Deshalb eignen sie sich auch zur typologischen Klassifikation von Lernern (Schmeck, 1988b).“ Auch Wolff (1992) sowie Bimmel und Rampillon (1996, S. 73; beide zitiert in Raabe 2000, S. 179) sehen Strategien als die hierarchiehöhere Kategorie an. Ihre Unterscheidung beruht jedoch auch auf der Differenzierung von Strategien als mentalen, heuristischen Problemlösungsmitteln, die äußeren Handlungen (den Techniken) zugrunde liegen: Sie verstehen unter Lerntechniken Fertigkeiten wie z.B. im Wörterbuch nachschlagen. Lernstrategien dagegen sehen sie als „kognitive Operationen, die der problemlösenden Entscheidung, ein Wörterbuch zu benutzen, vorausgehen. Mit Strategie wird der hierarchiehöhere Prozess bezeichnet, in die Techniken als intentional zielerreichende Teilhandlung je nach Aufgabe und Situation integriert werden“. Auch Nold zielt auf die Differenzierung von praktischer, äußerer Handlung vs. mentaler Aktivität ab: Unter Techniken versteht er technischpraktische Hilfen zur zeitlichen und sachlichen Organisation von Lernprozessen, unter den Strategiebegriff dagegen fasst er kognitive und metakognitive Strategien, mit deren Hilfe der Lerner sein eigenes Lernen kontrolliert (Nold 1992). Problematisch ist jedoch, dass diese Begriffsbestimmungen nicht die Bildung wirklich trennscharfer Differenzierung ermöglichen: Die Interpretation einer Handlung oder einer Aussage als „Strategie“ oder „Technik“ hängt in vielen Fällen von der gewählten Analysebene ab: Welche Hierarchien werden gebildet? Wie wird was zueinander in Beziehung gesetzt? Was ist „elementar und eng begrenzt“? Es erscheint sinnvoll, zwischen Aktivitäten und deren Subaktivitäten zu unterscheiden. Eine Klassifizierung scheint jedoch im Einzelfall schwierig. Einige Autoren trennen u.a. aus diesen Grün- 54 <?page no="67"?> den gar nicht zwischen Techniken und Strategien. Wendt plädiert bspw. für „die Unterscheidung von Lerntechniken bzw. Lernstrategien, die dem Handlungsmotiv ‚(selbständiges) Organisieren von Lernvorhaben‘ entsprechen, einerseits und Strategien des fremdsprachlichen Handelns, die direkt in fremdsprachliche Äußerungen einmünden, andererseits“ (Wendt 1997, S. 80). Auch wenn die einzelnen Autoren oft nicht in allen Kriterien übereinstimmen, kann doch ein gewisser Konsens bzgl. der Hauptmerkmale von Strategien konstatiert werden. Nach Raabe (2000, S. 179) besteht im Wesentlichen Einigkeit hinsichtlich folgender Charakteristika von Lernstrategien bzw. ihres Einsatzes: • Es liegt ein Wille zum Lernen vor (Intentionalität). • „Strategie“ bezieht sich auf allgemeine Lernansätze wie auch auf spezifische Techniken. • Strategien werden optional, nicht obligatorisch eingesetzt. • Strategien sind problemorientiert. • Strategien sind in der Regel bewusst. • Strategien sind Verhalten und/ oder mental. • Strategien tragen teils indirekt (Besorgen von Sprachmaterial), teils direkt (z.B. Mnemotechniken) zum Lernen bei. • Strategien sind Veränderungen unterworfen: sie werden modifiziert, verworfen, gelernt. • Strategien sind folglich lehrbar. • Ihr Gebrauch ist abhängig von den zu bewältigenden Lernaufgaben und den Präferenzen der Lernenden. Für die Analyse der vorliegenden Arbeit wurde eine weite Strategiedefinition gewählt. Da erstmals das Lernen einer visuell-räumlichen Sprache untersucht wurde, schien dies sinnvoll, um möglichst alle in Frage kommenden Vorkommen zu erfassen. Dementsprechend wurden im ersten Transkriptionsschritt zunächst alle Verhaltensweisen und Überlegungen der Lerner festgehalten, die darauf schließen ließen, dass Lerner einen auf das Lernen und/ oder die Kommunikation in der L2 ausgerichteten Weg verfolgen. Später wurden handlungstheoretische und kognitionswissenschaftliche Ansätze herangezogen, wodurch der Strategiebegriff eingegrenzt und näher definiert wird (vgl. Kapitel 6 „Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit“ und Kapitel 7 „Grundlagen für die Klassifizierung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien“). 5.2 Strategien der Sprachverwendung Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Kategorisierungen von Strategiekomplexen vorgeschlagen. Von einigen Autoren wird der Terminus Lernerstrategien als Oberbegriff gebraucht, der sowohl Lernstrategien als auch 55 <?page no="68"?> Sprachverwendungsstrategien umfasst (Wolff 1997; Tönshoff 2003). Das wesentliche Unterscheidungskriterium besteht dabei in der (vermuteten) Intention des Lerners, mit der er eine Strategie einsetzt. „Obwohl die Grenze zwischen Lern- und Kommunikationsstrategien fließend ist, liegt der durch situative Anforderungen und durch Lernerintentionen bestimmte aktuelle Primärfokus des menschlichen Informationsverarbeitungssystems jeweils entweder stärker auf dem Lernaspekt (Aufbau lernersprachlicher Wissensbestände) oder auf dem Gebrauchsaspekt (Einsatz vorhandener lernersprachlicher Mittel).“ (Tönshoff 2003, S. 332) Diese kategorielle Trennung zwischen Lern- und Kommunikationsstrategien ist immer wieder diskutiert worden: Während einige Autoren für eine solche Unterscheidung argumentierten (z.B. Tarone (1977, 1980, 1983); Chamot (zitiert in Oxford 1990, S. 143)), lehnten andere diese grundsätzlich ab. Oxford bspw. hält das Unterscheidungskriterium - im einen Fall Lernen als Ziel des Strategieeinsatzes, im anderen Kommunikation - für ungültig: „It is often impossible to determine whether the learner intends to use a given strategy to communicate or to learn; often the motivations are mixed, and besides, learning often results even if communication is the main goal […]. Simply put, ‚Learning takes place through communication‘ (Færch & Kasper, 1983a, p. xvii). […] To paraphrase Howatt, learners can either ‚learn to use the language‘ or ‚use the language to learn it‘ (Howatt, 1984).“ (Oxford 1990, S. 243; Hervorhebung im Original) Auch hält Oxford das Verständnis von Tarone, Kommunikationsstrategien bezögen sich nur auf das Sprechen, für falsch: Kommunikationsstrategien kämen ebenso bei den anderen Fertigkeiten Hören, Lesen und Schreiben zum Einsatz (ebd.). Mittlerweile sprechen aus diesen Gründen viele Autoren von den erwähnten Lernerstrategien und heben damit die kategorielle Trennung auf. Von solchen (L2-forschungsinternen) Unstimmigkeiten abgesehen erscheint der Begriff der Kommunikationsstrategie aus einer psychologischen oder soziolinguistischen Perspektive irrig: Es geht bei den in der Zweitsprachenerwerbsforschung beschriebenen Kommunikationsstrategien nicht um Strategien, die auf die Interaktion zweier oder mehrere Kommunikationspartner wirken wie bspw. Gesprächsstrategien, bei denen etwa versucht wird, die andere Person so zu beeinflussen, dass sie wohlwollend gegenüber den eigenen Zielen eingestellt wird (vgl. hierfür z.B. das Online-Lexikon Wirtschaftskommunikation Deutsch, Gesprächsstrategien, http: / / www.goethe.de/ dll/ pro/ wiko/ wiko/ band-01/ gs1.htm). Solche Strategien, deren Betrachtung der Name Kommunikationsstrategien (aus einer anderen als der L2-Perspektive) suggeriert, sind in lernersprachlichen Äußerungen bisher nicht untersucht worden. Ihre Untersuchung würde der Forderung Rechnung tragen, nicht nur solche Strategien zu betrachten, auf die durch fehlerhafte Äußerungen zu schließen ist: 56 <?page no="69"?> „The analysis should be based not only on the learner’s erroneous or non-nativelike behaviour, but should account for the activation of ‚successful’ strategies as well.“ (Raupach 1983, S. 208) 5 In der Folge dieser Diskussion wählten die Autoren jeweils verschiedene Zugänge und Klassifizierungsmodelle zu dieser Thematik, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Obwohl die Lernstrategien den Schwerpunkt dieser Arbeit darstellen, wurden in der vorliegenden Untersuchung auch Sprachverwendungsstrategien erhoben. Dies erschien vor allem deswegen sinnvoll, weil Deutsche Gebärdensprache in erster Linie im Gebrauch, in Face-to-Face-Kommunikation erlernt wird. Dies liegt in der fehlenden Gebrauchsschrift begründet. Für Gebärdensprachen existieren zwar diverse Notationssysteme. Diese sind jedoch meist auf die wissenschaftliche Notation zu Forschungszwecken ausgerichtet. Bis auf das Sutton Sign Writing, das in den USA an einigen Schulen eingesetzt wird, hat sich (bisher) kein System als Gebrauchsschrift etabliert. Aufgrund dessen entfallen beim Lernen einer Gebärdensprache die Fertigkeiten Lesen und Schreiben. Dies hat jedoch letztlich auch zur Konsequenz, dass das Selbstlernen extrem erschwert ist bzw. der bei gesprochenen Sprachen i.d.R. reichlich vorhandene schriftliche Input komplett entfällt 6 . Da also das Lernen fast ausschließlich über Face-to-Face-Situationen möglich ist, liegt es nahe, bei der Beschäftigung mit Gebärdensprach-Lernen auch Verwendungsstrategien zu berücksichtigen. Einer der ersten, der die Bedeutung von Strategien für das L2-Lernen umriss, war Selinker (1972) 7 . Er unterschied in seinem Modell der Interlanguage zwischen auf langfristiges Lernen gerichteten Lernstrategien und 5 Für eine Kritik an der Kommunikationsstrategieforschung, die sich sehr stark auf die Kompensation von sprachlichen Defiziten und dabei vor allem auf die lexikalische Kompensation beschränkt, s. Rampton 1997; er sieht einen engen Zusammenhang zwischen sprachlichen Schwierigkeiten und der Lerneridentität und spricht sich für eine stärkere Betrachtung der sozialen Interaktion aus. 6 Zwar gibt es mittlerweile mit „Die Firma“ 1 + 2 ein Lehrwerk zum selbständigen Lernen sowie einige Vokabelsammlungen, die extensiven Gebrauch von analogen oder digitalen Filmen machen. Selbstverständlich stellen diese jedoch eine vergleichsweise sehr geringe Inputmenge dar. 7 Einige Jahre zuvor hatte Aaron Carton sich bereits mit Erschließungsstrategien beschäftigt (Carton 1966). In seinem Artikel „The Method of Inference in Foreign Language Study“bemerkte er, dass Lerner sich hinsichtlich dem Ziehen von Schlussfolgerungen und ihrer Risikobereitschaft voneinander unterscheiden. 1971 differenzierte Carter zwischen drei Arten des Erschließens: 1: intra-linguale Schlussfolgerungen, 2. interlinguale Schlussfolgerungen, 3. extra-linguale Schlussfolgerungen, bei denen der Lerner sein Weltwissen nutzt, um zu erschließen, was in der Kommunikation gesagt wird (beide Artikel sind zitiert in Rubin 1987). Ebenfalls eine sehr frühe Arbeit zu Lernstrategien ist die von Rubin (1971); s. hierzu Kapitel 5.3 „Eigenschaften eines ‚guten Fremdsprachenlerners‘“. 57 <?page no="70"?> kurzfristig zielgerichteten Kommunikationsstrategien (Selinker 1972) 8 . Motivation für den Gebrauch von Kommunikationsstrategien ist nicht in erster Linie die Verbesserung der zielsprachlichen Kompetenz, sondern der Wunsch zu kommunizieren. Während also bei Lernstrategien der Lernprozess im Vordergrund steht, werden Kommunikationsstrategien eher im Kontext der Sprachverwendung gesehen. Diese Differenzierung bildete die Grundlage für zwei Kategorien von Strategien, die von vielen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Es existieren diverse Modelle, in denen Kommunikationsstrategien klassifiziert werden. Da solche Strategien nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen, wird an dieser Stelle nur der Klassifizierungsvorschlag von Færch und Kasper (1983, 1984) exemplarisch genauer beschrieben, der besonders einflussreich war. Andere Modelle werden im Anschluss kurz skizziert. Færch und Kasper interpretierten Strategien auf dem Hintergrund psycholinguistischer Prozesse; so kann z.B. der Wunsch, Fehler zu vermeiden, Motivation für den Gebrauch von Strategien sein. Færch und Kasper definierten Kommunikationsstrategien als „potentially conscious plans for solving what to an individual presents itself as a problem in reaching a particular communicative goal“ (Færch und Kasper 1983, S. 81). Nach Færch und Kasper stehen dem Lerner prinzipiell zwei mögliche Strategietypen zur Verfügung, um ein Kommunikationsproblem zu lösen: einerseits Vermeidungsstrategien in Form von formaler oder funktionaler Reduktion, andererseits Bewältigungsstrategien, durch die eine andere Lösung gefunden wird. Letztere können zum einen kooperativ sein und im Bitten um Hilfe bestehen. Zum anderen können Bewältigungsstrategien aber auch nicht-kooperativ sein; hierbei identifizieren Færch und Kasper drei Untergruppen: 8 In seinem Modell standen sprachliche Erwerbsprozesse und deren Bedingungen im Mittelpunkt des Interesses. Demnach bildet sich beim Zweitspracherwerb durch die Konfrontation mit der Zielsprache ein spezifisches Sprachsystem des Lerners heraus, die Interlanguage. Dieses System weist Züge der L1 und der Zielsprache sowie eigenständige Merkmale auf. Sein Entwicklungsstand ist beeinflusst von individuellen Variablen wie z.B. anderen bekannten Sprachen, außerunterrichtlichem Input, aber auch von sozialen und lernsituationsabhängigen - besonders methodisch-didaktischen - Variablen. Den unterschiedlichen Lernerfolg von Sprachlernern erklärt Selinker dadurch, dass der Lernerfolg in der Fremdsprache vom Wirken unterschiedlicher psycholinguistischer Strukturen abhängig sei. Eine latente Psychostruktur werde aktiviert, wenn der Lerner versuche, Bedeutung in einer L2 auszudrücken. Diese Psychostruktur zeichnet sich durch fünf psycholinguistische Prozesse aus: 1. Transfer aus anderen Sprachen, 2. Transfer aus der Lernumgebung, 3. Lernstrategien, 4. Kommunikationsstrategien, und 5. Übergeneralisierungen. Später veranlassten Selinker Forschungsergebnisse zu einer Revidierung seines Modells. Die latente Psychostruktur rückte in den Hintergrund, zum Hauptmerkmal der Interlanguage wurde die Fossilisierung. 58 <?page no="71"?> • L1/ L3-Strategien, die in Codeswitching oder „Foreigning“ bestehen, • Interlanguage-Strategien, die in Substitution, Generalisierung, Exemplifikation, „word-coining“, Restrukturierung oder Beschreibung bestehen, und • nicht-sprachlichen Strategien, die im Gebrauch von Mimik, Imitation etc. bestehen (Færch und Kasper 1984). Tarone entwickelte kurz zuvor ein sehr ähnliches Kategoriensystem, sah solche Strategien allerdings eher im Rahmen sozialer Interaktionen: Für sie sind Kommunikationsstrategien „mutual attempts of two interlocutors to agree on a meaning in situations where requisite meaning structures do not seem to be shared“ (Tarone 1980, S. 420). Demnach werden Kommunikationsstrategien in einer gemeinsame Unternehmung von Sprecher und Hörer angewandt, wenn sie merken, dass sie sich gegenseitig nicht verstehen. Tarone fasste Kommunikationsstrategien mit Produktionsstrategien unter dem Begriff Sprachverwendungsstrategien zusammen. Im Gegensatz zu Kommunikationsstrategien ist das Hauptziel bei Produktionsstrategien nicht, Bedeutungen zwischen den Gesprächspartnern auszuhandeln, wenn sprachliche Strukturen oder soziolinguistische Regeln nicht geteilt werden. Sie werden vielmehr definiert als „an attempt to use one’s linguistic system efficiently and clearly, with a minimum of effort“ (Tarone 1980, S. 420). 1983 entwickelte Tarone mit Cohen und Dumas ein Klassifizierungsmodell für Kommunikationsstrategien, das allerdings nicht unproblematisch ist: Die Trennung einiger Klassen scheint im konkreten Fall kaum unterscheidbar. Abb. 3: Kommunikationsstrategien nach: Færch und Kasper 1984, S. 48-51; Grafik aus: Cook 1993, S. 123 59 <?page no="72"?> Tarone, Cohen und Dumas merken selbst an, dass die Kategorien nicht trennscharf sind, und dass diese Sammlung von Strategien unvollständig ist (Tarone, Cohen und Dumas 1983, S. 12). Auch die Differenzierung zwischen Kommunikations- und Produktionsstrategien scheint problematisch: Wie auch Tarone feststellt, kann die Zuordnung von einzelnen Strategien zu diesen Kategorien schwierig sein. So ist es u.U. im konkreten Fall schwer oder gar nicht zu beurteilen, ob eine Strategie eingesetzt wurde, weil ein Defizit kompensiert werden musste, oder weil die Sprache effizient benutzt werden soll. In beiden Fällen wird die übergeordnete Motivation eine missverständnisfreie Kommunikation sein. Überhaupt scheint im Fall der Produktionsstrategien die Zuordnung von Lerneräußerungen im Einzelfall schwer zu treffen: Ob ein Lerner wirklich eine Strategie einsetzt (i.d.S. dass er aus verschiedenen Möglichkeiten vorzugehen auswählt), oder ob er „lediglich“ versucht, eine zielsprachliche Regel zu befolgen, erscheint nicht ohne Weiteres feststellbar. Cook kritisiert an den Arbeiten von Tarone und Færch und Kasper, dass sie nicht konsequent in der Verfolgung ihrer Ansätze seien: Während Tarone nur die Sprache des Lerners untersuche, obwohl sie Kommunikationsstrategien als gemeinsames Unternehmen zwischen Sprecher und Hörer auffasse, liege bei Færch und Kasper ein Widerspruch in ihrem Ansatz selbst: Die Autoren gingen davon aus, dass die Strategien Anzeichen für Problemlösungsversuche seien; ihre Strategietypen schienen jedoch eher Lösungstypen zu reflektieren und keine Problemtypen (Cook 1993, S. 124). Auch im Klassifizierungsmodell von Cohen (1998) zeigt sich die Gratwanderung, zwischen „lernen“ und „kommunizieren“ kategorisch zu trennen: Hier werden Kommunikationsstrategien sehr vage als Wege verstanden um Informationen zu vermitteln, die für den Hörer oder Leser von Bedeutung sind (ebd., S. 264). Zusammen mit Abrufstrategien (retrieval strategies), Übungsstrategien (rehearsal strategies) und Kaschierungsstrategien (cover strategies) werden sie als Sprachverwendungsstrategien gesehen. Cohens Übungsstrategien werden von anderen Autoren jedoch den Lernstrategien zugerechnet (z.B. O’Malley und Chamot 1990). Diesen Autoren ist gemein, dass sie die kategorielle Trennung von Lern- und Kommunikationsstrategien (zumindest theoretisch, s. Tarone 1983, S. 67) für möglich halten und befürworten 9 . Während andere diese Differenzierung grundsätzlich ablehnen, nimmt Bialystok eine Art Zwischenposition ein: Sie vertritt einen „post hoc-Ansatz“, innerhalb dessen über die Natur einer Strategie erst entschieden werden kann, wenn ihr kommunikativer 9 Rubin (1987) etablierte neben Lern- und Kommunikationsstrategien einen dritten Komplex: die sozialen Strategien. Darunter versteht sie „those acitivities learners engage in which afford them opportunities to be exposed to and practice their knowledge. In themselves they do not contribute to learning since they merely put the student in an environment where practice is possible“ (Rubin 1987, S. 27). 60 <?page no="73"?> Effekt bekannt ist. Sie sieht durchaus eine Notwendigkeit für eine theoretische Trennung von Lern- und Kommunikationsstrategien, befürchtet aber, dass „the a priori classification of strategies according to these criteria may obscure a simple pragmatic consideration, namely, given a situation, what will learners do to communicate? “ (Bialystok 1983, S. 102). Bialystok vertritt die Position, dass jede Strategie potenziell eine Lern- oder eine Kommunikationsstrategie sein kann, wobei im Idealfall der Einsatz einer Strategie sich sowohl positiv auf das Lernen als auch auf die Kommunikation auswirkt. Sie definiert Kommunikationsstrategien als „all attempts to manipulate a limited linguistic system in order to promote communication“ (ebd.) und wählt für ihre Klassifizierung von Strategien einen gänzlich anderen Ansatz als die anderen Autoren: Während diese auf ein funktionales Differenzierungskriterium zurückgreifen, wählt Bialystok - die ja davon ausgeht, dass Strategien gerade nicht von vornherein einem (und nur einem) bestimmten Zweck zugeordnet werden können - den sprachlichen Ursprung, auf dem eine Strategie basiert, als Kriterium: Sie unterscheidet zwischen Strategien, die auf der L1 basieren und solchen, die auf der L2 basieren 10 . Von allen diesen Autoren wurde der Begriff der Kommunikationsstrategie einseitig auf Defizite seitens des Lerners bezogen: Auf eine solche Strategie wird demnach zurückgegriffen, wenn das Wissen nicht ausreicht, um die gewünschte Äußerung zu produzieren (vgl. Rubin 1987, S. 26; Rubin 1983, S. 64); der Lerner hat aufgrund begrenzter Ressourcen Schwierigkeiten in der Kommunikation und muss seine Wissenslücke kompensieren: „Communication strategies overcome obstacles to communication by providing the speaker with an alternative form of expression for the intended meaning.“ (Bialystok 1990, S. 35; (zitiert in Cook, 1993, S. 119)) Ähnlich beschreiben Knapp-Potthoff und Knapp den „Äußerungsnotstand“ des Lerners: Demzufolge werden Kommunikationsstrategien zielgerichtet eingesetzt, um „kurzfristige Diskrepanzen zwischen kommunikativen Anforderungen und den lernersprachlichen Möglichkeiten aufzulösen“ (Knapp-Potthoff und Knapp 1982, S. 140). Obwohl also der Begriff der Kommunikationsstrategien verwendet wurde, wurden diese im Grunde als Kompensationsmechanismus begriffen - weshalb einige Autoren zur Beschreibung dieser Art von Strategien den Begriff der Kompensationstrategie vorzogen. Bspw. grenzt Poulisse Kompensationsstrategien von Vermeidungsstrategien sowie von Interaktionsstrategien ab, bei denen der Lerner den Gesprächspartner bittet, die fehlenden 10 Nicht-sprachliche Strategien wurden in der Studie von ihr nicht systematisch untersucht. 61 <?page no="74"?> Wörter zur Verfügung zu stellen (Poulisse 1990, S. 59) 11 . Auch Oxford verwendet den Begriff Kommunikationsstrategien nicht, da sie grundsätzlich gegen eine Unterscheidung von „Lernen“ und „Kommunikation“ ist, und spricht stattdessen von Kompensationsstrategien, um solche Strategien von Lernern zu erfassen, mit denen dieses fehlende Wissen während der Sprachproduktion ausgleichen (Oxford 1990, S. 243). Poulisse (in Zusammenarbeit mit Kellerman und Bongaerts) befasste sich im Rahmen eines umfangreichen Projekts speziell mit der Verwendung von Kompensationsstrategien. Die Autoren warfen früheren Studien vor, nicht über die Deskription von Strategien hinausgekommen zu sein und sich nur auf sprachliche Formen statt auf die dazu führenden Prozesse konzentriert zu haben. Sie selbst beschränkten sich in ihren Untersuchungen auf lexikalische Kompensationsstrategien. Poulisse arbeitete prozessorientiert und legte ihrer Arbeit Levelts psycholinguistisches Sprachproduktionsmodell zugrunde (Poulisse 1990) 12 . Dementsprechend identifizierte Poulisse zwei Typen von Kompensationsstrategien: konzeptuelle Strategien und sprachliche Strategien. Bei der konzeptuellen Strategie analysiert der Sprecher das Konzept hinsichtlich seiner Semantik, indem er es in seine charakteristischen Merkmale zerlegt. Dabei gibt es zwei Strategietypen: analytische und holistische Strategien. Bei sprachlichen Strategien greift der Lerner entweder auf morphologische Wortbildungsregeln oder auf Transfer aus der L1 zurück, um Vokabellücken zu kompensieren (Poulisse 1990, S. 62). 11 Dörnyei (2001) zählt zu den Interaktionsstrategien außerdem: Bitten um Wiederholung, Bitten um Klarstellung, Bitten um Bestätigung, Nicht-Verstehen ausdrücken und interpretative Zusammenfassung. 12 Dieses Modell beinhaltet den so genannten conceptualizer, eine kognitive Komponente, der präverbale Nachrichten produziert. Diese werden weitergereicht zum formulator, der sprachlichen Komponente, der sie grammatisch und phonologisch enkodiert und Zugang zu einem Lexikon hat, das die lexikalischen Formen bereitstellt. Es gibt also eine klare Trennung zwischen konzeptuellen und sprachlichen Ebenen der Produktion. Poulisses Hypothese zufolge kompensiert der Sprecher den Abbruch des Produktionsprozesses, der mangels angemessener Formen im mentalen Lexikon auftritt, indem er zurück geht zur konzeptuellen Ebene oder indem er eine andere sprachliche Formulierung versucht. 62 <?page no="75"?> Poulisse merkt selbst an, dass sich auch in ihrem Modell Lerneräußerungen nicht immer nur einer der Kategorien zuordnen lassen 13 . Eine aktuelle Klassifizierung findet sich in Colombo (2005). Sie untersuchte - aufbauend auf Kasper (1982) und dem Modell von Færch und Kasper (1983, 1984) - Kommunikationsstrategien im geschriebenen und gesprochenen Deutsch italienischer Studierender. Hinsichtlich der formalen Reduktionsstrategien beschränkt sich Colombo jedoch fast ausschließlich auf die morphologische Ebene. Strategien der funktionalen Reduktion sowie Abrufsstrategien lässt sie gänzlich außer Acht. Beides liegt in ihrem Erhebungsdesign begründet. Kommunikationsstrategien stellen der Ansicht einiger Autoren zufolge kein Phänomen dar, dass sich auf Kommunikation von Lernern in der L2 beschränkt. Dies wird bspw. sowohl durch Poulisses als auch durch Kellermans Forschung, die sich beide jeweils mit dem Strategiegebrauch in der L1 und L2 beschäftigen, verdeutlicht (s. auch Corder 1983, S. 15; Tarone 1983, S. 65). Auch L1-Sprecher verwenden solche Strategien - allerdings in hohem Maße automatisiert; sie sind jedoch in weniger starkem Maße auf ihren Gebrauch angewiesen, da sie über ein größeres Wissen über die Sprache verfügen 14 . Das, was Sprechern Anlass zum Einsatz von (in der L2-Forschung am besten untersuchten) Kompensationsstrategien gibt, die Überwindung einer Äußerungsschwierigkeit, kommt bei L1-Sprechern naturgemäß seltener vor als bei L2-Sprechern bzw. -Lernern. Plausibel erscheint die Klassifizierung von Kommunikationsstrategien von Celce-Murcia, Dörnyei und Thurrell (1995) - auch wenn der Begriff der Sprachverwendungsstrategien m.E. aus den oben genannten Gründen angemessener ist. Die Autoren entwerfen in Anlehnung an Canale und Swain (1980) und Canale (1983) ein Modell der kommunikativen Kompetenz im L2-Unterricht. Neben Diskurs-, sprachlicher, Handlungs- und soziokultureller Kompetenz ist auch strategische Kompetenz Bestandteil dieses Modells. Dabei verstehen sie strategische Kompetenz „as knowlegde of com- 13 Da sich diese Unterscheidung zwischen konzeptuellen und sprachlichen Strategien nicht in den diesen Strategien zugrunde liegenden Prozessen wiederfanden, gab Poulisse diese Differenzierung einige Jahre später wieder auf (Poulisse 1993; für eine detaillierte Begründung s. S. 182/ 183). Anstelle dessen schlug sie drei verschiedene Typen von Kompensationsstrategien vor: Substitution Strategies, Substitution Plus Strategies und Reconceptualization Strategies. Bei Substitution Strategies wird das beabsichtigte Lexem durch ein anderes ersetzt, entweder durch ein verwandtes, zielsprachliches Zeichen oder durch das entsprechende L1-Zeichen. Substitution Plus Strategies implizieren zusätzlich eine morphologische und/ oder phonologische Veränderung. Bei Reconceptualization Strategies findet eine Veränderung der präverbalen Aussage statt, die mehr als ein einziges Lexem beinhaltet (z.B. Umschreibung des Wortes, das eigentlich ausgedrückt werden sollte). 14 Tarone vermutet, dass Kommunikationsstrategien in der L1 in erster Linie bei lexikalischen Einheiten eingesetzt werden, wohingegen sie in der L2 auch bei sytaktischen, morphologischen oder phonologischen Strukturen verwendet werden (1983, S. 66). 63 <?page no="76"?> munication strategies and how to use them“ (ebd., S. 26). Neben Strategien, die bereits in früheren Modellen als gängige Kommunikationsstrategien angesehen wurden, ordnen Celce-Murcia, Dörnyei und Thurrell auch Verzögerungs- und Überwachungsstrategien den Kommunikationsstrategien zu (s. Abb. 4). AVOIDANCE or REDUCTION STRATEGIES • Message replacement • Topic avoidance • Message abandonment ACHIEVEMENT or COMPENSATORY STRATEGIES • Circumlocution (e.g., the thing you open bottles with for corkscrew) • Approximation (e.g., fish for carp) • All-purpose words (e.g., thingy, thingamajig) • Non-linguistic means (mime, pointing, gestures, drawing pictures) • Restructuring (e.g., The bus was very... there -were a lot of people on it) • Word-coinage (e.g., vegetarianist) • Literal translation from LI • Foreignizing (e.g., LI word with L2 pronunciation) • Code switching to LI or L3 • Retrieval (e.g., bro... bron... bronze) STALLING or TIME-GAINING STRATEGIES • Fillers, hesitation devices and gambits (e.g., well, actually..., where was I? ) • Self and other-repetition SELF-MONITORING STRATEGIES • Self-initiated repair (e.g., / mean...) • Self-rephrasing (over-elaboration) (e.g., This is for students... pupils... when you're at school...) INTERACTIONAL STRATEGIES • Appeals for help • direct (e.g., What do you call...? ) • indirect (e.g., / don't know the word in English... or puzzled expression) • Meaning negotiation strategies Indicators of non/ mis-understanding • requests • repetition requests (e.g., Pardon? or Could you say that again please? ) • clarification requests (e.g.. What do you mean by...? ) • confirmation requests (e.g., Did you say...? ) • expressions of non-understanding • verbal (e.g., Sorry, I'm not sure I understand...) • non-verbal (raised eyebrows, blank look) interpretive summary (e.g., You mean...? / So what you're saying is...? ) 64 <?page no="77"?> 5.3 Eigenschaften eines „guten Fremdsprachenlerners“ Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Lernstrategien war zunächst die allgemeine Suche nach Eigenschaften, die einen „guten Fremdsprachenlerner“ („good language learner“) auszeichnen. Ziel war es, mit wachsendem Verständnis der Charakteristika, die den „guten Fremdsprachenlerner“ ausmachen, Lehrmethoden zu finden, mit Hilfe deren die Strategien erfolgreicher Lerner auch schwächeren Lernern vermittelt werden konnten. Die Eigenschaften, die im Laufe verschiedener Untersuchungen ermittelt wurden, umfassten nicht nur den Gebrauch von Lernstrategien, sondern ebenso Persönlichkeitsmerkmale, affektive Faktoren und z.T. auch den Lernstil (für eine detaillierte Beschreibung der Untersuchungen s. Mißler 1999, Kapitel 3.1 sowie für eine Zusammenfassung von Faktoren, die einen Einfluss auf die Verwendung von Lernstrategien haben Kapitel 3.6). Sehr häufig wurden dabei Fragebögen eingesetzt (Reiss 1981, 1985; Lalonde, Lee und Gardner 1987), aber auch Eigen- und Fremdbeobachtungen (Rubin 1975, Stern 1975), Interviews (Rubin 1975, Naiman et al. 1978, Vann und Abraham 1990) und auch Experimente mit lautem Denken (Vann und Abraham 1990). Die frühesten Untersuchungen hierzu stammen von Rubin (1975) und Stern (1975). Sie stellten z.T. unabhängig voneinander (sehr ähnliche) Listen mit einer Reihe von Eigenschaften eines „guten Fremsprachenlerners“ auf. Zu diesen Charakteristika gehören eine tolerante Einstellung gegenüber der Zielsprache und Empathie für deren Sprecher. Der gute Sprachlerner verfügt über eine hohe Motivation, einen starken Willen, in der Zielsprache zu kommunizieren und daraus zu lernen. Er geht aus sich heraus, ist aktiv, ergreift jede Gelegenheit, die Zielsprache zu üben und setzt sich mit der Lernaufgabe auseinander. Darüber hinaus entwickelt der gute Sprachlerner 65 Abb. 4: Komponenten strategischer Kompetenz aus: Celce-Murcia, Dörnyei und Thurrell 1995, S. 28 Responses • repetition, rephrasing, expansion, reduction, confirmation, rejection, repair Comprehension checks • whether the interlocutor can follow you (e.g., Am I making sense? ) • whether what you said was correct or grammatical (e.g., Can I/ you say that? ) • whether the interlocutor is listening (e.g., on the phone: Are you still there? ) • whether the interlocutor can hear you <?page no="78"?> ein Verständnis von der Zielsprache als Sprachsystem und als Mittel zur Kommunikation und Interaktion, und er überwacht die eigenen Äußerungen sowie die anderer Personen hinsichtlich Form und Inhalt. Diese Eigenschaften konnten in Folgeuntersuchungen teilweise bestätigt werden (vgl. z.B. Naiman et al. 1978, Reiss 1985, Dines und Nold 1992). Als das bedeutsamste Unterscheidungsmerkmal zwischen guten und weniger erfolgreichen Fremdsprachenlernern scheint sich vor allem die Fähigkeiten zum Monitoring herauszukristallisieren: Die Studien von Vann und Abraham (1990) und Reiss (1981) zeigten, dass die Schwäche weniger erfolgreicher Lerner im Fehlen metakognitiver Kompetenzen zu liegen scheint; bspw. konnten diese Lerner in ihren Untersuchungen Aufgabenanforderungen weniger gut analysieren und/ oder die Auswahl von Lernstrategien auf die spezielle Aufgabe abstimmen. Die Ergebnisse aus Vann und Abrahams Untersuchungen weisen außerdem darauf hin, dass die alten Annahmen, die guten Sprachlerner benutzten eine größere Vielfalt an Strategien (z.B. Wesche 1977) und die weniger erfolgreichen Lerner verhielten sich grundsätzlich passiv, so nicht zutreffen bzw. nicht zutreffen müssen. In ihrer Untersuchungen verfügten auch die schwächeren Sprachlerner über verschiedene Strategien. Sie waren jedoch nicht in der Lage, diese Strategien angemessen, d.h. auf die jeweilige Aufgabe abgestimmt, einzusetzen. Mißler (1999), die den Zusammenhang von Fremdsprachenlernerfahrung und dem Gebrauch von Lernstrategien untersuchte, stellt fest, dass sich zwischen guten Sprachlernern und erfahrenen Sprachlernern eine große Zahl an gemeinsamen Eigenschaften erkennen lassen: „Die guten/ erfahrenen Fremdsprachenlerner zeichnen sich im Gegensatz zu den schlechten/ unerfahrenen Fremdsprachenlernern dadurch aus, daß sie zum einen über ein großes Repertoire an Lernstrategien und zum anderen über metakognitive Kompetenzen zur Analyse der Aufgabenanforderungen sowie zur Abstimmung der Auswahl von Lernstrategien auf die spezielle Aufgabe verfügen. Gute und erfahrene Fremdsprachenlerner ähneln sich auch hinsichtlich ihrer hohen Motivation, ihrer Überwindung negativer Gefühle und ihrer Einstellungen gegenüber dem Fremdsprachenlernen.“ (Mißler 1999, S. 188) 5.4 Modelle zur Klassifizierung von Lernstrategien Besteht schon bei der Definition des Strategiebegriffs keine Einigkeit, so gibt es auch bei der Klassifizierung von Strategien sehr unterschiedliche Ansätze. Generell wurden in der Zweitsprachenerwerbsforschung lange eher äußere Faktoren wie Methoden und Lehrerverhalten erforscht als lernerspezifische Faktoren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückten jedoch lernerzentrierte Ansätze und damit auch die Untersuchung von Sprachlernstrategien zunehmend in den Vordergrund. Neben sehr positi- 66 <?page no="79"?> ven Einschätzungen der Rolle von Lernstrategien und Forderungen nach lernförderndem Strategietraining (vgl. z.B. O’Malley 1990) gibt es auch Stimmen, die einem Strategietraining vorsichtig/ kritisch gegenüberstehen (vgl. Hasselhorn 1992, Lehtinen 1992). Ansätze zur Erforschung von Lernstrategien haben sich seit Anfang der 1970er Jahre vor allem mit der Identifizierung und Klassifizierung von Lernstrategien, mit der Frage, welche Strategien besonders erfolgreich sind, und mit den Einflussfaktoren auf die Wahl von Strategien beschäftigt. An dieser Stelle sollen die wichtigsten Modelle der Klassifizierung von Lernstrategien in einer Darstellung der Historie beschrieben werden. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Forschung weit davon entfernt ist, sich an einem Ansatz zu orientieren. Es gibt diverse Klassifizierungen, die ihren Schwerpunkt jeweils auf unterschiedlichen Aspekten haben. Eine viel zitierte Einteilung von Strategieklassifizierungsansätzen ist die von Friedrich und Mandl (1992, S. 10). Sie unterscheiden - disziplinübergreifend - folgende Kategorien: • Primär- und Stützstrategien, • allgemeine und spezifische Lern- und Denkstrategien, • Beschreibung von Lern- und Denkstrategien nach ihrer Funktion für den Prozess der Informationsverarbeitung, • Mikro- und Makrostrategien. Strategieklassifizierungsansätze der L2-Forschung greifen z.T. auf diese Kategorien zurück. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen die wichtigsten dieser Ansätze kurz dargestellt werden. Sie lassen sich einteilen in Ansätze, die zwischen Strategien unterscheiden, die • als kognitiv oder metakognitiv klassifiziert werden, • als direkt oder indirekt bezeichnet werden, • sich auf verschiedene Sprachlernaktivitäten beziehen oder die • sich auf verschiedene Fertigkeiten beziehen 15 . 5.4.1 Unterscheidung zwischen kognitiven und metakognitiven Lernstrategien In den 1980er Jahren beschäftigten sich J. Michael O’Malley und Ana Uhl Chamot ausführlich mit Fragen der mentalen Repräsentation von (sprachlichem) Wissen, mit der Unterscheidung von deklarativem und pro- 15 Mißler (1999) kommt zu einer ähnlichen Einteilung der Klassifizierungsansätze. Sie beschreibt zusätzlich noch Ansätze, die Strategien nach ihren Funktionen für den Prozess der Informationsverarbeitung unterscheiden (Vertreter hierfür sind Weinstein und Mayer 1986) und solche, die nach verschiedenen Hierarchieebenen unterscheiden (Vertreter hierfür sind v.a. Oxford und Cohen 1992). Da erstere sich nicht unmittelbar mit der L2-Forschung beschäftigt haben, werden sie in der vorliegenden Arbeit nicht explizit aufgeführt. Der Ansatz von Oxford und Cohen ist kein echter Strategieklassifizierungsansatz, sondern eine Zuordnung von Taktiken zu Strategien. 67 <?page no="80"?> zeduralem Wissen und mit kognitiven Modellen des Wissenserwerbs und der Informationsverarbeitung. Diese Untersuchung ist eine der umfassendsten und empirisch am breitesten angelegten (vgl. auch Cook 1993, S. 113). Dieser Klassifizierungsansatz ist einer der wenigen, der Lernstrategien in einen theoretischen Hintergrund einbettet: O‘Malley und Chamot berufen sich auf kognitionspsychologische Paradigma der Informationsverarbeitung von Anderson (1976-1987). In Andersons Modell werden am Anfang benutzte Produktionsregeln umgewandelt in Wissen über Prozeduren. Grothjahn fasst die verschiedenen Stufen des Modells - die kognitive, die assoziative und die autonome Stufe - wie folgt zusammen (s. auch Raabe 2000, S. 180; O’Malley und Chamot 1990, S. 77ff.): „Auf einer ersten, kognitiven Stufe - von Anderson auch als deklarative oder interpretative Stufe bezeichnet - erfolgt eine Handlung auf der Grundlage von deklarativem Faktenwissen mit Hilfe allgemeiner Problemlösungsprozeduren. Die allgemeinen Problemlösungsprozeduren operieren interpretativ im Sinne eines Interpreter-Programms auf den deklarativen Wissensbeständen […]. Die Ausführung ist langsam, bewusst kontrolliert und zudem meist fehlerbehaftet. Nach Anderson ist das deklarative Wissen der kognitiven Phase bewusst(seinsfähig) und verbalisierbar. Auf der assoziativen Stufe wird der Vollzug der Handlung automatisiert und das zugrundeliegende Wissen durch wiederholte Nutzung immer stärker implizit, wobei allerdings deklaratives und prozedurales Wissen noch Seite an Seite existieren können. Auf der autonomen Stufe wird schließlich die der Handlung zugrunde liegende Fähigkeit zu einer automatisierten und in Bezug auf ein bestimmtes Handlungsziel optimierten Fertigkeit. Nach Dreyfus & Dreyfus (1986) zeichnen sich Experten in einem Fertigkeitsbereich dadurch aus, dass sie intuitiv und holistisch in einer Problemlösungssituation reagieren: Sie sehen die Situation und sehen gleichzeitig, was zu tun ist. Oft kann ein Experte keine Gründe für sein Handeln oder Urteilen angeben. Wenn er nach Begründungen gefragt wird, kann es deshalb geschehen, dass er Gründe erfindet.“ (Grotjahn 1997, S. 44; Hervorhebung im Original) Nach Anderson gilt die ACT*-Theorie auch für das Sprachlernen. L1- und L2-Lernen unterscheiden sich vor allem dadurch, „dass Muttersprachler üblicherweise das autonome Stadium des Fertigkeitserwerbs erreichen, während die Mehrzahl der Fremdsprachenlerner lediglich die assoziative Stufe erreicht“ (Grotjahn 1997, S. 47). Raabe stellt fest: „Innerhalb dieses Paradigmas ist es durchaus zutreffend, zu denken, dass Lernstrategien sehr wohl gewusst werden, also deklaratives Schemawissen darstellen, jedoch von den Lernenden nicht angewendet werden (können). Strategien werden nur durch Praktizieren Bestandteil prozeduralen Wissens und können erst dann, bildlich gesprochen, auf effiziente Weise ihre Arbeit aufnehmen.“ (Raabe 2000, S. 180) 68 <?page no="81"?> Strategien können also sowohl im deklarativen als auch im prozeduralen Wissen verankert sein, denn nach Anderson ist es gerade für die erste Stufe typisch, dass allgemeine Problemlösungsstrategien (wie analogische Inferenz, Vorwärtssuche usw.) „interpretativ auf deklaratives Wissen angewendet werden“ (Grotjahn 1997, S. 61). Eben erst erlernte oder entdeckte Strategien funktionieren also wahrscheinlich als deklaratives Wissen, wohingegen Strategien, die wiederholt benutzt worden sind, wahrscheinlich als prozedurales Wissen arbeiten (vgl. O’Malley und Chamot 1990, S. 87). O’Malley und Chamot führten verschiedene Studien zum Gebrauch von Lernstrategien beim L2-Lernen durch: In einer ersten Studie definierten und klassifizierten sie im Zweitspracherwerb benutzte Strategien von ESL 16 -Lernern mittels introspektiver Interviews, in einer zweiten die von Spanisch- und Russisch-Lernern mit Englisch als L1. In der nächsten Studie arbeiteten sie mit der Laut-Denk-Methode, um die Art und Weise der Strategieverwendung bei einer Hörverstehensaufgabe herauszufinden, und um online verwendete Strategien, die im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und hochgradig automatisiert und daher in retrospektiven Interviews nicht zugänglich sind, herauszufinden. Schließlich wurde in einer Langzeitstudie mit Sprachlernern des Spanischen und Russischen bei einer Hörverstehensaufgabe mittels Laut-Denk-Interviews die Entwicklung des Strategiegebrauchs untersucht. O’Malley und Chamot definieren Lernstrategien relativ allgemein als „the special thoughts or behaviors that individuals use to help them comprehend, learn, or retain new information“ (ebd., S. 1). Sie unterscheiden drei Arten von Lernstrategien: kognitive, metakognitive und sozial-affektive Strategien 17 . Kognitive Strategien Kognitive Strategien „operate directly on incoming information, manipulating it in ways that enhance learning. […] Cognitive strategies may be limited in application to the specific type of task in the learning activity“ (ebd., S. 44). O’Malley und Chamot identifizierten insgesamt 17 kognitive Strategien 18 : 16 ESL = English as a Second Language 17 Die Unterscheidung zwischen metakognitiven und kognitiven Strategien stammt ursprünglich von Brown und Palincsar (1982) aus der kognitiven Psychologie. 18 Die Mehrzahl dieser Strategien wurde im Rahmen einer Studie ermittelt, bei der die Zielsprache für die teilnehmenden Probanden Englisch war; die letzten drei mit „*“ markierten Strategien wurden - neben bereits identifizierten anderen kognitiven Strategien - in einer Studie mit Lernern erhoben, die als Muttersprache Englisch hatten und als Fremdsprache Spanisch oder Russisch in den USA lernten (vgl. S. 126). 69 <?page no="82"?> Metakognitive Strategien Metakognitive Strategien liegen dagegen auf einer höheren Hierarchieebene. Sie sind „higher order executive skills that may entail planning for, Learning Strategy Definition Resourcing Repetition Using target language reference materials such as dictionaries, encyclopedias, or textbooks Imitating a language model, including overt practice and silent rehearsal Grouping Deduction Imagery Auditory representation Classifying words, terminology, or concepts according to their attributes or meaning Applying rules to understand or produce the second language or making up rules based on language analysis Using visual images (either mental or actual) to understand or remember new information Planning back in one’s mind the sound of a word, phrase, or longer language sequence Keyword method Elaboration Transfer Inferencing Remembering a new word in the second language by: 1) identifying a familiar word in the first language that sounds like or otherwise resembles the new word, and 2) generating easily recalled images of some relationship with the first language homonym and the new word in the second language Relating new information to prior knowledge, relating different parts of new information to each other, or making meaningful personal associations with the new information Using previous linguistic knowledge or prior skills to assist comprehension or production Using available information to guess meanings of new items, predict outcomes, or fill in missing information Note taking Summarizing Recombination Translation Writing down key words and concepts in abbreviated verbal, graphic, or numerical form during a listening or reading activity Making a mental, oral, or written summary of new information gained through listening or reading Constructing a meaningful sentence or larger language sequence by combining known elements in a new way Using the first language as a base for understanding and/ or producing the second language Rehearsal* Substitution* Contextualisation* Rehearsing the language needed, with attention to meaning, for an oral or written task Using a replacement target language word or phrase when the intended word or phrase is not available Assisting comprehension or recall by placing a word or phrase in a meaningful language sequence or situational context 70 Tab. 3: Kognitive Strategien aus: O’Malley und Chamot 1990, S. 120 <?page no="83"?> monitoring, or evaluating the success of a learning activity“ (O’Malley und Chamot 1990, S. 44) 19 . Metakognitive Strategien sind also eher Strategien über Lernen, als Lernstrategien an sich. Sie betreffen die Ebene des Gebrauchs von kognitiven Prozessen und die Steuerung des Akts des Sprachenlernens durch übergeordnete Maßnahmen des Planens, Überwachens und Bewertens. O’Malley und Chamots Untersuchungen ergaben elf Strategien, die sie in die Kategorien Planung, Monitoring und Evaluation unterteilten 20 : 19 Die erste, die die Bedeutung metakognitiven Wissens beim L2-Lernen beschrieb, war Wenden (1982, 1986). Sie identifizierte fünf Bereiche metakognitiven Wissens: die Sprache, die Lernerfahrung, das Ergebnis der Bemühungen des Lerners, die Rolle des Lerners im Sprachlernprozess und den besten Zugang zu einer Sprachlernaufgabe (zitiert in Rubin 1987, S. 22). 20 Wie bei den kognitiven Strategien wurde die Mehrzahl dieser Strategien in der ESL- Studie ermittelt; die mit „*“ markierten Strategien wurden - neben bereits identifizierten anderen kognitiven Strategien - in der zweiten Studie mit Lernern des Spanischen und des Russischen erhoben (ebd., S. 126); die mit „**“ markierten Strategien wurden in einer Langzeitstudie mit den Probanden der zweiten Studie erhoben (ebd., S. 137/ 138). Learning Strategy Definition Planning advance organisers Previewing the main ideas and concepts of the material to be learned, often by skimming the text for the organizing principle directed attention functional planning selective attention self-management Deciding in advance to attend in general to a learning task and to ignore irrelevant distractors Planning for and rehearsing linguistic components necessary to carry out an upcoming language task Deciding in advance to attend to specific aspects of input, often by scanning for key words, concepts, and/ or linguistic markers Understanding the conditions that help one learn and arranging for the presence of those conditions organizational planning* delayed production* Monitoring self-monitoring Planning the parts, sequence, main ideas, or language functions to be expressed orally or in writing Consciously deciding to postpone speaking to learn initially through listening comprehension Checking one’s comprehension during listening or reading or checking the accuracy and/ or approprateness of one’s oral or written production while it is taking place Evaluation self-evaluation Checking the outcomes of one’s own language learning against a standard after it has been completed 71 <?page no="84"?> Sozial-affektive Strategien Sozial-affektive Strategien beziehen sich im Wesentlichen auf die Interaktion des Lerners mit anderen Lernenden oder muttersprachlichen Sprechern. Sie repräsentieren „a broad grouping that involves either interaction with another person or ideational control over affect“ (ebd., S. 44). Sozial-affektive Strategien nehmen wegen der kognitivistischen Ausrichtung in O’Malley und Chamots Klassifizierung nur wenig Raum ein. Es werden insgesamt vier Strategien benannt 21 : Leider ist die Darstellung der Strategieklassen nicht ganz gelungen: So ist es teilweise schwierig, den Strategien klare Beispiele zuzuordnen. Die Strategietypen werden zwar benannt, jedoch gibt es keine konkreten Lerneräußerungen, die die Strategien bzw. ihre Anwendung verdeutlichen würden. Auch die Vernachlässigung der sozial-affektiven Strategien wurde den Autoren öfter vorgeworfen. 21 Die ersten beiden Strategien wurden in der ESL-Studie ermittelt; die mit „*“ markierte Strategie war die einzige sozial-affektive Strategie, die in der zweiten Studie mit Lernern des Spanischen und des Russischen erhoben wurde (vgl. S. 126); die mit „**“ markierte Strategie wurden - neben allen drei anderen sozial-affektiven Strategien - in der Langzeitstudie ermittelt (vgl. S. 139). Learning Strategy question for clarification cooperation Definition Eliciting from a teacher or peer additional explanations, rephrasing, examples, or verification Working together with one or more peers to solve a problem, pool information, check a learning task, model a language activity, or get feedback on oral or written performance self-talk* self-reinforcement** Reducing anxiety by using mental techniques that make one feel competent to do the learning task Providing personal motivation by arranging rewards for oneself when a language learning acitivity has been successfully completed Tab. 5: Sozial-affektive Strategien aus: O’Malley und Chamot 1990, S. 120 72 Tab. 4: Metakognitive Strategien aus: O’Malley und Chamot 1990, S. 120 language repertoire evaluation** problem identification** Judging how much one knows of the L2, at the word, phrase, sentence, or concept level Explicitly identifying the central point needing resolution in a task or identifying an aspect of the task that hinders its successful completion <?page no="85"?> Problematisch ist weiterhin der theoretische Hintergrund, auf den sich O’Malley und Chamot beziehen: die ACT*-Theorie von Anderson. Verschiedene Autoren werfen der Theorie behavioristische Züge vor: „‚Originally inspired by S-R association principles, this theory currently is based on productions (condition-action pairs). Even today, however, it retains such S-R constructs as ‚strength‘, ‚spreading activation‘, and ‚probability‘‘ [Scandura/ Scandura (1988), 374ff.]. Auch Glaser (1990) betont, daß die Instruktionsstrategien in Andersons ACT* stark an Skinnersche Prinzipien erinnern. Die enge Beobachtung des Lernenden durch den Tutor, das unmittelbare Feedback und andere Strategien des Systems seien fast identisch mit behavioristischen Prinzipien des Programmierten Lernens. Andersons LISP-Tutor [Anderson/ Reiser (1985)], eine praktische Umsetzung seiner Theorie, sind entsprechende Kritiken entgegengebracht worden“ (Schulmeister 2002, S. 119; s. auch S. 213). Grotjahn stellt die Gültigkeit von Andersons Theorie für das Lernen von Sprache in Frage: „Andersons Modell des Fertigkeitserwerbs als ein Fortschreiten von einem kognitiven zu einem autonomen Stadium trifft möglicherweise auf bestimmte Formen des unterrichtlichen Fremdsprachenlernens weitgehend zu […]. Ich halte das Modell allerdings für nur sehr bedingt adäquat in Bezug auf den nicht durch Unterricht gesteuerten Zweitsprachenerwerb und für inadäquat in Bezug auf den Erwerb der Muttersprache.“ (Grotjahn 1997, S. 47) Außerdem bemängelt Grotjahn, dass das Modell die Rolle des deklarativen Vorwissens beim Fertigkeitserwerb nicht hinreichend berücksichtige, und dass es nicht genügend zwischen Wissen und Verarbeitung unterscheide; das Modell erkläre nur unzureichend, wie Wissensstrukturen mit unterschiedlicher Transparenz entstünden und welche Rolle diese beim Sprachlernen und Sprachgebrauch spielten (Grotjahn 1997, S. 48, Fußnote 24). „So ist es z.B. durchaus denkbar, dass bei einem längeren Auslandsaufenthalt die Geläufigkeit in der Muttersprache leidet, ohne dass sich die Repräsentation und das Ausmaß an Transparenz des zugrundeliegenden Wiessens grundsätzlich ändert (die entsprechende Struktur wird bei nachlassender Automatisierung nicht auch gleichzeitig ‚explizit‘). Weiterhin können z.B. in einem auf ‚consciousnessraising‘ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht selbst die hochautomatisierten Fertigkeiten eines Lerners gleichzeitig noch deklarativ repräsentiert sein […].“ (ebd.) Aus einer konstruktivistischen Perspektive erscheint das Konstrukt von Anderson m.E. nicht sinnvoll: In diesem Paradigma wird jegliches Wissen vom Individuum konstruiert und in Prozessen und Netzwerken organisiert, selbst einfache Fakten. Eine Trennung von deklarativem und prozeduralem Wissen ist demnach hinfällig. Auf diesem Hintergrund scheint es fast ein Vorteil, dass sich die ACT*- Theorie in O‘Malley und Chamot‘s Klassifizierungsansatz nicht wiederfindet: Die Autoren leiten aus diesem theoretischen Hintergrund keine weitere Klassifizierung der Strategien ab. 73 <?page no="86"?> 5.4.2 Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Lernstrategien Wohl die erste, die zwischen direkten und indirekten Sprachlernstrategien unterschied, war Joan Rubin (1981, 1987). Sie identifizierte sechs übergeordnete Strategiegruppen kognitiver und metakognitiver Lernstrategien, „which may contribute directly to language learning“ (Rubin 1987, S. 23): Clarification/ verification: Diese Kategorie umfasst solche Strategien, die Lerner benutzen, um ihr Verständnis von der Zielsprache abzusichern. Guessing/ inductive inferencing: Mit Hilfe von Strategien diesen Typs wird vorhandenes sprachliches oder konzeptuelles Wissen genutzt, um Hypothesen über sprachliche Formen, Bedeutungen oder Intentionen des Sprechers zu bilden. Deductive reasoning: Diese Strategie ist eine Problemlösungsstrategie, bei der der Lerner nach allgemeinen Regeln sucht und diese beim Umgang mit der Zielsprache anwendet. „The difference between inductive and deductive reasoning is that in inductive reasoning the learner is looking for a specific meaning or specific rule whereas in deductive reasoning the learner is looking for and using more general rules.“ (Rubin 1987, S. 24) Practice: Diese Kategorie umfasst Strategien, die zur Speicherung und zum Abrufen von Sprache beitragen, während sich der Lerner auf den korrekten sprachlichen Ausdruck konzentriert. Memorization: Strategien dieses Typs beziehen sich ebenso auf die Speicherung und das Abrufen von sprachlichen Elementen; im Gegensatz zu Strategien der Kategorie Practice liegt hierbei jedoch die Aufmerksamkeit des Lerners auf eben der Speicherung und dem Abrufen, und nicht auf dem Sprachgebrauch. Ziel dieser Strategie ist die Organisation sprachlicher Einheiten. Monitoring: Diese Kategorie bezieht sich auf Strategien, bei denen der Lerner einen Fehler bemerkt, sieht, wie die Nachricht vom Adressaten aufgenommen und interpretiert wird, und sich dann entscheidet, was er tun möchte. Der Monitoring-Prozess beinhaltet in erster Linie metakognitive Strategien, aber auch kognitive Strategien wie ein Problem identifizieren, sich für eine Lösung entscheiden und eine Korrektur vornehmen. Zu den Strategien, die indirekt zum Lernen beitragen, zählte Rubin soziale Strategien und Kommunikationsstrategien, bspw. das Schaffen einer Gelegenheit, die Sprache zu üben und den Gebrauch von „production tricks“ (Rubin, 1987, S. 20). Weitere umfangreiche Arbeiten sowie eine mittlerweile verbreitete Strategie-Kategorisierung, die auf einer obersten Ebene direkte und indirekte Strategien unterscheidet, stammen von Rebecca Oxford (z.B. 1990, 1996). Sie vertritt eine sehr weit gefasste Lesart des Strategiebegriffs und definiert 74 <?page no="87"?> Lernstrategien grundsätzlich als „steps taken by students to enhance their own learning“ (Oxford 1990, S. 1): „Learning strategies are operations employed by the learner to aid the acquisition, storage, retrieval, and use of information. This definition, while helpful, does not fully convey the excitement or richness of learning strategies. It is useful to expand this definition by saying that learning strategies are specific actions taken by the learner to make learning easier, faster, more enjoyable, more self-directed, more effective, and more transferrable to new situations.“ (Oxford 1990, S. 8) Oxford unterscheidet in einem ersten Schritt zwischen zwei Klassen von Strategien: den der Bewältigung bestimmter Aufgaben unmittelbar in der fremden Sprache dienenden direkten Strategien und den indirekten Strategien, welche sich mit Art und Weise des Lernens befassen und indirekt dazu beitragen, Voraussetzungen für effektives Lernen zu schaffen. Die indirekten Strategien haben eher eine lernorganisatorische Funktion. Zu den direkten Strategien zählen gedächtnisstützende Strategien, kognitive bzw. Sprachverarbeitungsstrategien und Kompensationsstrategien. Unter die indirekten Strategien fallen metakognitive Strategien, affektive Strategien und soziale Strategien. Jede dieser sechs Gruppen besteht aus weiteren Kategorien, 19 sogenannten Sets, die wiederum einzelne Strategien enthalten (s. Abb. 5). In Oxfords Klassifizierung der Lernstrategien finden sich auch solche Strategien, die in anderen Klassifizierungsansätzen als Kommunikationsstrategien bezeichnet werden. Dies ist auf Oxfords Auffassung zurückzuführen, dass zum einen häufig die Intention des Lerners beim Einsatz von Strategien und damit deren Einordnung schwer zu bestimmen sei. Zum anderen würde auch durch Kommunikation häufig gelernt, und somit sei eine kategorische Trennung zwischen Lernen und Kommunikation nicht sinnvoll (Oxford 1990, S. 243). Strategien, auf die dies zutrifft, und die der Kompensation eines Defizits dienen, werden in der Gruppe „Kompensationsstrategien“ zusammengefasst. 75 <?page no="88"?> Diese Auffassung bietet denn auch Anlass zur Kritik: Raabe merkt an, dass ein Teil der Kompensationsstrategien von Oxford „nicht a priori als Lernstrategien zu interpretieren“ sind (Raabe 2000, S. 184). Ein weiterer Kritikpunkt besteht m.E. in Oxfords Zuordnung von einzelnen Strategien zu den von ihr aufgestellten Kategorien: So findet sich in der von Oxford erstellten Taxonomie die Kategorie der „kognitiven Strategien“; jedoch wurden Strategien von ihr anderen Kategorien zugeteilt, die heuristische Operationen darstellen und durchaus als „kognitiv“ anzusehen sind. Dies trifft z.B. auf die Gedächtnisstrategie „Creating mental linkages“ zu, die das Bilden von Analogien und damit eine kognitive Operation beinhaltet; ebenso Abb. 5: Strategiesystem nach Oxford: zwei Klassen, sechs Gruppen und 19 Sets aus: Oxford 1990, S. 17 76 <?page no="89"?> auf die Kompensationsstrategie „Guessing intelligently“, die das Schlussfolgern und das Erschließen von Bedeutungen umfasst 22 . In gewissem Sinne findet hier also die Vermischung zweier Ebenen statt: die der kognitiven Operationen als solcher mit der des Zwecks bzw. des Ziels einer Strategie (hier: Memorierung bzw. Kompensation). Auch die große Anzahl an Strategien in Oxfords Klassifizierung wurde kritisiert: O’Malley und Chamot werfen ihr vor, dass sie anscheinend versucht habe, jede in der Literatur erwähnte Strategie in ihrem Modell zu subsumieren (O’Malley und Chamot 1990, S. 103). Ferner bemängeln sie, dass der Klassifizierung keine Theorie zugrunde liege. Letztlich trifft dies auf O’Malley und Chamots Modell jedoch ebenso so zu: Auch wenn sie die grundsätzliche Unterscheidung in kognitive und metakognitive Strategien auf dem Hintergrund des kognitionspsychologischen Paradigmas der Informationsverarbeitung vollziehen, sind die von ihnen genannten Strategien doch nicht aus theoretischen Überlegungen abgeleitet, sondern wurden in verschiedenen empirischen Untersuchungen erhoben. Ein Unterschied zu Rubins Klassifizierung besteht in der Zuordnung von einzelnen Strategien bzw. Strategiegruppen zu den Begriffen „direkt“ und „indirekt“: „Während Rubin (1981, 1987) sowohl kognitive als auch metakognitive Strategien als ‚direkt‘ begreift und sozialen Strategien und Kommunikationsstrategien das Attribut ‚indirekt‘ zuweist, fallen bei Oxford (1990a) kognitive und kompensatorische (inkl. kommunikative) Strategien in die Gruppe der direkten Strategien, metakognitive und soziale Strategien hingegen in die Kategorie der indirekten Strategien.“ (Mißler 1999, S. 131) 5.4.3 Unterscheidung von Strategien, die sich auf verschiedene Sprachlernaktivitäten beziehen Wolff spricht von Sprachverarbeitungsstrategien als dem zentralen Bestandteil der strategischen Ausstattung von Lernern im prozeduralen Wissensbereich. Erst solche Strategien ermöglichen den Einstieg in den fremdsprachlichen Lernprozess, denn Lernstrategien können erst dann greifen, wenn Sprache zuvor verarbeitet worden ist (Raabe 2000, S. 185). Wolff (1997) begreift „Lernstrategie“ als psychologisches und als didaktisches Konzept. Er definiert Strategien wie folgt: „Lernstrategien sind strategische Verhaltensweisen, die der Lernende u.a. beim Gebrauch und beim Erwerb der fremden Sprache einsetzt. Als komplexe Pläne steuern sie sowohl das Verhalten des Lernenden beim Lernen und in der Interaktion mit anderen, als operationalisierte Fertigkeiten steuern sie den Erwerb sprachlicher Mittel und die Verarbeitung anderer nichtsprachlicher Informationen.“ 22 Vgl. hierzu auch die Kritik von Grotjahn 1997, S. 53. 77 <?page no="90"?> Auf dieser Grundlage bildet Wolff sechs Strategieklassen (Wolff 1997, 1998, 2002): Fertigkeitsbezogene Strategien: Zu dieser Klasse rechnet Wolff „vor allem die Sprachverarbeitungsstrategien, d.h. Strategien, die Sprachbenutzer und Sprachlerner bei der produktiven und rezeptiven Verarbeitung von Sprache einsetzen“ (Wolff 1997). Diese Strategien differenziert Wolff weiter in Strategien der Bereitstellung von Inhalten, Erschließungsstrategien, Verarbeitungsstrategien sowie Überarbeitungsstrategien. Sie sind für den Muttersprachler und für den Zweitsprachenlerner identisch. Die in der L1 erworbenen Strategien sind dem Lerner jedoch häufig nicht bewusst; daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie von ihm spontan auf die Fremdsprache übertragen werden. Auf die fremdsprachliche Kommunikation bezogene Strategien: Strategien dieser Art werden vom Lerner eingesetzt, „wenn er bei der Interaktion mit Sprechern der neuen Sprache auf Schwierigkeiten stößt“ (Wolff 1997). Diese Klasse umfasst die Untergruppen Vermeidungsstrategien, Paraphrasierungsstrategien, Transferstrategien, Bitten um Hilfestellung sowie Mimik und Gestik. Auf den Erwerb sprachlicher Mittel bezogene Strategien: Diese Klasse umfasst die „eigentlichen Lernstrategien“, „d.h. bewußt oder potentiell bewußte kognitive Operationen, die dazu beitragen, daß der Sprachlerner das neue Sprachsystem, dem er ausgesetzt ist, angemessen aufbauen kann. Zu den Strategien, die in der Forschung herausgearbeitet wurden, gehören z.B. das Memorieren von Sprachmustern und sprachlichen Elementen, das Generalisieren von Regeln, das Erschließen von Bedeutungen, das Analysieren von vorher unanalysierten Strukturen, das Simplifizieren von Strukturen, der Transfer von muttersprachlichen Strukturen“ (Wolff 1997). Auf die Sprachreflexion bezogene Strategien: Diese Klasse enthält Strategien, die vom Lerner beim bewussten Reflektieren über Sprachstrukturen und Funktionen verwendet werden. Sie beinhaltet Strategien des Segmentierens, des Klassifizieren sowie des Generalisierens, die dem Lerner Einblick in die neue Sprache verschaffen. Auf das Lernen bezogene Strategien: In dieser Klasse werden metakognitive Lernstrategien zusammengefasst. Als Beispiele hierfür nennt Wolff in Anlehnung an Ellis (1995) „Strategien wie self-management (Lernbedingungen erkennen, analysieren und für den konkreten Lernprozeß verwenden), directed attention (sich nur der Lernaufgabe zuwenden und alle Distraktoren ausklammern) und self-evaluation (die Ergebnisse des eigenen Lernprozesses überprüfen und bewerten)“ (Wolff 1997). Soziale Strategien: Solche Strategien sind darauf ausgerichtet, Möglichkeiten zur Sprachverwendung und zur Übung des Gelernten wahrzunehmen (Wolff 1998). 78 <?page no="91"?> „Mit meinem Klassifikationsraster versuche ich deutlich zu machen, dass Lernprozesse in der zweiten Sprache in hohem Maße auf den produktiven und rezeptiven Fähigkeiten des Lerners beruhen, die die Fähigkeit zur Interaktion mit Muttersprachlern einschließen.“ (Wolff 2002, S. 318) Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass Wolff keine vollständige und detaillierte Zuordnung einzelner Strategien zu diesen Klassen vornimmt. Er benennt lediglich Beispiele und übergeordnete Strategiegruppen. 5.4.4 Unterscheidung von fertigkeitsbezogenen Strategien 5.4.4.1 Unterscheidung von Strategien für verschiedene Sprachfertigkeiten Ein fertigkeitsbezogenes Modell entwickelt Rampillon (1985). Sie klassifiziert Lernstrategien 23 nach ihrer Beteiligung bei den sprachlichen Teilkompetenzen Schreiben, Sprechen, Lesen, Hören, Grammatik und Wortschatz. Darüber hinaus differenziert sie jeweils zwischen solchen Strategien, die den Lernprozess vorbereiten und solchen, die den Lernprozess steuern (s. Tab. 6). Rampillon geht davon aus, dass für die Teilkompetenzen jeweils bestimmte Lernstrategien relevant sind, dass eine Strategie jedoch durchaus bei verschiedenen Kompetenzen beteiligt sein kann: „Die Zuordnung der einzelnen Lerntechniken zu den verschiedenen Teilkompetenzen bedeutet jedoch nicht, daß diese Lerntechniken ausschließlich in diesem Zusammenhang angewandt werden können. Das mehrfache Auftreten des gleichen Lernverfahrens bei verschiedenen Kenntnissen und Fertigkeiten, [sic] ist sehr gut möglich. Außerdem ist zu vermerken, daß nicht immer alle genannten Lerntechniken angewandt werden müssen, um erfolgreich zu lernen. Es geht vielmehr darum, daß der Schüler die für ihn persönlich geeigneten und wirksamen Verfahren kennt und anwendet.“ (Rampillon 1985, S. 26) Rampillons Modell hat insofern eine didaktische Dimension, als es direkt auf die Vermittlung der präsentierten Strategien an Schüler ausgerichtet ist. Dies wird auch dadurch deutlich, dass Rampillon die für den Einsatz der Lernstrategien relevanten Voraussetzungen beim Schüler festhält. 23 Rampillon selbst verwendet durchgehend den Begriff „Lerntechnik“ anstelle von „Lernstrategie“. 79 <?page no="92"?> sprachliche Teilkompetenzen Lerntechniken, die den Lernprozeß vorbereiten Lerntechniken, die den Lernprozeß steuern Voraussetzungen beim Schüler Wortschatz Erschließen der Bedeutung mit Hilfe der Muttersprache Vokabelheft/ Vokabelkartei führen Vokabelwissen aufbauen Alphabet Lautschrift der Zielsprache weiterer Fremdsprachen Fehlerstatistik führen Übungen durchführen internationaler Fremdwörter des Kontextes - Reihengliederung - Klassifizierung Aufgabenformen Sozialformen Classroom Phrases Grammatik Benutzung eines Wörterbuches - Ablaufgliederung - Assoziationsübung grammatisches Nachschlagewerk kennen Aufbau der eigenen Grammatik kennen Herleiten von Grammatikregeln Regelwissen aufbauen Hören Stichwortverzeichnis benutzen Visualisierungstechniken kennen Grammatikheft führen Präsentationstechniken Segmentieren Führen einer Fehlerstatistik note-making practice Alphabet grammatische Terminologie Aufgabenformen Sozialformen Classroom Phrases englische Strukturwörter u.ä. Wortgruppen kennen sequentielles Kombinieren erschließendes Hören pre-questions / information search note-taking practice Lesen skimming scanning Auswendiglernen Systematisieren des Textes search-reading - SQ3R Methode Benutzung von Nachschlagewerken note-making Aufgabenformen Sozialformen Classroom Phrases Alphabet Nachschlagewerke kennen Aufgabenformen Sozialformen - Murder Schema erschlließendes Lesen pre-questions note-taking Sprechen Auswendiglernen - Vor-sich-hin-sprechen note-making - Nachsprechen - Mitsprechen Classroom Phrases Bedienung eines Kassettenrekorders Aufgabenformen Sozialformen Classroom Phrases read & look up overlearning stiller Monolog - Lokalisierungsmethode 80 <?page no="93"?> 5.4.4.2 Unterscheidung von Strategien unterschiedlich komplexen sprachlichen Handelns Zwar auch ein im weiteren Sinne fertigkeitsbezogenes Modell wählt Wendt (1997) - allerdings auf der Grundlage eines gänzlich anderen Ansatzes. Er betrachtet Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Rahmens und entwickelt auf dem Hintergrund der Bloomschen Taxonomie kognitiver Lernziele ein Modell von Hierarchieebenen, innerhalb derer er Strategien ansiedelt. Als Hierarchisierungskriterium dient die zur jeweils höheren Ebene hin zunehmende Bewusstheit. Wendt ordnet die Lernziele den Ebenen der Sprachrezeption und der Sprachproduktion zu und fügt den Bloomschen Lernzielen die Komplexitätsstufe „verändern“ hinzu. Demzufolge begreift Wendt Strategieebenen als „unterschiedlich komplexe kognitive Handlungsstrukturen, denen Formen rezeptiven oder produktiven sprachlichen Handelns zugeordnet werden können“ (Wendt 1997, S. 81). Dabei schließt jede Ebene die jeweils unteren mit ein. Das Hierarchisierungskriterium der zunehmenden Bewusstheit versteht Wendt dahingehend, dass die Stufen des Modells im Prinzip ein Kontinuum darstellen. Daraus folgert er, dass Zwischenebenen nicht ausgeschlossen sind. Ebenen der Sprachrezeption „kognitive Universalien“ Ebenen der Sprachproduktion EVALUATION ANALYSE autonomer Transfer multipler Transfer SYNTHESE VERÄNDERN VERSTEHEN WIEDERERKENNEN einfacher Transfer Wissen ANWENDEN REPRODUZIEREN Tab. 7: Strategieebenen-Modell aus: Wendt 1997, S. 81 81 Schreiben backward build up technique - Vorstellungsbilder Nachschlagewerke benutzen Abschreiben note-making Aufgabenformen note-taking: schnelles Notieren proof reading Fehlerstatistik führen - Abkürzungen - Zeichen und Symbole Wörterbuch benutzen grammatisches Nachschlagewerk benutzen Outlining Sozialformen Classroom Phrases Tab. 6: Lerntechniken und sprachliche Teilkompetenzen aus: Rampillon 1985, S. 26/ 27 <?page no="94"?> Wendt führt weiterhin aus, dass sich Strategien anhand ihres „Wirkungsbereiches“ unterscheiden lassen: Allgemeine Strategien lassen sich demnach „auf allgemeine inhaltliche Bereiche (z.B. Spanischunterricht, Grammatik, Lektüre) sowie auf generalisierbare Handlungsformen (z.B. ‚Texte VERSTEHEN’, ‚Regeln ANWENDEN’) und daher auch auf die affektive und die physische Dimension in einem übergreifenden Sinne beziehen“ (Wendt 1997, S. 82). Während also allgemeine Strategien gleichsam „Muster geistiger oder materieller Handlungen“ (ebd.) darstellen, strukturieren spezifische Strategien konkrete Handlungen, die mit sehr bestimmten Inhalten, Mitteln oder Wissensbeständen verbunden sind (z.B. ‚einen bestimmten Text VERSTEHEN’, ‚eine bestimmte Regel ANWENDEN’). Diese Handlungen können einmalig oder wiederholt, geistig oder materiell sein. Der Vorteil an Wendts Modell ist, dass es sich auf einen vergleichsweise gut abgesicherten theoretischen Hintergrund bezieht. Des Weiteren lässt sich aus diesem Modell eine Typologisierung von Lernaktivitäten und Lernprozessen beim L2-Lernen ableiten 24 . Es erlaubt also, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Lerngeschehen und den von den Lernenden tatsächlich benutzten Strategien fremdsprachlichen Handelns herzustellen und hat dementsprechend eine potenziell hohe Praxisrelevanz. Auch Wendts Modell ist jedoch den kognitiven Aspekten des Lernens sehr verpflichtet. Mit der Wahl des kognitiven Teils von Blooms Taxonomie blendet er die ebenso von Bloom formulierten affektiven Lernziele und psychomotorischen Lernziele aus 25 . Da jedoch auch beim L2-Lernen bspw. motivationale Faktoren oder die Einstellung des Lerners, aber auch artikulatorische Aspekte eine große Rolle spielen, scheint es sinnvoll zu erwägen, inwiefern auch diese beiden Klassen von Lernzielen in Wendts Modell integrierbar wären. 5.5 Einflussfaktoren auf die Verwendung von Lernstrategien Die Ergebnisse bisher durchgeführter Untersuchungen zu Sprachlernstrategien sind kaum vergleichbar, da ganz unterschiedliche Lernbedingungen und -gruppen, Definitionen, Forschungs- und Klassifizierungsmethoden verwendet wurden. Eine vergleichsweise pessimistische Sicht nahm Skehan 1989 ein; er sah die Lernstrategieforschung noch in den Kinderschu- 24 Wendt selbst leitet bspw. eine Übungstypologie für den Spanischunterricht aus seinem Strategieebenen-Modell ab (Wendt 1997). 25 Die affektiven Lernziele sind 1. aufmerksam werden, beachten, 2. reagieren, 3. werten, 4. strukturierter Aufbau eines Wertsystems, 5. erfüllt sein durch einen Wert oder einer Wertstruktur; die psychomotorischen Lernziele sind 1. Imitation, 2. Manipulation, 3. Präzision, 4. Handlungsgliederung, 5. Naturalisierung. 82 <?page no="95"?> hen und stufte Lernstrategien lediglich als einen Faktor unter sehr vielen ein: „We can only claim to have scratched the surface so far and will need to study a range of different strategies under a range of different learning conditions before we can offer any serious generalizations about trainability in this area.“ (Skehan 1989, S. 95) Mittlerweile gibt es eine Reihe von Untersuchungen der Faktoren, die die Strategiewahl qualitativ und quantitativ beeinflussen. Raabe skizziert einige der Faktoren, die die Strategiewahl qualitativ und quantitativ beeinflussen (vgl. Raabe 2000, S. 185/ 186). Er kategorisiert in der Literatur beschriebene Aspekte in individuelle, situationelle sowie soziale und kulturelle Faktoren 26 . Zu den individuellen Faktoren zählt Raabe das Selbstbildnis des Lerners (wer den Lernaspekt für wichtig hält, setzt eher kognitive Strategien ein; wer die Sprachbenutzung für wichtig erachtet, setzt eher Kommunikationsstrategien ein), das Alter des Lerners (jüngere Lerner verwenden aufgabenspezifische, einfacherer Strategien; ältere dagegen allgemeinere, komplexere Strategien), das Vorwissen wie z.B. die Sprachlernerfahrung, den Lerntyp, die Motivation, Lernziele und den Persönlichkeitstyp (z.B. extrovertierte vs. introvertierte Lerner). Die situationellen Faktoren umfassen nach Raabe die Zielsprache, den Lernort und die gestellte Aufgabe. Unter soziale und kulturelle Faktoren schließlich fallen die Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, soziokulturellen und sozioökonomischen Gruppen sowie das Geschlecht. Eine sehr ausführliche Zusammenfassung von Einflussfaktoren sowie von Forschungsergebnissen zu diesem Thema bietet Mißler (1999, Kapitel 3.6). Sie führt die von Raabe beschriebenen Faktoren weiter aus, kommt jedoch zu einer anderen Kategorisierung: Sie unterscheidet • demographische Variablen (Alter, Geschlecht und kultureller Hintergrund), 26 Eine Zusammenstellung von Studien in verschiedenen Ländern findet sich in Oxford (1996). Hier wird aufgezeigt, dass der kulturelle Hintergrund zum einen die Strategieauswahl beeinflusst. Bspw. verwenden japanische Lerner des Englischen in erster Linie analytische Strategien, die auf Präzision und Akkuratheit abzielen; sie arbeiten bevorzugt allein und fällen Urteile eher aufgrund von Logik als von persönlichen Interaktionen. Hispanos hingegen tendieren dazu, lieber in Kooperation mit anderen zu arbeiten, aus dem Kontext zu erschließen und Details zu vermeiden. Lerner aus Arabisch sprechenden Ländern wiederum bevorzugen vor allem Memorierungsstrategien, setzen aber auch auf soziale Lernstrategien. Zum anderen ist der kulturelle Hintergrund aber auch bei möglichen Arten der Erhebung von Strategien sowie bei deren Vermittlung zu berücksichtigen (S. xii). 83 <?page no="96"?> • Persönlichkeitsvariablen 27 , • kognitive Variablen (Intelligenz/ akademische Leistungsstärke sowie die Begabung, Fremdsprachen zu lernen), • motivationale Variablen, • affektive Variablen (Gefühle und Einstellungen gegenüber sich selbst, der Lernumgebung etc.), • Merkmale der Lernsituation. Vorwissen und Vorerfahrungen rechnet Mißler den kognitiven Variablen zu, merkt aber an, dass diese auch affektive Komponenten beinhalten (Mißler 1999, S. 156). Es bleibt festzustellen, dass der Gebrauch von Strategien nicht nur von einer oder wenigen Variablen abhängig ist, sondern dass Lernstrategien in ein komplexes Geflecht von Einflussfaktoren eingebettet sind. Mißler stellt fest: „Aufgrund der Interaktion von Lernerpräferenzen (sowie weiterer Faktoren) mit dem Einsatz bestimmter Strategien ist auch in Zukunft nicht davon auszugehen, daß sich hinsichtlich der Effektivität von Strategien allgemeingültige Listen mit Rangfolgen erstellen lassen.“ (Mißler 1999, S. 134). Neben dem offensichtlichen Einfluss von Aufgaben auf die Strategiewahl (eine rezeptive Aufgabe erfordert z.B. den Einsatz anderer Strategien als eine produktive) gibt es eine Reihe von anderen Aspekten, die es beim Strategietraining zu berücksichtigen gilt. 5.6 Strategietraining „Lernen wir besser, wenn wir wissen, welches die Regeln sind, nach denen wir lernen und denken sollten? (M.a.W.: Lernen wir besser, wenn wir wissen, wie wir besser lernen? ) ‚Unter Umständen ja‘, heisst [sic] hier die Antwort. Zwar nützt die Vermittlung von theoretischem Wissen darüber, wie man lernt oder Probleme löst, wenig, es sei denn, dieses Wissen werde gewonnen aus vielfältigen und leibhaftigen Erfahrungen und Reflexionen eigenen Lernens, Denkens und Problemlösens. Insbesondere für Lehrende in ihrem Verständnis als Lernhilfe-Experten ist es wichtig, dass sie nicht nur ihre eigenen habituellen Lerngewohnheiten und Funktionsweisen beim Lernen reflektieren, sondern generell eine Prozessvorstellung davon entwickeln, wie es beim Lernen zugeht (Aebli, 1987): was gelingende und misslingende Lernprozesse auszeichnet, welches ihre realen und idealen Bedingungen und Verläufe sind und wie man sie subtil und individuell anleitet, 27 Unter dieser Kategorie fasst Mißler einerseits Aspekte wie Extraversion vs. Introversion und Risikobereitschaft; andererseits führt sie an dieser Stelle aber auch viele Aspekte auf, die typischerweise (Lern-) Stil-Dimensionen darstellen und die nicht den Persönlichkeitsvariablen zuzurechnen sind. Beispiele hierfür sind analytische vs. globale Informationsverarbeitung, Feldunabhängigkeit vs. Feldabhängigkeit, enge vs. breite Kategorisierung, serielle vs. parallele Informationsverarbeitung. 84 <?page no="97"?> stützt und kontrolliert. Dass dies nicht vor allem verbal, sondern durch Methoden der Selbsterfahrung und der Reflexion, zum Beispiel durch Nachdenken über die eigene Lernbiographie oder durch das Führen von Lerntagebüchern geschehen kann, zeigen mittlerweile mehrere Arbeiten […].“ (Reusser 1995, S. 174; Hervorhebung im Original) 5.6.1 Begründungszusammenhänge für ein Training von Lernstrategien Die Anforderungen, die der schnelle Wandel in der modernen Informationsgesellschaft zunehmend an den Lernprozess stellt, machen ein gezieltes Training von Lernstrategien notwendig und sinnvoll (Tönshoff 1997, S. 205; s. auch Wolff 1997). Der Umgang mit der sich stetig verändernden Technik, die in das Alltagsleben eingreift, die umfassende Präsenz der Medien und die damit auf Individuen einströmende Informationsflut sowie ein in vielen Bereichen eingefordertes hohes Maß an Flexiblität macht ein lebenslanges Lernen notwendig, einen Prozess, der durch den geübten Umgang mit Lernstrategien wesentlich erleichtert werden kann. Lernfähigkeit stellt heutzutage eine „zentrale extrafunktionale Qualifikation in allen Lebensbereichen“ dar (Tönshoff 1997, S. 205). Demzufolge darf sich Unterricht nicht nur auf Inhalte richten, sondern muss helfen, ein Instrumentarium von Zugriffs- und Verfügungsmöglichkeiten zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung aufzubauen, das auch auf andere Bereiche übertragen werden kann 28 . Im Kontext des Fremdsprachenlernens spielt das Strategietraining seit einiger Zeit im Zusammenhang mit autonomem Lernen eine Rolle (vgl. hierzu Wenden 1991, 1987a, b; Tönshoff 1997). Zum einen wird eine stärkere Selbststeuerung und Eigenverantwortlichkeit des Lerners im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts angestrebt. Die Lerner sollen in die Lage versetzt werden, eine eigene Auswahl der für das eigene Lernen angemessenen Stra- 28 Weinert (1994) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in der Psychologie zeitweise gleichsam eine „Pervertierung des ursprünglichen Lernbegriffs“ stattfand (Weinert 1994, S. 196). Darunter versteht er, dass teilweise gar nicht mehr das Lernen als solches i.S.v. „inhaltsspezifische[m] Erwerb und [der] sinnhafte[n] mentale[n] Repräsentation der Fakten, Konzepte, Relationen und Regeln bestimmter Realitätsausschnitte“ (ebd.) im Mittelpunkt stand, sondern dass vielmehr das Lernen Lernen übermäßig ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt war. Weinert wendet sich gegen die von ihm beobachtete Tendenz zu der Annahme, dass „die Lerninhalte, das heißt der Erwerb von bereichsspezifischem Wissen und Können im Vergleich zur Einübung möglichst allgemeiner Lernstrategien, unwichtig seien. Das ist ein Trugschluß und eine Illusion gleichermaßen“ (ebd.). Weinert selbst erkennt zwar die Bedeutung von Lernstrategien an, betrachtet jedoch Wissen als „die wichtigste Bedingung für künftiges Lernen innerhalb der gleichen Inhaltsdomäne. […] Im allgemeinen gilt: je inhaltlich anspruchsvoller eine neue Lernaufgabe ist, desto wichtiger und unersetzbarer sind Quantität und Qualität des Vorwissens“ (ebd., S. 197). 85 <?page no="98"?> tegien zu treffen. Zum anderen sollen Lerner aber auch zum Weiterlernen außerhalb des Klassenraums ohne Lehreranweisung oder didaktische Aufbereitung befähigt werden. In diesem Sinne wird Strategietraining als „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden. Nach Raabe stellt für die Anbahnung selbständigen Lernens das konstruktivistische Lernen den Königsweg dar: „Ich lerne, indem ich mich mit dem Lerngegenstand auseinandersetze“ (Raabe 2000, S. 177). Das konstruktivistische Konzept, nach dem Wissen erst durch interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten entsteht, betont als Gegenposition zum Objektivismus die subjektive Interpretation und Konstruktion. Hierbei sind Sinneswahrnehmungen keine objektiven Abbilder, sondern individuelle Konstruktionen. Die eigentliche Wahrnehmung findet nicht in den Sinnesorganen statt, sondern erst als Ergebnis kognitiver Prozesse in den Hirnarealen. In Abgrenzung zum Kognitivismus wird eine Wechselwirkung zwischen der externen Präsentation und dem internen Verarbeitungsprozess betont. Vorwissen der Lernenden ist von entscheidender Bedeutung. Neues Wissen wird immer in Bezug darauf konstruiert. Lernen ist also aktive Wissenskonstruktion in Verbindung mit bereits bestehendem Vorwissen. Es entwickelt sich aus Handeln, Handeln vollzieht sich in sozialen Situationen, Denken und Kognition sind demzufolge situativ. Auf dem Hintergrund des konstruktivistischen Ansatzes wird also Lernerautonomie nicht nur durch gesellschaftliche Anforderungen wie der souveräne Umgang mit großen, sich schnell verändernden Informationsmengen zur Schlüsselqualifikation. Auch aus lerntheoretischer Sicht ist Lernerautonomie eine Notwendigkeit (vgl. Wolff 1997) 29 . Nach dem konstruktivistischen Paradigma ist Lernen individuell - der jeweilige Lernweg nicht vorhersehbar. Wissen ist hier durch Lehrende prinzipiell nicht vermittelbar. Die Lehrenden begleiten die Lernenden nur durch Hilfestellung, Hinweise, Rückmeldung etc., um selbständig Wissen zu konstruieren (coaching). In einem solchen Ansatz hat der Einsatz von Lernstrategien eine legitime Position: Gerade weil Lernen ein sehr individueller Prozess ist, müssen Lerner befähigt werden, mit Hilfe von Strategien als Werkzeugen zum Wissenserwerb umzugehen und diese angemessen und flexibel einzusetzen. In Ansätzen wie denen der Cognitive Apprenticeship oder des Goal-Based-Learning stehen nicht umsonst die Vermittlung von Problemlösefähigkeit in Real-Life-Situationen und die zu berücksichtigende Individualität des Lerners im Vordergrund. In verschiedenen Untersuchungen wurde jedoch deutlich, dass für die Umsetzung des autonomen Lernens in eine vorgegebene Lernumgebung immer auch der kulturelle Kontext berücksichtigt werden muss. So untersuchte z.B. Chang (2002) taiwanesische Lerner des Deutschen im Hinblick 29 Wolff (2006) spricht von einem „Wandel vom Instruktivismus zum Konstruktivismus“. 86 <?page no="99"?> auf autonomes Lernen. Ihre Studie ergab, „dass das allgemeine Konzept des autonomen Lernens den jeweiligen kulturspezifischen Bedingungen in einem Prozess der gegenseitigen Annäherung angepasst werden muss. Dies gilt z.B. auch für das Lernverhalten der Studierenden in Taiwan, das stark vom früheren Prüfungssystem und durch den lehrerzentrierten Unterricht geprägt ist. Es wurde deutlich, dass die Frage, inwieweit Lehrer und Lerner im Rahmen der kulturellen Gegebenheiten und Prüfungsbedingungen gemeinsam einen Weg finden können, nicht theoretisch beantwortet werden kann, sondern sich durch die Praxis entscheiden wird. Dass dies kein schneller und einfacher Weg sein wird, haben die bisherigen Versuche gezeigt“ (Chang 2002, S. 108). In Unterrichtssituationen, in denen traditionell der Lehrer im Mittelpunkt steht und das Geschehen steuert, ist es demnach schwer, den Fokus vom Lehrer auf den Lerner zu verschieben. Für den Präsenzunterricht vollzieht sich mittlerweile eine Orientierung hin zum Unterrichtsziel des selbständigen Erwerbens unter Einbezug des Language Awareness-Konzepts (vgl. hierzu Rampillon 1997). Language Awareness „is a person’s sensitivity to and conscious of the nature of language and of its role in human life“ (James und Garrett 1991, S. 4; zitiert in Rampillon 1997, S. 173). Das Konzept bezieht sich auf das Nachdenken über Sprache und auf die Fähigkeit, sich darüber in einer Metasprache auszudrücken (Rampillon 1997, S. 174). Außerdem wird darunter das Wissen über zielgerichtete sprachliche Prozesse verstanden und die Bewusstheit darüber, wie Sprache und soziale Macht einander beeinflussen können. Wie Wolff und auch Hecht und Green betonen, unterscheidet sich also Sprachbewusstheit („Language Awareness“) von konkreter Sprachbetrachtung im Grammatikunterricht („looking at language“) (zitiert in Rampillon 1997, S. 174/ 175). Teil des Language Awareness-Konzepts können Lern- und auch Kommunikationsstrategien sein, so dass der Lerner über die Sprachbewusstheit zur Lernerautononomie geführt wird. Denn soll ein Lerner in einer nur in Teilen beherrschten Sprache kommunizieren, so muss er befähigt werden, seine sprachlichen Lücken zu überwinden und im Laufe der Zeit zu schließen. Die Thematisierung von Kommunikations- und Lernstrategien im Unterricht legitimiert sich also als Teil des Lernziels „Kommunikationsfähigkeit“ (vgl. Tönshoff 1997, S. 206). Bewusstmachende Vermittlungsverfahren und damit auch Lernstrategietraining jedenfalls haben nach Tönshoff im Fremdsprachenunterricht durchaus ihre möglichen Einsatzfelder: Als solche Vermittlungsverfahren sieht er die „unterrichtlichen Handlungsschritte des Lehrenden“ an, „die mit der Intention durchgeführt werden, kognitives Lernen gezielt zu fördern“ (Tönshoff 1997, S. 203). Sie stehen im Gegensatz zu rein mechanischem oder imitativem Lernen und werden begriffen als „einsichtiges, sinnvolles Lernen unter Beteiligung des bewusst gliedernden und beziehungsstiftenden Verstandes“ (Butzkamm 1977, zitiert in Tönshoff, S. 203). Mögli- 87 <?page no="100"?> che Einsatzfelder für kognitivierende Vermittlungsverfahren sind nach Tönshoff sprachbezogene Kognitivierung, Landeskunde sowie die Arbeit mit literarischen Texten (z.B. Grundschemata, Strukturelemente bestimmter Textsorten). Auch in der Unterrichtsmethodik können sich solche Verfahren widerspiegeln, z.B. in der Transparentmachung vermittlungsmethodischer Entscheidungen (Tönshoff 1997, S. 203/ 204). Wenden zeigt auf, dass das Konzept der Lernerautonomie in der entwicklungspsychologischen Theorie Piagets verankert werden kann: Die Ergebnisse ihrer Lerner-Befragungen zum Strategiegebrauch zeigten, dass „language learners do think about the nature of the process (of language learning) and are able to articulate some of these beliefs. The Piagetian view of the three types of self-regulation in learning provides insight into the significance of this ablity. […] there are three primary types of self-regulation - autonomous, active, and conscious regulation“ (Wenden 1987a, S. 112). Einer Phase des unanalysierten, ausschließlich zielorientierten Lernens folgt demnach eine Phase, in der Lerner von der konkreten Situation zu abstrahieren versuchen und nach allgemeineren Regeln suchen. In diesem zweiten Stadium bildet sich eine Bewusstheit bzgl. der eigenen Handlungen und Vorgehensweisen aus sowie bzgl. der „Notwendigkeit, Wissen zu systematisieren, zu konsolidieren und zu generalisieren“ (Wenden 1987a, S. 112). In eben dieser Phase greift das Konzept der Language Awareness, indem Lerner u.a. auf bestimmte Strategien aufmerksam gemacht werden können, bevor das dritte Stadium der bewussten Regulierung und Kontrolle von Lernprozessen erreicht wird. Ziel ist also die Hinführung zu Reflexionen über die Fremdsprache, das Lösen vom reinen Regellernen und die Ermutigung der Schüler zu eigenen Hypothesen. Über die Sprachbewusstheit soll der Lerner zur eigenen Lern- Autonomie geführt werden. Rampillon zeigt drei fachdidaktische Felder der Fremdsprachedidaktik auf, in denen Language Awareness zum Tragen kommen kann: Linguistic awareness sprachliche Kenntnisse Communicative awareness sprachliche Fertigkeiten Wissen über Funktionsweisen von Sprache: • Kommunikationsstrategien • Strategien der Körpersprache • Diskursstrategien • Dominanzstrategien und die Fertigkeit, diese Strategien zu deuten bzw. selber anzuwenden 88 <?page no="101"?> Diese Bewusstheitsbereiche stehen gleichgewichtig nebeneinander. Im Lernprozess und in der Anwendung der Sprache ist die Trennung der Bewusstheitsfelder jedoch aufgehoben. Ziel ist es also nicht, schwachen Lerner eine Liste solcher Strategie zu vermitteln, die von erfolgreichen Lernern verwendet werden. Vielmehr sollen die Lerner dazu befähigt werden, Strategien der Aufgabe, aber auch ihrer Persönlichkeit und ihrem Lernstil angemessen einzusetzen (Oxford 1996, S. 228). Mißler stellt zusammenfassend fest, dass die erfolgreiche Vermittlung von Lernstrategien zur Folge hat, dass • die Lerner zunehmend selbständiger und mündiger sowie unabhängig von ihren Lehrern werden, • die Lerner auf lebenslanges Lernen vorbereitet werden, • der Lernprozess individualisiert wird, • sich die Selbstschemata der Lerner positiv verändern, • es zu einer Motivationssteigerung bei den Lernern kommt, • die Informationsverarbeitung der Lerner effizienter wird und sie komplexe und differenzierte kognitive Schemata herausbilden, • Leistungsschwächen der Lerner abgebaut werden und Leistungsstress und ‚Sprachlernangst’ reduziert werden (Mißler 1999, S. 146). 5.6.2 Argumente gegen ein Training von Lernstrategien Das Training von Lernstrategien wird jedoch nicht nur positiv bewertet (vgl. z.B. Tönshoff 1997; Rampillon 1997; Wenden 1991, 1987). Ein gewichtiges Argument ist, dass die Strategieforschung noch in den Kinderschuhen stecke und sowohl das Zusammenwirken zwischen einzelnen Strategien als auch der Zusammenhang zwischen Strategiegebrauch und anderen Faktoren bei Weitem nicht ausreichend untersucht seien; auch die Effektivität 89 Tab. 8: Language Awareness in den fachdidaktischen Feldern der Fremdsprachendidaktik aus: Rampillon 1997, S. 176 Learning awareness Wissen über Lern-, Denk- und Problemlöseprozesse und die Fertigkeit, diese Strategien zu deuten bzw. anzuwenden: • Stützstrategien (haben vor allem motivationale und dienende Funktion) • Primärstrategien (tragen dazu bei, dass sprachliche Kenntnisse und Fertigkeiten (wieder-) erkannt, erinnert, reaktiviert und transferiert werden können) • Instruktionsstrategien (Bewusstmachung, welche Lernschritte auf welche Weise und zu welchem Zweck und Ziel ablaufen; induktives (entdeckendes) Lernen gut: weckt Neugier und Entdeckerfreude und ermutigen zum selbständigen und kreativen Umgang mit der Sprache) <?page no="102"?> von Training sei nicht überzeugend nachgewiesen. Ferner gebe es kaum Materialien (z.B. Wenden 1987b, S. 159; O’Malley und Chamot 1990, S. 157). Ein weiteres Problem liege in der zeitlichen Dimension: Ein Teil der Unterrichtszeit müsse für das Strategietraining „geopfert“ werden und stehe nicht mehr für Fachinhalte zur Verfügung (Raabe 2000, S. 175). Eine große Schwierigkeit schließlich liege in den unterschiedlichen Vorkenntnissen der Lerner: Diese hätten bereits Strategien erworben und wüssten mit diesen umzugehen, so dass die Umstellung auf eine neue Strategie nicht helfe oder sogar eher schade (Klauer 1991, S. 9). Der Konflikt zwischen eigenen und neu erlernten Strategien könne beim Lerner sogar lernhemmend wirken (Friedrich und Mandl 1992, S. 40). Die Unterscheidung von Trainingsmaßnahmen kann jedoch dazu beitragen, solche kontraproduktiven Misserfolge zu vermeiden. 5.6.3 Dimensionen zur Unterscheidung von Trainingsmaßnahmen Tönshoff zufolge kann man Trainingsmaßnahmen hinsichtlich einiger zentraler Merkmalsdimensionen unterscheiden (Tönshoff 1997, S. 206/ 207). Zum einen müssen die Trainingsgegenstände ausgewählt werden. So muss z.B. die Frage geklärt werden, ob neben kognitiven auch metakognitive Strategien trainiert werden sollen. Auch die Gewichtung zwischen Lern- und Kommunikationsstrategien fließt in diese Überlegungen ein. Zum anderen unterscheidet Tönshoff zwischen separatem vs. integriertem Training: Soll das Training inhaltlich und organisatorisch vom normalen Unterricht getrennt mit dem Fokus auf den Strategien selber ablaufen, wobei die Anwendung im vertrauten Unterrichtskontext nicht Bestandteil des Trainingsprogramms ist? Oder soll es eine möglichst enge Verbindung zwischen der Vermittlung und den Inhalten und Arbeitsformen des jeweiligen Unterrichts geben? O’Malley und Chamot differenzieren ebenfalls zwischen separater und integrierter Instruktion. Sie gehen zwar auf der einen Seite davon aus, dass bei gleichzeitigem Lernen von Strategien und Inhalten die Gefahr einer Überlastung für den Lerner gegeben ist. Für separates Training spräche außerdem, dass Strategien ohnehin oft generalisierbar und ihre Anwendung nicht an spezielle Inhalte gebunden sei. Dennoch sprechen sich O’Malley und Chamot für ein integriertes Strategietraining aus: Strategielernen im Kontext sei effektiver, da die Anwendbarkeit von Strategien klarer werde. Außerdem erleichtere ein integriertes Training den Strategie-Transfer auf ähnliche Aufgaben (O’Malley und Chamot 1990, S. 184; ähnlich auch Oxford 1990, S. 202/ 203). Oxford unterscheidet bei der integrierten Form von Strategietraining noch hinsichtlich der Dauer von Trainingsmaßnahmen: Training, bei dem eine oder mehrere Strategien sowie ihre Anwendung nur einmal oder in einigen wenigen Unterrichtsstunden behandelt würden, sei bei solchen Ler- 90 <?page no="103"?> nern sinnvoll, „who have a need for particular, identifiable, and very targeted strategies that can be taught in one or just a few session(s). An example is in the teaching of certain memory strategies without integrating them into a more prolonged strategy training approach“ (Oxford 1990, S. 203). Diesem kurzzeitigen, einmaligen Unterricht stehe das Langzeitstrategietraining (Long-Term Strategy Training) gegenüber. Dieses sei i.d.R. effektiver als das kurze Training (ebd.). Bei der Frage nach Kontextualisierung von Strategietraining bewegt man sich also auf einem schmalen Pfad, auf dem es zwischen mehreren Faktoren abzuwägen gilt: Einerseits wird gemeinhin davon ausgegangen, dass Lernen im Kontext erfolgreicher ist als isoliertes Lernen - was für ein integriertes Training spricht (ebenso wie der Zeitfaktor, der in jedem institutionellen Unterricht eine Rolle spielt). Andererseits hält integriertes Training Lerner nicht unbedingt dazu an, Strategien auf andere Aufgaben oder Probleme zu transferieren und fördert daher ihre Lernerautonomie nicht, da die Anwendung von Strategien in erster Linie vom Lehrer initiiert und gesteuert wird (Wenden 1987b, S. 161/ 162). Auch Befunde aus der allgemeinen Psychologie und Erziehungswissenschaft sprechen dafür, dass die Kombination aus der Vermittlung von Lerninhalten und -strategien der erfolgversprechendste Weg ist: „Begreift man Lernen lernen als den Erwerb unterschiedlich allgemeiner Regeln und Routinen des Lernens und Denkens, die in enger Verbindung mit inhaltsspezifischem Wissen erworben, eingeübt und genutzt werden, so ist dies nicht nur eine mögliche, sondern auch eine effektive Strategie zur Verbesserung der kognitiven Kompetenzen für die Lösung verwandter Aufgabenklassen.“ (Weinert 1994, S. 187). Unterschieden wird weiterhin zwischen verschiedenen Explizitheitsgraden der Instruktion (z.B. Tönshoff 1997, S. 206-208; Wenden 1987b, S. 159- 162): Neben „blindem Training“ (imbedded instruction), bei dem nur die Aufgabenstellung einen Hinweis auf einzusetzende Strategien gibt, jedoch keine weitere Reflexion stattfindet, und „informativem Training“, wobei Zweck und Ziel der Strategie, ihre Wirkung und Einsatzmöglichkeiten bekannt sind, gibt es das so genannte „selbstkontrollierte Training“: Hier erstreckt sich die Bewusstmachung auch auf die metakognitive Steuerung und Kontrolle von Strategien, und es findet eine Reflexion über Strategietransfer statt (direct instruction). Diesen Aspekt des Strategietrainings betont Oxford: Es sei nicht ausreichend, bei den Lernern ein Bewusstsein für Strategiegebrauch zu schaffen, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken und ihnen den bewussten Einsatz zu vermitteln. Eine wichtige Rolle spiele die Kontrolle, die Lerner in die Lage versetze, den Erfolg einer eingesetzten Strategie zu bewerten und Strategien auf andere Situationen übertragen zu können (Oxford 1996b, S. 236). Evaluation und Transfer stellen demnach entscheidende Kompetenzen dar. 91 <?page no="104"?> Studien zeigen, dass blindes, „eingebettetes“ Training nicht sehr effektiv ist: Da die Lerner sich der Strategien und ihres Einsatzes nicht bewusst sind, können sie den Strategiegebrauch nicht auf andere Aufgaben transferieren und auch deren Effektivität nicht selbst einschätzen (vgl. Wenden 1987b, S. 160). Demzufolge können sie keine wirklich autonomen Lerner sein. Die meisten Wissenschaftler sprechen sich daher hinsichtlich des Strategietrainings für direkte Instruktion aus (vgl. zusammenfassend O’Malley und Chamot 1990, S. 154, auch S. 184). 5.6.4 Modell für Trainingssequenzen und Formen der Kognitivierung bei der Strategievermittlung Tönshoff fasst den Vergleich vorhandener Modelle für Trainingssequenzen zusammen (Tönshoff 1997, S. 207/ 208): Existierende Trainingsmodelle, die sich auf das Fremdsprachenlernen beziehen, seien integrierte Trainingsprogramme hohen Explizitheitsgrads, so z.B. Wenden (1991), das Modell für Strategietraining „CALLA“ 30 von O’Malley und Chamot (1990) und das von Oxford (1990). Laut Tönshoff gibt es bei der Abfolge von einzelnen Umsetzungsschritten ein Grundmuster mit vier zentralen Komponenten (Tönshoff 1997, S. 208): • die Identifikation und gemeinsame Diskussion der von den Lernern gewohnheitsmäßig eingesetzten Strategien • die explizite Präsentation der Trainingsgegenstände • die Strategieerprobung im Rahmen unterrichtlicher Übungsprozesse • die Evaluation der Trainingsaktivitäten Tönshoff befasst sich außerdem mit einer weiteren Facette des Strategietrainings, mit Formen der Kognitivierung bei der Strategievermittlung (Tönshoff 1997, S. 209-212). Als Grundlage für kognitivierende Strategievermittlungsverfahren empfiehlt sich demnach die eben erwähnte Identifikation vorhandener - auch muttersprachlicher - Strategien wie z.B. Lesestrategien, einerseits zur „Diagnostik“ für die Lehrperson, andererseits zur Sensibilisierung der Lerner für das Thema. Tönshoff gibt aber auch zu, dass für die unterrichtliche Situation zeitlich ökonomische Erhebungsmethoden gewählt werden müssen: „Für den schulischen Fremdsprachenunterricht ist zu vermuten, dass der Einsatz von Einzelinterviews und introspektiven Verfahren wegen ihres beträchtlichen Zeitaufwandes und der Qualifikationsvoraussetzungen nur ,exemplarisch‘ und primär in bewusstmachender Funktion sinnvoll sein dürfte. Für eine alle Schüler abdeckende diagnostische Erfassung von Strategien(teil)repertoires erscheinen hingegen vor allem solche Instrumente geeignet, die von den Mitgliedern der 30 CALLA = Cognitive Academic Language Learning Approach 92 <?page no="105"?> Lernergruppe zeitlich parallel bearbeitet werden können und auch leichter auszuwerten sind (also z.B. Lernerfragebögen).“ (Tönshoff 1997, S. 209) Als kognitivierende Strategievermittlungsverfahren können unter anderem verbal-metasprachliche Lehrererklärungen dienen, wobei die Art einer Strategie, das Ziel bzw. ihr Zweck, ihre Anwendung, ihr Einsatz und die Messung ihres Erfolges zur Sprache kommen sollten. Lehrererklärungen dürften jedoch nicht das einzige Mittel zur Strategievermittlung sein. Vielmehr sei „auch in anderen Trainingsphasen Raum für bewusstmachende Verfahren“ und „eine intensive Verzahnung unterrichtlicher Reflexion mit Gelegenheiten zur Strategieanwendung“ erforderlich (Tönshoff 1997, S. 211). Dazu eigneten sich besonders Diskussionen im Anschluss an das gezielte Üben von Strategien, Feedback der Lehrperson bzgl. des strategischen Probehandelns, Gruppen- oder Partnerarbeit zum Zweck wiederholender Erklärungen und Strategiedemonstrationen oder auch Feedback durch die Lerner selber 31 . 5.6.5 Effektivität von Strategien und Strategietraining Zu der Frage, welche Sprachlernstrategien an sich besonders erfolgreich sind, gibt es einige Untersuchungen. Ein direkter Vergleich der Ergebnisse ist jedoch bedingt durch die unterschiedlichen Erhebungsdesigns, Strategiedefinitionen und Klassifizierungskritierien so gut wie unmöglich. Rubin untersuchte zu Beginn der 1970er Jahre als erste die Merkmale, die den „Good Language Learner“ kennzeichnen (Rubin 1975). Ihre Studien erbrachten relativ allgemeine Ergebnisse: Demnach bringen sich erfolgreiche Lerner selbst aktiv in den Sprachlernprozess ein, indem sie bevorzugte Lernumgebungen identifizieren und suchen. Sie entwickeln ein Bewusstsein von Sprache als System sowie als Kommunikations- und Interaktionsmittel. Gute Lerner akzeptieren und bewältigen affektive Anforderungen der L2, und sie erweitern und revidieren das L2-System durch Schlussfolgern und Monitoring. Cohen und Aphek untersuchten Strategien zum Vokabellernen. Sie erhoben die Assoziationen, die Lerner beim Lernen von Vokabellisten machten, und die Häufigkeit, mit der die Lerner außerhalb des Unterrichts auf die Vokabeln stießen (Cohen und Aphek 1981, zitiert in O’Malley und Chamot 1990, S. 107). Die Studie ergab, dass die Lerner, die gezielt Assoziationen verwendeten, sich die Vokabeln häufiger merken konnten als die Lerner, die dies nicht taten. Die Assoziationen bestanden dabei meist in semantischen und phonetischen Ähnlichkeiten zwischen Wörtern der L1 und der Zielsprache, oder in Ähnlichkeiten zwischen Vokabeln und Eigennamen, 31 Für eine Darstellung konkreter Übungen für Strategietraining bspw. für jugendliche Lerner des Französischen, Deutschen oder Spanischen s. Grenfell und Harris (1999), des Englischen Oxford 1990 und Chamot et al. (1999). 93 <?page no="106"?> Zeichen oder Bildern. Das außerunterrichtliche Vorkommen von Vokabeln spielte jedoch keine Rolle beim Lernerfolg. Bialystok untersuchte erwachsene und jugendliche Lerner des Französischen hinsichtlich der Effektivität ihres Strategiegebrauchs bei der zielsprachlichen Kommunikation. Sie gruppierte die von ihr identifizierten Strategien in L1- und L2-basierte Strategien und fand heraus, dass die L2basierten Strategien am effektivsten zu wirken schienen. In ihrer Untersuchung zeigte sich die funktionale Beschreibung eines Begriffs, für den das zielsprachliche Wort unbekannt war, am effektivsten (Bialystok 1983, S. 112/ 113). Darüber hinaus stellte Bialystok bgzl. der Effektivität eine Korrelation zwischen den auszudrückenden zielsprachlichen Items und dem Grad der Fortgeschrittenheit der Lerner fest (Bialystok 1983, S. 114). Politzer und McGroarty konzentrierten sich auf die Verbindung von Strategiegebrauch und Sprachlernen (Politzer und McGroarty 1985, zitiert in O’Malley und Chamot 1990, S. 108/ 109). Sie stellten fest, dass gute Verhaltensweisen in Abhängigkeit von verschiedenen Fähigkeitstypen unterschiedlich angemessen sein können. Ihre Untersuchungen ergaben, dass sich Lernstrategiegebrauch beim Grammatiklernen von dem bei rezeptiver und produktiver Kompetenz unterscheiden: Sie erhoben „gutes Lernverhalten“ per Fragebogen und korrelierten die Ergebnisse mit Lernerleistungen in einem achtwöchigen Englisch-Kurs. Die von ihnen untersuchten Bereiche waren Hörverstehen, Grammatik und mündliche kommunikative Kompetenz, und zwar im Unterricht, beim individuellen Arbeiten und außerhalb des Klassenraums. Als eine erfolgreiche Strategie erwies sich das Stellen von Fragen sowohl beim Hörverstehen als auch bei der außerunterrichtlichen Kommunikation. Beim Hörverstehen wurde außerdem das innerliche Wiederholen korrekter Formen von Lehreräußerungen positiv bewertet. Bei grammatischem Wissen stand dagegen am häufigsten mit dem Gebrauch von Vokabelkarten in Verbindung und mit dem Üben von Wörtern oder Konstruktionen, die im Unterricht nicht verstanden wurden. Eine weitere Studie von Padron und Waxman untersucht den Zusammenhang von Strategiegebrauch und Leseverstehen (Padron und Waxman 1988, zitiert in O’Malley und Chamot 1990, S. 109/ 110). Sie erhoben sowohl positive, lernfördernde Strategien als auch negative, lernhemmende Strategien. Ihr Test ergab, dass zwei der negativen Strategien stark mit Erfolg bzw. Misserfolg im Leseverstehen korrelierten: An etwas anderes zu denken, während man liest, und das grundlegende Thema ständig zu wiederholen, hatte eine sehr negative Auswirkung auf den Erfolg der Lerner. Die positiven Strategien schien in dieser Studie in keinem Zusammenhang mit dem Lernen zu stehen. O’Malley und Chamot führen dies darauf zurück, dass die Lerner möglicherweise mit dem Strategiekonzept nicht gut vertraut waren. Krapp stellt hinsichtlich der Inkonsistenz der Befunde über die generelle Wirkungsweise von (allgemeinen) Lernstrategien fest, dass ein Grund dafür 94 <?page no="107"?> sei, dass eine verfügbare, d.h. vom Lerner im Prinzip gekonnte Lernstrategie nicht in jedem Fall eingesetzt werde. „Aus empirischen Untersuchungen ist bekannt, daß der Einsatz von Lernstrategien u.a. von folgenden Faktoren abhängt: a) Wissen über den Nutzen bestimmter Lernstrategien (Paris & Cross, 1983; Nolen, 1988). b) Selbstvertrauen, d.h. die Selbstwahrnehmung eigener Fähigkeit bzw. Einschätzung der individuellen ‚Selbstwirksamkeit‘ (self-efficacy; Pintrich & Schrauben, 1992; Zimmerman & Martinez-Pons, 1992). c) Interesse am Lerninhalt (Wild, Krapp & Winteler, 1992). d) Art der motivationalen Orientierung (z.B. intrinsische vs. extrinsische Zielorientierung; vgl. Nolen, 1988; Lepper, 1988). e) Wahrnehmunng und Einschätzung der Anforderungen in der aktuellen Lernumgebung (Entwistle et al., 1993; Biggs, 1993).“ (Krapp 1993, S. 302) Aus der Vielzahl an motivationalen Komponenten zieht Krapp den Schluss, dass mit einer längerfristigen Verbesserung von Lernstrategien nur dann gerechnet werden könne, wenn in der Interventions- oder Trainingsphase auch die emotional-motivationalen Faktoren der Strategienutzung berücksichtigt würden (ebd., S. 304). Zur Effektivität von Strategietraining gibt es bisher noch weniger Untersuchungen als zur Effektivität von Strategien an sich. Die Ergebnisse erster empirischer Studien zeigen, dass das strategische Verhalten von Fremdsprachenlernern in verschiedenen Fertigkeitsbereichen durch gezieltes Training verändert werden kann. Der Erfolg hängt demnach ab von der Aufgabe, deren Schwierigkeitsgrad und dem Ausmaß, indem der Transfer von Strategien unterstützt wurde (O’Malley und Chamot 1990, S. 225). Lerner, die an Strategietrainingsmaßnahmen teilgenommen hatten, zeigten im Allgemeinen bessere Leistungen als Lernen ohne Training, jedoch nicht bei jeder Fertigkeit. Es finden sich Wirksamkeitsunterschiede in Abhängigkeit vom Trainingskonzept: Die höchsten Effekte, auch hinsichtlich der Dauerhaftigkeit des Trainingserfolgs und der Transferierbarkeit, erziele man bei hohem Explizitheitsgrad des Trainings durch den Einsatz kognitivierender Vermittlungsverfahren und eine Integration von metakognitiven Strategien (Tönshoff 1997, S. 209). O’Malley und Chamot fassen eine Reihe von Studien zusammen, die einen Zusammenhang zwischen Strategiegebrauch und Lernergebnissen belegen (O’Malley und Chamot 1990, S. 165-167). Diese Studien konzentrieren sich in erster Linie auf das Strategietraining zur Wortschatzarbeit (Thompson 1987; Cohen und Aphek 180) und Hör- und Lesestrategien (Hosenfeld 1981; Holec 1987). Auch nach O’Malley und Chamots eigenen Untersuchungen kann Strategietraining positive Auswirkungen auf den Lernerfolg haben. Ihre Studien ergaben, dass gezieltes Training zu Erfolg bei der Sprachproduktion und Hörverstehen führen kann, allerdings in Abhängigkeit vom Schwierigkeitsgrad der Aufgabe und von der Explizitheit der Anwei- 95 <?page no="108"?> sungen zur Anwendung von Strategien. Kein eindeutiger Erfolg zeigte sich hingegen beim Lernen von Vokabeln (O’Malley und Chamot 1990, S. 174/ 175). Wichtig scheint zweifellos hervorzuheben, dass beim Strategietraining eine Reihe anderer Faktoren eine wichtige Rolle spielen können. O’Malley und Chamot selbst nennen hierbei die Art des Trainings, den Schwierigkeitsgrad der verwendeten Materialien, Vorlieben für bestimmte Strategien bei Lernern, die auf deren kulturellen und lernerischen Hintergrund zurückzuführen sind, die Motivation der Lerner sowie die Einstellung des Lehrers gegenüber Strategietraining (O’Malley und Chamot 1990, S. 185; zu individuellen Lernervariablen vgl. Edmondson und House 1993, Kapitel 10 und 11). Diese Dependenz zwischen Lernerfolg, dem Strategietraining und anderen Variablen zeigte sich z.B. auch in einer Studie von Thompson zum Gedächtnistraining (Thompson 1987, S. 48/ 49). Dabei wurden Mnemotechniken für das Vokabellernen, die Peg-Word Methode und die Key-Word- Methode 32 , vermittelt. Thompson stellte fest, dass - neben Nachteilen der Techniken an sich, z.B. der zusätzliche Lernaufwand für das Speichern der assoziierten Verbindungen - eine Reihe von Beschränkungen wie vorangegangene Lernerfahrungen, kultureller Hintergrund, Lernstil, individuelle Fähigkeit zu visueller Vorstellungskraft, etc. die Nützlichkeit dieser Techniken für das Strategietraining einschränken können. Es bedarf weiterer Untersuchungen, um „die kausalen Zusammenhänge zwischen den ursprünglichen Merkmalen des Lernenden, den Mechanismen des Transfers und den dadurch bewirkten Veränderungen“ aufzudekken, die „durchwegs hinter ‚Wolken von korrelierten Variablen’ verborgen sind“ (Weinert 1994, S. 187). Derartige neue Erkenntnisse könnten dazu beitragen, die Effektivität von Strategietraining zu optimieren. Krapp fasst zusammen: „Die hohen Erwartungen an die positiven Auswirkungen dieser Förderungsprogramme haben sich nicht erfüllt. Zwar erzielt man sowohl in experimentellen als auch in natürlichen Situationen mit einiger Wahrscheinlichkeit nachweisbare Effekte, aber Ausmaß und Stabilität der Veränderungen lassen sehr zu wünschen übrig.“ (Krapp 1993, S. 304) Manchmal treten sogar Leistungsminderungen ein, und häufig bliebt der erhoffte Transfer aus (vgl. hierzu auch Zimmermann 1997, S. 106ff.). Es bleibt zu hoffen, dass mit zunehmenden Erkenntnissen über das Zusammenwirken sowohl einzelner Strategien als auch das Zusammenspiel von Strategien mit anderen Faktoren die Vermittlung von Strategien erfolgrei- 32 Bei der Peg-Word Methode nutzen die Lerner eine Liste von auswendig gelernten „Haken-Wörtern“ (die so unterschiedliche Formen annehmen können wie Reim-Wörter oder Zahlen), um Vokabeln oder grammatikalische Kategorien zu lernen. Bei der Key-Word Methode (Schlüsselwortmethode) werden Vokabeln durch die Kombination von auditorischen und visuellen Verbindungen gelernt. 96 <?page no="109"?> cher sein wird. Die Ergebnisse, die die Untersuchung von Komponenten selbstregulierten Lernens (u.a. auch Lernstrategien) innerhalb der großangelegten internationalen Schulleistungsstudie PISA erbrachten, geben Anlass zu Optimismus: „Eine der wichtigsten Implikationen der in diesem Bericht dargelegten Ergebnisse lautet, dass es sich für die Bildungssysteme lohnt, die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zu effektivem und somit selbstreguliertem Lernen zu fördern. Die Lernansätze der Schüler, namentlich ihre Anwendung von Lernstrategien, ihr Selbstvertrauen und ihre Motivation stellen zentrale Aspekte der Bildung dar. Sie sind nicht nur maßgebend für schulischen Erfolg, sondern können auch als Bildungsertrag allgemein betrachtet werden.“ (Artelt et al. 2004, S. 82) 33 5.6.6 Implikationen und Konsequenzen für den Unterricht Wie Tönshoff feststellt, kann „das Training von Lernerstrategien als stark defizitärer Bereich des schulischen Fremdsprachenunterricht (nicht nur) in der Bundesrepublik Deutschland gelten.“ (Tönshoff 1997, S. 212) Er spricht sich explizit für die Integration von Lern- und Kommunikationsstrategien in die Lehrpläne bzw. Richtlinien aus (Tönshoff 1997, S. 213). Dafür müsste aber natürlich auch weitere Arbeit an für Lerner verständlichen Deskriptionen von Lern- und Kommunikationsstrategien geleistet, also Materialien und Curricula entwickelt werden. Parallel dazu sei außerdem die Umdefinierung des Rollenverständnisses von Lehrern und Schülern und auch geeignete Maßnahmen im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung er- 33 Auch in diesen Studien zeigte sich, dass metakognitive Kompetenzen eine entscheidende Komponente beim Lernerfolg zu sein scheinen: „Was die Lernstrategien betrifft, weist die Kontrolle des eigenen Lernens den engsten Zusammenhang mit der Leistung auf, und diese Strategie wird häufiger von stärkeren als von schwächeren Lernern und häufiger von Mädchen als von Jungen eingesetzt. Zwischen Elaborationsstrategien und Leistung besteht ebenfalls eine Beziehung, sie werden aber (in Ländern, wo es Differenzen gibt) generell mehr von Jungen als von Mädchen angewendet. Dass Jungen ihren Angaben zur Folge eher zur tieferen Verarbeitung von Informationen und Mädchen mehr dazu neigen, über das Gelernte nachzudenken und es stärker zu ihren Zielen in Bezug zu setzen, zeigt, dass unterschiedliche Lerner verschiedene Stärken besitzen. Schwache Leser und Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligtem Milieu liegen mit den anderen Schülern eher gleichauf, wenn es um das Memorieren von Lernstoff geht. Darin kann z.T. ein Aspekt des Lernens gesehen werden, der u.U. Schülern hilft, Lernfortschritte zu erzielen. Mit Memorieren allein lassen sich die gewünschten Lernergebnisse aber wohl kaum erreichen, und daher ist es wichtig, bei sämtlichen Schülerinnen und Schülern den Einsatz verstehensorientierter Strategien zu fördern. Ein wichtiger Grund, auf die Aneignung eines breiter gefächerten Spektrums von Lernstrategien bei den Schülern hinzuarbeiten, die in dieser Hinsicht die größten Schwächen aufweisen, ergibt sich aus den PISA-Resultaten, die zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die ihr Lernen zumindest bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, in der Regel wesentlich besser abschneiden als jene, die dies kaum oder gar nicht tun.“ (Artelt et al. 2004, S. 83) 97 <?page no="110"?> forderlich. Durch angemessene Motivation und Ausbildung, z.B. durch Strategietrainingsmaßnahmen schon im Fremdsprachen- und parallel dazu im Didaktikstudium in der Lehrerausbildung, müssten die Lehrer auf ihre Tätigkeiten vorbereitet werden. Ähnliches fordern auch Raabe und Nodari, wobei sich Raabe zur konzeptuellen und formalen Grundsatzentscheidung und Nodari zur inhaltlichen Gestaltung von Strategietraining äußert: Zu einer Integrierung von Lernstrategien in Lehrwerken hält Raabe mehrere zu beachtende Faktoren fest (Raabe 2000, S. 188): Zunächst müsse man sich über den gewählten Strategiebegriff sowie die ausgesuchte Progression im Klaren sein. Darüber hinaus sei die Systematik und Kohärenz bzgl. der zeitlichen Einführung zu beachten. Grundsätzlich müsse zwischen einer blockhaften oder einer explizit-kognitivierenden Vermittlung gewählt werden. Nodari entwickelte Leitlinien einer neuen Lehrwerkkultur (Nodari 1995, S. 220ff.). Demnach müssten Lehrwerke die Orientierungsfähigkeit im Lehrwerk unterstützen, den Lernern die Verantwortung für ihr Lernen übertragen und Reflexionen über Lern- und Verhaltensweisen anregen. Zu Beginn müsse es Übungen zur Orientierung und insbesondere die Lernerautonomie besonders fördernde Übungsstrukturen und Aufgabenstellungen geben. Durch Angebote zur Entwicklung des eigenen Repertoires von Lern- und Kommunikationsstrategien und durch Angebote zum Selbstlernen könnte die Übertragung von Lernverantwortung unterstützt werden. Auch sei die Vorlage von Instrumenten zur bewussten Wahl und Festlegung von Zielen und Inhalten hilfreich. Lernstrategien bzw. -techniken und Kommunikationsstrategien seien konsequent entweder implizit über Aufgaben und Übungen oder explizit durch Thematisierung und Darbietung zu integrieren. Schließlich müssten ausreichende und systematische Anregungen von für die Reflexion über die eigenen Lernweisen sowie metakognitive Reflexionen zum Kennenlernen des eigenen Lerntyps vorhanden sein. Schließlich sollten systematische Rückblicke am Ende einer Einheit ähnlich eines Evaluationsrasters oder Lerntagebuchs Möglichkeiten zur Auswertung bieten 34 . Rampillon schließlich entwickelte ein dreistufiges Modell prozeduralen Denkens, dessen Stufen im Unterricht ihrer Ansicht nach wiederholt angeboten werden müssen, um sprachentdeckendes Lernen zu ermöglichen (Rampillon 1997, S. 176): 34 Hajer et al. (1996) analysierten insgesamt 17 Lehrwerke aus Großbritannien, den Niederlanden und den USA auf die Vermittlung von Lernstrategien. Sie fanden heraus, dass Strategien meist explizit vermittelt werden, in den USA und in Großbritannien verbreiteter als in den Niederlanden. Während sich in den US-amerikanischen und britischen Lehrwerken sowohl kognitive als auch meta-kognitve Strategien finden (affektive und soziale ebenso, jedoch in geringerem Maße), enthalten die niederländischen Bücher fast ausschließlich kognitive Strategien. 98 <?page no="111"?> Das Entdeckende Lernen als Konzept innerhalb des Kognitivismus wurde in den 1960er Jahren von Bruner entwickelt. Dabei wird Lernen durch den Lerner selbst gesteuert. Die relevanten Informationen werden nicht - wie im Behaviourismus - fertig strukturiert präsentiert, sondern die Lerner müssen selbständig Informationen entdecken, priorisieren und neu ordnen, bevor sie daraus Wissen generieren, Regeln ableiten, Konzepte bilden und diese Regeln und Konzepte auf neue Probleme anwenden können. Ziel kognitivistischen Lernens ist die Förderung des Konzeptlernens und - wie im konstruktivistischen Paradigma - die Ausbildung von Problemlösungsfähigkeit, wobei jedoch relativ starker Wert auf Metawissen gelegt wird. Das didaktische Konzept, natürliche Dialoge in authentischen Umgebungen zu präsentieren, findet sich bereits in den bekannten Multimedia-Anwendungen „Dans le Quartier St. Gervais“ und „A la Rencontre de Phillippe“ des Modern Language Department des M.I.T. (beschrieben in Hodges und Sasnett 1993). Der Lernende steht im Prinzip vor derselben Situation, vor der er im Alltag auch stehen wird, wenn er sich in der Zielsprache verständigen Stufen prozeduralen Denkens mentale Aktivitäten Kommentare, Erläuterungen Problemfindung Diskriminieren Identifizieren ungewohntes Wahrnehmen • als Problem erkennen Problemanalyse Identifizieren Segmentieren • als Problem annehmen Begrenzungen vornehmen Klassifizieren Hierarchisieren Einheiten bilden Kategorien bilden Distribuieren Transformieren Kontexte erkennen sprachliche Teile ändern Taxieren Opponieren spez. Merkmale gewichten ausgrenzen Problemlösung Analogien erkennen Hypothesen bilden Deduzieren von Merkmalen u. Relationen externes Feedback und selbst. Kontrolle Hypothesen testen Transferieren Generalisieren Tab. 9: Modell prozeduralen Denkens aus: Rampillon 1997, S. 181/ 182 99 <?page no="112"?> will: Er wird mit zielsprachlichem Input konfrontiert, aus dem er die für sich relevanten Informationen herausfiltern muss 35 . So ist denn auch Rampillons Modell geprägt von analysierenden Tätigkeiten. Sie vertritt jedoch die Ansicht, dass Bewusstheit, Language Awareness allein nicht ausreiche, die Bereiche müssten vielmehr verinnerlicht werden, „Einsichten und Erfahrungen, die [die Lerner] bewusst erworben haben, müssen sich verselbständigen, um letztlich unbewusst in den fremdsprachlichen Lernprozess einfließen zu können“ (Rampillon 1997, S. 182). 35 Ein außergewöhnliches Beispiel für den Versuch, einen authentischen Kontext für das Lernen einer Fremdsprache zu schaffen, findet sich in Südkorea: In Paju, unweit der Grenze zu Nordkorea, wurde auf 277.200 m2 für 90 Millionen US-Dollar von der Regierung die Replique einer britischen Kleinstadt erschaffen, die koreanischen Schülern Zugang zur englischen Sprache und britischen Kultur verschaffen soll. Der Themenpark, in dem weit über 500 Schüler und über 100 Lehrkräfte (fast ausschließlich Muttersprachler) untergebracht werden können, besteht aus den unterschiedlichsten Eintrichtungen (Theater, Bank, Postfiliale, Sporthalle, Bibliothek, botanischer Garten, Cafés u.v.a.m.). In dem Camp, das im April 2006 eröffnet wurde, werden unterschiedliche Programme für Schüler, Lehrer und Familien angeboten. Während des Aufenthalts darf ausschließlich Englisch gesprochen werden. Die koreanische Regierung beabsichtigt mit diesem Projekt, die hohen Kosten für zusätzlichen Englischunterricht und Auslandsaufenthalte zu reduzieren, die Eltern auf sich nehmen, um ihren Kindern den Zugang zu guten Universitäten zu ermöglichen (vgl. z.B. http: / / english.ohmynews.com/ articleview/ article_view.asp? article_class=2&no=283209& rel_no=1; http: / / world.kbs.co.kr/ english/ news/ news_zoom_detail.htm? No=1569). Auch wenn ein solches „Camp“ an sich bestimmt eine aufregende Alternative zum Schulalltag darstellt, so stellt sich neben der Wirkung einer solchen Einrichtung die Frage nach dem didaktischen Konzept im südkoreanischen Fremdsprachenunterricht überhaupt. So wäre es sicherlich gut, wenn die Einsicht, dass eine möglichst authentische Umgebung den Lernprozess fördert, auch in den alltäglichen Schulunterricht Einzug nähme: Entstand der Park aus der Erkenntnis, dass „normaler“ Schulunterricht die Schüler nicht zu kommunikativer Kompetenz befähigt, so bleibt zu hoffen, dass auch der traditionell auf Grammatik und Lesen ausgerichtete Unterricht um die Vermittlung produktiver und Hörverstehens-Fertigkeiten erweitert wird. Ebenfalls ein Beispiel für ein Produkt, dass für sich den Anspruch erhebt, eine authentische Lernumgebung zu bieten, ist das Language Learning Strategies Program von Rubin (beschrieben in Rubin 1996). Das Multimedia-Programm bietet ca. acht Stunden Material zum Lernen bzw. Üben der Fertigkeiten Hören, Lesen, Sprachen, zu sprachlichen Segmenten (Grammatik, Vokabeln) sowie zu soziolinguistischen Aspekten von Kommunikation. Authentisch soll das Programm durch die vier Hauptcharaktere werden: ein Übersetzer der Kongressbibliothek, dessen Aufgabe es ist, sich mit russischen Texte zu beschäftigen; ein argentinischer Plantagenmangager; ein US-amerikanischer Militärattaché, der nach Korea versetzt werden soll; und ein japanischer Manager, der japanische Pharmazieprodukte in den USA vertreiben will. „The characters model how real-life students may react to learning problems and the strategies they may use to resolve them. The viewer is drawn into the plot as the characters ask relevant questions and struggle through typical situations. The main languages […] are Russian, Korean, and Spanish, chosen to represent different levels of learning difficulty for native speakers of English. However, in the entire […] program, the learner is exposed to 20 languages […].“ (Rubin, 1996, S. 153) 100 <?page no="113"?> Explizites Wissen müsse letztlich zu implizitem Wissen werden. Aus dieser Einsicht heraus zieht Rampillon die Konsequenz für den Unterricht, dass Language Awareness thematisiert und entwickelt werden müsse. Lerner müssten so zahlreiche Übungsmöglichkeiten und Anwendungsgelegenheiten haben, dass das explizite Wissen verinnerlicht werde (ebd., S. 183). Mißler stellt zusammenfassend fest: „Forscher, die sich mit Lernstrategien beschäftigen, teilen in aller Regel das übergeordnete Erziehungsziel eines aktiven, autonomen Sprachlerners. Fehlt einem Lerner Strategiewissen, so ist selbstbestimmtes Lernen unmöglich. Um das übergeordnete Erziehungsziel zu erreichen, sollten (nicht nur) im Fremdsprachenunterricht idealerweise (a) Lernstrategien und -stile thematisiert werden, (b) Lerner die Gelegenheit erhalten, eine große Bandbreite an Lernstrategien kennenzulernen, (c) Lerner in die Lage versetzt werden, Aufgabenanforderungen richtig einzuschätzen, (d) Lerner die Organisation und Kontrolle des eigenen Lernens mit zunehmender Erfahrung übernehmen und (e) Lerner ihr eigenes Lernen unter Berücksichtigung des Feedbacks von außen bewerten.“ (Mißler 1999, S. 145) 5.6.7 Forschungsperspektiven Tönshoff zeigt eine Reihe von Forschungsperspektiven auf, die für eine Verbesserung von Strategietraining und damit der Lernsituation im Fremdsprachenunterricht allgemein notwendig sind (1997, S. 214). Zunächst müsse es weitere Untersuchungen zur Effektivität von Strategietrainingsmaßnahmen geben. Auch sei die Entwicklung von Untersuchungsdesigns für Experimentalstudien wie z.B. Unterrichtsbeobachtungen erforderlich, die auch die Dauerhaftigkeit des Trainingserfolgs und Transfermöglichkeiten evaluierten. Daneben müssten qualitative Datenerhebungen in nicht-experimentellen Untersuchungen z.B. zu verschiedenen Formen der Bewusstmachung und dem didaktischen Ort im Ablauf von Trainingssequenzen weitere Einblicke in den Gebrauch von Strategien liefern. Außerdem müsste die Untersuchung „subjektiver Theorien“ von Lernern bzgl. des Einsatzes von Strategien weiter betrieben werden. Nicht zuletzt bedürfe es einer theoretisch-konzeptuellen Absicherung des Konstrukts „Lernstrategie“ sowie einer weiteren Identifikation und Beschreibung strategischer Verhaltensweisen und der ihnen zugrunde liegenden mentalen Operationen. 101 <?page no="115"?> 6 Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit An bisher entwickelten Klassifizierungsansätzen für Lernstrategien ist problematisch, dass die Ansätze i.d.R. nicht in einen größeren theoretischen Rahmen eingebettet sind und die Auswahl ihrer Kategorien daher undurchsichtig ist: Sie scheint einem induktiven Ordnen geschuldet (die meisten Strategien lassen sich in mehr oder weniger sinnvoll erscheinenden Kategorien „wegsortieren“), jedoch nicht in einer umfassenden Theorie verwurzelt und begründet. Außerdem hat man häufig den Eindruck, dass sich verschiedene Ebenen vermischen: Die beobachtbare Tätigkeit, die zugrunde liegende kognitive Operation und das Ziel einer Strategie scheinen sich in den Strategie-Labels in unterschiedlichem Maße wiederzufinden. Dies mag nicht zuletzt an der unscharfen Begriffsdefinition sowie an nicht trennscharfen Kriterien für die Bildung von Strategieklassen liegen, welche wiederum bedingt sind durch die Komplexität der beim L2-Lernen beteiligten Faktoren. Die unscharfe Definition des Strategiebegriffs liegt m.E. auch darin begründet, dass die Strategien, die üblicherweise als solche identifiziert werden, auch nach handlungstheoretischen Überlegungen kein einheitliches Konstrukt darstellen. So zeigt sich, dass die als Strategien bezeichneten „Aktivitäten“ nicht homogen als „Handlungen“ einzuordnen sind. Bereits Wendt (1997) betrachtet Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes. Damit wendet er sich gegen eine defizitbestimmte Auffassung von Strategien, derzufolge „Kompensations- oder Problemlösungsstrategien gerade für Fälle beschrieben wurden und werden, in denen Problemlösungen nicht erwartungsgemäß gelingen“ (ebd., S. 78). Wendt zielt vielmehr darauf ab, das gesamte lernersprachliche Verhalten zu berücksichtigen. Auf diesem Hintergrund unterscheidet er in Anlehnung an A. A. Leont’ev (1975) zwischen Handlungen und Operationen. Handlungen sind dabei die hierarchiehöhere Kategorie: Handlungen setzen sich aus Operationen zusammen. Handlungen selbst sind Teiltätigkeiten mit eigenen Zielen oder Zwischenzielen. Sie lassen sich durch folgende fünf Merkmale charakterisieren (Wendt 1997, S. 79) 1 : • zielgerichtet • aktiv (hier: rezeptiv oder produktiv unter Einschluss der physischen Komponenten) 1 Wendt beruft sich hier auf Wittgenstein (1971), Moser (1974), A. A. Leont’ev (1975) u.a.m. 103 <?page no="116"?> • erfahrungsbasiert (Wissen, Kenntnisse; Situation) • auf die Verwendung von Mitteln (hier: Sprache) angewiesen • strukturiert bzw. organisiert Operationen dagegen „haben keine Ziele im Sinne von Handlungszielen, sondern tragen zu deren Erreichung bei“ (ebd., S. 79). Strategien stehen Wendt zufolge auf einer Art Zwischenstufe zwischen Handlungen und Operationen: Sie sind „nicht dasselbe wie Handlungen; sie sind internalisierte Grundstrukturen von Handlungen. Ihre Elemente sind die eine Strategie bildenden Operationen. […] Das Ziel einer Strategie besteht in der Erreichung des jeweiligen Handlungsziels“ (ebd.). Ähnlich wie z.B. Oxford (1990) zwischen direkten und indirekten Strategien unterschieden hat und Wolff (1991) Lerntechniken von Arbeitstechniken abgrenzt, differenziert Wendt zwischen „Lerntechniken bzw. Lernstrategien, die dem Handlungsmotiv ‚(selbständiges) Organisieren von Lernvorhaben’ entsprechen, einerseits und Strategien des fremdsprachlichen Handelns, die direkt in fremdsprachliche Äußerungen einmünden, andererseits“ (S. 80). Dabei gesteht Wendt ein, dass auch sein Vorschlag für die Bildung von Kategorien - ebenso wie die anderen - „einen mehr oder weniger großen Überschneidungsbereich implizieren“ (ebd., S. 80). Dies sieht er darin begründet, dass sich Strategien jeder Art zu Operationen in Beziehung setzen lassen: Da Operationen die kognitiven Grundbestandteile für alle Strategien darstellen, erscheinen die beiden von Wendt gebildeten Kategorien nicht trennscharf, wenn man der Analyse von Strategien nicht das zu erreichende Handlungsziel zugrunde legt, sondern die kognitiv-heuristischen Mittel. (sprachliches) Handeln + Handlungsziele Strategien tragen ihre Ziele nicht in sich selbst, sondern die Ziele sind mit den Zielen der jeweiligen Handlung identisch Abb. 6: Handlungen, Strategien, Operationen nach: Wendt 1997, S. 79-81 internalisierte Grundstrukturen von Elemente von kognitive Universalien/ Operationen haben keine Ziele i.S.v. Handlungszielen, sondern tragen zu deren Erreichung bei 104 <?page no="117"?> 6.1 Der Handlungsbegriff nach Habermas Hilfreich bei einer weiteren Differenzierung dieses Verständnisses von Strategien ist der Handlungsbegriff von Habermas (1995) 2 . Auch Habermas unterscheidet Handlungen von Operationen in einem sehr ähnlichen Sinn wie Wendt. Innerhalb seiner Theorie bildet er jedoch zusätzlich zwei weitere Kategorien: Fertigkeiten und Körperbewegungen. Konstitutiv für Handlungen ist nach Habermas Intentionalität, also das Vorhandensein eines Plans des Handelnden. Durch Handlungen werden Wirkungen erzielt, sie laufen nach Regeln ab und haben Entscheidungen zur Folge (Habermas 1995, Kapitel 5). Habermas unterscheidet dabei zwischen zweckrationalem und normenreguliertem Handeln. „Zweckrational“ sind solche Handlungen, die entweder instrumentell sind, oder bei denen rational zwischen Alternativen gewählt wird (Habermas 1968, S. 62). Dementsprechend differenziert Habermas zwischen instrumentellem und strategischem Handeln. Regeln instrumentellen Handelns dienen der Lösung technischer Aufgaben in dem Sinne, dass diese Eingriffe erfordern, „die letztlich auf eine zielgerichtete Manipulation bewegter Körper zurückgeführt werden können. Die Manipulation bewegter Körper bedeutet eine intentionale Veränderung von Ereignissen und Zuständen, von denen wir voraussetzen, daß sie nach Gesetzen kausal verknüpft sind“ (Habermas 1995, S. 276). Solche Handlungen „gewinnen einen strategischen Aspekt, sobald nicht mehr die ökonomische Bewältigung technischer Aufgaben, sondern eine erfolgreiche Konkurrenz mit Gegenspielern als Bezugspunkt der rationalen Wahl dient“ (ebd., S. 279). Sowohl instrumentelles als auch strategisches Handeln sind in der gleichen Weise am Erfolg orientiert. Dabei bemisst sich allerdings der Erfolg strategischer Handlungen „nicht an der zielgerichteten Manipulation von etwas in der Welt, sondern an der indirekten Einflußnahme auf die Entscheidungen eines konkurrierenden Gegenspielers.“ (ebd., S. 277). Des Weiteren ist zweckrationales Handeln monologisch und nicht kommunikativ ausgerichtet; das heißt, dass der Handelnde keine gegenseitige Beziehung mit den Gegenständen, die er manipuliert, aufnimmt bzw. dass er bei strategischem Handeln zwar u.U. mit anderen Handelnden in Kontakt kommt, dass er sich aber immer am Erfolg seines Handelns orientiert und die Verständigung mit anderen Menschen nicht Ziel seines Handelns ist (vgl. ebd., S. 279). Während es also im instrumentellen Handeln um die Manipulation von Gegenständen in der Welt und im strategischen Handeln um die Einflussnahme auf die Entscheidungen zweckrational handelnder Subjekte geht, geht es im dritten Typ, dem normenregulierten Handeln, um die Verständigung zwischen Subjekten, die derselben sozialen Welt angehören (ebd., S. 2 Der den folgenden Ausführungen zugrunde liegende Aufsatz wurde bereits 1975 verfasst und 1984 erstmals publiziert. 105 <?page no="118"?> 303). Habermas begreift „soziales Handeln als ein Handeln unter geltenden Normen“ und betrachtet daher Zusammenhänge von Normen, die den Ablauf von Interaktionen vorauszusagen gestatten (Habermas 1970, S. 165). An die Stelle der Erfolgsorientierung zweckrationalen Verhaltens tritt bei normenreguliertem Handeln die Verständigungsorientierung (Habermas 1995, S. 281). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen zweckrationalen und sozialen, normenregulierten Handlungen sind die Bedingungen, unter denen das jeweilige Handeln gelingt oder scheitert: Bei zweckrationalem Handeln hängt die Wirksamkeit von Technologien und Strategien von Wahrheitsansprüchen ab: Ist eine den Naturgesetzen gehorchende instrumentelle Regel, nach der eine Technologie ausgeführt wird, wahr oder falsch? Ist die Aussage, die bei strategischem Handeln die Wahl einer Alternative bestimmt, wahr oder falsch? Normen hingegen bestehen darin, dass sie als richtig akzeptiert werden: „Normen […] »stimmen« nicht, wenn die Unterstellung falsch ist, daß ihr Geltungsanspruch von den Angehörigen mindestens faktisch anerkannt wird.“ (Habermas 1995, S. 281) 3 Von solchen Handlungen grenzt Habermas körperliche Bewegungen und Operationen ab. Beide sind zwar Bestandteile von Handlungen und werden in konkreten Handlungen mitvollzogen. Sie stellen jedoch unselbständige, nicht intendierte Aktivitäten dar und erfüllen daher nicht die o.g. Handlungskriterien. Mit Hilfe von Körperbewegungen werden Handlungen vollzogen. „Mit diesen Bewegungen greift der Handelnde buchstäblich in die Welt ein“ (Habermas 1995, S. 275; Hervorhebung im Original). Habermas nennt als Beispiele das Krümmen des Fingers, mit dem ein Handelnder ein Gewehr abdrückt, um zu schießen oder die Armbewegung, mit der er einen Hut abnimmt, um zu grüßen (ebd., S. 275). Die Regeln, nach denen Körperbewegungen ablaufen, sind jedoch weder instrumenteller noch strategischer oder normenregulierter Natur, sondern sie sind im zentralen Nervensystem verankert und organisieren gleichsam „das Substrat, in dem eine Handlung ausgeführt wird“ (ebd., S. 275). Solche Körperbewegungen können nur dann als selbständige Handlungen auftreten, wenn sie im Rahmen einer 3 Diese Unterscheidung zwischen instrumentellem und normenreguliertem, kommunikativem Handeln ist auch in der Theorie Piagets angelegt, die später für eine Klassifizierung kognitiver Lernstrategien herangezogen werden soll. Wie Habermas feststellt: „Die Konzepte der Außenwelt und der Innenwelt erarbeitet sich der Heranwachsende gleichursprünglich im praktischen Umgang mit den Objekten wie mit sich selbst. Dabei unterscheidet Piaget den Umgang mit physischen von dem mit sozialen Objekten, nämlich »die Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und den Objekten und die Wechselwirkung zwischen dem Subjekt und den anderen Subjekten«. Entsprechend differenziert sich das äußere Universum in die Welt der wahrnehmbaren und manipulierbaren Gegenstände einerseits, in die Welt der normativ geregelten interpersonalen Beziehungen andererseits“ (Habermas 1981, S. 105). 106 <?page no="119"?> Vorführungs- oder Übungspraxis als intendierte Bewegungen ausgeführt werden. Bewegungen des Sprechapparats sind bspw. üblicherweise „bloße“ Körperbewegungen, die zu Sprechhandlungen befähigen. Im Zuge von phonetischen Übungen im Fremdsprachenunterricht hingegen können solche physischen Bewegungen als „Trainingsbewegungen“ auftreten, die als solche intendiert sind, und die damit zu selbständigen Handlungen werden (ebd., S. 294). Ein solches Training kann der Vorbereitung auf einen speziellen Handlungstyp dienen, den Habermas „Fertigkeiten“ nennt. Unter Fertigkeiten versteht er „Handlungen, die nach Standards der Beherrschung unselbständiger Handlungselemente bewertet werden können“ (ebd., S. 295). Fertigkeiten sind also solche Übungshandlungen, bei denen unselbständige Handlungen trainiert werden, bis eine selbständige Handlung, bspw. Tanzen oder Klavierspielen, perfekt ausgeführt werden kann. Diese Perfektionierung bezieht Habermas sowohl auf die Koordinierung der mitvollzogenen physischen Bewegungen als auch auf Operationen (ebd.). Damit unterscheidet sich der Habermassche Fertigkeitsbegriff fundamental von dem, was in der L2-Forschung unter den vier Fertigkeiten verstanden wird. Es sind nicht die vier Fertigkeiten Sprechen, (Hör-) Verstehen, Lesen und Schreiben gemeint. Operationen bilden neben Körperbewegungen die zweite Kategorie, die Habermas von Handlungen unterscheidet. Zu Operationen zählt Habermas Denkoperationen und grammatische Operationen (ebd., S. 275). Diese befähigen zu Handlungen. Operationsregeln organisieren „die im weitesten Sinne kognitiven Kompetenzen, auf die sich Handeln stützt“ (ebd., S. 275). „Kompetente Subjekte folgen diesen Regeln im allgemeinen intuitiv, aber es ist sehr wohl möglich, diese Regeln zu rekonstruieren, indem wir den propositionalen Gehalt des impliziten Regelbewusstseins explizit darstellen“ (ebd., S. 297). Ein Unterscheidungsmerkmal von Handlungs- und Operationsregeln liegt in ihrem Potenzial: Während Handlungsregeln systematisch mit der Wahrheit von Propositionen oder der Richtigkeit von Normen zusammenhängen und daher zur Erklärung von Handlungen herangezogen werden können, können Regeln Operationen lediglich verständlich machen, aber nicht erklären. Darüber hinaus setzen Handlungsregeln „einen Kontext von etwas in der Welt, das manipuliert oder beeinflusst werden kann, voraus, während Operationsregeln für die Praxis, die sie regeln, konstitutiv sind“ (ebd., S. 298). 107 <?page no="120"?> Abb. 7: Handlungsbegriff nach Habermas 1995 108 <?page no="121"?> Der Begriff „kommunikatives Handeln“ von Jürgen Habermas ist nicht gleichbedeutend mit der Tätigkeit des Kommunizierens oder einer alltagstheoretischen Vorstellung von Kommunikation, sondern er bezeichnet eine Ausgrenzung aus dem Gesamtspektrum des Handelns: Kommunikative, normenregulierte Handlungen, die auf Sprache angewiesen sind und die symbolisch vermittelt werden, werden abgegrenzt vom zweckrationalen Modell des instrumentellen Handelns im naturwissenschaftlichen Paradigma. Die kategorielle Unterscheidung von Handlungsarten geschieht in der Absicht, zu einer Typologie zu kommen, deren Kategorien sich a priori auf den Erfahrungsgegenstand des Handelns beziehen. Es geht demnach nicht um eine empirische Beschreibung von Handlungen, um eine deskriptive Theorie, sondern um die Konstruktion allgemeiner Strukturen, um eine theoretisch motivierte Handlungstypologie. Deshalb können weder die Handlungstypen noch deren Unterscheidung als präskriptive Aussage oder instruktionalistisches Konzept verstanden werden. Kommunikatives Handeln stellt also in diesem Sinne keine subjektive Theorie und kein didaktisches Prinzip für den praktischen Unterricht dar, sondern eine methodologische Kategorie der Erklärungslogik. 6.2 Übertragung des Habermasschen Handlungsmodells auf Lernstrategien Wie also lassen sich Lernstrategien in diese Handlungstheorie einordnen? Habermas benutzt zwar den Begriff „strategisches Handeln“. Bei der Betrachtung seines Verständnisses dieses Handlungstyps wird jedoch schnell klar, dass Lernstrategien keine strategischen Handlungen im Habermasschen Sinne darstellen: Denn Kern strategischer Handlungen nach Habermas ist solches Handeln, das „eine erfolgreiche Konkurrenz mit Gegenspielern als Bezugspunkt der rationalen Wahl“ zwischen erfolgversprechenden Mitteln hat (s.o.). Dies trifft auf das allgemeine Verständnis von lernstrategischen Aktivitäten nicht zu. Ziel dieser Aktivitäten ist das erfolgreiche Lernen eines Lerngegenstandes; dies kann zwar in Kooperation mit weiteren Handelnden geschehen; es dient aber in seinem Wesen nicht dazu, die anderen Lerner durch geschicktes Konkurrenzverhalten zu übertrumpfen. Auch der Fertigkeitsbegriff von Habermas ist für das Lernen einer Fremdsprache hilfreich: Durch die Differenzierung von normenregulierten, kommunikativen Handlungen einerseits und Fertigkeiten andererseits werden solche Handlungen, denen eine kommunikative Absicht zugrunde liegt, von anderen unterschieden, bei denen dies nicht der Fall ist. Damit wird festgestellt, dass es Aktivitäten unterschiedlicher Qualität gibt: Während kommunikativen Handlungen eine kommunikative, verständigungsorientierte Intention zugrunde liegt, sind Fertigkeiten als Handlungsbestand- 109 <?page no="122"?> teile zu sehen, die beim Vollzug kommunikativer Handlungen mitvollzogen werden. Bezogen auf den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies, dass Aussprache, Grammatik und Lexik als notwendige Voraussetzungen erlernt werden müssen, um schließlich kommunikative Handlungen in der Zielsprache vollziehen zu können; die zielsprachlichen Elemente sind als Fertigkeiten anzusehen, die in der Sprachhandlung mitvollzogen werden, isoliert betrachtet aber keinerlei kommunikativen Wert haben. Mit dieser Feststellung wird allerdings nichts über das Üben von Fertigkeiten im Unterricht ausgesagt: Aus der Handlungstheorie lässt sich weder eine sinnvolle Gestaltung von Unterrichtsmodellen direkt ableiten noch ist damit eine Aussage über den faktischen Verlauf des natürlichen oder des formalen Spracherwerb verbunden. Wie Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht letztlich trainiert werden, ist eine von der Handlungstheorie zunächst einmal unabhängige Frage. Fertigkeiten können isoliert trainiert werden, aber genauso kann man sie in (unterrichtlichen oder außerunterrichtlichen) Kommunikationssituationen üben. Bspw. kann eine Lernumgebung kreiert werden, in der sich die Lerner über die Eigenschaften von Gegenständen oder Personen unterhalten - womit letztlich Adjektive geübt werden sollen. Diese Form des Lernens, die Einbettung zielsprachlicher, zu erlernender Elemente in komplexe Sprachhandlungen, hat seit der Verbreitung des Lernziels „Kommunikative Kompentenz“ vornehmlich Einzug in den modernen Fremdsprachenunterricht gehalten. „SPRACHLERNEN IST SPRACHGEBRAUCH IST KONSTRUKTION“ schreibt Wolff (2002, S. 6), und dies ist kein Widerspruch zur Habermasschen Theorie kommunikativen Handelns. Eben durch den Sprachgebrauch wird geübt - ob dies in separatem Training oder eingebettet in eine Kommunikationssituation geschieht, darüber wird in der Handlungstheorie nichts ausgesagt. M.E. betont gerade die in der Habermasschen Vorstellung theoretisch formulierte Eigenschaft von Fertigkeiten, unselbständige Handlungen zu sein, ihre Eingebundenheit in bedeutungshaltige Lern- und funktionale Kommunikationsprozesse. Mit der transzendentallogischen Bestimmung von Handlungstypen klafft also eine Lücke zwischen der ontologischen Begründung von Handlungstypen und einem didaktischen Modell 4 . Um diese Lücke zu überwin- 4 Wendt merkt zum Verhältnis des konstruktivistischen Paradigmas und der unterrichtlichen Praxis an: „Es dürfte klar geworden sein, daß ich unter Konstruktivismus nicht irgendeinen, sondern eben den sogenannten radikalen Konstruktivismus verstehe, der für mich ein besonders fruchtbares Denkmodell darstellt. Da es sich aber um ein Denkmodell erkenntnistheoretischen Ursprungs handelt, kann eine auf dieses gegründete Konstruktivistische Fremdsprachendidaktik keine Methode für den Fremdsprachenunterricht sein. Sie kann allerdings als eine Konzeption des Lernens von Fremdsprachen gelten, aufgrund derer bestimmte Vorgehensweisen und unterrichtliche Arrangements als günstiger, andere als weniger geeignet erscheinen müssen.“ (Wendt 1996, S. 11; Hervorhebung im Original) 110 <?page no="123"?> den, muss nach Habermas ein Diskurs herangezogen werden: Die (unterrichtliche) Praxis ist etwas, was ihm zufolge im Rahmen eines Diskurses über Normen entsteht - in diesem Fall eines Diskurses über Lernen und didaktische Modelle. In solch einem Diskurs kann geklärt werden, welche methodisch-didaktischen Prioritäten gelten sollen (z.B. Unterrichtsmethode, Lernziele: kommunikative Kompetenz oder grammatikalische Korrektheit, Sprechen/ Hörverstehen oder eher Schreiben/ Lesen etc.) und welche äußeren Sachzwänge gegeben sind (z.B. Ausstattung des Unterrichtsraums, Qualifikation der Lehrer, Zielgruppe etc.). Zu diesem Diskurs über die Praxis gehört die Frage, in welcher Form die Zielsprache geübt wird. Dass dabei nach der kognitiven Wende der auf kommunikative Kompetenz gerichtete Ansatz die behaviouristische Vorstellung vom Lernen abgelöst hat und sich konstruktivistische Vorstellungen durchgesetzt haben, ist z.B. solche eine Entwicklung. Zu Empfehlungen didaktischer Art zu kommen, ist jedoch nicht Ziel der vorliegenden Arbeit. Es wäre also falsch, aus einer transzendentallogischen Gewinnung von Handlungstypen ohne weitere Überlegung ein Unterrichtsmodell abzuleiten - ebenso wie es falsch wäre, aus den rein empirisch gewonnenen Kategorien ein Unterrichtsmodell zu entwickeln. In den Daten der vorliegenden Arbeit kommen auch Lernstrategien vor, die nur als isoliertes Üben von Fertigkeiten zu deuten sind. Die Informantinnen haben im Verlauf ihres Lernprozesses solche Strategien offensichtlich erworben. Dieser Befund sagt jedoch nichts darüber aus, wie Fertigkeiten auf natürliche Weise erworben werden oder darüber, wie Fertigkeiten im Unterricht erworben werden sollten. Mit anderen Worten, dass Lernstrategien vorkommen, deren Intention das gezielte Üben bestimmter Fertigkeiten ist, ist eine empirische Frage, keine normative. Dabei ergibt sich der Schluss aus der Beobachtung im Experiment auf die dahinterliegende Intention nicht als Deduktion aus der allgemeinen Handlungstypologie. Die Handlungstheorie dient in der vorliegenden Arbeit also als theoretischer Rahmen für die Entwicklung eines Klassifikationsmodells für Strategien und nicht für die Begründung oder Gestaltung eines didaktischen Modells. Aus einer handlungstheoretischen Perspektive ist es wichtig zu betonen, dass Sprachenlernen nicht stets auch Kommunikation sein muss, sondern eine Reihe von kognitiven Operationen und Fertigkeiten benötigt, die zunächst von ihrem systematischen Substrat her nicht kommunikativ sind. Diese Feststellung innerhalb eines abstrakten Modells, das Strategien in einen handlungstheoretischen Rahmen einordnet, macht a priori keine Aussage über die Vermittlung sprachlicher Kompetenzen im Unterricht. Es geht vielmehr um die Feststellung der Bestandteile, aus denen Handeln (im Habermasschen Sinne) überhaupt besteht. Neben den Fertigkeiten und grammatischen Operationen, die als Lerngegenstand geübt werden, spielt auch der andere Typ Operationen eine wesentliche Rolle bei der Übertragung eines handlungstheoretischen Ansatzes 111 <?page no="124"?> auf das Lernstrategiekonstrukt: die Denkoperationen. Sie sind nach Habermas neben den Fertigkeiten die Elemente, die zu Handlungen befähigen. Auch Wendt, der diese Operationen „kognitive Universalien“ oder „kognitive Operationen“ nennt, sieht sie als die Basiskomponenten von Strategien (s.o.). Unter Berücksichtigung von Wendts Strategienmodell und Habermas‘ Handlungsbegriff schlage ich die in Abb. 8 abgebildete Einordnung von Strategien vor. Wendts Kategorie des „(sprachlichen) Handelns und Handlungsziele“ lässt sich demnach konkretisieren: Innerhalb dieses Handlungsmodells (das kein Modell des Lernprozesses darstellt) kann man Strategien des fremdsprachlichen Handelns als internalisierte Grundstrukturen ansehen, die in kommunikatives, normenreguliertes Handeln und seine Ziele eingehen. Strategien, die direkt in fremdsprachliche Äußerungen einmünden, dienen der Produktion und dem Verstehen zielsprachlicher Äußerungen und damit der Erreichung intendierter kommunikativer Ziele. Diese werden als Sprachverwendungsstrategien bezeichnet. M.E. kann man jedoch nicht nur Verwendungsstrategien dem kommunikativen Handeln zuweisen, sondern ebenso kognitive Lernstrategien. Diese befähigen letztlich zur fremdsprachlichen Äußerung, womit sie auf das fremdsprachliche Handeln wirken. Üblicherweise dient das Erlernen einer Sprache der Kommunikation in der Zielsprache 5 . Vor allem aber der konstruktivistische Hintergrund der Habermasschen Handlungstheorie lässt es berechtigt erscheinen, Sprachverwendungs- und Lernstrategien als internalisierte Grundstrukturen kommunikativen Handelns anzusehen: Wie zu Beginn der Arbeit dargelegt, steht Habermas (ebenso wie Piaget) für einen Lernbegriff, bei dem Lernen durch Handeln stattfindet. Die Strukturen des Handelns und Denkens sowie neues Wissen werden unter dem Einfluss der Umwelt laufend neu konstruiert: Eine Person lernt, indem sie Handlungen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt vollzieht. In diesem Sinne erscheint es gerechtfertigt, die traditionell kategoriell getrennten Komplexe Lern- und Sprachverwendungsstrategien als Basis kommunikativen Handelns zu sehen: Beide münden letztlich in fremdsprachliches Handeln. 5 Einen Sonderfall bilden vielleicht Lerner, die eine L2 aus einer extrinsischen Motivation i.S.d. eines strategic approach nach Entwistle (z.B. Entwistle, McCune und Walker 2001; vgl. Kapitel 8.7.3 „Approaches to learning“) heraus lernen. Doch selbst in solchen Fällen, in denen eine Sprache z.B. erlernt wird, um (meist institutionellen) Leistungsanforderungen zu genügen, ist doch das unmittelbare Ziel die Kommunikation durch möglichst korrekte zielsprachliche Äußerungen - denn dies verlangt das System und belohnt es mit der Vergabe guter Noten. 112 <?page no="125"?> Abb. 8: Handlungen, Strategien, Operationen und Fertigkeiten nach Habermas 1995 und Wendt 1997 113 <?page no="126"?> Interessant ist vor diesem Hintergrund die Diskussion in der Zweitsprachenerwerbsforschung um die Sinnhaftigkeit der separierten Betrachtung von Lern- und Kommunikationsstrategien (vgl. Kapitel 5.2 „Strategien der Sprachverwendung“). Dieser Disput zeigt, dass unter den Autoren Zweifel daran bestehen, ob sich das Nebeneinander der beiden Kategorien in dieser Weise aufrechterhalten lässt: Wann gelernt und wann kommuniziert wird, ist häufig eine graduelle Frage. „Learning takes place through communication“ stellten bspw. Færch und Kasper fest (1983, S. xvii). Der konstruktivistische Ansatz zeigt aus der Theorie heraus, dass eine Differenzierung zwischen Sprachlernen und Kommunikation nicht sinnvoll ist. In diesem Sinne wird der Begriff der Kommunikationsstrategie für den Kontext der vorliegenden Arbeit verworfen und der Begriff „Sprachverwendungsstrategie“ benutzt, der sich auf die Konstruktion von Sprache - und nicht auf die soziale Interaktion wie bspw. Gesprächsstrategien - bezieht. M.E. lässt sich jedoch aus der handlungstheoretischen Perspektive sehr wohl eine kategorielle Trennung von Strategien vornehmen, nämlich eine, die auf der Handlungsintention beruht: Demnach kann im Einzelfall (zumindest in den vorliegenden Daten aufgrund des experimentellen Designs) durchaus entschieden werden, welchem Ziel eine Handlung dient: Es kann differenziert werden zwischen Handlungen, deren Ziel im Lernen oder in der Sprachverwendung besteht. Im letzteren Fall kann zwischen Sprachproduktionsstrategien unterschieden werden, bei denen der Output geplant wird, Wissenlücken kompensiert werden müssen oder Schwierigkeiten vermieden werden und Sprachrezeptionsstrategien, bei denen metakognitive Kontrollen oder Wiederholungsstrategien eingesetzt werden oder auch kompensatorische Strategien zum Einsatz kommen. In diesem Sinne dienen zwar all diese Strategien letztlich dem kommunikativen Handeln; dennoch ist es sinnvoll, zwischen den genannten Kategorien zu unterscheiden. Inwiefern auch während der Kommunikation gelernt wird, ist eine von der Handlungsintention zunächst unabhängige Frage und kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden. Im vorgeschlagenen Modell sind die kognitiven Operationen und Fertigkeiten grundlegende Elemente von Strategien bzw. Handlungen. Fertigkeiten 6 tragen dazu bei, eine Person in die Lage zu versetzen, kommunikative Handlungen zu vollziehen. Bspw. ist es einer Person erst möglich, problemlos, effektiv und missverständnisfrei zu kommunizieren, wenn die Artikulation in der Fremdsprache (möglichst muttersprachähnlich) gelingt. Das Üben von eigentlich unselbständigen Handlungen wird hier nicht nur auf die Artikulation bezogen. Ebenso müssen Grammatikregeln und der Wortschatz einer Sprache erlernt werden. Fertigkeiten und Operationen, die 6 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass hier unter dem Fertigkeitsbegriff nicht die vier Fertigkeiten Sprechen, (Hör-) Verstehen, Lesen und Schreiben verstanden werden, die in der Zweitsprachenerwerbsforschung thematisiert werden. 114 <?page no="127"?> beim Mutterspachler und später auch beim fortgeschrittenen L2-Lerner unselbständig und automatisiert ablaufen, und die dann zum Vollzug von selbständigen kommunikativen Handlungen benutzt werden, werden also im Lernprozess trainiert. Zum Training von Fertigkeiten können bestimmte Strategien eingesetzt werden, z.B. Wiederholungs- und Memorierungsstrategien, die zur Festigung von zielsprachlichen Elementen beitragen. Aus der Feststellung, dass es sich bei Fertigkeiten und grammatischen Operationen um (Teil-) Handlungen handelt, die eine andere (nämlich nicht-kommunikative) Qualität haben als normenreguliertes Handeln, lässt sich jedoch - wie oben beschrieben - kein didaktisches Konzept für die Lehre ableiten: Damit ist nicht gemeint, dass Fertigkeiten und kommunikatives Handeln in der Zielsprache getrennt voneinander oder aufeinander aufbauend erlernt werden müssen oder sollen. Lerntechniken bzw. Lernstrategien, die dem Handlungsmotiv „(selbständiges) Organisieren von Lernvorhaben“ entsprechen, können im Habermasschen Sinn als instrumentelle Handlungen angesehen werden. Hier arrangiert und organisiert der Lerner seinen Lernprozess bzw. konkrete Vorhaben. Dies tut er durch im weitesten Sinne instrumentelle Handlungen: Er erstellt bspw. Karteikarten und Vokabellisten, er schafft Verhältnisse, in denen er „gut lernen“, d.h. sich gut konzentrieren kann und sich wohl fühlt, und vollzieht allgemein Handlungen, die sein Lernvorhaben organisieren. In Kapitel 12 „Klassifizierung metakognitiver Lernstrategien“ wird dargelegt, dass hier solche Strategien eingeordnet werden können, die der metakognitiven Kategorie Regulierung zuzuordnen sind. Beim strategischen Handeln nach Habermas wirken vermutlich Strategien, die nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, und die sich nur sehr vereinzelt in den Daten finden: soziale Gesprächsstrategien. Durch geschickt platzierte oder formulierte Äußerungen kann es einer Person gelingen, eine andere, zu ihr in einem Konkurrenzverhältnis stehende Person zu übertrumpfen bzw. sie zum eigenen Nutzen zu beeinflussen. Auf die Kategorie der kognitiven Operationen wird im folgenden Teil der Arbeit eingegangen. 6.3 Strategien und Handlungen zugrunde liegende kognitive Operationen 6.3.1 Lernen als Problemlösungsprozess Es stellt sich die Frage, wie denn die „kognitiven Universalien“, die den Handlungen und Strategien als Basiselemente zugrunde liegen, beschaffen sind. Um sie genauer zu betrachten wurde ein Rahmen gesucht, mit Hilfe dessen die kognitiven Lernstrategien nach dem Kriterium der jeweils zu- 115 <?page no="128"?> grunde liegenden kognitiven Operation geordnet werden können. Bei dieser Unternehmung liegt die Beschäftigung mit heuristischen Problemlösestrategien nahe. Auf dem Hintergrund des kognitiven und des konstruktivistischen Paradigmas entwickelten sich verschiedene Lern- und Lehransätze wie das Entdeckende Lernen, die Cognitive Apprenticeship und das Goal-Based-Learning, die das Problemlösen zum Kern des Lernprozesses machten. So basiert bspw. die medizinische Ausbildung an der McMaster University (Hamilton, Ontario, Canada) auf problembasiertem und die juristische Ausbildung an der Harvard Business School auf fallbasiertem Lernen: Anhand von „Problemen“, d.h. zu behandelnden Patienten bzw. juristischen Fällen, lernen die Studierenden Fakten und Vorgehensweisen ihres Faches 7 . Zum Zusammenhang von Lernen, Denken und Problemlösen schreiben Friedrich und Mandl: „Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen Begriffen [werden] nur selten herausgearbeitet. Dies rührt unter anderem daher, daß sich Lernpsychologie einerseits und Denk- und Problemlösepsychologie andererseits innerhalb unterschiedlicher Forschungstraditionen mit je unterschiedlicher Begrifflichkeit entwickelt haben.“ (Friedrich und Mandl 1992, S. 4) So stünde in einige Ansätzen bspw. die Betonung des Prozesshaften am Denken und des Aspekts der Verhaltensänderung am Lernen im Vordergrund (Flammer 1969), in anderen die Beteiligung von Transfer am Denken, ohne den man nur von Lernen oder Gedächtnis sprechen könne (Adams 1989), oder der Ort des jeweils zu erreichenden Ziels (mit außerhalb der Person liegenden zu erreichenden Zielen als Problemlösen, und innerhalb der Person liegenden zu erreichenden Zielen als Lernen, Klauer 1988). Aus einer „situationsbezogenen Alltagsperspektive“ unterscheiden Friedrich und Mandl Lernen, Denken und Problemlösen folgendermaßen, merken jedoch an, dass es sich eher um „akzentuierende Unterscheidungen“ als um trennscharfe Kategorien handele (Friedrich und Mandl 1992, S. 5): • Lernen ist der Erwerb und die Veränderung von Wissen und Fertigkeiten in Interaktion mit externen Instanzen. • Denken ist vielmehr eine Tätigkeit, bei der jemand - auf sich gestellt und potenziell ziellos - zwischen Informationen, die bereits in sein kognitives System eingespeist sind, Beziehungen herstellt. • Problemlösen schließlich stellt eher eine Form des Denkens dar, bei der ein konkretes Ziel erreicht werden soll, für das noch keine zielführenden Handlungsroutinen vorliegen. 7 Für die Rechtssysteme in angelsächsischen Ländern eignet sich fallbasiertes Lernen besonders gut, da ihnen das anglo-irische „case law“ zugrunde liegt. 116 <?page no="129"?> „Chipman und Segal (1985) betonen denn auch, daß die Unterscheidung zwischen Lernen (im Sinne von Wissenserwerb) einerseits und Denken (im Sinne von Problemlösen) im Einzelfall kaum zu treffen ist. Problemlösen schließt häufig auch Phasen des Lernens und des Wissenserwerbs ein, um sich bspw. eine ausreichende Wissensbasis zu verschaffen. Lernen schließt auf jeden Fall Denkprozesse (im Sinne von ‚Informationen miteinander in Beziehung setzen‘) und häufig auch Problemlöseprozesse ein (Nickerson, 1988/ 1989). […] Schließlich kann man auch Lernen insgesamt als eine Art Problemlösen konzeptualisieren (Derry und Murphy, 1986; Derry, 1990).“ (ebd., S. 5/ 6) Weithin akzeptiert ist die Annahme, dass Lerner aktiv beteiligt sein müssen, wenn Lernen erfolgreich sein soll. „Problemlösen fördert das Lernen, weil es Aktivität seitens des Lerners voraussetzt, damit Informationen internalisiert werden können […] Lernstrategien können als ‚Werkzeuge’ betrachtet werden, die der Lerner einsetzt, um ein Problem erfolgreich zu bewältigen.“ (Mißler 1999, S. 138) 8 Dass auch das L2-Lernen als ein Prozess angesehen wird, der das Lösen von Problemen beinhaltet, zeigen die entsprechenden Äußerungen verschiedener Autoren (z.B. Færch und Kasper 1983, S. 36, O’Malley und Chamot 1990, S. 145). Bspw. merkt Rubin an: „Language learning like other kinds of learning involves problem-solving, which requires that learners be active in order to internalize information. For example, often the meaning of a word or phrase (‚a problem‘) is only clarified by its use in a specific sentence or social situation. The only real way to understand a speaker’s message or intention is to properly infer the meaning. By making inferences (a form of problem-solving) students are able to confirm their understanding of a conversation. Inferencing requires active involvement on the part of the student so that he/ she may ascertain appropriate relationships among the words, phrases and social interactions, and thereby determine the meaning of a social event.“ (Rubin 1987, S. 18) Besonders im Kontext des autonomen Lernens wird immer wieder betont, dass die Fähigkeit, Probleme zu lösen, ein erstrebenswertes Lernziel sei (z.B. Raabe 2000). Für das Lernen einer Gebärdensprache bietet sich diese Sichtweise insofern in besonderem Maße an, als dort die Lerner in der Tat besonders häufig vor „Problemen“ stehen. Aufgrund des immer noch defizitären linguistischen Forschungsstandes gibt es zum einen überhaupt vergleichsweise wenig Lehrmaterialien; zum anderen enthalten diese Lehrwerke häufig keine Regeln zu bspw. grammatischen oder pragmatischen Eigenschaften der Zielsprache. Die dialektale Varianz vieler Gebärdensprachen, die zwar besteht, aber linguistisch nicht umfassend erfasst ist, erleichtert diese Situation 8 M.E. ist es wichtig, „aktiv sein“ nicht auf äußerlich beobachtbares, extrovertiertes Verhalten zu beschränken. Auch reflektiv-beobachtendes Verhalten impliziert bspw. eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt. 117 <?page no="130"?> nicht. Daher sind Lerner häufiger auf das Aufstellen eigener Hypothesen, die Bildung von Analogien und das Erschließen von Bedeutungen oder Regeln angewiesen als Lerner „etablierter“, gut erforschter Fremdsprachen 9 . 6.3.2 Heurismen nach Polya Um die kognitiven Operationen als solche näher zu betrachten, liegt eine Auseinandersetzung mit heuristischem Problemlösen nahe. Mit dem Gebiet der Heuristik verbinden sich v.a. Überlegungen zum Lösen mathematischer Probleme. Unter Heurismen werden „Findeverfahren“ verstanden, die bei der Lösung von Problemen eingesetzt werden. Dörner definiert „Heurismen“ als „mehr oder minder präzise festgelegte Pläne für die Konstruktion von Überführungen eines gegebenen Sachverhalts in den gesuchten“ (Dörner 1976, S. 27). Ein Wegbereiter dieser „neuen Methode“ in der Didaktik der neueren Zeit war George Polya, der in „How to solve it. A new aspect of mathematical method“ 1945 erstmals seine Überlegungen veröffentlichte, mit welchen heuristischen Mitteln Probleme am besten gelöst werden könnten. Schon seine Motivation war es, Vorgehensweisen beim Lösen von Problemen zu erklären, um Lerner zu einer größeren Autonomie zu verhelfen und sie in die Lage zu versetzen, zukünftig Probleme selbst lösen zu können. Zwar konzentrierte sich Polya in erster Linie auf das Lösen von mathematischen Problemen, betonte jedoch, dass es sich bei Heurismen um allgemeine Operationen handele, deren Einsatz nicht auf die Mathematik beschränkt sei: „Modern heuristic endeavors to understand the process of solving problems, especially the mental operations typically useful in this process. […] Experience in solving problems and experience in watching other people solving problems must be the basis on which heuristic is built. In this study, we should not neglect any sort of problem, and should find out common features in the way of handling all sorts of problems; we should aim at general features, independent of the subject matter of the problem. The study of heuristic has ‚practical‘ aims; a better understanding of the mental operations typically useful in solving problems could exert some good influence on teaching, especially on the teaching of mathematics.” (Polya 2004, S. 129/ 130; Hervorhebung im Original) „Heuristic aims at generality, at the study of procedures which are independent of the subject-matter and apply to all sorts of problems.” (Polya 2004, S. 133) Polya teilt den Problemlöseprozess in vier Phasen ein: 9 Dies legt die Vermutung nahe, dass risikobereite, ambiguitätstolerantere Lerner erfolgreicher beim Lernen einer Gebärdensprache sind als Lerner, denen diese Eigenschaften weniger eigen sind. Solche Personen dürften eher bereit sein, Risiken einzugehen und ihre Hypothesen zu überprüfen. Zumindest ist zu vermuten, dass solchen Personen das Lernen leichter fällt, da sie häufig Situationen begegnen werden, in denen diese Eigenschaften vorteilhaft sind. 118 <?page no="131"?> a) das Problem verstehen b) einen Plan zum Vorgehen bei der Lösung entwickeln c) den Plan ausführen d) zurückschauen (im Wesentlichen im Sinne einer Überprüfung der Korrektheit des Ergebnisses, der Möglichkeit eines alternativen Lösungsweges sowie der Möglichkeit einer Übertragung des Ergebnisses in andere Kontexte) Diesen vier Phasen ordnet er verschiedene Tätigkeiten zu, bei denen es sich in erster Linie um Ausprägungen von Heurismen handelt (Polya 2004, S. xvi/ xvii; Hervorhebung im Original): 1 Understanding the problem First . You have to understand the problem. What is the unknown? What are the data? What is the condition? Is it possible to satisfy the condition? Is the condition sufficient to determine the unknown? Or is it insufficient? Or redundant? Or contradictory? Draw a figure. Introduce suitable notation. Separate the various parts of the condition. Can you write them down? 2 Devising a plan Second . Find the connection between the data and the unknown. You may be obliged to consider auxiliary problems if an immediate connection cannot be found. You should obtain eventually a plan of the solution. Have you seen it before? Or have you seen the same problem in a slightly different form? Do you know a related problem? Do you know a theorem that could be useful? Look at the unknown! And try to think of a familiar problem having the same or a similar unknown. Here is a problem related to yours and solved before. Could you use it? Could you use its result? Could you use its method? Should you introduce some auxiliary element in order to make its use possible? Could you restate the problem? Could you restate it still differently? Go back to definitions. If you cannot solve the proposed problem try to solve first some related problem. Could you imagine a more accessible related problem? A more general problem? A more special problem? An analogous problem? Could you solve a part of the problem? Keep only a part of the condition, drop the other part; how far is the unknown then determined, how can it vary? Could you derive something useful from the data? Could you think of other data appropriate to determine the unknown? Could you change the unknown or data, or both if necessary, so that the new unknown and the new data are nearer to each other? Did you use all the data? Did you use the whole condition? Have you taken into account all essential notions involved in the problem? 3 Carrying out the plan Third . Carry out your plan. Carrying out your plan of the solution, check each step. Can you see clearly that the step is correct? Can you prove that it is correct? 119 <?page no="132"?> 4 Looking back Fourth . Examine the solution obtained. Can you check the result? Can you check the argument? Can you derive the solution differently? Can you see it at a glance? Can you use the result, or the method, for some other problem? Bei dieser „Liste“handelt es sich um eine lernergerechte „Gebrauchsanweisung“ zur Lösung eines (mathematischen) Problems in Form von Fragen, die im Wesentlichen zur Analyse, Variation und Überprüfung des Problems bzw. von Teilproblemen anleiten 10 . Polya sortierte diese Handlungsanweisungen entsprechend der Reihenfolge, in der sie beim Lösen eines (mathematischen) Problems angewendet werden (sollen). Polya selbst nahm jedoch keine weitere Kategorisierung vor. Er beabsichtigte, durch diese Erklärung von Problemlöseverfahren seinen Studierenden im Besonderen und Lernern im Allgemeinen ein größeres Maß an Autonomie in ihren Lern- und Arbeitsprozessen zu verschaffen: Sie sollten durch das Nutzen der Liste dazu befähigt werden, zukünftig Probleme selbständig lösen zu können. Aebli (1981) schlägt vor allem in Anlehnung an Polya folgende 13 allgemeine Regeln für das Problemlöseverhalten vor (S. 74-81): „1. Definiere die Schwierigkeit, fass [sic] sie sprachlich, begrifflich, wenn Du kannst, sonst vergegenwärtige sie Dir in einer anschaulichen Form. 2. Wenn sich die Schwierigkeit im alltäglichen Handeln und Erleben eingestellt hat, beginne damit, sie in der Sprache des Alltags zu fassen. 3. Formuliere das Problem mit Hilfe der schärfsten begrifflichen Mittel, die Dir zur Verfügung stehen. 4. Verschaffe Dir den bestmöglichen Überblick über die Gegebenheiten des Problems. 5. Kennzeichne das Problem. 6. Suche die geeignete Repräsentation für das Problem. 7. Präzisiere Deine Frage. 8. Arbeite nicht nur vom Gegebenen vorwärts, sondern ebenso sehr vom Gesuchten zum Gegebenen rückwärts. 9. Prüfe den Fortschritt Deiner Lösung. 10. Geh auf Holzwegen nur so weit als nötig zurück. 11. Benutze alle Daten. 12. Wenn Du die Aufgabe nicht lösen kannst, suche eine verwandte Aufgabe. Suche eine speziellere Aufgabe. Oder: Suche eine allgemeinere Aufgabe. 10 Polya selbst bezeichnet diese Anleitung zum Lösen von Problemen als „list“ (2004, S. xxv). 120 <?page no="133"?> 13. Wenn Du ein Problem gelöst hast, gehe nicht zur Tagesordnung über, sondern blicke auf die Problemlösung zurück und versuche, aus ihr zu lernen.“ 11 6.3.3 Klassif i zierung von Heurismen Die Arbeiten von Polya und Aebli bieten allerdings keine Systematisierung von Heurismen, die über die Abfolge der Anwendung hinaus geht. Ihre „Listen“ umfassen lediglich Handlungsanweisungen für den Lösungsprozess, sie machen die Heurismen selbst jedoch nicht zum Gegenstand der Analyse. Einer der bekanntesten Wissenschaftler, der sich mit dem Lösen von Problemen systematisch beschäftigt hat, ist Dietrich Dörner. Dörner (1976) unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten von Heurismen: Umstrukturierungs- und Entdeckungsheurismen. Diese Heurismen werden bei Problemen verwendet, bei denen Ausgangs- und Zielzustand klar definiert sind, aber bezüglich der erforderlichen Mittel Unklarheit besteht (synthetisches Problem) 12 . „Umstrukturierung ist […] ein Prozeß, in dessen Verlauf der Problemlöser die Anforderungen der Problemsituation in einem völlig neuen Licht sieht. Umstrukturierungsheurismen werden dann notwendig, wenn der Problemlöser eine fehlerhafte oder unzureichende Sichtweise des Problems besitzt. Er hat eigentlich alle Mittel zur Lösung des Problems ‚vor Augen‘, ein Teil der Mittel wird aber überhaupt nicht in Erwägung gezogen, buchstäblich ‚übersehen‘. Seine Problemrepräsentation ist defizitär oder gar falsch; seine Suche nach einer Lösung erfolgt deshalb in einem künstlich eingeschränkten oder gar falschen Suchraum.“ (Arbinger 1997, S. 70) 11 Aebli bemerkt zur Rolle von Heurismen im Problemlöseprozess: „Heuristiken sind daher keine harten Regeln. Ihre Anwendung führt nicht mit Sicherheit zur Problemlösung. Sie nennen uns in relativ formaler Weise gewisse Prinzipien, Haltungen, Suchrichtungen, die der Problemlöser mit Vorteil einhält. Die Schlachten werden jedoch auf dem Feld der spezifischen Sachzusammenhänge geschlagen. Ihre Kenntnis ersetzt keine Heuristik. Allerdings: Wer über sie verfügt und die Regeln der Heuristik beachtet, ist ein besserer Problemlöser, als wer sie vernachlässigt. Er braucht sie nicht von den Psychologen gelernt zu haben (kaum ein Forscher hat je davon gehört, daß sich die Psychologen mit Heuristik beschäftigen), aber wenn er sie zur Kenntnis nimmt, kann er erkennen, daß hier Dinge gesagt sind, die er von sich aus längst tut, und vielleicht sind doch einige Regeln dabei, deren Einhaltung ihn zum besseren Problemlöser machen“ (Aebli 1981, S. 75). 12 Dörner unterscheidet zwischen Interpolations-, synthetischen und dialektischen Problemen. Dabei ist die Klassifizierung davon abhängig, ob Ausgangsund/ oder Zielzustand „gut“ oder „schlecht“ definiert sind: Bei Interpolationsproblemen sind Ausgangs- und Zielzustand sowie die Mittel klar, lediglich die Reihenfolge oder Kombination dieser Mittel sind nicht bekannt. Bei dialektischen Problemen sind Ausgangszustand und Mittel gegeben, jedoch besteht Unklarheit bezüglich des Zielzustandes (Arbinger 1997, S. 9-11). 121 <?page no="134"?> „Entdeckungsheurismen werden dann notwendig, wenn dem Problemlöser bestimmte Mittel zur Lösung eines Problems unbekannt sind. Er findet eine Lösung deshalb nicht, weil sein Problemraum eine solche nicht ‚hergibt‘. Sie liegt gewissermaßen jenseits seines Horizonts, weil durch das Fehlen von Operatoren bestimmte Zustände nicht erzeugt werden können. […] Hierfür kommen im wesentlichen die folgenden Heurismen in Betracht (Brander et al, 1985, Dörner, 1977, S. 81ff.; Mayer, 1992, S. 415ff.): Analogiebildung, Modellbildung, Abstraktion, Metaphorik und Imagination. Wir werden sehen, daß diese Verfahren keineswegs einander ausschließen. Sie sind im Gegenteil häufig untrennbar miteinander verbunden und teilweise auch nur schwer voneinander abgrenzbar.“ (Arbinger 1997, S. 77) Dörner hält fest, dass es sich bei diesen beiden Heurismenformen nicht um völlig verschiedenartige Konstrukte handele. Vielmehr seien Entdekkungsheurismen auch als Umstrukturierungsheurismen brauchbar. Umgekehrt gelte dies allerdings nicht unbedingt (Dörner 1976, S. 77). Neben diesen fünf Heurismen Analogiebildung, Modellbildung, Abstraktion, Metaphorik und Imagination gibt es ein weiteres, viel beschriebenes Verfahren, mit Hilfe dessen Problemen gelöst werden: das Versuchund-Irrtum-Verhalten. „Versuch-und-Irrtum-Verhalten (‚trial and error‘) kann verschiedene Formen annehmen: Es kann von völlig ‚blinden‘ Versuchen, die Ausgangssituation zu verändern, über alle möglichen Zwischenformen bis hin zu vollständig systematischem Probierverhalten reichen. Beim blinden Probieren ergibt sich eine Annäherung an das Ziel eher zufällig; dabei ist auch nicht auszuschließen, daß erfolglose Lösungsschritte mehrmals ausgeführt werden. Bei Menschen ist diese Form des Probierverhaltens nur sehr selten anzutreffen; sie haben im Gegenteil erhebliche Schwierigkeiten, ‚zufälliges‘ Verhalten zu zeigen, selbst wenn sie dies beabsichtigen. In aller Regel ist Probierverhalten durch ein gewisses Maß an Systematik, Ordnung und ‚ungefähre Bereichsbestimmungen‘ (Duncker, 1935, S. 11) gekennzeichnet. […] Beim systematischen Probieren werden alle für einen bestimmten Zustand in Frage kommenden Veränderungsmöglichkeiten in einer festen Abfolge einmal ausprobiert. Dadurch wird sichergestellt, daß keine Möglichkeit außer acht bleibt. Wichtig ist außerdem, daß ein ‚Protokoll‘ (real oder im Gedächtnis) angelegt wird, um zu verhindern, daß bestimmte Zustände mehrfach durchlaufen werden. Auch diese Form der Probierens hat für Menschen eher Seltenheitswert; denn sie stößt sofort an ihre Grenzen, wenn der Suchbereich zu groß wird.“ (Arbinger 1997, S. 51/ 52) Auch wenn das Versuch-und-Irrtum-Verhalten aufgrund seines behavioristischen Ursprungs eher einen negativen Beiklang hat, bietet es doch gewisse Vorteile (nach Arbinger 1997, S. 52/ 53): • Es kann in einer Phase der Orientierung dazu dienen, sich überhaupt erst mit einem Problem vertraut zu machen. • Der quasi spielerische Umgang mit einem Problem ist immer dann angebracht bzw. möglich, wenn die Veränderung eines Zustands entweder keine realen oder ernsthaften Konsequenzen hat oder wenn diese Veränderung wieder rückgängig gemacht werden kann. 122 <?page no="135"?> • Probieren, vor allem wenn es erfolglos war, liefert auch eine Fülle von wertvollen Informationen über das zu lösende Problem. • Wenn das Problemlösen in einer Sackgasse gelandet ist oder wenn sich der Problemlöser „verrannt“ hat, kann Probieren oft der einzige Ausweg sein. • Probieren kann auch den Zweck erfüllen, absichtlich, quasi erzwungenermaßen Veränderungen einer Situation herbeizuführen, um so zu einer anderen Sichtweise des Problems zu gelangen. • Schließlich gibt es auch Belege dafür, daß eine Reihe von Entdeckungen auf diesem Wege zustande kamen. Die sechs Heurismen Analogiebildung, Modellbildung, Abstraktion, Metaphorik, Imagination und Versuch-und-Irrtum-Verhalten werden in der vorliegenden Arbeit als Klassifizierungsraster für die elementaren kognitiven, von Habermas als Denkoperationen bezeichneten Operationen dienen, die den Strategien zugrunde liegen. 6.3.4 Elementare kognitive Operationen Heurismen sind jedoch nicht die kleinsten Bestandteile von Strategien. Betrachtet man die heuristischen Operationen, so erkennt man, dass auch diesen jeweils verschiedene kognitive Aktivitäten zugrunde liegen: Das Bilden von Analogien, Metaphern und Modellen sowie das Abstrahieren setzen z.B. voraus, dass ein Sachverhalt oder ein Objekt in seine Teile zergliedert werden kann. Im Folgenden sollen daher diese noch elementareren kognitiven Operationen näher betrachtet werden. Joachim Lompscher (1972) beschäftigt sich mit eben der Frage, aus welchen Elementen sich das Denken zusammensetzt. Als „Grundprozesse im Bereich der Erkenntnis“ betrachtet er Analyse und Synthese. „Der analytisch-synthetische Charakter der Erkenntnistätigkeit ergibt sich notwendig aus der Strukturiertheit der materiellen Welt. Die Dinge bestehen aus Teilen, verfügen über Eigenschaften, befinden sich in den vielfältigsten Beziehungen zueinander (vgl. Uljomow 1965). Es ist die objektive Dialektik der Welt selbst - die Einheit der Gegensätze, die Universalität der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen, die Einheit von Qualität und Quantität, die Beziehungen von Teil und Ganzem, von Ding, Eigenschaft und Relation, von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem, vom Ursache und Wirkung - die die objektive Grundlage für den analytisch-synthetischen Charakter der Erkenntnis bildet.“ (Lompscher 1972, S. 19) Allerdings lassen sich auch Analyse und Synthese auf elementarere Operationen zurückführen: „Die geistigen Operationen tragen analytisch-synthetischen Charakter - sie realisieren gewissermaßen Analyse und Synthese, bilden in ihrer Gesamtheit Analyse und Synthese als die Grundprozesse der geistigen Tätigkeit.“ (Lompscher 1972, S. 34) 123 <?page no="136"?> Diese elementaren, geistigen Operationen „realisieren jede geistige Tätigkeit“: „Wir können sie als grundlegende oder elementare Operationen bezeichnen. Abhängig von Gegenstand, Ziel und Inhalt einer konkreten geistigen Tätigkeit bilden sie - in jeweils spezifischer Verkettung und Wechselbeziehung - komplexe Handlungen oder Operationsfolgen.“ (ebd., S. 35). Hierzu ist m.E. anzumerken, dass natürlich komplexe Handlungen nicht einfach als Verkettung einfacher Operationen verstanden werden dürfen. Operationen sind inkorporiert in Handlungen, aber sie sind nicht allein verantwortlich für die Konstitution einer Handlung oder Handlungssequenz. Lompscher entwickelt eine Zusammenstellung dieser kognitiven Operationen. Er unterscheidet folgende Kategorien (zitiert nach Lompscher 1972, S. 34/ 35 und Dörner 1976, S. 112; Hervorhebung im Original 13 ): 1. Zergliedern eines Sachverhaltes in seine Teile Das Zergliedern eines Gegenstandes in seine Teile beziehungsweise das Ausgliedern von Teilen aus dem Gegenstand und das Zusammenfügen solcher Teile zu einem neuen Ganzen, ebenso das In-Beziehung-Setzen bestimmter Teile zueinander (Erfassen der Beziehungen von Teil und Ganzem). (Beispiel: Übergang von „Auto“ zu „Rad“, „Karosserie“ usw.) Diese Operation gibt Antwort auf die Frage: „Woraus besteht X? “ 2. Erfassen der Eigenschaften eines Sachverhaltes Das Ausgliedern von Eigenschaften eines Gegenstandes und das Erfassen der Beziehungen dieser Eigenschaften zueinander sowie zwischen Eigenschaften und Gegenstand (Erfassen der Beziehungen von Ding und Eigenschaft). (Beispiel: Übergang von „Ball“ zu „rund“, „elastisch“ usw.) Diese Operation gibt Antwort auf die Frage: „Welche Merkmale hat X? “ 3. Vergleichen von Sachverhalten hinsichtlich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten Das Erfassen von Unterschieden zwischen Vergleichsobjekten hinsichtlich bestimmter Eigenschaften und das Erfassen von Gemeinsamkeiten zwischen ihnen (Differenzieren und Generalisieren - Vergleichen). (Beispiel: „Kugelschreiber und Füllfederhalter sind beide zum Schreiben, beide sind stabförmig und meist ungefähr 10 cm lang. Der Kugelschreiber schreibt mit einer Füllung länger als der Federhalter, mit dem Federhalter schreibt es sich aber besser, und die Schrift wird ausdrucksvoller, weil Druckunterschiede sich in verschiedenen Strichstärken widerspiegeln …“) 13 Der Titel und die Beispiele in der folgenden Aufstellung stammen aus Dörner (1976), die Definitionen aus Lompscher (1972). 124 <?page no="137"?> 4. Ordnen einer Reihe von Sachverhalten hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale Das Erfassen beziehungsweise Herstellen einer auf- oder absteigenden Reihe von Objekten hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale (Ordnen). (Beispiel: „Hans ist größer als Elli, Elli ist größer als Luise; Elli hat das hellste Haar, dann kommt Luise, dann Hans.“) 5. Abstrahieren als Erfassen der in einem bestimmten Kontext wesentlichen Merkmale eines Sachverhaltes und Vernachlässigen der unwesentlichen Merkmale Das Erfassen der für eine konkrete Ziel- oder Fragestellung wesentlichen Merkmale oder Komponenten und das Vernachlässigen der unwesentlichen (Abstrahieren). (Beispiel: „Im Hinblick auf seine Verwendung als Verpackungsmaterial ist ein Schuhkarton ziemlich klein, außerdem leicht verformbar, da seine Pappe nicht sehr stabil ist …“) 6. Verallgemeinern als Erfassen der einer Reihe von Sachverhalten gemeinsamen und wesentlichen Eigenschaften Das Erfassen der einer Reihe von Gegenständen oder Erscheinungen gemeinsamen und gleichzeitig wesentlichen Merkmale und das Bilden von Klassen (Verallgemeinern). (Beispiel: „Straßenbahn und Eisenbahn sind beide motorgetrieben und schienengebunden.“) 7. Klassifizieren als Einordnung eines Sachverhalts in eine Klasse Das Zuordnen eines Objekts zu einer Klasse oder das In-Beziehung-Setzen von Klassen zueinander (Klassifizieren). (Beispiel: „Eine Straßenbahn ist ein Verkehrsmittel.“) 8. Konkretisieren als Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen Das Übertragen und Anwenden des Allgemeinen auf das Besondere und Einzelne (Konkretisieren). (Beispiel: „Ein Beispiel für ein Verkehrsmittel ist die Straßenbahn.“) Dörner (1976) analysierte eine Reihe von Lösungsprozeduren der von ihm behandelten Probleme auf diese Operationen hin (er nennt sie „Lompscher-Operationen“) und beurteilt diese Zusammenstellung zunächst positiv: „Man kommt in der Tat erstaunlich weit, wenn man darangeht, geistige Prozesse in die Lompscher-Operationen zu zerlegen.“ (Dörner 1976, S. 113) Problematisch bei Lompschers Kategorisierung ist allerdings zum einen, dass diese Zusammenstellung von Operationen keine erschöpfende Liste darstellt. Lompscher erhebt selbst keinen Anspruch auf Vollständigkeit (Lompscher 1972, S. 34). Zum anderen ist ein Defizit dieser Liste, dass die Operationen nicht als gleichwertig kleinste Elemente von kognitiven Prozessen anzusehen sind: Teilweise umfassen sie sich wechselseitig und set- 125 <?page no="138"?> zen einander voraus. Als Beispiel sei hier ausgeführt, das das Klassifizieren die beiden Operationen „Ausgliederung von Eigenschaften“ und „Vergleichen“ als Teiloperationen enthält: Klassifizierungshandlungen setzen voraus, dass die Eigenschaften identifiziert werden, und dass die Eigenschaftsmenge des Sachverhalts und die Eigenschaftsmengen der Klassen verglichen werden 14 . Lompscher ist der Ansicht, dass die Operationen „Erfassen von Eigenschaften“ und „Ausgliedern von Teilen“ als Grundoperationen angesehen werden können, die „letztlich in allen anderen Operationen wiederkehren“ (Lompscher 1972, S. 45). Er präsentiert ein Schema, dass die vielschichtigen Beziehung zwischen den einzelnen Operationen verdeutlichen soll (s. Abb. 9). 14 Für einen vollständigen Vergleich der Wechselbeziehungen der „Lompscher-Operationen“ untereinander s. Lompscher 1972, S. 45-47 und Dörner 1976, S. 114. Abb. 9: Schematische Darstellung der Wechselbeziehungen analytisch-synthetischer Operationen aus: Lompscher 1972, S. 46 126 <?page no="139"?> Damit erfüllt Lompschers Zusammenstellung von Operationen die Anforderungen nicht, die Dörner an ein System, das die Basiskomponenten kognitiver Prozesse beschreiben will, stellt: „Ein System kognitiver Elementaroperationen sollte erschöpfend und disjunkt sein. D.h. es sollte soviele Operationen enthalten, wie erforderlich sind, um alle geistigen Prozesse darauf zusammenzusetzen, und es sollte so beschaffen sein, daß die einzelnen Operationen sich nicht wechselseitig überschneiden.“ (Dörner 1976, S. 103) Lompscher selbst betrachtet seine Beschreibung allerdings auch nur als Annäherung und fordert eine weitere psychologische Analyse konkreter Handlungen. Erst diese ermögliche eine detailliertere Darstellung. Dörner (1976) wiederum bezweifelt den Erfolg einer psychologischen Analyse „im traditionellen Sinne“, da sich das psychische Geschehen der Beobachtung von Verhalten doch weitgehend entziehe. Er schlägt vor, die Suche nach den elementaren Operationen auf „subpsychologischem“ Gebiet zu betreiben und sich u.a. zu fragen, „was nach der materiellen Struktur des Nervensystems als elementarer Prozeß kommt“ (ebd.). Dörner selbst wies nach, dass zumindest die Teilprozesse eines Heurismus für interpolatives Problemlösen auf die elementaren Prozesse „aktivieren“, „hemmen“, „verknüpfen“ und „entknüpfen“ zurückgeführt werden könne (Dörner 1974). Allerdings ist unklar, ob man aus diesen vier Prozessen tatsächlich alle komplexeren geistigen Prozesse zusammensetzen kann 15 . In Ermangelung einer besseren Kategorisierung von elementaren Operationen werden die im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhobenen Strategien auf die „Lompscher-Operationen“ hin untersucht werden. Auf dieser 15 Mittlerweile werden in der Denk- und Problemlösungsforschung neben den am weitesten verbreiteten, auf Selbstauskünften basierenden diagnostischen Verfahren auch neuere Verfahren der Verhaltensbeobachtung und physiologische Messverfahren eingesetzt (vgl. Funke und Spering 2004, S. 24/ 25). Mit psychophysiologischen Messmethoden wird untersucht, welche physiologischen Korrelate Denkprozessen zugrunde liegen. „Kognitionspsychologischen Untersuchungen, die sich bildgebender Verfahren bedienen, liegt die Annahme zugrunde, dass sich bestimmte Ebenen der Informationsverarbeitung mit unterschiedlichen Hirnarealen in Verbindung bringen lassen. Mit modernen bildgebenden Verfahren (Kohärenzverfahren im EEG, PET, funktionelle MRT) konnte inzwischen gezeigt werden, dass unterschiedliche Ebenen der Informationsverarbeitung neurophysiologische Korrelate aufweisen, die sich verschiedenen kognitiven Prozessen zuordnen lassen. […] Ob es […] tatsächlich möglich ist, psychologische Bedeutung auf physiologische Ereignisse bzw. ihr neuronales Korrelat zurückzuführen, hängt (a) von der Qualität des experimentellen Designs, (b) den psychometrischen Eigenschaften der Messmethoden und (c) der Angemessenheit der Datenanalyse und Interpretation ab“ (ebd., S. 54/ 55). Jedoch hat eine solche Forschung gerade erst begonnen, und die Befunde zu kognitionspsychologischen Fragestellungen sind noch dürftig, wenngleich es sich um ein schnell expandierendes Forschungsfeld handelt. Für eine Zusammenfassung empirischer Befunde sowie eine kritische Bewertung von Möglichkeiten und Grenzen physiologischer Messverfahren s. Funke und Spering 2004, Kapitel 2.2.3. 127 <?page no="140"?> Grundlage können die Basiselemente von Strategien, die elementaren kognitiven Operationen, genauer betrachtet werden, und es kann überprüft werden, ob die „Lompscher-Operationen“ ausreichen, um die kognitiven Aktivitäten zu erfassen, die sich in den erhobenen Daten finden. 128 <?page no="141"?> 7 Grundlagen für die Klassifizierung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien 7.1 Piagets Modell der Entwicklungsstufen als Klassifizierungsgrundlage für kognitive Strategien O’Malley und Chamot (1990) unterscheiden wie beschrieben im Wesentlichen zwischen kognitiven und metakognitiven Strategien. Innerhalb dieser beiden Kategorien klassifizieren sie jedoch nur die metakognitiven Strategien in Planungs-, Monitoring- und Evaluations-Strategien. Die kognitiven Strategien differenzieren sie nicht weiter aus. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die kognitiven Strategien theoretisch fundiert zu klassifizieren. Es wird die Hypothese überprüft, ob der Strategiegebrauch eines Lerners u.a. von seinem Lernstil beeinflusst ist. Daher erscheint es sinnvoll, auch zur Kategorisierung von Lernstrategien einen theoretischen Rahmen heranzuziehen, der dem in der Arbeit verwendeten Kolbschen Lernstilmodell zugrunde liegt: die entwicklungspsychologische Theorie Jean Piagets. Die Betrachtung von kognitiven Lernstrategien auf dem Hintergrund der Piagetschen Entwicklungsstufen (z.B. Piaget 1978) bietet noch eine andere Perspektive auf die Verwendung dieser Strategien als die bereits behandelte Klassifizierung kognitiver Lernstrategien nach den ihnen jeweils zugrunde liegenden kognitiven Operationen. Piaget revolutionierte die Wissenschaft seiner Zeit in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen untersuchte er die menschliche Erkenntnistätigkeit, deren Erforschung bis dato Gegenstand der Philosophie war, erstmals auf empirischer Basis mit naturwissenschaftlichen Methoden. Zum anderen gelang es Piaget, in seinen Experimenten das Postulat des Behaviorismus zu widerlegen, dem Menschen seien durch Programmierung spezifischer Reiz- Reaktions-Verbindungen grundsätzlich alle Leistungen zu jeder Zeit „antrainierbar“. Piaget beschäftigte sich in erster Linie mit der Frage, woraus Erkenntnis entspringt und wie sie sich entwickelt. Seine Untersuchungen zeigten, dass sich die kognitive Entwicklung in aufeinander aufbauenden Stufen vollzieht, und dass sich die Kognition im Laufe dieser Entwicklung qualitativ verändert: Das Denken entwickelt sich vom Konkreten zum Abstrakten, vom Einfachen zum Differenzierten. Dementsprechend betrachtete Piaget die geistige Entwicklung des Menschen vor allem als strukturelle Veränderung. Diese Veränderung stellt einen sich beständig vollziehenden 129 <?page no="142"?> Prozess dar, der durch die Interaktion mit den Gegenständen der Umwelt bedingt wird. Dabei determiniert den Prozess nicht die Umwelt, sondern im Wesentlichen das Individuum selbst: Es konstruiert seine kognitive Struktur von innen heraus, indem inadäquate Vorstellungen von den Dingen ständig durch neue, stimmigere ersetzt werden 1 . In der Entwicklungstheorie Jean Piagets spielt also das Handeln des Individuums eine zentrale Rolle. In dieser Theorie bezieht sich „die kognitive Entwicklung im engeren Sinne […] auf Strukturen des Denkens und Handelns, die der Heranwachsende in aktiver Auseinandersetzung mit der äußeren Realität, mit Vorgängen in der objektiven Welt konstruktiv erwirbt“ (Habermas 1981, S. 105). Gekennzeichnet wird die kognitive Entwicklung nach Piaget durch veränderliche (variante) und unveränderliche (invariante) Komponenten: durch sich ständig ändernde Inhalte, durch sich entwicklungsgesetzmäßig verändernde Strukturen und durch unveränderliche Funktionen. Die kognitive Struktur besteht aus Schemata. Ein Schema stellt eine typische Weise des Menschen dar, bestimmte Klassen von Umweltgegebenheiten zu handhaben. Dabei gibt es sowohl sensorische bzw. Verhaltensschemata als auch begriffliche sowie operationale bzw. kognitive Schemata. Es sind abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse gemeint, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen. „Ein solches Schema existiert als kognitives Schema, das sich in gewissen Handlungsschemata ausdrückt (das Schema des Werfens, Klopfens, Multiplizierens u.ä). Schemata machen verschiedenartige Gegenständen zu gleichartigen (z.B. solche, die man werfen, mit denen man klopfen, die man multiplizieren kann usw.), erleichtern somit kognitiv den Umgang mit der Umwelt.“ (Stangl 2003) 1 In der Konzentration fast ausschließlich auf die Kognition und die Außerachtlassung von sozialen und affektiven Komponenten liegt denn auch eine Schwäche von Piagets Theorie. Obwohl Piaget häufig feststellte, dass die kognitive Entwicklung ohne den Einfluss der sozialen Interaktion nicht verständlich sei, und dass das Individuum ohne soziale Beziehungen die verschiedenen Formen seines Egozentrismus nicht überwinden könne, fehlt die konkrete Berücksichtigung dieser Variablen. So merkt beispielsweise Stangl an: „Problematisch allerdings ist seine Fixierung auf vorwiegend logisch-kognitive Aspekte der kindlichen Denkentwicklung, die damit umschrieben werden könnte, daß er sich auf die Frage konzentriert: ‚Wie kommt die Logik in die Köpfe der Kinder hinein? ‘ ausgeklammert bleiben emotionale und soziale Faktoren, die bei der Denk- und Intelligenzentwicklung aber ebenfalls von Bedeutung sind. Diese Schwerpunktsetzung kommt vermutlich daher, daß er letztlich an fundamentalen wissenschaftstheoretischen Fragestellungen interessiert war, etwa daran, wie der Mensch (als Wissenschaftler) überhaupt zu Wissen und Erkenntnissen gelangen kann“ (Stangl 2003; für weitere kritische, aber auch würdigende Bemerkungen vgl. auch Stangl 2005). 130 <?page no="143"?> Die einzelnen Elemente in der Handlungssequenz bilden dabei eine festliegende Reihenfolge. Solche im Subjekt vorhandenen Strukturen ermöglichen zwar erst Erkenntnis, sie sind aber nach Piaget nicht a priori gegeben, so dass sie sich nur noch in einem Reifungsprozess entfalten müssten. Vielmehr werden diese Strukturen erst nach und nach durch ein aktives Handeln des Individuums aufgebaut. Unter Inhalten werden konkrete Gegenstände verstanden, auf die Schemata angewendet werden können. Inhalte sind jedoch für Piaget lediglich von untergeordnetem Interesse, da sie sich ständig ändern und zu wenig Regelmäßigkeit zeigen. Den kognitiven Strukturen stehen die invarianten kognitiven Funktionen gegenüber. Piaget nennt die immer wieder neu zu leistende Anpassung eines Organismus an seine Umwelt den Prozess der Adaptation. Dieser umfasst wiederum zwei komplementäre Prozesse: • die Assimilation, die Veränderung der Umwelt, um diese den eigenen Bedürfnissen, Wünschen usw. anzupassen; sie „meint im wesentlichen ein aktives Interpretieren, Einordnen oder Deuten von Objekten und Ereignissen der Außenwelt in Begriffen der eigenen, gerade verfügbaren und bevorzugten Art, über diese Dinge zu denken“ (Stangl 2003) • die Akkomodation, die Veränderung des eigenen Verhaltens, um sich selbst den Umweltbedingungen anzupassen; sie tritt auf, wenn es eine Abb. 10: Grafische Darstellung von Piagets Modell aus: http: / / art.ph-freiburg.de/ Piaget/ PNG/ Prinzipien/ Prinz_abb7.png 131 <?page no="144"?> Diskrepanz oder Störung gibt, für die der Organismus noch kein bewährtes Schema besitzt Die Prozesse der Assimilation und Akkomodation dienen - gleichsam als selbst regulierende Kräfte - der Bewältigung äußerer Gegebenheiten durch das Individuum: Jeder Mensch ist Piaget zufolge bestrebt, durch Adaption und Assimilation immer wieder ein Äquilibrium, einen Gleichgewichtszustand, herzustellen: Er möchte „in Harmonie“ mit sich und seiner Umgebung leben, und ein Disäquilibrium ggf. durch Lernen überwinden. „In ebendiesem ständigen Mechanismus von Anpassung und Äquilibrierung besteht die menschliche Aktion, und deshalb kann man in ihren Anfangsphasen die sukzessiven Verstandesstrukturen, die die Entwicklung mit sich bringt, als Gleichgewichtszustände betrachten, deren jeder einen Fortschritt gegenüber dem vorherigen darstellt.“ (Piaget 1978, S. 156) Mayr, Hütter und Stangl bemerken: „Der Äquilibrationsprozeß ist die grundlegendste funktionale Invariante, der sich andere Invarianten, wie Adaptation und Organisation unterordnen. Auch höchste kognitive Prozesse sind nach Piaget Äquilibrationsprozesse, in dem Sinn, daß logische Widersprüche und Erkenntnislücken, die das Gleichgewicht gefährden, durch Einsatz entsprechender Denkstrukturen wieder ausgeglichen werden müssen“ (Mayr, Hütter und Stangl 2005). Neben der Adaptation steht die Organisation, womit die interne Koordination von Strukturen und Aktivitäten und ihre Integration zu komplexeren Funktionen gemeint ist. Nach Auffassung Piagets sind sowohl Adaptation als auch Organisation auf jeder Stufe der Entwicklung zu finden. 7.1.1 Entwicklungsstufen nach Piaget Die bereits angesprochene stufenweise kognitive Entwicklung vollzieht sich nach Piaget in vier Stadien (auch genannt Stufen, Perioden oder Phasen). Diese sind sequenzieller Natur: Sie treten in einer festgelegten Abfolge auf, weil jede von ihnen notwendig für die Bildung der folgenden ist. Stufe der sensomotorischen Intelligenz (ca. 0-2 Jahre) Diese Periode, die sich in sechs Substadien gliedern lässt, ist im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass das Kind „eine erste kognitive Orientierung, eine kognitive Umwelt mit den konkreten Dingen im äußeren realen Anschauungsraum aufbaut“ (vgl. Buggle 1993, S. 51). Der Säugling verfügt zunächst nur über einige angeborene Reflexe. Das Baby lernt dann vor allem durch Beobachtung und Handeln, zunächst durch aktive Wiederholung und später durch Experimentieren. Es erwirbt sein Wissen über die Welt durch seinen Körper mit Hilfe seiner Wahrnehmung (sensorisches System) und Körperbewegung (motorisches System). Über sein Verlangen, alles anfassen zu wollen, baut es sein erstes „Weltbild“ auf; es entwickeln sich 132 <?page no="145"?> erste sensomotorische Schemata. Auf diese Weise lernt das Baby auch die Verknüpfung eines Zwecks mit dem Mittel, das zum Erreichen des jeweiligen Ziels benötigt wird. Mit etwa 12 Monaten erkennt es, dass Dinge auch da sind, wenn es sie nicht sieht (Objektpermanenz). Das Baby beginnt, zwischen sich selbst und seiner Umwelt zu unterscheiden. Im Alter von etwa 18 bis 24 Monaten entwickelt sich die Symbolfunktion. Stufe des voroperationalen Denkens (ca. 2-7 Jahre) Diese Stufe, die Piaget auch das „Stadium der intuitiven Intelligenz“ nennt (Piaget 1978, S. 155, 175ff.), lässt sich in zwei Phasen untergliedern: a) Die Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens (ca. 18/ 24 Monate bis 4 Jahre) In dieser Periode, die bereits durch das sechste Stadium der sensomotorischen Intelligenz eingeleitet wird, wird die Fähigkeit entwickelt, nicht nur mit Dingen selbst, sondern auch mit ihren verinnerlichten Repräsentationen zu agieren: Das Kind erkennt das Symbol (bei Piaget „Vorbegriff“) eines Objektes und ist in der Lage, zwischen Objekt und dem Symbol des Objekts zu unterscheiden und dennoch beide aufeinander zu beziehen; es ist fähig, das Bezeichnete (ein Objekt, ein Ereignis oder ein Begriffsschema) durch ein Bezeichnendes (ein Wort, eine Geste, eine Vorstellung) zu repräsentieren. Zu diesen symbolischen Repräsentationen gehört auch die Sprache. Sprache und geistige Bilder treten an die Stelle der sensomotorischen Aktivitäten des Säuglingsalters. Auf dieser Stufe entwickelt das Kind die Fähigkeit, seine reale Umwelt mit vor allem sprachlichen Mitteln zu klassifizieren. b) Stufe des anschaulichen Denkens (ca. 4 Jahre bis 7/ 8 Jahre) Auf dieser Stufe entwickelt das Kind zwar schon „echte“ Begriffe, aber das Denken ist wie auch in der nächsten Phase noch ganz an die Anschauung gebunden, d.h. das Denken erfolgt weiterhin in Vorstellungen bzw. inneren Bildern. Dabei wird hauptsächlich ein wahrnehmungsmäßig heraus- Erstes Stadium (ca. 0-1 Monate): Angeborene Reflexe und Instinktkoordination als Bausteine der nachfolgenden kognitiven Entwicklung Zweites Stadium (ca. 1-4 Monate): Drittes Stadium (ca. 4-8 Monate): Bildung der ersten Gewohnheiten. Primäre Zirkulärreaktionen. Erste Koordination sensomotorischer Schemata Sekundäre Zirkulärreaktionen. Verstärkte Hinwendung zur Außenwelt. Vorstufen intentionalen Verhaltens Viertes Stadium (ca. 8-12 Monate): Fünftes Stadium (ca. 12-18 Monate): Sechstes Stadium (ca.18-24 Monate): Intentionales Verhalten Tertiäre Zirkulärreaktionen. Experimentelles Vorgehen. Suche und Entdeckung neuer Mittel-Schemata Übergangsstadium: Beginnende Interiorisation und Entwicklung der Symbolfunktion Tab. 10: Sechs Substadien der Stufe der sensomotorischen Intelligenz nach: Mayr, Hütter und Stangl 2005 133 <?page no="146"?> ragendes Merkmal berücksichtigt (Zentrierung), da das Kind in der Regel noch nicht verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder einer Beziehung zwischen Gegenständen gleichzeitig erfassen und berücksichtigen kann. Das Kind ordnet also die vielen Eindrücke und Ereignisse, indem es nach Zusammenhängen und Kausalbeziehungen „sucht“. Ein typischer Fehler dieser Periode sind unangemessene Generalisierungen. Des weiteren entwickelt das Kind ein Regelbewusstsein. Das Denken ist aber noch eingleisig und ermöglicht nur die Ausführung einer einzigen inneren Handlung. Gegen Ende dieser Phase wird der frühkindliche Egozentrismus überwunden. Stufe der konkreten Operationen (ca. 7-11 Jahre) Auf dieser Stufe schreitet die Entwicklung des Abstraktionsvermögens fort: „Das Denken ist weiterhin an anschaulich erfahrbare Inhalte gebunden. Es werden aber nun verschiedene Merkmale eines Gegenstandes und Vorgangs gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt [Dezentrierung; C.M.]. Regeln beziehen sich jetzt auf die Relation zwischen zwei und mehr Begriffen. Das Kind denkt im Sinne verinnerlichten Handelns, kann vorausdenken und sein Handeln reflektierend steuern. Logische Schlussfolgerungen über Phänomene, die physische Objekte betreffen, und über konkrete Situationen werden möglich.“ (Textor 2005) „Das Denken besitzt bereits die Eigenschaft der Reversibilität (Umkehrbarkeit), d. h., die konkreten Operationen können gedanklich umgekehrt werden, so daß eine durchgeführte Operation wieder aufgehoben wird.“ (Stangl 2003) Logische und arithmetische Operationen, die beherrscht werden, sind Klassifikation, Seriation und Zahlensysteme. Stufe der formalen Operationen (ab ca. 11 Jahren) Auf dieser Stufe beginnt sich das formal operative Denken von den konkreten Objekten zu lösen und wird dabei immer mehr formalisiert. „Mit dem formalen Denken tritt nach Piaget eine Sinnesumkehrung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ein. Das formale Denken ist grundsätzlich hypothetisch-deduktiv. Denkoperationen können auf dieser Stufe mit abstrakten, nicht mehr konkret vorstellbaren Inhalten durchgeführt werden. Dies entspricht der höchsten Form des logischen Denkens. Das Denken stützt sich jetzt vorwiegend auf verbale bzw. symbolische Elemente und nicht mehr auf Gegenstände. Die Reversibilität ist nun auch formal, d.h., abstrakt, gegeben. Das formale Denken besteht aus einem System von Operationen in zweiter Potenz, d. h., die Kinder können nun mit Operationen operieren, z. B. über ihr eigenes Denken, die Form ihrer Argumentation nachdenken. Nicht nur die inhaltliche Richtigkeit von Aussagen wird überprüft, sondern deren logische Form bzw. der „Wahrheitsgehalt“ (Kritikfähigkeit).“ (Stangl 2003) Spezifische formal operatorische Schemata sind das Schema der Proportion sowie das Schema der Wahrscheinlichkeit, als Beziehung zwischen 134 <?page no="147"?> wirklichen und möglichen Fällen. Aus einer Kombination beider Schemata entwickelt sich das Schema der Korrelation. Diese vier Entwicklungsstufen „bilden eine Ordnung von Strukturen, die sich zunehmend differenzieren und integrieren, um allgemeine Funktionen zu erfüllen. […] Höhere Stufen schließen die Strukturen aller früheren Stufen ein. Zum Beispiel formal operationales Denken schließt alle strukturellen Merkmale des konkret operationalen Denkens ein, allerdings auf einer neuen Stufe der Organisation. Konkret operationales oder gar sensomotorisches Denken verschwindet nicht, wenn formales Denken entsteht, sondern es wird weiterhin in Situationen, wo es adäquat ist oder wenn Anstrengungen im formalen Denken zu keiner Lösung führen, angewandt. Im Individuum gibt es allerdings eine hierarchische Präferenz, d.h. eine Disposition, die Lösung eines Problems auf der höchsten Stufe, die ihm verfügbar ist, zu bevorzugen“ (Piaget (1960), zusammengefasst in Stangl 2003). Demnach ist also Handeln neben dem Denken die Grundlage der intellektuellen Entwicklung. Kleinkinder lernen durch Aktionen wie schütteln, werfen, reiben etc. über die Welt, z.B. über Mengen-, Gewichts- und Größenverhältnisse. Bei Kindern wie bei Erwachsenen ist dabei die Grundintention bzw. -motivation für Handlungen die Befriedigung von Bedürfnissen im ständigen Mechanismus von Anpassung und Äquilibrierung: „Das Kind führt ebenso wenig wie der Erwachsene irgendeinen Akt durch, ohne durch ein Motiv dazu bewogen worden zu sein, und diese Motiv tritt stets in Gestalt eines Bedürfnisses auf (ein elementare Bedürfnis oder ein Interesse, eine Frage usw.). […] Essen oder schlafen, spielen oder sein Ziel erreichen, die Frage beantworten oder das Problem lösen, die Nachahmung fertig bringen oder eine Gefühlsbindung knüpfen, seinen Standpunkt halten: all das sind Befriedigungen, die bei den vorgenannten Beispielen das durch das Bedürfnis ausgelöste Verhalten beenden. Man könnte also sagen, daß der Mensch immer und immer wieder durch die - äußerlichen oder innerlichen - Veränderungen, die es auf der Welt gibt, aus dem Gleichgewicht gebracht wird und daß jede neue Verhaltensweise nicht nur darauf hinausläuft, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, sondern auch auf ein Gleichgewicht abzielt, das stabiler ist als der Zustand vor dieser Störung.“ (Piaget 1978, S. 155/ 156) 7.1.2 Zur Übertragung von Piagets Stufenmodell auf das Lernen Erwachsener Da Piaget sein Stufenmodell für die kognitive Entwicklung von Kindern entwickelt hat, stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich die verschiedenen Denkniveaus auf kognitive Aktivitäten Erwachsener übertragen lassen. Zudem könnte man Piagets Modell entnehmen, dass die kognitive Entwicklung mit der Adoleszenz abgeschlossen ist, und demzufolge die Stufe der formalen Operationen beherrscht wird und ihre Denkoperationen durchweg zum Einsatz kommen. Interkulturelle Studien veranlassten jedoch Piaget selbst zu der Annahme, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit nicht 135 <?page no="148"?> unter allen Umständen gleich sei, sondern in wenig stimulierenden Umgebungen verzögert sein könnte. Hinsichtlich des Übergangs von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter gestand er außerdem der Bereichsspezifität und beruflichen Spezialisierung eine größere Rolle zu (Piaget 1972, zitiert in Riegel 1973, S. 362). Eine Reihe von Studien belegen denn auch, dass bei weitem nicht alle Erwachsenen die formalen Operationen der vierten Stufe konstant beherrschen 2 . Schulmeister und Birkhan bspw. untersuchten das Lernen von Statistik und fanden heraus, dass „auch in studentischen Populationen nur eine kleine Gruppe Operationen auf dem formal-abstrakten Niveau beherrscht. Über die spezifischen Gegenstandsbereiche und die Variation der Vorkenntnisse der Studenten hinweg ist es sinnvoll anzunehmen, daß die Mehrheit der Erwachsenen formal-logische Probleme mit konkret-anschaulichen Mitteln bearbeiten und häufig auch erfolgreich lösen“ (Schulmeister und Birkhan 1983, S. 37). Die Autoren vertreten dementsprechend die Ansicht, dass die kognitive Entwicklung auch nach der Pubertät durchaus noch weiter voranschreite, und dass der Einsatz von Denkoperationen von Art und Komplexität einer Aufgabe abhängig sei: „Die Entwicklung des Denkens dürfte in der Adoleszens noch nicht abgeschlossen sein; Untersuchungen zu Veränderungen im intellektuellen Verhalten von Studenten während des Studiums (Perry 1975) liefern Indizien dafür, daß auch das erwachsene Denken noch Entwicklungsphasen durchlaufen kann, wie sie von Piaget und Kohlberg (1974) für die Entwicklung des moralischen Urteils beschrieben wurden (zu diesen Argumenten vgl. Piaget 1972); die Gründe für die Unabgeschlossenheit des erwachsenen Denkens sind vermutlich darin zu finden, 2 Schulmeister und Birkhan (1983) zitieren z.B. Lovell (1961), Elkind (1962) sowie Towler et al. (1971) für die Untersuchung amerikanischer Studienanfänger; Hammond (1974) und Dilling (1974, referiert in Herron 1975) zu Chemiestudenten; Schirks und Laroche (1970) zu Denkniveaus Erwachsener. Aber auch aktuellere Beiträge vertreten die Ansicht, dass die kognitive Entwicklung nicht mit dem 12. Lebensjahr abgeschlossen ist. Bspw. wies Sutherland nach, dass auch Schüler der Sekundarstufe II (Sutherland 1980, zusammengefasst in Sutherland 1992, S. 162-164) und Personen im Alter von 18 Jahren (Sutherland 2006, S. 128/ 129) nicht die formal-operationale Stufe erreicht haben. Eine Studie von Sutherland (1983) mit 15jährigen Schülern ergab, dass weniger als die Hälfte der untersuchten Stichprobe die formal-operationale Stufe erreicht hatten. Vergnaud argumentiert, dass nicht nur die Entwicklung mathematischphysikalischer Strukturen untersucht werden müsse, sondern auch die Entwicklung spezifischer konzeptueller Bereiche, da auch für diese Schemata entwickelt würden. Er stellt fest: „It is now more and more recognized that cognitive development concerns adults as well as students. Adults learn from experience, also from being trained. It takes as many years to become an expert in one’s profession as it takes a child to master additive structures. It is true also for adults that they develop schemes and operational invariants which can be expressed only partially. They also learn because they have to deal with new situations and therefore need to decombine and recombine former concepts-in-action, theorems-in-action and rules of action, and eventually discover or learn new ones“ (Vergnaud 1996, S. 117). 136 <?page no="149"?> daß die Piagetschen Erkenntnisse nur die Entwicklung der universalen, basalen Kognitionen, der sogenannten Invarianzprinzipien, betreffen, während anzunehmen ist, daß die Entwicklung des Denkens auch von der Art der Aufgaben und Gegenstandbereiche (sachstrukturelle Gründe) und vom Schwierigkeitsgrad der Aufgaben in Relation zu den Lernvoraussetzungen (Komplexität) abhängig ist. Wir gehen demnach davon aus, daß noch der Erwachsene verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung hat, Probleme zu lösen; je nach Art der Aufgabe wird er diese auf den [sic] Niveau konkreten oder formalen Denkens angehen wollen; es können sachstrukturelle Gründe dafür ausschlaggebend sein; und je nach dem Schwierigkeitsgrad der Aufgaben wird auch noch der Erwachsene gezwungen sein, auf niedrigere Denkniveaus zu regredieren, um sie bewältigen zu können (vgl. Piaget 1972); dafür mag der Grad der Beherrschung des formalen Denkniveaus und die Fähigkeit des Erwachsenen zur Inklusion oder Integration basaler Konzepte in komplexere Aufgaben ausschlaggebend sein.“ (Schulmeister und Birkhan 1983, S. 28/ 29) Dieser Ansicht ist auch Stangl (2003): „Man sollte sich also von der Vorstellung lösen, dass ein Individuum die Fähigkeiten eines einmal erworbenen Denkniveaus konsequent und in allen Situationen und Problemen anwendet. Jedes individuelle kognitive System (Schema) ist mehr oder minder beschränkt auf die Situationen, in denen es erlernt wurde und auf die Elemente und ihre Beziehungen, die es strukturiert. Besonders formale Denkoperationen entstehen bei jedem Individuum in seiner Auseinandersetzung mit spezifischen Problemen, sind also die Konsequenz seiner einmaligen und individuellen Lebensgeschichte. Die Aktualisierung unterschiedlich differenzierter und integrierter Struktursysteme hängt selbst wieder mit der Bereichsspezifität der einzelnen Systeme und ihrer Bindung an spezifische, situative und motivationale Faktoren und Bedingungen zusammen.“ Aebli vertritt ebenfalls die Ansicht, dass auch Erwachsene auf Konkret- Anschauliches angewiesen sein können. Er hält fest: „Auch das entwickelte Denken des Erwachsenen hat objektivierte Gegenstände nötig, mit denen es operiert. Die Wahrnehmung wirklicher Gegenstände und die Wahrnehmung von Zeichen kann diese dem Handeln und Denken zur Verfügung halten. Stehen sie nicht zur Verfügung, so muß sie der Handelnde als Vorstellungsbild oder Sprachakt erzeugen. Als bloße Akte aber sind diese Gegenstände Gebilde des Augenblicks und daher sehr viel schwieriger zu verarbeiten als wahrnehmbare Gegenstände. Darum greifen wir zum Kugelschreiber, sobald unsere Handlungspläne komplexer werden und zeichnen wir die Gegenstände, auf denen wir zu handeln gedenken, als Worte oder Skizzen auf.“ (Aebli 1980, S. 209/ 210) Riegel geht so weit festzustellen, dass „it has never been shown convincingly that the highest level of operation, i.e. formal operational intelligence, characterizes the thinking of mature adults“ (Riegel 1973, S. 363). Für die Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit wird die Hypothese aufgestellt, dass sich auch beim Fremdsprachenlernen vollzogene Handlungen im Piagetschen Stufenmodell ansiedeln und auf diesem Hintergrund klassifizieren lassen. 137 <?page no="150"?> Dabei ergibt sich die Problematik, dass Piagets Stufenmodell allgemeine kognitive Leistungen bzw. - aufgrund Piagets naturwissenschaftlicher Methode - eher mathematisch-logische Konstrukte enthält, in der vorliegenden Arbeit jedoch die spezifische Aktivität des Fremdsprachenlernens untersucht werden soll. Für eine Übertragung des Modells in den Arbeitskontext müssen Piagets Denkniveaus also operationalisiert werden. In Übereinstimmung mit Schulmeister und Birkhan (1983) wird dabei von Folgendem ausgegangen: Beim Umgang mit Sprache handelt es sich per se um die Nutzung bzw. die Auseinandersetzung mit einem abstrakten Symbolsystem. Insofern ist fraglich, inwiefern es bei einem solchen Lernprozess überhaupt prälogische oder konkret-anschauliche Niveaus geben kann. Es scheint jedoch, dass in Abhängigkeit von der kognitiven Beherrschung einfachere Operationen für Lerner subjektiv eher konkret-anschaulich sind als andere, schwierigere Stufen - trotz ihrer prinzipiell formal-abstrakten Natur. In diesem Sinne könnte auch bei formal-abstrakten Gegenständen von einem konkret-anschaulichen Denkniveau gesprochen werden. Wie Schulmeister und Birkhan feststellen: „Mit anderen Worten: die Definition formaler und konkreter Denkniveaus in einem insgesamt relativ abstrakten Gegenstandsbereich wie dem der Statistik scheint abhängig von individuellen Lernvoraussetzungen zu sein. Konstrukte wie Konkretheit und Abstraktheit sind nicht völlig durch Aufgaben objektivierbar, die - bezogen auf den Pbn [Probanden, C.M.] - stets subjektive Komponenten enthalten.“ (Schulmeister und Birkhan 1983, S. 32) Die Autoren entschließen sich daher, „die Zuordnung von Pbn zu bestimmten Denkniveaus nicht von der Richtigkeit bzw. Falschheit der Aufgabenlösung her zu leisten, sondern durch die Interpretation und Klassifikation ihrer Problemlösungsprozesse“ (ebd.). Diese Auffassung liegt auch der Datenanalyse der vorliegenden Arbeit zugrunde. Schulmeister und Birkhan identifizierten in ihrer Untersuchung drei Denkniveaus: das formal-abstrakte Niveau, das konkret-anschauliche Niveau und das intuitiv-prälogische Niveau (auch Eskapismus). Lerner des konkret-anschaulichen Levels zeichneten sich dadurch aus, dass sie „die gestellten Aufgaben anscheinend nur in der Weise beantworten können, indem sie sich konkret Variablen und Menschen vorstellen oder aber Zahlenbeispiele in die Formel einsetzen“ (Schulmeister und Birkhan 1983, S. 35). Sie waren also nicht in der Lage, wie die Probanden, die bereits das formalabstrakte Denkniveau erreicht hatten, von fassbaren, figurativen Elementen zu abstrahieren; vielmehr benötigten sie eine Art „Zwischenstufe“, die ihnen eine konkrete Veranschaulichung ermöglichte, um auf diese Weise Aufgaben zu lösen. Dieses Niveau stellt gleichsam einen Rückschritt, eine Art kognitive Regression, dar: Der Lerner ist auf eine physische Transformation des Abstrakten ins Gegenständliche, Anschauliche, Konkrete angewiesen. Auf diesen beiden Denkniveaus, dem formal-abstrakten und dem konkret-anschaulichen Niveau, wird also die Lösung von Problemen angegan- 138 <?page no="151"?> gen. Daneben machten Schulmeister und Birkhan jedoch auch Äußerungen über Sachverhalte aus, „die nur einen scheinbaren oder gar keinen erkennbaren Bezug zur Aufgabe haben“ (Ericsson und Simon, 1978, zitiert in Schulmeister und Birkhan 1983, S. 35). Solche Äußerungen ordneten Schulmeister und Birkhan einem dritten, dem intuitiv-prälogischen Niveau zu, das sie auch Eskapismus nennen. Auf dieser Stufe haben die Lerner derart große Schwierigkeiten mit der Aufgabe, dass sie nicht zu einem angemessenen Lösungsweg in der Lage sind, sondern sich dem Problem vage und intuitiv nähern oder ihm sogar gänzlich aus dem Weg gehen: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Aufgabenstellung durch Sinnfragen ausweichen, ihr Lösungsverhalten lediglich Wiederholungen der Aufgabeninstruktion umfasst, dass sie das Ergebnis mehr erraten als erarbeiten und „die formale Begründung durch einen ablenkenden Verweis auf eine floskelhaft gelernte, häufig zutreffende Metaebene bringen wollen“ (Schulmeister und Birkhan 1983, S. 36). Dass die Lerner zu diesen bereichsspezifischen logischen Operationen der Untersuchung von Schulmeister und Birkhan nicht in der Lage sind, heißt jedoch nicht, dass sie dies prinzipiell auf anderen Gebieten auch nicht sind. Handlungen werden daher unter dem Aspekt ihrer Funktionalität, nämlich als Eskapaden, betrachtet. Ein Unterschied der Übertragung der Piagetschen Denkniveaus auf Erwachsene in der vorliegenden Arbeit im Vergleich zu Schulmeister und Birkhan besteht darin, dass hier auch ein sensomotorisches Niveau festgestellt werden kann. Auf diesem Niveau entwickeln sich nach Piaget in der kindlichen Entwicklung erste sensomotorische Schemata. Verhaltensweisen des Kindes vervielfachen und verfeinern sich durch Wiederholung und Variation von Bewegungen und den damit verbundenen Erfahrungen. Das Kind „[verleibt] ein für ihn neues Objekt nach und nach jedem seiner »Aktionsschemata« (schütteln, reiben, werfen usw.) ein […], als ob es darum ginge, es durch seinen Gebrauch zu begreifen […]. Es existiert hier also eine sensomotorische Assimilation, die mit dem, was später die Assimilation des Realen durch Begriffe und Denken ausmacht, verglichen werden kann“ (Piaget 1978, S. 160). Beim Lernen einer Sprache gibt es ebenfalls motorische Abläufe, die gelernt werden müssen. Im Unterschied zur kindlichen Entwicklung entwikkeln sich dabei aber keine sensomotorischen Begriffe i.S.v. „Objekt X ist zum …“. Dennoch muss die Koordination von Bewegungen gelernt werden, die als Summe ein sprachliches Zeichen ausmachen. Man könnte also die Bildung sensomotorischer Schemata in der frühkindlichen Entwicklung mit dem Lernen einer L2 insofern vergleichen, als beim L2-Lernen auch eine koordinierte Bewegung, nämlich ein Artikulationsereignis (ein Wort oder eine Gebärde), erlernt werden muss, mit der ein Begriff bezeichnet werden kann. Diese koordinierte Bewegung muss beim L2-Lernen geübt werden, besonders dann, wenn die artikulierten Wörter bzw. Gebärden sich nicht aus dem Phoneminventar der L1 zusammensetzen. Auf dieser Grundlage 139 <?page no="152"?> wurden im Korpus der vorliegenden Arbeit einige Strategien identifiziert, die dem Trainieren der Motorik zur Artikulation einer zielsprachlichen Gebärde dienen. Eine Schwierigkeit bei der Einordnung von Äußerungen der vorliegenden Untersuchung stellt die Modalität von Gebärdensprache dar: Gebärdensprache als Untersuchungsgegenstand verleitet dazu, kognitive Operationen eher als „anschaulich“ einzustufen als bei lautsprachlichen Äußerungen. Aufgrund der visuell-gestischen Sprachmodalität und der manuellen Artikulatoren scheinen gebärdensprachliche Äußerungen auf den ersten Blick „konkreter“, „anschaulicher“ im eigentlichen Wortsinn zu sein, als lautsprachliche Äußerungen. Dieser Eindruck entsteht, da als sprachliches Mittel die Hände eingesetzt werden, die sonst außersprachlich zu eben der Manipulation von konkreten Gegenständen dienen, welche üblicherweise dem konkret-anschaulichen Denkniveau zuzuordnen ist. Das Agieren der Hände im Raum, bei dem Sprache - im Gegensatz zur Lautsprache - sichtbar wird, erscheint also anschaulicher, obwohl Gebärdensprache als solche ein ebenso abstraktes Symbolsystem ist wie ein Lautsprach-System. Jedoch nicht nur das Agieren der Hände als solches vermittelt diesen Eindruck. Eine Eigenschaft von Gebärdensprachen ist der hohe Anteil an Ikonizität in sprachlichen Zeichen. Die Sprachmodalität ermöglicht es, eine bildhafte Beziehung zwischen Objekten der realen Welt und den manuellen Sprachzeichen herzustellen, wobei u.a. die Phonologie der jeweiligen Gebärdensprache die letztendliche Form des Zeichens bestimmt (s. Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“). Diese ikonische Motiviertheit von Gebärden kann in der Tat als eine Art „Veranschaulichung“, quasi im wörtlichen Sinn, interpretiert werden. Im Piagetschen Sinne zeichnen sich formal-abstrakte Denkoperationen vor allem dadurch aus, dass sie rein sprachlich vollzogen werden. Dies ist bei Gebärdensprachen zwar gegeben, jedoch ist hier die Sprache anders beschaffen als Lautsprache. Sie weist zwar mit der doppelten Gliederung den symbolisch-abstrakten Charakter von Sprache auf, ist jedoch andererseits von einem hohen Anteil an Motiviertheit der sprachlichen Zeichen geprägt. Was also ist „formal-abstrakt“, was „konkret-anschaulich“ im Fall von Gebärdensprachen? Es erscheint sinnvoll, diese Unterscheidung im Einzelfall aufgrund funktioneller Aspekte zu treffen. Wenn ein Lerner nicht zur Lösung von Problemen mittels rein abstrakter kognitiver Operationen, losgelöst von gegenständlichen Elementen, in der Lage ist, sondern auf das Zurückgreifen auf konkrete, greifbare Dinge angewiesen ist, wird vom konkret-anschaulichen Denkniveau ausgegangen. Dies bedeutet, dass nicht jede gebärdensprachliche Äußerung oder Handlung per se dem konkret-anschaulichen Niveau zuzuordnen ist - trotz eines ikonischen Anteils. Vielmehr entscheidet das Vorhandensein oder Fehlen kognitiver Strukturen 140 <?page no="153"?> über das jeweilige Denkniveau: Fehlen diese, regrediert der Lerner und greift auf niedrigere Niveaus zurück. 7.2 Metakognitive Kontrollen als Klassifizierungsgrundlage für kognitive Strategien Ein wesentliches Merkmal, das erfolgreiche von schwächeren Lernern unterscheidet, ist, dass erstere über bessere metakognitive Kompetenzen verfügen (vgl. Kapitel 5.3 „Eigenschaften eines ‚guten Fremdsprachenlerners‘“; für Untersuchungen, die sich nicht auf das L2-Lernen beziehen, vgl. z.B. Kluwe 1987, S. 47; Brown 1987, S. 86-88; Puntambekar 1995, S. 170/ 171). Daher ist anzunehmen, dass in einem Unterricht, in dem Wert auf die Befähigung von Menschen zu autonomen Lernern gelegt wird, die Vermittlung metakognitiver Kompetenzen eine wichtige Rolle spielen muss. Der Begriff „Metakognition“ wurde von John H. Flavell in den 1970er Jahren eingeführt. Er führte die erste moderne Studie zu Metagedächtnisvorgängen bei Kindern durch (Flavell, Friedrichs und Hoyt 1970). Mit Metakognition bezeichnete er „jene Form des Denkens […], die sich selbst zum Gegenstand hat oder sich auf kognitive Aspekte des Tuns richtet“ (Fischer und Mandl, 1983). Eine Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit Metakognition besteht darin, dass der Begriff unterschiedlichen theoretischen Hintergründen entstammt und für verschiedene Gegenstände verwendet wird (Campione 1987, S. 119; für einen Überblick über die historischen Wurzeln des Konstrukts s. Brown 1987, S. 69-105). Außerdem gibt es diverse Berührungspunkte von Metakognition mit anderen psychologischen Konzepten wie „executive processes; formal operations; consciousness; social cognition; self-efficacy, self-regulation; reflective self-awareness; and the concept of psychological self or psychological subject“ (Flavell 1987, S. 25) sowie Motivation (Weinert 1987). Diese Umstände erschweren den Vergleich von Studien. Ein weiteres Problem besteht bei der Beschäftigung mit konkreten Daten in der Differenzierung zwischen dem, was „meta“ ist, und dem, was „kognitiv“ ist (Brown 1987, S. 66). Konrad erklärt zur engen Verwandtschaft der beiden Konzepte: „Zum einen kann dieselbe Strategie einmal im Hinblick auf ein kognitives, ein anderes Mal im Hinblick auf ein metakognitives Ziel eingesetzt werden […]. Das Anlegen eines Metermaßes an einen Balken beispielsweise kann je nach Beweggrund Teil einer praktischen, absichtlich initiierten Lösungshandlung sein oder der Überprüfung dienen. Zum anderen kann eine Strategie gleichzeitig auf ein kognitives und ein metakognitives Ziel bezogen sein. […] Das enge Zusammenspiel zwischen Kognition und Metakognition zeigt sich auch daran, dass metakognitives Wissen dazu beitragen kann, die Abwesenheit relevanten domänenspezifischen Wissens zu kompensieren; zugleich ist anzunehmen, dass seine 141 <?page no="154"?> Wirksamkeit davon bestimmt wird, ob relevantes Wissen über das Handlungsfeld verfügbar ist.“ (Konrad 2004, S. 23/ 24) Ein verbreiteter Ansatz bei der Untersuchung von Metakognition ist die Unterscheidung von Wissen über die Kognition („knowledge about cognition“) und Regulierung der Kognition („regulation of cognition“). Wissen über die Kognition „refers to the stable, statable, often fallible, and often late developing information that human thinkers have about their own cognitive processes“ (Brown 1987, S. 67/ 68). Die Regulierung umfasst Aktivitäten „used to regulate and oversee learning“ (ebd., S. 68). Diese beiden Konstrukte sind eng miteinander verbunden (Brown 1987, S. 67/ 68; Schraw 2002, S. 5/ 6) und interagieren im selbstgesteuerten Lernprozess in dynamischer Weise: „Neither one alone can facilitate the entire process: knowledge includes an understanding of the task demands, of oneself as a learner, and the comparative relationship between the two; control […] is the application and evaluation of that knowledge in action. These processes do not take place in a linear fashion but occur in a more cyclic, interactive manner.“ (Ertmer und Newby 1996) Für die Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit, insbesondere für die weitere Kategorisierung der metakognitiven Strategien, ist die Regulierung der Kognition durch metakognitive Kontrollen von besonderer Relevanz 3 . Konrad stellt fest, dass „unter der Vielzahl der in der Literatur genannten Dimensionen der metakognitiven Kontrolle […] fünf stets eine besondere Beachtung [erfahren], die in metakognitionspsychologischen Modellen bestimmten Phasen des Handlungsverlaufs zugeordnet werden: Orientierung, Planung, Überwachung, Regulation und Evaluation“ (Konrad 2004, S. 27). Er erläutert die einzelnen Phasen wie folgt: „1. Orientieren: Die erste Phase des Lerngeschehens wird als Vorbereitungs- oder Orientierungsphase bezeichnet (Hmelo & Lin, 2000). Beim Orientieren versucht 3 Die Explizierung von Ansätzen zum metakognitiven Wissen würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. An dieser Stelle sei lediglich erwähnt, dass bspw. Flavell metakognitives Wissen auf der Basis von Personen-, Aufgaben- und Strategievariablen definiert. Metakognitives Strategiewissen bezieht sich dabei „auf jenen Ausschnitt der individuellen Wissensstruktur, in dem Kenntnisse über die Eigenschaften, den aufgabenspezifischen Nutzen und die Randbedingungen des situationsgerechten Einsatzes von Lernstrategien und Aktivitäten der Selbststeuerung abgespeichert sind. So kann die lernende Person feststellen, dass es sinnvoll ist, die Schlüsselbegriffe in einem Text zu identifizieren und sie anschließend in eigenen Worten zu wiederholen“ (Konrad 2004, S. 25/ 26). In diese Kategorie des Meta-Wissens fallen z.B. Kenntnisse bzgl. der eigenen Schwächen sowie der Umstände, die dem eigenen Lernen förderlich sind. Im Korpus der vorliegenden Arbeit finden sich einige Äußerungen von Informantinnen, die sich auf diese Art des Wissens beziehen. Da sie jedoch keinen strategischen Charakter haben (es sei denn, die Informantinnen ergreifen weiterführende Maßnahmen), wird an dieser Stelle auf die detaillierte Beschreibung der Informantenäußerungen verzichtet. 142 <?page no="155"?> sich die Person ein Bild der neuartigen oder irritierenden Situation zu machen. Sie analysiert die Sachlage, identifiziert mögliche Ursachen für ihr mögliches Unbehagen und versucht die Begebenheit begrifflich zu fassen (Stebler, 1999). 2. Planen: Nach Beyer (1987) dient die antizipierende Planung drei Zwecken: Sie erleichtert die tatsächliche Ausführung der Aufgabe, sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, die Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können und sie unterstützt die Entstehung qualitativ hochwertiger Produkte (z. B. effektive Lösungen oder Entscheidungen). Unterschiedliche Facetten der Planung lassen sich drei übergeordneten Aufgabenbereichen zuweisen: dem Formulieren eines klaren Ziels, der Sequenzierung mehrerer der Zielerreichung zugeordneter Strategien und/ oder Prozeduren und der Identifikation potentieller Hindernisse, die die erfolgreiche Zielerreichung blockieren könnten. 3. Überwachen: Überwachen („monitoring“) wird von vielen Autor/ innen als Schlüssel der Selbststeuerung angesehen (Schraw, 1998b; Ley & Young, 2001). Im Unterschied zur Evaluation beschränkt sich Monitoring darauf, die eigene Leistung festzustellen und zu registrieren. Vergleiche mit dem Ergebnis werden in den meisten Konzeptionen nicht unterstellt. Zu den bekanntesten Ausnahmen zählen die theoretischen Vorstellungen von Butler und Winne (1995; Butler, 1998a). Diese Autor/ innen verwenden den Ausdruck „monitoring“ für das Einholen von Informationen über den aktuellen Stand der Informationsverarbeitung und den Vergleich mit dem Ziel. „Monitoring is pivotel in SRL (self regulated learning, der Autor). It is the process that assesses states of progress relative to goals and generates feedback that can guide further action.“ (Butler & Winne, 1995, S. 259) 4. Regulieren: Metakognitive Regulation optimiert das Lernen, indem sie die lernende Person dazu animiert, ihr Lernverhalten zu korrigieren und Verstehensdefizite zu beheben (Puntambekar, 1995; Hacker, 1998b). Regulation kann auch der Beeinflussung der Lernumwelt gelten. Strategien des Ressourcenmanagements, die auf die Modifikation der Lernumgebung abzielen, können zu einer besseren Anpassung der Situation an die Ziele des/ der Lernenden führen und ihn/ sie darin unterstützen, aktuelle Projekte trotz bestehender Schwierigkeiten und sich widersprechender Ziele voranzutreiben (Puntambekar, 1995). 5. Evaluieren: Selbstgesteuert Lernende orientieren sich an einem impliziten oder expliziten Leistungsstandard, bewerten ihre Leistung an diesem Standard, identifizieren strategische Probleme und sind sich darüber im Klaren, wie diese Strategien zu korrigieren sind (Winne, 1997, 2001). In Phasenmodellen der Selbststeuerung […] beenden evaluative Urteile eine Regulationsschleife oder initiieren Aktivitäten der Regulation […]. Aufgabe der Evaluation ist die Beurteilung der Lernprodukte sowie der Effizienz des eigenen Lernens. Typische Beispiele sind die Neubewertung eigener Ziele sowie die abschließende Bewertung einer Handlung (Schraw, 1998b).“ (Konrad 2004, S. 27/ 28; Hervorhebung im Original) Bei diesen Phasen des Handlungsverlaufs kommt der Evaluation eine besondere Rolle zu: Sie entscheidet darüber, ob der Lerner eine regulatorische Aktivität einsetzt oder nicht. 143 <?page no="156"?> Der Lerner greift also nicht zu regulatorischen Maßnahmen, wenn er entweder keine Schwierigkeiten oder eine positive Evaluation registriert. Nur wenn die Evaluation negativ verläuft, sieht sich der Lerner veranlasst, die eigenen Lernaktivitäten zu modifizieren bzw. sein eigenes Lernen zum Gegenstand weiterer Überlegungen zu machen. Hier sieht Konrad auch den Anlass für eine Erweiterung des Wissens oder des Strategierepertoires: „Stellt der/ die Lernende zum Beispiel fest, dass die Ursache des Nicht-Verstehens im eigenen fehlenden Wissen oder in der fehlerhaften Strategieanwendung besteht, sollte er/ sie seine/ ihre Lernaktivität entsprechend modifizieren. Dazu kann es erforderlich sein, das eigene Wissen zu erweitern und/ oder alternative Strategien zu wählen. Sofern dies geschieht, kann man von Regulation sprechen.“ (Konrad 2004, S. 31) Diesen fünf Phasen möchte ich eine sechste hinzufügen, die in der Literatur ebenfalls häufig genannt wird: das Überprüfen (checking, vgl. Kluwe 1987, S. 37-39; Chi 1987, S. 260/ 261) 4 . Hierunter sollen Handlungen verstanden werden, mit denen Lerner ihre eigenen Kenntnisse, ihren sprachlichen Output oder das Verstehen zielsprachlicher Äußerungen überprüfen. Während bei Ersterem das Vorhandensein kontrolliert wird („Weiß ich X oder weiß ich X nicht? “), wird beim sprachlichen Output die Korrektheit bzw. Angemessenheit der eigenen Äußerung geprüft. Der Standard, mit dem 4 Das Überprüfen in verschiedenen Phasen des Lösungsprozesses ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Polyas „Liste“ heuristischer Mittel (vgl. Kapitel 6.3.2 „Heurismen nach Polya“). Abb. 11: Positive und negative Evaluation im Lernverlauf aus: Konrad 2004, S. 31 144 <?page no="157"?> dieser Output abgeglichen wird, kann dabei entweder ein zielsprachliches Vorbild oder eigenes Wissen bzgl. der zielsprachlichen Norm sein. Das Verstehen, das in der Live-Kommunikation mit anderen Menschen über die Sinnhaftigkeit kontrolliert wird (Wolff 2002, S. 137), kann in den Laut-Denk- Experimenten der vorliegenden Arbeit durch Manipulation der Lernobjekte kontrolliert werden: In den Übungen befolgen die Lernerinnen die gebärdensprachlichen Anweisungen eines Tutors; sie sollen jeweils eine bestimmte Wegstrecke mit einem Auto „abfahren“, das sie über die Tastatur steuern. Die Lernerinnen haben also Gelegenheit, die Zielsprache zu rezipieren, die verstandenen Informationen aktiv umzusetzen und das Verstehen der DGS zu überprüfen. Überprüfungshandlungen sind im Schema von Konrad zwischen dem Monitoring und der Evaluation anzusiedeln. Da sie sich vergleichsweise gut von diesen beiden Phasen abgrenzen lassen, halte ich es für sinnvoll, hierfür eine eigene Kategorie zu bilden. Mit dem Rückgriff auf diese sechs metakognitiven Kontrollen wird eine feinere Analyse möglich als O‘Malley und Chamot (1990) sie vorgenommen haben. In ihrem Strategieklassifizierungsansatz unterscheiden sie nur zwischen Planung, Monitoring und Evaluation. In der Entwicklungstheorie Piagets gehören metakognitive Kompetenzen zu den Fähigkeiten, die sich erst spät entwickeln. Sie stellen sehr anspruchsvolle Aktivitäten dar, die auf dem Niveau der formalen Operationen angesiedelt sind. „What knowledge really consists of is not just the acquisition and accumulation of information, since that alone would remain inert and sightless, as it were. But knowledge organizes and regulates this information by means of autocontrol systems directed toward adaptation, in other words, toward the solving of its problems“ (Piaget 1971, S. 61) Piaget zufolge entwickeln Kinder solche Kontrollsysteme ab dem siebten Lebensjahr, und erst mit dem 11.-12. Lebensjahr sind diese Systeme voll ausgebildet (Piaget 1969, S. 146). Erst in diesem Alter bekommt Piagets Experimenten zufolge „die Anstrengung, sich das eigene Denken bewusst zu machen, mehr und mehr systematischen Charakter“ (Piaget 1974, S. 150), und erst dann sind Kinder in der Lage, Wissen über ihre eigenen kognitiven Aktivitäten zu speichern und damit zu kontrollieren 5 . Dieses anfängliche 5 Kluwe (1987) bemerkt hierzu: „Yet, the research results discussed show that there are children younger that 7 who engage in control and regulation“ (S. 46). Brown stellt fest: „For Piaget, reflected abstraction requires hypothesis testing and evaluation, and the ability to imaginge possible worlds and their outcomes; therefore, it demands formal operational thought (Piaget, 1976). For others, earliers signs of emergence are possible; however, reflection is rarely attributed to the very young child or novice, regardless of how precocious they might be (Brown & DeLoache, 1978)“ (Brown 1987, S. 68). 145 <?page no="158"?> Unvermögen zur „Introspektion“ liegt im kindlichen Egozentrismus begründet: „In der Tat bringt die Egozentrik des Denkens notwendigerweise eine gewisse Unbewußtheit mit sich. Demjenigen, der ausschließlich für sich denkt und der deshalb ständig in einem Zustand des Glaubens lebt, d. h. des Vertrauens in sein eigenes Denken, kommt es wenig auf die Motive und die Gründe an, die seinen Denkprozeß geleitet haben; erst unter dem Druck der Diskussionen und der Gegensätze wird er sich in den Augen der anderen zu rechtfertigen bemühen und wird er somit die Gewohnheit annehmen, sich beim Denken zu beobachten, d.h. durch Introspektion sowohl die Motive, die ihn leiten, als auch die Richtungen, die er verfolgt, unmittelbar zu unterscheiden versuchen.“ (Piaget 1974, S. 144) Piaget sieht also in sozialem Kontakt den Auslöser dafür, dass das Kind in seiner Entwicklung dazu kommt, sich mit dem eigenen Denken und Handeln auseinanderzusetzen: Indem es sich mit anderen Menschen verständigt und sich mit ihren Ansichten beschäftigt, wird dem Kind sein eigenes Denken und Handeln bewusst, und es erhält sozusagen Zugriff darauf. Überträgt man die o.g. Ansicht, dass auch Erwachsene nicht immer zu Operationen des formal-abstrakten Denkniveaus in der Lage sind, sondern dass der Einsatz von Denkoperationen von der Art und Komplexität einer Aufgabe abhängt, so wird deutlich, dass metakognitive Kompetenzen nicht zu den Fähigkeiten gehören, die als „trivial“ und wenig anspruchsvoll angesehen werden können. Bisher ist wenig darüber bekannt, bei welchen Anlässen metakognitive Kontrollen eingesetzt werden 6 . Kluwe bemerkt hierzu: „It is not clear when control is activated during solution search; however, it is usually assumed that unexpected difficulties trigger cognitive operations directed at the checking and evaluation of own cognitive efforts. Yet, the behavior of good problem solvers and good learners, who are inclined to control the own approach even in the absence of difficulties, contradicts this assumption. The characteristics of the information acquired through executive control are unkown.“ (Kluwe 1987, S. 48) 6 Brown (1987) zitiert Marshall und Morton (1978), die von „Emma“ sprechen, einem Mechanismus, der das Aufspüren und Berichtigen von Fehlern beim Sprechen ermöglicht; „Emma“ steht dabei für „even more mysterious apparatus“ (S. 65). 146 <?page no="159"?> 8 Lernstile: Definitionen und Klassifizierungsansätze Sowohl historisch als auch aktuell betrachtet gibt es viele unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Lernprozesse aussehen und welche Variablen dabei eine Rolle spielen. Nach der Überwindung des behaviouristischen Paradigmas kam mit der „kognitiven Wende“ auch die Konzentration auf das Individuum und seine Vorlieben beim Lernen sowie die Erkenntnis, dass nur durch die Einsicht in Lernprozesse auch eine Optimierung des Unterrichts einhergehen kann. Besonders beachtet und gründlich bearbeitete Bereiche sind dabei - häufig weitgehend unabhängig voneinander - die Konstrukte der Lernstile und der Lernstrategien. Die vorliegende Arbeit untersucht die Korrelation von Lernstilen und -strategien empirisch. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass sich Vorlieben beim Gebrauch von Lernstrategien aus dem Lernstil-Profil eines Individuums ableiten lassen. Wie für das Konstrukt der Strategien gibt es auch für das Stilkonstrukt sehr viele unterschiedliche Begriffsdefinitionen und Klassifizierungsansätze; es gibt eine nahezu unüberschaubare Fülle an Modellen, Untersuchungen und Messinstrumenten. Im Folgenden wird zunächst eine Abgrenzung von Stilen zum Strategiekonstrukt vorgenommen. Anschließend wird das Konstrukt der Lernstile näher erläutert: Der Diskussion des Begriffs folgt ein Überblick über eine Auswahl existierender Klassifizierungsmodelle. Anhand der Modelle wird die diachrone Entwicklung des Konstrukts verdeutlicht. Da zur Überprüfung der Hypothese das Lernstil-Modell von David A. Kolb (1984) herangezogen wird, wird dieser Ansatz ausführlich beschrieben. Dieses Modell ist eines der wenigen, die eine fundierte theoretische Grundlage aufweisen. Kolbs Ansatz ist in der Entwicklungspsychologie verankert und basiert auf den Arbeiten von Dewey, Lewin und Piaget. Nach der Darstellung dieses Modells werden Untersuchungen zum Stilkonstrukt erläutert, die speziell im Kontext der L2-Forschung durchgeführt wurden. Zum L2-Lernen einer Gebärdensprache gibt es nur eine Studie (Furline 2004); diese wird aufgrund ihrer Relevanz ausführlicher beschrieben. Schließlich wird das dem Stilkonstrukt verwandte Konstrukt der „approaches to learning“ erläutert. 8.1 Charakterisierung des Verhältnisses von Stilen und Strategien Die Unterschiede zwischen Stilen und Strategien liegen den meisten Autoren zufolge im Wesentlichen in ihrem vermuteten Ursprung, im Grad der Bewusstheit, in ihrer Stabilität sowie der Art ihres Auftretens. 147 <?page no="160"?> Stile stellen ein Konstrukt dar, das der Tatsache Rechnung tragen will, dass Individuen allgemein unterschiedlich an Dinge heranbzw. damit umgehen. Strategien hingegen beinhalten Operationen, die eine konkrete Zielsetzung haben: Fehler in Entscheidungsprozessen zu vermeiden (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 3), ein Lernziel zu erreichen (Friedrich und Mandl 1992) oder die Erweiterung von Kompetenz (Edmondson und House 1993). Hinsichtlich des Ursprungs von Stilen wird von einigen Autoren angenommen, dass sie (zumindest teilweise) in der Physiologie des Menschen verankert sind, dass sie also angeboren oder zumindest in einem sehr frühen Alter erworben werden (Riding 2001, S. 48 und 55). Strategien dagegen werden erlernt und entwickelt, um mit Situationen und Aufgaben umzugehen. Riding spricht ihnen die Rolle von regulierenden „Ausmerzern“ zu, die quasi das Beste aus dem angeborenen Stil-Profil einer Person machen müssen: „Strategies are ways that may be learned and developed to cope with situations and tasks, and particularly methods of using styles to make the best of situations that are not ideal. These will be developed, for instance, by the individual sensing that certain modes are easier to use, recognizing a learning perference, and deciding to ‚translate‘ new incoming information into that representation.“ (Riding 2001, S. 68/ 69) In diesem Sinne sind Stile also die in einem Menschen verankerten Dispositionen, mit Informationen und Aufgaben umzugehen, und Strategien die erlernten Wege und Handlungen für die konkrete bestmögliche Verarbeitung bzw. Lösung eines Problems. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Stilen und Strategien ist darüber hinaus der Grad der Bewusstheit. Von Stilen wird dabei im Allgemeinen angenommen, dass sie ihren „Eignern“ gar nicht oder nur in einem sehr geringen Maße bewusst sind. Strategien wird hingegen ein sehr hoher Grad (zumindest potenziell) an Bewusstheit zugesprochen (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 3, Knapp-Potthoff und Knapp 1982, S. 134). Die Wahl, welche Strategie angewendet wird, wird demnach bewusst in Abhängigkeit von den Anforderungen der Situation getroffen (Renzulli und Dai 2001, S. 34). Einigen Autoren zufolge besteht der Unterschied zwischen Stilen und Strategien quasi ausschließlich in dem Maß, in dem sie bewusst oder automatisiert ablaufen (vgl. die Unterscheidung von Prozessen und Strategien aufgrund desselben Kriteriums bei Knapp-Potthoff und Knapp 1982, S. 130ff.): „When a strategy is so contrived and overused that it becomes spontaneous and indiscriminate, this is a case of a strategy turning into a style, that is, a stable, self-consistent disposition.“ (Renzulli und Dai 2001, S. 34) „When students habitually adopted a particularly strategy, he said they exhibited a style of learning.“ (Pask 1976, zitiert in Biggs 2001, S. 78) 148 <?page no="161"?> Bzgl. der Stabilität von Stilen herrscht Uneinigkeit unter den Vertretern der verschiedenen Stilkonstrukte. Während man sich vergleichsweise einig darüber ist, dass der Gebrauch von Strategien in erster Linie abhängig von der Aufgabe oder vom Kontext ist (z.B. Sternberg und Grigorenko 2001, S. 3), gibt es hinsichtlich der Stabilität von Stilen unterschiedliche Positionen: So vertreten bspw. Riding und auch Gardner et al. die Ansicht, dass Stile angeboren sind bzw. sich im Laufe der (frühen) Entwicklung stabilisieren, so dass sie relativ stabil sind und nicht aufgaben- oder kontextsensitiv sind (Riding 2001, S. 48, Gardner et al. (1959), zitiert in Biggs 2001, S. 75/ 76; vgl. auch Pask 1988). Dieser Position stehen Ansätze gegenüber, die davon ausgehen, dass Stile veränderbar sind. Renzulli und Dai bspw. gestehen Stilen zwar eine gewissen Stabilität zu, ihrer Ansicht nach sind Stile jedoch an Situationen anpassungsfähig (und damit auch lehr- und lernbar, vgl. Sternberg 1997). Könnten Personen ihren Stil nicht an Aufgaben oder den Kontext anpassen, so verlören Stile nach Renzulli und Dai erheblich an Wert. Bspw. verlangten bestimmte Berufszweige oder Fachgebiete geradezu nach einem bestimmten Stil-Profil, so dass in jahrelanger Ausbildung die Tendenz zu einem Stil trainiert (und dieser von den Lernern verinnerlicht) würde: „For styles to have some adaptive values, they should be compatible to important aspects of environmental demands. Otherwise, styles would be completely idiosyncratic without functional significance. […] Thus, styles, though stable, are also dynamic, interacting with the environment and undergoing adaptive changes.“ (Renzulli und Dai 2001, S. 36) Krapp warnt davor, Strategien und Stile als hierarchische Kategorien desselben Gegenstandes anzusehen, die lediglich auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen analysiert werden. Er plädiert für eine klare begriffliche Trennung zwischen Strategien und Stilen - zweier „scheinbar dicht beieinander liegender Konzepte“ (Krapp 1993, S. 294) -, da diese unterschiedlichen Denkmodellen entstammten. Krapp gibt zu bedenken, dass viele Klassifizierungen, z.B. die der Mikro-, Meso- und Makroebene (s. Friedrich und Mandl 1992) die Vorstellung suggerierten, dass Lernstile, -strategien und techniken im Prinzip vergleichbare psychologische Phänomene seien. „Doch das ist eine irreführende Vorstellung. Die Kategorien Lerntechnik, Lernstrategie und Lernstil (bzw. Lerntyp) geben nur im Kontext bestimmter theoretischer Modellvorstellungen einen Sinn. Und diese impliziten Modellvorstellungen stehen untereinander keineswegs in einer hierarchischen Ordnung, sondern repräsentieren z.T. diametral verschiedene Perspektiven oder Paradigmen psychologischer Forschung.“ (Krapp 1993, S. 294) Krapp verdeutlicht dies am theoretischen Hintergrund des Strategie- und des Stilkonstrukts: Hinter ersterem stehe ein kognitiv-handlungstheoretisches Paradigma, im Rahmen dessen Strategien als Komponenten der informationsbasierten Handlungssteuerung aufgefasst würden. Eine ad- 149 <?page no="162"?> äquate Konzeptualisierung und Analyse von Lernstrategien müsse dementsprechend versuchen, diese allgemeingültigen Prozesse der kognitiven Verarbeitung in Form funktionaler Abhängigkeiten mögichst vollständig und genau abzubilden. Das Konstrukt der Lernstile basiere dagegen auf dem Denkmodell der (differenziellen) Persönlichkeitspsychologie. Dabei gehe es um die Frage, wie sich Lerner (dauerhaft und situationsübergreifend) unterscheiden ließen, und wie sich diese differenzierenden Merkmale diagnostisch erfassen ließen. „So betrachtet verbietet sich die Vorstellung, daß sich die verschiedenen Bedeutungsvarianten des Begriffs Lernstrategie einfach ergänzen oder lediglich verschiedene Aspekte des gleichen theoretischen Konstrukts repräsentieren. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß sie z.T. unterschiedlichen paradigmatischen Orientierungen oder Forschungsrichtungen der Psychologie entstammen und ganz unterschiedliche Sachverhalte des Lernens thematisieren (Asendorpf, 1990).“ (Krapp 1993, S. 295) Krapp zieht hieraus die Konsequenz, dass „man zumindest den allgemeinpsychologisch-handlungstheoretischen Zugang vom differentialpsychologischen Zugang klar unterscheidet und hier auch auf eine konsequente Differenzierung der Begriffe achtet“ (ebd.). Diese Verdeutlichung der unterschiedlichen theoretischen Hintergründe, aus denen die Begriffe Lernstil und Lernstrategie entstammen, spricht - über inhaltliche Differenzierungen hinaus - für die terminologische Trennung der beiden Konstrukte. 8.2 Konkretisierung des Stilkonstrukts Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob die Verwendung von bestimmten Strategie(cluster)n beim Fremdsprachenlernen durch das Lernstil- Profil eines Individuums erklärbar ist. Ursprung des Stilkonstrukts, das seine erste Blütezeit in den 1960er und 1970er Jahren hatte, war die Erkenntnis, dass sich durch die Erforschung der Fähigkeiten einer Person allein nicht erklären lässt, warum sich Individuen in ihren (Lern-) Leistungen unterscheiden. Vor allem Vertreter der differentiellen Psychologie sowie der Instruktions-Psychologie strebten danach, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche individuellen Unterschiede es zwischen Menschen gibt, und inwiefern diese dazu beitragen, Lernen positiv oder negativ zu beeinflussen. Es wurde eine Vielzahl von Messinstrumenten entwickelt, mit denen bestimmt werden sollte, welche Präferenzen Individuen beim Lernen haben, mit der Absicht, die gewonnenen Erkenntnisse in die Unterrichtsgestaltung einfließen zu lassen. Im Laufe der Jahre wurden sehr viele unterschiedliche Ansätze zu möglichen Dimensionen von Stilen sowie Modelle zu ihrer Klassifizierung entwickelt, vorwiegend in den USA und Nordwesteuropa, insbesondere in 150 <?page no="163"?> Großbritannien. Begriffe wie „Lernstil“, „Denkstil“ oder „kognitiver Stil“ eroberten die Disziplinen, die sich mit dem Lernen beschäftigten 1 . Etwa seit der Jahrtausendwende erlebt das Stilkonstrukt ein Revival - obwohl Schulmeister anmerkt, dass „der Forschungsstand aber nicht viel weiter fortgeschritten zu sein scheint“ (Schulmeister 2004, S. 21). Dennoch ist auch er der Ansicht, dass das Stilkonstrukt einen wertvollen Beitrag dabei leisten kann, die Ursachen für unterschiedliche Leistungen beim Lernen zu beleuchten: „Gutes oder schlechtes Abschneiden im Lernerfolg mag sich zum Teil und bei bestimmten Inhalten und Kontexten durch den verschiedenen Lernstil der Studierenden erklären und weniger ein Ergebnis des didaktischen Arrangements sein.“ (Schulmeister 2004, S. 19) Die Fülle der entwickelten Modelle zu Stilen spiegelt die Komplexität der Variablen wieder, die bei menschlichen Denk- und Lernprozessen (möglicherweise) beteiligt sind. Die Zahl der Konstrukte nahm jedoch geradezu überhand: „It seemed to have come to the point where anyone who wished to ‚discover’ a new style devised an interestingly different test situation and then compared high and low scorers across a wide front to find in what other ways they might happen to differ from each other.“ (Biggs 2001, S. 76) Da die Ansätze aus unterschiedlichen Schulen stammen, sie nicht zueinander in Beziehung gesetzt wurden und in der Regel eine übergeordnete Theorie fehlt, ist es schwer, gemeinsame Nenner zu finden bzw. das Konstrukt klar zu definieren. Riding und Cheema beklagten bereits 1991: „The cognitive style construct has been elusive; this is partly due to the fact that many researchers working within the learning/ cognitive style research, fail to mention the existence of other types of style. As a result [...], different theorists have been working with different concepts and have referred to them as a ‚cognitive/ learning style‘. Indeed, attempts to unite these scattered schools of thought have been extremely rare.“ (Riding und Cheema 1991, S. 193) So wurden in den verschiedenen Stilkonstrukten zahlreiche, äußerst unterschiedliche Dimensionen herangezogen, die sich erstrecken von • kognitiven Arten der Informationsorganisation (abstrakt - konkret; aktiv - reflektiv/ passiv; holistisch - analytisch) über • Informationsaufnahmetypen (verbal - visuell; verbal - haptisch; feldabhängig - feldunabhängig), • sozial-affektiven Interaktionsskalen (vermeidend - teilnehmend; Wettbewerb suchend - kooperativ; abhängig - unabhängig) und 1 Schulmeister (2006) beschreibt die beachtliche Bedeutung, die Lernstile mittlerweile in der Bildungspolitik der USA erlangt haben: Im Rahmen der Diskussion um die Diversität der Studentenschaft an den US-amerikanischen Hochschulen wurde eine Vielzahl von Einrichtungen ins Leben gerufen, die Lernstile erforschen, darüber informieren, und die für das Testen der Studierenden zuständig sind (S. 85-88). 151 <?page no="164"?> • persönlichkeitszentrierten Stilen (extrovertiert - introvertiert; rational - gefühlsbetont) bis hin zu • Stilkonstrukten, die äußere Gegebenheiten wie Geräuschpegel, Lichteinfall, Temperatur und Möbeldesign berücksichtigen. Die Modelle unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung, sondern auch bzgl. ihrer mehr oder weniger gelungenen Abgrenzung zu Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen, der empirischen Realibilität und Validität der Messinstrumente und ihrer (meist nicht vorhandenen) Einordnung in einen theoretischen Hintergrund. Coffield et al. merken über diese theoretischen Differenzen hinaus an, dass die kommerzielle Vermarktung der Messinstrumente der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema nicht unbedingt zuträglich gewesen sei: „The commercial gains for creators of successful learning styles instruments are so large that critical engagement with the theoretical and empirical bases of their claims tends to be unwelcome.“ (Coffield et al. 2004, S. 1) Finanzielle Interessen stehen also der wissenschaftlichen Hinterfragung entgegen (s. auch Schulmeister 2006, S. 87/ 88). Darüber hinaus stellen die Autoren fest, dass die durch vermarktete Messinstrumente erhobenen Ergebnisse häufig keine Rückkopplung mehr an die Forschung erfahren: „Mainstream use has too often become separated from the research field.“ (Coffield et al. 2004, S. 1) Den meisten Ansätzen ist jedoch gemein, dass sie Stile als Schnittstelle zwischen geistigen Fähigkeiten und Persönlichkeit ansehen (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 13). Stile werden charakterisiert als - eher unbewusste - Vorlieben oder gewohnheitsmäßige Vorgehensweisen, die über längere Zeit stabil sind (ebd., S. 2) 2 . Ihre Dimensionen sind bipolar: Jede Dimension stellt ein Kontinuum dar, dessen Pole - in Abhängigkeit von der Situation und den kognitiven Anforderungen der betreffenden Aufgabe - jeweils ihren Wert haben (Messick 1976, zitiert in Entwistle, McCune und Walker 2001; Jonassen und Grabowski 1993). 2 Vor allem das Merkmal der Stabilität führte teilweise zu unerwarteten und nicht wenig kontroversen Schlussfolgerungen: „For example, the belief that styles are fixed has led to propositions that marriage partners should have compatible learning styles, that people from socially disadvantaged groups tend to have a particular style, or, as Gregorc (1985) believes, that styles are God-given and that to work against one’s personal style will lead to ill-health“ (Coffield et al. 2004). Das Merkmal der Stabilität wird - vor allem in neueren Modellen - negiert bzw. aufgeweicht. Es wird diskutiert, inwieweit Stile aufgaben- und kontextsensitiv und veränderbar und damit lehrbzw. lernbar sind (Sternberg 1997, S. 90; Renzulli und Dai 2001, S. 36), oder nicht vielmehr als „allgemeine Modi und strukturelle Eigenschaften in kognitiven Systemen“ in der Veranlagung eines Individuums determiniert (Messick 1984, 1994, zitiert in Renzulli und Dai 2001, S. 34). 152 <?page no="165"?> Das Stilkonstrukt wurde ursprünglich entwickelt, um ein Interface zwischen Fähigkeiten und Persönlichkeit zu etablieren. Demnach muss es sich von diesen durch bestimmte Merkmale abgrenzen lassen (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 13; Sternberg 1997, S. 134). 8.2.1 Abgrenzung zu Fähigkeiten Eine viel zitierte Unterscheidung zwischen Stilen und Fähigkeiten ist die von Sternberg. Demnach sind Fähigkeiten ein Ausdruck dessen, was eine Person kann, wozu sie fähig ist, wohingegen Stile bezeichnen, wie sie dies bevorzugt tut (Sternberg 1997, S. X und 18). Stile repräsentieren demzufolge ein Set an Vorlieben, und nicht ein Set an Fähigkeiten (Sternberg 1997, S. 134). Ähnlich formulieren es Renzulli und Dai: „Abilities address the question of whether one is capable of learning or performing specific cognitive tasks, […], and cognitive and learning styles address the question of what are characteristic ways one approaches learning tasks. Defined as such, styles reflect more generalized and pervasive aspects of personal functioning than do abilities and interests.“ (Renzulli und Dai 2001, S. 33/ 34) Ein weiterer Unterschied zwischen Stilen und Fähigkeiten liegt in der Wertneutralität von Stilen. Eine Fähigkeit hat man i.d.R. mehr oder weniger (sie ist unipolar), und dies wird bewertet als gut oder schlecht. Stile dagegen haben jeweils eine Dimension, welche zwei Pole hat; sie sind also bipolar, und immer in Abhängigkeit von einer Situation und ihren Anforderungen ist dieser Pol nützlich oder nicht (vgl. Messick 1976, S. 6-9, zitiert in Entwistle, McCune und Walker 2001, S. 106; Sternberg und Grigorenko 2001, S. 6). Im Lichte der Leistung sieht Riding die Unterscheidung zwischen Stilen und Fähigkeiten: Demnach haben beide Konstrukte Auswirkungen auf das Ergebnis beim Lösen einer Aufgabe: Fähigkeit und Leistung stehen in einem „Parallelverhältnis“: In dem Maße, indem die Fähigkeit steigt, wird die Leistung besser; ein Mehr an Fähigkeit bedeutet ein Mehr an Leistung. Der Stil jedoch wirkt sich in Abhängigkeit von der Art der Aufgabe auf die Leistung entweder negativ oder positiv aus (Riding 2001, S. 52). Gerade in Unterrichtszusammenhängen kann also der Stil eines Lerners - ganz unabhängig von seinen Fähigkeiten - große Auswirkungen auf seinen Lernerfolg haben. Denn Erfolg beim Lösen einer Aufgabe hängt - zumindest teilweise - davon ab, ob die Aufgabe es dem Lerner erlaubt, seinen bevorzugten Stil anzuwenden (vgl. Sternberg 1997, S. 12). Renzulli und Dai äußern sich genauer zu der Frage, wie die Zusammenhänge zwischen Fähigkeiten und verschiedenen Stilen aussieht und fassen mögliche Beziehungen zusammen (Renzulli und Dai 2001, S. 30). Demnach könnten intrapersonelle Muster von Fähigkeiten prägend für die charakteristischen Lernmodi, also die Stile, sein. Ebensogut könnten aber auch bestimmte stilistische Dispositionen die Entwicklung von Fähigkeiten erleich- 153 <?page no="166"?> tern oder behindern. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Zusammenhang zwischen Fähigkeiten und Stilen nicht wirklich klar ist. Die Frage, ob Fähigkeiten die Stile prägen, oder umgekehrt Stile die Fähigkeiten determinieren, bleibt im Grunde offen: „We may never solve this chickenand-egg-problem.“ Renzulli und Dai zufolge lässt sich jedoch zumindest bei einigen Personen beobachten, dass ihre Stile das Ergebnis davon sind, dass sie ihre Stärken nutzen und ihre Schwächen kompensieren (Renzulli und Dai 2001, S. 30/ 31), dass also die Fähigkeiten die Stile beeinflussen. „If this argument holds, individual differences in cognitive and learning styles partly reflect differential responses to environmental demands and different action patterns based on individuals’ strenghts and weaknesses, consciously or unconsciously.“ (Renzulli und Dai 2001, S. 31) 8.2.2 Abgrenzung zu Persönlichkeitsmerkmalen Stile sind nicht nur von Fähigkeiten, sondern auch von Persönlichkeitsmerkmalen zu unterscheiden. Unter Persönlichkeit wird im allgemeinen ein vergleichsweise stabiles Muster von Merkmalen verstanden, die das Denken, Fühlen und Handeln einer Person beeinflussen und prägen, und die nicht nur aus der momentanen Situation heraus verstanden werden können: „Personality is the complex organization of cognitions, affects and behaviors that gives direction and pattern (coherence) to the person’s life. Like the body, personality consists of both structures and processes and reflects both nature (genes) and nurture (experience). In addition, personality includes the effects of the past, including memories of the past, as well as constructions of the present and future.” (Pervin 1996, S. 414) Persönlichkeitsmerkmale, die sich in vielen Untersuchungen wiederholt als Dimensionen gezeigt haben und als die „Big-Five“ bezeichnet werden (z.B. Costa und McCrae 1985, 1989), sind: • Extraversion (gesellig, gesprächig, dominant, durchsetzungsfähig, bestimmt, aktiv, initiativ) • Verträglichkeit (freundlich, höflich, kooperativ, gutherzig, vertrauensvoll, versöhnlich) • Gewissenhaftigkeit (verantwortungsbewusst, zuverlässig, sorgfältig, planvoll, ausdauernd) • Emotionale Stabilität (positiv: beherrscht, ruhig, sicher; negativ: angespannt, nervös, deprimiert) • Offenheit (einfallsreich, intellektuell, kultiviert, originell, für neue Erfahrungen aufgeschlossen) Persönlichkeitsmerkmale sind also stabile Eigenschaften eines Individuums, die gleichsam die basalen Determinanten für Denk- und Handlungsweisen einer Person sind. Unter Stilen hingegen werden die bevorzugten Herangehensweisen an Ideen und Aufgaben verstanden. 154 <?page no="167"?> Nicht alle Ansätze, die sich als (Lern-) Stil-Ansätze verstehen, berücksichtigen diese Differenzierung zwischen Stilen, Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen. Für andere Autoren wiederum bildet diese Unterscheidung die Grundlage für die Klassifizierung von Stilen (z.B. Curry 1983, Sternberg und Grigorenko 1995, 2001). M.E. stellt diese Differenzierung eine sinnvolle Unterscheidungsgrundlage dar, mit deren Hilfe unterschiedliche Aspekte des Lernens getrennt voneinander betrachtet werden können. 8.3 Unterschiedliche Modelle der Klassifizierung von Stilen Seit den 1980er und verstärkt den 1990er Jahre entwickelt sich die Tendenz, sich von den auf einzelnen, fest definierten Variablen basierenden frühen Stil-Ansätzen zu lösen und vielmehr größere theoretische Konstrukte zu bilden. Die einzelnen Modelle zu Stil-Dimensionen detailliert wiederzugeben geht aufgrund der großen Fülle an Ansätzen über den Rahmen dieser Arbeit hinaus 3 . Im Folgenden werden die wichtigsten Modelle zur Klassifizierung von Stil-Dimensionen vorgestellt, um einen Eindruck von den verschiedenen Aufassungen sowie von der historischen Entwicklung zu vermitteln 4 . Currys „Onion“-Modell und das Modell der Lernstilfamilien nach Coffield et al. klassifizieren Stil-Dimensionen nach dem Grad der Stabilität, den die jeweiligen Autoren für ihr Stilkonstrukt annehmen. Riding und Cheema dagegen subsumieren über 30 verschiedene Stil-Ansätze in den Dimensionen holistisch - analytisch und verbal - visuell. Sternberg und Grigorenko sowie Riding und Rayner unterscheiden im Wesentlichen kognitivzentrierte Stile von Lernstilen. Jonassen und Grabowski sowie Riding schließlich gehen über die Klassifizierung von Stil-Modellen hinaus. Sie setzen Stile zu weiteren Komponenten wie kognitiven Kontrollen, Fähigkeiten, Persönlichkeit, Vorwissen, Unterricht u.a. in Beziehung. 3 Coffield et al. (2004) identifizierten über 70 Ansätze. Für eine ausführliche Beschreibung von Stilmodellen vgl. z.B ebd. oder Jonassen und Grabowski (1993). 4 Den verschiedenen Auffassungen bzgl. der Natur von Stilen ist geschuldet, dass Stilmodelle in verschiedenen Klassifizierungsansätzen unterschiedlich eingeordnet werden. Exemplarisch sei dies am Beispiel des Modells von Gregorc (1982) beschrieben. In diesem Modell werden Stile als unterschiedliche Vorlieben der Organisation von Zeit und Raum angesehen. Dabei gibt es für Zeit die Dimension sequenziell - willkürlich (random), und für Raum die Dimension konkret - abstrakt. Die Pole einer Dimensionen sind jeweils mit den Polen der anderen Dimensionen kominierbar. Während aber bspw. Riding und Rayner das Modell der holistisch-analytischen Dimension von kognitiven Stilen zuordnen (2002, S. 20), gilt es bei Jonassen und Grabowski als Lernstilmodell (1993, S. 289ff.) und bei Sternberg und Grigorenko als Modell der persönlichkeits-zentrierten Stile (2001, S. 15). 155 <?page no="168"?> 8.3.1 Currys „Onion“-Modell Curry entwickelt 1983 ein Modell, in dem sie eine Klassifizierung existierender Lernstilmodelle vornahm. Ihr Modell beruht auf der Metapher einer Zwiebel, bei der die Schalen für die vier Kategorien stehen, in die Curry die Lernstilmodelle einteilt. Die Kategorisierung erfolgt nach dem Grad der Stabilität, der für die entsprechenden Stile angenommen wird (s. Abb. 12). Die Stabilität nimmt zum Zentrum hin zu und die Modifikationsanfälligkeit bzw. -fähigkeit ab: Der cognitive personality style im Zentrum wird als die stabilste Dimension angesehen. Die darauffolgende Schicht symbolisiert den information processing style. Dieser ist bereits anfälliger für Veränderungen. Die dritte Schicht, die von Curry nicht in der anfänglichen Version ihres Modells vorgesehen war, steht für die soziale Interaktionsform, die ein Lerner während des Lernprozesses bevorzugt. Die äußere Schicht symbolisiert die instructional preference. Diese umfasst die Art der Lernumgebung, die ein Lerner individuell favorisiert. Sie ist der Beobachtung am ehesten zugänglich und am anfälligsten für äußere Einflüsse. Currys „Onion“-Modell stellt eine erste Annäherung an eine Klassifizierung von Lernstil-Modellen dar. Es wurde jedoch im Laufe der Zeit nicht aktualisiert, so dass neuere Ansätze in diesem Modell unberücksichtigt bleiben. 8.3.2 Das Modell der Lernstilfamilien nach Coffield et al. Coffield et al. (2004) führten im Rahmen eines von der Learning and Skills Development Agency (LSDA) in Auftrag gegebenen Projekts eine umfangreiche Evaluation bestehender Lernstil-Modelle durch. Auch sie klassifizieren die Modelle - wie Curry - nach dem Grad, in dem die jeweiligen Abb. 12: „Onion“-Modell von Curry (1983, 1987) aus: Staemmler 2006, S. 10 156 <?page no="169"?> Autoren von der Stabilität von Stilen ausgehen (Coffield et al. 2004). Coffield et al. verwarfen ältere Lernstilklassifizierungen aus drei Gründen: „We rejected or synthesised existing overviews for three reasons: some were out of date and excluded recent influential models; others were constructed in order to justify the creation of a new model of learning styles and in so doing, strained the categorisations to fit the theory; and the remainder referred to models only in use in certain sectors of education and training or in certain countries.“ (Coffield et al. 2004, S. 10) Coffield et al. identifizierten insgesamt 3.800 Arbeiten, aus denen sie 71 Lernstil-Modelle extrahierten. 13 von diesen 71 Modellen kategorisierten sie als für die Thematik zentral 5 . Diese ordneten sie in „Lernstilfamilien“ ein, die sie entlang eines Kontinuums verorteten. Coffield et al. erläutern dieses Kontinuum wie folgt: „At the left-hand end of the continuum, we have placed those theorists with strong beliefs about the influence of genetics on fixed, inherited traits and about the interaction of personality and cognition. While some models, like Dunn and Dunn’s, do acknowledge external factors, particularly immediate environment, the preferences identified in the model are rooted in ideas that styles should be worked with rather than changed. Moving along the continuum, learning styles models are based on the idea of dynamic interplay between self and experience. At the right-hand end of the continuum, theorists pay greater attention to personal factors such as motivation, and environmental factors like cooperative or individual learning; and also the effects of curriculum design, institutional and course culture and teaching and assessment tasks on how students choose or avoid particular learning strategies.“ (Coffield et al. 2004, S. 10) 5 Für die genauen Kriterien bzgl. der Auswahl ihrer Literatur s. Coffield et al. 2004, S. 5. Learning styles and preferences are largely constitutionally based including the four modalities: visual, auditory, kinaesthetic, tactile. Learning styles reflect deep-seated features of the cognitive structure, including ‘patterns of ability’. Learning styles are one component of a relatively stable personality type. Learning styles are flexibly stable learning preferences. Move on from learning styles to learning approaches, strategies, orientations and conceptions of learning. Abb. 13: Lernstilfamilien aus: Coffield et al. 2004, S. 9 157 <?page no="170"?> Coffield et al. gestehen selbst ein, dass diese Darstellungsweise ihre Grenzen hat (Coffield et al., S. 11). Bspw. besteht die Gefahr, dass größere Unterschiede zwischen den Klassen suggeriert werden als vielleicht im Einzelfall vorhanden sind. Auch geraten die komplexen Einflüsse, die zur Bildung einzelner Modelle geführt haben, bei dieser Darstellung in den Hintergrund. Außerdem sind Überschneidungen zwischen den Modellen nicht zu erkennen. 8.3.3 Reduzierung auf die Dimensionen holistisch - analytisch und verbal - visuell nach Riding und Cheema Einen anderen Versuch, Ordnung in das Stil-Dickicht zu bringen, unternahmen Riding und Cheema (1991). Die verschiedenen Stil-Modelle (Riding und Cheema berücksichtigten über 30 Ansätze) können demnach in zwei fundamentalen kognitiven Dimensionen zusammengefasst werden: Die kognitive Organisation von Informationen kann holistisch oder analytisch vonstattengehen, die mentale Repräsentation der Informationen verbal oder visuell (zusammengefasst auch in Riding 2001): Die Dimension holistisch - analytisch bezieht sich auf die Neigung einer Person, Information als Ganzes oder in Teilen zu organisieren 6 . Diese Dimension beeinflusst die strukturelle Art und Weise, wie Individuen über Informationen und Situationen denken und auf sie reagieren. Dies beeinflusst die Art und Weise, in der sie die Informationen beim Lernen organisieren, wie sie ihre Arbeitssituation wahrnehmen und sich gegenüber anderen Leuten verhalten. • Holisten sehen eine Situation als Ganzes, haben den Überblick und wissen den Gesamtkontext zu schätzen. Da sie immer das Gesamtbild sehen, haben sie ein ausgewogenes Bild vor Augen und können Situationen in einem übergeordneten Kontext sehen. Dies macht es eher unwahrscheinlich, dass sie sich verzetteln oder extreme Sichtweisen einnehmen. Allerdings hat der holistische Stil zum Nachteil, dass tendenziell Unterschiede zwischen einzelnen Elementen nicht wahrgenommen werden und verschwommen erscheinen können. • Analytiker hingegen sehen eine Situation als eine Sammlung von Teilen, fokussieren oft einen oder zwei Aspekte einer Situation zur Zeit und schließen damit andere aus. Sie sind gut darin, Bestandteile einer Situation zu analysieren, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu entdecken, und sie kommen daher schnell zum Kern eines Problems. Allerdings kann die Fokussierung eines Aspekt diesen Gesichtspunkt verzerren oder (ungerechtfertigterweise) überbetonen. Letztlich haben Analytiker tendenziell kein ausgewogenes Gesamtbild einer Situation. 6 Diese Dimension geht auf Pask (1976) zurück; s. hierzu Kapitel 8.7.1 „Pask: Holistische und serialistische Strategie“. 158 <?page no="171"?> • „Intermediates“, also Personen, die nicht eindeutig einem Pol dieser Dimension zugeordnet sind, gelingt es, einen Blickwinkel einzunehmen, der zwischen den beiden Extremen liegt. Die Dimension verbal - visuell bezieht sich einerseits darauf, ob eine Person dazu neigt, Informationen während des Denkens verbal oder in mentalen Bildern zu repräsentieren. Da dieser Stil die Informationsverarbeitung und den Modus, in dem etwas repräsentiert bzw. präsentiert wird, betrifft, wirkt sich diese Dimension auch auf den Aufgabentyp aus, den das Individuum schwierig oder einfach findet. Riding zufolge kann jeder Lerner beide Pole benutzen, wenn er sich bewusst dafür entscheidet. Gewohnheitsmäßig tendiert man jedoch zu einem der beiden Pole (es sein denn, man ist „bimodal“). Zudem beinhaltet diese Dimension, ob der Fokus einer Person eher nach innen oder nach außen gerichtet ist; diese Tendenz hat Auswirkungen auf soziale Beziehungen und darauf, in welcher Umgebung Personen sich wohlfühlen. • Verbalisierer fassen das, was sie lesen, sehen oder hören in Worten oder verbalen Assoziationen auf. Sie richten ihren Fokus auf andere, ziehen eine stimulierende Umgebung vor, und sehen die soziale Gruppe quasi als Erweiterung ihrer selbst. • Visualisierer erfahren fließende, spontane, mentale Bilder, entweder von der Repräsentation der Information selbst oder von Assoziationen mit ihr. Sie richten ihren Fokus eher nach innen. Visualisierer sind eher passiv und mit einer statischen Umgebung zufrieden; die soziale Gruppe sehen sie eher in Distanz zu sich selbst. Untersuchungen von Riding ergaben, dass es keine Korrelation zwischen diesen Stil-Dimensionen und den Faktoren Geschlecht, Alter und Intelligenz gibt (2001, S. 51). Riding et al. führten mehrere Studien durch, die sich mit den Ursprüngen von Stilen beschäftigten. Dazu zählt die Untersuchung der Beziehung zwischen Stilen und Hirnaktivität (zusammengefasst in Riding 2001, S. 53/ 54) und eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Stilen und häuslichem Hintergrund von Kindern (Riding, Rayner und Banner 2000). Die Ergebnisse dieser Studien veranlassten Riding zu der Annahme, dass Stile eine physiologische Basis haben und entweder angeboren sind oder in einem sehr frühen Alter erworben werden. Bezogen auf das Lernen stellt Riding fest, dass Stile Auswirkungen auf die Struktur (z.B. großschrittig vs. kleinschrittig) und den Präsentationsmodus des Lernmaterials (verbal vs. bildhaft) sowie auf den Inhaltstyp haben (z.B. Textverständnis, Lesekompetenz, Fremdsprachenlernen etc.). 159 <?page no="172"?> Der kognitive Stil einer Person bildet sich in Abhängigkeit von der Position eines Individuums in jeder der beiden Dimensionen. Durch die Kombination der Positionen ergibt sich ein Profil, das die Person eher dazu neigen lässt, Informationen auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren und sie zu repräsentieren. So neigt bspw. ein Holist-Visualisierer dazu, Informationen ganzheitlich und tendenziell bildhaft zu betrachten, ohne jedoch (gewohnheitsmäßig) analytisch vorzugehen. Die vier Pole der zwei Dimensionen sind also quasi frei kombinierbar und bilden jeweils den kognitiven Stil einer Person (s. Abb. 14). Angesichts der Vielzahl an Dimensionen, die in den unterschiedlichen Lernstil-Modellen postuliert werden, erscheint es unwahrscheinlich, dass sich aus 30 Modellen die Dimensionen holistisch-analytisch oder verbal-visuell extrahieren lassen - es sei denn, die Auswahl dieser Modelle präindiziert diese Dimensionen und dient der Untermauerung des vorgelegten Modells, wie Staemmler den Autoren unterstellt (2006, S. 18). Es besteht je- Organisation Repräsentation Abb. 14: Stil-Dimensionen nach: Riding und Cheema 1991 160 <?page no="173"?> denfalls die Gefahr, dass diese beiden Dimensionen derart weit gefasst werden, dass sie sehr unpräzise werden und damit wenig hilfreich sind 7 . 8.3.4 Kognitiv-zentrierte, persönlichkeits-zentrierte und aktivitätszentrierte Stile nach Sternberg und Grigorenko Sternberg und Grigorenko (1995, 2001) wiederum differenzieren zwischen drei verschiedenen Typen von Stilen: kognitiv-zentrierte, persönlichkeits-zentrierte und aktivitäts-zentrierte Stile. Kognitiv-zentrierte Stile sind Sternberg und Grigorenko zufolge individuelle Arten und Weisen der Informationsverarbeitung (2001, S. 2). Sie bilden die Schnittstelle zwischen Fähigkeiten und Persönlichkeit. Von diesen 7 Ebenfalls einen Versuch, „Kerndimensionen“ existierender Lernstilmodelle zu extrahieren (allerdings auf einer weitaus weniger qualifizierten Grundlage), unternehmen Gordon und Bull (2004). Sie stellen einige Lernstil-Modelle einander gegenüber, deren Gemeinsamkeit in der Postulierung von jeweils vier Lernstilen besteht: der Keirsey Temperament Sorter II, das Kolbsche Lernstil-Modell, die Hermann Brain Dominance, das Modell von Honey-Mumford, das 4MAT Modell und das Modell von Gregorc. Gordon und Bull sehen es als evident an, dass diese Modelle viele Gemeinsamkeiten aufweisen: „[…] it is clear that the models share a great deal in common, particularly in the order they have been presented here and the descriptions used. It is clear that the dimensions of each of these models have strong overlapping characteristics“ (S. 4). Den Autoren scheinen die von ihnen wahrgenommenen Ähnlichkeiten dermaßen offensichtlich, dass sie sie nicht weiter ausführen. Sie gestehen zwar ein, dass die Dimensionen der verschiedenen Modelle durchaus spezifische Unterschiede aufweisen; diese ignorieren Gordon und Bull jedoch zugunsten eines handlicheren Modells, das möglichst viele Lerner(typen) einschließen und sich möglichst leicht in Online-Lernumgebungen umsetzen lassen soll (S. 3). Gordon und Bull selbst extrahieren aus den genannten Modellen - ihrem numerologisch anmutenden Ansatz folgend - vier „Kern-Lernstile“: „Alpha style - these are the practical learners, they like to understand how topics being taught relate to the real world. They also like topics which are clearly structured. Beta style - these are the discussion-oriented learners, they like to work in groups, and derive most benefit from intrapersonal learning. Gamma style - these are the holistic learners, they prefer an overview of topic before delving into specific detail. They are also highly imaginative individuals and bring this resource to the learning process. Delta style - these are the analytical learners, they are dispassionate learners who like to focus on concepts, theories and logic“ (S. 4/ 5). Gordon und Bulls Klassifizierungsansatz erscheint in mehrfacher Hinsicht ungerechtfertigt: Die Autoren begründen nicht, warum sie ausgerechnet die genannten Modelle in ihren Ansatz einbezogen (außer, dass diese jeweils von vier Lernstilen ausgehen); da die Modelle jeweils von verschiedenen theoretischen oder empirischen Hintergründen ausgehen, erscheint es nicht gerechtfertigt, oberflächlich ähnlich beschriebene Stile aus den sechs Modellen als gleichwertig anzusehen. Darüber hinaus sehen Gordon und Bull die Ausgrenzung solcher Modelle, die nicht aus vier Stilen bestehen, nicht als Problem an: Diese ließen sich als Erweiterungen ihres eigenen Modells betrachten: „Clearly, there are a number of learning styles models which do not have four dimensions. Based on our approach it becomes possible to classify them as a progressive series of models each one adding more and more dimensions in a logical succession […]“ (S. 7). Davon kann m.E. nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. 161 <?page no="174"?> unterscheiden sich persönlichkeits-zentrierte Stile, bei denen die Konzeptualisierung und die Untersuchung der Stile jedoch eher der von Persönlichkeit als der von Kognition ähnelt. Aktivitäts-zentrierte Stile schließlich unterscheiden sich insofern von kognitiven und persönlichkeitszentrierten Stilen, als sie eher handlungsbezogen sind: „They are more centered around kinds of activities people engage in at various points in their lives, such as schooling and work“ (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 16-18) 8.3.5 Kognitiv-zentrierte Stile und der learning-centred approach nach Riding und Rayner Von dieser dreiteiligen Kategorisierung, kognitiv-zentriert, persönlichkeits-zentriert und aktivitäts-zentriert, gehen zunächst auch Rayner und Riding (1997) aus. Sie erachten jedoch die persönlichkeits-zentrierten Stile als vernachlässigenswert, da sie keine empirischen Beweise für deren Einfluss auf die allgemeine Entwicklung von lernstilbasierten Theorien ausmachen können - zumal sie nur ein Lernstilmodell (Myer und Briggs 1985) dieser Kategorie zuordnen können. Demnach unterscheiden Riding und Rayner zwischen zwei großen Klassen von Stilen: Unter kognitiv-zentrierten Stilen fassen sie die Konstrukte zusammen, die sich mit Stilen auf der Grundlage von interindividuellen Differenzen hinsichtlich der Kognitions- und Wahrnehmungsfunktion auseinandersetzen 8 . Die Kategorie der aktivitäts-zentrierten Stile wurde später in „learning-centred approach“ umbenannt, um ihre Verortung im Bildungsbereich zu unterstreichen (Riding und Rayner 2002, S. 50). Riding und Rayner vertreten einen weiten Lernstilbegriff: „The term ‚learning style’ should be understood to refer to an individual set of differences that include not only a stated personal preference for instruction or an association with a particular form of learning activity but also individual differences found in intellectual or personal psychology.“ (ebd., S. 51) Innerhalb der aktivitäts-zentrierten Stile kann nach Riding und Rayner zwischen folgenden Gruppen unterschieden werden (ebd., S. 51, 53): Stil-Modelle, die basieren auf • dem Lernprozess - basierend auf dem Erfahrungslernen (Kolb 1976, 1984; Honey und Mumfort 1986, 1992), • dem Lernprozess - basierend auf der Lernorientierung (Schmeck et al. 1977; Biggs 1978, 1985; Entwistle 1979; Entwistle und Tait 1994), 8 Für eine Auflistung früher Ansätze vgl. Riding und Rayner 2002, S. 17; eine Zuordnung aktuellerer Ansätze zu den Dimensionen holistisch - analytisch und verbal - visuell findet sich ebd., S. 20. 162 <?page no="175"?> • der Instruktionspräferenz (Grasha und Riechmann 1975; Price et al. 1976, 1977; Dunn et al. 1989) und • der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten und Lernstrategien (Keefe und Monk 1986; Keefe 1989a, 1989b, 1990; Letteri 1980; Reinert 1976). Die ersten drei Gruppen befassen sich dabei im Allgemeinen mit dem Lernen als Prozess und seinem Kontext. „They are characterised by a specific focus on individual differences in the process of learning rather than within the individual learner.“ (ebd., S. 51) Die vierte Gruppe befasst sich dagegen eher mit intraindividuellen Merkmalen. 8.3.6 Jonassen und Grabowski: Individual Differences, Learning and Instruction Ein weiterer, sehr umfassender Ansatz, der sich bemüht, die existierenden Stilkonstrukte in einem Modell zu vereinigen, ist die Arbeit von Jonassen und Grabowski (1993). Die Autoren schaffen jedoch nicht nur einen Rahmen für die verschiedenen Stilkonstrukte, sondern sie entwerfen in ihrem Handbuch ein komplexes Modell, das weit über die Ebene von Stilkonstrukten, mit der sich z.B. Riding und Cheema beschäftigen, hinausreicht: Jonassen und Grabowskis Ansatz berücksichtigt generell interindividuelle Unterschiede beim Lernen. Er ordnet die bestehenden Stilkonstrukte auf verschiedenen Stufen ein und setzt sie mit weiteren Einflussvariablen in Verbindung (s. Abb. 15). In ihrem Modell gehen Jonassen und Grabowski von kognitiven Fähigkeiten sowie Persönlichkeitsmerkmalen und Vorwissen aus, die die Grundlage für die kognitiven Kontrollen und Stile eines Individuums bilden bzw. mit ihnen interagieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Modellen berücksichtigen Jonassen und Grabowski in ihrem Modell explizit Lehre (instruction) und Lerngegenstand (content). 163 <?page no="176"?> In der folgenden Tabelle bieten Jonassen und Grabowski einen Überblick über die lernerbezogenen Ebenen und ordnen ihnen bestehende theoretische Ansätze bzw. Dimensionen und Konstrukte zu: Abb. 15: Modell interindividueller Unterschiede beim Lernen aus: Jonassen und Grabowski 1993, S. xi Ebene existierende Konstrukte General mental abilities (intelligence) Primary mental abilities Hierarchical abilities (fluid, crystallized, and spatial) Products Cognitive Controls Operations Content Field dependence/ independence (global vs. articulated style) Field articulation (cognitive flexibility) Cognitive tempo (reflectivity/ impulsivity) Focal attention (scanning/ focusing) Category width (breadth of categorizing) Cognitive complexity/ simplicity Cognitive styles: Information gathering Strong versus weak automatization Visual/ haptic Visualizer/ verbalizer Leveling/ sharpening 164 <?page no="177"?> Für die theoretischen Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit sind insbesondere die Komponenten allgemeine kognitive Fähigkeiten, kognitive Kontrollen und kognitive Stile sowie Lernstile von Interesse. Diese werden im Folgenden näher erläutert. Allgemeine kognitive Fähigkeiten Unter allgemeinen kognitiven Fähigkeiten verstehen Jonassen und Grabowski „intellectual aptitudes for learning“ (1993, S. 5). Diese Fähigkeiten bilden die geistige Grundlage sowohl für die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen als auch für viele Persönlichkeitsmerkmale eines Individuums. Die Etikettierung dieser Variable mit „Intelligenz“ mag nahe liegend erscheinen, Jonassen und Grabowski vermeiden jedoch diesen Begriff, „because it is too complex, yet too vague, and cannot be correlated with the specific learning requirements of instructional approaches“ (ebd.). Kognitive Kontrollen und Stile Kognitive Kontrollen und Stile beziehen sich auf die Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt, auf die Aufnahme und Organisation von Informationen und ihre Anwendung. Kontrollen regulieren und kontrollieren die Wahrnehmung der das Individuum umgebenden Stimuli. Stile reflektieren individuelle Gewohnheiten; sie stellen Neigungen von Individuen dar, Informationen auf eine bestimmte Art und Weise zu gewinnen und sie zu 165 Tab. 11: Learner Traits aus: Jonassen und Grabowski 1993, S. 4/ 5 Cognitive styles: Information organizing Learning styles Serialist/ holist Conceptual style Hill’s cognitive style mapping Kolb’s learning styles Personality: Attentional and engagement styles Dunn and Dunn learning styles Grasha-Riechman learning styles Gregorc learning styles Anxiety Personality: Expectancy and incentive styles Tolerance for unrealistic experiences Ambiguity tolerance Frustration tolerance Locus of control Prior knowledge Introversion/ extraversion Achievement motivation Risk taking vs. cautiousness Prior knowledge and achievement Structural knowledge <?page no="178"?> organisieren. Dabei erachten Jonassen und Grabowski die Kontrollen als enger verbunden mit den kognitiven Fähigkeiten, wohingegen Stile eher allgemeine Wahrnehmungs- und Verarbeitungscharakteristiken darstellen. Kognitive Kontrollen stellen ein Level dar, das zwischen kognitive Fähigkeiten und kognitive Stile fällt: Sie tragen Merkmale von beiden Ebenen. Dass es sich bei kognitiven Kontrollen und Stilen um teilweise recht unscharfe Konstrukte handelt, zeigen die Widersprüche, die sich in Jonassen und Grabowskis Gegenüberstellungen finden (vgl. die Tabellen auf den Seiten 84 und 174 sowie den erläuternden Text dazu (S. 85), der wiederum abweichende Informationen zu den Eigenschaften von Kontrollen und Stilen liefert) 9 . Lernstile Lernstile beschreiben die Vorlieben eines Lerners bzgl. seiner Lernaktivitäten, also seine bevorzugte Herangehensweise an einen Lerngegenstand. 9 Darauf angesprochen erwidert David Jonassen: „Thanks for your careful reading of the book. You are correct in pointing out the inconsistencies. It was a long time ago, so I cannot recall the processes that may have resulted in the contradictions. It is likely that I missed those in proof reading. Another reason is that controls share characteristics with both abilities and styles. For some differences, it is hard to differentiate their attributes.“ (Jonassen 2005). Die Tatsache, dass selbst die Autoren dieses Handbuchs sich anscheinend im Einzelnen nicht klar über die Unterschiede zwischen Kontrollen und Stilen sind, verdeutlicht deren enge Verflochtenheit. Cognitive Abilities Cognitive Controls Cognitive Styles refer to the content and level of cognitive activity specify the competencies, the mental operations, and the kind of information being processed x y z x y z refer to the manner and form of learning are stated in terms of propensities are stated in terms of maximal performance unipolar measures (less ability - more ability) are value directional (having more is better than having less) are affected by the content domain or the nature of the task x x y y z z x y z x y z are expressed in terms of typical performance bipolar (visual … verbal) are value differentiated (neither pole is necessarily better) are generalizable tendencies that cut across content enable learners to perform tasks x z y control the way in which the task is performed mit x sind Angaben markiert, die sich in der Tabelle auf S. 84 finden; mit y ist der diese Tabelle erläuternde Text (S. 85) zur Tabelle markiert, mit z die wiederum widersprüchliche Tabelle auf S. 174 Tab. 12: Eigenschaften von kognitiven Fähigkeiten, Kontrollen und Stilen nach: Jonassen und Grabowski 1993, S. 84/ 85 und 174 166 <?page no="179"?> Während sich kognitive Kontrollen und Stile von den mentalen Fähigkeiten ableiten lassen, betrachten Jonassen und Grabowski Lernstile quasi als „angewandte kognitive Stile“, die wieder um eine Stufe von der puren Verarbeitungsfähigkeit entfernt sind (ebd., S. 233) 10 . Indirekt lassen sich Lernstile auf die kognitiven Fähigkeiten zurückführen, da meist solche mentalen Fähigkeiten und kognitiven Kontrollen und Stile benutzt werden, mit denen man vertrauter ist. 8.3.7 Das Cognitive Control Model von Riding Die beiden Dimensionen kognitiver Stile holistisch - analytisch und verbal - visuell ordnet Riding in seinem „Cognitive Control Model“1997 in den Kontext anderer Variablen ein (Riding 2001, S. 68; Riding und Rayner 2002, S. 114-116). Wie Jonassen und Grabowski (1993) entwirft Riding ein Modell, das Stile zu weiteren Komponenten in Beziehung setzt: Hier sieht Riding Stile als Mittel der kognitiven Kontrolle, die als Schnittstelle zwischen kognitivem Input und Output sowie den grundlegenden Komponenten Vorwissen und Erfahrungen, Fähigkeit zum logischen Denken, Persönlichkeit und Geschlecht (primary sources) fungieren: Die Ebene der kognitiven Kontrolle „provides the organizational and repre- 10 Ähnlich sehen dies Sternberg und Li-Fang Zhang (2001), die Lernstile (neben kognitiv-zentrierten und persönlichkeits-zentrierten Stilen) als einen Typ von aktivitätszentrierten Stilen einordnen, und die sich also ebenfalls darauf beziehen, dass diese Stile auf das Ziel „Lernen“ ausgerichtet sind (bspw. im Gegensatz zu „Lehren“). Abb. 16: Cognitive Control Model aus: Riding 2001, S. 68 167 <?page no="180"?> sentational interface between the internal state and the external world. It combines the internal state with the information from the external world and imposes on the response and view its own structure and form“ (Riding und Rayner 2002, S. 115). Eingehenden Erfahrungen aus der Umwelt werden vom Arbeitsspeicher des Individuums Bedeutungen zugewiesen. Diese Informationen werden dann auf dem Level der kognitiven Kontrollen organisiert bzw. repräsentiert, bevor sie auf die unterste Ebene der primary sources gelangen. In umgekehrter Richtung fungieren auf der Outputebene Lern- und Bewältigungsstrategien, die für Vorgehensweisen beim Lernen und bei der Nutzung von Methoden und Stilen stehen. Sie zielen darauf ab, den bestmöglichen Effekt innerhalb einer Lernsituation zu erzielen und sind für Außenstehende als beobachtbare Verhaltensweisen wahrnehmbar (Riding 2001, S. 68f). Für Riding und Rayner bestehen die entscheidenden Unterscheidungsmerkmale zwischen Stilen und Strategien in der Stabilität der beiden Konstrukte: Sie gehen davon aus, dass der kognitive Stil „is probably inbuilt and the latter learned as a way of adopting to situations for which the natural cognitive style is not ideal“ (Riding und Rayner 2002, S. 13). Strategien fungieren also als Kompensationsbzw. Adaptionsmechanismen, durch die äußere Verhältnisse ausgeglichen werden, für deren Anforderungen der eigene Stil nicht geeignet erscheint: „Individuals will sense that there are situations for which their cognitive style is not ideally suited. This will lead to their preferring, for example, one mode of presentation over another. This in turn will lead to the development of a strategy of translating learning material into the preferred mode where this is possible. In the longer term this will produce a repertoire of learning strategies - a cognitive tool-kit.“ (ebd., S. 79) Wie bei Jonassen und Grabowski (1993) interagieren auch bei Riding die Variablen allgemeine kognitive Fähigkeiten (Intelligenz), kognitive Kontrollen, kognitive Stile, Lernstile (sie werden bei Riding in den Stil-Dimensionen holistisch-analytisch und verbal-visuell subsumiert), Vorwissen und Persönlichkeit. Während der Schwerpunkt von Jonassens und Grabowskis Modell jedoch eher auf der Interaktion zwischen diesen Variablen und Lernen, Instruktion und Lerninhalten als solcher liegt, ist Ridings Modell eher prozessorientiert: Es skizziert den Lernprozess des Individuums, indem es Input- und Output-Komponenten definiert, die auf Eigenschaften, Fähigkeiten und Stile eines Lerners treffen bzw. sich daraus ergeben. Die Output-Komponente (die im Modell von Jonassen und Grabowski fehlt) besteht aus Lern- und Bewältigungsstrategien; diese werden dem Modell zufolge durch die kognitiven Stile determiniert und werden als Verhalten nach außen sichtbar. Durch die Vernachlässigung der Variablen Lehre und Lerninhalt als selbständige Komponenten erscheint Ridings Modell eher auf die Kom- 168 <?page no="181"?> ponenten innerhalb des Individuums konzentriert - das zwar Erfahrungen mit der Außenwelt macht und sich nach außen hin verhält, dessen Lernen jedoch eher durch interne Parameter bestimmt wird. Des Weiteren weist Riding den beiden Stil-Dimensionen die Funktion von kognitiven Kontrollen zu. Während in Ridings Modell den Stilen selbst die Funktion von Kontrollen zugewiesen wird, werden bei Jonassen und Grabowski die Stile durch die Kontrollen gesteuert, bilden also zwei unterschiedliche Komponenten. Riding zufolge gibt es also keinen selbständigen Kontrollbestandteil, sondern die Stile erfüllen die Kontrollfunktion 11 . Doch obwohl die Rolle kognitiver Kontrollen und kognitiver Stile auf den ersten Blick unterschiedlich zu sein scheint, gibt es eine Übereinstimmung zwischen den beiden Modellen: Sowohl Riding als auch Jonassen und Grabowski gehen davon aus, dass kognitive Kontrollen einen direkteren Einfluss auf den Lernprozess und die kognitive Informationsverarbeitung haben als die allgemeinen Fähigkeiten. Unklar bleibt, ob Riding und Rayner davon ausgehen, dass nur das als „Strategie“ gilt, was auf der Ebene der externen Welt als beobachtbares Verhalten erkennbar wird. Dies schlösse mentale Operationen als Strategien aus. Dies ist anhand von Ridings und Rayners Strategiebegriff nicht festzustellen, demzufolge eine Strategie definiert ist als „a set of one or more procedures that an individual acquires to facilitate the performance on a learning task. Strategies will vary depending on the nature of the task“ (Riding und Rayner 2002, S. 80). 8.4 Lernstile in der L2-Forschung Auch in der L2-Forschung wurde der Lernstil als eine der Variablen, die zu den interdifferenziellen Merkmalen gehören, untersucht. Diejenigen, die sich mit dem Stilkonstrukt beschäftigen, greifen dabei vielfach auf die Konstrukte von Dunn, Dunn und Price (1996) (hier in erster Linie auf die Art der sensorischen Wahrnehmung bei der Informationsaufnahme) und Witkin (1962) (field dependence vs. field independence) zurück. Häufig wird deutlich, dass die einzelnen Autoren eine sehr breite Definition von Lernstil 11 Als wie ähnlich man die Modelle von Riding einerseits und Jonassen und Grabowski andererseits interpretieren kann, hängt auch davon ab, ob Kontrollen bei Jonassen und Grabowski eher „enabling“ sind, also tendenziell Fähigkeiten ähneln, oder eher „controlling“. Das Schema auf S. xi in Jonassen und Grabowski (1993) sagt leider nichts über den Zusammenhang zwischen Stilen und Kontrollen aus. Da die Tabellen und Erläuterungen sich (wie bereits erwähnt) widersprechen, kann diese Frage nicht ganz eindeutig geklärt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass kognitive Kontrollen (schon aufgrund ihres Namens) eher Kontrollfunktion haben als dass sie zu bestimmten Lernstilen befähigen. 169 <?page no="182"?> vertreten und Persönlichkeits- und andere Faktoren in ihre Arbeiten mit einbeziehen 12 . Im Folgenden wird ein Überblick über existierende Erkenntnisse und Vermutungen hinsichtlich der Rolle von Lernstilen beim L2-Lernen gegeben; dabei wird auf die Darstellung solcher Arbeiten, die sich auf Persönlichkeits-, Intelligenz- und biologische Faktoren (z.B. den Biorhythmus, die Versorgung mit Nahrung und die Bedingungen der Umgebung wie Temperatur, Licht etc.) beziehen, verzichtet. Die Präferenzen bzgl. der sensorischen Modalität bei der Informationsaufnahme, die auf einem Ausschnitt aus dem Konstrukt von Dunn, Dunn und Price beruhen, betrachtete Reid (1987). Reid untersuchte die Präferenz von annähernd 1.300 Lernern von Englisch als Zweitsprache in den USA und verwendete die Kategorien visuell - auditorisch - kinästhetisch - taktil 13 . Die Lerner hatten als L1 Arabisch, Spanisch, Japanisch, Malayisch, Chinesisch, Koreanisch, Thai und Indonesisch. Reid fand heraus, dass die meisten ihrer Probanden kinästhetisches und taktiles Lernen präferieren, die meisten Probanden nicht gern in Gruppen lernten, ich die Probanden mit unterschiedlicher kulturellen Herkunft signifikant in ihren Präferenzen unterscheiden; Lerner aus asiatischen Kulturen bevorzugen demnach bspw. einen visuellen Stil, Hispanos häufig einen auditorischen, die Lerner mit bestimmten Hauptfächern häufig bestimmte spezifische Lernstile bevorzugten (z.B. bevorzugen Studierende des Ingenieurwesens taktiles Lernen) (Reid 1998, S. 18). Zur Stil-Dimension global/ holistisch - analytisch gibt es nur wenige Untersuchungen. Oxford (2003) beschreibt zusammenfassend, dass Lerner mit einem globalen Stil interaktive Lernsituationen vorziehen: Sie arbeiten gern mit anderen Personen zusammen und legen ihren Schwerpunkt auf den Inhalt bzw. die Hauptaspekte eines zu behandelnden Themas. Sie ver- 12 Vgl. z.B. einige Beiträge in Reid (1998): Christison und Sauer beschäftigen sich mit der Berücksichtigung der Theorie der Multiple Intelligence von Gardner, also mit Intelligenz, Violand-Sánchez mit affektiven Faktoren, die das Lernen fördern. Neben diesen Beiträgen vertritt auch Oxford einen sehr weit gefassten Stil-Begriff: „Learning styles are the general approaches - for example, global or analytic, auditory or visual - that students use in acquiring a new language or in learning any other subject. These styles are ‚the overall patterns that give general direction to learning behavior‘ (Cornett, 1983, p. 9). Of greatest relevance to this methodology book is this statement: ‚Learning style is the biologically and developmentally imposed set of characteristics that make the same teaching method wonderful for some and terrible for others‘ (Dunn und Griggs, 1988, p. 3). This chapter explores the following aspects of learning style: sensory preferences, personality types, desired degree of generality, and biological differences.“ (Oxford 2003, S. 2) 13 Für eine detailliertere Darstellung des Modells von Dunn, Dunn und Price (1996) s. Kapitel 8.5 „Lernstile und Gebärdensprachlernen“. 170 <?page no="183"?> suchen, die Analyse von grammatischen Elementen zu vermeiden. Lerner mit einem analytischen Stil hingegen tendieren dazu, sich sehr auf die Grammatik zu konzentrieren. Sie wiederum meiden kommunikative Situationen, in denen frei gesprochen wird. Diese Lerner achten sehr auf Präzision. Aus diesem Grund nehmen sie eher nicht das Risiko in Kauf, Bedeutungen aus dem Kontext zu erschließen. Oxford hält fest, dass für das L2-Lernen ein Stil, der sowohl holistische als auch analytische Vorgehensweise in sich vereint, sehr nützlich ist 14 . Call (1998) entwickelte eine Unterrichtseinheit, die er speziell auf die Eigenschaften seiner Lerner (japanische Lerner mit Englisch als Fremdsprache) abstimmte. Japanische Lerner haben im Allgemeinen eher einen reflektierenden, analytischen Lernstil und stehen Gruppenarbeit ablehnend gegenüber. Call entwickelte aufeinander aufbauende Übungen zur Vermittlung von Konditionalsätzen, die diese Lernergruppen zwar bei ihren Lernpräferenzen „abholte“, sie jedoch langsam an andere Arbeitsformen und Aufgaben heranführte. So wurde im Verlauf der Einheit der Anteil an sprachproduktiven Anteilen seitens der Lerner langsam gesteigert, die Lerner in Gruppenarbeit involviert und der Unterricht von einem eher lehrerzu einem lernerzentrierten Geschehen umorganisiert. Vann (1998) entwickelte eine Übung, mit der Lerner gefördert werden sollen, die verbale Informationen nicht gut aufnehmen können, sondern eher visuell ausgerichtet sind. Dabei werden die Lerner aufgefordert, eine Geschichte, die sie in Textform erhalten haben, graphisch wiederzugeben. Auf diese Weise werden die Hauptinformationen des Textes in visuelle Informationen transformiert. Auch das Lernstil-Modell von Kolb (s.u.) fand in der L2-Forschung einige Beachtung: Harthill und Busch (1998) entwickelten eine Unterrichtseinheit zu Modalkonstruktionen des Englischen für Lerner, die Englisch als Zweitsprache lernen. Sie legen dabei das Lernstil-Modell nach Kolb zugrunde. Die Autoren streben mit ihrer Unterrichtseinheit an, Lernern mit unterschiedlichen Lernstilen entgegenzukommen, indem sie viele unterschiedliche Medien, Arbeitsformen und Übungstypen einsetzt, u.a. Videomaterial, Bilder, Texte, Flipchart, Diskussionen, Arbeitsgruppen, Lückentexte etc. 14 Die Dimension gobal - analytisch wurde auch im Kontext der Hemisphären des Gehirns gesehen: (Hauptsächlich) die linke Hemisphäre wird als für die Verarbeitung von Sprache zuständig angesehen; hier wird Sprache analysiert und es werden Abstrahierungsprozesse vollzogen. In der rechten Hemisphäre dagegen wird Sprache eher als globales auditorisches oder visuelles Muster wahrgenommen. Aufgrund dieser Verteilung wird spekuliert, dass „rechtshemisphärische Lerner“ (also solche, die die Verarbeitung von Prozessen bevorzugen, die von der rechten Hirnhälfte wahrgenommen werden) Intonation und Rhythmus einer Zielsprache leichter lernen; von „linkshemisphärischen Lernern“ hingegen wird angenommen, dass ihnen die analytischen Aspekte der Zielsprach-Grammatik leichter fallen (Leaver 1986). 171 <?page no="184"?> Auch Forkelson Gray (1998) greift auf das Lernstilmodell nach Kolb zurück, aber darüber hinaus auch auf Keirseys Temperament Sorter (welcher auf dem Meyers-Briggs Type Indicator beruht). Sie entwickelte ebenfalls eine Unterrichtseinheit, allerdings steht dabei nicht ein beliebiges Thema im Mittelpunkt der Übung wie bei Harthill und Busch; vielmehr werden die Lernstile und die Persönlichkeit der Lerner erhoben und thematisiert. Diese dienen als Gegenstand für das schriftliche Verfassen von Texten. Die meisten Arbeiten, die sich in der L2-Forschung mit Stilen beschäftigt haben, tun dies jedoch auf dem Hintergrund der Unterscheidung von field dependence (FD) vs. field independence (FI) (Witkin 1962). Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Fähigkeit zur (visuellen) Diskriminierung von Objekten innerhalb eines so genannten „Feldes“. Das Konstrukt „refers to individual differences in using external versus internal referents in comprehending the stimulus in question“ (Renzulli und Dai 2001, S. 34). FD 15 und FI wurde mit drei Tests gemessen: dem Rod and Frame Test, dem Body Adjustment Test und dem Group Embedded Figures Test. Die ersten beiden Tests zielen auf die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung der Testperson ab: Beim Rod and Frame Test sitzt der Proband in einem dunklen Raum und sieht einen erleuchteten Stab in einem Rahmen. Der Rahmen wird gekippt, und der Proband wird gebeten, den Stab vertikal auszurichten. Die Testpersonen, die den Stab im Verhältnis zum gekippten Rahmen ausrichten, gelten als FD, diejenigen, die den Stab vertikal (also abhängig von den physikalischen Verhältnissen) ausrichten, als FI. Beim Body Adjustment Test sitzt der Proband in einem gekippten Raum und wird gebeten, sich aufrecht hinzusetzen. Wieder werden solche Personen, die sich im Verhältnis zum Raum positionieren, als FD eingestuft, diejenigen, die sich unabhängig vom gekippten Raum aufrecht hinsetzen, als FI. Beim Group Embedded Figures Test wird dem Probanden eine geometrische Figur gezeigt. Danach wird ihm ein komplexeres Bild präsentiert, das die Figur enthält. Eine FI Person kann diese Figur schnell finden, weil sie nicht von den anderen Elementen des Bildes beeinflusst wird. Eine FD Person dagegen braucht vergleichsweise lange für die Identifizierung der Figur. Obwohl die Experimente, mit denen FD und FI gemesssen wurden, also im Grunde die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung testeten, wurden aus diesen Stilen weitreichende Folgerungen für andere Bereiche gezogen, u.a. für das L2-Lernen. Dies ist der Hauptkritikpunkt an diesem Konstrukt: Es 15 Mehr oder weniger als Äquivalent zum Begriff der FD entwickelte sich der Begriff der „field sensitivity“ (FS). Ehrman (1998) z.B. verwendet diesen Terminus, da der Begriff FD häufig als „abwesende field independence“ interpretiert wurde und damit negativ belegt ist. Ehrman definiert FS als „a preference for addressing material as a part of a context“ (S. 64). Unter die positiven Qualitäten fallen demnach die Fähigkeit, aus dem Kontext zu schließen und mit unvollständigen Daten zu arbeiten (ebd.). 172 <?page no="185"?> werden im Grunde Fähigkeiten beschrieben und nicht Stile (Sternberg und Grigorenko 2001, S. 13). Dies ist vor allem insofern problematisch, als es damit den ursprünglichen Zweck der Etablierung des Stilkonstrukts unterläuft, der (wie oben beschrieben) in der Beschreibung der Schnittstelle zwischen Fähigkeiten und Persönlichkeit bestand (für ähnliche Kritik s. zusammenfassend Coffield et al. 2004, S. 38). Coffield et al. merken denn auch an, dass „[…] its vogue as a purely learning styles instrument has arguably passed. However, FDI [field dependence und field independence, C.M.] remains an important concept in the understanding of individual differences in motor skills performance (Brady 1995) and musical discrimination (Ellis 1996)“ (Coffield et al. 2004, S. 37). Sawyer und Ranta fassen kritisch zusammen: „In L2 learning, it is thought that FI learners have an advantage in analyzing language material, while FD learners are better at developing interpersonal skills. Important to the concept of style is that it refers to differences in tendency rather than categorical differences in processing abilities; furthermore, it is assumed that neither end of the style continuum is inherently better than the other. Unfortunately, the test that has been used in nearly all the L2 research on FI/ D [field dependence und field independence, C.M.], the Group Embedded Figures Test (GEFT) (Olltman, Raskin & Witkin, 1971), is clearly an ability rather than a style measure. Individuals who are able to quickly and accurately recognize simple familiar figures embedded in complex configurations of lines are labeled FI, and those who have less of this ability are labeled FD. There is no corresponding interpersonal task to confirm any advantages for FD; instead, FD is simply the absence of FI. Largely due to ease of administration, many studies have been conducted using the GEFT, often producing correlation coefficients between field independence and language achievement measures in the r = .30 range, and sometimes as high as .43 (Stansfield and Hansen, 1983). On the other hand, different studies have found little or no relationship between GEFT scores and learning, and Hansen (1984) found that high correlations in the .40 range essentially disappeared when the effects of academic ability were factored out (see Chapelle & Green, 1992, for an overview of these studies). Skehan (1989), R. Ellis (1994a), and Griffiths and Sheen (1992) have all suggested abandoning further efforts to investigate FI/ D in relation to L2 learning, but Chapelle (1992; Chapelle & Green, 1992) has argued that FI/ D is worthy of further study, though not so much in terms of style but rather in terms of a better understanding of the ‚cognitive restructuring ability’ that seems to underlie performance on embedded figures tests. Extending these arguments, Skehan (1998a) has proposed a framework that attempts to illuminate the relationships between aptitude, cognitive style, and task demands.“ (Sawyer und Ranta 2001, S. 321/ 322) Neben Joy Reid ist Rebecca Oxford eine derjenigen, die sich am intensivsten mit Lernstilen im Kontext des L2-Lernens befasst hat. Allerdings definiert sie den Stil-Begriff sehr weit (s.o.); daher werden im Folgenden die Teile ihrer Untersuchungen, die sich nicht im hier vertretenen Sinne mit Lernstilen, sondern eigentlich mit Persönlichkeitsmerkmalen, Fähigkeiten, 173 <?page no="186"?> affektiven Faktoren und physikalischen Bedingungen der Lernumgebung beschäftigen, zum größten Teil ausgespart. Oxford, Holloway und Horton-Murillo (1992) untersuchten bspw., inwiefern Lern- und Lehrstile kulturabhängig sind, und wie sich ihre Verschiedenheit auf das Lernen auswirkt. Dafür führten sie eine Studie mit Lernern durch, die Englisch als Zweitsprache in den USA lernten. Die Lerner kamen aus Korea, China, Japan und Lateinamerika. Dabei ergab sich, dass die Lerner, die einen für ihre Herkunftskultur typischen Lernstil hatten, durchaus Schwierigkeiten mit dem Lehrstil amerikanischer Lehrer hatten. „In our data gathering, many style conflicts existed within a given culture as well as across cultures. Culture is thus not the only factor that plays a role in style development and style clashes; people are indeed individuals with their own traits. However, valid generalizations about learning style can be made concerning different cultures and ethnic groups as a whole, and the style conflicts above illustrate some of these principles.“ (Oxford, Holloway und Horton-Murillo 1992, S. 451) Die Autoren schlussfolgern aus diesen Ergebnissen für die Lehre, dass zum einen sowohl der Lernstil der Lerner als auch der Lehrstil der Lehrperson getestet werden sollten, um auf eventuell vorhandene Differenzen reagieren zu können. Oxford, Holloway und Horton-Murillo empfehlen, in einem Kurs nicht durchgängig einen Lehrstil zu verfolgen, damit Lerner mit einem Lernstil, der dem Lehrstil nicht entspricht, nicht benachteiligt würden. Unterrichtsaktivitäten sollten auf die Lernstile der Lerner abgestimmt werden. Ferner sollten die Lerner zu einer Erweiterung ihres eigenen Lernstils ermutigt und dabei gefördert werden. Außerdem sollten aufgrund differierender Stile entstehende Konflikte als Chance und nicht als Bedrohung angesehen werden (ebd., S. 451-455). Oxford und Ehrman (1995) untersuchten u.a. den Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Sprachlernstrategien und Lernstilen. Die Strategien erhoben sie mit dem von Oxford entwickelten Fragebogen zur Ermittlung von Lernstrategien Strategy Inventory of Language Learning (SILL). Diesem Fragebogen liegen die von Oxford (1990) entwickelten Strategiekategorien zugrunde. Die Lernstile wurden mit dem Learning Style Profile (LSP) von Keefe und Monk (1986) ermittelt, den diese zusammen mit Letteri, Languis und Dunn (1989) entwickelt hatten. Dieses Instrument enthält allerdings Subskalen, die nicht nur Stile, sondern auch Persönlichkeits-, affektive und andere Faktoren umfassen (kognitive Fähigkeiten, Wahrnehmungspräferenzen, Orientierungen (Durchhaltevermögen, Risikobereitschaft u.a.), Vorlieben bzgl. der Tageszeit, zu der gelernt wird, Bedingungen der Lernumgebung (Licht, Temperatur u.a.)). Die Studie ergab, dass in erster Linie Korrelationen zwischen dem Gebrauch von Strategien und Persönlichkeitsmerkmalen (gemäß dem Verständnis der vorliegenden Arbeit) bestanden: Es zeigt sich, dass viele Ele- 174 <?page no="187"?> mente des SILL leicht mit der Variable „Durchhaltevermögen“ (persistence) des LSP korrelierten. „Many elements ot the SILL (mean, metacognitive, social, cognitive, affective, and memory) correlated moderately with persistence on the LSP. This suggests that one of the underlying aspects of use of language learning strategies is persistence. Those who want to persist in language learning - continue until they achieve a goal - tend to use language learning strategies of various kinds. These findings are related to previous SILL results […] showing that high motivation is strongly related to strategy use. Persistence is a main component of motivation […].“ (Oxford und Ehrman 1995, S. 375) Weiterhin ergab die Untersuchung, dass die Tageszeit, zu der bevorzugt gelernt wurde, mit der Verwendung von Strategien korrelierte: Die Präferenz für den frühen Vormittag korrelierte negativ mit dem Gebrauch von Strategien. Auch schienen diese Vorlieben mit Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung zu stehen: Die Verwendung affektiver Strategien korrelierte mit der Bereitschaft, verbale Risiken einzugehen. Außerdem korrelierten die Fähigkeit, Kategorien zu bilden, mit dem Gebrauch kognitiver Strategien (ebd.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Autoren der Ansicht sind, dass die Thematisierung von Lernstilen als expliziter Unterrichtsgegenstand ausgesprochen sinnvoll ist. Durch ein genaueres Verständnis der eigenen Präferenzen beim Lernen könnten Schwierigkeiten erklärt, ggf. das Lernstilrepertoire erweitert und so dem Lerner zu selbstbestimmterem Lernen verholfen werden (Kinsella und Sherak, Torkelson Gray, Call sowie Nunan, alle in Reid 1998). Außerdem ziehen einige Autoren aus der Beschäftigung mit dem Lernstilkonstrukt die Schlussfolgerung, dass offene Unterrichtssituationen dabei helfen können, den Lernstilen möglichst vieler Lerner entgegenzukommen. Dazu gehört z.B. das zur Verfügung stellen von Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten, den eigenen „Lernpfad“ zu verfolgen (Tyacke 1998, S. 44; außerdem Ramburuth 1998; außerhalb des Sammelbandes von Reid z.B. auch Oxford 2003). Weiterhin deuten die Untersuchungen von Reid und Oxford darauf hin, dass zumindest bestimmte Lernstil-Dimensionen kulturell beeinflusst sind: Diese Ergebnisse sprechen gegen die von einigen Autoren vertretene Auffassung, das Lernstile angeboren sind (z.B. Riding 2001). Vielmehr scheint der Lernstil eines Individuums demnach davon beeinflusst zu sein, welche Stile in Lernsituationen bevorzugt verwendet, vom Lehrstil verlangt bzw. welche besonders wertgeschätzt werden. 8.5 Lernstile und Gebärdensprachlernen Die einzige Arbeit, die das Lernstilkonstrukt im Zusammenhang mit dem Lernen einer Gebärdensprache untersucht, ist die Dissertation von 175 <?page no="188"?> Furline (2004). Sie befasst sich mit der Korrelation von Lernstilen i.S.v. Dunn, Dunn und Price (1996) und dem Lernen von Amerikanischer Gebärdensprache (ASL). Eine Variable im Lernstilkonstrukt von Dunn, Dunn und Price ist die sensorische Modalität, in der vorzugsweise gelernt wird. Die Autoren identifizierten vier Modalitäten (zusammengefasst in Jonassen und Grabowski 1993, S. 265 und Furline 2004, S. 19-21): • „auditorische Lerner“: Diese Lerner bevorzugen das Hören von eingehenden Informationen, z.B. in Vorlesungen, Diskussionen und Hörkassetten. Sie denken in Rhythmen, Lautstärke und Intonation. • „visuelle Lerner“: Diese Lerner profitieren von visuellen Darstellungen im Unterricht wie z.B. Bilder, Diagramme, Filme etc. Sie denken in Bildern und können sich am besten an Konzepte erinnern, die visuell präsentiert wurden. • „taktile Lerner“: Diese Lerner nutzen bevorzugt ihre Hände beim Lernen, z.B. in Experimenten. • „kinästhetische Lerner“ 16 : Bei diesen Lernern spielt der gesamte Körper eine bevorzugte Rolle beim Lernen. Sie bevorzugen reale Erfahrungen und Unterrichtsformen wie Rollenspiele, Exkursionen, Spiele, u.Ä. und drücken ihre Emotionen gern physisch aus. Da Gebärdensprachen visuelle Sprachen sind, könnte vermutet werden, dass es visuellen Lernern leichter fällt, eine Gebärdensprache zu lernen, als auditorischen Lernern. „Given the visual/ kinesthetic/ tactile/ spatial nature of ASL, it would seem that ASL might be an attractive alternative to the traditional foreign languages such as French or Spanish that are offered in secondary programs, particularly for those who seem to be to be [sic] struggling academically.“ (Furline 2004, S. 8) Furline beschäftigte sich also mit der Frage, ob sich visuelle und auditorische Lerner hinsichtlich ihres Erfolgs beim Lernen von ASL unterscheiden. Sie untersuchte eine Stichprobe von etwa 50 Schülern einer High School auf Long Island (NY, USA) im Alter von 14-20 Jahren. Diese Schule hatte den Status einer „at-risk school“ 17 . Die Schüler lernten ASL, da sie in anderen Fremdsprachen versagt hatten, um Leistungspunkte in einer 16 Furline unterscheidet in ihrer Untersuchung nicht zwischen taktilen und kinästhetischen Lernern. 17 „According to the New York State Department of Education, (2000), an at-risk school is defined as a school with high student needs in relation to district resources (www.nysed.gov). Children who are enrolled in these schools often are also considered at-risk since they typically perform below expectations and have poor reading and mathematics scores on state achievement and regents examinations.“ (Furline 2004, S. 55) 176 <?page no="189"?> Fremdsprache zur Erreichung des High School-Abschlusses zu erwerben, oder auf Empfehlung eines Studienberaters 18 (ebd. S. 71). Als Erhebungsinstrumente dienten Furline • Daten aus einer informellen Konversation in ASL, • ein semi-strukturierter Fragebogen zur Erfassung von Sozialdaten, Motivation und Selbsteinschätzung der bevorzugten Lernmodalität der Lerner („Do you learn best if someone shows you (visual) or if someone tells you (auditory)? “ (ebd., s. 95)), • gefilmte ASL-Geschichten der Lerner, ausgewertet anhand der New York State American Sign Language Rubrics und • das Learning Style Inventory (LSI) von Dunn, Dunn und Price (1996). 19 Die Auswertung der Daten ergab, dass 70% der Lerner auf einer achtwertigen Skala Werte zwischen 6 und 8 erzielten; d.h. dass über zwei Drittel der Lerner sich entsprechend der Maßstäbe des American Sign Language Rubrics sprachlich angemessen und verständlich ausdrücken können, wenig Fehler machen, über ein gehobenes Wortschatz- und Grammatik-Level 20 verfügen und flüssig gebärden (vgl. die Kriterien der American Sign Language Rubric, die in Furline (2004) auf S. 93 dargestellt sind). Dieses Ergebnis erscheint - gemessen an den Erfahrungen mit Lernern der DGS - überraschend gut. Vermutungsweise lassen sich die Bewertungen, die keine objektiv gemessenen Werte darstellen, darauf zurückführen, dass die Leistungen dieser in ihren anderen Fächern i.d.R. schwachen Lerner mit anderen Maßstäben gemessen werden als erfolgreichere Lerner 21 . 18 Furline schreibt hierzu: „Although New York State Education Department has accepted ASL as a language requirement for secondary education students, schools do not have an understanding of the value of this language. They continue to refer to this language as an easy course for those students who have been unsuccessful with other second languages offered“ (Furline 2004, S. 73). 19 Das niedrige Lernniveau der Probanden spiegelt sich z.B. darin wieder, dass die Fragen des LSI jeweils dreimal laut vorgelesen wurden - vermutlich um abzusichern, dass die Lerner die Fragen verstanden (Furline 2004, S. 51). 20 Formaler sprachlicher Ausdruck wird gemessen an: angemessener Vokabelwahl und Fingeralphabeteinsatz, komplexen Satzstrukturen, angemessenem Gebrauch von Wortbildern, überwiegend ASL-Wortstellung, häufiger Verwendung von Klassifikatoren, angemessenem Gebrauch von Tempus und konsistentem Einsatz von angemessenem non-manuellen Verhalten. 21 Ich setze voraus, dass es sich bei den im Unterricht vermittelten Inhalten wirklich um ASL und nicht um Signed English handelte. Die im American Sign Language Rubrics genannten sprachlichen Merkmale wie Klassifikatoren und Nonmanualia lassen darauf schließen. Allerdings könnte ein Manko in der Qualifikation der ASL-Lehrer liegen. Wie Furline selbst schreibt, verstehen die Schulen in den USA auch heutzutage ASL noch als eine leicht zu erlernende Sprache. Hieraus könnte man ableiten, dass die Schulen aus Unkenntnis oder Ignoranz keinen allzu großen Wert auf die Ausbildung ihrer ASL-Lehrer legen und somit die Qualität der Lehre nicht gesichert ist. 177 <?page no="190"?> Die Untersuchung ergab außerdem, dass die Probanden ihren eigenen Lernstil nicht gut einschätzen konnten: nur 19% beurteilten ihren Lernstil korrekt. Fraglich ist bei der Erhebungsmethode für die Selbsteinschätzung allerdings, was ein Lerner mit der im Fragebogen gestellten Frage „Do you learn best if someone shows you (visual) or if someone tells you (auditory)? “ anfangen konnte, und inwiefern diese Angaben überhaupt Gültigkeit haben. Dieses Resultat ist jedoch angesichts des wichtigsten Ergebnisses der Untersuchung irrelevant: Furlines Hypothese, dass es visuellen Lernern leichter fällt, eine Gebärdensprache zu lernen als auditorischen Lernern bzw. dass sie eine höhere Kompetenz erreichen, bestätigte sich nicht: Zunächst ergab sich, dass über die Hälfte der Lerner (26 von 50 Personen) ohnehin keine Lernstil-Präferenz hinsichtlich der sensorischen Modalität aufwies (Furline 2004, S. 67). Bei solchen Lernern, bei denen sich eine Lernstil- Präferenz gezeigt hatte, gab es darüber hinaus keine signifikante Korrelation zwischen diesen Präferenzen und ihrer ASL-Kompetenz (ebd., S. 67/ 68). Da also der Lernstil ohnehin keine Rolle beim Lernen von ASL spielt, ist es unwichtig, ob die Lerner ihren Lernstile richtig einschätzen können. Furline stellt fest: „The fact that no relationship was found calls into serious question the whole notion of modality perceptually based learning style, at least with regard to language.“ (ebd., S. 72) Eine mögliche Erklärung für ihr Ergebnis vermutet Furline im Lerngegenstand: „Indeed, this may in part be the explanation, i.e., they were acquiring a language. […] the typical assumption made between perceptual preference and the acquisition of ASL is not made when considering the acquisition of an auditory oral language whether it is the first language or the second language. It is simply taken for granted that this is not an issue. Much the same could be said of American Sign Language.“ (ebd.) Furline selbst nennt als einen der Schwachpunkte ihrer Untersuchung die kleine Stichprobe und die Kürze der Untersuchungsdauer (ebd., S. 73/ 74). M.E. wäre zudem eine Untersuchung allgemein erfolgreicher Lerner sehr sinnvoll. Auf diese Weise könnten Faktoren wie generell vorhandene Lernschwächen, geringe Motivation etc. ausgeschlossen werden. 8.6 Lernstile nach Kolb Unter den verschiedenen Lernstilmodellen war das Modell von David A. Kolb (1984) besonders einflussreich. Ein wesentlicher Vorzug von Kolbs Konstrukt ist seine theoretische Verankerung in der Entwicklungspsychologie. Kolb entwickelte sein Modell in Anlehnung an das pragmatistische 178 <?page no="191"?> Konzept des Erfahrungslernens von John Dewey und an Lewins Sozialpsychologie; das Konzept der vier Phasen orientiert sich an der Theorie der kognitiven Entwicklungsstufen von Jean Piaget. Kolbs „Definition von Lernen ‚Learning is the process whereby knowledge is created through the transformation of experience.’ (Kolb 1984, S. 38) mutet konstruktivistisch an“ (Schulmeister 2004, S. 24/ 25). Dieses Modell soll für die Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit als Grundlage für die Untersuchung von Lernstilen gelten. Kolb entwickelte die „Experiential Learning Theory“. Sie besteht aus Modellen zu Lernprozessen und der Entwicklung Erwachsener. Im Gegensatz zu anderen, kognitiv oder behaviouristisch angelegten Lerntheorien betont die „Experiential Learning Theory“ die zentrale Rolle von Erfahrung im Lernprozess. Sie definiert Lernen als „the process whereby knowledge is created through the transformation of experience. Knowledge results from the combination of grasping and transforming experience“ (Kolb 1984, S. 41). In diesem Sinne enthält die Theorie zwei dialektisch zueinander in Beziehung stehende Modi für das Sammeln von Erfahrungen - konkretes Erfahren (concrete experience) und abstraktes Konzeptualisieren (abstract conceptualization) - und zwei dialektisch zueinander in Beziehung stehende Modi für die Transformierung von Erfahrungen - reflektierendes Beobachten (reflective observation) und aktives Experimentieren (active experimentation). Lernen wird als ein Zyklus mit vier Stadien der Entwicklung begriffen: Abb. 17: Lernzyklus des Erfahrungslernens in Anlehnung an: Kolb 1984, S. 42 179 <?page no="192"?> Unmittelbare konkrete Erfahrung ist demnach die Basis für Beobachtung und Reflexion. Diese Beobachtungen werden vom Individuum in einer „Theorie“ zusammengefügt, aus der neue Schlussfolgerungen für weiteres Handeln abgeleitet werden können. Diese Schlussfolgerungen oder Hypothesen dienen dabei als Leitlinien für das Handeln zur Herbeiführung neuer Erfahrungen. Die Dimension konkretes Erfahren - abstraktes Konzeptualisieren, die das Machen von Erfahrung betrifft, beschreibt, wie Individuen neue Informationen wahrnehmen: Dies kann einerseits durch das Erfahren von Konkretem, Fühl- und Greifbarem geschehen. Informationen werden demnach vorwiegend aus Sinneswahrnehmungen bezogen, und die Person „taucht in die konkrete Realität ein“. Andererseits kann dieser Prozess auch eher kopfgesteuert erfolgen: durch symbolische Repräsentation oder abstraktes Konzeptualisieren. Personen, die diese Art bevorzugen, lassen sich bei der Aufnahme von Informationen nicht in erster Linie durch Sinneswahrnehmungen leiten, sondern setzen auf Nachdenken, Analyse oder systematische Planung. Die Dimension reflektierendes Beobachten - aktives Experimentieren betrifft nicht die Aufnahme, sondern die Transformation oder Verarbeitung von Erfahrungen: Die Reflektierer bevorzugen es, andere aufmerksam zu beobachten und über Geschehenes nachzudenken. Dagegen sind Experimentierer „Macher“, die sich sofort auf etwas einlassen und „loslegen“. Da es kaum möglich ist, die in den Polen der Dimensionen festgehaltenen Vorgehensweisen gleichzeitig auszuüben, ist das Individuum zu einer Wahl gezwungen. Diese Wahl einer Vorgehensweise ist bedingt durch die genetische Veranlagung, individuelle Lebenserfahrungen sowie durch die aktuellen Anforderungen der Umgebung (Kolb, Boyatzis und Mainemelis 2001, S. 228). Das Muster, das dabei entsteht, also die für eine Person charakteristischen Herangehensweisen an Vorstellungen und Situationen, nennt Kolb Lernstile (vgl. auch Smith und Kolb 1986, zitiert in Boulton-Lewis, Marton und Wilss 2001, S. 140). Er differenziert zwischen vier Lernstiltypen (Kolb 1976, 1984, 1991; Kolb, Boyatzis und Mainemelis 2001, S. 230; s. Abb. 18): Der Divergierer benötigt einen konkreten Erfahrungsraum, aus dem er durch Reflexion abstrahiert. Er löst Probleme, indem er bestimmte Situationen aus mehreren Perspektiven betrachtet und dabei viel mit Brainstorming und Ideengenerierung arbeitet. Untersuchungen zeigten, dass Personen dieses Stils sich für Menschen interessieren, dass sie Phantasie haben, emotional sind, sich für Kultur interessieren und sich auf künstlerischen Gebieten spezialisieren. In formalen Situationen bevorzugen sie Gruppenarbeit, aufgeschlossenes Zuhören und das Erhalten von persönlichem Feedback. Der Assimilator bewegt sich vornehmlich in den Bereichen des analytischen Verstehens und Reflektierens von Beobachtungen. Er löst Proble- 180 <?page no="193"?> me durch induktives Argumentieren und die Fähigkeit, theoretische Modelle zu entwerfen, in die er beobachtete Phänomene integriert, d.h. assimiliert. Er ist weniger an Menschen als an Ideen und abstrakten Konzepten interessiert. Für ihn ist die Logik einer Theorie wichtiger als ihr praktischer Wert. Dieser Lerntyp gilt als typisch für Naturwissenschaftler und Mathematiker. In formalen Situationen bevorzugen sie Vorlesungen und das Erkunden von analytischen Modellen, und sie haben gern genug Zeit zur Verfügung, um Dinge zu durchdenken. Der Konvergierer verlässt sich hauptsächlich auf Analyse und Experimentieren. Er löst die Probleme, indem er sich weitgehend hypothetischdeduktiver Argumentationsformen bedient. Er ist sehr gut darin, praktische Anwendungsmöglichkeiten für Ideen und Theorien zu finden. Der Konvergierer setzt sich lieber mit technischen Problemen als mit sozialen oder zwischenmenschlichen Themen auseinander. In formalen Situationen bevorzugen Personen dieses Stils das Experimentieren mit neuen Ideen, Simulationen, Laborarbeit und praktische Anwendungen. Der Akkommodator löst Probleme, indem er plant und experimentiert und sich dabei an die besonderen Umstände der Situation anpasst. Für diesen Typ spielen konkrete Erfahrungen und aktives Experimentieren eine wichtige Rolle, wobei sich das Experimentieren eher durch Probieren als durch rational und hypothesengeleitetes Handeln auszeichnet. Er gestaltet und setzt gerne Pläne in Aktivitäten um, indem er sich persönlich einbringt, damit er neue Erfahrungen machen und Herausforderungen annehmen kann. Der Akkomodator verlässt sich gern auf sein „Bauchgefühl“. In formalen Situationen bevorzugt er die Zusammenarbeit mit anderen, setzt sich gern Ziele und testet verschiedene Ansätze bei der Arbeit an Projekten. Diese Lernstil-Typen stehen gleichberechtigt nebeneinander (Smith und Kolb 1986, S. 13ff.). Kolb geht davon aus, dass sich das Lern- und Erfahrungsverhalten von Menschen im Laufe ihres Lebens ständig verändert und weiterentwickelt (Kolb 1984). Diese Veränderung bzw. Entwicklung der Lernstile vollzieht sich in den folgenden Bereichen: • Entwicklung der affektiven, gefühlsbetonten Fähigkeiten (konkretes Erfahren) • Entwicklung der kognitiven, analytischen Fähigkeiten (abstraktes Konzeptualisieren) • Entwicklung der Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeiten (reflektierendes Beobachten) • Entwicklung der verhaltensbezogenen, pragmatischen, d. h. auf das Handeln ausgerichteten Fähigkeiten (aktives Experimentieren) 181 <?page no="194"?> Durch die vielfältigen Erfahrungen im Laufe des Lebens bilden Menschen immer komplexere und differenziertere Fähigkeiten in den einzelnen Bereichen heraus. Dieser Entwicklungsprozess wird von Kolb grafisch wie in Abb. 19 gezeigt dargestellt. Auf der ersten, der Erwerbsstufe, geht es zunächst ganz allgemein um die Ausbildung basaler Lernfähigkeiten und kognitiver Strukturen. Diese Phase reicht von der Geburt bis zur Adoleszens. In der nächsten Phase steht die Spezialisierung einzelner Lernstile im Vordergrund. Sie werden beeinflusst durch formale Bildung und/ oder Ausbildung sowie durch die Erfahrungen des jungen Erwachsenen im Arbeits- und im persönlichen Leben. „Die stattfindende Spezialisierung in diesem Stadium wird vorangetrieben durch die Adaptation des Individuums an die bestehenden Herausforderungen, die sich aus beruflichen und soziokulturellen Faktoren ergeben. Die Adaptation des Individuums wird bei Kolb in dieser Phase als die Entwicklung von spezifischen Lernkompetenzen verstanden, um bestimmte Aufgaben im beruflichen und soziokulturellen Bereich zu meistern.“ (Staemmler 2006, S. 61) Abb. 18: Lernzyklus des Erfahrungslernens mit seinen grundlegenden Lernstilen in Anlehnung an: Kolb, Boyatzis und Mainemelis 2001, S. 229 182 <?page no="195"?> Zum Ende dieser zweiten Phase äußert sich Kolb nur unbestimmt, sie endet „at midcareer, although the specific chronology of the transition to stage 3 will vary widely from person to person and from one career path to another“ (Wolfe und Kolb 1991, S. 154). Ziel der letzten Phase und somit auch das Ziel der Entwicklung eines Menschen ist die Integration aller vier Lernstile in den Lernprozess. Das Zusammenlaufen der Lernstile in dieser letzten Phase der Entwicklung soll darauf hinweisen, dass die einzelnen Bereiche des Lernens in einem höheren Stadium der Entwicklung immer stärker miteinander verknüpft sind Abb. 19: Entwicklungsprozess nach Kolb aus: Wolfe und Kolb 1991, S. 156 183 <?page no="196"?> und voneinander abhängen. Auf diese Weise wird der Lernzyklus ganzheitlich, und der Lernprozess erreicht seine höchste integrative Form. „Diese lineare Form der Entwicklung ist jedoch eine idealtypische Darstellung. In der Realität wird es immer Unregelmäßigkeiten, ein ‚Hin-und-Her-Bewegen‘ zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien oder auch Rückschritte in einzelnen Bereichen geben.“ (Degenhardt 1999, S. 23) Kolbs Theorie ist auf ihre Gültigkeit in sehr vielen unterschiedlichen Berufsfeldern hin überprüft worden. Beispiele hierfür sind Informatik, Psychologie, Medizin, Management und Jura. Insgesamt gab es zwischen 1971 und 1999 über 1.000 Studien, die sich mit der „Experiential Learning Theory“ beschäftigten (Kolb, Boyatzis und Mainemelis 2001, S. 234). 8.7 Zum Stilkonstrukt verwandte Konstrukte Neben Modellen, die sich ausschließlich mit Lernstilen eines Individuums befassen, entwickelten sich seit den 1970er Jahren auch Ansätze, die eine holistischere Perspektive einnahmen. Sie entstanden aus einer Unzufriedenheit mit dem Informationsverarbeitungsansatz und wurden aus der Perspektive des Lerners, nicht des Lehrers abgeleitet (Watkins 2001, S. 166). Zu den wichtigsten Vertretern dieser Richtung zählen Noel Entwistle und John Biggs, deren Theorien und Modelle auf den Arbeiten von Pask sowie von Marton und Säljö beruhen. In diesen Modellen spielen Stile nur eine untergeordnete Rolle. „In this broader view, contextual factors influence learners’ approaches and strategies and lead to a multifaceted view of teaching. This emphasis encourages a broad approach to pedagogy that encompasses subject discipline, institutional culture, students’ previous experience and that way the curriculum is organised and assessed. Theorists within this family of learning research tend to eschew ‚styles‘ in favour of ‚strategies‘ and ‚approaches‘ because previous ideas about styles promoted the idea of specific interventions either to ’match’ existing styles or to encourage a repertoire of styles.“ (Coffield et al. 2004, S. 90) 8.7.1 Pask: Holistische und serialistische Strategie Einer der einflussreichsten Wissenschaftler auf diesem Gebiet war Gordon Pask. Er identifizierte bei Lernern zwei verschiedene Lernstrategien: die holistische und die serialistische Strategie (Pask 1976). Der Holist zeichnet sich dadurch aus, dass er aktiv nach Verbindungen zwischen Ideen sucht und diese zu einem überblickshaften Ganzen zusammenfügt. Er setzt Probleme, Themen und Aufgaben zu anderen in Beziehung, verknüpft sie mit persönlichen Erfahrungen, bildet komplexere Hypothesen, baut einen breiten Suchraum auf, nutzt viele Illustrationen und Analogien und organisiert seine Schritte selbst. Hierbei besteht die Gefahr des „globetrotting“, die 184 <?page no="197"?> z.B. darin besteht, dass unangemessene Bezüge zwischen Konzepten hergestellt werden. Der Serialist hingegen bevorzugt ein kleinschrittiges Vorgehen, konzentriert sich auf eng umrissene, einfache Hypothesen, wobei er sich an Details statt an übergreifende Bezüge hält und an streng strukturierten Anordnungen des Wissens orientiert. Ein Nachteil dieses Vorgehens kann darin bestehen, dass wichtige Bezüge ignoriert werden. Wer hingegen sowohl die holistische als auch die serialistische Strategie verwendet, folgt Pask zufolge einem versatilen Stil. In späteren Arbeiten identifizierte Pask zwei Lernstile: comprehension und operation learning. „In summary, comprehension learners tend to: • pick up readily an overall picture of the subject matter (eg relationships between descrete classes) • recognise easily where to gain information • build descriptions of topics and describe the relations between topics. If left to their own devices, operation learners tend to: • pick up rules, methods and details, but are not aware of how or why they fit together • have a sparse mental picture of the material • be guided by arbitrary number schemes or accidental features of the presentation • use specific, externally-offered descriptions to assimilate procedures and to build concepts for isolated topics.“ (Coffield et al. 2004, S. 90) 8.7.2 Marton und Säljö: surface level of approaching und deep level of approaching Eng verbunden mit der Differenzierung zwischen holistischem und serialistischem Vorgehen ist die Abgrenzung von verschiedenen Verarbeitungsebenen, auf denen Lerner Materialien bearbeiten. Marton und Säljö (1976) unterschieden in ihrer frühen Studie zum Leseverständnis und Lesestrategien zwei Typen: Einerseits gab es Lerner, die sich beim Lesen eines Textes bemühten, in Erwartung von Fragen Details auswendig zu lernen, und die sich eher auf Wort- oder Satzebene konzentrierten. Andererseits fanden sich Lerner, die ihren Fokus vielmehr auf den zusammenhängenden Inhalt und die Hauptaussagen eines Textes richteten. Diese unterschiedlichen Vorgehensweisen charakterisierten Marton und Säljö als surface level of approaching und deep level of approaching 22 . Diese Kategorien wurden jedoch bald auf mehr als Lesestrategien ausgeweitet, und in Anlehnung an Svensson sprachen Marton und Säljö später von „surface und deep approaches to learning“ (Marton und Säljö 1984). Lerner mit einem surface ap- 22 Das Konzept an sich stammt ursprünglich von Svensson (1976, 1977). Es bezieht sich auf unterschiedliche Herangehensweisen von Lernern an Aufgaben. Svensson identifizierte dabei die Dimension atomistisch - holistisch. 185 <?page no="198"?> proach legen ihren Fokus typischerweise nicht auf die Hauptaussagen oder -bedeutungen. Sie konzentrieren sich lediglich auf isolierte, fragmentarische Fakten, die sie eher unreflektiert memorieren. „Surface“-Lerner tendieren außerdem dazu, eine Aufgabe mit möglichst wenig persönlichem Einsatz zu erledigen. Das Ergebnis ist ein eher eingeschränktes Verständnis von Konzepten und Zusammenhängen. Lerner mit einem deep approach hingegen tendieren dazu, sich um das (Gesamt-) Verständnis zu bemühen: Sie verschaffen sich einen Überblick, analysieren aktiv, stellen Bezüge her und erfassen zusammenhängenden Bedeutungen, so dass sie letztendlich zu einem guten Verständnis von Konzepten kommen. Auf der Basis dieser Arbeiten entwickelte sich der Ansatz des „Approach to Learning“. Er erklärt unterschiedliche Vorgehensweisen beim Lernen als unterschiedliche Zusammenhänge zwischen Lerner, Lehr-Kontext und Aufgabe (und nicht als interindividuelle Unterschiede zwischen Personen wie die Stil-Modelle). Die gesamte Lernumgebung wird betrachtet. Die Approaches unterscheiden sich demnach insofern von Stilen, als sie unterschiedliche Vorlieben eben gerade nicht als in einer Person „verankert“ sehen, sondern als bedingt durch das Zusammenspiel dieser Variablen und der Wahrnehmung des Lerners. Basierend auf diesem Ansatz entwickelten sich zwei Richtungen: Marton und seine Kollegen entwickelten den qualitativ ausgerichteten Forschungsansatz der „phenomenography“ (Marton 1981). Dessen Ziel ist es, herauszufinden, wie Lerner den Inhalt und den Prozess des Lernens wahrnehmen. Die Beschreibung von Approaches erfolgt also durch das, was Lerner selbst über ihre Wege, Lernsituationen zu erfahren und zu händeln, sagen. Der grundlegende Gedanke ist dabei, dass Personen in Relation zu ihrer Interpretation von Situationen agieren und nicht in Relation zu einer „objektiven Realität“. Dementsprechend kann man keine allgemeinen Prinzipien des Lernens unabhängig von Kontext und Inhalt ableiten. Dennoch haben Prinzipien, die auf dem Ansatz der Approaches to Learning beruhen, gezeigt, dass sie zu einer höheren Lehr- und Lernqualität führen (Watkins 2001, S. 167). Während Stile also beschreiben, was Personen in welcher Weise bevorzugt tun, beschreiben Approaches zwar ebenfalls das Verhalten von Individuen, hinterfragen jedoch auch die Motivation dahinter: Wie fühlen sich die Lerner? Als was erscheint ihnen das Lernen? : „These approaches to learning were not seen as attributes of the learners, they were seen as functional correlates of the outcome of learning. By describing how the learning task was handled and experienced, on can understand how the outcome came about. Approaches to learning reflect as much the context and conditions of learning as they reflect about the learners. What is important about them is that any attempt to improve the outcomes of learning has to be mediated by the approaches to learning.“ (Boulton-Lewis, Marton und Wilss 2001, S. 153) 186 <?page no="199"?> Neben diesem qualitativen Ansatz bildeten sich in Großbritannien und Australien quantitative Untersuchungsmethoden heraus. 8.7.3 Approaches to learning 8.7.3.1 Entwistle et al. Das von Entwistle und seinen Kollegen über 30 Jahre hinweg entwickelte Modell sowie dazugehörige Messinstrumente versuchen möglichst umfassend die Faktoren zu ergreifen, die beim Gebrauch von Lernstrategien eine Rolle spielen (z.B. Entwistle 1978, 1990, 1998; Entwistle, McCune und Walker 2001). Lernerseitig umfasst dies Aspekte wie die Herangehensweise und die Einstellung, so genannte approaches, zum Lernen, die intellektuelle Entwicklung, Leistung, Wissen und Motivation. Diese werden zu Lehrmethoden, Lernumgebung, dem Curriculum und Methoden der Leistungsmessung in Beziehung gesetzt. Untersuchungen von Entwistle und Ramsden (1983) auf der Grundlage von Lernerinterviews in Großbritannien ergaben, dass in formalen Lernsituationen die Leistungsbewertung einen sehr großen Einfluss auf das Lernen hat - ein Faktor, den seine Vorgänger Pask sowie Marton und Säljö nicht berücksichtigt hatten. Dieses Ergebnis bewog Entwistle und Ramsden dazu, den Approaches „deep“ und „surface“ einen dritten Approach, den „strategic approach“, hinzuzufügen. Lerner, die diesen Approach verfolgen, schenken der Leistungsmessung sehr große Aufmerksamkeit. Sie versuchen, die Erwartungen der Lehrperson herauszufinden und genau diese zu erfüllen und dadurch sowie durch den Einsatz von Lernmethoden und einem effektiven Zeitmanagement bestmögliche Noten zu bekommen (Entwistle, McCune und Walker 2001, 108). Untersuchungen von Pask sowie von Marton und Säljö ergaben scheinbar widersprüchliche Ergebnisse: Während Pask (1976) eine Konsistenz hinsichtlich der von den Lernern verfolgten Approaches in experimentellen und normalen Lernsituationen nachwies, zeigte sich in qualitativen Studien von Marton und Säljö (1976) eine gewisse Variablität: Die Lerner passten ihre Approaches den Anforderungen der Aufgaben an. Dies bewog Entwistle zu der Unterscheidung zwischen einem Stil als einem umfassenderen Charakteristikum eines Lerners, an eine Aufgabe heranzugehen, und einer Strategie. Letztere bezeichnet demzufolge den Weg, den ein Lerner zur Bewältigung einer spezifischen Aufgabe unter Berücksichtigung der wahrgenommenen Anforderungen wählt. Diesem strategischen Weg liegen verschiedene Lernstile zugrunde, von denen Entwistle annimmt, dass sie auf eine Dominanz einer der beiden Hemisphären des Gehirns zurückzuführen sind. Während die Verwendung von Strategien also eine Wahl des Lerners impliziert, werden Stile als umfassendere Vorlieben angesehen, wie Lerner im Allgemeinen an eine Aufgabe herangehen. 187 <?page no="200"?> Entwistle und seine Kollegen haben durch eine Vielzahl von Studien die Validität des „Deep, Surface und Strategic Approaches“ nachweisen können. Auch die Reliabilität des zuletzt entwickelten Messinstrumentes „Approaches and Study Skills Inventory“ (ASSIST) ist zufriedenstellend (vgl. Coffield et al., 2004). Ein Kritikpunkt besteht m.E. in der Auswahl der Faktoren, die Entwistle und seine Kollegen zueinander in Beziehung setzen. Zwar macht es das Modell attraktiv, dass es sich nicht ausschließlich auf Lernstile konzentriert, sondern versucht, andere Aspekte zur berücksichtigen, die beim Lernen ein Rolle spielen. Jedoch bleibt unklar, warum ausgerechnet die gewählten Faktoren untersucht werden, und bspw. nicht auch Geschlecht, Alter, soziale Herkunft o.Ä. 8.7.3.2 Biggs In Australien verfolgte Biggs einen Ansatz, der auf der Beziehung zwischen Handlungsmotiven und Strategien basiert. Auch er fügte dem „surface approach“ und dem „deep approach“ noch einen weiteren - Entwistles „strategic“ sehr ähnlichen - hinzu, den „achieving approach“. Bei Lernern, die den „achieving approach“ verfolgen, steht der institutionelle Erfolg im Vordergrund: Sie streben nach den bestmöglichen Noten mittels allen ihnen zur Verfügung stehenden Strategien. Biggs entwickelte zwei Fragebögen, mit Hilfe derer Lernprozesse untersucht werden können (Biggs 1987): den LPQ (Learning Process Questionnaire) und den SPQ (Study Process Questionnaire). Auch er betont die Rolle von Stilen als nur eine von mehreren Komponenten, die beim Lernprozess eine wesentliche Rolle spielen (Biggs 2001). Biggs wirft den gängigen Stil- Modellen vor, ausschließlich lernerzentriert zu sein, und sich darauf zu konzentrieren, Erkenntnisse über individuelle Unterschiede von Lernern zu sammeln, welche das Lernen „verbessern“ sollen (Biggs 2001, S. 93). Biggs selbst entwirft in Anlehnung an Dunkin und Biddle (1974) das „3P Modell“, das neben den Approaches der Lerner (process) auch den Unterrichtskontext (presage) und die Lernergebnisse (product) miteinbezieht. Dabei folgen die Komponenten des Modells keiner linearen Abfolge, sondern jeder Bestandteil interagiert mit jedem. Diesen Komponenten weist Biggs drei Module zu: „Presage“, „Process“ und „Product“. 188 <?page no="201"?> Stile finden sich hier als eine Variable der „student factors“ wieder. Biggs selbst sieht jedoch neben Stilen die Lernaktivitäten als eine entscheidende Komponente im 3P Modell im Process-Modul: Hier sind die Approaches eines Lerners angesiedelt. Wesentlich bei diesem Modell ist, dass Lerner nicht generell als „deep“- oder „surface“-Lerner eingeordnet werden können. Die Herangehensweise ist jeweils bestimmt durch den Kontext, also durch die Aufgabe und die Situation, in der diese Aufgabe durchzuführen ist (z.B. Prüfung, Projektarbeit …) bzw. davon, wie Lerner diesen Kontext wahrnehmen (Was erwartet der Lehrer? Wieviel Wissen reicht aus, um die Prüfung zu bestehen? Etc). Biggs stellt eine Liste von kognitiven Aktivitäten auf, die er hierarchisch nach dem benötigten kognitiven Anspruch ordnet (von „auswendig lernen“ und „identifizieren“ bis „auf andere Bereiche übertragen“ und „reflektieren“). Beim „deep approach“ spielen alle diese Aktivitäten eine Rolle, wohingegen beim „surface approach“ der Lerner nur auf den niedrigen Levels bleibt. Biggs zufolge können der „deep approach“ durch Maßnahmen in zwei Bereichen gefördert und der „surface approach“ minimiert werden: Einerseits muss ein entsprechender Unterrichtskontext bereitgestellt werden. Dies kann z.B. durch ein entsprechendes Curriculum geschehen, das nicht ausschließlich auf ein breites, oberflächliches Wissen, sondern auch auf Vertiefung ausgelegt ist, oder durch Tests, die nicht lediglich Fakten abfragen. Andererseits wird ein entsprechender Lehrkontext benötigt. So muss den Abb. 20: 3P Modell aus: Biggs 2001, S. 87 189 <?page no="202"?> Lernern bspw. genügend Zeit zum Nachdenken gelassen werden, Inhalte müssen wichtig erscheinen (nicht Unterrichtsbeiträge als solche), und schwächere Lerner dürfen nicht bloßgestellt und entmutigt werden. Als eine sehr geeignete Unterrichtsmethode nennt Biggs das problembasierte Lernen, das Lerner dazu anregt, aktiv zu werden um das Ziel zu erreichen: die Lösung des Problems. Watkins bemerkt zu diesem Ansatz: „Inspection of this model indicates why simple, general laws of learning have not been possible to validate, and why attempts to improve learning outcomes based on the deficit model are ineffective. To explain student learning requires an appreciation of the interactive, multidimensional nature of ‚the swampy’ of real-life learning. General laws that focus on just one aspect of the learning situations, such as reinforcement, cannot achieve this.“ (Watkins 2001, S. 168) 190 <?page no="203"?> 9 Methodologie und Beschreibung der Erhebungen Die vorliegende Untersuchung wurde mit zwei Hauptanliegen unternommen: Einerseits sollten im Rahmen der Arbeit auch die Strategien beschrieben und klassifiziert werden, die erwachsene Lerner der DGS einsetzen. Andererseits sollte die Hypothese überprüft werden, dass sich der Einsatz von Lernstrategien auf das Lernstilprofil einer Person zurückführen lässt. Die hinter dem Einsatz des Lernstilinventars von Kolb stehende Absicht war es, einen theoretischen Erklärungszusammenhang für einen eventuell auftretenden differentiellen Gebrauch von Lernstrategien durch die Informanten zu gewinnen. Aufgrund des fehlenden Forschungshintergrundes bzgl. des Erlernens einer Gebärdensprache ist die Wahl eines qualitativen Forschungsdesigns besonders geeignet: Um überhaupt zu erfassen, welche Strategien die Informanten nutzen, erschien eine intensive Untersuchung vergleichsweise weniger Personen sinnvoller als eine oberflächliche Befragung vieler Lerner. Bei der Entwicklung des Untersuchungsdesigns wurde Wert darauf gelegt, dass sowohl introspektive Daten als auch Daten aus tatsächlichen Lernsituationen erhoben wurden, und dass es bei Letzteren sowohl produktive als auch rezeptive Elemente gab. Damit die Daten trianguliert werden konnten, wurden drei Methoden gewählt: Interviews, Experimente mit Lautem Denken und Experte-Novize-Experimente, wobei die Experimente den Charakter von Lernsituationen hatten 1 . Die Stichprobe setzt sich aus 14 Studentinnen der Studiengänge Gebärdensprachen und Gebärdensprachdolmetschen der Universität Hamburg zusammen, die in ihrem Lernprozess unterschiedlich weit fortgeschritten waren. Die Handlungen der Informantinnen, die sich in den Daten fanden, wurden vollständig transkribiert. Sie wurden auf dem Hintergrund einer kognitiven Handlungstheorie betrachtet, die aus der Analyse der genetischen Epistemologie von Jean Piaget und der Handlungstheorie von Jürgen Habermas unter Berücksichtigung der Strategieeinordnung von Michael Wendt gewonnen wurde. Im Folgenden sollen nun zuerst grundsätzlich die Methoden der Ermittlung von Lernstrategien erläutert werden. Im Anschluss daran folgt eine detaillierte Beschreibung der Untersuchungsmethoden sowie des Vorgehens bei der Auswertung der Daten. 1 Alle Erhebungssituationen wurden gefilmt. Das Material kann auf Anfrage bei der Verfasserin eingesehen werden. 191 <?page no="204"?> 9.1 Methoden der Ermittlung von Lernstrategien An dieser Stelle soll zunächst auf die für die Untersuchung von Lernstrategien geeigneten Methoden genauer eingegangen werden. Lange Zeit war das Hauptforschungsziel der Lernstrategieforschung die Identifikation von verschiedenen Strategien und ihre Deskription. Das Hauptproblem bestand darin, Hinweise auf den Gebrauch von Strategien zu bekommen. Bei der Beschäftigung mit Strategien sind Annahmen hinsichtlich des Explizitheitsgrades von Wissen und Fertigkeiten von entscheidender Bedeutung für die Frage, welche Form der Datenerhebung bei der Untersuchung von strategischem Handeln und Verhalten zu wählen sind. Wie bspw. Bialystok es formuliert, kann Wissen unterschiedliche Grade der „Analysiertheit“ aufweisen, und Wissen umso eher zugänglich sein, je höher der Grad der Analysiertheit ist (Bialystok 1990). Geht man also davon aus, dass Strategien nicht nur bewusst ablaufende Prozesse sind, muss bei Erhebungen darauf geachtet werden, dass nicht nur Methoden für die Untersuchung gewählt werden, bei denen bewusstes, explizites Wissen der Informanten erhoben wird. Hinweise auf den Gebrauch von Strategien ergeben sich aus Daten, die mittels unterschiedlicher Methoden erhoben werden können: Die Introspektion z.B. in Interviews oder Fragebögen ist die beste Methode, wenn das Untersuchungsziel vor allem deklaratives (meta-) strategisches Wissen oder nicht sehr stark automatisierte prozedurale Fertigkeiten sind. Nachteile dieser Methode liegen darin, dass die erhobenen Daten nicht objektiv sind: Geschildert werden subjektive Eindrücke der Lerner. Außerdem sind die Daten auf bewusste Strategien limitiert. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr ist weiterhin, dass Strategiewissen und Strategiegebrauch bei einer Person sehr auseinanderfallen können. Interviews und Fragebögen zeigen vielleicht, welche Strategien eine Person kennt (bzw. einen Ausschnitt daraus), aber nicht, welche sie tatsächlich anwendet. Insbesondere, wenn Lernerlebnisse schon längere Zeit zurückliegen und per Fragebogen ohne Möglichkeit zur Ausführung bzw. ohne gesteuerte Nachfragen durch den Interviewer erhoben werden, können Lernerinnerungen verfälscht werden. Ferner besteht auch die Möglichkeit, dass der Lerner bemüht ist, dem Interviewer zu gefallen oder sich möglichst positiv darzustellen; dies kann dazu führen, dass der Proband nicht seine wahren Erfahrungen und Ansichten äußert, sondern das, was er glaubt, was den Erwartungen des Interviewers entspricht. Introspektion kann also nur der erste Schritt sein und muss mit anderen Methoden überprüft werden, um Validität und Reliabilität der erhobenen Daten zu sichern. Das Führen von Lerntagebüchern ist stärker prozessorientiert: Es kann Informationen über den Lernprozess im Allgemeinen und insbesondere auch individuelle Erkenntnisse über die L2 („Aha-Erlebnisse“) und ihre Ur- 192 <?page no="205"?> sachen enthüllen. Auch Lerntagebücher sind - als vom Lerner verfasste Eindrücke - subjektiver Natur. Eine dritte gängige Methode ist die des „Lauten Denkens“ z.B. in Lernerpaaren. Hier ist die konkrete Strategieanwendung dadurch gesichert, dass beim Lösen einer Aufgabe der Lösungsprozess verbalisiert wird. Es besteht also z.B. nicht die Gefahr der Verfälschung von Daten durch falsche Erinnerungen o.Ä. Durch die Konzentration auf die Aufgabe wird ein Großteil der angestrengten Selbstkontrolle auf der Informantenseite eliminiert. Andererseits hat die Laut-Denk-Methode u.U. den Nachteil, dass die Ausführung von Arbeitsschritten verzögert wird, da kognitive Ressourcen für das Laute Denken anstatt auf das Lösen der Aufgabe verbraucht werden, weil der Lerner sich auf das Formulieren seines Tuns konzentriert. Dies kann das Vorgehen beim Lösen der Aufgabe insgesamt verändern. Um dies zu vermeiden muss auf jeden Fall genug Zeit zum Lösen der Aufgabe gegeben werden, um den Lerner nicht zusätzlich unter Druck zu setzen. Ähnlich wie die Laut-Denk-Methode lässt sich mit Hilfe von Experte- Novize-Experimenten Einblick in Denkprozesse von Lernenden gewinnen. Hierbei werden ein Anfänger und ein fortgeschrittener Lerner gebeten, gemeinsam eine Aufgabe zu lösen. Diese Methode zielt darauf ab, dass Schwierigkeiten des Anfängers dadurch erkennbar werden, dass dieser den Fortgeschrittenen um Rat fragt. Möglicherweise gibt der Fortgeschrittene dem Anfänger daraufhin Hinweise für das Lösen der Aufgabe, offenbart und verbalisiert also seine eigenen Strategien. Schließlich lassen sich auch Daten aus der Beobachtung des Lernerverhaltens gewinnen. Problematisch dabei ist jedoch, dass der Strategiegebrauch bzw. je nach theoretischen Ansatz die eigentlichen mentalen Operationen selbst nicht beobachtbar sind, sondern nur die verwendeten sprachlichen Formen bzw. das konkrete Verhalten. Selbst das Verhalten kann jedoch durch die Beobachtung beeinflusst werden, sofern die Informanten sich beobachtet fühlen und u.U. ihr Verhalten ändern (Beobachterparadox). Neben diesen Methoden der qualitativen Ermittlung von (Sprach-) Lernstrategien wie Lernerbeobachtungen, Interviews, Laut-Denk-Experimenten und Lerntagebüchern eignet sich die Erhebung per Fragebogen für quantitative Untersuchungen. Ein sehr häufig eingesetztes Instrument ist das von Rebecca Oxford entwickelte Strategy Inventory for Language Learning (SILL), das auf der von Oxford 1990 erstellten Strategiesystematisierung beruht. Dieser Fragebogen wurde mittlerweile in verschiedene Sprachen übersetzt und bis 1990 bereits in vielen Untersuchungen mit über 8.000 Lernern eingesetzt (Oxford und Burry-Stock 1995, S. 4, zitiert in Chang 2002, S. 30). Die Wahl der Erhebungsmethode hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bspw. merkt Tönshoff an: „Für den schulischen Fremdsprachenunterricht ist zu vermuten, dass der Einsatz von Einzelinterviews und introspektiven Verfahren wegen ihres beträchtlichen Zeitaufwandes und ihrer Qualifikationsvoraussetzungen nur ‚exemplarisch’ und 193 <?page no="206"?> primär in bewusstmachender Funktion sinnvoll sein dürfte. Für eine alle Schüler abdeckende diagnostische Erfassung von Strategien(teil)repertoires erscheinen hingegen vor allem solche Instrumente geeignet, die von den Mitgliedern der Lernergruppe zeitlich parallel bearbeitet werden können und auch leichter auszuwerten sind (also z.B. Lernerfragebögen).“ (Tönshoff 1997, S. 209) Dies gilt selbstverständlich nicht nur für den schulischen Fremdsprachenunterricht, sondern ebenso für außerschulischen Unterricht. Um den tatsächlichen Gebrauch von Strategien zu ermitteln, ist es jedenfalls sinnvoll und notwendig, Ergebnisse, die mit verschiedenen Erhebungsmethoden ermittelt wurden, miteinander zu vergleichen. 9.2 Erhebungen der vorliegenden Arbeit zur Ermittlung von Lernstrategien Im Vordergrund stand die Frage, welche Strategien die Lerner einer Gebärdensprache überhaupt einsetzen. Für die vorliegende Untersuchung wurden drei verschiedene Methoden gewählt, die angemessen schienen, diese Fragen zu beantworten: 1. Interviews in Kleingruppen 2. Experimente mit Lautem Denken 3. Experte-Novize-Experimente Damit wurden Methoden eingesetzt, die es erlauben, zum einen die Ansichten der Lernerinnen bzgl. ihres Lernprozesses zu erheben; zum anderen konnten diese subjektiven Eindrücke zu tatsächlichen Vorgehensweisen in Lernsituationen in Beziehung gesetzt werden. Für die vorliegende Untersuchung erschien es nicht sinnvoll, einen bereits bestehenden Fragebogen zur Erhebung von Strategien wie z.B. SILL von Rebecca Oxford einzusetzen, weil es sich bei der Zielsprache um eine Sprache einer anderen Modalität handelt. Da DGS eine Sprache mit einer nicht auditiv-oralen Modalität ist, war zu erwarten, dass die Strategien an diese Modalität angepasst sind. Ferner stehen Lerner einer Gebärdensprache aufgrund der fehlenden Gebrauchsschrift, der bis heute defizitären linguistischen Forschung und der damit verbundenen mangelhaften Lage an geeignetem Lernmaterial vor besonderen Problemen. Es war zu vermuten, dass die Lerner Wege gefunden haben, mit dieser Situation umzugehen und solche Probleme mit speziell an diese Situation angepassten Strategien zu lösen. In einer ersten Annäherung, die im Rahmen dieser Arbeit unternommen wurde, schien es zweckmäßig, zunächst mit qualitativen Methoden die Strategien zu ermitteln, die von Lernern der DGS eingesetzt werden. Auf diese Weise sollte vermieden werden, dass Strategien aufgrund unpassender Fragebogen-Items nicht erfasst würden. Der Einsatz eines Fragebogens erscheint erst in Folgeuntersuchungen mit größeren Stichproben sinnvoll. 194 <?page no="207"?> Im Folgenden werden zunächst die Auswahl der Informantinnen und ihre Sprachlernsituation erläutert. Darauf folgt eine Beschreibung der Erhebungsmethoden und -situationen sowie der zur Auswertung eingesetzten Instrumente und Verfahren. 9.2.1 Auswahl der Informantinnen Bei den Erhebungen der vorliegenden Arbeit nahmen insgesamt 14 Personen teil. Diese waren Studentinnen der Studiengänge Gebärdensprachen (acht Personen) und Gebärdensprachdolmetschen (sechs Personen) an der Universität Hamburg 2 . Die Gruppe setzte sich aus Anfängerinnen (2. Semester) bis hin zu sehr fortgeschrittenen Lernerinnen (16. Semester) zusammen. Die Informantinnen waren zwischen 21 und 42 Jahre alt, wobei bis auf eine Person alle unter 30 Jahre alt waren. Acht Personen waren von der Schule mehr oder weniger direkt an die Universität gegangen, drei hatten vor ihrem Studienbeginn eine Ausbildung gemacht, zwei hatten einige Semester ein anderes Fach studiert und eine ein Aupair-Jahr verbracht. Die Informantinnen wurden in erster Linie hinsichtlich ihres Lernniveaus ausgewählt: Da die Experte-Novize-Experimente die Kooperation von jeweils einem fortgeschrittenen Lerner und einem Anfänger erfordert, war das Lernniveau ein essentieller Faktor bei der Auswahl der Informanten. Die Novizinnen waren meist im zweiten bzw. dritten Studiensemester. Die Gruppe der Expertinnen war heterogener: Sie hatten zwischen vier und zehn Semester DGS gelernt. Allerdings wurde bei der Auswahl nicht ausschließlich die Dauer der DGS-Lernerfahrung in Betracht gezogen, sondern auch die Einschätzung der Sprachkompetenz durch einen Kursleiter. Entscheidend waren außerdem die Fähigkeit der Informantinnen, über ihr Sprachlernverhalten zu reflektieren und natürlich auch ihre zeitliche Verfügbarkeit. Es wurde weiterhin darauf geachtet, dass nicht ausschließlich erfolgreiche Lernerinnen ausgewählt wurden, um auch einen Einblick in die Probleme und Strategien der schwächeren Lernerinnen zu erhalten. Tabelle 13 gibt einen Überblick über einige Sozialdaten der Informantinnen sowie darüber, welche Informantinnen an welchen Experimenten teilgenommen und welche Personen als Novizinnen bzw. als Expertinnen agiert haben. 2 Unter den Studierenden der beiden Studiengänge sind nur sehr wenige Männer. Es wurde versucht, auch einige von ihnen in die Erhebungen mit einzubeziehen; dies gelang jedoch nicht. 195 <?page no="208"?> 9.2.2 Zur Sprachlernsituation der Informantinnen Der Gebärdensprachinput, den die Informantinnen durch den Unterricht am IDGS erhalten haben, ist nur in der „Generation“ der Studierenden aus dem zweiten Semester konsistent. Ihre Kurse (DGS 1 und DGS 2) wurden auf der Grundlage des „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, Stufe 1 und 2“ (Beecken et al. 1999a, 1999b, 2002a, 2002b) durchgeführt. Außerdem wurde zu Beginn des ersten Semesters „Die Firma 1 - Deutsche Gebärdensprache Do It Yourself“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2000) in einer dreiwöchigen Phase eingesetzt. In diesen Lehrwerken spielt die Vermittlung von Lernstrategien keine Rolle. Strategien werden nur insofern vermittelt, als im Rahmen soziolinguistischer Erläuterungen von typischen Verhaltens- und Kommunikationsformen in der Gehörlosengemeinschaft bestimmte Verhaltensweisen beschrieben werden - und die Lerner dazu angehalten werden, dieses Verhalten ebenfalls anzunehmen. Dabei geht es im Einzelnen um Kommunikationssignale (z.B. „Wie mache ich einen potenziellen Gesprächspartner darauf aufmerksam, dass ich mit ihm gebärden möchte? “) sowie um Normen und Gebräuche (z.B. „Wie verhalte ich mich, wenn mir eine Gruppe gebärdender Menschen im Weg steht? “). Diese pragmatischen Aspekte gebärdensprachlicher Kommunikation bzw. des Umgangs Gehörloser miteinander sind die einzigen Informationen, die strategischen Charakter haben. Das Hauptlehrwerk der Kurse DGS 1 und 2 stellt der „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache“ dar. Dieser Kurs ist eine Adaption des ASL-Lehr- Pseudonym Alter Studienfach: Magister/ Dipl.-Dolm. Fachsemester Interview Laut- Denk Experte- Novize A1 A2 22 22 Magister Dipl.-Dolm. 6 6 + + - - Expertin Expertin A3 B D F 22 25 Dipl.-Dolm. Magister 29 21 Dipl.-Dolm. Dipl.-Dolm. 2 2 + + 4 4 + + + + Novizin Novizin - + - Expertin J K M1 M2 23 42 Magister Dipl.-Dolm. 22 25 Magister Magister M3 S S-E V 26 25 Magister Dipl.-Dolm. 27 22 Magister Magister 8 13 + + 6 10 + + - - Expertin - - - - Expertin 10 2 + + 16 7 + + + + Novizin Novizin - + - Novizin 196 Tab. 13: Daten der Informantinnen <?page no="209"?> werks „Signing Naturally“ 3 . Es folgt einem pragmatisch-funktionalen Ansatz und besteht aus einem kommunikativ orientierten Curriculum. Leider ist das Lehrwerk geprägt von einem behaviouristischen Lehrkonzept: Es gibt keine Informationen über Lektions- und Übungsziele. Die produktiven Sprachübungen bestehen zu einem großen Teil aus schematischen Musterdialogen. Die Grammatikvermittlung erfolgt weitgehend implizit. Es gibt keine Kognitivierungsphase, sondern nur allgemein gehaltene Texte mit Beispielen und keine oder wenig explizite Regeln 4 . Der Kurs verfolgt kein induktives Vorgehen bei der Analyse sprachlicher Strukturen. Auch kontrastive Grammatikvermittlung findet nicht statt. Die fortgeschritteneren Informantinnen sind z.T. nicht in den Genuss eines DGS-Unterrichts gekommen, dem ein komplettes Lehrwerk zur Verfügung stand. In den Anfängen der DGS-Lehre kam dem Lehrer eine noch zentralere Rolle als heute zu: Die Sprachvermittlung und -übung fand hauptsächlich über Interaktionen mit dem Kursleiter statt. Als einziges Kursmaterial standen Zeichnungen von Gebärden als Merkhilfe zum Vokabellernen zur Verfügung. Die meisten der fortgeschritteneren Informantinnen erhielten einen Unterricht, der zwischen diesen beschriebenen Umständen liegt: Bei ihnen stand der „Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, Stufe 1“ im Kurs DGS 1 zur Verfügung, die höheren Kurslevels fanden allerdings hauptsächlich durch Face-to-Face-Kommunikation statt 5 . 9.2.3 Erhebung I: Introspektive Interviews zur Ermittlung von Lernstrategien Zur Identifizierung von Lernstrategien beim Lernen der DGS wurden im Sommer 2003 von der Verfasserin fünf Gruppeninterviews mit insgesamt 14 Personen durchgeführt. Die Interviews fanden im Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser der Universität Hamburg statt. Die Informantinnen wurden zunächst gebeten, zwei Fragebögen auszufüllen: Der erste war der Kolbsche Fragebogen zur Erfassung des Lernstils (s. Kapitel 16 „Auswertung der Lernstiluntersuchung“). Der zweite Bogen 3 Diese Adaption ist aus verschiedenen Gründen nicht ganz gelungen, vgl. hierzu ausführlich Beecken 2000. „Signing Naturally“ besteht mittlerweile aus drei Stufen, vgl. Smith, Lentz und Mikos 1988a, Smith, Lentz und Mikos 1988b, Lentz, Mikos und Smith 1992, Lentz, Mikos und Smith 1989, Mikos, Smith und Lentz 2001a, Mikos, Smith und Lentz 2001b. 4 Diese sind zugegebenermaßen allerdings aufgrund der defizitären Forschungslage häufig nur schwer anzugeben. 5 Durch das Projekt „ProViL“ wurde auch für die Stufen 3 und 4 der vier DGS-Kurse am IDGS Sprachlehr- und Lernmaterial entwickelt, so dass sich die Situation stark verbessert hat; vgl. hierzu Metzger und Herrmann (2005). 197 <?page no="210"?> stellte Fragen bzgl. der Sozialdaten, der allgemeinen Sprachlernbiographie sowie der Motivation der Informantinnen, DGS zu lernen, ihres Kontakts zu DGS-Mutterspachlern und ihrer Selbsteinschätzung hinsichtlich Sprachkompetenz und Lernerfolg. Die Sozialdaten wurden in einer relationalen Datenbank erfasst, die mit FileMaker Pro 7 erstellt wurde 6 . Bei dem Interview, das mit Einverständnis der Informantinnen gefilmt wurde, handelte es sich um ein semi-gesteuertes Interview. Es wurde - bis auf eine Gruppe mit zwei Studentinnen - in Gruppen von drei Informantinnen und der Interviewerin durchgeführt 7 . Die Interviews haben eine Gesamtlänge von knapp sechs Stunden und dauerten durchschnittlich jeweils ca. 70 Minuten. Der Interviewleitfaden enthielt - geprägt von den Hauptfragen: Welche Strategien werden benutzt? und Welche Strategien werden als erfolgreich bewertet? - folgende Zielfragen: Wie lernst Du: • Vokabeln • Grammatik (z.B. Klassifikatoren, Richtungsverben, Rollenübernahme …) Was ist besonders schwierig zu lernen? Wie begegnest Du diesen Schwierigkeiten? Welche „Methoden“ benutzt Du? Welche besondere Maßnahmen bzw. Aktivitäten wendest Du im Unterricht an? Welche besondere Maßnahmen bzw. Aktivitäten wendest Du außerhalb des Unterrichts an? Welche von diesen „Methoden“ bewertest Du als erfolgreich? Hast Du früher etwas anders gemacht, und diese Aktivität, weil sie nicht erfolgreich war, eingestellt? Hast Du Unterschiede zum Lernen von Lautsprachen festgestellt? Was würdest Du Personen raten, die DGS lernen wollen? (Tipps, Warnungen, Hinweise …) Die Interviews wurden von der Verfasserin verschriftlicht und mit Hilfe einer relationalen Datenbank, die ebenfalls mit FileMaker Pro 7 erstellt wurde, ausgewertet. Dabei wurden die Aussagen der Informantinnen in inhaltlich zusammenhängende Abschnitte unterteilt und hinsichtlich des Strategiegebrauchs sowie spezifischer Gebärdensprachlernprobleme verschlagwortet, indem sie zu der Datenbank in Beziehung gesetzt wurde, die die erhobenen Strategien (s.u.) enthielt (s. Abb. 21). Im folgenden Teil der Arbeit 6 Der Lernstilfragebogen findet sich in Anhang 1 der vorliegenden Arbeit. Der Fragebogen bzgl. der Sozialdaten, der Sprachlernerfahrungen und Motivation der Informantinnen sowie die entsprechenden Daten können auf Anfrage bei der Verfasserin eingesehen werden. 7 Dieses Vorgehen hatte sich in einem Prätest bewährt. Dadurch, dass mehrere Informantinnen an einer Interviewsitzung beteiligt waren, wurde der Situation der formelle Charakter genommen. Es kam z.T. zu Situationen, in denen der Erfahrungsaustausch der Lernerinnen untereinander mehr im Vordergrund stand als die Interviewsituation. 198 <?page no="211"?> sind diese Interviewaussagen jeweils mit einer ID versehen, die sich auf die FileMaker Pro-Datenbank bezieht. 9.2.4 Erhebung II: Laut-Denk-Experimente zur Ermittlung und Verifizierung von Lernstrategien Als weitere Methode wurde das Laute Denken gewählt. Von den Informantinnen wurden die Anfängerinnen und z.T. die mittelmäßig Fortgeschrittenen gebeten, eine Lektion aus dem multimedialen Selbstlernkurs „Die Firma 2 - Deutsche Gebärdensprache interaktiv“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2003) durchzuarbeiten, ein multimediales Sprachlernprogramm für Fortgeschrittene zum selbständigen Lernen der DGS. „Die Firma Abb. 21: Oberfläche der Datenbank zur Auswertung der Interviewaussagen 199 <?page no="212"?> 2“ stellte das einzige Mittel dar, ein Laut-Denk-Experiment beim Lernen von DGS durchzuführen. Damit konnte den Informantinnen eine in sich geschlossene Kurseinheit präsentiert werden, in der zum einen neue Inhalte geboten wurden, und in der zum anderen das Erlernen dieser Inhalte anhand von entsprechenden Übungen überprüft werden konnte. „Die Firma 2“ stellt ein Beispiel für die Umsetzung des konstruktivistischen Lernmodells im Fremdsprachenunterricht dar 8 . Das Programm bietet einen hohen Anteil interaktiver Funktionen (vgl. hierzu Metzger und Schulmeister 2004). Insbesondere die interaktiven Übungen stellen aus mehreren Gründen eine besonders innovative Lösung für das Lernen der Gebärdensprache dar: „- Sie bieten dem Lernenden eine Gelegenheit, die in Gebärdensprache präsentierten Anweisungen und Informationen des Tutors in eigene konkrete Handlungen umzusetzen. Das geschieht, indem der Anwender mittels direkter grafischer Manipulation mit der Maus Möbel verschieben, Termine in einem Kalender anordnen, Räume arrangieren, Fahrzeuge führen oder sich in einer Stadt oder in einem Gebäude bewegen kann. - Durch die spielerisch ausgeführten Handlungen kann der Lernende selbst kontrollieren, ob er die Anweisungen in Gebärdensprache richtig verstanden hat. - Die Übungen geben dem Anwender Rückmeldung zu seinem Lernerfolg. Hat er die Anweisungen nicht korrekt umgesetzt, liefern die Animationen in den Übungen selbst ein unmittelbares visuelles Feedback, und der Tutor teilt dem Lernenden mit, dass er die Anweisungen anscheinend nicht richtig verstanden hat. Hat der Anwender aber die Übungen erfolgreich gelöst, so erhält er vom Tutor eine Bestätigung seines Lernerfolgs. 8 Zur Auffassung des Fremdsprachenlernens als Konstruktionsprozess s. Wolff (2002): „Das Erlernen einer Sprache bedeutet […] den Erwerb jener individuellen, komplexen mentalen Prozesse, auf die wir bei der Beschreibung des Hörens und Lesens, des Sprechens und Schreibens gestoßen sind; es bedeutet den Erwerb der kooperativen Prozesse des gemeinsamen Konstruierens von Bedeutung, es bedeutet schließlich den Erwerb der sprachlichen Mittel […], die der Lernende zur Umsetzung seiner mentalen Repräsentationen in verarbeitbare Information und sprachlicher Information in mentale Repräsentationen benötigt. Die Frage, wie Sprache gelernt wird, beantwortet sich also vor dem Hintergrund konstruktivistischer Überlegungen durch die Annahme, dass sowohl die erforderlichen sprachlichen Mittel (das deklarative Wissen) als auch das Konstruktionsvermögen (das zugleich dem prozeduralen und dem deklarativen Wissen zuzuordnen ist) dadurch erworben werden, dass sie in konkreten, authentischen Situationen gebraucht werden. Dies wird zunächst sowohl im Hinblick auf das deklarative wie auch auf das prozedurale Wissen sehr bewusst geschehen, im Verlauf des Sprachlernprozesses aber werden der Zugriff auf die sprachlichen Mittel und die Konstruktionsprozesse in immer stärkerem Maße automatisiert. Außerdem wird das bereits erworbene Sprachwissen immer wieder modifiziert (restrukturiert) und das Konstruktionsvermögen verfeinert“ (Wolff 2002, S. 341). 200 <?page no="213"?> Die Übungen haben einen hohen interaktiven und spielerischen Charakter und dürften dem Anwender viel Spaß bereiten. Zugleich üben sie eine nützliche didaktische Funktion aus, indem sie Rückmeldung zum Verständnis von Gebärdensprache geben können. In den Dialogen kann der Lernende seine analytische Kompetenz in Gebärdensprache erweitern, indem er versucht, grammatische Regeln und Prinzipien der Gebärdensprache zu entdecken; in den Übungen kann er seine Kompetenz überprüfen, indem er sein Verständnis der gebärdeten Inhalte in konstruktive Handlungen umsetzt.“ (Metzger 2005, S. 323) 9 Insgesamt wurden sechs Laut-Denk-Experimente mit jeweils einer Person durchgeführt. Sämtliche Experimente wurden gefilmt. Die Verfasserin war dabei anwesend, um die Informantin anzuleiten, ggf. bei technischen Problemen zu assistieren, das Verhalten der Informantin zu beobachten und sie ggf. zum Lauten Denken anzuhalten. Insgesamt liegen aus diesem Experiment 10 Stunden und 20 Minuten Film vor; ein Experiment dauerte im Durchschnitt etwa 100 Minuten, wobei die einzelnen Zeiträume aber sehr variieren: Die Informantinnen erhielten die Anweisung, die Lektion zu bearbeiten und dabei ihre Gedanken laut zu verbalisieren und ihre Vorgehensweise zu 9 Eine interessante qualitative Untersuchung zum selbstorganisierten Fremdsprachenlernen mit Multimedia findet sich in Niehoff (2003): Die Autorin gewann in einer elfmonatigen Studie Daten zum Lernprozess von neun Personen mit Deutsch als Muttersprache, die mittels multimedialer Lernumgebungen freiwillig zu einer Fremdsprache ihrer Wahl zu arbeiteten. Ihr Ziel war es, die Anforderungen an das Fremdsprachenlernen mit Multimedia aus der Perspektive der NutzerInnen zu rekonstruieren. Die Studie zeigt die persönlichen Bedingungen und äußeren Voraussetzungen, die hinderlichen und förderlichen Bedingungen der Lernumgebung sowie die Konsequenzen auf. Außerdem werden eine Reihe von speziell beim Lernen mit Multimediaprogrammen eingesetzter Strategien zusammengetragen. Dazu zählen das „sich vertraut Machen“, das Suchen, Strategien der Lernorganisation, des Wahrnehmens und Verstehens, des Integrierens und Elaborierens sowie des erfolgsorientierten Übens. Abb. 22: Dauer der einzelnen Laut-Denk-Experimente (markiert mit den Informantenbezeichnungen) in Minuten A3 B F M3 S V 0 100 200 201 <?page no="214"?> erläutern. Die als Versuchsleiterin anwesende Verfasserin stand für inhaltliche Fragen, die insbesondere bei den Übungen gestellt wurden, nicht zur Verfügung. Lediglich bei auftretenden kleineren technischen Problemen wurde Hilfestellung geleistet. Um auch die gebärdensprachlichen Äußerung der Informantinnen mit einer Kamera erfassen zu können, wurde neben dem Monitor ein Spiegel aufgestellt. Auf diese Weise konnten bei der Transkription und Auswertung sowohl Gebärden als auch Mimik und Körperhaltung der Informantinnen berücksichtigt werden, die Aufschluss über den emotionalen Zustand der Lernerinnen gaben. Dieses Experiment zielte einerseits darauf ab, weitere Lernstrategien zu identifizieren, die in den Interviews noch nicht genannt worden waren - möglicherweise, da keine konkrete Aufgabe vorlag. Andererseits sollte dieses Experiment die Möglichkeit bieten, die in den Interviews genannten Strategien auf ihren tatsächlichen Einsatz hin zu überprüfen. Damit sollte abgesichert werden, dass die genannten Strategien nicht nur losgelöst von einer konkreten Lernsituation beschrieben, sondern auch tatsächlich eingesetzt wurden. Dies konnte natürlich nicht für alle Strategien gelten, da es sich bei dem Laut-Denk-Experiment nur um eine spezielle Aufgabe in einer ganz bestimmten Lernsituation handelte. Dennoch war zu erwarten, dass ein Teil der in den Interviews genannten Strategien eingesetzt würde, vor allem da am Ende der Lektion mehrere Übungen zu lösen waren, zu deren Lösung die entsprechenden Vokabeln und die grammatischen Konzepte im Laufe der Lektion gelernt werden mussten. Die ausgewählte Lektion befasst sich mit dem Ausdruck von Wegbeschreibungen 10 in DGS. Sie stellte die Möglichkeit dar, den Informantinnen jeweils eine abgeschlossene Lerneinheit zu präsentieren, deren Inhalte sie lernen und das Erlernte selbständig üben konnten 11 . Jede Lektion von „Die Firma 2“ gliedert sich in fünf Teile: Dialog, Grammatikerklärungen, Bemerkungen, Übungen und Vokabeln. Im Dialog der Lektion 6 gibt es zwei Sze- 10 Das Konzept „Wegbeschreibung“ wird im Folgenden nach einer Beschreibung des Lektionsaufbaus erläutert. 11 Diese Lektion wurde nach der Durchführung eines Prätests ausgewählt, bei dem sich herausstellte, dass die darin verwendete Lektion 2 zu einfach für die Informantin war. In Lektion 2 geht es um die verschiedenen Möglichkeiten der Verortung von Objekten im Gebärdenraum: Durch Klassifikatorkonstruktionen, die Lozierung von lexikalischen Gebärden im Gebärdenraum sowie durch die deiktische Gebärde INDEX können Objekte im Gebärdenraum loziert werden, auf die sich der Sprecher dann anaphorisch beziehen kann. Außerdem kann die räumliche Lage von Objekte zueinander auf diese Weise ausgedrückt werden. Bei der Bearbeitung dieser Lektion hatte die Lernerin, Informantin S, so gut wie keine Schwierigkeiten, den Dialog zu verstehen und die Übungen zu bewältigen. Daher wurde für die weiteren Experimente Lektion 6 ausgewählt. Da der Prätest jedoch wertvolle Ergebnisse hinsichtlich des Einsatzes von Strategien lieferte, wurde er in die Auswertung miteinbezogen. 202 <?page no="215"?> narien mit jeweils einem Dialog zwischen zwei Personen (s. Abb. 23). Dabei geht es inhaltlich darum, dass ein Bote in einem Architekturbüro einen Schlüssel abholen und auf eine Baustelle bringen soll, und wie genau er an den Zielort gelangt. Der Lerner kann sich den Dialog wahlweise in größeren oder in kleineren Abschnitten anschauen. Der Dialog bettet die Gebärden in einen kommunikativen Kontext ein. Die Gebärden treten also nicht isoliert auf und müssen deshalb auch nicht ausschließlich als einzelne Lexeme gelernt werden. Um die Gestalt der Gebärden unabhängig von der szenischen Situation studieren zu können, kann jederzeit aus dem Dialogtext heraus die Zitationsform aufgerufen werden: Klickt man auf eine der Glossen 12 im Feld mit der Glossenumschrift rechts unten auf dem Interface, so öffnet sich ein weiteres Fenster: Hier erscheint die Gebärde zum ausgewählten Begriff in der Zitationsform. Dies ist deshalb sinnvoll, weil die Gebärde durch die Verwendung im kommunikativen Kontext in modifizierter Form auftreten oder weil sie u.U. in der kommunikativen Szene nicht klar zu erkennen sein kann. Zur eingehenderen Betrachtung von Filmpassagen kann zudem die Zeitlupenfunktion aktiviert werden. Auf diesen Dialog folgen Erläuterungen zur topographischen Nutzung des Gebärdenraums bei der Beschreibungen von Wegstrecken. An diese Erklärungen zur Grammatik schließen sich allgemeine Bemerkungen zur Deaf History in Form von Kurzbiografien berühmter Personen aus der Geschichte der Gehörlosen an. 12 Glossen sind in Versalien geschriebene Wörter; sie dienen der Notation von Gebärden. Glossen sind zwar aus der deutschen Lautsprache entlehnt und die Gebärden, die sie repräsentieren, haben oftmals dieselbe Bedeutung wie das deutsche Wort; dennoch sind Glossen nicht mit Lautsprachwörtern gleichzusetzen. Sie sind keine Übersetzungen der Gebärden, sondern vielmehr Etiketten für Gebärden. Ebenso könnte man jeder Gebärde eine Nummer zuteilen; es wäre jedoch so gut wie unmöglich, sich zu merken, welche Gebärde mit welcher Nummer bezeichnet wurde. Daher werden deutsche Wörter gewählt, die in etwa die Bedeutung der Gebärden erfassen sollen. Da es jedoch nicht immer Äquivalente zwischen Gebärden und deutschen Wörtern gibt, geben die Glossen auch nicht immer genau die Bedeutung der Gebärden wieder. Es existieren viele verschiedene Glossen-Notationssysteme, die meist auch mehr oder weniger detailliert versuchen, grammatische Aspekte festzuhalten. Ein Beispiel für ein vergleichweise weit verbreitetes, besonders ausgearbeitetes System ist das Berkeley Transcription System (BTS). Glossen dienen beim Lernen einerseits als Merkhilfe; andererseits sollen sie dabei helfen, den Inhalt der Dialoge zu verstehen und die syntaktische Abfolge der Gebärden zu erfassen. 203 <?page no="216"?> Darauf werden die interaktiven Übungen der Lektion angeboten (s. Abb. 24 und 25). In diesen Übungen kann der Lerner seine rezeptive Kompetenz überprüfen: Sie bieten dem Lerner eine Gelegenheit, die in DGS präsentierten Anweisungen des Tutors in eigene konkrete Handlungen umzusetzen. Die Übungen geben dem Anwender Rückmeldung zu seinem Lernerfolg. In dieser Lektion gibt es zwei verschiedene Übungstypen: eine Stadtrundfahrt und die Fahrt durch Labyrinthe. Beide Übungstypen trainieren speziell das Verstehen von Wegbeschreibungen. Bei der Stadtrundfahrt erklärt ein Tutor in einem Film eine bestimmte Wegstrecke in DGS, die der Lerner entlangfahren muss, um an den jeweiligen Zielort, einen der Info- Punkte, zu gelangen. Der Tutor beschreibt den Weg aus seiner Perspektive; er benutzt sowohl die horizontale als auch die vertikale Ebene. Die Aufgabe des Anwenders ist es, mit dem Auto die beschriebene Strecke in der Aufsicht auf einen Stadtplan abzufahren. Abb. 23: Dialog, Lektion 6 aus: Metzger, Schulmeister und Zienert 2003 204 <?page no="217"?> Im zweiten Übungstyp soll der Lernende das Auto dagegen nicht aus der Vogelperspektive steuern, sondern während der Fahrt befindet er sich in der Perspektive des Autofahrers. Im Gebärdenfilm erhält er in jedem Labyrinth schrittweise Anweisungen, wie er fahren soll, um an das jeweilige Ziel zu gelangen. Abb. 24: Stadtplan-Übung, Lektion 6 aus: Metzger, Schulmeister und Zienert 2003 Abb. 25: Labyrinth-Übung, Lektion 6 aus: Metzger, Schulmeister und Zienert 2003 205 <?page no="218"?> Den Abschluss der Lektion bildet eine Übersicht mit den in der Lektion neu vorgekommenen Vokabeln: Aus einer alphabetischen Liste lassen sich Gebärdenfilme aufrufen, die in der Liste ihre deutsche Übersetzung finden. Um die Lerner zum eigenständigen Lernen und Lösen von Problemen mittels Strategien anzuregen, wurde als Stimulus-Material ein gebärdensprachliches Phänomen gewählt, das zwar dem Wissensstand der Lerner angemessen war, sie aber dennoch herausfordern würde: die Beschreibung von Wegstrecken und Örtlichkeiten. Diese wird in Gebärdensprachen auf eine sehr komplexe und kognitiv anspruchsvolle Art und Weise ausgedrückt. Dabei wird der Gebärdenraum dazu benutzt, um Wegeverläufe, Örtlichkeiten und ihre räumliche Relationen zueinander auszudrücken: Nominale stehen mit diskreten Orten im Gebärdenraum in Verbindung, welche sowohl für deiktische wie auch anaphorische Referenzen der Nominale verwendet werden. Bei anwesenden Referenten wird auf den Ort verwiesen, an dem sie sich befinden, bei nicht anwesenden Referenten müssen entsprechende Referenzorte eingeführt werden. Diese Einführung kann durch pronominale Gebärden oder durch Klassifikatorkonstruktionen geschehen. Die Produktion und vor allem auch die Rezeption dieser Konstruktionen stellen hohe sprachliche und kognitive Anforderungen an Gebärdensprachbenutzer, und erfahrungsgemäß fallen sie Lernern von Gebärdensprachen besonders schwer. Durch analoge räumliche Darstellung wird in der DGS manuell die Fortbewegung in einer Stadt ausgedrückt. Dabei gibt es unterschiedliche Mechanismen, um den Verlauf eines Weges und die Position von Örtlichkeiten zu beschreiben. Einerseits kann der Weg quasi aus der Vogelperspektive in verkleinertem Maßstab in die Luft des Gebärdenraums „gezeichnet“ werden, ähnlich einer Straßenkarte. Dabei gibt es einen festen Referenzpunkt - i.d.R. der Startpunkt, von dem aus der Weg beschrieben wird. In Relation zu diesem Referenzpunkt wird die Lage von Streckenverläufen und Örtlichkeiten geschildert, als würde man eine Wegstrecke auf einer Karte oder die Räume auf einem Grundriss beschreiben. Dies kann entweder in der horizontalen Ebene geschehen, die vom Körper des Gebärdenden weg in den Raum hineinreicht (etwa vor dem Bauch des Gebärdenden) oder in der vertikalen Ebene senkrecht zum Boden (etwa vor Gesicht, Hals und Brust des Gebärdenden). 206 <?page no="219"?> Andererseits gibt es die Möglichkeit, die Wegstrecke zu beschreiben, indem sich der Gebärdende quasi in die Situation hineinversetzt. Er malt keine komplette Karte aus der Vogelperspektive in die Luft; vielmehr begibt er sich mental „auf den Weg“ und beschreibt die Strecke, als befände er sich mitten in der zu beschreibenden Situation (z.B. auf der Straße oder in einem Gebäude). Der Gebärdende nennt markante Orte entlang der Wegstrecke, die der Orientierung dienen und verortet sie im Gebärdenraum mittels eines Klassifikators oder der Gebärde INDEX. Dabei bildet er selbst als die Person, die die zu beschreibenden Strecke mental gerade entlanggeht, die Konstante, zu der in der Beschreibung Örtlichkeiten in Bezug gesetzt werden. Da er sich als die „mentale Person“ entlang der zu beschreibenden Strecke bewegt, wandert diese Konstante innerhalb der Beschreibung. Es wird immer das beschrieben, was die beschreibende Person sieht, und zwar aus dem Blickwinkel ihrer jeweils aktuellen Perspektive bzw. Position heraus. Die Person wandert gleichsam durch ein Gebäude oder entlang einer Wegstrecke, und während sie geht, verschiebt sich der Blickwinkel ihrer Beschreibung mit ihrem aktuellen Standort in der konzeptualisierten Umgebung. Darüber hinaus erfolgt die Beschreibung in einem sehr viel größeren Maßstab als die erste Art der Beschreibung aus der Vogelperspektive, sie kann 1 : 1 in Bezug auf die konzeptualisierte Wirklichkeit sein. Abb. 26: Horizontale und vertikale Ebene aus: Papaspyrou et al. (in Vorbereitung), S. 40 (modifiziert) 207 <?page no="220"?> Für Lerner der DGS ist es in der Regel schwierig, den Gebärdenraum überhaupt und darüber hinaus noch sprachlich angemessen zu nutzen. Da es in Lautsprachen aufgrund der auditiv-oralen Sprachmodalität keine Möglichkeit gibt, etwas „in den Raum zu zeichnen“, müssen Lernern der visuell-gestischen Gebärdensprachen erst begreifen, dass und wann der Gebärdenraum benutzt wird. Eine zusätzliche Schwierigkeit bei Wegbeschreibungen besteht zusätzlich bei den beiden eben beschriebenen Mechanismen darin, dass der Gebärdende jeweils den Weg aus seiner Perspektive erklärt. Der zusehende Gesprächspartner muss also die Informationen im Kopf um (je nach Sitzposition der Gesprächspartner) etwa 180° „umdrehen“, um Angaben wie „links“ und „rechts“ richtig zu verstehen. In der Linguistik kommt die Komplexität dieser Mechanismen besonders gut in der neueren Literatur zum Ausdruck. Emmorey (2002, Kapitel 3) erläutert die für DGS beschriebenen Strukturen für ASL und analysiert die unterschiedlichen Ebenen, die in diesen Äußerungen zum Ausdruck kommen: die Einnahme von Perspektiven sowie den Gebrauch von räumlichen Formaten und Referenzrahmen. Sie unterscheidet • die jeweils eingenommene Perspektive (survey perspective vs. route perspective; dem entspricht gemäß der oben für DGS beschriebenen Mechanismen die Beschreibung „aus der Vogelperspektive“ vs. der Beschreibung „aus der Situation heraus“), • die Art der topografischen Strukturierung des Gebärdenraums um Örtlichkeiten und räumliche Relationen auszudrücken (spatial formats: diagrammatic spatial format (i.d.R. verwendet in der survey perspective) und viewer spatial format (i.d.R. verwendet in der route perspective)) 13 sowie • den jeweiligen Referenzrahmen (intrinsic, relative und absolute frame of reference nach Levinson 1996); „it appears that signers can adopt an intrinsic, a relative, or an absolute frame of reference when using either diagrammatic or viewer space.“ (Emmorey 2002, S. 97). Als außergewöhnlich hebt Emmorey außerdem hervor, dass durch den Gebrauch von so genannten Klassifikator-Konstruktionen in Gebärdensprache 13 Diese Differenzierung ähnelt Liddells Vorstellung des depicting space (bei Emmorey, die sich auf eine vorige Version von Liddells Theorie bezieht: token space) und surrogate space (Liddell 2003). Liddell stellt eine Theorie der Raum-Struktur von Gebärdensprache auf: Eine seiner Grundannahmen, die auf der mental space theory und cognitive grammar basieren, ist die Vorstellung, dass bei der Nutzung des Gebärdenraumes eine Verschmelzung von „Räumen“ stattfindet. Liddell nennt dies einen blend, bei dem die Struktur zweier mentaler Räume in einen dritten Raum projiziert wird (Liddell 2003, S. 142). Der blend enthält somit teilweise die Struktur der Inputräume, weist jedoch auch eigene Strukturen auf. Dabei trägt Liddells depicting space („A topographical realspace blend separate from the signer“) Züge von Emmoreys diagrammatic spatial format, und Liddells surrogate space („A real-space blend in which the signer blends at least partially with some other entity or character.“) ähnelt Emmoreys viewer spatial format (Liddell 2003, S. 367). 208 <?page no="221"?> möglich ist, dass relative und intrinsic frames of reference simultan ausgedrückt werden können (Emmorey 1996). Diese Analyse Emmoreys zeigt, dass - über die lexikalische und grammatische Formulierungsbzw. Dekodierungs-Ebene hinaus - verschiedene Aspekte bei gebärdensprachlichen Weg- und Ortsbeschreibungen eine Rolle spielen. Die Komplexität der Konstruktionen stellt gerade an Lerner eine besondere kognitive Herausforderung dar. 9.2.5 Erhebung III: Experte-Novize-Experimente zur Ermittlung von Lern- und Gebrauchsstrategien Als dritte Methode wurde das Experte-Novize-Experiment gewählt. Dabei erhielten zwei Informantinnen, jeweils eine Anfängerin und eine fortgeschrittene Lernerin, zwei Aufgaben zur Sprachproduktion, die sie zusammen lösen sollten. Folgende Personen arbeiteten jeweils gemeinsam: A3 und A1, B und F, M3 und A2, S und J sowie V und M2. Die Experimente wurden ebenfalls von der Verfasserin gefilmt. Auch dieses Experiment wurde durchgeführt, um sowohl bisher identifizierte Strategien zu verifizieren als auch um weitere Lernstrategien herauszufinden. Darüber hinaus sollte diese Erhebung, bei der die Informantinnen DGS produzieren sollten, zur Identifizierung von Kompensationsstrategien führen. Zu diesem Experiment liegen insgesamt etwa fünf Stunden und 20 Minuten Filmmaterial vor. Vier der fünf Experimente dauerten jeweils durchschnittlich ca. 50 Minuten, ein Experiment war mit 110 Minuten wesentlich länger. Als Stimuli wurden die Bildergeschichte „Der kleine Herr Jakob: Ein Geizhals“ (Press 1981) und der Artikel „Ende eines Zeitalters“ aus der Zeitschrift National Geographic (Ende eines Zeitalters 2000, S. 158/ 159) gewählt. Diese Stimuli enthielten einige Elemente, die bei einer Wiedergabe in DGS als schwierig eingeschätzt wurden (vgl. z.B. die Untersuchung von McKee und McKee 1992), und bei denen erwartet wurde, dass diese Schwierigkeiten den Einsatz von Strategien provozieren würden. Die Bildergeschichte (Abb. 27) wurde eingesetzt, um vor allem die Gefahr einer wörtlichen Übersetzung und damit einen Einfluss von LBG zu minimieren. Die schwierigen Elemente, von denen erwartet wurde, dass sie den Einsatz von Strategien provozieren würden, waren im Wesentlichen: • die Etablierung des Settings, • der Gebrauch von constructed action und • der Gebrauch von Klassifikator-Konstruktionen. 209 <?page no="222"?> Der Zeitschriftenartikel (Abb. 28) wurde ausgewählt, da er • lexikalische Elemente enthält, die den Informantinnen sehr wahrscheinlich unbekannt sein mussten (insbesondere die Begriffe „Zeitalter“, „aussterben“, „vielzellig“, „Lebewesen“, „Riff“, „versteinert“, „Kontinent“, „Säugetiere“, „Perm“, „Paläozoikum“, „Mesozoikum“, „Känozoikum“), • der Inhalt den Gebrauch von Zeitlinien erforderte, einem gebärdensprachlichen Mittel zum Ausdruck temporaler Verhältnisse, das den Novizen zwar vom Prinzip her bekannt war, bisher im Unterricht aber kaum geübt wurde, • den Gebrauch von Klassifikatorkonstruktionen erforderte (insbesondere das Verschieben der Kontinente). Abb. 27: Bildergeschichte: Ein Geizhals aus: Press 1981 210 <?page no="223"?> Abb. 28: Artikel: Ende eines Zeitalters aus: Ende eines Zeitalters 2000, S. 158/ 159 (modifiziert) 211 <?page no="224"?> Den Informantinnen wurde zu jeder Aufgabe die Anweisung gegeben, den Inhalt der Stimuli in DGS wiederzugeben. Es wurde darauf hingewiesen, dass keine wörtliche Übersetzung erwartet würde, um Diskussionen über Übersetzungstechniken zu vermeiden. Die Textstruktur von DGS-Texten erfordert häufig einen anderen Aufbau als deutsche Texte 14 . Diese Aufgabe war - zumindest den fortgeschrittenen - Informantinnen aus dem DGS-Unterricht vertraut. Dort wird gelegentlich der Inhalt von Bildergeschichten und von deutschen Texten in DGS wiedergegeben. Die Anfängerinnen waren jeweils gehalten, als erste einen Vorschlag für einen DGS-Text zu machen. Sie sollten sich bemühen, einen DGS-Text zu produzieren, durften aber bei ernsthaften Wissenslücken die Fortgeschrittenen fragen und sich helfen lassen. Dieses Erhebungsdesign zielte darauf ab, die Verbalisierung von strategischen Aktivitäten zu erreichen: Den Anfängerinnen wurden Aufgaben gestellt, bei denen zu erwarten war, dass sie sie nicht problemlos würden lösen können. Durch die Kooperation mit einer fortgeschrittenen Lernerin war die Gelegenheit gegeben, die Schwierigkeiten zu formulieren und um Hilfe zu bitten. Auf diese Weise konnten einerseits die Probleme als solche identifiziert werden, andererseits die - häufig strategisch angelegten - „Tipps“, „Methoden“ und Wege, wie die Schwierigkeiten gelöst werden konnten. 9.3 Transkription Sowohl das Filmmaterial der Laut-Denkals auch das der Experte-Novize-Experimente wurde an eine relationalen Datenbank angebunden und Transkripte für jeden Film erstellt (s. Abb. 29) 15 . 14 Nichtsdestoweniger gab es während der Experimente teilweise Diskussionen der Informantinnen darüber, welches Niveau der DGS-Text wohl haben sollte und welches die Zielgruppe sei. In der Regel einigte man sich dann auf eine „für normale Gehörlose verständliche“ Fassung. Da der Bildungsgrad unter Gehörlosen aufgrund der unterschiedlichen Beschulung sehr stark differiert, wird dieses Thema in den DGS-Kursen am Rande behandelt. Wirkliche Übersetzungstechniken sind jedoch Inhalt des Dolmetschstudiengangs; sie waren aufgrund der Thematik und der Zusammensetzung der Informantengruppe nicht von Bedeutung. 15 Es handelt sich hierbei um einen SQL-Server und einen speziell für die Zwecke der Transkription von Gebärdensprache entwickelten Client, der eine schnelle Erfassung der Daten sowie einen gezielten Zugriff und verschiedene Sichten auf die Daten ermöglicht. Dabei handelt es sich um das Instrument, das im Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS, Universität Hamburg) zur Erstellung der Fachgebärdenlexika verwendet wird (s. http: / / www.sign-lang.unihamburg.de/ Projekte; eine einführende Beschreibung findet sich unter Hanke, Konrad und Schwarz (2001)). 212 <?page no="225"?> Abb. 29: Ausschnitt aus einem Transkript zu einem Laut-Denk-Experiment 213 <?page no="226"?> Die Transkripte für die Filme des Laut-Denk-Experiments enthalten folgende Spuren: a) Äußerung: Deutsch (Informant): Diese Spur enthält Äußerungen der Informantin auf Deutsch. Für das Anlegen der Text-Tags galten zwei Kriterien: Zum einen wurde eine Äußerung als ein Tag angelegt, die eine inhaltlich zusammenhängende Sinneinheit darstellte 16 ; zum anderen dienten Sprechpausen als Grenze zwischen den Äußerungen. b) Äußerung: DGS (Informant): Diese Spur enthält Äußerungen der Informantin in DGS. c) Verhaltensbeschreibung: Diese Spur enthält Angaben über das Verhalten der Informantin, z.B. über ihren emotionalen Zustand („lächelt“, „guckt verzweifelt“) und über vorgenommene Handlungen („öffnet den Vokabelfilm“, „geht zu den Grammatikerklärungen“, „liest den Erklärungstext“). d) Äußerung/ Ch.: Diese Spur enthält Äußerungen der Verfasserin. e) Strategie: meine: Diese Spur enthält die erhobenen Strategien. f) mehrere Strategien: Diese Spur wurde aus technischen Gründen angelegt: Die einzelnen Strategien wurden in der Datenbank als Ausprägungen eines Features angelegt. Dies erleichterte die Eintragung von Strategien in der Spur „Strategie: meine“, da auf diese Weise eine einzugebende Strategie aus einem Pop-up-Menü ausgewählt werden konnte. Es stellte sich schnell heraus, dass es jedoch notwendig war, einer Äußerung ggf. mehrere Strategien zuweisen zu können. Da in einer Textspur jedoch maximal eine Ausprägung eintragen werden kann, wurde die Spur „mehrere Strategien“ angelegt. In diese Spur wurden bei Bedarf mehrere Strategien (über die Tastatur) eingetragen. g) Zweck der Strategie: Diese Spur enthält Angaben über den Zweck der verwendeten Strategie. h) gebärdensprachspezifisches Problem: Da in der vorliegenden Arbeit den gebärdensprachspezifischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, wurde in den Transkripten eine Spur für entsprechende Eintragungen angelegt. Dabei handelt es sich um folgende in den Erhebungssituationen relevanten Merkmale: • Bildhaftigkeit • Fingeralphabet • mentale Rotation • mentale Visualisierung von Inhalten • Mimik • Pantomime • Produktivität • Raumnutzung: „bildhafte Logik“ 16 Eine technische Einschränkung stellte die Tatsache dar, dass ein Tag maximal aus 255 Zeichen bestehen kann. 214 <?page no="227"?> • Raumnutzung: Bühnenaufbau • Raumnutzung: Fixpunkt zur Orientierung („buoyes“) • Raumnutzung: Landkarte • Raumnutzung: Referenz • Rollenübernahme • Üben der Motorik • vertikale und horizontale Beschreibung verwechseln i) Kommentar: Diese Spur enthält Kommentare verschiedenster Art. In den Experte-Novize-Experimenten wurden im Prinzip die gleichen Spuren verwendet. Allerdings wurden die Spuren (a) bis (c) und (e) bis (h) dupliziert, weil es sich in diesen Experimenten jeweils um Äußerungen und Aktionen zweier Informantinnen handelt. Da dieser Experiment-Typ die Produktion von DGS seitens der Informantinnen verlangte, wurde außerdem eine Spur für sprachliche Fehler angelegt. Schließlich enthalten diese Transkripte noch eine Spur „Textproduktionsereignisse“. Diese Spur verzeichnet die Zeitabschnitte, in denen die Informantinnen inhaltlich zusammenhängende Abschnitte gebärden. Die Spur dient ausschließlich dem Zweck, die entsprechenden Stellen im Filmmaterial leichter zu finden. 9.4 Strategie-Datenbank Wie bereits erwähnt wurden die Strategien in einer relationalen Datenbank erfasst, die mit FileMaker Pro 7 erstellt wurde. Diese Datenbank bestand aus verschiedenen Feldern, die folgende Informationen enthielten: • die automatisch generierte ID; im Folgenden sind die Strategien jeweils mit dieser ID gekennzeichnet • die Bezeichnung für die Strategie • Ankreuzfelder zur Einordnung einer Strategie als Lern-, Kommunikations-, Kompensations-, Produktions-, Rezeptions- oder sozial-affektive Strategie • das Ziel der Strategie / die Intention, mit der die Strategie ausgeführt wurde • die Einordnung bzgl. des Heurismus • Ankreuzfelder bzgl. des Denkniveaus nach Piaget • Ankreuzfelder bzgl. der metakognitiven Kontrollen • eine Angabe, ob die Strategie gebärdensprachspezifisch ist sowie • ein Kommentarfeld 215 <?page no="228"?> Abb. 30: Eingabemaske für die Erfassung der erhobenen Strategien 216 <?page no="229"?> 10 Strategien zugrunde liegende Heurismen und elementare kognitive Operationen In Kapitel 6 „Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit“ wurden Strategien in einen handlungstheoretischen Rahmen eingeordnet. Innerhalb diese Ansatzes werden Strategien als internalisierte Grundstrukturen von Handlungen angesehen; sie tragen ihre Ziele nicht in sich selbst, sondern die Ziele sind mit den Zielen der jeweiligen Handlung identisch. Basiselemente von Strategien sind die kognitiven Operationen. Um diese elementaren Operationen näher betrachten zu können, wurde nach einem entsprechenden Klassifizierungsansatz gesucht. Mit den Arbeiten von Dörner (1976) und Lompscher (1972) wurden Ansätze gewählt, die eine solche Klassifizierung ermöglichen. Anhand dieser Ansätze werden im Folgenden die den im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhobenen Strategien zugrunde liegenden Heurismen und elementaren kognitiven Operationen erläutert. 10.1 Heurismen Im Korpus der vorliegenden Arbeit finden sich verschiedene Vorkommen von Heurismen. In Kapitel 6.3.3 „Klassifzierung von Heurismen“ wurden v.a. nach Dörner (1976) sechs Heurismen identifiziert: Analogiebildung, Modellbildung, Abstraktion, Metaphorik, Imagination und Versuch-und- Irrtum-Verhalten. Sie werden in diesem Kapitel näher erläutert. Die entsprechenden Strategien werden jeweils nur kurz zugeordnet. Eine ausführliche Beschreibung der Strategien findet sich in den folgenden Kapiteln. 10.1.1 Analogiebildung Das Bilden von Analogien ist eine wichtige Übertragungsleistung, die dazu dienen kann, etwas zu verstehen, sich etwas einzuprägen oder ein Problem zu lösen. „Bei der Analogiebildung sucht der Problemlöser in einem anderen Inhaltsbereich nach einem strukturgleichen oder -ähnlichen Problem, für das er bereits eine Lösung kennt. Indem er das bereits bekannte Lösungsprinzip auf das aktuelle Problem rücküberträgt, erhält er im günstigen Fall neue Mittel zur Lösung an die Hand. Die Suche nach Analogien ist sicher das wichtigste und mächtigste Verfahren zur Erweiterung des Problemraums […].“ (Arbinger 1997, S. 77) „Von analogem Transfer oder Analogiebildung spricht man, wenn vorhandenes Wissen auf einen neuen Sachverhalt aufgrund einer Ähnlichkeitsbeziehung übertragen wird. […] Analogiebildung [kann] problematisch sein […]; denn erstens 217 <?page no="230"?> stößt die Analogie dort an ihre Grenzen, wo keine Korrespondenz zwischen Elementen hergestellt werden kann […]; und zweitens kann die Analogie sogar zu Fehlschlüssen führen […].“ (Arbinger 1997, S. 93) Nach Dörner (1976) besteht ein vollständiger Analogieschluss aus folgenden Teilschritten (S. 82): • Abstraktion von bestimmten Merkmalen des gegebenen, konkreten Sachverhalts. • Suche nach einem Modell, d.h. Suche nach einem Sachverhalt, der eine andere Konkretisierung des abstrakten Sachverhalts darstellt. • Rückübertragung von Merkmalen des Modells auf den ursprünglichen Sachverhalt, dessen Bild dadurch bereichert wird. • Prüfung, ob die neuen, hypothetisch angenommenen Merkmale tatsächlich vorhanden sind. In den Daten finden sich zwei Formen der Analogiebildung: einerseits die Herstellung einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen einem gebärdensprachlichen Konzept und einem Objekt der realen Welt; andererseits die Analogiebildung zwischen ikonischen Merkmalen von Einzelgebärden und ähnlichen Objekten der realen Welt sowie zwischen einer Gebärde und einer anderen formgleichen oder formähnlichen Gebärde. Während die erste Übertragung dem Verstehen einer Regel dient, soll die zweite die Verankerung der Gebärden im Gedächtnis fördern. Bei der Strategie Analogon „Landkarte“ herstellen (ID 93) stellen einige Informantinnen eine Analogie zu einer bestimmten gebärdensprachlichen Konstruktion der Wegbeschreibung her: Sie schaffen eine Relation zwischen der vertikalen Wegbeschreibung in der DGS und einem imaginierten Objekt der realen Welt: einer an einer Wand hängenden Landkarte. Damit haben sie strukturelle Merkmale beider Entitäten zueinander in Beziehung gesetzt: Beide befinden sich in einer vertikalen Ebene und bilden den Verlauf und die räumliche Lage von Wegstrecken zueinander ab. Das Bilden von Eselsbrücken (ID 8) dient der Memorierung von Gebärden: Die Lernerinnen nutzen dabei einerseits den ikonischen Gehalt von Gebärden. Dabei analysieren sie die Gebärde hinsichtlich ihres Bildgehalts und stellen Verbindungen zwischen der Gebärde und ihrem außersprachlichen Referenten bzw. einem Merkmal des Referenten her. Diese Vorkommen lassen sich in Form-, Raum- und Verhaltensikonizität klassifizieren (s. Kapitel 14.2.1 „Verfahren der Gebärdenbildung“). Andererseits stellen die Informantinnen Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen ihnen bekannten Gebärden her, die auf Formähnlichkeiten bzw. Formgleichheiten beruhen. Auf diese Weise notieren sich viele Informantinnen auch Vokabeln (ID 25): Sie vermerken, dass die zu lernende Gebärde aussieht wie eine andere, bekannte Gebärde bzw. dass sie der bekannten Gebärde in bestimmten Merkmalen ähnelt. 218 <?page no="231"?> 10.1.2 Modellbildung In bestimmten Situationen kann es sinnvoll sein, sich ein Modell von einem Original zu bilden. Modelle zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: „• Ein Modell ist eine Abbildung eines Originals. Diese Abbildung erfolgt nicht willkürlich, sondern beinhaltet die Zuordnung bestimmter Attribute (Elemente und Relationen) des Originals zu Attributen des Modells. • Zwischen Modell und Original besteht nur eine partielle Entsprechung. Auf der einen Seite werden in einem Modell nicht alle Elemente und Relationen des Originals abgebildet, sondern nur solche, die der Modellbildner als relevant ansieht; auf der anderen Seite kann ein Modell auch Attribute enthalten, die im Original nicht vorkommen. • Aus der partiellen Entsprechung von Modell und Original folgt, daß für das gleiche Original verschiedene Modelle existieren können. • Aus der partiellen Entsprechung von Modell und Original folgt weiterhin, daß zwischen beiden unterschiedliche Grade der Ähnlichkeit bestehen können. Diese kann sowohl struktureller als auch inhaltlicher Natur sein.“ (Arbinger 1997, S. 78-84; Hervorhebung im Original) Wie bereits beschrieben ist die Modellbildung ein wesentlicher Bestandteil der Analogiebildung. Dörner bemerkt allerdings, dass Modelle nicht nur im Rahmen von Analogieschlüssen verwendet werden: „Modelle sind vielmehr auch dann hilfreich, wenn die Beschreibung eines Sachverhaltes nur in abstrakter Form vorliegt. Wenn z.B. die Beschreibung eines zu bauenden Hauses nur im Grundriß, Aufriß, in Längen- und Höhenangaben existiert, so ist die Verwendung eines Pappmodells hilfreich bei der Entwurfsarbeit. […] Modelle gibt es also als Ergebnisse der Suche nach Analogien und als Konkretisierungen abstrakter Sachverhalte.“ (Dörner 1976, S. 87) Im Korpus der vorliegenden Arbeit findet sich eine Strategie, die auf der Bildung eines Modells basiert: das Erstellen einer Grafik (ID 10). Diese Strategie dient der Veranschaulichung verbaler Information. Hier werden verbale Informationen in eine visuell-graphische Repräsentationsform transformiert. 10.1.3 Metaphorik Eine besondere Form der Analogiebildung sind sprachliche Metaphern. Lakoff und Johnson (1980) zufolge gelten Metaphern als eine der wesentlichen Strukturierungen des Denkens. Sie werden als „konzeptuelle Metaphern“ beschrieben, die einen Quellbereich (Source-Domäne) mit einem Zielbereich (Target-Domäne) verbinden: Metaphern werden durch Mappings zwischen Elementen einer Source-Domäne und einer Target-Domäne kreiert. In Lautsprachen werden Wörter der Source-Domäne benutzt, um über Konzepte der Target-Domäne zu sprechen. Metaphern nutzen oft konkretere, physische Source-Domänen, um abstraktere Target-Domänen aus- 219 <?page no="232"?> zudrücken. Sie gründen sich somit in konkreten, physischen und sensorischen Erlebnissen. Metaphern existieren auch in Gebärdensprachen. Taub (1997, 2001) befasst sich mit der metaphorischen Motiviertheit von Gebärden in ASL und analysiert die Bildung von Gebärden auf dem Hintergrund der kognitiven Linguistik. Sie befasst sich nicht nur mit den Bestandteilen, aus denen sich Gebärden zusammensetzen, sondern mit den kognitiven Bildungsprozessen. Auch Gebärdensprach-Metaphern nutzen die eben beschriebenen metaphorischen Mappings; hier kommt jedoch hinzu, dass auch ein ikonisches Mapping an der Bildung der Metapher beteiligt ist. Taub entwirft ein „Analogue-Building Model of Linguistic Iconicity“ 1 und vertritt die Ansicht, dass ikonische Zeichen durch ein ikonisches Mapping gebildet werden. Dieses Mapping umfasst drei Schritte: Bildauswahl, Schematisierung und Kodierung: „To create an iconic item, one selects an image to represent; modifies or schematizes that image so that it is representable by the language; and chooses appropriate forms to show or encode each representable part of the image. Moreover, when modifying the image or ‚translating‘ it into linguistic form, one makes sure that the new image preserves the relevant physical structure of the previous stage.“ (Taub 1997, S. 72/ 73; Hervorhebung im Original) Aus den vorhandenen Informationen bzgl. eines Konzeptes wird ein Bild ausgewählt, das für das gesamte Konzept steht; Taub spricht von einem metonymischen Prozess (ebd., S. 75/ 76). Dies kann z.B. ein prototypisches Exemplar sein (ein Baum bestehend aus einem mehr oder weniger kugelförmigen Gebilde und einem zylinderförmigen Stamm darunter - als stellvertretendes Bild für alle Bäume, unabhängig von ihrem Aussehen) oder die visuelle Repräsentation eines wichtigen Objekts, das mit dem Konzept assoziiert wird. Taub nennt hier als Beispiel die ASL-Gebärde DEGREE: Sie besteht aus einer zweihändigen Konstellation, bei der die F-Handformen ein waagerecht liegendes zylindrisches Objekt quer vor dem Körper andeuten (ähnlich der DGS-Gebärde für eine dünnes Rohr); dieses Handzeichen präsentiert das eingerollte Diplom. Ein Objekt, das mit dem Konzept assoziiert wird, wird also genutzt, um eine ikonische Gebärde zu bilden (ebd., S. 76). Bei der Schematisierung wird das gewählte Bild so „aufbereitet“, dass es durch die sprachlichen Mittel repräsentiert werden kann. Dies umfasst z.B. - im Fall, dass das Bild zu detailreich ist - die Auswahl der wichtigsten Teile, so dass jeder Teil zu einer semantischen Kategorie der Sprache passt. Außerdem müssen die phonetischen Ressourcen der Sprache berücksichtigt werden (ebd., S. 76/ 77). Im letzten Schritt wird das schematische Bild in der sprachlichen Form kodiert. Es wird eine physikalische Form gewählt, um jeden Teil des Bildes 1 Das Modell gilt für Lautebenso wie für Gebärdensprachen. 220 <?page no="233"?> zu repräsentieren. Dabei wird darauf geachtet, dass die physikalische Form des Originalbildes erhalten bleibt. Der Prozess der Bildauswahl sowie die Berücksichtigung des phonologischen Inventars der Sprache erklären, warum sich ikonische Zeichen von Sprache zu Sprache (und Kultur zu Kultur) unterscheiden können. Bei der Bildung von Metaphern findet nach Taub nun ein doppeltes Mapping statt: ein metaphorisches und ein ikonisches. Beim metaphorischen Mapping werden Korrespondenzen zwischen einer konkreten und einer abstrakten konzeptuellen Domäne hergestellt (Taub 1997, S. 168ff.). „The result is that the target domain is actually presented using an iconic depcition of the source domain.“ (Taub 1997, S. 168) Metaphern werden also in ASL gebildet, indem in einem ersten Schritt eine Target-Domäne metaphorisch auf eine Source-Domäne übertragen wird. In einem weiteren Schritt wird dann die Source-Domäne ikonisch auf die Artikulatoren der jeweiligen Gebärdensprache transferiert. Ein Beispiel für eine ASL-Metapher ist COMMUNICATING IS SENDING . Dabei nutzen Gebärden, die durch diese Metapher motiviert sind, eine ikonische Repräsentation einer konkreten Domäne (hier: Objekte senden), um auf eine abstrakte Domäne (hier: die Vermittlung von Ideen/ Kommunikation) zu referieren. Beispiele sind die ASL-Gebärden COMMUNICATE, COM- MUNICATION-BREAKDOWN, INFORM, THINK-BOUNCE und THINK-PE- NETRATE (Taub 1997, S. 171). Die folgende Tabelle illustriert für die Gebärde I-INFORM-YOU, aus welchen Teilen das doppelte Mapping besteht: Es werden in einem ikonischen Mapping die Artikulatoren auf die Source-Domäne gemappt, und in einem metaphorischen Mapping die Source-Domäne auf die Target-Domäne. Tab. 14: Doppeltes Mapping für I-INFORM-YOU aus: Taub 1997, S. 179 221 <?page no="234"?> Weitere Beispiele für Metaphern im doppelten Mapping sind THE FUTURE IS AHEAD , INTIMACY IS PROXIMITY , INTENSITY IS QUANTITY , MORE IS UP und IM- PROVEMENT IS UPWARD 2 . Der Unterschied zwischen diesen Fällen und anderen, bei denen das Ausgangskonzept zwar ebenfalls abstrakt ist und durch eine ikonische Gebärde repräsentiert wird, aber keine Metapher vorliegt (z.B. DEGREE), ist der, dass kein Mapping zwischen der Source- und der Target-Domäne stattfindet; hier gibt es lediglich ein ikonisches Mapping zwischen dem mit dem Ziel-Konzept assoziierten Objekt (bei DEGREE: ‚diploma’) und den Artikulatoren der Zielsprache. Es existieren jedoch keine Korrespondenzen zwischen ‚degree’ und ‚diploma’. In den Teilen der Erhebung, in denen die Informantinnen selbst gebärden (und Gebärden kreieren), finden sich auf den ersten Blick nur ikonische Mappings. Dies lässt sich einerseits damit erklären, dass bereits die Ausgangs-Konzepte der Fälle, in denen die Lernerinnen Gebärden neu bilden, einer konkreten Domäne entstammen (z.B. ‚Dinosaurier’, ‚Erde’, ‚Seil’). Aber auch bei den Begriffen, die keine konkrete Referenten haben (z.B. ‚[Zeit-] Alter’, ‚aussterben’), bilden die Informantinnen keine Metaphern. Vielmehr greifen sie auf Gebärden mit einer ähnlichen Bedeutung zurück und modifizieren die Form dieser bereits bekannten Gebärden (s. Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“). Als mögliche Metaphernbildung konnte lediglich die ad hoc-Kreation einer Gebärde in Betracht gezogen werden: Informantin M3 möchte in ihrer Wiedergabe des Artikels „Ende eines Zeitalters“ den Begriff ‚Evolution’ verwenden. Die Gebärde hierfür ist ihr jedoch unbekannt. M3 bildet eine Gebärde aus einem Handzeichen, bei dem sich die Zeigefingerhandformen der dominanten und der nicht-dominanten Hand umeinander drehen und sich dabei vom Körper nach vorn bewegen; dieses Handzeichen, das die konventionelle Gebärde für ‚Entwicklung‘ ist, kombiniert sie mit dem Wortbild „evolution“ (s. Abb. 101; Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 29: 23: 05- 00: 29: 28: 07). Diese Gebärde kann nach Taub (1997) als eine Form der Metapher DIE ZUKUNFT IST VORN analysiert werden, die auch in DGS existiert: Die Bewegungsrichtung ‚nach vorn‘ wird in DGS - wie in ASL - mit ‚Zukunft‘ assoziiert (vgl. z.B. Metzger 2002). ‚Evolution‘ bzw. ‚Entwicklung‘ wird als ein zeitlicher Prozess angesehen, der in der Zeit voranschreitet. Die Gebärde 2 Rosenstock (2006) untersuchte in einer sprachvergleichenden Arbeit 16 verschiedene Gebärdensprachen (auch DGS) hinsichtlich der Metaphern DER ORT DER GEFÜHLE IST DER BRUSTKORB und DER ORT DER GEDANKEN IST DER KOPF . Ihre Analyse ergab, dass Ähnlichkeiten in der phonologischen Form von Gebärden in diesen Sprachen auf metaphorische Motivation zurückzuführen sind. 222 <?page no="235"?> wird entsprechend von einem Punkt nah am Körper nach vorn vom Körper weg ausgeführt. Im Fall der Gebärdenbildung von Informantin M3 stellt sich jedoch heraus, dass die Lernerin nicht auf diese Metapher zurückgreift: Auf Nachfrage meint M3, dass sie die Gebärde für den Begriff ‚Evolution‘ nicht kenne, aber die Gebärde ENTWICKLUNG gewählt habe „weil ‚Entwicklung’ da… mit drin liegt [in der Semantik des Begriffs ‚Evolution’, C.M.]“ (Transkript Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 43: 53: 17-00: 44: 11: 07). M3 hat die Gebärde also nicht aufgrund von Überlegungen gebildet, dass DIE ZUKUNFT IST VORN in DGS eine Metapher sei und eine Gebärde für ‚Evolution‘ entsprechend ausgeführt werden müsse. Vielmehr hat sie nach einer ihr bereits bekannten Gebärde gesucht, die zum Zielbegriff ‚Evolution‘ in einer Bedeutungsverwandtschaft steht, und ist so auf die Gebärde ENTWICKLUNG gekommen. Das Bilden von Metaphern ist also in den Daten der vorliegenden Arbeit kein strategisches Mittel, mit dem die Lernerinnen sprachliche Wissenslükken kompensieren. 10.1.4 Imagination Die bildhafte Vorstellung kann bei der Lösung von Problemen ebenfalls eine Rolle spielen. In den Daten findet sich eine Strategie, der dieser Heurismus zugrunde liegt: „sich ein Bild vor Augen halten“: von einer darzustellenden Person (Verhalten, Aussehen, Mimik etc.) und/ oder einer Situation (Bühne) (ID 77). Diese Strategie dient der Veranschaulichung, und zwar der Veranschaulichung einer Situation: Der Lerner kreiert ein mentales Bild einer darzustellenden Person und/ oder einer Situation, das als Grundlage für die Versprachlichung in DGS gilt: Der Lerner stellt sich bspw. das Ver- Abb. 31: Lexem ENTWICKLUNG + Wortbild „evolution“ 223 <?page no="236"?> halten, das Aussehen und die Mimik einer Person vor, die er in einer Constructed Action darstellen möchte; er imaginiert damit diese Person und verwendet diese bildliche Vorstellung als „Vorlage“ für seine zielsprachliche Äußerung. 10.1.5 Versuch-und-Irrtum-Verhalten In den Daten finden sich zwei Strategien, denen das Versuch-und-Irrtum-Verhalten zugrunde liegt: die Hoffnung darauf, dass das Ziel bzw. die Lösung einer Aufgabe per Zufall gefunden wird (ID 115) sowie Versuchund-Irrtum-Verhalten i.S. eines willkürlichen Ausprobierens auf der Suche nach der richtigen Lösung (ID 110). Diese treten beim Bearbeiten der Übungen in den Laut-Denk-Experimenten auf. Sie werden den Vermeidungsstrategien zugeschrieben, da die Lernerinnen einer kriteriengeleiteten Auseinandersetzung mit dem Problem aus dem Weg gehen. 10.2 Elementare kognitive Operationen In Kapitel 6.3.4 „Elementare kognitive Operationen“ wurden nach Lompscher (1972) acht verschiedene elementare kognitive Operationen identifiziert und erläutert: • Zergliedern eines Sachverhaltes in seine Teile • Erfassen der Eigenschaften eines Sachverhaltes • Vergleichen von Sachverhalten hinsichtlich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten • Ordnen einer Reihe von Sachverhalten hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale • Abstrahieren als Erfassen der in einem bestimmten Kontext wesentlichen Merkmale eines Sachverhaltes und Vernachlässigen der unwesentlichen Merkmale • Verallgemeinern als Erfassen der einer Reihe von Sachverhalten gemeinsamen und wesentlichen Eigenschaften • Klassifizieren als Einordnung eines Sachverhalts in eine Klasse • Konkretisieren als Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen Es folgt eine Anwendung dieser acht Operationen auf diejenigen erhobenen Strategien, die nicht bereits den Entdeckungsheurismen zugeordnet wurden. 10.2.1 Zergliedern Lompscher fasst unter „Zergliedern“ sowohl das Zerlegen eines Objekts in seine Teile als auch das Zusammenfügen solcher Teile zu einem neuen Ganzen. Diese beiden Operationen werden im Folgenden separat dargestellt. 224 <?page no="237"?> Komplexitätsreduktion Das Zergliedern stellt einen Grundbestandteil von Analyseprozessen dar. Es erleichtert das Verstehen, da die Gebilde weniger komplex sind. „Sind einmal die einfachen Elemente gefunden, so kann das zu verstehende Phänomen aus diesen wieder zusammengesetzt werden. Was wir in seinen Teilen kennen und aus diesen wieder zusammengesetzt haben, verstehen wir besser, als was uns als unanalysierte Ganzheit entgegentritt.“ (Aebli 1980, S. 192) Einige Strategien zielen in erster Linie auf die Reduzierung komplexer Strukturen ab. Die Komplexitätsreduktion betrifft sowohl die Sprachrezeption als auch die Sprachproduktion. Auf diese Weise fällt es den Lernerinnen leichter, Strukturen zu verarbeiten oder zu produzieren. Auf der rezeptiven Ebene finden sich in den Daten sowohl eine Strategie, bei der die Komplexität auf Lexemebene reduziert wird, als auch eine Strategie, bei der es um die Sequenzierung von Texten geht. Bei der Strategie Bewegung einer Gebärde mit einer neutralen Handform nachfahren (ID 124) ignorieren die Informantinnen den Handformparameter eine Gebärde: Sie konzentrieren sich auf die Bewegung und imitieren diese mit einer neutralen Handform. Mit der Strategie Sequenzierung von Textstellen (ID 164) werden Texte oder Textabschnitte in kleinere Einheiten aufgebrochen, was deren genauere Betrachtung erlaubt. Instrumentell gesehen geschieht dies durch das Stoppen des Films (Navigation im Programm (ID 102)). Hinsichtlich der produktiven Seite stellt die Strategie sich möglichst einfach und sortiert ausdrücken (ID 78) eine komplexitätsreduzierende Strategie dar. Komplexitätsreduktion kann auch erwünscht sein, weil sich der Lerner der Tatsache bewusst ist, dass seine Gedächtnisleistung nicht ausreicht oder er seine Ressourcen nicht auf das Behalten inhaltlicher Elemente „verschwenden“ will: Informantin S platziert in der Übung des Laut-Denk-Experiments zunächst diejenigen Objekte in der dafür vorgesehenen Fläche, an deren Lage sie sich nach dem Sehen der Anweisung noch erinnert. Dann schaut sie sich den Film erneut an und bewegt die verbliebenen Objekte an ihren Ort (erst bearbeiten, woran man sich noch erinnert (ID 131)). Komplexitätssteigerung Es finden sich jedoch nicht nur Strategien, die der Komplexitätsreduktion, sondern auch eine, die der Komplexitätssteigerung dient. Diese besteht in der langsamen Steigerung der Länge von zu rezipierenden Äußerungen (Länge zu rezipierender Äußerungen langsam steigern (ID 129)). Dabei werden Bestandteile von Äußerung zunächst in kleinere Bestandteile zerlegt, um dann - mit wachsender sprachlicher Kompetenz - wieder zu größeren zu bearbeitenden Einheiten zusammengesetzt zu werden. Erfassen der Beziehungen von Teil und Ganzem Lompscher fasst unter „Zergliedern“ ebenso das Erfassen der Beziehungen von Teil und Ganzem. Diese Operation setzen die Lernerinnen strate- 225 <?page no="238"?> gisch ein, wenn sie bei der Arbeit mit Texten zunächst einzelne Abschnitte nacheinander bearbeiten und dann den Text noch einmal im Zusammenhang ansehen (ID 122). Auf diese Weise können Relationen zwischen den einzelnen Passagen des Textes hergestellt und dessen Gesamtaussage besser erfasst werden. 10.2.2 Erfassen der Eigenschaften Im Korpus finden sich Strategien, bei denen Objekte auch in kleinere Elemente zergliedert werden. Darüber hinaus werden jedoch auch die Eigenschaften der isolierten Elemente betrachtet. Dies trifft v.a. auf die Strategien Phonologische Analyse von Gebärden (ID 27) und Glossenumschrift zur Syntaxanalyse nutzen (ID 158) zu. Das wiederholte Betrachten von Textstellen (ID 75) ermöglicht eine mehrmalige Auseinandersetzung mit diesen Elementen. Bei der Identifizierung von Problemen (ID 12) findet ebenfalls eine Zergliederung des betreffenden Problems und darüber hinaus auch ein Erfassen der Eigenschaften statt: Der Lerner erkennt, dass ein Problem besteht und versucht, dieses zu analysieren. 10.2.3 Vergleichen Ein Vergleich impliziert die Gegenüberstellung zweier oder mehrere Vergleichsobjekte sowie das Erfassen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Dazu ist das Erfassen von Eigenschaften der Vergleichsobjekte selbst notwendig, die zueinander in Bezug gesetzt werden. In den Experimenten treten mehrere Strategien auf, deren zugrunde liegende Operation das Vergleichen ist: Die Lernerinnen unterscheiden Bekanntes von Unbekanntem (ID 90), sie grenzen Lexeme gegeneinander ab (ID 4), sie kontrastieren die Zielsprache mit der Ausgangssprache (ID 18) und vergleichen modifizierte Formen miteinander (ID 159). Eine Tätigkeit, die den Vergleich zweier sprachlicher Formen ermöglicht, ist das Nachschlagen (ID 26): Die Lernerinnen erhalten dabei verlässliche Informationen bzgl. der Vergleichsobjekte (phonologische Form, Angaben zur Grammatik etc.), was sie in die Lage versetzt, die Eigenschaften bzw. die Bestandteile der Objekte zu vergleichen. Auch das Übersetzen (ID 35) kann Züge eines Vergleichs annehmen: Während es nach Aussagen der Informantinnen dazu dient, die eigenen Kenntnisse zu überprüfen („Weiß ich, wie X in der Zielsprache ausgedrückt wird? “), kann das Übersetzen aber auch einen Vergleich der Sprachstrukturen implizieren bzw. zum Ziel haben. 10.2.4 Ordnen Diese Operation bezieht sich darauf, Inhalte in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Sie steht bei der Strategie eine Gliederung ausarbeiten (ID 226 <?page no="239"?> 9) im Vordergrund. Selbstverständlich ist das Erarbeiten einer Gliederung ein komplexer Prozess: Die Inhalte des Ausgangsmaterials müssen zergliedert und die wichtigsten Eigenschaften erfasst werden; schließlich müssen die wesentlichen Informationen wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. M.E. ist jedoch das wesentliche Ziel der Handlung, die extrahierten Bestandteile in eine Ordnung zu bringen. Dies legen auch die Aussagen der Informantinnen nahe, eine Gliederung diene dazu, „den roten Faden“ zu behalten (Interviewaussagen-ID 65). Auf lexikalischer Ebene kommt diese Operation zur Anwendung, wenn Vokabeln nach dem Alphabet geordnet werden. Dies geschieht, wenn die Informantinnen Vokabeln notieren (ID 25) und/ oder sie auf Karteikarten, als Filmclips oder in Vokabelheften aufbereiten und damit lernen (ID 15, 46, 37, 151, 163, 86). Im Fall von Gebärdensprachen können z.B. die Glossen nach dem lateinischen Alphabet sortiert werden. Ebenso kommt auch die Ordnung nach Handformen in Frage. 10.2.5 Abstrahieren „Abstraktion […] ist eine Analyse, die das Beiläufige, Unwesentliche, die verfälschenden Umstände eliminiert und auf diese Weise das Wesentliche der Erscheinungen extrahiert.“ (Rubinstein 1972, S. 41, zitiert in Arbinger 1997, S. 84) Diese Extrahierung stellt in diesem Sinne eine Voraussetzung jeglicher Verallgemeinerung dar: Sie führt zu Aussagen darüber, welche der an einem Objekt (oder einer Klasse von Objekten) festgestellten Eigenschaften, bezogen auf eine bestimmte Ziel- oder Fragestellung, wesentlich sind und warum. Erst wenn dies geschehen ist, können die unter einem bestimmtem Aspekt als wesentlich erkannten Gemeinsamkeitenzusammengefasst werden (Lompscher 1972, S. 48) 3 . Darüber hinaus verfolgt die Abstraktion dasselbe Ziel wie die Modellbildung: Die wesentlichen Merkmale eines Problems werden gegen die unwesentlichen abgegrenzt; es geht darum, „Inhalt oder Struktur eines Problems von seiner Verpackung zu trennen und ein allgemeingültiges, übertragbares Prinzip aufzufinden“ (Arbinger 1997, S. 87). Dies ist ebenso ein Teilprozess bei der Analogiebildung. In den Experimenten finden sich Vorkommen, bei denen die Informantinnen Abstraktionen vornehmen: Zum einen unterscheiden sie wichtige von unwichtigen Komponenten (ID 96). Zum anderen fassen die Lernerinnen Texte zusammen und rekapitulieren, was sie getan haben bzw. tun sollen (ID 40). Ähnlich wie das Ausarbeiten einer Gliederung ist dies ein komplexer Prozess: Die wesentlichen Informationen müssen identifiziert und 3 Dies unterscheidet Lompscher zufolge das Verallgemeinern vom Vergleichen: Während beim Vergleichen nur ein „einfaches empirisches Generalisieren im Sinne des induktiven Erfassens von Gemeinsamkeiten“ stattfindet, gebe es beim Verallgemeinern auch einen Abstraktionsprozess (ebd.). 227 <?page no="240"?> zusammengesetzt werden. Allerdings steht das Ordnen hier m.E. nicht so sehr im Vordergrund wie bei der Erarbeitung einer Gliederung. 10.2.6 Verallgemeinern „Das Verallgemeinern führt zur Bildung von Klassen und damit zu Begriffen und Aussagen über Dinge, Eigenschaften und Relationen bis hin zum Erfassen von Gesetzen und Kategorien. Das Verallgemeinern besteht also nicht nur darin, daß die Ergebnisse des Abstrahierens zusammengefaßt werden. Sie werden auch umgebildet, in neue Zusammenhänge gebracht, wobei das Einzelne im Allgemeinen mit aufgehoben ist. Das gilt nicht nur für das Verallgemeinern auf dem Niveau des wissenschaftlichen, theoretischen Denkens, sondern - von einfachsten Ansätzen an - auch für das Denken beispielsweise der Kinder im Lernprozeß.“ (Lompscher 1972, S. 48) Zur Beziehung von Abstrahieren und Verallgemeinern erklärt Lompscher, dass diese Operationen zwar eng miteinander zusammenhingen und sich gegenseitig bedingten; dies gelte aber auch für andere Operationen. Während beim Abstrahieren wesentliche Merkmale von unwesentlichen abgehoben würden, bezeichne Verallgemeinern das Zusammenfassen der einer Reihe von Objekten gemeinsamen Merkmale. „Da Wesentliches und Allgemeines nicht identisch sind, können auch die darauf gerichteten Operationen nicht identisch sein.“ (Lompscher 1972, S. 48) Eine Form der Verallgemeinerung ist das induktive Bilden von Inferenzen: Durch das Erfassen der einer Reihe von Sachverhalten gemeinsamen und wesentlichen Eigenschaften wird es möglich, Regelmäßigkeiten abzuleiten und Bedeutungen zu erkennen. Das Bilden von Hypothesen beruht auf solchen Verallgemeinerungen: Objekte werden verglichen, und gemeinsame, wesentliche Merkmale bieten Hinweise auf Regeln, die erschlossen werden können. In Bezug auf das L2-Lernen war S. Pit Corder (1967, 1982) einer der ersten, der in seinem Modell zum Zweitsprachenerwerb die Rolle des Hypothesenbildens behandelt. Er entwarf 1967 das Modell der „Transitional Competence“. Das Modell legte den Schwerpunkt darauf, dass der Lerner beim Fremdsprachenlernen einen Wissenskorpus aufbaut. Dieser entwikkelt sich auf die Zielsprache zu und so resultiert die Übergangskompetenz durch eine Folge von Umstrukturierungsprozessen - im Idealfall - in der Beherrschung der Zielsprache. Weitere „Überlegungen und Ergebnisse aus Untersuchungen auf dem Gebiet des natürlichen Zweitsprach- und des Erstspracherwerbs […] veranlaßten Corder, den Zweitspracherwerb nicht in Form der Restrukturierungshypothese aufzufassen, sondern als ein dynamisches Modell mit zunehmender Komplexierung der Lernersprache“ (Vogel 1990, S. 40). Das „Komplexierungsmodell“, das Corder aufgrund dieser Erkenntnisse entwickelte, postulierte ein Lernersprachenkontinuum, worunter der Umstrukturierungsprozess des Lernersystems von der L1 zur 228 <?page no="241"?> Zielsprache verstanden werden soll. Beim Durchlaufen des Kontinuums gelangt der Lerner von einfachen zu komplexeren sprachlichen Systemen. Der Startpunkt ist dabei eine vereinfachte Abwandlung des L1-Systems. Somit änderte Corder sein Modell der „Transitional Competence“ dahingehend, dass er sich von einer Vorstellung von Lernersprache als einem sich einseitig auf die Zielsprache hin konzentrierenden Sprachsystem abwandte. Ferner ging er nicht mehr davon aus, dass der Lerner sich einer vereinfachten Form der Zielsprache bediene, sondern er nahm diese Simplifizierung lediglich für die L1 an, „weil der Lerner nicht etwas vereinfachen kann, was er noch gar nicht kennt“ (Vogel 1990, S. 41). Lernfortschritt beim Zweitsprachenerwerb definierte Corder als ein Testen von Hypothesen: Demnach erhält der Lerner sprachlichen Input, bildet sich seine eigenen Hypothesen und testet diese, so dass sie durch das entsprechende Feedback bestätigt oder falsifiziert werden können. In diesem Bilden und Testen von Hypothesen sieht Corder u.a. den Grund für die Verschiedenartigkeit von Lernersprach-Grammatiken: Jeder Lerner bilde verschiedene Hypothesen bzgl. der Zielsprache; dabei könne, je mehr Vorwissen aus unterschiedlichen Sprachen der Lerner habe, desto reichhaltiger das mögliche Repertoire an Hypothesen sein. Zudem vertrat Corder die Position, dass mehrere Hypothesen bei einem Lerner nebeneinander existieren könnten, und daher auch sich ähnelnde, aber unterschiedliche Systeme in der Lernersprache vorhanden sein könnten; u.U. könne es sogar zwei Lernersprach-Grammatiken geben, etwa eine für den produktiven und eine für den rezeptiven Gebrauch (Corder 1982, S. 75). Ein weiterer einflussreicher Forscher, der sich mit Lernersprache befasste, war Larry Selinker. Er entwickelte 1972 das Modell der „Interlanguage“, das für die ganze Forschungsrichtung grundlegend war. In seiner Theorie liegt der Schwerpunkt auf sprachlichen Erwerbsprozessen und deren Bedingungen: Ein separates sprachliches System korreliert demnach mit einer latenten Psychostruktur, die genetisch determiniert ist. Die Psychostruktur wird aktiviert, wenn der Lerner versucht, Bedeutung in einer Zweitsprache zu äußern. Sie determiniert formal und substantiell die Interlanguage und ist gekennzeichnet durch fünf linguistische Prozesse (s. Kapitel 5.2 „Strategien der Sprachverwendung“). Einer dieser Prozesse besteht in der Verwendung von Lernstrategien. Im Rahmen lernstrategischer Handlungen bildet der Lerner eigene Hypothesen, testet und bestätigt oder revidiert sie. Im Korpus dieser Arbeit finden sich diverse Vorkommen, bei denen die Lernerinnen Hypothesen bzgl. der Zielsprache aufstellen. Sie bilden induktiv eine Regel, indem sie Vorkommen vergleichen und gegeneinander abgrenzen, um so zu einem allgemeinen Prinzip der Zielsprache zu kommen (ID 11). Die Hypothesen betreffen die korrekte phonologische Form von Gebärden, den Einsatz von einzelnen Gebärden, die Verwendung von Klassifikatorprädikaten sowie den Gebrauch von Zeitlinien und charakteristischen Merkmalen von DGS-Äußerungen und -Geschichten. 229 <?page no="242"?> Eine ganz andere Art der Inferenzbildung besteht bei der Sprachrezeption im Erschließen der Bedeutung aus dem Kontext (ID 61). Hier nutzt der Lerner den sprachlichen oder inhaltlichen Kontext, um ein Verstehensdefizit zu beheben. Durch den Abgleich von eigenen „Ahnungen“ bzgl. der Bedeutung eines unbekannten sprachlichen Zeichens mit den Input-Informationen kann der Lerner erschließen, um welche Bedeutung es sich (vermutlich) handelt. 10.2.7 Klassifizieren Die Operation des Klassifizierens versteht Lompscher als Einordnung eines Sachverhalts in eine Klasse. Dies geschieht beim L2-Lernen regelmäßig bei der Beschäftigung mit Vokabeln. Während dem Sortieren nach dem Alphabet die Operation des Ordnens zugrunde liegt und spachliche Einheiten „nur“ phänomenologisch zu gegebenen Buchstaben (oder Handformen) zugeordnet werden, können Vokabeln aber auch in bestimmten Klassen zusammengefasst werden: Die Lernerinnen bilden bspw. Wort- oder Sachfelder. Die zu lernenden Begriffe werden von den Lernerinnen auf Karteikarten, als Filmclips oder in Vokabelheften festgehalten und dienen als Werkzeug zum Wiederholen von Vokabeln und/ oder als Nachschlagewerke (ID 15, 46, 37, 151, 163, 37, 86). 10.2.8 Konkretisieren Das Konkretisieren als Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen findet sich in den erhobenen Daten nicht als Operation, die einer Strategie zugrunde liegt. 10.2.9 Weitere Operationen 10.2.9.1 Substitution Es treten diverse Strategien auf, denen eine Substitution zugrunde liegt. Die Substitution lässt sich keiner der von Lompscher und Dörner vorgeschlagenen Kategorien zuordnen. Sie bezieht sich auf die Ersetzung zielsprachlicher Einheiten und Strukturen, die von den Lernerinnen nicht beherrscht werden oder die aktuell nicht abgerufen werden können. Substitutionen kommen in Folge einer Defizitsituation zustande, in der die Lernerinnen ein Kompensationsmittel für ihre Wissenslücke finden müssen. Um eine annähernd gleiche Bedeutung zu transportieren, wie es z.B. das nicht gewusste zielsprachliche Wort ausgedrückt hätte, müssen sie auf andere, vorhandene Ressourcen zurückgreifen. In den Fällen, in denen die Lernerinnen selbst Gebärden bilden, indem sie Kombinationen von Handzeichen und Mundbewegungen produzieren (ID 58) oder Constructed Ac- 230 <?page no="243"?> tion nutzen (ID 85), impliziert dies einen hoch anspruchsvollen Konstruktionsprozess. Beim Paraphrasieren (ID 51) wird die unbekannte Vokabel durch andere bekannte Wörter oder Umschreibungen ersetzt, um sich zielsprachlich auszudrücken. In anderen Fällen manifestiert sich die Kompensation im Codewechsel, wenn die Lernerinnen auf die L1 zurückgreifen (Fingern (vollständiger Wörter) (ID 55), Kreation von initialisierten Gebärden bei Vokabellücken (ID 145), Verwendung von LBG (ID 62), Auf das Wortbild sehen (um besser zu verstehen) (ID 48)). In wieder anderen Fällen findet die Kompensation durch nichtsprachliche Mittel statt (Zeigen (ID 52), Nutzung von Pantomime (ID 63), Viel Mimik einsetzen (ID 43)). Substitution impliziert also hier die Suche nach möglichst äquivalenten Mitteln, um die Wissenslücke zu kompensieren und den gewünschten Inhalt zu transportieren. 10.2.9.2 Transfer Eine weitere kognitive Leistung, die sich nicht ohne Weiteres in die o.g. Kategorien einordnen lässt, ist der Transfer (ID 33). Transfer wird in der Zweitsprachenerwerbsforschung auf zweierlei Arten interpretiert: zum einen im auch sonst verbreiteten Sinn, dass Gelerntes auf neue Situationen angewendet wird. Zum anderen wird Transfer im Rahmen der Kontrastiv- Hypothese aber auch als Einfluss der Grundsprache auf die Zielsprache angesehen. Arbinger betrachtet die Analogiebildung als eine Art von Transfer: „Wissensübertragung oder Transfer ist daher auch schon immer vorrangiges Ziel pädagogischer Bemühungen gewesen. […] Von analogem Transfer oder Analogiebildung spricht man, wenn vorhandenes Wissen auf einen neuen Sachverhalt aufgrund einer Ähnlichkeitsbeziehung übertragen wird.“ (Arbinger 1997, S. 93) In diesem Sinne ähneln sich die Analogiebildung und der intentionale Transfer von Gelerntem auf andere Situationen. Bei beiden findet eine Übertragungsleistung statt: Bei der Analogiebildung besteht diese in der Übertragung von ähnlichen Merkmalen eines Objekts auf ein anderes. Beim Transfer von Wissen handelt es sich um die Übertragung von sprachlichen Einheiten oder Strukturen auf andere Kontexte - ohne dass die Art der Ähnlichkeitsbeziehung im Vordergrund steht. Dafür muss ein Abgleich zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Kontext stattfinden, was wiederum das Erfassen der Eigenschaften der Kontextmerkmale voraussetzt. 10.3 Rückschau Diese Anwendung der Lompscher-Operationen auf die (kognitiven) strategischen Handlungen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhoben 231 <?page no="244"?> wurden, zeigt, dass man in der Tat auch in diesem Kontext „erstaunlich weit kommt“. Die Rolle dieser Operationen scheint in einem handlungstheoretischen Rahmen zumindest insofern geklärt, als sie hier die Basis für den Vollzug von (lernstrategischen) Handlungen darstellen. I.S.v. „Denkhandlungen“ befähigen sie den Menschen zum absichtsvollen Handeln. Geht man davon aus, dass Lernen geschieht, um zweckrational und/ oder kommunikativ handeln zu können (und dabei ggf. Probleme lösen zu können), tragen also die Operationen zum Lernen insofern bei, als sie die grundlegenden Komponenten dafür darstellen 4 . Allerdings ist es durchaus schwierig, Handlungen den Lompscher-Operationen im konkreten Fall zuzuweisen: Häufig umfassen sie mehrere Operationen, und es ist nicht immer einfach, die „wesentliche“ Operation zu bestimmen. Mit der Substitution und dem Transfer finden sich außerdem zwei Konstrukte, die sich nicht diesen Kategorien zuordnen lassen. Bei der Kategorisierung der erhobenen Strategien fiel außerdem auf, dass Lompscher mit der Kategorie „Zergliedern“ zwar eine Operation für das Zusammenfügen von Informationen vorsieht. Es fehlt jedoch eine Spezifizierung der Art der Verknüpfung von Sachverhalten. M.E. besteht ein Weg, Kategorienüberschneidungen zu vermeiden und auch die Relationen zwischen Sachverhalten darzustellen, möglicherweise im Rückgriff auf logische Operatoren und Wirkunsgesetze. Primitiva dieser Art sind eine v.a. in der Informatik, speziell in der KI-Forschung, verbreitete Darstellungsweise für die elementaren Prozesse der Kognition. So wird die Analyse als die Zerlegung einer komplexen Realität in n Komponenten, aber auch in Relationen und Regeln verstanden. Ziel der Analyse ist demnach die Identifikation von Elementen, Relationen und Regeln und deren Benennung (Klassifikation). Die Zerlegung geschieht auf der Basis von mathematisch-logischen Operationen wie komparativen und Verknüpfungs- Relationen (gleich - ungleich; ähnlich - unähnlich; größer - kleiner; x ist a; x und y sind z; a oder b), aber auch z.B. kausale (x ist die Ursache von y), konditionale (wenn x, dann z) und konsekutive Relationen (auf x folgt y; auf x folgt nie y; x bewirkt y), außerdem Inklusions- (x ist enthalten in A) und taxonomische Relationen (x ist untergeordnet zu B). Insofern beinhaltet die Analyse als kognitiver Prozess des Denkens eine ganze Reihe von Operationen. Die Synthese ist das Komplement zu Analyse. Hier geht es um die Konstruktion einer neuen Realität durch die Zusammenfügung von Klassifikationen, die in der Analyse entstanden sind. Ergebnis der Synthese können neue komplexe Objekte, neue Relationen von Objekten oder neue Regeln sein (Konzepte, Modelle). Eine weitere Analyse der Strategien hinsichtlich 4 Diese Sichtweise impliziert nur die kognitiven Aspekte von Lernen und Handeln. Soziale und affektive Faktoren sind im kommunikativen, normenregulierten Handeln nach Habermas angelegt, können im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht ausgearbeitet werden. 232 <?page no="245"?> solcher Operationen geht jedoch über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus. Offen muss in der vorliegenden Arbeit auch die Frage bleiben, ob und inwiefern die kognitiven Operationen als trainierbar anzusehen sind. Habermas geht offensichtlich von der Lern- und Trainierbarkeit von Operationen aus: „Dabei bezieht sich die Perfektionierung nicht auf die Beherrschung der Handlungsregeln, sondern auf die Koordinierung der mitvollzogenen körperlichen Bewegungen und Operationen.“ (Habermas 1995, S. 295) Dieselbe Ansicht vertritt Polya, der Vorgehensweisen beim Lösen von Problemen erklären und einüben lassen wollte, um Lerner zu einer größeren Autonomie zu verhelfen und sie in die Lage zu versetzen, zukünftig Probleme selbständig lösen zu können. Piaget dagegen ging bspw. davon aus, dass sich kognitive Schemata durch Handeln bilden: Zu Beginn der kindlichen Entwicklung herrschen zunächst sensomotorische Schemata vor. Dabei bezieht sich der Begriff „sensomotorisch“ darauf, dass „das Kind etwas über seine Sinne wahrnimmt (sensorisch), darauf handelnd reagiert (motorisch) und die Wirkung seines Verhaltens wahrnimmt (sensorisch). Bei diesen Schemata spielt das Denken noch keine nennenswerte Rolle“ (Textor 2005). Angetrieben durch sein Bestreben, durch Akkomodation und Assimilation immer wieder ein harmonisches Äquilibrium herzustellen, erwirbt das Kind also zunächst durch sensomotorische Aktivitäten. Ab dem 2. Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. das Klassifizierungsschema (die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in „Klassen“ zu ordnen). „Piaget ist der Meinung, dass sich das (Klein-) Kind sein Weltverständnis (Wissen) in der selbsttätigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt (Handeln) selbst konstruiert - kognitive Schemata werden also zunächst von sensomotorischen abgeleitet.“ (Textor 2005) Aus dieser Perspektive ist nicht abzuleiten, dass kognitive Operationen trainierbar in dem Sinne sind, dass sie als solche unter allen Umständen erfolgreich geübt werden können. Piagets Auffassung, dass sie sich durch Handeln entwickeln und innerhalb bestimmter Entwicklungsphasen herausbilden, spricht dafür, dass sie sich auch nur dann entwickeln, wenn die Voraussetzungen (z.B. das Durchlaufen vorheriger Phasen) gegeben sind. Die Frage der Trainierbarkeit kann jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden. 233 <?page no="247"?> 11 Klassifizierung kognitiver Lernstrategien auf der Grundlage von Piagets Entwicklungsstufen Zur Klassifizierung der erhobenen kognitiven Lernstrategien wird im Folgenden auf das Modell der Entwicklungsstufen von Jean Piaget zurückgegriffen. Es ergibt sich folgende Verteilung der Strategien auf die vier Denkniveaus des sensomotorischen, des intuitiv-prälogischen/ eskapistischen, des konkret-anschaulichen und des formal-abstrakten Niveaus 1 . 11.1 Strategien auf dem sensomotorischen Niveau Eine der Strategien, die dem sensomotorischen Niveau zugeordnet werden kann, besteht im Imitieren eines sprachlichen Vorbildes. Diese Strategie kann in drei verschiedene Unterstrategien unterteilt werden: Im Korpus tritt das Imitieren sowohl zeitgleich zum Vorbild (Strategie zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94)) als auch zeitversetzt auf (Strategie zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden“ (ID 19)). Außerdem kommt es vor, dass Informantinnen die Person im Film zeitversetzt imitierten und dabei auf die im Programm angebotene Glossenumschrift zurückgreifen (Strategie zeitversetztes Kopieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119)). Das Imitieren einer gebärdensprachlichen Äußerung kann unterschiedlichen Zwecken dienen: bspw. kann dadurch etwas Rezipiertes in die eigene Perspektive gebracht werden (s.u.) oder das Imitierte kann bei eigenen Lükken später in der Produktion eingesetzt werden. Wird anhand einer Glossenumschrift imitiert, so kann dies auch der Überprüfung der eigenen Kenntnisse dienen. Solche Imitationsleistungen sind nicht dem sensomotorischen Niveau zuzuordnen. Gebärdensprachliche Äußerungen werden im Korpus von den Informantinnen jedoch auch nachgemacht, um die Motorik zu trainieren und um Lexeme und Strukturen durch Wiederholung „einzuschleifen“ und zu festigen. Bei verschiedenen Informantinnen ist zu beobachten, dass sie Gebärden mit einer komplizierten Bewegung wiederholt nachmachen. Um dieses Imitieren zu erleichtern, spielen sie den jeweiligen Film z.T. mehrmals ab (Strategie Textstellen wiederholt ansehen (ID 75)), einige Informantinnen aktivieren zusätzlich die Zeitlupenfunktion (Strate- 1 Eine tabellarische Übersicht der Strategien befindet sich am Ende dieses Kapitels. 235 <?page no="248"?> gie Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83)) 2 . Hierdurch wird den Lernerinnen eine exaktere Betrachtung der Gebärdenform ermöglicht. Diese beiden Strategien sind sozusagen die Grundlage bzw. Voraussetzung für erfolgreiches motorisches Training; denn nur wenn die Lernerinnen die Form möglichst korrekt rezipiert haben, können sie sie selbst richtig produzieren. Bei dieser Strategie dient also das Imitieren dem Training der Motorik, um ein sprachliches Zeichen möglichst akkurat ausführen zu können. Die Aufmerksamkeit liegt auf der Form des Zeichens und auf der Ausführung der phonologischen Parameter. Eine weitere Strategie dient ebenfalls dem motorischen Einüben einer Gebärde, und zwar durch die Reduzierung der Komplexität der Gebärde. Bei der Strategie Bewegung einer Gebärde mit einer neutralen Handform nachfahren (ID 124) geht es darum, dass der Lerner mit einer vergleichsweise neutralen Handform, i.d.R. der Zeigefinger-Handform, die Bewegung der Ziel-Gebärde nachvollzieht. Dabei liegt seine volle Konzentration auf dem Bewegungsparameter, so dass er die eigentliche Handform - eine möglicherweise verkomplizierende Komponente - außer Acht lässt. Mit der neutralen Handform „fährt“ der Lerner gleichsam die Bewegung der Ziel- Gebärde „nach“, um sich ihren Verlauf zu verdeutlichen. Dies geschieht erfahrungsgemäß am ehesten bei Gebärden mit einer Kreisbewegung, da für die Lerner schwer zu erkennen ist, ob die Bewegung im Uhrzeigersinn oder dagegen ausgeführt wird; vgl. die Aussage von A1 im Interview (Interviewaussagen-ID 138): „Also … es kommt auf so Kleinigkeiten an. Also, wenn man nun jetzt nicht gerade gesehen hat, ob der Kreis nun (macht eine Faust und dreht sie einmal links und einmal rechts herum) so rum oder so rum geht. Da habe ich ganz oft … So: Geht das jetzt links rum (zeichnet mit dem Zeigefinger einen Kreis links herum nach) oder geht das jetzt rechts rum? (zeichnet mit dem Zeigefinger einen Kreis rechts herum nach) Zum Beispiel. Das sehe ich nicht … nicht gleich, meistens.“ Im Laut-Denk-Experiment setzt Informantin A3 diese Strategie ein: Sie beschäftigt sich mit der Vokabelliste der zu bearbeitenden Lektion. Unter den Vokabeln stößt sie auf die Gebärde LABYRINTH, die mit einer schlangenlinienförmigen Bewegung vom Körper weg ausgeführt wird. Diese Bewegung kann A3 nicht auf Anhieb nachvollziehen, so dass sie sich den Vokabelfilm insgesamt dreimal ansieht und die Form mehrfach nachgebärdet. 2 Beispiele hierfür finden sich in: Transkript Laut-Denk_M3, z.B. bei ABBÉ+DE- L'ÉPÉE+PLATZ: tc 00: 09: 50: 06-00: 10: 50: 24; MASSIEU: tc 00: 12: 45: 21-00: 13: 16: 14; PRA- DEZ: tc 00: 15: 00: 19-00: 15: 54: 23; Transkript Laut-Denk_A3, ebenfalls bei ABBÉ+DE- L'ÉPÉE+PLATZ: tc 01: 23: 46: 02-01: 24: 58: 12 und PRADEZ, tc 01: 42: 09: 10-01: 43: 03: 08; LABYRINTH, tc 01: 34: 28: 16-01: 35: 18: 13; Transkript Laut-Denk_V, bei HUGO+VON- SCHÜTZ+PARK, tc 00: 36: 03: 10-00: 36: 18: 08; CHAUSSEE, tc 00: 40: 56: 00-00: 41: 03: 09 (tc = time code). 236 <?page no="249"?> Schließlich führt sie die Schlangenlinien-Bewegung mit der Zeigefinger- Handform aus 3 . Weitere Vorkommen finden sich nicht in den Experimenten. Bei dieser Strategie handelt es sich um ein komplexitätsreduzierendes Vorgehen, das die Lernerinnen einsetzen, um den Bewegungsparameter eine Gebärde nachzuvollziehen. Damit findet zwar eine gewisse Analyse der Gebärde statt; da diese Strategie jedoch hier unmittelbar nach dem wiederholten Anschauen und Nachgebärden eines Vokabelfilms eingesetzt wird, wird sie eingeordnet als eine Strategie, die beim bloßen Imitieren einer Gebärde dazu dient, die Bewegung korrekt zu erfassen. 11.2 Strategien auf dem intuitiv-prälogischen/ eskapistischen Niveau Strategien, die dem eskapistischen Niveau zugeordnet werden können, sind solche, bei denen der Lerner die Auseinandersetzung mit einem Problem scheut, ihm dadurch aus dem Weg geht, dass er unlogisch argumentiert, oder sich intuitiv, d.h. keiner Regel oder Logik folgend, verhält. Dieser Kategorie sind die Vermeidungsstrategien zuzuordnen. Darunter fallen z.B. die Strategien, die auf Versuch-und-Irrtum-Verhalten beruhen 4 . 3 S. Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 34: 28: 16-01: 35: 18: 13 (Beschäftigung mit der Vokabel GARTEN-LABYRINTH) bzw. 01: 35: 15: 17-01: 35: 18: 13 4 Der Vollständigkeit halber sei hier genannt, um welche Strategien es sich hierbei handelt: Es finden sich sechs Strategien, die sich auf dem eskapistischen Denkniveau einordnen lassen: • weglassen (ID 68) • zu schwierige Aufgabe verschieben (ID 103) • eigene Produktion vorziehen (ID 42) • vorgegebene Lösung nutzen (ID 99) • Versuch und Irrtum (trial and error) (ID 110) • hoffen, dass man das Ziel/ die Lösung per Zufall findet (ID 115) Diese Strategien sowie ihre Vorkommen in den Erhebungen der vorliegenden Arbeit werden in Kapitel 14.3 „Vermeidungsstrategien“ ausführlich beschrieben. - Die in der vorliegenden Arbeit erhobenen Kompensationsstrategien sind m.E. nicht als eskapistische Strategien anzusehen, sofern sie sich sprachlicher Mittel bedienen. In diesen Fällen versucht der Lerner nicht, der zielsprachlichen Äußerung auszuweichen, sondern vielmehr handelt er aktiv, um ein Defizit zu kompensieren - dass er dabei die L2-Äußerung nicht produzieren kann ist auf sein Unwissen zurückzuführen und nicht auf eine ausweichende Haltung. In Fällen, in denen der Lerner allerdings auf nichtsprachliche Mittel zurückgreift, weicht er der Auseinandersetzung mit der Sprache aus. Daher werden folgende Strategien dem eskapistischen Niveau zugerechnet (auch diese Strategien werden im Kapitel Kompensationsstrategien detailliert beschrieben): • zeigen (ID 52) • Nutzung von Pantomime (ID 63) • viel Mimik einsetzen (ID 43) 237 <?page no="250"?> Eine Strategie, bei der der Lerner intuitiv handelt, ist die Übergeneralisierung (ID 149). In den Daten gibt es einige Vorkommen, bei denen die Informantin S eine morphologische Konstruktion in Fällen verwendet, in denen diese nicht angemessen ist. Dabei handelt es sich um den Gebrauch der Gebärde PERSON. Diese kann zum einen als eigenständiges Lexem mit der Bedeutung ‚Person’ verwendet werden. Zum anderen kann sie jedoch auch als Morphem nach Gebärden verwendet werden, die bspw. eine Tätigkeit bezeichnen. In einem solchen Fall dient diese angefügte Gebärde als Morphem, das sozusagen die „Personalisierung“ ausdrückt; so bedeutet z.B. die Gebärdenfolge ARBEIT + PERSON ‚Arbeiter’. Das Morphem kann auch genutzt werden, um zu betonen, dass es sich um eine Person handelt. So ist bspw. die Gebärde MALEN (mit dem Wortbild ‚maler’ 5 ) als solche ausreichend, um einen ‚Maler’ zu bezeichnen; PERSON kann jedoch an die Gebärde MALEN angefügt werden, um zu betonen, dass es sich um eine Person handelt. Im Korpus verwendet Informantin S das Morphem PERSON nach der Gebärde NACHBAR zur Bezeichnung des Nachbarn in der Bildergeschichte „Ein Geizhals“. Ist diese Gebärde vielleicht bei der Einführung des Nachbarn in die Handlung noch akzeptabel, ist sie bei der späteren Erwähnung überflüssig. S wendet offenbar die Regel, dass PERSON an andere Gebärden zur Bezeichnung von Personen in bestimmten Fällen angehängt werden kann, in übermäßiger Form an 6 . In diesen Fällen liegt jedoch m.E. keine Strategie vor, da S anscheinend glaubt, dass sie lediglich eine Regel befolgt. Es gibt jedoch einen weiteren Fall, bei dem S das Morphem intentional einsetzt, um eine Vokabellücke zu kompensieren: Bei der Wiedergabe des Artikels „Ende eines Zeitalters“ fehlt ihr die Gebärde für ‚Lebewesen’. Hier kreiert S eine Gebärde, indem sie die Gebärde LEBEN benutzt und danach das Morphem PERSON einsetzt - kombiniert mit dem Wortbild ‚lebewesen’ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 43: 31: 01-00: 43: 36: 19); für eine genaue Beschreibung s. das Kapitel zu produktiven Handzeichen-Mundbewegungskombinationen (14.2.2 „Erhobene Strategien“)). Ihre halb fragende, halb lachende Mimik und ihr Schulterzucken lassen m.E. darauf schließen, dass sie hier eine ihr bekannte Gebärde, nämlich PERSON, absichtsvoll einsetzt - als Konsequenz der übergeneralisierenden Schlussfolgerung, dass diese Gebärde zur Bezeichnung von ‚Personen’ bzw. in einer erweiterten Form von ‚(Lebe-) Wesen’ eingesetzt werden kann. Neben dieser unangemessenen, nicht zielsprachlichen Verwendung der Gebärde PERSON kann möglicherweise auch in einigen Fällen der Delexikalisierung von Gebärden von einer Übergeneralisierung gesprochen werden. Hier verwenden einige Lernerinnen Gebärden in einer Weise produk- 5 Wortbilder werden im Folgenden als kleingeschriebene Wörter notiert. 6 Von sechs Vorkommen, in denen S den Nachbarn erwähnt, verwendet sie fünf Mal diese Gebärdenfolge (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 10: 05: 08-00: 10: 12: 12, 00: 10: 30: 11- 00: 10: 38: 17, 00: 12: 07: 18-00: 12: 10: 20, 00: 12: 53: 10-00: 12: 54: 23 und 00: 13: 24: 14-00: 13: 29: 01). 238 <?page no="251"?> tiv, die als falsch oder zumindest als sehr grenzwertig einzuschätzen ist (vgl. auch hier Kapitel 14.2.2 „Erhobene Strategien“). Bei allen diesen Übergeneralisierungen handeln die Lernerinnen intuitiv und insofern eskapistisch, als sie eine vermeintlich zielsprachliche Regel immer anwenden, auch wenn diese eigentlich nicht angemessen ist. Sie erweitern den Anwendungsbereich von Regeln und übertragen sie auf neue Kontexte. Dies stellt eine beträchtliche kognitive Leistung dar - und in den genannten Fällen führt sie wohl auch zum Ziel, der kommunikativen Verständigung. Allerdings können Übergeneralisierungen die wirkliche „Lösung“, die korrekte Ausdrucksform, verhindern, wenn sie in großem Maße und mit großer Konsequenz vorgenommen werden. Insofern stellen Übergeneralisierungen einen ab einer gewissen Grenze irrationalen Weg dar, der möglicherweise in einer Fossilisierung endet. In den Daten findet sich eine weitere Strategie, bei denen die Lernerinnen eine Regel abgeleitet haben, welche ihnen das Verstehen von Richtungsanzeigen in DGS erleichtert. Es handelt sich um die Strategie in die entgegengesetzte Richtung von dem fahren, was angezeigt wird (ID 113). In den Laut-Denk-Experimenten zeigt sich, dass drei Lernerinnen eine „Abkürzung“ für die Rezeption der Links-Rechts-Anweisungen der Wegbeschreibung entdeckt haben: Anstatt die Anweisungen des Tutors mental zu rotieren, um die Beschreibung in die eigene Perspektive zu bringen, fahren diese Lernerinnen grundsätzlich in die entgegengesetzte Richtung von dem, was der Tutor „zeigt“. „Ist aber genau die, die er angezeigt hat. Also muss ich in die andere Richtung.“ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 38: 32: 00-00: 38: 37: 03) Auf diese Weise ist kein kognitives Nachvollziehen der Sprache notwendig: Während sonst die Gebärden des Tutors mental „umgedreht“ und in die eigene Perspektive gebracht werden oder erwogen wird, zu welcher eigenen Körperseite der Gebärdende zeigt, schauen diese Lernerinnen nur darauf, in welche Richtung (von ihnen aus gesehen) die Person zeigt - um dann auf dem virtuellen Stadtplan in die andere Richtung zu fahren. Würden die Lernerinnen also die folgende Anweisung sehen, würden sie - ohne zu überlegen, dass der Tutor zu seiner linken Seite zeigt o.ä. - sich sagen: „Er zeigt nach rechts, also muss ich nach links fahren.“ Die Lernerinnen haben sich sozusagen eine „Abkürzung“ ausgedacht, um hohem kognitiven Aufwand zu entgehen und möglichst schnell zu verstehen, was gebärdet wird. 239 <?page no="252"?> 11.3 Strategien auf dem konkret-anschaulichen Niveau Auf diesem Niveau spielen die Heurismen der Modell- und Analogiebildung sowie der Imagination eine besondere Rolle. Der Rückgriff auf konkrete, anschauliche Darstellungsformen wird evident bei der Strategie Grafik erstellen (ID 10). Hiermit ist gemeint, dass der Lerner die in einem Text enthaltenen Information in eine Grafik transformiert: Der Lerner repräsentiert verbale Informationen durch grafische Darstellungen, bspw. durch bildhafte Zeichnungen, und setzt diese zueinander in Beziehung. Er veranschaulicht also den Text, indem er sich von der linearen verbalen Form löst und in eine modellhafte bildliche Form umwandelt 7 . Der Einsatz dieser Strategie wird in den Interviews beschrieben und findet sich in den beiden Experte-Novize-Experimenten mit A3 und A1 bzw. mit M3 und A2. In diesen Experimenten extrahieren die Informantinnen die ihnen relevant erscheinenden Informationen aus dem deutschen Artikel und zeichnen jeweils eine Grafik, in der sie die Informationen entlang einer Zeitleiste anordnen. An dieser Vorlage orientieren sie sich bei der Wiedergabe des Textes in DGS. In einem Laut-Denk-Experiment zieht Informantin S in Erwägung, die von der gebärdenden Person im Film beschriebene Grundrissskizze auf Papier aufzumalen (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 50: 48: 10- 00: 50: 52: 21). Sie würde also eine Zeichnung anfertigen, die ihr die gebärdensprachliche Beschreibung veranschaulicht, und mit der sie dann u.U. die deutsche Übersetzung vergleichen könnte. 7 Aebli spricht hier von einer „Übersetzung“ der sprachlichen „in eine viusell-graphische, wenn man will, anschauliche Repräsentation“ (1981, S. 67). Abb. 32: Gebärde UM-DIE-ECKE-links 240 <?page no="253"?> Ebenfalls ein Transfer medialer Art wird bei der Strategie Notizen machen (ID 25) vollzogen, wenn der Lerner mangels einer Gebrauchsschrift eine piktografische Darstellung kreiert, um eine Gebärde zu notieren. Dies kann bspw. durch so genannte Strichmännchen geschehen, bei denen eine Gebärden skizzenartig festgehalten wird. Auch die Nutzung des ikonischen Gehalts einer Gebärde kann als eine Art „Veranschaulichung“ angesehen werden. Hier greift der Lerner auf die bildhafte Beziehung zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem Referenzobjekt in der realen Welt zurück. Dies geschieht bei der Strategie Eselsbrücken bauen (ID 8), wenn der Lerner versucht, eine tatsächliche oder imaginierte Beziehung herzustellen, um sich eine Gebärde zu merken oder um sie abzurufen. Die kognitive Leistung besteht in der Herstellung von Analogien: Der Lerner nutzt die bildhafte Relation zwischen Gebärde und Referenzobjekt, die üblicherweise als solche bei der Verarbeitung von Gebärden keine Rolle spielt (vgl. Kapitel 4.6 „Die Rolle von Ikonizität bei der Verarbeitung von Gebärden“). Er erklärt sich die Form einer Gebärde durch die Herstellung von Bezügen dieser Form zu einem konkreten Objekt der realen Welt. So wird es für den Lerner möglich, beim Abrufen von Informationen bei der Sprachproduktion von ikonischen Merkmalen des Objekts der realen Welt auf die Form der Gebärde zu schließen 8 . Diese Strategie wird in den Interviews mehrfach erwähnt (Interviewaussagen-IDs 11, 12, 123, 240, 265, 266, 297) und auch in den Experimenten eingesetzt. Die erhobenen Analogien lassen sich nach Langer (2005, S. 255) als Ähnlichkeitsbeziehungen dreier Typen beschreiben: als form-, raum- und verhaltensikonische Analogien. Die Informantinnen analysieren quasi die Gebärde auf ihren Bildgehalt hin und stellen Verbindungen zwischen der Gebärde und ihrem außersprachlichen Referenten bzw. eines Merkmals des Referenten her. Dieses Vorgehen ist abhängig von dem Maß, in dem ein Bezug zwischen einer Gebärde und ihrem Referenten für den Gebärdensprachlerner ersichtlich ist. Die Informantinnen geben an, sich selbst für solche Vokabeln, bei denen sie keine gesicherten Informationen über die Beziehung zwischen Gebärde und Referent haben, Eselsbrücken, d.h. hier Beziehungen zwischen Gebärde und Referenzobjekt, auszudenken. Im Korpus finden sich folgende Vorkommen der Nutzung des ikonischen Gehalts von Gebärden zur Kreation von Eselsbrücken: Formikonizität: Entweder die Form der Hand oder der Verlauf der Bewegung ähnelt der äußeren, sichtbaren Form eines konkreten Gegenstands. 8 Mehrere Untersuchungen wiesen nach, dass ikonische Gebärden (bzw. vielmehr solche, die als ikonisch eingeschätzt werden, s. Mandel (1977a)) von Lernern leichter behalten werden als nicht-ikonische, vgl. hierzu z.B. Mandel (1977a) und Luftig und Lloyd (1981) für hörende Erwachsene ohne ASL-Kenntnisse sowie Beykirch, Holcomb und Harrington (1990) für Lerner von ASL. 241 <?page no="254"?> Ein Beispiel hierfür ist die Äußerung von Informantin S: Sie erklärt sich die Namensgebärde JAKOB durch Formikonizität: Die Namensgebärde bezeichnet ein für die Comicfigur typisches Merkmal: die Form der Nase: „Weil er so 'ne Knollennase hat.“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 19: 25: 17- 00: 19: 27: 11. 9 Ein weiteres Beispiel besteht in dem Versuch von Informantin F, sich die Form der Namensgebärde von Abbé de l'Épée 10 durch die Herstellung einer formalen Ähnlichkeitsbeziehung zu einem Objekte (einem Säbel bzw. einer Waffe) plausibel zu machen. Sie bemerkt: „Also… bei Abbé de l'Épée gehe ich jetzt mal davon aus, dass das irgendwas mit dem äh… Säbel, oder… so 'ner Waffe halt irgendwie schon ist.“ (Transkript Laut- Denk_F, tc 00: 28: 30: 03-00: 28: 43: 13) Raumikonizität: Die Platzierung, die Orientierung und die Anordnung der Hände entspricht den Standorten, der Orientierung und der Anordnung von Gegenständen im Raum. Ein Beispiel für diese Art der Ähnlichkeitsbeziehung findet sich in einer Aussage von A3: Sie leitet die Form der Gebärde ALLEE durch die Herstellung des ikonischen Bezugs zwischen der Form der Gebärde und der Anordnung der Referenzobjekte der realen Welt (hier: Bäume) her. 9 Aussagen bzgl. zielsprachlicher Merkmale oder Strukturen, die aus den Daten gewonnen wurden, spiegeln den lernersprachlichen Gebrauch bzw. lernerseitige Hypothesen wider. Sie stellen keine linguistische Beschreibung der DGS dar. 10 Charles-Michel de l’Epée (*1712 †1789) gründete 1771 die erste staatliche Gehörlosenschule Frankreichs in Paris. Abb. 33: Gebärde JAKOB 242 <?page no="255"?> „Natürlich. Die Bäume stehen auch so. Die Bäume stehen auch so. “ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 14: 38: 15-01: 14: 43: 18) 11 Informantin A3 erklärt sich auch in einer anderen Situation die Ausführung einer Gebärde über eine raumikonische Analogie: Sie versucht, sich die Gebärde DARÜBER durch bildhaftes Vorstellen einer räumlichen Situation zu erklären bzw. sich einzuprägen. „Und… DARÜBER 12 … jetzt würde ich mir das einfach durch… Also… vorstellen, als würde hier irgendetwas sein, und DARÜBER noch etwas.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 28: 32: 15-01: 28: 43: 23) Verhaltensikonizität: Die Bewegung einer Gebärde korrespondiert auch hinsichtlich der zeitlichen Dimension mit Bewegungen, Veränderungen oder dem Verhalten von Gegenständen oder Personen. Ein Beispiel für Fälle, bei denen sich Lernerinnen die Form von Gebärden durch Verhaltensikonizität erklären, besteht in der Äußerung von A3: Sie versucht, die Gebärde MUSEUM durch die semantische Herkunft der Gebärde herzuleiten bzw. sie sich zu merken. „KUNST MUSEUM… Also: Man geht und schaut - einfach.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 39: 05: 21-01: 39: 10: 19) 13 11 Üblicherweise wird die in der folgenden Abbildung gezeigte Gebärde mit einer geraden Bewegung nach vorn ausgeführt; da Bewegungen vom Körper weg (frontal auf die Kamera zu) im Film jedoch schwer zu erkennen sind, führt die Person die Bewegung leicht nach rechts aus. 12 Zu Wörtern, die in der Verschriftlichung der deutschen Äußerungen großgeschrieben sind (so genannte Glossen), wurden simultan Gebärden benutzt. Sofern die Gebärden nicht aus dem deutschen Wort erschließbar sind, werden sie jeweils im Anschluss an die Äußerung in Klammern festgehalten. 13 Die in der folgenen Abbildung gezeigten Bilder stellen nicht die komplette Bewegung dar; die Gebärde MUSEUM besteht aus einer unbestimmten Anzahl an kleinen Auf- und Abbewegungen, wobei die Bewegung insgesamt zur dominanten Körperseite (hier: nach rechts) geht. Abb. 34: Gebärde ALLEE; Handstellung in der Anfangs- und Endposition 243 <?page no="256"?> Ähnlich äußert sich A3 bzgl. der Gebärde SPAZIERENGEHEN: Sie stellt fest, dass sie sich das Verhalten einer spazierengehenden Person vorstellt, um diese Gebärde besser im Gedächtnis verankern zu können. „Das ist auch sehr wichtig. Wenn ich so was sehe, dann muss ich mir irgendetwas vorstellen, damit ich mir das logisch erklären kann, sozusagen. Ob es jetzt locker ist (gebärdet: SPAZIERENGEHEN), oder… Also, ich meine, die Gebärde allgemein. Und dann kann ich mir die auch besser merken.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 44: 29: 08-01: 44: 45: 03) 14 Die Strategie „Eselsbrücken bauen“ als solche ist eine beliebte, den meisten Lernerinnen bereits aus anderen Lernkontexten bekannte Methode zum Memorieren, wobei viele Informantinnen die Nutzung des ikonischen Potenzials von Gebärden als ausgesprochen hilfreich empfinden: 14 Die in der folgenen Abbildung gezeigten Bilder stellen nicht die komplette Bewegung dar; die Gebärde SPAZIERENGEHEN besteht aus einer unbestimmten Anzahl an kleinen Bewegungen nach rechts und links, wobei die Bewegung insgesamt nach vorn vom Körper wegführt. Abb. 35: Gebärde MUSEUM Abb. 36: Gebärde SPAZIERENGEHEN 244 <?page no="257"?> „Die ikonischen [Gebärden, C.M.], die muss man ja fast nicht aufschreiben. Weil die einfach so logisch sind, oder so einfach sich zu merken.“ (Informantin A2, Interviewaussagen-ID 240) Einige der Informantinnen erkennen im Interview jedoch auch eine potenzielle Gefahr dieser Strategie, die in der phonetisch-phonologischen Ungenauigkeit liegt: Über die Eselsbrücke merkt man sich zwar, welches Merkmal des Referenzobjekts der realen Welt in der Gebärde wiedergegeben wird. Da diese Darstellung jedoch gemäß der phonologischen Regeln stilisiert und nicht als hundertprozentiges Abbild der Realität erfolgt (vgl. hierzu Dye, Woll und Baker 2000; Langer 2005, S. 255, Fußnote 2), ist häufig beim Abrufen der Vokabel nicht mehr klar, wie die Gebärde exakt ausgeführt wird 15 . So wird Ikonizität quasi zum „falschen Freund“, der zwar einen Hinweis auf die Form der Gebärde gibt, jedoch u.U. die Artikulationsgenauigkeit beeinträchtigt 16 . Zwei der Informantinnen sind sich jedoch einig, dass diese Ungenauigkeit i.d.R. die Kommunikation nicht stört: M2: „Ja, genau [bezieht sich auf „Eselsbrücken bauen“; C.M.]. Zum Beispiel… ja.“ Ch: „Zum Beispiel? “ M2: „Na ja, zum Beispiel, wenn man SACK hat, dann weiß man halt: Das trägt man so. Also, was weiß ich, man gibt kurz den Ort an und sagt dann… ja, man hält sozusagen den Sack da fest, dann.“ K: „Und dann ist es nämlich genau, was passiert: Also, ist es das (gebärdet: SACK, A-Handform mit abgewinkeltem Daumen)? Oder das (gebärdet: SACK, A-Handform mit angelegtem Daumen)? Dass es nicht mehr klar ist, wie das dann eigentlich war. (V nickt) Weil: Es ist ganz klar: Der Sack über der Schulter. Aber, ob er jetzt so aussehen muss: (gebärdet: SACK, A-Handform mit abgewinkeltem Daumen), oder so 15 Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Mandel (1977a). Er stellt die Hypothese auf, „that perceived iconicity might help a subject recognize a sign, but lead him to make mistakes in producing it: he might remember the image he had perceived in the sign, but reproduce it in a way that was incorrect in terms of the requirements of ASL. For example: In the sign BASEBALL, a subject might see a batter shaking the bat, remember the sign as containing the image of someone playing ball, and produce a pantomime of a catcher pounding his fist into his glove. Or he might remember the sign as containing the image of a batter shaking the bat, but reproduce the sign incorrectly. (In fact, as it turned out, the second sort of error was more common than the first. Sometimes the subjects did misremember the details of the image which they saw as underlying the sing; but it was more common for them to remember the image correctly, but reproduce the sign incorrectly.)“ (Mandel 1977a, S. 259; Hervorhebung im Original ) 16 Hilfreich ist hierbei eine profunde Kenntnis der Phonologie, wodurch die mögliche Form der Gebärde auf bestimmte Parameterkonstellationen eingeschränkt wird. Problematisch ist, dass sich diese Kenntnisse erst mit einer gewissen Spracherfahrung einstellen (die Phonologie der DGS als solche wird im DGS-Unterricht so gut wie nicht behandelt), so dass sich bis dahin Fehler eingeschlichen haben können. 245 <?page no="258"?> aussieht: (gebärdet: SACK, A-Handform mit angelegtem Daumen), weiß man dann nicht mehr.“ M2: „Allerdings wird das im Gebrauch… wahrscheinlich wirst Du da trotzdem verstanden werden.“ K: „Da ist es egal, genau.“ (Interviewaussagen-ID 266) M3 merkt an: M3: „Wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass es dann ganz schnell passiert, wenn man sich nur darauf verlässt, auf die Ikonizität, dann wird man halt auch wieder luschig, was die genaue Ausführung angeht.“ (Interviewaussagen-ID 87) Neben solchen Analogien zwischen sprachlichen Zeichen und Objekte der realen Welt stellen die Lernerinnen auch Relationen zwischen Formähnlichkeiten bzw. Formgleichheiten der zu lernenden Gebärde zu anderen bekannten Gebärden her. Dabei handelt es sich jedoch um rein sprachliche, formale Analogien, weshalb diese dem formal-abstrakten Denkniveau zugeordnet werden. In ähnlicher Weise greifen Lerner auf konkrete Situationen zurück, wenn sie sich „ein Bild vor Augen halten“ und dieses gleichsam als imaginierte Vorlage verwenden, die sie in DGS umsetzen. Bei der Strategie „sich ein Bild vor Augen halten“: von einer darzustellenden Person (Verhalten, Aussehen, Mimik etc.) und/ oder einer Situation (Bühne) (ID 77) stellen sich Lerner Merkmale einer Person (Verhalten, Mimik) oder einer Situation (räumliche Beziehungen, Formen) bewusst vor, um so diese Merkmale leichter in die visuell-räumlichen Mittel der DGS übertragen zu können. So haben sie - wenn auch „nur“ mental - ein konkretes Bild vor Augen, das sie mittels gebärdensprachlicher Elemente, v.a. Constructed Action und Klassifikatorkonstruktionen, in der Zielsprache umsetzen. Das mentale Bild wird quasi als „Vehikel“ benutzt, um Eigenschaften einer zu beschreibenden Person oder eines zu beschreibenden Settings auszudrücken. Dass dieses Vorgehen eine veranschaulichende Methode darstellt, die den gebärdensprachlichen Ausdruck von Inhalten erleichtert, kommt durch die Äußerung von M1 zum Ausdruck. Sie beschreibt, dass sie diese Strategie dann benutzt, wenn sie auf anderen Wegen scheitert: „[…] dass ich mir bewusst irgendwas vorstelle, das passiert glaube ich nur, wenn was ganz spontan nicht klappt, zu produzieren; und ich halt noch mal ein anderes brauche, dann stelle ich mir ein Bild vor.“ (Interviewaussagen-ID 124) Informantin A3 schildert Ähnliches: A3: „Also, wenn ich ein Bild habe, wenn ich irgendwas erzählen muss, und versucht habe… oder festklebe an deutschen Sätzen, dann klappt es natürlich nicht. Und dann habe ich so… ziemlich oft auch die Erfahrung gemacht, dass ich einen deutschen Satz versuche zu übersetzen; und dann irgendwie am Ende steht noch ein Verb (alle lächeln). Und das kann ich einfach nicht ausdrücken. Und dann ir- 246 <?page no="259"?> gendwie… paar Sekunden denke ich nach und dann schmeiße ich den ganzen Satz einfach weg, stelle mir das Bild vor und versuche das zu beschreiben.“ Ch: „Und das geht besser? “ A3: „Das geht viel besser. Dann wird es auch verstanden und dann geht es viel schneller. Und… ja, es ist viel besser.“ (Interviewaussagen-ID 169) Eine andere Informantin erklärt, dass sie sich den zu transportierenden Inhalt wie einen Film vorstellt (K, Interviewaussagen-ID 279), eine weitere, dass sie die Metapher einer Bühne benutzt, auf der sie „erst mal alles hinsetzt, dann anfängt zu agieren. Das ist ein sicherer Weg.“ (M2, Interviewaussagen-ID 280). In den Interviews beschreiben die Informantinnen den Einsatz dieser Strategie lediglich für die Sprachproduktion. Die Laut-Denk-Experimente zeigen jedoch, dass die Strategie auch zum besseren Verständnis von DGS- Textpassagen eingesetzt wird. Sowohl bei der Rezeption von Wegbeschreibungen als auch von der Beschreibung der räumlichen Anordnung von Zimmern in einem Stockwerk erklären drei Informantinnen, dass sie versuchen, sich ein mentales Bild von der beschriebenen Szenerie zu machen; sie bemühen sich, ein ganzheitliches Bild der Wegstrecke bzw. der Raumaufteilung auf einer Etage ähnlich eines Stadtplans bzw. einer Grundrissskizze zu imaginieren - und nicht nur einzelne Sätze bruchstückhaft und unabhängig von der beschriebenen Szene zu verstehen. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Lerner (gebärden-) sprachliche Probleme mit konkret-anschaulichen Mitteln bearbeiten, ist die Strategie Analogon „Landkarte“ herstellen (ID 93). Diese Strategie tritt ebenfalls im Kontext von Wegbeschreibungen im Laut-Denk-Experiment auf. Beim Bearbeiten der Lektion aus „Die Firma 2“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2003) sollen die Lernerinnen die Beschreibung eines Streckenverlaufs (bspw. „vom Büro zur Post“) verstehen. Eine mögliche Ausdrucksform für eine solche Wegbeschreibung ist in DGS die Beschreibung in der vertikalen Perspektive (vgl. Kapitel 9.2.4 „Erhebung II: Laut-Denk-Experimente zur Ermittlung und Verifizierung von Lernstrategien“). Dabei wird die Wegstrekke ähnlich einer an einer Wand hängenden Straßen- oder Landkarte beschrieben: Der Gebärdende gibt die Straßenverhältnisse in einer analogen räumlichen Darstellung wieder, und zwar in einer vertikalen Ebene vor seinem Körper senkrecht zum Boden. Drei Informantinnen erkennen im Laut- Denk-Experiment die analoge Beziehung zwischen den gebärdensprachenlichen Äußerungen und dem Gegenstand der realen Welt, also einer Straßenkarte oder einem Stadtplan 17 . Diese Analogie hilft ihnen, die DGS-Äuße- 17 S. Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 28: 06: 21- 00: 28: 29: 23; Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 19: 11: 02- 00: 19: 17: 24, 00: 20: 23: 01- 00: 20: 29: 05; Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 09: 31: 12- 00: 09: 33: 12. 247 <?page no="260"?> rung in ein ihnen bekanntes Format - eine (Landbzw. Straßen-) Karte - zu übersetzen und so die Äußerung besser zu verstehen. Dies wird bspw. auch in der folgenden Äußerung von K im Interview deutlich: K: „Oder auch… wo ich lange gebraucht habe, ist, dass man Landkarten kippt. Dass Landkarten nicht so beschrieben werden, wie man normalerweise draufguckt (gebärdet: Kl-EBENE-horizontal), sondern dass man sie einfach hochklappt (gebärdet eine Kipp-Bewegung von horizontaler in vertikale Ebene) und dann beschreibt (V nickt). … Das fand ich… Ja, also, erst ganz ungewöhnlich. Konnte ich mich lange nicht mit anfreunden.“ Ch: „Das heißt, es hat Dir… Also, im Kurs wurde das gezeigt, sozusagen? So und so…“ K: „Es wurde gezeigt: So macht man das. Und dann habe ich es noch ein paar mal verkehrt gemacht. Weil es mir… dieses Konzept nicht einleuchtete; bis ich mir dann irgendwann überlegt habe: O.k., es ist wie in der Schule, Du hast diese Wandkarte (gebärdet: WAND). Und _die_ musst Du benutzen. Nicht den Atlas, sondern die Wandkarte. Und als ich das Konzept dann hatte, dann ging’s auch. Aber es hat einfach lange gedauert.“ Ch: „Und das kam aber sozusagen von Dir selber aus? Dass Du Dir überlegt hast eben, die Landkarte…“ K: „Ja, genau. Also, das war so: Ich bin korrigiert worden, dass man eben nicht in dieser Ebene (gebärdet: Kl-EBENE-horizontal), sondern in dieser Ebene (gebärdet: Kl-EBENE-vertikal) beschreibt. Und dann habe ich mir selber eben so eine Eselsbrücke gebaut, dass ich eben diese Karte nehmen muss.“ (Interviewaussagen-ID 309) Gerade die Rezeption von Wegbeschreibungen ist es auch, die den Einsatz einer Strategie provoziert, bei der der regressive Aspekt des konkretanschaulichen Niveaus besonders gut zum Ausdruck kommt: Die Beschreibung von räumlichen Verhältnissen erfolgt in der DGS jeweils aus der Perspektive des Gebärdenden, d.h. dass der Adressat das Rezipierte mental um 180° „umdrehen“ und in die eigene Perspektive versetzen muss, um den Inhalt richtig zu verstehen (vgl. Kapitel 9.2.4 „Erhebung II: Laut-Denk-Experimente zur Ermittlung und Verifizierung von Lernstrategien“). Dies stellt eine besonders hohe kognitive Anforderung dar, und den meisten Lernern bereitet diese mentale Rotation Schwierigkeiten. Eine Strategie zur Überwindung dieser Schwierigkeiten besteht darin, dass sich die Lerner physisch in die Perspektive des Gebärdenden begeben, indem sie den eigenen Oberkörper um etwa 90° drehen (Oberkörper drehen (um die Perspektive des Gebärdenden einzunehmen) (ID 109)). In dieser Position imitieren sie 248 <?page no="261"?> die gebärdende Person (meist simultan), um die Beschreibung nachvollziehen zu können 18 . Den Lernern gelingt also die mentale Rotation ad hoc nicht, sondern sie benötigen ein kleinschrittigeres, anschaulicheres Vorgehen, um das Problem zu lösen: Sie nehmen physisch die Perspektive des Gebärdenden ein, imitieren seine Gebärden und erhalten so die Informationen darüber, wie die Beschreibung in ihrer Perspektive aussehen muss. Im Laut-Denk-Experiment greifen vier der sechs Informantinnen auf diese Strategie zurück. Teilweise gelingt es den Lernerinnen auch nicht, diese Strategie simultan zum laufenden Film zu verwenden; vielmehr stoppen sie den Film und imitieren die Haltung des Gebärdenden auf dem Standbild. Die Eliminierung der Bewegung erleichtert die Imitation zusätzlich (z.B. A3 im Transkript Laut-Denk_A3) 19 . 18 Um sich vollständig in die physische Position des Gebärdenden zu begeben, müssten sich die Lerner um 180° drehen; da sie dann den Gebärdenden jedoch nicht mehr sehen könnten, wird die Drehung nicht vollendet. 19 Eng damit verbunden ist der bewusste Vorsatz bzw. die Konzentration darauf, die Gebärden nicht spiegelsymmetrisch zu reproduzieren, sondern sie um 180° zu drehen und damit angemessen in die eigene Perspektive zu bringen (Strategien „sich klarmachen und darauf konzentrieren: nicht spiegeln, sondern um 180° in die eigene Perspektive drehen“, ID 121). Diese Strategie ist jedoch eher den metakognitiven Strategien zuzurechnen: Hierbei wurde die zielsprachliche Regel erkannt und - quasi in einer metakognitiven Anstrengung - die Aufmerksamkeit auf die Befolgung dieser Regel gelenkt. Abb. 37: Informantin A3, die ihren Oberkörper um etwa 90° dreht, auf den Film sieht und die Gebärden des Tutors imitiert 249 <?page no="262"?> Eine weitere Strategie des konkret-anschaulichen Niveaus hängt mit der mentalen Rotationsleistung zusammen und besteht - wie eben angedeutet - in der Imitation des Gebärdenden (ohne die Drehung des Oberkörpers). Das Imitieren kann (wie auf dem sensomotorischen Niveau) simultan zur Betrachtung des Gebärdenden im Film oder zeitversetzt dazu geschehen 20 ; es kann physisch-konkret oder mental sein 21 (hierunter fallen entsprechend die Strategien zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94), zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19), mentales Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 92)). Sehr häufig dient das Imitieren dazu, die Motorik zu trainieren oder sich Lexeme und Strukturen einzuprägen und zu festigen; damit ist es nicht dem konkret-anschaulichen, sondern dem sensomotorischen Denkniveau zuzuordnen. Jedoch wird diese Strategie auch eingesetzt, um eine rezipierte Äußerung in die eigene Perspektive zu transformieren. In den Experimenten geschieht dies bei der gebärdensprachlichen Beschreibung von räumlichen Verhältnissen. In diesen Fällen machen die Lerner die Gebärden der Person im Film nach, erkennen dann die räumliche (Teil-) Konstellation in ihrer Perspektive und ordnen diese z.T. in ein Gesamtbild ein. Informantin M3 beschreibt dieses Vorgehen: „Ich denke… Also, ich habe durch… durch die… durch das Nachvollziehen der Gebärden sozusagen versucht, es in meine Perspektive zu bringen. Und dadurch… Um dadurch dieses Bild malen zu können.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 33: 25: 23- 00: 33: 37: 17) Auch in diesen Fällen gelingt es den Lernerinnen also nicht, die gebärdensprachlichen Äußerungen im Film ohne den Rückgriff auf eine Zwischenstufe zu verstehen. Erst indem sie selbst die Gebärden imitieren, kön- 20 Das zu einer rezipierten Äußerung simultane Imitieren ist insofern nur bei Gebärdensprachen sinnvoll möglich, als - bedingt durch die visuelle Modalität - die eigene Produktion das Vorbild nicht überlagert (wie beim Sprechen). Nachteilig ist, dass der Lerner seine Gebärden nicht selbst sehen und seinen eigenen Output daher nicht kontrollieren kann. 21 Dass die Informantinnen manchmal das Rezipierte quasi im Geiste nachgebärden, wird entweder aus ihren späteren Äußerungen deutlich wie z.B. bei M3; sie bemerkt: „Ähm… ich… also… Ich merk, dass ich, wenn ich mir das angucke, das zum Teil innerlich - oder so halb - in kleinen Bewegungen ein bisschen wiederhole.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 17: 56: 17-00: 18: 07: 10); und sie antwortet auf die Frage, warum sie innegehalten und die Augen geschlossen habe: „Ähm… Also… ich bin mir nicht ganz sicher. Wahrscheinlich habe ich versucht, tatsächlich der Wegbeschreibung zu folgen.“ (tc 00: 32: 26: 18-00: 32: 38: 13). Bei Informantin B wird aus ihren sehr kurz und verhalten angedeuteten Bewegung sichtbar, dass sie gerade gedanklich die rezipierten Gebärden rekapituliert (z.B. Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 36: 27: 02-00: 36: 35: 08, 00: 51: 34: 12-00: 51: 43: 21). 250 <?page no="263"?> nen sie erkennen, wie die beschriebene räumliche Anordnung von Objekten ist 22 . Eine Mischung aus den soeben beschriebenen Strategien setzt Informantin A3 bei der Rezeption der zweiten Wegbeschreibung im Dialog des Laut- Denk-Experiments ein. Im Dialog der Lektion wird derselbe Weg aus zwei Perspektiven beschrieben: zuerst aus der vertikalen, und dann von einer anderen Person aus der horizontalen Perspektive. A3 ist die einzige Lernerin, die wirklich versucht, Bezüge zwischen diesen beiden Versionen herzustellen. Während die anderen Informantinnen jede Wegbeschreibung eher als isolierten Text rezipieren, versucht A3 die Beschreibung, die sie im ersten Text verstanden (und sich gemerkt) hat, in der zweiten Beschreibung wiederzuerkennen. Dabei greift sie auf veranschaulichende Mittel zurück: Nachdem sie den Film angeschaut und kurz die Glossenumschrift gelesen hat, versucht sie nachzuvollziehen, wo auf der Wegstrecke sie sich befindet. Dafür „baut“ sie gleichsam ein Modell mit ihren Händen, das sie selbst als Fahrerin (bzw. ihre Blickrichtung) und das Auto, in dem sie sich imaginär befindet, repräsentiert. In dem Versuch, sich in die zweite (die „Autofahrer- Perspektive“) hineinzuversetzen, verwendet sie eine Mischung aus Gesten und Gebärden 23 : A3: „Ja. Ich bin hier. Das ist so (bringt die Hände in eine Position, die die Ausrichtung des Autos auf der Kreuzung wiedergeben soll). Ich muss wirklich so vorstellen: O.k., ich bin hier. Das sind meine Augen. (legt ihre nicht-dominante V-Hand als Vertreter für ihre Blickrichtung auf ihre „Auto-Hand“; lacht) Jetzt fahre ich so („fährt“ mit ihrer Auto-Augen-Konstruktion „um die Ecke“). Also wirklich, ich muss es irgendwie so… mit Gewalt das um… umzerren.“ Ch: „Das heißt, Du versuchst Dich jetzt in Heiko [den Tutor im Film, C.M.] reinzuversetzen? Oder…“ A3: „Nein, ich versuche jetzt, mit Heikos Wissen… oder mit seinen Augen, was er gebärdet, was ich sehen würde, als Autofahrer, in die Zeichnung von Renate 24 mich hineinversetzen. So.“ Ch: „Ah. Hm, hm.“ A3: „Und das… passt nicht… na ja, nicht passt, sondern das ähm… ist ein bisschen schwierig für mich, selber. Deswegen muss ich SO machen (nimmt wieder 22 In Kombination mit dieser Strategie des Imitierens tritt häufig auch das wiederholte Abspielen der jeweiligen Filmsequenz auf; außerdem wird z.T. auch die Zeitlupenfunktion aktiviert, um mehr Zeit zu haben, die Gebärden nachzuahmen. 23 Die Hand, die das Auto repräsentieren soll, ist nicht die entsprechende Gebärde: Die Handflächenorientierung ist nach oben ausgerichtet, so dass es sich m.E. um eine Geste handelt. 24 A3 meint die „Zeichnung“, d.h. das mentale Bild, das sie sich zuvor von der ersten Wegstrecke im Kopf gemacht hat. 251 <?page no="264"?> ihre manuelle Auto-Augen-Konstruktion ein).“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 57: 49: 22-00: 58: 28: 10) Die in all diesen Strategien beschriebenen Rückgriffe auf konkret-anschauliche Mittel sind durchaus unterschiedlicher Natur: Zum Teil werden physikalische Hilfsmittel benutzt, um Informationen anschaulicher zu gestalten. Diese können zum einen in externen, körperfremden Medien bestehen (bei den Strategien Grafik erstellen und Notizentechnik, aufschreiben, Glossen, zeichnen); zum anderen werden aber auch die zur Artikulation eingesetzten Hände bzw. der Oberkörper eingesetzt, um gebärdensprachliche Informationen so zu transformieren, dass sie für den Lerner verständlich werden (bei den Strategien Imitation und Oberkörper drehen (um die Perspektive des Gebärdenden einzunehmen)). Neben diesen konkreten, real fassbaren Mitteln werden jedoch auch mentale Bezüge hergestellt, die der Veranschaulichung von abstrakten, sprachlichen Informationen dienen. Diese bestehen in den vorliegenden Daten aus Relationen zwischen einzelnen Gebärden und Objekten der realen Welt (bei der Strategie Eselsbrücken bauen), zwischen längeren gebärdensprachlichen Äußerungen und der realen Welt (bei der Strategie „sich ein Bild vor Augen halten“: von einer darzustellenden Person (Verhalten, Aussehen, Mimik etc.) und/ oder einer Situation (Bühne)) sowie zwischen sprachlichen Konzepten und Erfahrungen aus der realen Welt (Strategie Analogon „Landkarte“ herstellen). 11.4 Strategien auf dem formal-abstrakten Niveau Die in der Arbeit erhobenen Lernstrategien, die sich dem formal-abstrakten Denkniveau zuordnen lassen, werden im Folgenden gemäß den ihnen zugrunde liegenden Heurismen und Operationen geordnet dargestellt 25 . 11.4.1 Analogiebildung Die Strategie Eselsbrücken bauen (ID 8) wurde bereits bei den Strategien des konkret-anschaulichen Niveaus beschrieben. Diese Einordnung bezog sich auf solche Analogiebildungen, bei denen eine Relation zwischen Gebärden und Objekten der realen Welt aufgrund ikonischer Merkmale hergestellt wird. Werden jedoch Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gebär- 25 Die Strategien, denen durchaus solche Operationen zugrunde liegen, die aber den metakognitiven Strategien zuzurechnen sind, werden in Kapitel 12 „Klassifizierung metakognitiver Lernstrategien“ beschrieben, die, die den Kompensationsstrategien zugeordnet wurden, in Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“ und Kapitel 15.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachrezeption eingesetzt werden“. 252 <?page no="265"?> den hergestellt wie es bei der Nutzung von Formähnlichkeiten bzw. Formgleichheiten zu anderen bekannten Gebärden der Fall ist, handelt es sich um eine rein sprachliche Relation. In diesen Fällen findet keine Veranschaulichung in dem Sinn statt, dass der Lerner die bildhafte Relation zwischen Gebärde und Referenzobjekt nutzt. Bei einer Analogiebildung zwischen Gebärden bzw. zwischen Parametern von Gebärden geht es vielmehr ausschließlich um sprachlich-abstrakte Aspekte 26 . In den Laut-Denk-Experimenten treten zwei Vorkommen dieser Strategie auf: In einem Fall setzt Informantin F, die Namensgebärde von Jean Massieu 27 zu einer anderen, ihr bekannten Gebärde in Bezug. Sie bemerkt: „Vielleicht war der so besonders reich oder hat viel Geld ausgegeben? “ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 29: 29: 01-00: 29: 32: 24) Damit stellt F implizit eine Beziehung zwischen der Namensgebärde MASSIEU und der Gebärde REICH her, die sich entfernt ähneln. Das zweite Vorkommen äußert Informantin A3, die ebenfalls eine Formähnlichkeitsbeziehung zwischen einer Namensgebärde und einer anderen ihr bekannten Gebärde herstellt. Außerdem bestätigt sie ihre Aussage aus dem Interview, dass sie Ähnlichkeitsbezüge zwischen Gebärden bei der Notation von Gebärden nutzt: „Ich habe das (gebärdet: KRUSE 28 ) gesehen, und gedacht: O.k., das ist so ein bisschen als NOVEMBER. Also, sieht ein bisschen so aus. Das… das merke ich… ähm… das mache ich immer. Wenn ich… neue Gebärden habe, und irgendeine alte Gebärde… ähm… kann, die ungefähr so aussieht, oder… Wenn ich… neue Gebärden habe, und irgendeine alte Gebärde… ähm… kann, die ungefähr so aussieht, oder… ähm… ja… in… in der Bewegung den gleichen Teil hat, oder so was, dann schreibe ich immer so auf, sozusagen: ‚in Bewegung gleich November‘, oder: ‚in Handstellung gleich November‘ oder so.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 37: 43: 14-01: 38: 09: 01) In der Tat sind Handform, Handstellung und Ausführungsstelle der Gebärden KRUSE und NOVEMBER sehr ähnlich; lediglich die Ausführung der Bewegung weicht geringfügig ab. 26 Diese Strategie kann als Entsprechung zwischen Analogien klangverwandter Wörter bei Lautsprachen interpretiert werden. 27 Jean Massieu (*1772 †1846), selbst gehörlos, arbeitete von 1790 bis ca. 1822 als Lehrer an der damaligen Gehörlosenschule in Paris. 28 Otto Friedrich Kruse (*1801 †1880), selbst gehörlos, war von 1817-1872 Lehrer an den Gehörlosenschulen Bremen und Schleswig sowie Privatlehrer in Altona. Er setzte sich vehement für die bilinguale Unterrichtsmethode in der Erziehung und Bildung Gehörloser ein. Dies sowie die Erfahrungen aus seinen Besuchen verschiedener Gehörlosenschulen in Europa kam u.a. in seinen Veröffentlichungen zum Ausdruck. Kruse erhielt mehrere Ehrungen, darunter 1878 den Ehrendoktortitel des Gallaudet College in Washington, D.C/ USA und Auszeichnungen der dänischen, schwedischen, deutschen und belgischen Regierungen. 253 <?page no="266"?> Ein Beispiel, bei dem die Lernerin nicht „nur“ eine Analogie zwischen Gebärde und Referenzobjekt herstellt, sondern die Analogie tatsächlich bei der Sprachproduktion explizit nutzt, findet sich in einem Experte-Novize- Experiment. Hier versucht die Informantin, über eine Analogie eine ihre entfallene Vokabel, TEXAS, abzurufen: Da sie weiß, dass einer von George W. Bushs Gebärdennamen formgleich zu der Gebärde TEXAS ist, versucht sie, sich Bushs Gebärdennamen ins Gedächtnis zu rufen, um so auf ‚Texas’ schließen zu können (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 25: 19: 05). Diese Strategie ist letztlich erfolgreich: In ihrer DGS-Version des Artikels „Ende eines Zeitalters“ benutzt sie dann eine Gebärde, die sehr ähnlich zu der Gebärde TEXAS ist 29 . Das Bilden von solchen Analogien wird von den Lernerinnen - wie von Informantin A3 beschrieben - häufig bei der Notation von Vokabeln eingesetzt (Notizen machen (ID 25)): Zu lernende Gebärden werden als formgleich- oder -ähnlich zu anderen, bereits bekannten Gebärden notiert (Interviewaussagen-ID 8, 85, 90, 91, 191, 262). 11.4.2 Zergliedern Eine Strategie, bei der der Lerner sich mit den Beziehungen zwischen Teil und Ganzem beschäftigt, ist, wenn er bei der Arbeit mit Texten zunächst einzelne Abschnitte nacheinander bearbeitet und dann den Text noch einmal im Zusammenhang ansieht (ID 122). Informantin A3 be- 29 Letztlich lässt sich diese Gebärde auf das Ziehen von Pistolen zurückführen; es besteht also ein ikonisches Verhältnis zwischen der Gebärde TEXAS und Objekten bzw. Verhalten in der realen Welt. Abb. 38: Gebärde TEXAS 254 <?page no="267"?> schreibt im Laut-Denk-Experiment diese Vorgehensweise (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 19: 50: 08-01: 20: 40: 06). Im Experiment geht A3 zwar nicht auf diese Weise vor, sie weiß aber um diese Strategie, die der Erfassung der inhaltlichen Zusammenhänge dient: Auf diese Weise können Relationen zwischen den einzelnen Informationen des Textes hergestellt und dessen Gesamtaussage erfasst werden. Diese Strategie entspricht dem versatilen Stil nach Pask (1976), der sowohl holistische als auch serialistische Elemente enthält: Der Lerner ist in der Lage, sowohl einzelne Abschnitt eines Textes zu analysieren, als auch Bezüge zwischen diesen herzustellen und so ein Verständnis der Gesamtaussage zu erreichen. Dieses Bemühen um das Gesamtverständnis kennzeichnet Lerner mit einem deep approach nach Marton und Säljö (1976; diese beiden Ansätze wurden in Kapitel 8.7 „Zum Stilkonstrukt verwandte Konstrukte“ beschrieben). Diese Strategie, von der auch vorstellbar ist, dass sie der Überprüfung des Erlernten dient, setzt A3 nach eigener Aussage zur Memorierung der neu erworbenen Kenntnisse ein: „Sondern es ist viel besser für die Übung, dass ich zuerst… also richtig das auseinanderlege und nachher… in dem, mit dem Bewusstsein oder mit dem Kenntnis der Vokabeln und so ein bisschen auch Grammatik noch mal das mir anschaue und einprägen kann.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 20: 11: 20- 01: 20: 28: 09) 11.4.3 Erfassen der Eigenschaften Strategien, bei denen die Lernerinnen Objekte in ihre Einzelbestandteile zerlegen um diese genauer zu betrachten, sind folgende: Das Analysieren der phonologischen Struktur einer Gebärde nennen die Informantinnen als eine Handlung, die ihnen dabei hilft, sich eine Gebärde einzuprägen (ID 27). Diese Strategie wird im Zusammenhang mit dem Notieren von Vokabeln genannt: Das Aufschreiben von Gebärden mit HamNoSys 30 erzwingt quasi eine phonologische Analyse, da durch das Notationssystem die einzelnen Parameter einer Gebärde festgehalten werden: Ein Handzeichen wird in seine phonologischen Bestandteile Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung zerlegt, und diese Elemente werden in der Notation festgehalten. Das Notieren dient zwar in erster Linie dazu, ein Vokabelverzeichnis zu erstellen (s. Kapitel 12.1.3 „Regulierung“); zwei Informantinnen bemerken jedoch in den Interviews, dass sie 30 Das Hamburger Notationssystem (HamNoSys) ist ein wissenschaftliches Notationssystem für die Verschriftlichung von Gebärden. Hierin werden Handzeichen als eine Kombination aus der Handform, der Handstellung, der Ausführungsstelle und der Bewegung festgehalten. Symbole für diese Bestandteile werden in einer festgelegten Syntax notiert. Vor allem seit der Version 4.0. ist auch die Notation von Mimik und Mundgestik z.T. möglich. Für genauere Informationen s. http: / / www.sign-lang.unihamburg.de/ Projekte/ HamNoSys/ default.html. 255 <?page no="268"?> sich durch diese Analyse die Gebärden besser merken können (ID 7,133, 136; s. Kapitel 13.2 „Memorierung“). Die Zielsprache wird jedoch nicht nur auf der phonologischen Ebene analysiert: Die Informantinnen A3 und S nutzen im Laut-Denk-Experiment einige Male die Glossenumschrift des Programms, um den Satzaufbau der DGS-Äußerungen nachzuvollziehen und zu analysieren (Glossenumschrift zur Syntaxanalyse nutzen (ID 158)). Sie betrachten insbesondere die Reihenfolge der Satzlemente (z.B. Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 58: 30: 15- 01: 58: 54: 23, Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 26: 00: 11-00: 26: 15: 02). Der lineare Glossentext bietet sich besonders dafür an, da er im Gegensatz zum Film nicht flüchtig ist: Die Bestandteile von Sätzen können auf diese Weise leichter betrachtet werden als durch das Ansehen des Films. Da die Glossenumschrift jedoch aus didaktischen Gründen sehr einfach gehalten ist, können den Glossen Informationen vor allem zu topographischen Angaben im Gebärdenraum so gut wie nicht entnommen werden. Daher eignet sich die Glossenumschrift weniger dazu, solcherlei Zusammenhänge zu verstehen. Informantin S hat dies erkannt; sie beschreibt ihr Vorgehen beim Bearbeiten der Lektion: „Und… weil ich jetzt nicht noch mal den ganzen Film schauen will, … gehe ich jetzt da runter (Zeige-Geste auf die Glossenumschrift). Nehm’ ich das zum Lesen. […] Genau. Jetzt merke ich auch, wann ich das brauche. Ich brauch das nicht, wenn’s um einen ganzen …INHALT geht. Wie vorher, ging’s ja darum, das zu beschreiben. Sondern mehr: So jetzt kurz mal schnell. Die… ein… ein kurzer Satz, der Satzaufbau.“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 20: 19: 01-00: 20: 40: 24) Die Identifizierung von Problemen (ID 12) wird in einigen Modellen als Lernstrategie angesehen. O’Malley und Chamot (1990) bspw. definieren das Identifizieren von Problemen als „explicitly identifying the central point needing resolution in a task or identifying an aspect of the task that hinders its successful completion“ (S. 137). Die Formulierung einer solchen Strategie ist m.E. problematisch. Zum einen ist es nicht selten schwierig zu bewerten, was als Problem, als „central point“, zu bewerten ist. Für den Lerner kann bei der Rezeption eines Textes auch das Nicht-Verstehen einer einzelnen Gebärde ein zentrales Problem sein, wenn es ihm den Zugang zum Inhalt des Textes verwehrt. Zum anderen kann mit dieser Strategie nicht gemeint sein, dass jegliches Erkennen einer Schwierigkeit bereits als strategisches Handeln eingestuft wird. M.E. ist entscheidend, dass der Lerner erkennt, dass ein Problem besteht und sich aktiv auf die Suche nach der Art des Problems und möglichen Lösungen macht. Lediglich die Erkenntnis, dass eine Schwierigkeit oder ein Problem besteht und der Lerner „nicht weiter kommt“, ist nicht als strategische Handlung anzusehen, da hier keine Intention besteht, das Problem zu lösen. Ein wesentlicher Teil dieser Strategie ist also die Analyse der Situation mit dem Ziel, das Problem, das die Erreichung eines Ziels behindert, zu beseitigen: Der Lerner nimmt sich vor, Faktoren im komplexen Geschehen zu identifizieren, um sie isolieren und er- 256 <?page no="269"?> klären zu können, um sie modifizieren und an der entsprechenden Stelle intervenieren zu können. Im Interview können die Informantinnen häufig ihre Schwierigkeiten benennen. In dieser reflektiven Situation ist ihnen aber natürlich nicht konkret an der Lösung dieser Probleme gelegen, sondern sie beschreiben sie nur. Diese Äußerungen sind daher i.d.R. nicht als strategische Handlungen anzusehen. Allerdings kommt auch zum Ausdruck, dass sich die Informantinnen z.T. der Tatsache bewusst sind, dass sich ihnen durch die Identifizierung von Problemen die Möglichkeit zur deren Analyse und zur Lösung des Problems bietet. Bspw. bemerkt A3: „Oder, ich würde sagen, durch das Üben wird Dir bewusst, dass Du so ein Problem hast. Oder, dass es so schwierig ist. Und dadurch kommst Du auch zur Lösung besser.“ (Interviewaussagen-ID 139) In den Laut-Denk-Experimenten sind die Mehrzahl der Fälle, in denen die Informantinnen ein Problem identifizieren, solche, in denen sie (immerhin) eine Schwierigkeit feststellen; diese Feststellung ermöglicht ihnen, an ihren Schwächen zu arbeiten oder Fehler nicht zu wiederholen. Ein Beispiel hierfür ist die Äußerung von Informantin F. Sie erkennt, dass sie eine Gebärde noch nicht sicher beherrscht: „Aber Abbé-de-l'Épée nicht. Die Gebärde ist immer noch nicht so ganz bei mir drin, aber…“ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 18: 51: 20-00: 18: 56: 10) Diese Erkenntnis ermöglicht es ihr, spezielle Aufmerksamkeit auf die Verankerung dieser Form im Gedächtnis zu legen. Ein weiteres Beispiel besteht in der Aussage von A3. Sie stellt fest, dass sie noch nicht weiß, nach welchen Regeln Wortbilder in DGS produziert werden: „Das… hm… habe ich für mich noch auch nicht… ähm… ganz hundertprozentig ausgemacht, sozusagen; wenn ich gebärde WOHNEN, … ob ich da wirklich sage: ‚mein Freund WOHNT‘, mit dem Mundbild, oder doch ‚mein Freund WOHNEN‘. Also, das ist noch ein bisschen schwierig für mich; da hänge ich noch… ähm, an… an der deutschen Lautsprache.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 32: 24: 23-00: 32: 53: 02) Informantin B erklärt, dass sie mit dem Verstehen der vertikalen Wegbeschreibung mehr Schwierigkeiten habe als mit dem der horizontalen Beschreibung: „Ich glaube, das hapert denn mehr so an der Wegbeschreibung noch. Also an der Variante, ob vertikal oder… horizontal.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 59: 38: 22- 00: 59: 48: 09) Äußerungen dieser Art führen jedoch zu keinerlei konkreten Konsequenzen bzgl. des weiteren Vorgehens - zumindest nicht im Rahmen des Experiments - und werden daher auch nicht als strategische Handlung bewertet. 257 <?page no="270"?> Im Sinne der o.g. Definition gibt es nur wenige Vorkommen, bei denen die Informantinnen ein Problem erkennen, es analysieren und versuchen, zu einer Lösung zu gelangen. Diese Vorkommen sind meist durch Nachfragen der Verfasserin initiiert, und z.T. ist es nicht eindeutig, ob die Informantinnen diese Überlegungen auch ohne diese Nachfrage angestellt hätten. M3 wird bspw. gefragt, warum sie während der Bearbeitung einer Aufgabe auf einmal ihr Verhalten geändert hat und nicht mehr rechts, sondern links abgebogen ist. Daraufhin benennt sie ihr Problem; dies besteht darin, dass sie meint, nicht eindeutig erkennen zu können, was der Ausgangspunkt des Autos in der Wegbeschreibung ist: „Also, ich find’ da nicht ganz… Er verortet das Auto ja eigentlich nicht… Zumindest sehe ich das nicht. Und das finde ich halt… uneindeutig. “ (Transkript Laut- Denk_M3, tc 00: 58: 20: 12-00: 58: 30: 19) Kurz darauf erkennt sie jedoch, dass die Aussage des Tutors durchaus eindeutig ist. Informantin V kann auf eine ähnliche Frage im Nachhinein benennen, was ihr Problem bei der Bearbeitung einer Übung war: Sie hat „vergessen“, die Anweisung des Tutors um 180° zu drehen und damit in ihre Perspektive zu bringen: „Weil… Das ist so ein Perspektiven-Ding, glaube ich. Wenn er dann… so sagt (gebärdet: STREIFEN-Bewegung-von-oben-nach-unten), … …da geht die Straße ab (gebärdet: STREIFEN-Bewegung-nach-rechts) … Dann denke ich so erst mal, das ist… links (gebärdet: UM-DIE-ECKE-links). Man muss es ja eigentlich drehen (Geste: drehen).“ (Transkript Laut-Denk_V, tc 01: 05: 30: 01- 01: 05: 40: 20) Vor dem Problem der mentalen Rotation steht z.B. auch Informantin F. Sie meint: „Also, ich bilde mir ein, ich hätte den Text verstanden. Und könnte den auch so umsetzen. Nur der Stadtplan passt nicht dazu.“ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 53: 25: 17-00: 53: 33: 21) Im Gegensatz zu V gelangt sie bei dieser speziellen Übung allerdings nicht mehr zu der Einsicht, dass sie die Anweisungen des Tutors fälschlicherweise spiegelbildlich befolgt hat. Da sie die Übung nicht lösen kann, bricht sie sie ab und verschiebt sie auf später - eine eskapistische, aber u.U. zeitökonomische Strategie (tc 00: 54: 58: 11-00: 55: 10: 04). Ein Vorkommen, das nicht durch eine Nachfrage angeregt wird, betrifft weniger ein Problem bzgl. der Zielsprache, sondern eher eine Orientierung hinsichtlich des Lernmaterials: Informantin B hat zunächst Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Stadtplan-Übung. Sie geht davon aus, dass sich die Wegbeschreibung des Tutors nur auf den gezeigte Ausschnitt des Stadtplans bezieht. Diese Annahme verleitet sie dazu, Möglichkeiten zum Abbiegen falsch zu bewerten, weshalb sie nicht ans Ziel gelangt. Die Fehlversuche zeigen ihr, dass ein Problem besteht, was sie nach einer möglichen Ursache suchen lässt. In der Tat kommt B auch auf die Lösung: 258 <?page no="271"?> „Dann… Kann es sein, dass er bei dieser Wegbeschreibung dann erst mal gar nicht von diesem… nur von dem Bild ausgeht, das gegeben ist? “ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 40: 35: 12-00: 40: 47: 04) Die eher geringe Anzahl an Vorkommen dieser Strategie (zehnmal in den Experimenten) erstaunt auf den ersten Blick, da doch die Informantinnen häufig auf „Probleme“ stoßen und sie auf irgendeine Art und Weise bewältigen. Einerseits lässt sich diese geringe Anzahl dadurch erklären, dass diese Strategie eine Reihe anderer, spezifischer Strategien umfasst. Sehr viele Lernstrategien können letztendlich als Maßnahmen verstanden werden, die ein „Problem“ beheben: Bspw. tragen alle der Veranschaulichung dienenden Strategien dazu bei, Informationen so zu gestalten, dass sie für den Lerner besser handhabbar sind. Durch die Differenzierung zwischen Bekanntem und Unbekanntem wird ebenfalls das „Problem“, das Unbekannte, herausgefiltert, und es werden weitere Maßnahmen eingeleitet, um dieses Problem zu beheben (z.B. nachschlagen, eine Filmsequenz erneut anschauen etc.). Auch Strategien, die der Komplexitätsreduktion dienen, helfen dem Lerner dabei, problematische, zu komplexe Strukturen so zu verändern, dass sie besser handhabbar werden. Außerdem wird die geringe Anzahl der Vorkommen dadurch erklärt, dass diese Strategie in enger Ursache-Wirkung-Verbindung zu anderen Strategien steht, die als Folge des Identifizierens von Problemen anzusehen sind. Häufig wird erst durch eine äußere Handlung der Informantinnen klar, dass für sie ein Problem bestand. Durch folgende Strategien kommt z.B. zum Ausdruck, dass die Lernerinnen sich zur Behebung eines Problems genötigt sahen: • Eine Filmsequenz erneut ansehen, weil eine Vokabel nicht verstanden wurde und nun versucht wird, diese aus dem Kontext zu erschließen (Transkript Laut-Denk_F, tc 01: 09: 30: 05- 01: 09: 33: 24). • Eine Filmsequenz erneut ansehen, weil eine Gebärde nicht richtig gesehen wurde, z.B. weil die Gebärde (für den Lerner) zu schnell und ungenau ausgeführt wurde (Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 33: 30: 12- 00: 33: 33: 06). • Eine Filmsequenz erneut ansehen, weil der gesamte Inhalt nicht richtig verstanden wurde (Transkript Laut-Denk_V, tc 01: 08: 40: 21-01: 09: 18: 10). • Versuch-und-Irrtum-Verhalten, weil die Anweisung nicht richtig verstanden wurde (Transkript Laut-Denk_V, tc 01: 09: 19: 03-01: 09: 23: 05). • Sich klarmachen, in welcher Perspektive die Wegbeschreibung erfolgt; dies geschieht, wenn die Lernerinnen nicht mehr wissen, ob der Tutor ihnen den Weg in der horizontalen oder in der vertikalen Perspektive beschreibt; somit besteht ein Problem hinsichtlich der Rezeption, das die Informantinnen dadurch lösen, dass sie explizit die Perspektive analysieren (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 48: 30: 00-00: 48: 44: 14). • Alle Fälle, in denen eine Kompensationsstrategie eingesetzt wird; hier haben die Lernerinnen erkannt, dass aufgrund fehlenden Wissens ein 259 <?page no="272"?> Kommunikationshindernis besteht, und daraufhin versuchen sie, dieses Hindernis zu umgehen bzw. zu kompensieren. • Fehler analysieren; diese Strategie ist ebenfalls eng mit dieser Strategie verknüpft: Wurde ein Problem bzw. ein Fehler erkannt, so ist dessen Analyse und die Korrektur möglich. Eine hypothetische Erklärung dafür, dass die Lernerinnen sprachliche Formen scheinbar so wenig analysieren, besteht darin, dass sie sich davon nicht viel versprechen: Ihnen stehen vergleichsweise wenige Regeln zur Verfügung, auf die sie in einer Analyse zurückgreifen könnten. Bspw. entfallen Regeln bzgl. der Tempusflexion und Trennbarkeit von Verben, der Genuszuweisung und Pluralbildung bei Nomen, der Kasusforderung von Präpositionen, der Komparation von Adjektiven o.Ä. teilweise aufgrund der Sprachstruktur ganz oder weil die Regeln bisher noch nicht (vollständig) bekannt sind. Das wiederholte Betrachten von Textstellen (ID 75) bietet die Möglichkeit, die Zielsprache zu analysieren. Diese Strategie bezeichnet sozusagen ein Verhalten, das eine Zerlegen von Einheiten in kleinere Elemente ermöglicht. In den Laut-Denk-Experimenten sehen sich die Lernerinnen z.T. Filmsequenzen mehrmals an, um die DGS-Äußerungen phonologisch genauer zu analysieren. Teilweise schauen sich die Informantinnen Textstellen wiederholt an, wenn sie den Inhalt bereits verstanden haben, und konzentrieren sich auf die formale Ausführung der Gebärdenbestandteile (Transkript Laut-Denk_A3, tc 02: 02: 43: 04-02: 02: 48: 14, Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 11: 29: 14-00: 11: 36: 23, 00: 36: 10: 24-00: 36: 13: 18, 00: 42: 07: 23-00: 42: 20: 12) 31 . Am häufigsten schauen sich die Informantinnen Textabschnitte erneut oder mehrmals an, um die Sequenz vollständig zu verstehen. Im Interview beschreiben zwei Informantinnen, dass sie, wenn sie Textstellen aus Gebärdensprachfilmen nicht verstehen, diese u.U. „bis zum Umfallen“ wiederholen und ansehen (Interviewaussagen-ID 218, 290). Dies tun die Lernerinnen auch in den Laut-Denk-Experimenten (z.B. Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 16: 35: 20-01: 16: 58: 17). Das Verstehen scheitert bei den Anfängerinnen z.T. bereits an dem für die Rezipientin zu schnellen Tempo der gebärdeten Äußerungen (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 23: 08: 05-00: 23: 32: 14, Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 19: 47: 16-00: 19: 51: 01). Informantin V erkennt dies mit einer gewissen Ironie der Verzweiflung: „Er [der Tutor im Film, C.M.] sagt zuerst, man soll langsam fahren, und dann gebärdet er ganz schnell. Das ist voll gemein.“ (Transkript Laut-Denk_V, tc 01: 14: 04: 17-01: 14: 28: 18) 31 Häufig an diese Strategie gekoppelt ist das Anschauen eines Film in Zeitlupe (Strategie Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83)). Diese Strategie wird ebenfalls eingesetzt, um die Form einer Gebärde genauer ansehen zu können; vgl. zu diesen beiden Strategien auch Kapitel 11.1 „Strategien auf dem sensomotorischen Niveau“. 260 <?page no="273"?> V muss die Filmsequenzen also wiederholt betrachten, um die Einzelheiten erfassen zu können. Vor allem bei den Film-Passagen mit Wegbeschreibungen sehen sich die Lernerinnen Abschnitte mehrmals an. Auf diese Weise versuchen sie, die Perspektive der beschriebenen räumlichen Verhältnisse zu erfassen: „Das guck ich mir jetzt auch noch mal an. Um die Perspektiven klarzukriegen.“ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 42: 25: 02-00: 42: 32: 18) „Und einfach um vom Kopf her klarzukriegen: Was ist rechts? Was ist links? Und so.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 19: 17: 24-00: 19: 21: 17; außerdem Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 16: 14: 10-00: 16: 33: 12) 11.4.4 Vergleichen Das Nachschlagen (ID 26) kann dem Vergleich von sprachlichen Formen dienen. Diese Vorkommen werden in der vorliegenden Arbeit unter den Strategien „modifizierte Formen vergleichen“ (ID 159) und „Lexeme gegeneinander abgrenzen“ (ID 4) erfasst (s.u.). In diesem Sinne ist das Nachschlagen eine Handlung, die die für eine kognitive Auseinandersetzung notwendigen Informationen über die Zielsprache beschafft 32 . In den Laut-Denk-Experimenten nutzen die Lernerinnen die verschiedenen Funktionen und Inhalte des Programms, um Vokabeln nachzuschlagen. Dazu stehen ihnen prinzipiell mehrere Quellen zur Verfügung: • Im Dialog besteht die Möglichkeit, über eine Glossenumschrift die Zitierformen von Gebärden aufzurufen, die in der Filmsequenz im Kontext vorkommen. • Am Ende jeder Lektion gibt es ein Verzeichnis der in dieser Lektion neu vorgekommenen Vokabeln. • Es gibt eine Liste mit einer Sammlung aller im Programm vorkommenden Glossen. • Ein Wörterbuch bietet die Möglichkeit, nach deutschen Wörtern zu suchen und sich die entsprechende Gebärde anzeigen zu lassen. Informantin A3 grenzt im Laut-Denk-Experiment einige Male mehrere lexikalische Gebärden, die form- oder bedeutungsverwandt sind, voneinander ab (Lexeme gegeneinander abgrenzen (ID 4)). Auf diese Weise verdeutlicht sie sich die Unterschiede zwischen diesen Gebärden. Dabei greift sie auf bereits vorhandenes Wissen zurück und setzt die neu erlernte Form zu diesem Wissen in Beziehung. 32 In den meisten Fällen ist das Nachschlagen allerdings eine Strategie, die der Beschaffung von Informationen dient - ohne dass ein Vergleich von Elementen stattfinden muss. Dann dient das Nachschlagen dazu, Wissenslücken zu schließen und zu kompensieren. Vorkommen dieser Art werden in Kapitel 15.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachrezeption eingesetzt werden“ beschrieben. 261 <?page no="274"?> Beim Durchsehen der Vokabeln der Lektion stößt A3 auf die Gebärde CHAUSSEE. Sie schaut sich den Film an und ruft sich dann formähnliche Gebärden (FLUR, WEG, STRASSE) ins Gedächtnis, die sie gegeneinander abgrenzt. Dabei produziert sie die Gebärden auch. Zur Unterstützung ruft sie das Glossenverzeichnis des Programms auf und schlägt die Gebärde STRASSE nach. Auf diese Weise kann sie die Gebärden CHAUSSEE und STRASSE genau vergleichen 33 . Diese genaue Differenzierung hilft ihr dabei, sich die einzelnen Formen besser zu merken: „Ist das FLUR? Oder WEG? CHAUSSEE… Würde ich ganz gerne jetzt… […] Das würde ich ganz gerne jetzt sehen, wie… ob die Straße hier auch ist (öffnet das allgemeine Glossenverzeichnis). Und wie sie gebärdet wird. […] (öffnet den Eintrag „Straße“ aus dem allgemeinen Vokabelverzeichnis) „Straße“! Ja, super. (schaut den Vokabelfilm) Das ist die STRASSE. O.k. Das ist die STRASSE, Das ist CHAUSSEE. Das ist… das finde ich wichtig zu… vergleichen zu können. Und dann… dann kann ich mir beibehalten das im Kopf. Sonst… weiß ich, wenn ich an der ‚Straße‘ ankomme, weiß ich wieder nicht, wie ‚Chaussee‘ gebärdet wird.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 26: 48: 10-01: 27: 56: 01) 34 33 Die Gebärde CHAUSSEE wird mit einer geraden Bewegung nach vorn, die Gebärde STRASSE mit einer Bewegung aus dem Handgelenk ausgeführt. 34 Üblicherweise wird die unten abgebildete Gebärde mit einer geraden Bewegung nach vorn ausgeführt; da Bewegungen vom Körper weg im Film jedoch schwer zu erkennen sind, führt die Person die Bewegung leicht nach rechts aus. Dies gilt ebenso für die Gebärde STRASSE. Abb. 39: Gebärde CHAUSSEE; Handstellung in der Anfangs- und Endposition 262 <?page no="275"?> Auf ähnliche Weise grenzt A3 die Gebärden LOSGEHEN und WEGGE- HEN voneinander ab, allerdings geht es dieses Mal nicht um Formähnlichkeit, sondern um Bedeutungsverwandtschaft: Im Dialog der Lektion stößt sie auf die Gebärde LOSGEHEN und bemerkt dann , dass sie diese Gebärde häufig mit der Gebärde WEGGEHEN verwechsele (Transkript Laut- Denk_A3, tc 00: 36: 56: 01-00: 37: 18: 09). Sie schlägt jedoch hier die Gebärde WEGGEHEN nicht nach. Abb. 40: Gebärde STRASSE; Handstellung in der Anfangs- und Endposition Abb. 41: Gebärde LOSGEHEN; Handstellung in der Anfangs- und Endposition Abb. 42: Gebärde WEGGEHEN; Handstellung in der Anfangs- und Endposition 263 <?page no="276"?> Zwei weitere Fälle betreffen Homonymie des deutschen Wortes: Als A3 die Gebärde GARTEN im Vokabelverzeichnis sieht, erinnert sie sich, dass sie eine andere Gebärde für ‚Garten’ kenne. Allerdings fällt ihr dann ein, dass die von ihr gemeinte Form die Gebärde für KINDERGARTEN ist (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 34: 24: 22-01: 34: 28: 16). Im zweiten Vorkommen kontrastiert A3 die Gebärden MOMENT und IM-MOMENT (beide werden vom Wortbild ‚moment’ begleitet): Im Dialog sieht sie die Gebärde MOMENT; sie öffnet die Zitierform dieser Gebärde, schaut sich die Form an und fragt sich: „Das ist auch… Wann sagt man MOMENT (gebärdet: MOMENT)? Oder wann sagt man MOMENT (gebärdet: IM-MOMENT)? Aber MOMENT (gebärdet: MO- MENT) wahrscheinlich ‚Moment warten‘. Und… weiß ich nicht.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 37: 34: 20-00: 37: 46: 24) Im Gegensatz zur Strategie „Lexeme gegeneinander abgrenzen“ (ID 4), bei der unterschiedliche Gebärden einander gegenübergestellt werden, geht es bei der Strategie modifizierte Formen vergleichen (ID 159) um den Vergleich von grammatisch modifizierten Formen und Zitierformen. Das Programm bietet - wie beschrieben - mehrere Möglichkeiten, die Zitierformen von Gebärden aufzurufen. Informantin S und vor allem Informantin A3 nutzen diese Zitierform, um sie gezielt mit der Gebärde im Kontext zu vergleichen. „Aber ich finde es sehr… sehr gut, dass… ähm… wenn ich jetzt eine Glosse aufrufe, dass das Bild da bleibt, dass ich das nicht extra - sozusagen - zumachen muss, um die Filme abzuspielen; das finde ich wichtig. Kann man so gut vergleichen. Wenn man etwas nicht weiß.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 09: 34: 17- 00: 09: 54: 02) So ruft S die Zitierform der Gebärde DASSELBE-WIE auf und vergleicht sie mit der Gebärde im Dialog: Während die Zitierform die Gebärde mit einer Bewegung von links nach rechts zeigt, führt die Darstellerin im Dialog die Gebärde mit einer Bewegung von oben nach unten aus (Transkript Abb. 43: Gebärden MOMENT und IM-MOMENT 264 <?page no="277"?> Laut-Denk_S, tc 00: 29: 54: 03-00: 30: 13: 16). Informantin S ist in der Lage, sich diese Differenz selbst zu erklären: Anfangs- und Endpunkt der Bewegung richten sich nach den Loci der beiden Elemente, die gleich („dasselbe“) sind. Da die Person im Dialog von der Aufteilung zweier übereinander liegender Stockwerke spricht, liegen Anfangs- und Endpunkt die Gebärde in diesem Kontext nicht neben-, sondern übereinander 35 . A3 stellt fest, dass sich die Ausführung der Gebärde KENNEN im Dialog von der der Zitierform im Vokabelfilm unterscheidet: „Das ist… zum Beispiel, also KENNEN. O.k., aber in… in dem Zusammenhang ist es natürlich… viel mehr Mimik da (spult den Dialog-Film per Regler zurück an den Anfang). Also… bei… bei dieser Gebärde „kennen“ (schaut sich den entsprechenden Abschnitt aus dem Dialog erneut an). Und dann würde ich sagen irgendwie… ja, also… sieht ein bisschen aus wie ‚erkennen’, oder so was. […] ‚Erkennen’, ja. Na ja, ein bisschen; nach der Mimik. Aber… Es ist natürlich… natürlich klar: Weil hier… beim Glossen… neutral gebärdet wird ohne zusätzlichen Mimi- 35 Diese Orte sind nicht im wörtlichen Sinne „Anfangs- und Endpunke“ der Gebärdenausführung. Vielmehr gibt es eine leichte Pendelbewegung von einer zu anderen Ausführungsstelle. Abb. 44: Gebärde DASSELBE-WIE (Zitierform) Abb. 45: Gebärde DASSELBE-WIE (im Kontext) 265 <?page no="278"?> kausdruck oder irgendwie… diese Körperbewegungen. Und in der Situation natürlich… es hängt von dem ab,… in welchem Zusammenhang das gebracht wird.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 33: 14: 11-00: 34: 03: 15) Während in diesem Fall die Gebärde KENNEN durch ein bestätigendes Kopfnicken und eine entsprechende Mimik modifiziert ist, liegt in den folgenden beiden Vorkommen der Unterschied zwischen der Zitierform einerseits und der Gebärde im Kontext andererseits in der Phonologie: So konstatiert A3 an einer Stelle, dass die Bewegungsrichtung der Gebärde ALLEE im Dialog leicht von der in der Zitierform abweiche 36 (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 25: 16: 24-01: 25: 25: 07). Das zweite Vorkommen betrifft den Handform-Parameter: A3 bemerkt, dass die Person im Dialog bei der Gebärde MUSEUM die U-Handform benutzt, während die Zitierform mit einer V-Handform gezeigt wird 37 . Diese Differenz verunsichert sie, da sie sich nicht sicher ist, ob diese beiden Handformen wirklich Allophone sind: „Ist es wichtig, dass es abgespreizt… ähm, gespreizte Finger sind oder mit Fingern zusammen gebärdet werden soll? Das ist auch manchmal… Also, solche Fragen so, nach Kleinigkeiten. Ist es wichtig, dass Mimik jetzt ein bisschen mehr ist oder ein bisschen weniger? Ist es jetzt wichtig, dass die Hand so steht oder so? (verändert die Stellung des Ellenbogens bei der Gebärde MUSEUM) Das… das fehlt mir. Dieses Wissen. Ob das wirklich so ganz… oder… man kann es einfach als zwei Möglichkeiten betrachten, und egal, wie man es macht.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 00: 53: 47: 18-00: 54: 28: 22) A3 stellt selbst fest, dass sie mit der Phonologie der DGS noch nicht (ausreichend) vertraut ist: Des Öfteren ist sie sich unsicher, ob die leichte Veränderung eines Parameters akzeptabel ist oder ob sie damit die Form der Gebärde „zerstört“. Diese Unsicherheit manifestiert sich u.a. in Aussagen wie folgender: „Ich weiß nicht, ob das wichtig ist (gebärdet: LABYRINTH in schneller, lockerer Ausführung). Ist es jetzt wichtig? … Oder kann ich das einfach so? Darf ich das locker machen (gebärdet: LABYRINTH in schneller, lockerer Ausführung)? Oder hat LABY- RINTH eine bestimmte Form (gebärdet LABYTINTH in langsamer, „eckiger“ Ausführung)? Und eine bestimmte Anzahl von diesen… ja, Schlangenlinien (deutet Schlangenlinien an)." (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 34: 46: 19-01: 35: 02: 12) 36 Außerdem vermutet sie, dass die Person im Dialog die Gebärde mit abgespreiztem Daumen ausgeführt habe, während die Gebärde in der Zitierform mit eingelegtem Daumen ausgeführt werde. Dies trifft jedoch nicht zu: Beide Personen benutzen die Handform mit eingelegtem Daumen („4-Handform“). 37 Im Einführungskurs „Die Firma 1“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2000) wurde darauf geachtet, dass solche phonologischen Unterschiede in den Filmen nicht vorkommen. Ein Ziel des Aufbaukurses „Die Firma 2“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2003) ist es jedoch gerade, den unterschiedlichen Gebärdenstil verschiedener Personen und auch phonologische Unterschiede zu verdeutlichen, weshalb das Programm phonologische Abweichungen dieser Art enthält. 266 <?page no="279"?> Rost (1990) verweist darauf, dass L2-Lerner erhebliche Probleme dabei haben, solche Laute und Lautkombinationen zu identifizieren, die nicht in ihrer L1 vorkommen. Ein Lerner „hört Lautabfolgen zunächst nur vor der Folie seines muttersprachlichen Lautsystems. Dies kann dazu führen, dass distinktive Merkmale von Lauten überhört werden bzw. allophonische Varianten phonemisch interpretiert werden. Die Verarbeitung von Einzellauten und Lautkombinationen erweist sich als schwierig, der Lerner kann wichtige Lexeme nicht identifizieren und damit die Aussage des Sprechers nicht verstehen“ (zitiert in Wolff 2002, S. 269). Der Hörer verfügt zunächst also nicht über die phonologischen Worterkennungsmuster, „d.h. über die auditorische Wortdetektoren, die den Prozess der Worterkennung ermöglichen. Diese bilden sich erst nach längerem Umgang mit der zweiten Sprache heraus. Dadurch ist der Prozess der lautlichen Dekodierung von Wörtern zunächst ein sehr bewusster Prozess, der viel Zeit in Anspruch nimmt“ (ebd., S. 270; vgl. die neurologische Erklärung in Kapitel 4 „Neurologische Erklärungen für Schwierigkeiten beim Gebärdensprachlernen“). Eggers (1994) stellt zur Rolle der Informationsdichte rezipierter Äußerungen fest, dass eine hohe Dichte aufgrund einer Überbeanspruchung des Kurzzeitgedächtnisses zu einer verzögerten und unvollständigen Interpretation der lautlichen Repräsentation führt (S. 23). M.E. trifft diese erhöhte Schwierigkeit der Identifizierung von Phonemen ebenso auf L2-Lerner einer Gebärdensprache zu, mit dem Unterschied, dass ihnen das Phoneminventar der Zielsprache (zumindest beim Lernen der ersten Gebärdensprache) zu Beginn gänzlich unbekannt ist. In den Interviews schildern die Informantinnen, dass sie vom Lernen anderer Fremdsprachen gewohnt seien, Wörter und Strukturen der Zielsprache denen der Muttersprache gegenüberzustellen (L2 mit L1 kontrastieren (ID 18) 38 ). Hauptsächlich aufgrund des geringen linguistischen Forschungsstandes und des daraus resultierenden Mangels an kontrastiven Unterrichtsmaterialien und z.T. auch aufgrund der lückenhaften Deutschkenntnisse von Kursleitern ist der Anteil an sprachvergleichendem Unterricht sehr gering. Drei Informantinnen geben an, dass sie diese Kontrastierung von Ausgangs- und Zielsprache häufig vermissten: S: „Mir ist noch etwas eingefallen zu vorher. Zum Vergleich: Lautsprache lernen, Gebärdensprache lernen. Ich habe so in einem VHS-Kurs das zu lernen begonnen… mit gehörlosen Lehrern, logisch. Also wurde immer in Mutterspr… Gebärdensprache, Muttersprache gesprochen. Und niemand hat mir diese… Kontrastive… aufgezeigt, wie das eigentlich funktioniert. Und jetzt auch hier. Und damit habe ich… das hat mir im Englischen und in Französisch sehr geholfen, … gezeigt: So ist der Satzaufbau halt anders. (F nickt) Und… da sehne ich mich so 38 „Kontrastieren“ ist hier nicht nur auf das Analysieren struktureller Unterschiede bezogen, sondern meint allgemein das Gegenüberstellen von sprachlichen Einheiten. 267 <?page no="280"?> drauf, dass mir jemand,… ja, jemand, der die… jemand Hörendes, oder jemand Bilinguales das erklärt, so… ein bisschen.“ S-E: „In DGS? “ S: „Ja, also… Dass eben… Von [nennt den Namen einer Dozentin] habe ich so viel Input gekriegt. Und sie ist ja hörend, beherrscht aber die Gebärdensprache so. Das so erklärt zu bekommen,… eigentlich von meiner Sicht ein bisschen. Wie… den An… Ja, das Herangehen an diese Sprache. Ja, und weniger von einem Gehörlosen. Daneben! Klar, ist das eine wichtig! Oder… der Hauptfaktor. Aber dass das andere auch noch dazu kommt.“ (Interviewaussagen-ID 55) Und Informantin F ergänzt: „Das ist auch so mit ein Aspekt weswegen ich vielleicht so das Gefühl hatte, dass ich in DGS einfach nicht in diese… in dieses Sprachgefühl reinkomme. Weil man eben dieses Kontrastive, … weil man diese logischen Verknüpfungen zwischen den Sprachen nicht hat. Weil man jedes Mal wieder neu überlegen muss: ‚Wie formuliert man das? ‘ Aber das liegt auch daran, dass es einfach linguistik-forschungstechnisch noch nicht so weit ist. Weil… dieses… Es gibt ja ansatzweise kontrastives Material. Aber es ist eben noch nicht bis ins Letzte ausgegoren. Und deshalb hört man auch häufig verschiedene Sachen (S-E nickt): Wenn dann einer kommt - jetzt hatten wir das Beispiel gerade noch im DGS-Unterricht: Da hatten… Einige von uns waren auf dieser Dänemark-Freizeit dabei und haben… und haben bei gehörlosen Jugendlichen DGS-Konversationskurse gehabt. Und die haben dann - fröhlich mal drauf los, und… welches Beispiel… Ach, die Zeitlinien: Und dann, also… Zeitgebärden: Das eine heißt eben: ‚vor drei Wochen‘, das andere heißt ‚drei Wochen früher‘, oder ‚bis vor drei Wochen‘. Dafür gab’s ganz klar Gebärden; das hatten die so festgelegt. Und [nennt den Namen eines Dozenten] sagte dann… Dann kamen die im Unterricht damit an und meinten dann: ‚Ja, das heißt aber das. Und das heißt das.‘ Und [nennt den Namen eines Dozenten] meinte dann: ‚Ja, so genau kann man da aber gar nicht trennen.‘ Und: ‚Das wird unterschiedlich benutzt.‘ Und… man wird dann auch schnell wieder verwirrt. (S-E nickt) Weil: Man denkt: ‚Ja - äh… Ist es nun das? Oder ist es das nicht? Und warum gibt es dafür jetzt keine klare Entsprechung? ‘ Man schwimmt so ein bisschen. Und… man muss praktisch… wie ein Kind in das Sprachgefühl reinrutschen. Man kann es nicht durch dieses Kontrastive lernen. … Also, bei anderen Fremdsprachen, die jetzt linguistisch so weit erforscht sind, da kann man sich das neu aufbauen. Und hier muss man praktisch die Sprache wirklich lernen, als ob man sie gerade… Man muss sie wirklich kopieren und lernen. Und dann durch… durch das ständige Nachmachen merken: ‚Ah, so ist das! ‘ (S-E nickt) Und man kann nicht lernen: ‚Ah, so ist das! ‘ und es dann so anwenden. Das habe ich schon, das Gefühl.“ (Interviewaussagen-ID 56) Auch Informantin A1 spricht sich für kontrastiven Unterricht aus: „Also das finde ich gut! Dadurch kann ich auch Strukturen gut lernen; gerade weil man sie unterscheiden kann.“ (Interviewaussagen-ID 158) Allerdings gibt sie zu bedenken, dass kontrastiver Unterricht vielleicht erst nach einigen Semestern eingesetzt werden sollte; ansonsten könnte das 268 <?page no="281"?> „Eintauchen“ in die neue Sprache, das durch einsprachigen Unterricht gefördert würde, behindert werden. Diese Ansicht äußern auch die Informantinnen A3 (Interviewaussagen-ID 159), K (Interviewaussagen-ID 248) und M2 (Interviewaussagen-ID 249, 324). In den Laut-Denk-Experimenten kontrastieren zwei Informantinnen gelegentlich Strukturen von L1 und L2. Zum Teil stellen die Informantinnen Unterschiede einfach nur fest, zum Teil versuchen sie, sich diese Unterschiede zu erklären. Ein Vergleich, den A3 anstellt, betrifft die Morphologie des Deutschen: Sie stellt fest, dass in der deutschen Übersetzung von einer „Bauleiterin“ die Rede ist und fragt sich, wie dies in DGS gebärdet wird: „Dann, die weibliche Form von ‚Bauleiterin‘. Das… wie sieht das… Ach so, einfach… ‚bau leiten‘, und dann…‚Frau‘.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 07: 24: 07- 00: 07: 34: 23) In einem anderen Fall vergleicht A3 die DGS-(Glossen-)Version mit der deutschen Übersetzung und konstatiert dabei, dass die Gebärde BEREICH nicht wörtlich in der deutschen Übersetzung zu finden sei 39 : „Ja, ‚Bereich‘, o.k. Das… das weiß ich auch noch nicht genau, wie die… Also, zum Beispiel, in den Glossen steht jetzt: ‚wo bereich‘, einfach. Und, ähm… im Dialog würde es heißen auf Deutsch: ‚Wo ist die…? ‘ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 40: 56: 04-00: 41: 17: 18) Ein weiteres Vorkommen betrifft die deutsche, attributiv verwendete feste Wortverbindung „ein bisschen“. Diese Bedeutung wird in DGS in Verbindung mit Verben häufig mimisch ausgedrückt. A3 stellt denn auch fest, dass in einem Dialogabschnitt eine lexikalische Gebärde BISSCHEN vermisse, obwohl in der deutschen Übersetzung davon die Rede sei, „ein bisschen spazieren gehen“ zu wollen. Schließlich kann sich A3 jedoch das Fehlen der Gebärde selbst erklären: „(Liest die deutsche Übersetzung) ‚Ein bisschen‘? Ähm… (sucht im Film die Stelle, wo sie BISSCHEN vermutet) Moment. Ein bisschen weiter. Ich habe ‚ein bisschen‘ nicht gesehen. (sieht sich den Filmabschnitt an; imitiert dabei zeitgleich die Gebärden: ) HUGO+VON-SCHÜTZ+PARK INDEX / MÖCHTEN HEUTE ZUSAMMEN DORTHINGEHEN SPAZIERENGEHEN? Hin spazieren gehen. Ohne ‚bisschen‘. Aber das ist wahrscheinlich nur die angepasste… Übersetzung. Also… es muss nicht unbedingt sein, dass… dass jedes Wort dabei ist. Das ist sozusagen auch in Mimik wahrscheinlich enthalten. Oder irgendwie… im Zusammenhang. Oder aus dem Zusammenhang kann man das erschließen.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 09: 03: 20-01: 09: 53: 10) 39 Im Dialog erkundigt sich die eine Person, wo eine bestimmte Straße zu finden sei und fragt: „WO BEREICH? “ 269 <?page no="282"?> Informantin S vergleicht den unterschiedlichen Satzaufbau: Sie stellt fest, dass ein Satz des Dialoges in der DGS anders konstruiert ist als der deutsche Satz: „Hm, hm. Und das: ‚Im Erdgeschoss gibt es…‘, also im Deutschen… … wird da einfach das jetzt erklärt. Und… und sie… Ja… thematisiert’s erst. Also… ‚Das Erdgeschoss, wie sieht das aus? ‘ (gebärdet: ERDE WIE-SIEHT-AUS)“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 11: 21: 09-) Ähnlich stellt sie fest, dass eine räumliche Angabe im Deutschen lexikalisch gemacht werden muss, während in DGS die Lokalisierung durch die entsprechende Ausnutzung des Gebärdenraums ausgedrückt werden kann: „Aber… sie sagt nicht: ‚auf der linken Seite‘, oder so, sondern verortet das links in ihrem Gebärdenraum.“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 31: 19: 16-00: 31: 26: 19) Auch in zwei anderen Fällen konstatiert S, dass sie Satzelemente der deutschen Sätze nicht in gleicher Form im korrespondierenden DGS-Satz wiederfinde: „Manche Dinge… gebärdet sie gar nicht, die da stehen. Oder… (liest eine Satz der deutschen Übersetzung vor) ‚Zeichne das bitte noch einmal sauber.‘ … (liest die Glossen rechts unten vor) ‚BITTE SAUBER ZEICHNEN‘.“ (Transkript Laut- Denk_S, tc 00: 43: 27: 01-00: 43: 51: 00) „(Liest die deutsche Übersetzung) Ähm… Jetzt habe ich da das ‚für‘ (zeigt auf die entsprechende Textstelle) … Ähm… ‚Skizzen der Binderstraße‘, oder ‚für die Binderstraße‘… (liest die Glossen rechts unten vor) Ah… ‚DU SKIZZE BINDER+STRAßE‘. Schau ich auf die Glossen. Das kommt da nicht…“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 45: 05: 00-00: 45: 14: 06) In den Experte-Novize-Experimenten kommt diese Strategie nicht vor. Es lässt sich feststellen, dass die Informantinnen solche Strukturen einander gegenüberstellen, die in der Ausgangs- und der Zielsprache verschieden sind 40 . Dies betrifft vor allem solche Aspekte, die in DGS nicht lexikalisch, sondern durch nonmanuelle Komponenten oder durch die Verortung im Gebärdenraum ausgedrückt werden. Der gezielte Vergleich hilft ihnen, Unterschiede zu ihrer L1 festzustellen und sich sprachliche Formen der Zielsprache und ihre Funktionsweise zu verdeutlichen. Außerdem bietet ihnen der Abgleich der Zielsprache mit der bekannten L1 die Sicherheit, die Bedeutung in der anderen Sprache wirklich richtig verstanden zu haben. 40 Dabei ist zu vermuten, dass (zumindest diese beiden) Lernerinnen nicht nur auf Unterschiede, sondern auch auf Ähnlichkeiten zwischen L2 und L1 achten. Sie thematisieren jedoch nur die Differenzen, da ihnen bei ähnlichen Strukturen die Transferleistung leichter fällt, oder da ihnen bekannten Strukturen vertraut sind und sie diese nicht neu lernen müssen. 270 <?page no="283"?> 11.4.5 Ordnen Bei Strategien, die sich mit dem Lernen von Vokabeln befassen, spielt häufig die Operation „ordnen“ eine Rolle. Andere Strategien befassen sich mit dem Lernen von Vokabeln. Die Lernerinnen schildern in den Interviews, dass sie verschiedene Maßnahmen ergreifen, um Vokabeln zu memorieren. Dazu gehören folgende Tätigkeiten: Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151), Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163), ein Vokabelheft führen (ID 37) und das Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86). Bei der Beschäftigung mit Vokabeln spielt das jeweilige Ordnungskriterium im Fall von Gebärdensprachen eine nicht unproblematische Rolle. Die Lernerinnen geben an, dass sie die Vokabeln nach verschiedenen Kriterien ordnen: Einige Informantinnen sortieren die Gebärden nach dem lateinischen Alphabet (Interviewaussagen-ID 131, 192) andere nach dem chronologischen Vorkommen im Unterricht (Interviewaussagen-ID 268). Es herrscht jedoch eine gewisse Unzufriedenheit darüber, dass es nicht leicht ist, die Vokabeln „gebärdensprach-immanent“, also bspw. nach Handformen, zu ordnen. M2: „Es ist halt auch einfach ein Problem mit der Benennung, ne? (K nickt) Wie: Was sag ich jetzt dazu? Was für einen schriftsprachlichen Namen gebe ich der Gebärde? Wonach kann ich sie dann klassifizieren? “ Ch: „Na ja, da Du ja jetzt perfekt in HamNoSys bist…“ M2: „Hm… (grinst) Das geht alles nach Handformen.“ Ch: „Ja, ja. (alle lachen) Aber immerhin! “ K: „Ja, also ich finde: Entweder findet man das Wort oder man findet die Gebärde, ne? Also, ich habe kein System gefunden, das so in beide Richtungen funktioniert.“ M2: „Ja, ne? “ (Interviewaussagen-ID 269) Die Arbeit mit solchen „Werkzeugen“ dient der Entwicklung von Fertigkeiten (s. Kapitel 13 „Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren“). 11.4.6 Abstrahieren In den Experimenten finden sich verschiedene Vorkommen, in denen die Lernerinnen Inhalte zusammenfassen oder rekapitulieren (ID 40). Dabei identifizieren sie die wesentlichen Inhalte und eliminieren die unwichtigen Informationen. Diese Vorkommen beziehen sich auf • das Zusammenfassen von grammatikalischen Regeln und Konzepten 271 <?page no="284"?> • das Rekapitulieren der zu fahrenden Strecke in den Übungen der Laut-Denk-Experimente • das Zusammenfassen des Handlungsfadens des zu produzierenden Textes in den Experte-Novize-Experimenten Letzteres ist eher als Produktionsdenn als Lernstrategie zu interpretieren: Nachdem die Lernerinnen (v.a. A3 und A1) sich vorher ausführlich überlegt haben, wie sie den in DGS zu produzierenden Text gebärden wollen, fassen sie den Handlungsfaden mehr oder weniger kurz zusammen (z.B. Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 32: 39: 15-00: 32: 57: 18, tc 00: 34: 09: 00- 00: 34: 49: 15, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 27: 11: 00-00: 27: 20: 16). Die Formulierungen der Informantinnen lassen darauf schließen, dass dieses Vorgehen verschiedenen Zwecken dient: Zum einen wollen sie sich einen Überblick über die Textelemente verschaffen und die Inhalte abschließend in eine angemessene Reihenfolge bringen; zum anderen möchten sie sich jedoch auch der Zustimmung der Partnerin im Experiment versichern. Auch das Rekapitulieren der zu bewältigenden Strecke in den Übungen der Laut-Denk-Experimente ist eher nicht als Lernstrategie einzuschätzen. Hier fassen die Lernerinnen die Anweisungen des Tutors, welche Wegstrecke zu fahren ist, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen, zusammen. Vermutlich tun sie dies in erster Linie, um sich die Strecke zu merken. Teilweise ist jedoch auch zu beobachten, dass die Informantinnen die Gebärden des Tutors rekapitulieren, um die Anweisung in die eigene Perspektive zu bringen und sich zu verdeutlichen, wohin sie fahren müssen. Dabei wiederholen sie z.T. die Gebärden (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 57: 56: 23- 00: 58: 05: 22) oder untermalen die Richtungen („rechts“, „links“) mit Gesten (Transkript Laut-Denk_F, tc 01: 10: 08: 14-01: 10: 10: 14). Eine „echte“ Lernstrategie besteht dagegen im Zusammenfassen von grammatikalischen Regeln: So fasst bspw. Informantin A3 die Regeln zur Anwendung der horizontalen Wegbeschreibung zusammen, die sie in den Erklärungen zur Grammatik der Lektion gelernt hat: „Zuerst haben wir jetzt… ja, so eine Karte, sozusagen. Und die ist besser… für diejenige, die schon ein bisschen sich auskennen. Damit man… ja, die allgemeine Orientierungspunkte bringen kann. Und dann dazu gehören… dann: Straßen, oder… Nee, Straßen nicht. Oder doch? Nee, Straße war einfach. Aber Orientierungspunkte, dazu gehören: Orte… und können auch so Ecken… und… ja, Straßenecken. Genau.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 56: 48: 11-01: 57: 24: 09) Anschließend erklärt sie ihr Vorgehen: A3: „Ich muss immer wieder so… so ein… Ich weiß nicht… … so eine Tabelle mir sozusagen vorstellen. Oder… das immer… aus dem Text heraus… auspressen, und das Wichtigste einfach auf einem Blatt Papier… vielleicht mache ich… Oder… nicht vielleicht: Ich habe das bei… CD 1 immer gemacht, dass ich… Grammatik-Teil konspektiert habe.“ Ch: „Hm. Also noch mal rausgeschrieben, was…“ 272 <?page no="285"?> A3: „Ja. So die wichtigsten… oder… sozusagen, jetzt würde ich die Tabelle machen; dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, es zu machen. Und dann bei jeder Möglichkeit welche Orientierungspunkte; oder was… was kann man für Orientierungspunkte nehmen, und so weiter. Und vielleicht sogar ein Beispiel.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 57: 26: 23-01: 58: 09: 22) A3 hat also bei der Arbeit mit „Die Firma 1“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2000) die (für sie) wesentlichen Erklärungen bzgl. der Grammatik der DGS aus dem Programm extrahiert und z.T. in eine andere Form (eine Tabelle) transformiert. Damit hat sie analysiert, welche Angaben ihr als die wichtigsten erschienen und diese in einer für sie geeigneten Form zusammengefügt. A3 selbst gibt an, dass sie dies tue, um vom Medium Computer unabhängig zu sein: „Dass ich noch mal das auf einem Blatt Papier habe und jederzeit das nachschlagen kann - ohne mir die CD noch mal vorspielen zu müssen.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 58: 10: 11-01: 58: 19: 17) Vermutlich hilft ihr dieses Vorgehen aber auch dabei, die für sie relevanten Informationen aus dem Text herauszufiltern, sie zu verstehen und zueinander und zu ihrem bisherigen Wissen in Beziehung zu setzen. 11.4.7 Verallgemeinern Das Bilden von Hypothesen (ID 11) spielt beim Lernen einer Sprache vor allem dann eine große Rolle, wenn die Zielsprache nur in Anfängen erforscht und dementsprechend wenig explizite Regeln und Kursmaterialien vorhanden sind, wie es im Fall von DGS zutrifft. In einer solchen Situation sind die Lerner in besonderem Maße darauf angewiesen, selbst durch das Bilden von Inferenzen Regeln induktiv zu erschließen. Dies kommt in den Interviews immer wieder zum Ausdruck (Interviewaussagen-ID 43, 44, 76, 77, 127, 129, 154, 161, 162, 172, 277, 278, 283, 284, 286, 288). Informantin A1 schildert dieses Vorgehen: „Also, am ehesten so, dass ich geguckt habe: Wie wird es gemacht? Und dann auch… gerne erst mal mehrere Versionen gesammelt habe; und dann daraus versucht zu sehen: ‚Was ist denn jetzt… Sind die gleich? Oder sind die verschieden? Und welches davon wird in der einen Situation verwendet? Oder irgendwie in dem einen Zusammenhang. Und welches davon in dem anderen? Oder ist es eine Regel? Oder sind es zwei? ‘ Oder so. Und das dann zu… rauszufiltern und dann… ja klar, auszuprobieren, ob es klappt.“ (Interviewausssagen-ID 162) Acht der vierzehn Informantinnen äußern sich ähnlich, z.B. auch Informantin A3; sie beschreibt, dass sie z.T. die Unterrichtsstunden rekapituliert und dabei versucht, durch Vergleichen von Beispielen Regeln zu erschließen: „Ja, dann wiederhole ich das am Ende, die Beispiele, und versuche dann, zu verstehen oder zu begreifen, wie die Regel eigentlich ist. Oder vergleiche ich das mit früheren Beispielen.“ (Interviewaussagen-ID 154) 273 <?page no="286"?> Informantin V bestätigt, dass die Lernerinnen im Unterricht gleichsam mit Beispielen bombardiert werden und meint: „Jaaaa! Zehn für eine Sache. Und dann hat man irgendwann so eine Vorstellung, wie es funktionieren könnte.“ (Interviewaussagen-ID 278) Häufig lasse sich diese Vorstellung allerdings nicht als explizite Regel fassen, sondern resultieren eher in einem diffusen „Sprachgefühl“ (Interviewaussagen-ID 120, 277, 278). Vor allem die Verwendung von Klassifikatorkonstruktionen stellt die Lernerinnen immer wieder vor neue Herausforderungen. Da seitens der Kursleiter allgemeine Regeln über basale Erläuterungen hinaus häufig nicht gegeben werden können, müssen die Lernerinnen durch die Abgrenzung von Beispielen versuchen, die korrekten Verwendungskontexte zu erschließen. Die Aussage von Informantin S verdeutlicht dies. Gefragt, wie sie Klassifikatoren lerne, antwortet sie: „Einfach Beispiele suchen. […], dann habe ich mit verschiedenen Beispielen versucht (gebärdet: AUFLISTEN), irgendwie die von einander abzugrenzen. Am Anfang sind diese Klassifikatoren für mich alle noch so ineinander verschmolzen. Und dann… Ja, dann habe ich mir selber Beispiele gesucht. Und habe dann auch jedes Mal wieder ein Aha-Erlebnis gehabt und so.“ (Interviewaussagen-ID 43 und 44) Als außerdem besonders „schwierig“ und in zu geringem Maße von den Dozenten erklärt sehen die Informantinnen die Verwendung so genannter „Spezialgebärden“ 41 (Interviewaussagen-ID 283), der Gebärde AUF 42 (Interviewaussagen-ID 284), der Gebärde GEWESEN 43 (Interviewaussagen-ID 286) und der Gebärde INDEX (Interviewaussagen-ID 288) an. Bei diesen Gebärden fällt es den Lernerinnen besonders schwer, die richtigen möglichen Anwendungskontexte durch das Vergleichen von Beispielen zu erschließen. 41 „Spezialgebärden“ werden auch idiomatischen Gebärden oder kontextabhängige Gebärden genannt. Diese Gebärden sind selbstverständlich nur aus einer Lernerperspektive „speziell“. Es handelt sich um einzelne Gebärden, die häufig keine 1: 1-Entsprechung im Deutschen haben, sondern bei denen es ein relativ breites Übersetzungsspektrum gibt. Formal zeichnen sich diese Gebärden dadurch aus, dass sie i.d.R. nicht von einem Wortbild, fast immer aber von einer Mundgestik begleitet werden. Diese beiden Eigenschaften von „Spezialgebärden“ sind die Hauptgründe dafür, dass diese Gebärden vergleichweise schwer zu lernen sind: Man muss wissen, in welchen Kontexten die Gebärde benutzt werden darf (wobei dies häufig auch von der Erwartungshaltung des Sprechers abhängt), und es ist kein Wortbild vorhanden, dass die Bedeutung auf einem „Transfer-Weg“ über ein deutsches Wort verdeutlichen würde. 42 Hierbei handelt es sich um eine Gebärde, mit der u.a. Kongruenzbezüge hergestellt werden können. 43 Mit der Gebärde GEWESEN wird ausgedrückt, dass sich etwas in der Vergangenheit abgespielt hat. 274 <?page no="287"?> Meist empfinden die Informantinnen die fehlenden Regeln und den „Zwang“ zu eigenständigem Bilden von Hypothesen als negativ (z.B. Interviewaussagen-ID 60, 75, 160). Informantin J sieht dies jedoch als Vorteil an, da sie auf diese Weise genötigt ist, sich aktiv mit der Sprache auseinanderzusetzen: J: „Echt? Ich glaube, dadurch bin ich eigentlich viel besser in Gebärdensprache reingekommen. Also, am Anfang fand ich das glaube ich auch irgendwie total bescheuert, wenn man: Ja, das ist jetzt Sprachgefühl, und das muss man irgendwie drauf haben. Aber… ich glaube, als ich mich dann nach einiger Zeit daran gewöhnt habe, dass ich mir das einfach über ganz viele Beispiele irgendwie mir selbst klarmachen muss, da konnte ich dann auch viel besser damit umgehen. Und ich glaube, dadurch habe ich das auch eigentlich dann besser behalten, diese Sachen. Oder sie auch viel mehr angenommen, als ich jetzt einfach irgendeine Regeln angenommen hätte.“ Ch: „Dadurch, dass Du die Anwendung in unterschiedlichen Kontexten hattest? “ J: „Ja, und dass ich sie erst mal verstehen musste, für mich, bevor ich sie dann auch im Gespräch selbst benutzen konnte. Und eben nicht dieses: Regel auswendig lernen, und das ist es dann. Ich glaube, ich fand das dann irgendwann ganz gut.“ (Interviewaussagen-ID 76) In den Laut-Denk-Experimenten finden sich einige Vorkommen, bei denen die Lernerinnen Hypothesen bzgl. sprachlicher Formen oder Regeln bilden. Informantin A3 bspw. bildet Hypothesen darüber, wovon der Bewegungsparameter der Gebärde ERFAHRUNG abhängt: Sie versucht sich zu erklären, ob die Hand zwei- oder dreimal Kontakt zur Wange hat, und stellt sich zum einen die Frage, ob die Anzahl der Kontakte überhaupt relevant sei. Darüber hinaus bildet sie jedoch auch die Hypothese, dass die Anzahl vom Kontext oder auch vom Gebärdentempo abhängen könnte: „Das ist wiederum… Ob es wichtig ist, dass es dreimal gemacht wird (gebärdet ERFAHRUNG (dreimal Kontakt mit Wange)) oder zweimal (gebärdet ERFAHRUNG (zweimal Kontakt mit Wange)) oder hängt das damit zusammen, in welcher Situation ich das mache. Ich habe nicht immer die Zeit, ERFAHRUNG, dreimal das zu wiederholen (gebärdet ERFAHRUNG (dreimal Kontakt mit Wange)). Das… ähm… ist auch für mich verwirrend.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 31: 14: 04- 01: 31: 36: 17) A3 sucht also letztlich nach den zielsprachlichen Phonemen. Diese stellen in dem Sinn Abstraktionen dar, dass ein Phonem für eine Gruppe mehrerer phonetisch möglicher Formen steht. Äußerungen solcher Art finden sich viele im Laut-Denk-Experiment mit A3. Sie achtet sehr auf Details, und immer wieder fragt sie sich, ob die Ausführung eines Parameters oder einer Mundgestik genau wie im Film ausgeführt werden muss, oder ob sie auch anders sein könnte. Teilweise stellt sie in diesen Zusammenhängen Hypothesen darüber auf, warum eine Form nicht exakt wie im Film präsentiert 275 <?page no="288"?> gebärdet werden muss (z.B. Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 35: 24: 19- 01: 35: 33: 03). Außerdem bildet A3 eine Hypothese über die Herkunft der Form der Namensgebärde für Abbé de l’Épée. Sie versucht, sich die Handform der zweiten Gebärden zur erklären, die mit einer L-Handform ausgeführt wird, und vermutet: „Vielleicht ist es französisches Fingeralphabet oder so was.“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 24: 41: 00-01: 24: 45: 09) Während diese beiden Vorkommen sich auf einzelne Gebärden beziehen, bildet Informantin S eine Hypothese bzgl. der Raumnutzung (Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 15: 28: 14-01: 15: 37: 03): Sie hat in der von ihr bearbeiteten Lektion gelernt, dass „Räumlichkeiten“ (z.B. ein Büro, eine Arztpraxis, ein Flur oder eine Wohnung) im Gebärdenraum einerseits durch Klassifikatorkonstruktionen lokalisiert werden können, andererseits jedoch auch dadurch, dass die Gebärde direkt an der entsprechenden Stelle im Gebärdenraum loziert wird 44 . S beschäftigt sich, angeregt durch eine Übung der Lektion, mit der Gebärde FLUR. S fragt sich, wie dann die Gebärde GE- RADEAUS ausgeführt werden müsse, wenn man sagen wolle: „den Flur immer geradeaus (entlanggehen)“. Sie stellt die Hypothese auf, dass die Bewegungsrichtung dieser Gebärde immer der Ausrichtung der im Raum verorteten Form folgt (also der Klassifikatorkonstruktion bzw. der direkt im Gebärdenraum lozierten nominalen Gebärde - und nicht der lexikalischen Form). Eine Hypothese, die Informantin A3 aufstellt, betrifft die Gebärde IN- DEX: Sie überlegt, warum in einem Beispielsatz in den Erklärungen zur Grammatik der Lektion - entgegen ihrer Erwartungshaltung - kein INDEX vorkommt; sie kommt zu dem Schluss, dass die Gebärde GEGENÜBER quasi einen INDEX enthalte, und dass es deshalb nicht notwendig sei, noch einen INDEX hinzuzufügen (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 55: 59: 14- 01: 56: 17: 14) 45 . In den Experte-Novize-Experimenten äußern die Informantinnen einige Male Vermutungen bzw. von ihnen gebildete Hypothesen bzgl. verschiedener sprachlicher Formen und Regeln. Dabei greifen sie vermutlich auf Beobachtungen zurück, die ihnen im Kontakt mit der Zielsprache begegnet sind. 44 Dies funktioniert nicht bei Gebärden, deren Ausführungsstelle am Körper verankert ist. 45 Hypothesen bzgl. Lösungen für in den Laut-Denk-Experimenten zu bearbeitende Aufgaben werden nicht als Vorkommen gewertet. In diesen Fällen folgen Lernerinnen der gebärdensprachlichen Anweisung des Tutors, die sie verstanden haben (oder verstanden zu haben glauben); man könnte zwar sagen, dass jeglicher Akt der Rezeption eine Hypothesenbildung über die Aussageabsicht der Sprechers darstellt; dies beträfe dann jedoch jegliche Form von Kommunikation und nicht nur das Lernen einer Sprache. 276 <?page no="289"?> Zwei Hypothesen beziehen sich auf chrakteristische Merkmale von Geschichten in DGS. Informantin J meint, dass so genannte „Spezialgebärden“ (in diesem Fall die Gebärde AHNUNGSLOS) sich prinzipiell gut in narrativen Geschichten machten: „Passt immer super, glaube ich, in dieser Situation. Eins A. Jeder Gebärdenlehrer würde sich freuen.“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 04: 33: 09-00: 04: 40: 19) Außerdem hat J die Hypothese gebildet, dass es ein typisches Merkmal einer gebärdeten Geschichte sei, dass Emotionen ausgedrückt würden: J: „Aber das zum Beispiel mit Kopf abwischen, das wär schon, glaube ich, ziemlich… Also, was mein… mein Gefühl angeht, wär das… für die Geschichte ziemlich gut gewesen. “ S: „Weil er sich ja jetzt sichtlich bemüht hat, irgendwie, jetzt… da entgegenzuwirken. Und so, und dann klappt’s trotzdem nicht.“ J: „Nee, weil das einfach so… ähm… so ne nette Gefühlsäußerung ist… die, glaube ich, in Gebärdensprach-Geschichten immer gut reinpasst.“ (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 21: 24: 09-00: 21: 52: 10) Eine weitere Hypothese bezieht sich auf den Gebrauch von Zeitlinien 46 : Gefragt nach den Kriterien, nach denen sie die verschiedenen Linien einsetzen, stellen die Informantinnen A2 und M3 verschiedene Hypothesen auf: M3s Kriterium ist das der Größe der zeitlichen Abstände, die ausgedrückt werden sollen: „Nee, ich glaube, das was ich vorhin sagte, das - glaube ich zumindest - wende ich tatsächlich an. Dass eben bei größeren Zeitabschnitten, irgendwie… (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an) oder wenn es grober ist, würd’ ich das eher so machen… (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an) Und wenn irgendwie kleinere… (gebärdet: MARKER-G DANN DANN DANN entlang 46 In Gebärdensprachen gibt es keine morphologische Kategorie Tempus. Sachverhalte können durch ein Zeitadverb, das zu Beginn einer Äußerung gebärdet wird, zeitlich eingeordnet werden (z.B. GESTERN ICH FREUND TREFFEN). Viele Zeitadverbien werden entlang einer imaginären Linie gebärdet, die von hinten über die Schulter des Gebärdenden nach vorn verläuft. Der Bereich unmittelbar vor dem Körper repräsentiert dabei das 'jetzt'; Gebärden, die vor diesem Bereich ausgeführt werden (d.h. am Körper oder kurz dahinter), drücken vergangene Zeiträume aus (z.B. GESTERN, VORGESTERN, FRÜHER, VERGANGENHEIT). Gebärden, die hinter diesem Bereich gebärdet werden, also weiter vom Körper weg, drücken Zukünftiges aus (z.B. SPÄ- TER, ZUKUNFT). Abgesehen von dieser Linie, auf der Zeitadverbien ausgeführt werden, gibt es noch zwei weitere imaginäre Linien, die ebenfalls als Zeitlinien bezeichnet werden: Eine Linie verläuft quer zum Körper von links nach rechts; die andere beginnt unmittelbar am Körper, etwa in der Mitte, und verläuft vom Körper weg in den Raum. Entlang dieser Linien können Zeiträume verortet werden (bspw. von 1900 bis 1950, von 1951 bis 2000, von 2001 bis 2006). Es ist nicht eindeutig geklärt, in welchen Kontexten welche dieser beiden Linien verwendet werden kann bzw. muss (vgl. Metzger 2002). 277 <?page no="290"?> einer Linie vom Körper weg) … wenn dann alles feiner… aufgesplittet ist… oder ein kürzerer Zeitabschnitt, dann in die Richtung (gebärdet: MARKER-G ZEITPHASE- G entlang einer Linie vom Körper weg).“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 48: 10: 09-00: 48: 28: 11) A2 stellt die Hypothese auf, dass sie vorwiegend die Zeitlinie benutze, die vom Körper weg nach vorn verläuft, weil viele andere Gebärden, die eine zeitliche Angabe enthalten wie z.B. Zeitadverbien dieser Bewegungsrichtung folgten. Andererseits vermutet sie, dass auch räumliche und Sichtverhältnisse eine Rolle spielten: Wenn es darum ginge, einem großen Publikum klare Zeitabschnitte zu vermitteln, würde sie eher die Zeitlinie wählen, die von quer zum Körper von links nach rechts verläuft: „Also, vielleicht liegt es auch daran, dass man… ja FRÜHER, und MORGEN… Also, man ist ja immer in dieser Richtung, normalerweise. Und deshalb find ich’s normal… Oder für mich fühlt sich’s besser an, deshalb auch die Sachen so rum zu haben (gebärdet: MARKER-G ZEITPHASE-G). Oder auch ENTWICKLUNG. Also, man gebärdet ja nicht: ENTWICKLUNG-Bewegung-von-links-nach-rechts. Auch wenn es von der Logik her klar ist (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an). Es ist mir klar, dass ich das so einfach drehen kann (deutet zuerst die Linie vom Körper weg und dann die Links-Rechts-Linie an), aber… Ich glaub deshalb, weil man alles eher in die Richtung macht, find ich’s auch angenehmer, dann so ne Zeitachse da hinzusetzen (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an). … Oder: ‚in zwei Wochen’ (gebärdet: ZWEI-WOCHEN-Bewegung-vom-Körperweg)… Man sagt ja auch nicht: „in ZWEI WOCHEN-Bewegung-von-links-nachrechts“, sondern „in ZWEI WOCHEN-Bewegung-vom-Körper-weg“.. […] Und wahrscheinlich muss man auch abhängig machen, wie die räumlichen Verhältnisse sind. Weil man das (gebärdet: MARKER-B ZEITPHASE entlang einer Linie vom Körper weg) natürlich schlechter sieht, und auch die Abstände schlechter sehen kann, als so (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an). Und wenn ich jetzt für viele Leute gebärden müsste, … und es liefe noch ne Kamera… … dann würde ich’s auf keinen Fall so machen, dass es nur zweidimensional wird (deutet die Linie vom Körper weg an), sondern dann auch umdrehen der Übersichtlichkeit halber (deutet eine Linie links-rechts quer vor dem Körper an).“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, A2: tc 00: 47: 12: 18-00: 48: 03: 18 und 00: 48: 28: 24-00: 48: 47: 02) Beiden Informantinnen sind also keine eindeutigen Regeln bekannt, wann sie welche Zeitlinie benutzen müssen. Sie bilden jedoch Hypothesen darüber, in welchen Kontexten welche Linie einzusetzen ist, und schaffen sich so eigene lernersprachliche Regeln. Vorkommen für zielsprachliche Äußerungen der Lernerinnen, die auf der Grundlage gebildeter Hypothesen basieren, bestehen in erster Linie in den Gebärden, die die Informantinnen kreieren, wenn sie eine Form nicht sicher wissen. Die Lernerinnen kompensieren in den Laut-Denk-Experimenten des öfteren Vokabellücken, indem sie ad hoc Gebärden bilden. Dies tun sie v.a. bei der Nutzung von produktiven Handzeichen-Mundbewegungs-Kombinationen (ID 58; vgl. hierzu Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“). Grundlage 278 <?page no="291"?> dieser Kompensationsstrategie ist die Hypothese, dass sich bestimmte Handzeichen und Mundbewegungen unter bestimmten Voraussetzungen miteinander kombinieren lassen, um Gebärden zu kreieren. Außerdem müssen die Lernerinnen Vermutungen darüber anstellen, welches Handzeichen in dem betreffenden Kontext verwendet werden kann. Einige Informantinnen äußern sich explizit zu den Vermutungen, warum ein Handzeichen einem anderen vorzuziehen sei, z.B. A2 in Transkript Exp- Nov_A3_A1, tc 00: 12: 29: 19-00: 12: 52: 14 und M2 in Transkript Exp- Nov_V_M2, tc 00: 11: 59: 06-00: 12: 03: 10 und 00: 58: 56: 02-00: 59: 21: 19 sowie tc 00: 25: 56: 19-00: 25: 58: 08 und 00: 25: 58: 08-00: 26: 00: 20. Während sich diese Hypothesen auf Äußerungen einzelner Gebärden beziehen, betrifft eine weitere Hypothese, die sich die Lernerinnen über eine sprachliche Regel gebildet haben und die als Grundlage für lernersprachliche Äußerungen dient, längere Gebärdensequenzen. Sie besteht darin, dass es als DGS-typisch empfunden wird, dass nicht nur Ergebnisse von Prozessen und Abläufen benannt, sondern eben diese Prozesse auch explizit beschrieben werden (ID 50). Die Informantinnen gehen auf diese Weise vor, da sie diese Form der Äußerung als einen erfolgreichen „Weg“ empfinden, sich verständlicher auszudrücken, und als einen zielsprachlich angemessenen Ausdruck (Interviewaussagen-ID 97, 98). Daher wird dieses Vorgehen als Produktionsstrategie angesehen; sie wird in Kapitel 14.1.1 „Prozess/ Abläufe von Ereignissen mit beschreiben, nicht nur das Ergebnis (ID 50)“ näher erläutert. Alle diese Vorkommen zeigen, dass die Lernerinnen Hypothesen über die Zielsprache auf verschiedenen Ebenen anstellen: Durch das Vergleichen von sprachlichen Zeichen und längeren Äußerungen bilden sie Hypothesen bzgl. • der korrekten phonologischen Form von Gebärden, • des Einsatzes von einzelnen Gebärden, • der Verwendung von Klassifikatorprädikaten sowie • dem Gebrauch von Zeitlinien und charakteristischen Merkmalen von DGS-Äußerungen und -Geschichten. 11.4.8 Klassifizieren Andere Strategien befassen sich mit dem Lernen von Vokabeln. Neben dem Ordnen von Vokabeln klassifizieren die Lernerinnen sprachliche Einheiten auch: Sie bilden Klassen, denen sie die zu lernden Gebärden zuordnen (Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151), Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163), Vokabelheft führen (ID 37), Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86); s. z.B. Interviewaussagen-ID 270). 279 <?page no="292"?> Weitere Operationen 11.4.9 Transfer a) Transfer (ID 33) i.S.v.: Das Gelernte wird auf neue Situationen übertragen In den Interviews schildern einige Informantinnen, dass sie manchmal gezielt im Unterricht Erlerntes zu Hause auf neue Situationen anwenden. Diese Sprachpraxis helfe ihnen, das Erlernte zu festigen: „Also bei mir bleibt’s jetzt eher drin (Geste zum Kopf) verankert, wenn ich das einfach übe; also mache, mache, mache. Weniger analysieren, sondern in ganz vielen verschiedenen Situationen das ganze gebärde (F nickt). Zum Beispiel, gerade letztes Mal hatten wir die semantischen Klassifikatoren, wie zum Beispiel: ‚Das Holzbrett liegt.‘ (gebärdet: Kl-SUBST 47 -FLACHES-OBJEKT). Und dann habe ich mir zu Hause ein bisschen angeguckt, wie meine Dinge liegen, und das dann jemandem erzählt. So. Einfach noch mal üben, praktisch.“ (Interviewaussagen-ID 25) Informantin F schildert jedoch, dass gerade dieser Transfer von Klassifikatorkonstruktionen ihr besonders schwer falle: „Also dann, irgendwie…. Das zu übertragen und zu erweitern, logisch, … das ist schwer, finde ich; in einer Fremdsprache.“ (Interviewaussagen-ID 48) A3 beschreibt, dass die defizitäre linguistische Forschungslage zu enttäuschenden Erlebnissen führe: Dadurch, dass nur selten Regeln explizit erklärt werden könnten, falle das Übertragen auf andere Situationen schwer. Da Regeln häufig nicht formuliert werden können, sondern nur durch Beispiele illustriert werden, sind die Lernerinnen darauf angewiesen, selbst Hypothesen zu bilden. Teilweise entsteht dann Frustration, wenn sich der Transfer einer vermeintlichen Regel als fehlerhaft erweist: „Wenn ich was gesehen habe oder wie das verwendet wird, an bestimmten Beispielen, und wenn ich nachher selber was gebärdet habe, dann… Ja, ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe versucht, diese Regeln, die ich gesehen habe, die umzu… anzuwenden. Auf mein Beispiel. Und… das war so ein bisschen wiederum frustrierend, weil es meistens auch nicht so ganz gut geklappt hat. Und ich wusste nicht warum, weil die Regeln eigentlich nicht erklärt wurden.“ (Interviewaussagen-ID 161) Ebenfalls A3 gibt an, dass sie häufig Gebärden, die sie in der Kommunikation mit anderen Personen beobachtet habe, übernehme und auf andere Kontexte transferiere (Interviewaussagen-ID 163; Strategie „zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden“ (ID 19)). Sie filtert also Gebärden heraus, die für sie neu sind, übernimmt sie in ihr lernersprachliches System und 47 Kl = Klassifikator, SUBST = Substitutor; für Erläuterungen zum Klassifikatorbegriff s. Kapitel 14.2.1 „Verfahren der Gebärdenbildung“. 280 <?page no="293"?> überträgt sie auf solche Situationen, in denen ihre Verwendung angemessen ist (oder angemessen erscheint). In den Laut-Denk-Experimenten finden sich zwei Fälle von Transfer: Im einen Fall beschäftigt sich Informantin S mit den Grammatik-Erklärungen zum Thema Verortung. Hier wird erklärt, dass die Lage von „Räumlichkeiten“ (z.B. ein Büro oder eine Wohnung) und Objekten zueinander auf zwei verschiedene Weisen ausgedrückt werden kann: Einerseits kann eine Räumlichkeit benannt und anschließend durch eine Klassifikatorkonstruktion lokalisiert werden. Andererseits kann eine Gebärde häufig - sofern die Ausführungsstelle nicht körpergebunden ist - direkt an der entsprechenden Stelle im Gebärdenraum loziert werden 48 . Außerdem wird erklärt, dass lexikalische Präpositionen eingesetzt werden können, um die Lage der Räumlichkeiten zueinander explizit und eindeutig auszudrücken. Informantin S schaut sich die Beispiele an, die diese Regeln illustrieren, und versucht einen Beispielsatz zu generieren: Sie überlegt, dass man bei einem Beispielsatz, der eine Präposition enthält, die Präposition weglassen könnte, wenn man stattdessen das Nomen im Gebärdenraum lozierte (Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 09: 04: 20-01: 09: 10: 13). S überträgt also die Regel, dass nicht körpergebundene Gebärden auch direkt im Gebärdenraum verortet werden können, auf ein neues Beispiel. Im anderen Fall geht es um die beiden Perspektiven, in denen die räumliche Lage von Objekten zueinander beschrieben werden kann: Informantin S liest über diese beiden Perspektiven in den Grammatik-Erklärungen. Daraufhin stellt sie fest, dass der Abschnitt des Dialogs, der in der horizontalen Perspektive gebärdet wurde, auch in der vertikalen Perspektive gebärdet werden könnte: „Man hätte das Ganze auch… Wenn man jetzt nicht eher von den Stockwerken gesprochen hätte (gebärdet: STOCK STOCK STOCK), sondern vom Plan… (deutet ein Viereck in der vertikalen Ebene an), … dann hätte man das so auch verorten können (gebärdet: Kl-VERORTUNG Kl-VERORTUNG (in der vertikalen Ebene)).“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 52: 06: 12-00: 52: 19: 10) b) Transfer (ID 33) i.S.v.: Einfluss der Grundsprache auf die Zielsprache Im Rahmen der Kontrastiven Hypothese wird Transfer als Einfluss der Grundsprache auf die Zielsprache verstanden (Edmondson und House 1993, S. 208). Die „starke“ Version der Kontrastiven Hypothese geht davon aus, dass die Ausgangssprache des Lerners den Erwerb einer L2 beeinflusst. Dabei sind in beiden Sprachen identische Elemente und Regeln leicht, unterschiedliche hingegen schwer zu lernen. Es wird davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen Bestandteile zu Fehlern führen. 48 Diese beiden Möglichkeiten fasst S selbst zusammen, vgl. Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 06: 35: 13-01: 06: 37: 02. 281 <?page no="294"?> „Je nachdem, ob sich Grund- und Zielsprache an einem bestimmten Punkt ähneln oder sich unterscheiden, verläuft der Transfer positiv oder negativ. Negativer Transfer wird dann als Interferenz bezeichnet, positiver Transfer gilt als Lernerleichterung.“ (Edmondson und House 1993, S. 208) 49 In lernersprachlichen Äußerungen in DGS manifestieren sich Interferenzen als Lautsprachbegleitende Gebärden (LBG): Wörter oder grammatische Strukturen werden aus dem Deutschen übernommen und durch Handzeichen visualisiert. In den Daten finden sich durchaus fehlerhafte Äußerungen der Novizinnen, die auf einen Rückgriff auf das Deutsche zurückzuführen sind (s. z.B. Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 04: 40: 13-00: 04: 41: 19, tc 00: 06: 25: 09-00: 06: 26: 09, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 09: 53: 11- 00: 09: 59: 24, tc 00: 16: 37: 21-00: 16: 41: 01). Diese Äußerungen sind jedoch nicht durch den Einsatz einer Strategie motiviert, sondern es handelt sich „lediglich“ um Fehler, die durch Interferenzen begründet werden können. Strategisch wird LBG eingesetzt, um Vokabel- oder Grammatiklücken zu überwinden. Entsprechende Vorkommen aus den Erhebungen werden in Kapitel 14.2 „Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden“ beschrieben. DGS wird von vielen Lernerinnen als vom Deutschen sehr verschiedenes Sprachsystem wahrgenommen. Die Informantinnen S und M1 sprechen von einem „Umdenken“, das „innerlich geschehen muss“, um sich in DGS auszudrücken (Interviewaussagen-ID 58 und 97). Dies mag einerseits in den unterschiedlichen Sprachmodalitäten als solchen und den damit verbundenen anderen Artikulatoren begründet liegen, andererseits jedoch auch in den grundlegenden sprachstrukturellen Differenzen. Die Lernerinnen haben die Erfahrung gemacht, dass es bspw. aufgrund der unterschiedlichen Syntax häufig wenig erfolgreich ist zu versuchen, vom Deutschen auszugehen: „Also, wenn ich […] festklebe an deutschen Sätzen, dann klappt es natürlich nicht. Und dann habe ich so… ziemlich oft auch die Erfahrung gemacht, dass ich einen deutschen Satz versuche zu übersetzen; und dann irgendwie am Ende steht noch ein Verb (alle lächeln). Und das kann ich einfach nicht ausdrücken. Und dann irgendwie… paar Sekunden denke ich nach und dann schmeiße ich den ganzen Satz einfach weg, stelle mir das Bild vor und versuche das zu be- 49 Edmondson und House (1993) merken folgende Kritikpunkte an der Kontrastiven Hypothese an (S. 210): • Auch ein Kontrastmangel kann zu Fehlern führen. • „Interferenzen“ aus den schon verfügbaren Strukturen der Zielsprache können zu Fehlern führen. • Es können Fehler vorkommen, die nicht durch Interferenzen erklärbar sind, da sie sowohl von Strukturen der Zielsprache als auch von Strukturen der Grundsprache abweichen. • Die Kontrastiv-Hypothese kann nicht erklären, warum Lerner derselben Fremdsprache, die dieselbe Grundsprache beherrschen, nicht auch identische Fehler machen. 282 <?page no="295"?> schreiben.“ (Informantin A3, Interviewaussagen-ID 169; s. auch Interviewaussagen-ID 56) Diese Einschätzung seitens der Lernerinnen ist als Faktor beim Transfer von L1 auf L2 nicht zu unterschätzen. Bei der Analyse von Fehlern und der damit verbundenen Betrachtung von Transferleistungen dürfen nicht nur die sprachlichen Unterschiede zwischen Grund- und Zielsprache auf der Grundlage einer linguistischen Analyse berücksichtigt werden; ebenso gilt es, psycholinguistische Aspekte zu beachten. So wies bspw. Kellerman nach, dass der subjektiv wahrgenommene Unterschied zwischen den Sprachen den Transfer beeinflusst (Kellerman 1986). Er fand heraus, dass Lerner einige Merkmale ihrer L1 als „transferfähiger“ einschätzen als andere. Grundlage dieser Einschätzung ist die angenommene Distanz zwischen den Sprachen. Kriterien hierfür sind Markiertheit und Frequenz sprachlicher Elemente. Diese subjektive Einschätzung der Verschiedenheit von Deutsch und DGS sowie der i.d.R. wenig kontrastive Gebärdensprachunterricht mögen dazu beitragen, dass einige Lernerinnen versuchen, ihre L1 sozusagen „über Bord zu werfen“ und das o.g. „Umdenken“ anzustreben - wie Informantin M1 es nennt: „auf anderen Wegen zu gehen, in der Gebärdensprache“ (Interviewaussagen-ID 97). Gerade Anfängerinnen, die ja noch wenig Wissen über die zielsprachlichen Strukturen haben, gelingt dies jedoch nicht. Eine konkrete Form des o.g. Transfers als Übertragung von Gelerntem auf neue Situationen besteht im Kontextualisieren (ID 17). Hierbei setzen die Lernerinnen eine zu memorierende Vokabel in unterschiedliche Kontexte, um sie sich durch diese Verknüpfung besser merken zu können. Informantin A3 beschreibt bspw. im Interview, dass sie Vokabeln nicht isoliert lernt, sondern in bestimmten Zusammenhängen: Sie kann sich Gebärden leichter merken, wenn sie „bestimmte Assoziationen“ mit ihnen verbindet (Interviewaussagen-ID 128, 134). Ähnlich äußert sich Informantin F (Interviewaussagen-ID 11). Auch die Informantinnen D und A2 geben an, dass sie gelegentlich Sätze mit zu lernenden Vokabeln bildet, um sie sich besser zu merken (Interviewaussagen-ID 193, 196). Im Laut-Denk-Experiment beschreibt auch Informantin B kurz, dass sie Vokabeln nicht nur als isolierte Formen lernt, sondern sie in einen Kontext setzt: „Also, ich… ähm… geh dann - glaube ich - schon auch so vor, dass ich mir dann halt die Vokabeln, die ich jetzt nicht… äh… kenne oder noch mal auffrischen muss, dass ich mir die einzeln angucke… und dadurch versuche, sie noch mal zusammenzusetzen im Satz oder Text oder… wie auch immer.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 28: 02: 24-00: 28: 23: 15) 283 <?page no="296"?> 11.5 Rückschau Bei der Zuordnung der Strategien zu den Piagetschen Denkniveaus fällt auf, dass den Niveaus bestimmte Heurismen zugeordnet werden können: Modellbildung und Imagination finden sich ausschließlich auf dem konkret-anschaulichen Niveau. Für Analogiebildungen gilt dies teilweise - in Abhängigkeit davon, ob es sich um Analogien handelt, die zwischen sprachlichen Elementen gebildet werden, oder um solche, bei denen der ikonische Gehalt von Gebärden in Beziehung zu Objekten der realen Welt gesetzt wird. Versuch-und-Irrtum-Verhalten ist, ebenso wie die anderen Vermeidungsstrategien, auf dem eskapistischen Niveau angesiedelt. Bis auf das Konkretisieren finden sich alle so genannten Lompscher-Operationen in den kognitiven Lernstrategien wieder. Bei der Lernerinnen besteht z.T. ein hohes Bedürfnis nach Kognitivierung. Dies äußert sich im Wunsch nach expliziten Erläuterungen zu zielsprachlichen Regeln und kontrastiven Erklärungen. Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die erhobenen kognitiven Strategien: 284 Strategien auf dem sensomotorischen Niveau Imitieren zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119) Bewegung einer Gebärde mit einer neutralen Handform nachfahren (ID 124) Textstellen wiederholt ansehen (ID 75) Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83) Strategien auf dem eskapistischen Niveau Übergeneralisierung (ID 149) in die entgegengesetzte Richtung von dem fahren, was angezeigt wird (ID 113) Strategien auf dem konkret-anschaulichen Niveau Grafik erstellen (ID 10) Notizen machen (ID 25) Eselsbrücken bauen (ID 8) Analogon „Landkarte“ herstellen (ID 93) „sich ein Bild vor Augen halten“: von einer darzustellenden Person (Verhalten, Aussehen, Mimik etc.) und/ oder einer Situation (Bühne) (ID 77) Oberkörper drehen (um die Perspektive des Gebärdenden einzunehmen) (ID 109) Imitation zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19) mentales Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 92) <?page no="297"?> 285 Strategien auf dem formal-abstrakten Niveau Analogiebildung Eselsbrücken bauen (ID 8) Notizen machen (ID 25) Zergliedern nach dem Durcharbeiten einzelner Text-Abschnitte den Text noch einmal im Zusammenhang ansehen (ID 122) Erfassen der Eigenschaften Glossenumschrift zur Syntaxanalyse nutzen (ID 158) Identifizierung von Problemen (ID 12) Phonologische Analyse von Gebärden (ID 27) Textstellen wiederholt ansehen (ID 75) Vergleichen L2 mit L1 kontrastieren (ID 18) Lexeme gegeneinander abgrenzen (ID 4) modifizierte Formen vergleichen (ID 159) Nachschlagen (ID 26) Ordnen Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151) Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163) Vokabelheft führen (ID 37) Abstrahieren zusammenfassen/ rekapitulieren (ID 40) Verallgemeinern Hypothesen bilden (ID 11) Prozess/ Abläufe von Ereignissen mitbeschreiben, nicht nur das Ergebnis (ID 50) Klassifizieren Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151) Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163) Vokabelheft führen (ID 37) Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86) Transfer Kontextualisieren (ID 17) Transfer (ID 33) Tab. 15: Erhobene kognitive Strategien <?page no="299"?> 12 Klassifizierung metakognitiver Lernstrategien Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhobenen Strategien lassen sich den sechs unterschiedlichen Phasen der metakognitiven Handlungskontrolle zuordnen, die in Kapitel 7.2 beschrieben wurden: Orientierung, Planung, Regulierung, Überwachung, Überprüfung und Evaluation. Diese Strategien beziehen sich • auf die Zielsprache, • auf Lernobjekte und die Lernumgebung der jeweiligen Aufgabe sowie • auf das Vorgehen beim Lernen. Gemäß dieser Unterscheidung werden die Strategien im Folgenden klassifiziert und beschrieben 1 . 12.1 Metakognitive Kontrollen bezogen auf die Zielsprache 12.1.1 Orientierung In den Interviews erwähnen verschiedene Informantinnen, dass sie es als sehr wichtig erachten, dass man sich die Modalität der visuellen Gebärdensprache und die damit verbundenen Möglichkeiten der Raumnutzung und Constructed Action ins Bewusstsein ruft und sie verinnerlicht (sich die andere Sprachmodalität und das Prinzip der Raumnutzung bewusst machen (ID 30)) 2 (s. Interviewaussagen-ID 49, 97, 101, 102, 119, 120, 273). Damit benennen sie eine grundlegende Strategie, die der Orientierung bzgl. des zielsprachlichen Systems gilt. Folgende Aussagen bringen dies besonders gut zum Ausdruck: „Also, es war mir ja schon seit Jahren klar, dass es eine visuelle Sprache ist, wie immer wieder betont wird. Aber dass das mit dem Gebärdenraum wirklich so funktioniert, dass man erst irgendwie (gebärdet: QUADER-aufrecht) die Firma auf- 1 Eine tabellarische Übersicht der Strategien befindet sich am Ende dieses Kapitels. 2 M.E. ist diese Strategie in erster Linie eine Lernstrategie: Es geht darum, sich die Funktionsweise des zielsprachlichen Systems zu verdeutlichen und sich quasi „einzuverleiben“. In zweiter Linie kann diese Strategie auch als Produktionsstrategie angesehen werden, da das übergeordnete Ziel die zielsprachlich angemessene Ausdrucksweise ist. Dabei hilft diese Strategie, mit Hilfe deren man sich z.B. vom Satzbau der L1 lösen und so Interferenzen vermeiden kann. 287 <?page no="300"?> stellt und die dann angeschrieben wird (gebärdet: FIRMA-auf-Gebäude), und dann da zur Tür reingeht (gebärdet: Kl-MANIP 3 -TÜR-AUF DURCHGEHEN); und… Man muss erst den Automaten hinstellen (gebärdet: QUADER-aufrecht) bevor man das Geld einwirft (gebärdet: MÜNZE-EINWERFEN); und all diese Dinge… die vor allem [nennt den Namen einer Dozentin] uns im ersten Semester sehr klar zeigen konnte; das waren wirklich große Aha-Erlebnisse. Dieser Gebärdenraum, dass man den wirklich sehen muss. Und das kommt auch nach und nach. Das ist etwas, das man fast nicht lernen kann; sondern das einfach mit der Erfahrung kommt.“ (Informantin S, Interviewaussagen-ID 49) „Also, wenn man erst mal begriffen hat, dass es ein bildliches System ist, das man‘s ablaufen lassen muss, wie ein Theater, wie ein Puppentheater; das heißt, man muss die Bühne haben, das Bühnenbild, die Sachen, die irgendwie mitspielen sollen, hinstellen, und erst dann können sie was tun (unterstreicht mit Gesten/ Gebärden ihre Aussage). Wenn man das einmal verinnerlicht hat, dann geht es eigentlich.“ (Informantin K, Interviewaussagen-ID 273) Mit dieser Strategie geht häufig das bewusste Lösen vom deutschen Satzbau einher (Interviewaussagen-ID 97, 102). 12.1.2 Planung Die erhobenen Strategien, die sich auf die Planung von sprachlichem Output beziehen, sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht den Lern-, sondern den Produktionsstrategien zugeordnet. Es finden sich folgende Strategien, die dieser Kategorie angehören: Mentales Vorformulieren von Sätzen vor der realen Äußerung (ID 38), Probe-Gebärden (ID 29), Gliederung ausarbeiten (ID 9), sich die Aufteilung des Gebärdenraums überlegen (ID 139), sich möglichst einfach und sortiert ausdrücken (ID 78). Diese Strategien werden in Kapitel 14.1.2 „Strukturierung und Planung des eigenen sprachlichen Outputs“ beschrieben. 12.1.3 Regulierung Die Form von Regulierung, bei der Lerner infolge einer Überwachungs-, Überprüfungs- oder Evaluationsaktivität ihr Handeln modifizieren, geht in der Klassifizierung der vorliegenden Arbeit in den Kategorien „Überwachung“, „Überprüfung“ und „Evaluation“ auf. Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, Regulation zu deuten: Diese Kategorie wird im Kontext der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Konrad dahingehend interpretiert, dass sie auch die Regulierung der Lernumgebung umfasst: 3 MANIP = Manipulator; für Erläuterungen zum Klassifikatorbegriff s. Kapitel 14.2.1 „Verfahren der Gebärdenbildung“. 288 <?page no="301"?> „Regulation kann auch der Beeinflussung der Lernumwelt gelten. Strategien des Ressourcenmanagements, die auf die Modifikation der Lernumgebung abzielen, können zu einer besseren Anpassung der Situation an die Ziele des/ der Lernenden führen und ihn/ sie darin unterstützen, aktuelle Projekte trotz bestehender Schwierigkeiten und sich widersprechender Ziele voranzutreiben […].“ (Konrad 2004, S. 28) Dieser Auffassung zufolge kann man Aktivitäten, die der Organisation und Effektivierung des Arbeitsprozesses gelten, der Regulation zuordnen. Folgende Strategien finden sich im Korpus: 12.1.3.1 Ressourcenmanagement: Bemühen um Effizienz Im Bemühen um effizientes Arbeiten differenzieren einige Informantinnen zwischen bekannten und unbekannten sowie zwischen wichtigen und unwichtigen Lerninhalten. Diese Strategie Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden (ID 90), die in anderen Kontexten der Orientierung dienen mag, wird in den Daten der vorliegenden Arbeit eingesetzt, um den Arbeitsprozess möglichst effizient zu gestalten. In diesem Sinne ist sie eine Strategie, die dem Ressourcenmanagement zuzuordnen ist. In den Laut-Denk-Experimenten wird diese Strategie vor allem bei der Bearbeitung der Vokabeln eingesetzt: Informantin M3 schaut sich die Liste mit den Vokabeln an, die in der Lektion vorgekommen sind; dabei schaut sie sich jedoch nur die Vokabeln an, von denen sie meint, dass sie sie noch nicht kennt (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 10: 50: 24-00: 16: 51: 23). Dasselbe Vorgehen beschreibt Informantin S theoretisch 4 : „Und dann würde ich jetzt noch… die Vokabeln einfach durchgehen. Also… Aber nicht jede… Also… AUCH würde ich jetzt nicht anklicken. Und ‚als‘ auch nicht. Erst wenn ich wo unsicher bin, dann würde ich anklicken.“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 32: 05: 15-01: 32: 20: 11) Demselben Prinzip folgt Informantin F bei den Bemerkungen der zu bearbeitenden Lektion: Dort filtert sie die Informationen, die ihr neu sind, heraus und nimmt sie zur Kenntnis, alles andere überspringt sie (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 29: 38: 21-00: 30: 25: 20). Dieses Vorgehen führt zu erhöhter Effektivität im Lernprozess: Indem die Lernerinnen Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden, können sie ihre Energie auf die Beschäftigung mit solchen Dingen lenken, die für sie neu und damit noch zu lernen sind. Ähnlich wie die vorangegangene Strategie „Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden“ (ID 90) dient auch die Differenzierung zwischen Wichtigem und Unwichtigem im Korpus dem möglichst effizienten Arbeiten (Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden (ID 96)). 4 Aus zeitlichen Gründen führt sie diese Handlung im Experiment nicht aus. 289 <?page no="302"?> So blenden mehrere Informantinnen bei der Rezeption der Gebärdenfilme die Namen aus dem Gebärdentext aus. Informantin M3 beschreibt dies: Sie versteht die Namen nicht, kann sie jedoch als solche identifizieren. Da sie weiß, dass diese Namen nicht zum wesentlichen Inhalt des Textes beitragen, geht sie über sie hinweg: „Ich merke gerade, dass es mich zwar interessiert, wie die Namen gebärdet werden; aber dass ich die… dass ich nicht unbedingt den großen Wunsch habe, die alle genau abzuspeichern.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 13: 23: 04-00: 13: 35: 07) Wenig später bemerkt sie: „Da spielt halt wahrscheinlich das, was ich eben auch sagte, noch eine Rolle; dass… Also, hm… O.k.… Gut, wenn Du's verstehst. Aber Du wirst es nicht so oft brauchen.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 14: 33: 20-00: 14: 42: 08) Und wiederum später: „Und… ja, genau… wie gesagt: Da war ich mir ziemlich sicher, was Namen waren, und was nicht. Und insofern… mit der Möglichkeit, das dann zu trennen, konnte ich sozusagen über die Namen dann zum Teil eher hinweggehen, weil mir das… nicht so wichtig war.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 24: 55: 01- 00: 25: 11: 18) Ähnlich grenzt Informantin A3 die Namen aus dem Gebärdentext aus; dazu bemerkt sie, dass es ihr auf diese Weise leichter falle, sich die wichtigen Informationen über die Wegbeschreibung zu merken, „und nachher einfach die… die Namen [zu] platzieren, sozusagen“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 00: 28: 30: 17-00: 28: 41: 22; ähnlich Informantin F in Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 07: 15: 13-00: 07: 25: 08 und tc 00: 19: 31: 14-00: 19: 49: 03 sowie Informantin B in Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 11: 27: 07-00: 11: 39: 24). Ebenso blendet sie im ersten Verstehensanlauf Wörter aus, die mit dem Fingeralphabet buchstabiert werden: „Auch die… Fingeralphabet kann ich auch nicht… nicht… nicht erkennen. Sozusagen: Ich sehe: O.k., jetzt kommt Fingeralphabet. Das kann ich nachher noch mal genau anschauen. Dann… sortiere ich sozusagen aus, zuerst.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 15: 12: 11-01: 15: 26: 22) Gleiches merkt Informantin B zu Anweisungen des Tutors an, „nicht in diese, sondern in jene“ Richtung zu fahren: „Und man… man überlegt sich halt die einfachsten Varianten, wie man sich's jetzt merkt. Wenn er halt sagt: ‚Nicht nach links‘, weil das merke ich mir dann halt nicht; ich merke mir dann, dass es nach rechts geht, und dann…“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 01: 29: 56: 22-01: 30: 07: 20) 12.1.3.2 Lernmaterial erstellen Als eine Unterform der Kategorie „Regulierung“ kann m.E. die Erstellung von Lernmaterialien angesehen werden: Indem Lerner selbst Maßnah- 290 <?page no="303"?> men ergreifen, solche Materialien anzufertigen, optimieren sie insofern ihr Lernen, als sie damit weitere Lernaktivitäten wie z.B. das Nachschlagen, Wiederholen, Überprüfen von Kenntnissen etc. ermöglichen. U.a. aufgrund der vergleichsweise geringen Materialmenge, die zum Lernen zur Verfügung stehen, erstellen die Lernerinnen z.T. selbständig Lernmaterialien. Dabei geht es in erster Linie um das Lernen von Vokabeln. Um „Nachschlagewerke“ zum Memorieren anzufertigen nutzen die Informantinnen verschiedene Mittel. In den Interviews beschreiben sie, dass sie Karteikarten erstellen (ID 15), ein Vokabelheft führen (ID 37), Filmclips erstellen (ID 46). Letzteres bietet sich aufgrund der visuellen Sprachmodalität besonders an, da auf diese Weise die Form der Gebärde ohne aufwändige Notation nachvollzogen werden kann. Die Informantinnen geben auch an, dass sie Notizen, die sie im Unterricht angefertigt haben, als Lernressourcen nutzen (Notizen machen (ID 25)). Sie notieren sowohl einzelne Gebärden als auch Grammatikregeln und Beispiele. Hinsichtlich der Verschriftlichung von Vokabeln geben die Informantinnen in den Interviews unterschiedliche Methoden an, mit denen sie Gebärden festhalten. Acht Informantinnen geben an, Vokabeln in HamNoSys (oder Teilen davon) aufzuschreiben (Interviewaussagen-ID 2, 23, 85, 90, 91, 190, 192, 245, 265). Da mit diesem Notationssystem die einzelnen Parameter 5 der Gebärde festgehalten werden, resultiert die Verschriftlichung von Vokabeln quasi automatisch in einer phonetisch-phonologischen Analyse. Zwei Informantinnen bemerken, dass sie sich durch diese Analyse die Gebärden besser merken können (ID 7, 133, 136). Einige Informantinnen schreiben Vokabeln als Glossen auf (Interviewaussagen-ID 6, 23, 191). Diese Notationsweise hat allerdings den Nachteil, dass aus der Glosse die Form nicht nachvollzogen werden kann. Man hat also nur die Information, dass man eine Vokabel, die wohl annähernd die Bedeutung der Glosse hat, eigentlich wissen müsste; wie diese Gebärde aber aussieht, ist bei dieser Art der Verschriftlichung unklar. Drei Informantinnen notieren Vokabeln in Form einer Zeichnung, meist mit zusätzlichen Symbolen wie bspw. Pfeilen für den Bewegungsparameter (Interviewaussagen-ID 8, 90, 191). Ein beliebtes Vorgehen ist auch, Vokabeln als formähnlich oder formgleich zu anderen, bereits bekannten Gebärden zu notieren („Wie die und die Ge- 5 Handzeichen lassen sich als ein Zusammenspiel von vier Parametern analysieren: die Handform, die Handstellung (bestehend aus der Fingeransatzrichtung und der Handflächenorientierung), die Ausführungsstelle und die Bewegung; vgl. einführend hierzu z.B. Boyes Braem (1995, Kapitel 1) oder Papaspyrou et al. (in Vorbereitung). 291 <?page no="304"?> bärde, aber mit (deutet Bewegung an) von links nach rechts, oder von oben nach unten.“, Informantin S-E, Interviewaussagen-ID 8; außerdem ID 85, 90, 91, 191, 262). Drei Informantinnen geben an, Vokabeln mittels des Fingeralphabets aufzuschreiben. Sie notieren sich den Buchstaben des lateinischen Alphabets, der die Handform repräsentiert, die die Gebärde enthält 6 (Interviewaussagen-ID 131, 191, 262). Diese verschiedenen Notationsarten resultieren meist in einem eigenen System, das die Lernerinnen über die Jahre hinweg entwickeln. Sie kreieren eigene Symbole und Wortabkürzungen für die Parameter und sind so in der Lage, Gebärden - mehr oder weniger phonologisch genau - zu notieren (Interviewaussagen-ID 64, 131, 192, 245). Vier Informantinnen geben an, dass sie sich die Gebärden allein durch das Notieren - ohne weitere Memorierung - bereits besser merken können (Interviewaussagen-ID 90, 91, 133, 192). Aber auch zum späteren Wiederholen bzw. Nachschlagen sei die Verschriftlichung von Gebärden sinnvoll und wichtig - vor allem angesichts der Tatsache, dass es v.a. für Kurse fortgeschritteneren Niveaus bisher nur wenig Lehrmaterialien gibt (Interviewaussagen-ID 6, 73, 90, 133, 192). Von Nachteil sei dabei allerdings, dass die Verschriftlichungen i.d.R. nicht eindeutig sind, da sie meist keine vollständigen Notationen der Form darstellten; daher könnten sie beim späteren Nachlesen häufig nicht mehr nachvollzogen werden. Auch geeignete Mittel zur Notation von Mundgestik zu finden, stelle sich als problematisch dar (Interviewaussagen-ID 90). Außerdem könnten die z.T. ad hoc kreierten Symbole nach längerer Zeit oft nicht mehr interpretiert werden. Die Notation mit HamNoSys sei andererseits vergleichweise aufwendig, so dass sie sich auch nicht als Möglichkeit zum raschen Festhalten von Vokabeln eigne (z.B. Interviewaussagen-ID 85, 136, 137). Überhaupt wird der hohe Aufwand, der zur Notation von Gebärden benötigt wird, von einigen als zeitraubend und demotivierend empfunden (Interviewaussagen-ID 64, 90, 91). Vor allem für Lernende, die sich in bisherigen (Sprach-) Lernprozessen stark an der Schrift orientiert haben, ist die fehlende Gebrauchsschrift ein Dilemma (Interviewaussagen-ID 135). Die Ordnung der Vokabeln erfolgt nach verschiedenen Kriterien: Einige Informantinnen sortieren die Gebärden nach dem lateinischen Alphabet (Interviewaussagen-ID 131, 192) oder nach Sachgruppen (Interviewaussagen- ID 270), andere nach dem Vorkommen im Unterricht (Interviewaussagen- ID 268). „Gebärdensprach-immanent“, also bspw. nach Handformen, ordnet keine der Informantinnen (Interviewaussagen-ID 268, 269). Die meisten Informantinnen sehen das Mitschreiben von Vokabeln im Unterricht als problematisch an. Die visuelle Sprachmodalität erfordert andauernden Blickkontakt zum Gebärdenden, so dass gleichzeitiges Auf- 6 Vgl. hierzu Anhang 3, der eine Abbildung des Fingeralphabets enthält. 292 <?page no="305"?> schreiben, bei dem man üblicherweise auf das Papier schaut, die Sprachrezeption unterbricht. Dies hat zur Folge, dass man u.U. weitere Äußerungen nicht mitbekommt und so Input verloren geht. „Also… wahrscheinlich hilft das Aufschreiben selbst auch schon ein bisschen was [beim Einprägen der Vokabeln, C.M.]; aber das ist natürlich im Unterricht eher unpraktisch, weil man dann die nächste neue Vokabel nicht mitbekommt; und dann ist es eher kontraproduktiv.“ (Informantin M3, Interviewaussagen-ID 90) Daher versuchen viele, Vokabeln in den Pausen oder außerhalb des Unterrichts zu rekapitulieren und zu notieren (z.B. Interviewaussagen-ID 23, 90, 190). Auch in den Laut-Denk-Experimenten erwähnen die Informantinnen mehrmals, dass sie Informationen über Vokabeln schriftlich festhalten. So beschreibt A3, dass sie auch bei der Arbeit mit Filmen für sie wichtige oder schwierige Parameter notiere: „Das ist immer wichtig, das schreibe ich immer auf. Wenn ich das sehe, dann… Also, auf dem Video, Arbeitsvideo; das habe ich auch angeguckt. Und dann bei den Vokabeln drunter geschrieben, wieviel Mal ich das wiederholen soll. Die Gebärde.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 31: 51: 01-01: 32: 07: 16) Außerdem beschreibt A3 das oben erläuterte Verfahren, Formanalogien zwischen neuen und bekannten Gebärden herzustellen (tc 01: 37: 40: 24- 01: 38: 21: 15). Neben dem Notieren von Vokabeln schildern auch zwei Informantinnen im Interview, dass sie im Unterricht Beispiele mitschreiben (Interviewaussagen-ID 154, 155). „Beispiele schreibe ich auch auf, wenn es was ist, wo ich denke, das ist… das habe ich vielleicht schon mal gelernt, aber ich möchte es noch mal mir aufschreiben, damit ich es nicht vergesse. Oder wenn ich das Gefühl habe, das ist was ganz Neues. Und dann schreibe ich mir auch die Beispiele auf. Also, dann meistens in Glossen.“ (Informantin A1, Interviewaussagen-ID 155) Außerdem werden auch - sofern vorhanden - Grammatik-Regeln mitgeschrieben (Interviewaussagen-ID 27). Auch diese Notizen können als Memorierungshilfe und Nachschlagemöglichkeit dienen. Informantin B beschreibt im Laut-Denk-Experiment, dass sie sich bei früherer Arbeit mit „Die Firma 1“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2000) Notizen dazu gemacht habe, in welchen Lektionen sie Informationen zu welchen Grammatik-Themen finden könne (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 19: 56: 13- 00: 20: 25: 01). Dies erleichtere ihr, Informationen bei Bedarf wieder zu finden. 12.1.4 Überwachung Die Überwachung des eigenen sprachlichen Outputs bzw. der Sprachrezeption (Online-Monitoring, bezogen auf Sprachproduktion und -rezeption (ID 22)) ist im Einzelfall nur schwer abzugrenzen von der Evaluation. 293 <?page no="306"?> Konrad stellt fest, dass sich Monitoring „im Unterschied zur Evaluation […] darauf [beschränkt], die eigene Leistung festzustellen und zu registrieren. Vergleiche mit dem Ergebnis werden in den meisten Konzeptionen nicht unterstellt“ (2004, S. 28). Diese Unterscheidung ist im konkreten Fall häufig aber nur schwer zu treffen, und zwar in erster Linie deswegen, weil die Überwachung (zumindest in den Daten der vorliegenden Arbeit) i.d.R. nur durch den Regulierungsfall erkennbar wird: Erst wenn sich der Lerner selbst korrigiert, kann von außen festgestellt werden, dass eine Überwachung stattgefunden hat. D.h., wenn ein Überwachungsprozess stattgefunden, der Lerner einen Fehler identifiziert hat und ihn korrigiert, findet mit der Korrektur auch ein Abgleich mit der zielsprachlichen Norm statt: Der eigene Output wird überwacht und als „falsch“ oder „richtig“ bewertet - womit eine evaluierende Entscheidung gefällt wird. Damit wird auch die in der Literatur vertretene Ansicht, dass sich die Evaluation durch die Anwendung von Kriterien auszeichne (s. Kluwe 1987, S. 39), m.E. hinfällig. Auch im Monitoring als einem Überwachungsprozess müssen Kriterien angelegt werden, nach denen etwas Überwachtes bewertet wird - ansonsten läuft die Überwachung ins Leere. Ebenso wird bei der Überprüfung sowohl kontrolliert, ob Kenntnisse verfügbar sind („vorhanden oder nicht? “), als auch, ob etwas korrekt ist („richtig oder falsch? “). Daher werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit Monitoring und Evaluation (wie bei Ertmer und Newby 1996, S. 12/ 13) durch ein zeitliches Kriterium abgegrenzt: Als Monitoring werden Überwachungs- und damit verbundene Korrekturprozesse angesehen, die unmittelbar „online“ während der Sprachproduktion oder -rezeption geschehen 7 . Der Evaluationsphase dagegen werden Vorkommen zugeordnet, bei denen der Lerner nach Abschluss einer Aktivität, bspw. nach Erstellen eines Textes oder nach dem Bearbeiten einer Übung in den Laut-Denk-Experimenten, seine eigene Leistung bewertet. Außerdem wird eine Lernhandlung der Kategorie Evaluation zugeordnet, wenn sie von Beginn an mit der Intention ausgeführt wird, die eigene Leistung zu bewerten. Online-Monitoring kann bei der Sprachproduktion im Fall von Gebärdensprachen eine besondere Form annehmen: Bedingt durch die visuelle Sprachmodalität und die menschliche Anatomie sehen sich Gebärdensprachbenutzer selbst nicht gebärden - im Gegensatz zu Sprechern, die sich selbst reden hören. Sprecher einer Lautsprache können ihren Output wahrnehmen und haben daher eine ganz andere Möglichkeit, Fehler zu entdek- 7 Im Gegensatz zu der von Krashen (1982) vertretenen Auffassung von Monitoring wird hier nicht vorausgesetzt, dass die Überwachung vollständig bewusst abläuft. Auch bezieht sich der Begriff nicht ausschließlich auf die Überwachung von sprachlichem Wissen, sondern ebenso auf soziolinguistische Kenntnisse (vgl. Rubin 1987, S. 25) sowie auf den Lernprozess selbst. 294 <?page no="307"?> ken und sich zu korrigieren 8 . Diese perzeptuelle Wahrnehmung ist bei der Produktion von Gebärdensprachen nicht möglich. Daher kann bzw. muss Monitoring und Selbst-Korrektur bei Gebärdensprachbenutzern anders erfolgen als bei Sprechern einer Lautsprache. Selbst bei Muttersprachlern wurden Monitoring und Selbst-Korrektur bisher kaum untersucht, bei Lernern einer Gebärdensprache gar nicht. Zwar sind Fälle von Selbstkorrektur bei Muttersprachlern belegt 9 , aber die Beschaffenheit der „Wahrnehmungsschleife“ für Gebärdensprach-Monitoring ist vermutlich anders als die bei Lautsprach-Monitoring. In der normalen sprachlichen Kommunikation kann Monitoring nur durch eine Art innere, mentale Kontrolle geschehen 10 . In den Interviews beschreiben vier Informantinnen explizit, dass dieses fehlende Monitoring ihnen Probleme bereite, und dass sie das fehlende Feedback und die Möglichkeit zur Kontrolle als Nachteil empfänden (Interviewaussagen-ID 31, 82, 104, 255). Sie haben jedoch einen Weg gefunden, die Unterbrechung in der Wahrnehmungsschleife zu umgehen: Insgesamt gaben acht Personen an, gelegentlich Gebärden vor dem Spiegel zu üben, um sich selbst bei der Sprachproduktion beobachten, kontrollieren und ggf. verbessern zu können (zusätzlich zu den oben angegebenen Vorkommen Interviewaussagen-ID 32, 33, 34, 105, 259). Alternativ oder zusätzlich wird das eigene Gebärden auch gefilmt, um den eigenen Output im Nachhinein zu evaluieren. Sowohl in den Laut-Denkals auch in den Experte-Novize-Experimenten finden sich diverse Fälle von Online-Monitoring. Aufgrund der experimentellen Anordnung kommen in den Laut-Denk-Experimenten in erster Linie solche Fälle vor, bei denen sich das Monitoring auf die Bearbeitung der Übungen bezieht, und damit auf das Verstehen der Anweisungen, die der Tutor im Film gebärdet. Dagegen zeigen sich in den Experte-Novize-Ex- 8 Für eine Untersuchung der Wichtigkeit und Wirksamkeit von Monitoring vgl. z.B. die Studie von Ellis zu verbesserten Leistungen bzgl. der Aussprache von Muttersprachlern und Lernern des Englischen (1994, beschrieben in Ellis und Zimmerman 2002). Die Untersuchung ergab, dass die Leistung von Probanden, die ein spezielles Training in der Diskriminierung von Sprachlauten und im Selbst-Monitoring erhielten, nach dem Training signifikant besser waren als die von Probanden, die entweder nur Diskriminierungstraining oder nur Training im Selbst-Monitoring erhielten, oder die nur selbst übten oder die weder gezieltes Training erhielten noch selbst übten. 9 Eine Untersuchung von Dively bspw. zeigt, dass Benutzer von ASL ihr Gebärden überwachen, sich selbst unterbrechen und korrigieren (Dively 1998). Emmorey identifiziert darüber hinaus eine Gebärde, die zum Überbrücken von Pausen eingesetzt wird (die lockere Fünffingerhand mit leichtem Fingerspiel, Emmorey 2002, S. 149ff.). 10 Das Online-Monitoring wird den Lern- und nicht den Sprachverwendungsstrategien zugerechnet, da dem Lerner hier seine Lernsituation sehr bewusst ist: Er weiß, dass sein sprachlicher Output potenziell fehlerhaft ist und versucht durch Überwachung, falsche Elemente zu eliminieren bzw. zu korrigieren. Im Vordergrund steht nicht die Kommunikation, sondern das Fremdsprachenlernen. 295 <?page no="308"?> perimenten Vorkommen, bei denen sich die Lernerinnen während der eigenen sprachlichen Produktion überwachen. In den Laut-Denk-Experimenten beziehen sich die meisten Überwachungs- und Korrekturaktivitäten auf die Rezeption der Perspektive der Wegbeschreibung: • Einige Vorkommen beziehen sich auf die Phase des Lösungsprozesses, wenn die Informantinnen das Auto auf der Bildschirmoberfläche steuern: Einige Informantinnen bemerken, dass sie falsch abgebogen sind und korrigieren dies bzw. kehren um (Informantin B in Transkript Laut- Denk_B, tc 00: 42: 49: 12-00: 43: 04: 16; Informantin F in Transkript Laut- Denk_F, tc 00: 47: 16: 02-00: 47: 24: 11 und tc 00: 48: 24: 23-00: 48: 32: 08; Informantin M3 in Laut-Denk_M3, tc 01: 15: 12: 23-01: 15: 43: 08; Informantin V in Laut-Denk_V, tc 01: 21: 50: 03-01: 21: 51: 19 und tc 01: 21: 51: 19-01: 21: 54: 07). Daneben gibt es jedoch auch in den Laut-Denk-Experimenten Vorkommen von Monitoring und Selbst-Korrektur, die sich auf die Sprachproduktion beziehen: Beim Bearbeiten der Übungen gebärden die Informantinnen häufig die Anweisungen des Tutors nach - vermutlich, um dadurch die Gebärden in die eigene Perspektive zu bringen und sich so in die Lage zu versetzen, die Anweisungen richtig zu verstehen. • F und M3 korrigieren sich jeweils drei Mal selbst, als sie merken, dass sie die Gebärden des Tutors spiegelbildlich imitieren anstatt sie zu „rotieren“ und damit in ihre Perspektive zu bringen (Informantin F in Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 46: 15: 24-00: 46: 18: 04, Laut-Denk_F, tc 00: 55: 59: 01-00: 56: 02: 05 und tc 00: 57: 30: 12-00: 57: 35: 12 sowie Informantin M3 in Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 37: 08: 14-00: 37: 11: 06, tc 01: 03: 29: 03-01: 03: 35: 15 11 und tc 01: 18: 47: 08-01: 18: 49: 17) 12 . • Bei zwei Informantinnen finden sich Hinweise darauf, dass sie beim Imitieren des Tutors ihre eigenen Gebärden hinsichtlich der Form überwachen: Sie korrigieren die Ausführung von Gebärden bzw. stellen auf Deutsch fest, dass sie falsch gebärdet haben (Informantin M3 in Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 28: 52: 03-00: 29: 12: 16 und Informantin V in Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 12: 09: 09-00: 12: 10: 17, 00: 33: 11: 20- 00: 33: 27: 14 und 00: 39: 01: 00-00: 39: 03: 07). 11 In diesem Fall „verbessert“ sich M3 allerdings falsch: Sie nimmt zwar an, dass sie die Gebärden des Tutors spiegelbildlich imitiert hat und „korrigiert“ sich; diese Annahme ist jedoch nicht richtig, so dass sie sich „falsch verbessert“. 12 Eine Selbst-Korrektur, die sich zwar auch auf die „Links-Rechts-Problematik“ bezieht, jedoch nicht die Auseinandersetzung mit der Zielsprache, ist eine Äußerung von Informantin F: Sie übersetzt z.T. die Anweisungen des Tutors ins Deutsche; dabei korrigiert sie sich zwei Mal selbst, als sie merkt, dass sie die Wörter ‚links’ und ‚rechts’ verwechselt (Transkript Laut-Denk_F, tc 01: 12: 21: 07-01: 12: 27: 01 und tc 01: 12: 53: 03- 01: 12: 58: 00). Interessanterweise gebärdet sie beim zweiten Vorkommen die korrekte Gebärde, Kl-AUTO-rechts-abbiegen, obwohl sie das falsche deutsche Wort, ‚links’, verwendet. 296 <?page no="309"?> Die Vorkommen von Online-Monitoring in den Experte-Novize-Experimenten verteilen sich gleichmäßig auf Novizinnen und Expertinnen (7 zu 6 Vorkommen). Sie beziehen sich auf sublexikalische sowie lexikalische, aber auch auf syntaktische Aspekte. In der Regel sind die Korrekturen richtig 13 . • Die Informantinnen korrigieren phonetisch-phonologische Aspekte einer Gebärde wie die Ausführungsstelle (Informantin F, Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 12: 17: 01-00: 12: 19: 24), die Handflächenorientierung (Informantin B, Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 31: 25: 13-00: 31: 27: 09) und die Bewegung (Informantin V, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 41: 49: 11-00: 41: 51: 05). • A3 stellt fest, dass sie die etablierte räumliche Referenz nicht angemessen genutzt hat (Informantin A3, Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 07: 34: 19-00: 07: 37: 19 und 00: 08: 29: 00-00: 08: 31: 21). • Die Lernerinnen „reparieren“ beim Buchstabieren mit dem Fingeralphabet falsch gefingerte Buchstaben (Informantin B, Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 27: 25: 15-00: 27: 29: 01; Informantin F, Transkript Exp- Nov_B_F, korrigiert sich selbst: hat A statt E gefingert, tc 00: 39: 01: 13- 00: 39: 09: 04). • Informantin F korrigiert sich, als sie während der Beschreibung der Bildergeschichte „Ein Geizhals“ merkt, dass sie als Stellvertreter für den ‚Baum’ einen falschen Substitutor verwendet hat: Sie setzt zunächst, vermutlich infolge einer negativen Transferleistung aus dem Deutschen, dazu an, den Klassifikator für eine stehende Person (V-Hand) zu benutzen; dann jedoch registriert sie, dass ein Baum in DGS anders „steht“ als eine Person, und verwendet den korrekten Substitutor. • Eine Selbst-Korrektur bezieht sich auf den Textaufbau: Die beiden Informantinnen diskutieren im Vorhinein über den Aufbau des Textes. Im Anschluss daran beginnt Informantin F mit der Wiedergabe der Bildergeschichte „Der Geizhals“. Sie führt dabei zunächst relativ zu Beginn der Wiedergabe den Hauptakteur, „Herrn Jakob“, ein. Sie korrigiert sich jedoch sehr schnell, ihren Text nicht auf diese Weise anzufangen, da sie sich vorgenommen hatte, zuerst das Setting zu beschreiben (und nicht, „Herrn Jakob“ einzuführen) (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 10: 15: 23- 00: 10: 20: 23). • Ebenfalls F fügt bei der Wiedergabe des Artikels „Ende eines Zeitalters“ zweimal nachträglich Gebärden in ihre Sätze ein, womit sie die Sätze vervollständigt (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 41: 51: 00-00: 41: 56: 06 und 00: 42: 18: 22-00: 42: 19: 17). Eine Möglichkeit, das oben beschriebene, aufgrund der Sprachmodalität bestehende Problem, seinen eigenen Output formal nicht überwachen zu 13 Eine Ausnahme stellt die Selbst-Korrektur von Informantin V dar; sie gebärdet zuerst eine richtige Form, „verbessert“ sich dann aber zu einer falschen Form (Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 41: 49: 11-00: 41: 51: 05). 297 <?page no="310"?> können, stellt vielleicht eine Handlung dar, die einige Novizinnen vollziehen: Sie sprechen simultan zum Gebärden laut mit, sie „glossieren“ gleichsam ihren eigenen Output (lautes Mitsprechen simultan zum Gebärden („verbales Glossieren“) (ID 116)). So spricht Informantin V häufig die Glossen mit, wenn sie Sequenzen aus einem Dialog-Film zeitversetzt und unterstützt von einer Glossenumschrift reproduziert (z.B. Transkript Laut- Denk_V, tc 00: 34: 27: 01-00: 35: 09: 18 und tc 00: 12: 10: 17-00: 12: 16: 00). Aber nicht nur, wenn eine Textgrundlage in der Situation vorhanden ist, spricht sie begleitend zum Gebärden: Auch wenn sie versucht, die Sequenzen aus dem Dialog zu wiederholen, artikuliert sie den Glossen entsprechende deutsche Wörter laut (z.B. Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 28: 24: 02-00: 28: 36: 08). Dass das laute Mitsprechen während des Gebärdens nicht auf das Gebärden anhand einer Glossenumschrift oder auf das Imitieren von Gebärden aus einem DGS-Film beschränkt ist, zeigen die Experte-Novize-Experimente: Auch hier gibt es Vorkommen, bei denen die Informantinnen laut mitsprechen - und zwar simultan zu ihren eigenen Gebärden, die sie selbst spontan produzieren. Dies trifft auf die Novizinnen B und V zu (z.B. Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 31: 13: 14-00: 31: 16: 15; Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 06: 15: 05-00: 06: 21: 16). Eine Vermutung wäre, dass sie ihre Gebärden mit „glossenartigen Wörtern“ begleiten, da sie sich nicht sicher sind, ob ihre (hörende) Experiment-Partnerinnen sie sonst verstehen. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit wäre, dass sie die experimentelle Situation nicht als eine empfinden, in denen sie sich in einer „echten“ Kommunikationssituation befinden (in der Tat ist ja auch ihre Partnerin nicht gehörlos). Aus diesem Grund, und vielleicht auch weil ihnen das Gebärden vor der Kamera eher unangenehm ist, greifen sie auf ein Kommunikationsmittel zurück, in dem sie sich wohler fühlen: gesprochene Sprache. Allerdings ist dieses Verhalten auch aus anderen, außerexperimentellen Situationen bekannt. Daher ist m.E. eine andere Erklärung wahrscheinlicher: Die Lernerinnen sprechen intuitiv zum Gebärden mit, um sich Eigenfeedback zu verschaffen. Dabei greifen sie auf die vertraute Sprachmodalität - gesprochene Sprache - zurück. Sie schaffen sich also einen fiktiven Rückmeldungskanal. Dieser hat zwar reell keine Wirkung (durch gesprochene Wörter erhalten sie kein Feedback über die Form der Gebärden); vielleicht stellt das verbale Glossie- 298 <?page no="311"?> ren jedoch einen Versuch dar, den eigenen Output überwachen zu können 14 . Brown (1987) weist darauf hin, dass es zwischen mehreren Graden der Selbstregulierung zu unterscheiden gilt, und zwar zwischen solchen Regulierungsaktivitäten, bei denen Gedanken bewusst gelenkt würden, und anderen Fällen der Selbst-Korrektur und -regulierung, die unbewusst ablaufen könnten (S. 95). Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie sowie der Spracherwerbsforschung hätten ergeben, dass es sich bei der Fehlerkorrektur während der Sprachproduktion um eine Aktivität handele, die auch bei kleinen Kinder auftrete. Da Kinder diesen Alters jedoch noch nicht zu bewusster Reflexion über eigene Gedanken und Sprache in der Lage seien, müsse man schlussfolgern, dass diese Selbstkorrekturen unbewusst abliefen. Die Fähigkeit zu reflektiertem Nachdenken trete erst später in der Entwicklung auf und sei damit als eine höhere, „reifere“ Form der Selbstregulierung einzuschätzen: „Similarly, error correction during language production is intergral to the processes of using language and is present no less in young children (Bowerman, 1981; Clark, 1979) than in adults (Fromkin, 1973; Nooteboom, 1969). In contrast, metalinguistic awareness is assumed to be late developing, and in a mature form, it is also assumed to be a product of adolescent rather than childhood thinking. The ability to step back and consider one’s own thought (or language) as an object of thought and, to go further, use the subsequent conceptualization to direct and redirect one’s cognitive theories, is late developing. Confused in the metacognitive literature, even lost in some versions of the concept, is the essential distinction between self-regulation during learning and mental experimentation with one’s own thoughts.“ (Brown 1987, S. 96) Im Fall von erwachsenen L2-Lernern ist m.E. die Rolle der Bewusstheit stärker einzuschätzen: L2-Lerner neigen - soweit sie nicht eine muttersprachähnliche Kompetenz erreicht haben - tendenziell zu bewusster Sprachproduktion, da sie erhebliche Ressourcen auf die Formulierung verwenden müssen, um sich möglichst fehlerfrei auszudrücken. Sie haben (zumindest bei gesteuertem L2-Unterricht) die Zielsprache in Form von expliziten Regeln bewusst erfahren, diese im Unterricht u.U. sogar verlangt (House und Kasper 1981), und wenden diese auch bei der Sprachprodukti- 14 Auch beim Imitieren der Anweisungen in den Übungen (z.B. Transkript Laut- Denk_A3, tc 00: 45: 20: 04-00: 45: 24: 14; Transkript Laut-Denk_F, tc 01: 00: 54: 00- 01: 00: 57: 20) artikulieren die Lernerinnen laut die entsprechenden Glossen zu den Gebärden - z.T. während sie sich den Film ansehen (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 46: 15: 24-00: 46: 18: 04). Das laute Mitsprechen dient hier wahrscheinlich dazu, sich den Inhalt, d.h. die Wegbeschreibung kurzfristig zu merken. Aebli (1981) unterscheidet das wiederholende Sprechen mit dem Ziel des Behaltens vom Ziel des langfristigen Einprägens. Als Beispiel nennt er das leise Vor-sich-hin-sprechen einer Telefonnummer. „Wir stellen vielmehr allgemein fest, daß der Mensch, der die Grenzen seines Kurzzeitgedächtnisses kennt die Sprache benützt, um einen einfachen Inhalt für kurze Zeit zu behalten.“ (Aebli 1981, S. 335) 299 <?page no="312"?> on an. Inwiefern also das Online-Monitoring sowie die Fälle der Selbst-Korrekturen bei den vorliegenden Informantenäußerungen als bewusste oder unbewusste Handlungen angesehen werden können, bleibt m.E. unklar; ein Hinweis auf die Bewusstheit ließe sich allenfalls der Zeit entnehmen, die die Lernerinnen für die Korrektur zur Verfügung haben - oder sich nehmen. Jedoch stimme ich der Ansicht zu, dass es sich bei der Analyse von Fehlern und Verständnisschwierigkeiten, wie sie im Korpus auch auftreten, im Vergleich zum Monitoring und der daran anschließenden Selbstkorrektur um eine anspruchsvollere Handlung handelt: Hier wird nicht nur die Entscheidung „Richtig oder falsch? -> Wenn falsch: Wie lautet die korrekte Form? “ verlangt; vielmehr erfordert die Analyse eine weitergehende Fähigkeit zur Reflexion über die Sprache hinsichtlich der Art und Auswirkung eines Fehlers. Daher werden diese Fälle unter der Kategorie „Evaluation“ beschrieben. 12.1.5 Überprüfung In den Daten überprüfen die Lernerinnen • die eigenen Kenntnisse, • den eigenen Output und • das Verstehen von DGS-Texten 15 . Die Lernerinnen überprüfen zum einen Kenntnisse, die sie in die Lernsituation mitbringen, z.B. wenn sie versuchen, Vokabeln oder auch Sätze zunächst selbst zu übersetzen, bevor sie sich die entsprechenden Filme ansehen. Zum anderen überprüfen die Informantinnen aber auch den Lernerfolg, bspw. indem sie versuchen, einen Textabschnitt, den sie zuvor gesehen haben, selbst zu produzieren. 12.1.5.1 Überprüfung der eigenen Kenntnisse Die Lernerinnen setzen verschiedene Maßnahmen ein, um ihre eigenen Kenntnisse zu überprüfen. Hinsichtlich der Satzbzw. Textebene gilt das Übersetzen (ID 35) als ein Mittel, um seine Kenntnisse zu überprüfen. Informantin K, eine Studentin des Studiengangs Gebärdensprachdolmetschen, gibt im Interview an, dass sie dies gelegentlich tue, um zu überprüfen, ob sie das Gewünschte in DGS ausdrücken könne: 15 Die Überprüfung des eigenen Outputs sowie des Verstehens von zielsprachlichem Input wird hier den Lern- und nicht den Sprachverwendungsstrategien zugeordnet, da m.E. der Lernprozess (und nicht eine Kommunikationssituation) im Vordergrund steht. Das Überprüfen dient der Kontrolle, ob die Zielsprache beherrscht wird. 300 <?page no="313"?> K: „Also, ich probiere es manchmal, Fernsehsendungen zu übersetzen. Also natürlich kein… keinen Krimi oder so was, aber mal ein Stück Interview, oder mal ein Stück Talkshow oder irgendwie so. Einfach mal zu gucken: Wie würde das meiner Ansicht nach in DGS aussehen? Und… habe festgestellt, dass bei dieser Übung… dass es so Punkte gibt, über die ich stolpere, wo ich mir dann überlege: Nee, das ist falsch; das muss eigentlich so und so sein. Und dass man sich darüber so ein bisschen verbessert.“ Ch: „Und Du kannst Dich dann auch selber verbessern? Und Du kommst nicht irgendwohin… oder, wahrscheinlich auch, denke ich mal, an einen Punkt, wo: Wie mache ich das denn jetzt? Hm…“ K: „Ja, es gibt schon Sachen, wo ich sage: Nee, geht jetzt nicht, ’ne? Kriege ich nicht hin. Aber es gibt eben so Sachen, wo es… wo ich anfange, und dann merke: Nee, ich hätte anders anfangen müssen. Und das festigt dann irgendwie so die Strukturen, die es haben soll.“ Ch: „Hm. Anders anfangen inwiefern? “ K: „Ähm…“ Ch: „Hast Du ein Beispiel? “ K: „Also einfach so das… weiter abwarten, damit man… also, zum Beispiel, das Größte voran stellt. Oder die Zeit nicht hinten anflickt. Oder solche Sachen. … Weil… es gehört eben die Zeitangabe… gehört grundsätzlich nach vorne. Und dann eben der Ort. Und dass man das nicht durcheinander kriegt. Das ist ganz schwierig, weil man… in Lautsprache eher sagt: ‚Das Haus in der Stadt‘; aber in DGS eben sagen müsste: ‚STADT INDEX HAUS‘. Und deswegen… wenn man da zu früh anfängt, dann geht die Struktur verloren; und dass man wirklich abwartet, bis das Verb da ist, wenn man’s vorher braucht.“ Ch: „Ja. Und machst Du das… um Dein Dolmetschen zu verbessern? Oder um Dir über Deine DGS klar zu werden? “ K: „Ähm… beides. Ich meine, klar, es hat auch was mit Dolmetschen zu tun; aber manchmal überlege ich mir auch einfach… öh… irgendwie… wenn irgendwas… Auch manchmal ist es so ein Satz, den ich höre von irgend jemandem. Dass ich mir überlege: Wie würde das jetzt in DGS aussehen? “ (Interviewaussagen-ID 304) Auch Informantin M2 gibt an, gelegentlich etwas zu übersetzen, allerdings eher beiläufig und nicht so gezielt wie Informantin K: „Ich glaube, bei mir ist es eher so ein bisschen sporadisch. Wenn man irgendwie mal in der Bahn sitzt auf dem Weg zur Uni… dass einem dann irgendwas durch den Kopf geht und man sich überlegt: Wie könnte man das denn sagen? “ (Interviewaussagen-ID 306) Ebenso überprüft Informantin V gelegentlich auf diese Art und Weise ihr Wissen (Interviewaussagen-ID 305). 301 <?page no="314"?> In den Laut-Denk-Experimenten kommen - vor allem beim Bearbeiten der Übungen - Übersetzungsleistungen vor. Die meisten haben jedoch eher keinen strategischen Charakter: Sie sind „lediglich“ Bestandteil des Verstehensprozesses bei der Rezeption der DGS-Filme. Die einzige Informantin, die gezielt übersetzt, ist S: Sie versucht im ersten Schritt, die deutschen Texte des Dialogs in DGS zu übertragen (s.u. die Strategie „Text zuerst selbst gebärden (dann die DGS-Version ansehen)“ (ID 127)); erst dann sieht sie sich die Filme mit dem DGS-Text an und überprüft, ob ihre Übersetzung korrekt war. Bei den Übungen hat allenfalls das Übersetzen und laute Artikulieren der rezipierten Anweisung strategische Züge: Das laute Äußern der Wegstrecke hilft den Informantinnen möglicherweise, die Anweisung kurzfristig zu behalten 16 (z.B. Transkript Laut-Denk_F. tc 00: 51: 00: 04-00: 51: 11: 00, tc 00: 55: 51: 17-00: 55: 57: 01). In einer Aussage der Informantin A2 kommt zum Ausdruck, dass die wiederholte Beschäftigung mit Vokabeln Mittel der Kontrolle dafür sein kann, welche Gebärden bereits beherrscht werden, und welche nicht (Vokabeln wiederholen (ID 39); Interviewaussagen-ID 192). Zwei Lernerinnen geben allerdings an, dass sie die von ihnen notierten Gebärden nicht wiederholen, da es ihnen entweder zu zeitaufwändig ist (Interviewaussagen-ID 64), oder da sie die Vokabeln meist bereits nach dem Aufschreiben beherrschen (Interviewaussagen-ID 133). Eine Informantin verweist in diesem Zusammenhang auf den Mangel an geeigneten Lernmaterialien und die fehlende Gebrauchsschrift, die das Festhalten von Vokabeln überhaupt erschwerten (Interviewaussagen-ID 135). In den Laut-Denk-Experimenten kommt die Überprüfungsabsicht bspw. zum Ausdruck, wenn die Lernerinnen das Vokabelverzeichnis der Lektion durcharbeiten, die Glossenliste durchlesen und nur die Filmclips von solchen Gebärden öffnen, von denen sie die Form nicht mehr sicher wissen (z.B. Informantin S in Transkript Laut-Denk_S, ab tc 01: 32: 05: 15; M3 in Laut- Denk_M3, ab tc 00: 09: 41: 13). Informantin A3 wiederholt die Vokabeln der Lektion z.T., indem sie die Glossenumschrift im Dialog liest: Durch die Glossen kann sie sozusagen die Gebärden, die in der Dialogsequenz vorgekommen sind, wiederholen und dabei überprüfen, ob sie die Gebärden beherrscht 17 (z.B. Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 15: 27: 19-01: 15: 42: 07). 16 Aebli (1981) unterscheidet das wiederholende Sprechen mit dem Ziel des Behaltens vom Ziel des langfristigen Einprägens. Als Beispiel nennt er das leise Vor-sich-hinsprechen einer Telefonnummer. „Wir stellen vielmehr allgemein fest, daß der Mensch, der die Grenzen seines Kurzzeitgedächtnisses kennt, die Sprache benützt, um einen einfachen Inhalt für kurze Zeit zu behalten“ (Aebli 1981, S. 335). 17 Die Glossen der Glossenumschrift im Dialog sind jeweils mit Filmclips verlinkt, die den Zugriff auf die Zitierform ermöglichen. 302 <?page no="315"?> Eine besondere Form des Wiederholens von Vokabeln ist das Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86). Zwei Informantinnen geben an, nicht nur die Vokabeln, die bereits notiert wurden oder die im Kursmaterial vorhanden sind, zu wiederholen; vielmehr erstellen sie selbst aktiv Listen mit Vokabeln zu einem bestimmten Wort- oder Sachfeld (Interviewaussagen-ID 304, Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 32: 58: 16-01: 34: 06: 05). Informantin K gibt an, dass sie dies tue um zu überprüfen, welche Vokabeln sie beherrsche: „[…] oder dass man versucht,… dass man weiß, man hat zu einem bestimmten Thema was gemacht und versucht dann noch mal, alle Vokabeln, die man auf Deutsch dazu kennt, noch mal zu gucken: Welche kenne ich denn… Wofür kenne ich denn jetzt Gebärdenzeichen? “ (Interviewaussagen-ID 304) Im Gegensatz zur Wiederholung von Vokabeln „en bloc“ können Informationen auch vereinzelt und gezielt bzgl. einer Vokabel eingeholt werden. Dies geschieht beim Nachschlagen (ID 26). Das Nachschlagen kann nicht nur dazu eingesetzt werden, überhaupt Informationen zu beschaffen, sondern auch, um unsicheres Wissen zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Informantin K äußert dieses Bedürfnis nach Kontrolle im Interview: „Ich hätte halt gerne was, wo ich dann zu Hause nachgucken kann: Wie sehen Gebärden tatsächlich aus? Wie sieht die grammatische Struktur dazu aus? Habe ich das richtig verstanden? So eine Kontrolle zu haben. Das hat man halt noch nicht, weil es das Material in dieser Form halt noch nicht gibt. Aber ich denke, es wird kommen.“ (Interviewaussagen-ID 248) In den Laut-Denk-Experimenten schlagen die Lernerinnen manchmal die Zitierformen von Gebärden nach, indem sie die Glossen anklicken, die mit entsprechenden Filmclips verlinkt sind. Dies ermöglicht ihnen zu überprüfen, ob Gebärden wirklich so aussehen, wie sie annehmen (z.B. Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 03: 25: 07-00: 03: 26: 20; Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 19: 21: 15-00: 19: 27: 17, tc 00: 19: 46: 09-00: 19: 49: 22, tc 00: 53: 40: 24-00: 53: 55: 02). Die Strategie Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden (ID 90) wurde bereits unter „Ressourcenmanagement“ (Regulierung) beschrieben. Hierbei lag die Intention darauf, möglichst effizient zu arbeiten und keine Energien unnötig zu verschwenden. Davon zu unterscheiden ist der Einsatz dieser Strategie, der dazu führt, dass sich die Lernerinnen intensiver mit dem beschäftigen, was sie als unbekannt identifiziert haben. Während die Lernerinnen, um effizienter zu arbeiten, entscheiden, womit sie sich nicht beschäftigen wollen, dient dieselbe Handlung dazu, zu entscheiden, was man bearbeiten möchte (oder sollte). In diesem Sinne ist die Intention nicht das effektive Arbeiten, sondern die Überprüfung dessen, was man bereits beherrscht und was nicht: In einem ersten Schritt wird entschieden, ob etwas bekannt oder unbekannt ist; kommt der Lerner zu dem Schluss, dass er etwas nicht kennt, kann er sich in einem zweiten Schritt dazu entscheiden, mehr Informationen einzuholen, z.B. eine Vokabel nachzuschlagen. Ist er 303 <?page no="316"?> sich unsicher, ob er etwas kennt oder nicht, kann er sich ebenfalls dazu entschließen, mehr Informationen einzuholen, um seine Kenntnisse zu überprüfen. Informantin A3 geht auf diese Weise vor: Sie liest die Glossen, die im Dialog der Lektion die DGS-Texte verschriftlichen, und prüft dabei, welche Gebärden sie kennt und welche nicht (z.B. Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 04: 09: 18-00: 04: 26: 05, tc 00: 09: 54: 02-00: 09: 57: 05, tc 00: 19: 04: 19-00: 19: 13: 01). Das Überprüfen erfolgt jedoch nicht nur über die Glossenumschrift im Programm: Bspw. stellt Informantin A3 beim Rezipieren des Filmabschnitts fest, dass sie drei bestimmte Gebärden nicht kenne; diese Erkenntnis führt dazu, dass sie weiß, welche Formen sie sich beim wiederholten Betrachten der Filmsequenz genauer ansehen muss (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 06: 47: 11-00: 06: 51: 04; ähnlich Informantin S in Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 19: 41: 07-00: 19: 43: 02). Auch Informantin B meint, dass sie sich nur mit den Erklärungen zur Grammatik in der Lektion beschäftige, wenn ihr die Inhalte unbekannt seien und sie sie aus der Anwendung im Dialog noch nicht verstanden habe (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 10: 20: 04-00: 10: 36: 09). Aufgrund der Differenzierung zwischen Bekanntem und Unbekanntem können also die Lernerinnen ihre Aufmerksamkeit gezielt auf die Beschäftigung mit dem Unbekannten, Neuen lenken (vgl. Strategie „Die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas lenken (ID 41)“). Bedingt durch das experimentelle Design, das das Medium Film beinhaltete, war es für die Informantinnen im Laut-Denk-Experiment möglich, bei der Überprüfung ihrer Kenntnissen auf eine spezielle Art und Weise vorzugehen: Während bei mit Glossen schriftlich festgehaltenen Vokabeln in der Realität meist nur die Möglichkeit besteht zu überprüfen, ob eine Vokabel gewusst wird oder nicht, kann bei der Verwendung von Filmen auch geklärt werden, ob eine Form richtig gewusst wird 18 . Durch den Film erhalten die Lernerinnen die Möglichkeit, die von ihnen produzierten Gebärden mit dieser zielsprachlichen Norm zu vergleichen und zu bewerten, ob ihr Output korrekt war. Bei der Beschäftigung mit dem Vokabel-Teil der Lektion im Laut-Denk- Experiment gehen die Informantinnen üblicherweise so vor, dass sie sich zuerst den Filmclip mit der Gebärde ansehen und diese dann meist wiederholen. Informantin A3 jedoch verfolgt eine andere Strategie: Sie liest sich zuerst die Glossen bzw. die deutsche Übersetzung durch und überlegt dann zunächst, wie sie den Begriff gebärden würde. Erst nachdem sie eine Gebärde produziert hat, schaut sie den Filmclip an, um zu überprüfen und zu bewerten, ob die von ihr produzierte Gebärde korrekt war (beim Vokabeller- 18 Bei einer phonetischen Notation könnte dies auch bei der Arbeit mit schriftlichen Materialien überprüft werden; die Erhebungen zeigen jedoch, dass die Lernerinnen solche Notationen aufgrund des hohen Aufwandes nicht oder nicht vollständig anfertigen. 304 <?page no="317"?> nen zuerst selbst gebärden (dann die Form ansehen) (ID 123)). Damit setzt sie sich quasi selbst einem Test aus. Dieses Vorgehen ist anspruchsvoller als das der anderen Informantinnen, da die Lernerin zunächst selbst über die Form nachdenken, sie aktivieren und ggf. produzieren muss. Die Beschäftigung mit der Zielsprache ist also intensiver als wenn die Form lediglich rezipiert wird. Während Informantin A3 die einzige Lernerin ist, die ihr lexikalisches Wissen auf diese Art und Weise überprüft, verfolgt Informantin S als einzige die soeben beschriebene Strategie auf Textebene (Text zuerst selbst gebärden (dann die DGS-Version ansehen) (ID 127)): Sie gebärdet im Laut- Denk-Experiment zuerst selbst auf der Grundlage des deutschen Textes und schaut sich danach die DGS-Version im Film an. Sie beschreibt ihr Vorgehen beim Arbeiten mit dem Programm: „Und als ich dann ein bisschen in DGS drin war, hab ich’s so gemacht. Ob ich das selber so übersetzen kann, dann… Selber mal versucht. ‚Ah, nein, die machen das ja ganz anders.‘ Und dann… so das analysiert… irgendwie.“ (Transkript Laut-Denk_S. tc 00: 06: 02: 17-00: 06: 13: 19) Sie hat also, ausgehend vom deutschen Dialog-Text des Programms, die Inhalte übersetzt und dann anhand des DGS-Films überprüft, ob ihre Gebärden korrekt waren. Diese Übersetzungsleistung ist natürlich nur möglich ist, weil S bereits über umfangreichere Grundkenntnisse verfügt. Andere Lernerinnen, denen dies aufgrund ihres Kenntnisstandes auch möglich gewesen wäre, tun dies jedoch nicht. Ein Weg, der eine vollständige Übersetzung auslässt, ist das Gebärden auf der Grundlage einer Glossenumschrift (ID 128). Auf diese Weise geht Informantin S auch vor: Sie nutzt die Glossen, die das Programm als verschriftlichte Form des DGS-Textes anbietet, als „Vorlage“. Die Glossenumschrift erleichtert den Lernerinnen die Produktion der gebärdensprachlichen Sequenz, indem sie bereits Hinweise auf die Wortstellung gibt. Auch auf diese Weise kann S überprüfen, welche Gebärden sie bereits beherrscht und ggf., ob sie im Stande ist, die Gebärden syntaktisch korrekt im Raum auszuführen. Durch die soeben beschriebenen Strategien werden Kenntnisse überprüft, die die Informantinnen bereits vor der Lernsituation in den Experimenten hatten. Jedoch kontrollieren die Lernerinnen auch, ob sie das in der experimentellen Situation Erlernte auch beherrschen. Eine Überprüfung des Lernerfolgs findet in den Laut-Denk-Experimenten eigentlich in Form der Übungen statt: Hier können die Informantinnen testen, ob sie das in der Lektion vorrangig behandelte Grammatikthema verstanden haben und im Gebrauch (d.h. hier: bei der Rezeption) anwenden können. Allerdings thematisieren die Informantinnen diesen Sinn der Übungen nicht; sie scheinen diese eher als Instrument zum Trainieren der 305 <?page no="318"?> erlernten Inhalte zu begreifen 19 , und weniger als Werkzeug zur expliziten Überprüfung von Kenntnissen - allerdings sind dies zwei eng miteinander verwandte Konzepte, denn beim Üben stellt sich heraus, was beherrscht wird und was nicht, und umgekehrt sollte das geübt werden, was nicht beherrscht wird. Die Informantinnen wählen jedoch auch andere Vorgehensweisen, um ihre neu erlernten Kenntnisse zu überprüfen: Eine Variation der gerade beschriebenen Strategie „Gebärden auf der Grundlage einer Glossenumschrift“ (ID 128) ist das Gebärden auf der Grundlage einer Glossenumschrift, wobei jedoch der Film mit der Gebärdensprachsequenz bereits betrachtet wurde (zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119)). Die Lernerinnen imitieren die Gebärden aus der Filmsequenz, die sie kurz zuvor gesehen haben, nutzen dabei die Glossenumschrift als „Gedächtnisstütze“ und kontrollieren, ob sie die Gebärden beherrschen (z.B. Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 17: 15: 11-00: 17: 42: 10, 00: 29: 47: 01-00: 30: 08: 00; Laut- Denk_S, tc 00: 35: 42: 00-00: 35: 47: 10). Auf diese Weise gehen die Anfängerinnen S und A3 vor, vor allem aber V. Bei dieser Strategie erleichtert die Glossenumschrift den Lernerinnen die Produktion der gebärdensprachlichen Sequenz: Sie müssen diese nicht auswendig lernen, um zu gebärden und zu überprüfen, ob sie die Gebärden beherrschen; die Glossen geben ihnen sozusagen „Stichworte“ bzgl. des Inhalts und außerdem Informationen bzgl. der Wortstellung. Diese Strategie geht häufig mit der Strategie „eigenen Output gegen zielsprachliches Vorbild abgleichen“ (ID 79) einher, bei der die Lernerinnen nach dem Gebärden den Filmabschnitt noch einmal ansehen, um anhand dieser zielsprachlichen Norm zu überprüfen, ob sie richtig gebärdet haben (z.B. Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 28: 15: 08-00: 28: 21: 23, 00: 33: 14: 13- 00: 33: 27: 14). Zwei Informantinnen thematisieren explizit, dass ihnen eine Möglichkeit zur Überprüfung des neu Erlernten bewusst ist: Informantin B und Informantin V wissen, dass sie, nachdem sie die einzelnen Abschnitte des Dialogs durchgearbeitet haben, den gesamten Dialog noch einmal gebärden könnten (Text erneut gebärden (um Lernerfolg zu überprüfen) (ID 162)). Hierdurch würde ihnen klar, ob sie Wortschatz und Grammatik beherrschten und wo sie noch Schwierigkeiten hätten: „Und ähm… weil ja dann auch, wenn ich den Dialog durchgehe, da kommen ja auch Wiederholungen bei vor und dann sehe ich ja auch, ob ich was gelernt habe, oder nicht. Und… […] Aber ich würd’ dann halt auch immer gucken, also, 19 Vgl. die Aussagen in Transkript Laut-Denk_F, tc 01: 17: 52: 22-01: 18: 00: 03: „[…] Ich möchte die [die CD-ROM, C.M.] auch haben! Und zu Hause weiter üben.“ und in Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 43: 16: 07-00: 43: 19: 16: „Dann kann ich mich noch ein bisschen üben.“ 306 <?page no="319"?> mir den Dialog im Ganzen durchgucken… und versuchen, den durchzugebärden… und dann sehen, wo's wieder hapert, oder nicht.“ (Laut-Denk_B, tc 00: 30: 08: 23-00: 30: 44: 03) „Wenn ich jetzt ganz diszipliniert wäre, würde ich das alles noch mal machen; um zu gucken, ob ich das jetzt noch kann. Aber… nee… muss nicht sein.“ (Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 44: 58: 08-00: 45: 06: 11) 20 Beide Informantinnen entscheiden sich im Experiment gegen eine derartige Überprüfung. Vermutlich zum einen, da es diesen beiden Lernerinnen ohnehin unangenehm ist, vor der Kamera zu gebärden und sie diese Situation nicht unnötig hinauszögern möchten; zum anderen erachten sie vielleicht die experimentelle Situation nicht als „echte“ Lernsituation, so dass sie es nicht als notwendig erachten, ihre frisch erworbenen Kenntnisse zu überprüfen. Außerdem könnten sie befürchtet haben, den zeitlichen Rahmen zu überschreiten (obwohl ihnen mehrfach versichert wurde, dass es keine zeitliche Grenze gebe). 12.1.5.2 Überprüfung des eigenen Outputs Um die von ihnen produzierten Gebärden auf ihre Korrektheit hin zu überprüfen, nutzen die Informantinnen in den Laut-Denk-Experimenten die Filme, die ihnen das Programm bietet. Durch das Ansehen der Filme haben die Lernerinnen Zugang zu einer sprachlichen Norm, gegen die sie ihren eigenen Output abgleichen können. Auf diese Weise können sie den Lernerfolg überprüfen. Informantin S, die in den Laut-Denk-Experimenten sowohl beim Dialog als auch bei den Grammatik-Beispielen nicht erst den Gebärdensprachfilm ansieht, sondern sofort selbst - ausgehend vom deutschen Text - gebärdet (Text zuerst selbst gebärden (dann die DGS-Version ansehen) (ID 127)), gleicht die von ihr produzierten Gebärden gegen die Gebärden im Film ab (eigenen Output gegen zielsprachliches Vorbild abgleichen (ID 79)). Sie nutzt also den Film, der ihr Informationen zur zielsprachlichen Norm bietet, und vergleicht diese mit ihrem eigenen Output (z.B. Transkript Laut- Denk_S, tc 00: 41: 44: 01-00: 41: 51: 01, tc 00: 42: 44: 17-00: 43: 17: 09, tc 00: 44: 44: 13- 00: 44: 58: 02, tc 01: 08: 16: 11-01: 08: 23: 17). Neben dem Film nutzt Informantin S auch die Glossenumschrift, um zu überprüfen, ob ihre Gebärden, insbesondere deren Abfolge, korrekt waren (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 26: 00: 11- 00: 26: 13: 07). Informantin V ist die einzige, die ebenfalls im Laut-Denk-Experiment ihre Gebärdensequenzen anhand des Film überprüft: Zwei Mal im Experiment schaut sie sich den DGS-Film an, nachdem sie eine Sequenz gebärdet 20 Bei beiden Aussagen bleibt unklar, wie die Informantinnen genau vorgehen würden, ob sie bspw. den deutschen Text übersetzen, anhand der Glossen gebärden oder den Text auswendig wiedergeben würden. 307 <?page no="320"?> hat, und kontrolliert, ob ihre Gebärden denen im Film entsprochen haben (Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 28: 15-00: 28: 21, tc 00: 30: 11: 05-00: 30: 25: 14). Allerdings ist bei ihr - im Gegensatz zu Informantin S - die Rezeption des Films eine Wiederholungshandlung: V hat den Film bereits vorher angesehen - ohne zunächst wie S den deutschen Text zu übersetzen. Sie reproduziert also die Gebärdensequenzen, die sie bereits gesehen hat, und schaut sich dann erneut den Film an, um zu überprüfen, ob sie die Gebärden richtig ausgeführt hat. Diese Handlungen, die die Informantinnen einsetzen, um ihre Kenntnisse und ihren Output zu überprüfen, können wie in Abb. 46 dargestellt schematisch zusammengefasst werden 21 . 21 Selbstverständlich ist es vorstellbar, dass auch im zweiten Schritt der Überprüfung der eigenen Kenntnisse von der deutschen Übersetzung ausgegangen wird: Die Lernerinnen hätten auch - nachdem sie den Film betrachtet hatten - versuchen können, den deutschen Text mit Kenntnis dessen, was sie im Film gesehen hatten, zu übersetzen. In den Experimenten geht jedoch keine Informantin auf diese Weise vor; vielmehr scheinen sie sich sehr vom Deutschen gelöst zu haben und versuchen nur, die rezipierten Gebärden auf der Grundlage der Glossenumschrift zu imitieren bzw. zu reproduzieren. Abb. 46: Handlungen im Überprüfungsprozess beim Lernen mit Filmen 308 <?page no="321"?> 12.1.5.3 Überprüfung des Verstehens Das Verstehen der gebärdensprachlichen Äußerungen im Film wird durch das erneute Anschauen der Filmsequenzen überprüft. Durch die Strategie Textstellen wiederholt ansehen (ID 75) kontrollieren die Lernerinnen in den Laut-Denk-Experimenten, ob sie eine Textpassage, die sie bereits angesehen haben, wirklich richtig verstanden haben (z.B. Informantin B in Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 51: 50: 24-00: 52: 14: 16; Informantin A3 in Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 01: 28: 18-01: 01: 35: 05) bzw. wo ihr Fehler lag. Bspw. bemerkt Informantin M3 bei der Bearbeitung einer Übungsaufgabe, dass sie anscheinend etwas falsch verstanden hat. Daraufhin kontrolliert sie durch wiederholtes Anschauen des Films, was sie falsch gemacht oder verstanden hat (Transkript Laut-Denk_M3, tc 01: 14: 54: 19-01: 15: 01: 00). Ähnlich überprüft z.B. A3, ob sie die Ausführung einer Gebärde richtig gesehen hat, indem sie sich den Dialogabschnitt erneut ansieht (Transkript Laut- Denk_A3, tc 01: 04: 36: 09-01: 04: 44: 19). Drei Informantinnen greifen in einigen Fällen in den Laut-Denk-Experimenten auf die deutsche Übersetzung der Gebärdentexte zurück (Verstehen an L1-Textversion überprüfen (ID 156); z.B. Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 07: 02: 01-00: 07: 17: 06, tc 00: 32: 20: 15-00: 32: 24: 23). Auf diese Weise überprüfen sie, ob sie den DGS-Text richtig verstanden haben. Bspw. bemerkt Informantin B: „Und ich guck dann auch noch mal, ob ich’s wirklich richtig verstanden habe.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 04: 47: 20-00: 04: 51: 18) „Und ich guck dann auch noch mal, ob ich’s wirklich richtig verstanden habe.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 04: 47: 20-00: 04: 51: 18) Auch Informantin F liest den deutschen Text und meint: „Ja, das mit den Gerüchten habe ich verstanden.“ (Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 10: 19: 15-00: 10: 30: 06) Im Gegensatz zum wiederholten Ansehen von Textstellen erhalten die Lernerinnen mit dieser Strategie Sicherheit darüber, ob sie etwas richtig oder falsch verstanden haben: Durch die Übersetzung gewinnen sie eindeutige Klarheit über den Inhalt der DGS-Texte, wohingegen sie beim erneuten Rezipieren der DGS-Version „nur“ auf ihre eigenen Kenntnisse angewiesen sind. Auch die Glossenumschrift wird dazu genutzt um zu überprüfen, ob der DGS-Text richtig verstanden wurde bzw. was davon verstanden wurde (Verstehen an Glossenumschrift überprüfen (ID 161)). Bspw. kommentiert A3 laut während sie die Glossenumschrift liest: „Ähm… ‚Platz‘ habe ich verstanden. Und… Also, ‚Otto Friedrich Kruse‘ habe ich nicht verstanden. ‚Straße‘ habe ich verstanden. Dann diese ‚Ecke rechts‘ habe ich verstanden. ‚Kirche‘ habe ich nicht erkannt. ‚um die Ecke‘ habe ich verstanden. 309 <?page no="322"?> ‚Chaussee‘ nicht mehr. ‚Kreuzung‘ habe ich irgendwie nicht gesehen.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 15: 01: 04-00: 15: 33: 22) Ähnlich später: „‚Fürstenberg-Allee‘. ‚Fürstenberg‘ habe ich nicht gesehen. ‚Geradeaus‘. ‚Brücke‘ - habe ich gesehen, glaube ich. ‚Vorbei‘ habe ich nicht gesehen. Dann war das irgendwie so was, so (macht eine ALLEE-ähnliche Gebärde) oder irgendwie so GRAS, was ich als WIESE erkannt habe, oder… Ähm… ‚Wacker-Chaussee‘, habe ich auch nicht gesehen. O.k.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 14: 04: 22- 01: 14: 29: 05) 12.1.5.4 Überprüfung von Hypothesen Das Bilden und Testen (Hypothesen testen (ID 150)) von Hypothesen über grammatische und pragmatische Regeln der Zielsprache stellt eine Aktivität dar, bei der in hohem Maße über die Sprache reflektiert wird: Durch Inferenzbildung gelangt der Lerner zu einer Regel, die er in der Kommunikation anwendet, um ihre Gültigkeit zu überprüfen (s. Kapitel 11.4.7 „Verallgemeinern“). Informantin K nennt als ein konkretes Beispiel die Gebärde AUF 22 , bei der ihr (immer noch) nicht klar ist, wann genau sie eingesetzt wird. Sie versucht durch den Gebrauch der Gebärde herauszufinden, wann sie benutzt wird. Bei ihrer Aussage kommt auch die wichtige regulierende Rolle des Feedbacks des Gesprächspartners zum Ausdruck: K: „Ja. … Und dann, wann man AUF benutzt. (alle lachen) Das war auch immer… Das ist auch so ein Mysterium, finde ich (alle lachen), was so ganz schwierig zu durchschauen ist. Weil, mal ist es absolut notwendig, und mal ist es völlig überflüssig. Manchmal ist es auch völlig falsch. So… Das finde ich also immer noch schwierig. Aber da habe ich inzwischen auch so ganz viele Beispiele gesehen, wo ich denke: Aha, da passt es auf jeden Fall. Und da passt es auf gar keinen Fall. Und dann gibt’s halt noch so Grauzonen, wo… das vielleicht passt.“ Ch: „Und dann? “ K: „(zuckt mit den Schultern) Ausprobieren. Einfach ausprobieren. Entscheidet das Sprachgefühl, und… ob die Entscheidung richtig war oder nicht, zeigt mir dann hoffentlich die Mimik meines Gegenübers.“ (Interviewausssagen-ID 284) Ein weiteres Beispiel für das Bilden und Testen von Hypothesen besteht für K in der Anwendung der Gebärde GEWESEN 23 . Sie erläutert, wie sie 22 Hierbei handelt es sich um eine Gebärde, mit der u.a. Kongruenzbezüge hergestellt werden können. 23 Mit der Gebärde GEWESEN wird ausgedrückt, dass sich etwas in der Vergangenheit abgespielt hat. 310 <?page no="323"?> sich den korrekten Einsatz der Gebärde erschlossen und ihre diesbezügliche Hypothese getestet hat: K: „Oder GEWESEN. GEWESEN finde ich auch so schön, weil… man… Also, ursprünglich habe ich mal gelernt: ‚gewesen‘ geht nur mit Orten.“ Ch: „Aha.“ K: „Also: ‚Ich bin letzten Urlaub in New York gewesen.‘ Geht. Auf gar keinen Fall mit Namen. Weil: Wenn ich sage: ‚Mit PERSON GEWESEN‘ bedeutet das, dass das ein intimes Verhältnis ist. Habe ich dann irgendwann mal gelernt. Dazu kommt man auch.“ Ch: „Das heißt: Du kannst: ‚Ich New York gewesen.‘ Aber: ‚Ich New York mit Franz gewesen.‘“ K: „Doch! Zusammen ja. Aber: ‚ICH FRANZ GEWESEN‘…“ M2: „Ach, Du bist bei Franz gewesen.“ K: „Ja, genau.“ Ch: „Aha.“ K: „Ja? Wenn ich ihn besucht habe, und wir haben etwas anderes gemacht, was in der Vergangenheit liegt, dann muss ich das Verb dazu nehmen.“ Ch: „Aha.“ M2: „Also: BESUCHEN GEWESEN.“ K: „Besuchen gewesen wäre o.k. Und dass GEWESEN mit dem Verb zusammen kombiniert werden muss, das war für mich auch so ein Aha-Erlebnis: Ei, so! Und dann habe ich es ausprobiert, mit BEZAHLEN GEWESEN, und es hat geklappt! (macht eine triumphierende Bewegung)“ Ch: „Hey! “ (alle lachen) K: „Da dachte ich: ‚Jetzt probiere ich’s! ‘ Hab’s probiert, und [nennt den Namen eines Dozenten] hat dann inhaltlich nachgefragt, ob das tatsächlich stimmt. Aber er ist nicht über diese Formulierung gestolpert. Wo ich dachte: ‚O.k., dann stimmt es jetzt so.‘ Bis mich dann vielleicht das nächste Mal es mich erwischt, und es doch… meine Theorie nicht stimmt.“ M2: „Ja, genau. Man muss sehr viel ausprobieren.“ K: „Ja, genau.“ M2: „Sehr viel selber gucken: Was könnte passen? Oder: Was könnte stimmen? Und: auschecken.“ 311 <?page no="324"?> Ch: „Mut zur… zur Probe, sozusagen. Mut zum Ausprobieren? “ K und M2: „Ja.“ K: „Man entwickelt so eine Theorie oder hat so ein Gefühl, und probiert das eben aus. Und irgendwann stößt man an Grenzen oder eben nicht. … Andere Möglichkeiten gibt’s noch nicht.“ (Interviewausssagen-ID 286 und 287) Die von Informantin K gebrauchte Formulierung „probieren“ ist hier nicht als trial-and-error-Vorgehen zu beurteilen: Ihre Ausführungen „Aber da habe ich inzwischen auch so ganz viele Beispiele gesehen, wo ich denke: Aha, da passt es auf jeden Fall. Und da passt es auf gar keinen Fall. Und dann gibt’s halt noch so Grauzonen, wo… das vielleicht passt.“ sowie „Man entwickelt so eine Theorie…“ lassen erkennen, dass sie sich durchaus eine oder mehrere Hypothesen darüber gebildet hat, in welchen Kontexten die Gebärde benutzt werden kann und in welchen nicht. Informantin B betont den affektiven Aspekt beim Testen von Hypothesen. Sie ist eher ängstlich und wagt das Eingehen eines Risikos nur selten: „Ich muss halt viel mehr aus mir rauskommen und dann wird’s halt auch besser. Aber wenn ich immer nur da sitze und beobachte und mich nicht traue, auch mal selber anzuwenden, dann kann’s ja auch nicht besser werden. Und dann kann ich halt auch nicht ausprobieren: Was ist möglich und was ist nicht möglich? “ (Interviewausssagen-ID 179) Vorkommen für das Testen von Hypothesen finden sich nicht in den Experimenten. 12.1.6 Evaluation Um Evaluation von Monitoring abzugrenzen, werden zwei Kriterien herangezogen: Zum einen werden als der Evaluation dienende Handlungen solche Aktivitäten eingestuft, bei denen der Lerner nach Abschluss einer Aktivität seine eigene Leistung bewertet. Zum anderen wird eine Lernhandlung der Kategorie Evaluation zugeordnet, wenn sie von Beginn an mit der Intention ausgeführt wird, die eigene Leistung zu bewerten. Die Strategie Output evaluieren (ID 144) bezieht sich auf die qualitative Beurteilung eines längeren Gesamtprodukts (im Gegensatz zu Strategien, mit denen lediglich überprüft wird, ob etwas beherrscht wird oder nicht). Die Evaluation von Gebärden bzw. Gebärdensequenzen, die die Informantinnen produziert haben, findet - bedingt durch die experimentelle Anordnung - hauptsächlich in den Experte-Novize-Experimenten statt. Nachdem die Informantinnen entweder die Bildergeschichte oder den deutschen Artikel komplett in DGS wiedergegeben oder größere Abschnitte davon umgesetzt haben, bewerten sie ihren Output. Es wird sowohl der eigene als auch der Output der jeweils anderen Lernerin evaluiert. Die Expertinnen bewerten die Äußerungen doppelt so häufig wie die Novizinnen (32 312 <?page no="325"?> vs. 16 Mal). Beide Informantengruppen bewerten ihren eigenen Output kritisch (i.S.v. „Was war falsch? “ bzw. „Was war nicht gut? “) oder äußern sich positiv über die Gebärden der Partnerin; darüber hinaus machen die Expertinnen jedoch auch konstruktive Vorschläge, wie der Output verbessert werden könnte. Dies entspricht der Erwartung: Da die Expertinnen über ein größeres Sprachwissen und mehr Erfahrung verfügen, sind sie eher in der Lage, Korrekturen oder Alternativen vorzuschlagen. In den Laut-Denk-Experimenten, in denen es in erster Linie um die Sprachrezeption geht, finden sich nur zwei Fälle, in denen die Lernerinnen explizit ihren eigenen Output bewerten: Einerseits stellt Informantin V einmal fest, dass sie mit einer von ihr gebärdeten Sequenz zufrieden ist (Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 30: 33: 24-00: 30: 37: 08). Andererseits bemerkt Informantin M3 nach dem Ansehen des Vokabelteils der Lektion, dass sie sich nicht ganz sicher sei, ob sie es geschafft habe, eine bestimmte Gebärde korrekt auszuführen (Trankript Laut-Denk_M3, tc 00: 14: 26: 22-00: 14: 33: 20). Dass die Evaluation des Outputs nicht (oder zumindest nicht nur) durch die experimentelle Situation provoziert ist, in der die Lernerinnen ja quasi dazu aufgefordert wurden, sich explizit und verbal mit ihrem Lernen auseinandersetzen, zeigt die Beschreibung einer Variante dieser Strategie, die in den Interviews genannt wird: das Filmen eines eigenen DGS-Textes, der anschließend auf grammatische Korrektheit und Angemessenheit hin bewertet wird. Zwei Informantinnen schildern in den Interviews, dass sie gelegentlich selbst einen DGS-Text produzieren, sich dabei filmen, den Text im Nachhinein auswerten und ggf. noch einmal produzieren (Interviewaussagen-ID 14, 33, 82). Damit nehmen sie eine Selbstbewertung ihres Textes vor, vermutlich hinsichtlich lexikalischer, grammatikalischer, textlinguistischer und semantischer Aspekte. Dabei findet allerdings eher kein Abgleich gegen eine zielsprachliche Norm statt; Standard ist hier vielmehr das eigene Sprachwissen. Während die Lernerinnen bei der Evaluation des Outputs i.d.R. nicht feststellen, warum etwas als falsch eingeschätzt wird, betreibt Informantin A3 in den Laut-Denk-Experimenten einige Male eine genaue Fehleranalyse (Fehler analysieren (ID 111)). Diese Analyse von Fehlern bezieht sich auf ihre Sprachrezeption. In vier Fällen analysiert sie, warum sie eine DGS- Textstelle nicht verstanden hat: In einem Fall stellt sie fest, dass es sie irritiert hat, dass die gebärdende Person im Film nicht ganz exakt die Maßstäbe und Verhältnisse der Wegbeschreibung eingehalten hat: „Jetzt verstehe ich, warum. Ähm, sie macht… zuerst… also… den… den ganzen Film… während des ganzen Filmes geht sie sozusagen… Hm… Wie sagt man dazu? Also, man kann das gut vorstellen: Sie… sie zeichnet den Weg mit den Hän.. ja klar, mit den Händen. Aber… sie zeichnet es wirklich so mit Abständen. Und… im letzten Abschnitt war sie… also sie hat… sie war hier mit den Händen [imitiert die Handhaltung der Darstellerin im Film, relativ weit oben im Gebärdenraum]; 313 <?page no="326"?> es ist natürlich auch unbequem, wieder weiter zu gehen [streckt die Arme ganz nach oben aus]. Deswegen ist sie runtergegangen [nimmt die Arme ein Stück nach unten in den normalen Gebärdenraum]. Und da ist vollkommen bei mir… [Geste: verwirrt] im Kopf was… Weil ich mir gedacht habe, dass da der Weg sozusagen aufhört. Und dann ist es… Weißt Du, wenn Du… von dem Weg so einen Teil rausnimmst [Geste: ein Stück extrahieren], und noch mal vergrößerst, und noch mal beschreibst. So habe ich mir das vorgestellt, oder verstanden. Deswegen konnte ich mir das nicht… also, in Zusammenhang bringen, weil sie ein bisschen nach unten mit den Händen gegangen ist [imitiert die Darstellerin im Film, wie sie während des Gebärdens ein bisschen mit den Händen im Gebärdenraum nach unten geht]. Und da war ich wieder bei der Post - oder wieder bei… bei dieser Massieustraße, oder Stachlewitzstraße, nicht da, wo ich sein sollte. Und deswegen wusste ich nicht… was, was jetzt wo… wo befindet sich die Post überhaupt.“ (Trankript Laut-Denk_A3, tc 00: 29: 43: 12-00: 31: 10: 03) Ein anderes Mal beschreibt sie, dass sie von der Ausführung einer Gebärde irritiert war. Die Gebärde BRÜCKE wird in der Zitierform mit einer Bogenbewegung von links nach rechts ausgeführt. Diese Bewegung hatte A3 (fälschlicherweise) als analoge Beschreibung der Ausrichtung der Brükke interpretiert und war daher irritiert, da diese Ausrichtung nicht zur restlichen Wegbeschreibung passte: „Einfach BRÜCKE VORBEI. Da hätte ich… ähm… Das war nur die Beschreibung. Da dachte ich wahrsch… vielleicht, dass er… wirklich das beschreibt, wie er die Brücke sozusagen RÜBERGEHT und auf der anderen Seite ist; oder irgendwie anders die umgeht.“ (Trankript Laut-Denk_A3, tc 01: 15: 46: 16- 01: 16: 10: 16) Schließlich analysiert A3, dass sie eine DGS-Sequenz nicht verstanden hat, weil sie eine Gebärde „verpasst“ hat: „Und ich habe GEHÖRLOS nicht als ‚gehörlos’ erkannt. Ich habe wahrscheinlich nur die erste Bewegung… [zum Ohr, C.M.] irgendwie… mitbekommen, und zweite [Bewegung zum Mund, C.M.] nicht mehr.“ (Trankript Laut-Denk_A3, tc 01: 07: 26: 13-01: 07: 35: 14) Die Analysen sprachlicher Aspekte tragen vermutlich erheblich zum Lernprozess bei: Durch die eigene Erkenntnis, warum sie etwas nicht verstanden hat, ist A3 auf zukünftige ähnliche Fälle vorbereitet. Alle soeben beschriebenen Aktivitäten beziehen sich auf die Produktion und Rezeption der Zielsprache. Hierbei operieren die Lernerinnen direkt mit der Sprache. Daneben finden sich im Korpus jedoch auch Vorkommen, die nicht die Sprache auf einer Metaebene betrachten, sondern die Lernobjekte und die Lernumgebung (hier: die Benutzerschnittstelle der Software) der jeweiligen Aufgabe sowie das eigene Vorgehen beim Lernen. Diese sollen im Folgenden kategorisiert und beschrieben werden. Dass sich nicht alle sechs Phasen der metakognitiven Kontrollen in diesen beiden Bereichen wiederfinden, liegt z.T. in der experimentellen Anordnung begründet: Bspw. verlangten die Experimente keine langfristigen Pla- 314 <?page no="327"?> nungen des Lernprozesses. Auch wurde keine explizite Evaluation des Lernerfolgs gefordert, und es stand auch keine als solche angekündigte Überprüfung der erworbenen Kenntnisse an, die vielleicht eine solche Evaluation gefördert hätte. Daher soll die folgende Beschreibung und Kategorisierung nicht i.d.S. verstanden werden, dass bei metakognitiven Kontrollen bezogen auf Lernobjekte und die Lernumgebung sowie auf das Vorgehen beim Lernen die jeweils fehlenden Phasen grundsätzlich nicht vorkämen. Die Kategorien bieten lediglich eine Einordnung der im Rahmen der vorliegenden Arbeit erhobenen Strategievorkommen. 12.2 Metakognitive Kontrollen bezogen auf Lernobjekte und die Lernumgebung Die Vorkommen im Korpus, bei denen sich die Handlungen auf die Lernobjekte und die Lernumgebung beziehen, lassen sich durch eine Einordnung in die Kategorien Orientierung, Planung und Regulierung unterscheiden. 12.2.1 Orientierung Es gibt einige Strategien, die sich auf die äußeren Bedingungen der Lernumgebung hier der Bedienung der Software - sowie auf das Vorgehen beim Bearbeiten einer Aufgabe beziehen. Die Strategie Programmfunktionen kennenlernen und ausprobieren (ID 101) bezieht sich auf das Kennenlernen der Funktionen der Software im Laut-Denk-Experiment 24 . Da es nicht darum ging, die Bedienbarkeit der Software zu evaluieren, wurden den Informantinnen zu Beginn der Experimente jeweils die Navigation und die Bedienung von Programmfunktionen erläutert. Bzgl. dieser Aspekte durften die Informantinnen auch während des Experiments Fragen stellen. Daher treten nur wenige Vorkommen dieser Strategie auf, zumal den Informantinnen das Programm „Die Firma 1“ (Metzger, Schulmeister 24 Metzger und Schulmeister (2004) befassen sich mit der Interaktivität von eLearning- Umgebungen und multimedialen Lernprogrammen. Sie unterscheiden vier Kategorien: „1. Der Benutzer interagiert mit der Hardware des Computers (Tastatur, Maus). 2. Der Benutzer interagiert mit dem Computer über die Benutzerschnittstelle des Betriebssystems (Menüs, Fenster, Icons). 3. Der Benutzer interagiert mit der Benutzerschnittstelle der Software im Computer (Menüs, Paletten, Dialoge, Navigation). 4. Der Benutzer interagiert in einem Lernprogramm, das Inhalte anbietet, kognitiv mit den semantischen Schichten der Lernobjekte (Rezipieren, Darstellen, Verstehen, Variieren, Manipulieren, Konstruieren)“ (Metzger und Schulmeister 2004, S. 269; Hervorhebung im Original). Innerhalb dieser Kategorisierung ist diese Strategie sowie die beiden Strategien „Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83)“ und „im Programm navigieren (ID 102)“ in der dritten Kategorie anzusiedeln. 315 <?page no="328"?> und Zienert 2000) bekannt war, welches ähnlich wie „Die Firma 2“ (Metzger, Schulmeister und Zienert 2003) aufgebaut ist. Dennoch findet sich ein Vorkommen, bei denen Informantin M3 zur Orientierung die Erläuterungen zu den Tasten liest, die beim Roll-Over mit der Maus erscheinen (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 49: 12: 11-00: 49: 21: 03). Außerdem fragt sie, wie der Ablauf der Übung vorgesehen ist und welche Elemente sie gleichzeitig bedienen kann (Abspielen des Gebärdenfilms und „Autofahren“ auf dem Stadtplan). Eine Strategie, die einen holistischen Ansatz i.S.v. Pask (1976) widerspiegelt, besteht darin, sich zunächst einen Überblick über einen Gegenstand zu verschaffen (ID 106). So kündigt Informantin B zum Beginn des Laut-Denk-Experiments zwar an, sich einen Überblick über die Lektion zu verschaffen, indem sie „erst mal so umher [guckt]“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 01: 44: 13-00: 01: 57: 19). Sie hält sich jedoch nicht an ihren Vorsatz; vielmehr vertieft sie sich sofort in den Dialog und arbeitet ihn intensiv durch. Erfolgreicher verläuft der Einsatz dieser Strategie bei der Arbeit mit (gebärdensprachlichen) Texten. In den Interviews geben zwei Informantinnen an, einen Text erst einmal vollständig anzusehen, bevor sie einzelne Abschnitte davon bearbeiten (Interviewaussagen-ID 217, 218). Im Laut-Denk-Experiment setzt M3 diese Strategie ein: Im Gegensatz zu den anderen Informantinnen, die sofort in der Rezeption des Dialogs „versinken“ 25 , schaut sie sich die Filmsequenzen in rascher Folge an, ohne die Gebärden zu imitieren, den deutschen Text zu lesen o.Ä. Damit verschafft sie sich zunächst einen groben Überblick über den Inhalt. Sie kündigt dieses Vorgehen mit folgender Bemerkung an: „O.k. Also, ich denke, ich würde das jetzt so angehen, dass ich mir zuerst das Video anschaue. Auch auf die Gefahr hin, dass ich Teile nicht verstehe, erstmal es ganz durch schaue. Und, ähm… ich denke, dass ich wahrscheinlich… im Anschluss - mal sehen, wie es sein wird - ähm… das dann Stück für Stück durchge- 25 Informantin A3s Aussage verdeutlicht allerdings, dass der Einsatz dieser Strategie auch vom Kenntnisstand der Lernerin abhängen kann. Sie erklärt, warum sie sich nicht zuerst den kompletten Dialog ansieht, sondern sich die Sequenzen abschnittweise anschaut: „Das ist generell das Problem. Wenn ich absatzweise sozusagen… ähm… gucke. Und dann habe ich schon überlegt, ob ich zuerst einfach alles durchgucken soll. Aber irgendwie nach dem zweiten Absatz, wenn ich etwas nicht verstehe, oder wenn ich fast alles nicht verstehe, dann finde ich einfach blöd, das… mir die Zeit zu rauben. Sondern es ist viel besser für die Übung, dass ich zuerst… also richtig das auseinanderlege und nachher… in dem, mit dem Bewusstsein oder mit dem Kenntnis der Vokabeln und so ein bisschen auch Grammatik noch mal das mir anschaue und einprägen kann. Das finde ich… also für mich ist es besser. Aber… ich würde vielleicht… am Ende der Lektion noch mal Dialog ansehen. Aber jetzt nicht mehr.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 19: 50: 08-01: 20: 40: 06) 316 <?page no="329"?> he, und versuche, alles zu verstehen.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 03: 10: 17- 00: 03: 34: 13) 26 Die Strategie, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen, wird auch auf die Übungen in den Laut-Denk-Experimenten angewendet: Alle Informantinnen lesen sich zunächst die Übungsanweisung durch, bevor sie mit der Bearbeitung der ersten Aufgabe beginnen (Transkript Laut-Denk-Experiment, tc M3-00: 45: 42: 23-00: 45: 45: 07, Laut-Denk_B, tc 00: 31: 30: 06- 00: 31: 39: 08, Laut-Denk_F, tc 00: 34: 23: 10-00: 34: 54: 02, Laut-Denk_A3, tc 02: 13: 52: 03-02: 13: 57: 21, Laut-Denk_A3, tc 02: 16: 23: 15-02: 16: 36: 06, Laut- Denk_S, tc 01: 13: 26: 07-01: 13: 34: 05). Damit orientieren sie sich zunächst und beabsichtigen herauszufinden, was von ihnen verlangt wird. Dass zumindest M3 dies bewusst tut, um sicher zu gehen, dass sie weiß, was sie tun muss und wie die Übung funktioniert, zeigt ihre Aussage: „Dann lese ich aber lieber erst mal.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 45: 42: 23- 00: 45: 45: 07) Dass sie und auch die anderen Lernerinnen dabei absichtsvoll strategisch handeln, wird indirekt auch durch die Beschaffenheit dieses Programmteils bestätigt: Dass der Film beim Öffnen der Übung sofort losläuft, verleitet den Anwender eigentlich eher dazu, sich auf die gebärdete Äußerung zu konzentrieren und sofort mit der Bearbeitung der Aufgabe zu beginnen. Die Informantinnen ziehen es jedoch vor, sich zuerst über Ziel und Funktionsweise der Übung durch den deutschen Text zu informieren. M.E. dient diese Strategie der Orientierung: Durch die zunächst oberflächliche Rezeption von Lernmaterial gewinnen die Lernerinnen einen Überblick über das, was sie erwartet. Insofern wird durch den Einsatz dieser Strategie das weitere Vorgehen, also die Planung der folgenden Schritte vorbereitet 27 . 12.2.2 Planung Diese Strategie bezieht sich auf das lernorganisatorische Vorgehen beim Bearbeiten einer Aufgabe. Informantin B schildert im Laut-Denk-Experiment, dass sie sich immer bemüht, einen zusammenhängenden Abschnitt (in diesem Fall den Dialog) „am Stück“ zu bearbeiten (sich vornehmen, einen zusammenhängenden Abschnitt „am Stück“ zu bearbeiten (ID 153)). 26 Lerner, die auf diese Weise vorgehen, verfügen nach Pask (1976) über einen versatilen Stil: Sie verfolgen zunächst einen holistischen Ansatz (sich einen Überblick über den gesamten Text verschaffen), dann handeln sie serialistisch. 27 U.U. könnte man diese Strategie auch der folgenden Kategorie „Planung“ zuordnen: Der Planungsbestandteil besteht darin, dass sich die Informantinnen bewusst zu dem Schritt entscheiden, einen Überblick gewinnen zu wollen. Mit dieser Entscheidung planen sie also einen Teil ihres Vorgehens. Nichtsdestoweniger dient die Strategie als solche der Orientierung. 317 <?page no="330"?> Sie erwähnt dies im Zusammenhang mit der Dauer von Aufgaben: Wenn sie aus zeitlichen Gründen oder wegen nachlassender Konzentration die Bearbeitung einer Aufgabe unterbrechen müsse, versuche sie, dies nach einem zusammenhängenden Abschnitt zu tun. Davon verspricht sie sich, die Aufgabe besser bearbeiten zu können, da sie die Kontextinformation noch im Kopf hat: „Ähm… Also, ich würde schon versuchen, das am Stück durchzuarbeiten. Also, wenigstens den Dialog auch, dass ich weiß, worum's geht und die Vokabeln kenne. […] Dass ich dann halt wirklich auch… nicht den… ja… Anschluss verliere.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 29: 34: 04-00: 30: 07: 00) 12.2.3 Regulierung Konrads Auffassung zufolge sind auch Strategien, die der Optimierung der Lernumgebung und des Lernmaterials sowie des Arbeitsprozesses gelten, der Regulierung zuzuordnen. Folgende Strategien finden sich diesbezüglich im Korpus: 12.2.3.1 Optimierung der Lernbedingungen Der Optimierung der Lernbedingungen dient die Handlung, die Informantin M3 im Laut-Denk-Experiment ausführt: Sie schließt bei der Bearbeitung der Übungen mehrfach die Augen (Augen schließen (ID 104)); Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 31: 44: 05-00: 31: 47: 15, 00: 33: 14: 11-00: 33: 17: 19, 01: 27: 49: 09-01: 27: 53: 12). Nach eigener Aussagen tut sie dies, um sich besser zu konzentrieren zu können: „Ich glaube, das mit dem Augenschließen ist halt irgendwie… alles andere ausblenden, weil ich mich ziemlich schwer konzentrieren muss, um diese… Weggeschichten hinzubekommen… die Orientierungsgeschichten.“ (tc 01: 13: 31: 08- 01: 13: 42: 19) Sie versucht also, für sich Bedingungen zu schaffen, um die Aufgabe besser lösen zu können. Auch eine andere Vorgehensweise der Lernerinnen dient vermutungsweise der Konzentrationsförderung: Sie lesen einen Text laut vor (ID 125). Die Informantinnen A3 und V lesen an einigen Stellen in den Laut-Denk- Experimenten Teile des Textes, der im Programm geboten wird, laut oder halblaut vor. Dies bezieht sich bei A3 auf die Glossen der Vokabeln im Dialog der Lektion (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 07: 58: 22-01: 08: 09: 23, tc 01: 11: 11: 05-01: 11: 14: 18, tc 01: 00: 06: 08-01: 00: 15: 00, tc 01: 53: 34: 11-01: 53: 50: 21) und auf die Glossenumschrift in den Erklärungen zur Grammatik (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 53: 34: 11-01: 53: 50: 21). Informantin V liest einmal die deutsche Übersetzung eines Dialog-Abschnitts laut vor (Transkript Laut- Denk_V, tc 00: 08: 30: 10-00: 08: 41: 19), ein anderes Mal die Übungsanweisung (Transkript Laut-Denk_V, tc 01: 00: 10: 12-01: 00: 46: 10). 318 <?page no="331"?> Während die Strategie des lauten Vorlesens auch zur besseren Memorierung eingesetzt wird (vgl. Kapitel 13 „Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren“), trifft diese Zielsetzung bei den eben genannten Vorkommen offensichtlich nicht zu: Es besteht keine Notwendigkeit, die Glossen, die deutsche Übersetzung oder die Übungsanweisung auswendig zu lernen. Möglicherweise hilft das laute verbale Artikulieren den Lernerinnen, sich zur Konzentration zu zwingen: Wenn man leise liest, kann es leicht geschehen, dass man etwas überliest; formuliert man dagegen laut, ist man gezwungen, konzentriert zu lesen. 12.2.3.2 Optimierung des Lernmaterials Im Korpus lassen sich auch zwei Strategien finden, die sich auf die Interaktion mit dem Lernprogramm beziehen, das in den Laut-Denk-Experimenten eingesetzt wurde. Diese setzen die Lernerinnen mit der Intention ein, die Lernumgebung zu optimieren. Zum einen ist dies die Nutzung einer Programmfunktion, die Aktivierung der Zeitlupenfunktion. Zum anderen interagieren die Lernerinnen mit dem Interface des Programms: Sie navigieren im Programm, um das Lernmaterial so zu gestalten, dass sie damit gut lernen können. Die Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83) beim Abspielen von Filmen optimiert das Lernmaterial dahingehend, dass der sprachliche Input genauer betrachtet werden kann. Eine Informantin erwähnt dies bereits im Interview (Interviewaussagen-ID 290), und in den Laut-Denk-Experimenten wird diese Strategie nicht selten eingesetzt. Einerseits wird durch die Reduktion der Geschwindigkeit die genaue Betrachtung der Gebärden erleichtert; andererseits haben die Lernerinnen auf diese Weise mehr Zeit, um das Rezipierte (bei Beschreibungen räumlicher Verhältnisse, z.B. bei Wegbeschreibungen) mental zu drehen und in die eigene Perspektive zu bringen. Diese Strategie tritt i.d.R. in Kombination mit der Strategie „Textstellen wiederholt ansehen“ (ID 75) auf; häufig imitieren die Lernerinnen darüber hinaus noch die Gebärden aus dem Film (Strategie „zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden“, ID 94). Beispiele hierfür finden sich z.B. in Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 15: 13: 20-00: 15: 18: 12; Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 42: 40: 17-01: 42: 45: 03; Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 57: 30: 12-00: 57: 35: 12. Die Strategie Navigation im Programm (ID 102) bezieht sich darauf, dass die Lernerinnen verschiedene Maßnahmen ergreifen, um die Inhalte vorteilhaft für den Lernprozess zu gestalten. Diese Maßnahmen sind natürlich auf das im Experiment verwendete Lernprogramm bezogen und spiegeln die Funktionen des Programms wider. Eine Ausprägung dieser Strategie ist die Navigation zu einer bestimmten Stelle in einem Film. In den Laut-Denk-Experimenten steuern die Lernerinnen sehr häufig eine bestimmte Filmstelle an. Sie tun dies entweder über den Slider, mit dem der Film vor- und zurückgespult werden kann, oder über 319 <?page no="332"?> die Tasten des Programms „Schritt vor“ bzw. „Schritt zurück“. Damit beabsichtigen die Lernerinnen meist, eine Filmsequenz ab dieser Stelle erneut zu betrachten, da sie sie beim ersten Ansehen nicht oder falsch verstanden haben. Teilweise bewegen sie sich auch zu einer Stelle im Film, um ab dort simultan zum Abspielen des Films die Gebärden zu imitieren. Zwei Informantinnen navigieren den Film an eine bestimmte Stelle, damit die Glossen im Fenster rechts unten auf der Programmoberfläche, die mit dem Film synchronisiert sind, sichtbar werden (Transkript Laut-Denk_V, tc 00: 31: 53: 24- 00: 32: 01: 02, Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 19: 27: 17-00: 19: 44: 15). Dies ist nötig bei längeren Filmsequenzen, bei denen die Glossenumschrift nicht vollständig im dafür vorgesehenen Fenster zu sehen ist. Um bestimmte Teile der Glossen sichtbar zu machen, muss der Benutzer den Film an die gewünschte Stelle navigieren. Informantin M3 äußert den Wunsch, das Filmfenster zu vergrößern, um die Gebärden im Film möglichst gut erkennen zu können (Informantin M3 in Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 17: 08: 19-00: 17: 11: 00) 28 . Vor allem Anfänger haben z.T. Schwierigkeiten damit, bspw. die Gebärden von zwei Personen zu erkennen, die in einem 320x240 Pixel großen Fenster präsentiert werden. Dies ist vermutlich auf ihre geringe sprachliche Erfahrung und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Diskriminierung von Phonemen zurückzuführen (vgl. Kapitel 11.4.4 „Vergleichen“). Gerade bei längeren Filmsequenzen bevorzugen jedoch auch Muttersprachler erfahrungsgemäß Vollbildpräsentationen. In den Übungen, die die Informantinnen zu bearbeiten hatten, werden zwei Strategien eingesetzt, bei denen sich die Lernerinnen die Navigation des Programms zunutze machen: Einerseits starten sie Teilübungen neu. Dadurch gelangen sie zurück an die Ausgangsposition. Dies ist hilfreich, wenn sich die Lernerinnen bei den Übungen zur Wegbeschreibung einige Zeit lang mit dem Auto auf der Oberfläche bewegt haben und nicht mehr wissen, welchen Teil des Weges sie bereits zurückgelegt haben; denn um der Anweisung des Tutors sinnvoll folgen zu können, muss man wissen, welchen Teil dieser Anweisung man bereits befolgt hat. Beispiele hierfür finden sich in Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 53: 24: 23-00: 53: 32: 04, Transkript Laut-Denk_F, tc 00: 52: 27: 13-00: 52: 31: 18, Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 40: 53: 01-00: 40: 56: 05. Andererseits halten bei der Bearbeitung der Übungen die Lernerinnen den Film häufig an, um den Teil der Aufgabe zu erledigen, den der Tutor bis zu dieser Stelle gebärdet hat: Um sich nicht die gesamte Wegbeschreibung merken zu müssen, spielen sie jeweils nur einen Teil der Anweisung ab, 28 Dies ist erfahrungsgemäß ein verbreitetes Bedürfnis von Gebärdensprachlernern. Leider kann dieser Wunsch im Experiment nicht erfüllt werden, da diese Funktion nicht Teil des Lernprogramms ist: Das Fenster, das den Gebärdenfilm enthält, kann nicht vergrößert werden. 320 <?page no="333"?> fahren mit dem Auto diese Strecke und sehen sich dann den nächsten Teil an. Die Informantinnen nehmen also ein Komplexitätsreduzierung vor und unterteilen die Anweisung in mehrere kleine Abschnitte, die sie nacheinander abarbeiten (Sequenzierung von Textstellen (ID 164)). Diese Strategie schont die Gedächtniskapazität: So müssen sich die Lernerinnen nicht die gesamte Anweisung merken, sondern können ihre Konzentration vollständig auf die Erfassung der Gebärdensprache richten. Auf diese Weise gehen die Lernerinnen nicht nur bei der Beschäftigung mit den Übungen vor, sondern auch bei der Rezeption von Texten allgemein: Sie manipulieren das Lernmaterial so, dass sie in der Lage sind, die Bearbeitung einer Aufgabe zu bewältigen. In den Laut-Denk-Experimenten unterteilen einige Informantinnen Abschnitte des Dialogs in kleinere Einheiten. Indem sie einen Abschnitt Stück für Stück rezipieren, können sie sich besser auf Einzelheiten konzentrieren. Diese Strategie spiegelt einen serialistischen Stil nach Pask (1976) wider. Würden sich die Lerner ausschließlich auf isolierte, fragmentarische Fakten konzentrieren, verfügten sie nach Marton und Säljö (1984) über einen „surface approach“. Die Äußerung von Informantin M3 zeigt jedoch, dass sie die Textstellen nicht nur isoliert betrachtet. Sie merkt an, dass sie sich den Dialog zunächst vollständig anschauen werde, um dann kleinere Einheiten zu betrachten 29 : „Und, ähm… ich denke, dass ich wahrscheinlich… im Anschluss - mal sehen, wie es sein wird - ähm… das dann Stück für Stück durchgehe, und versuche, alles zu verstehen.“ (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 03: 21: 17-00: 03: 34: 13) Außerdem finden sich Beispiele für Vorgehensweisen, bei denen nicht der gesamte Dialog in kleine Sequenzen aufgeteilt wird, sondern ein Dialogabschnitt: „Jetzt… weil das wieder so ein Verorten ist, und sich das räumlich vorstellen… möchte ich das noch einmal Stück für Stück durchgehen.“ (Transkript Laut- Denk_S, tc 00: 27: 58: 01-00: 28: 06: 11) Eine weitere Ausprägung der Komplexitätsreduktion findet sich in der Strategie, erst den Teil einer Aufgabe zu bearbeiten, an den man sich noch erinnert (erst bearbeiten, woran man sich noch erinnert (ID 131)). So platziert Informantin S in der Übung des Laut-Denk-Experiments zunächst diejenigen Objekte in der dafür vorgesehenen Fläche, an deren Lage sie sich nach dem Sehen der Anweisung noch erinnert. Im Anschluss daran schaut 29 Im Dialog ist diese Strategie insofern vorgegeben, als er in mehrere Sequenzen unterteilt ist. Durch das Auswählen der einzelnen Abschnitte bewegt sich der Benutzer im Text vorwärts. Daneben besteht auch die Möglichkeit, den gesamten Dialog „am Stück“ abzuspielen. Allerdings wenden die Lernerinnen diese Strategie durchaus auch innerhalb der vom Programm vorgegebenen Abschnitte an, welche i.d.R. aus mehrere Sätzen bestehen, und teilen diese in kleinere Einheiten auf. 321 <?page no="334"?> sie sich den Film erneut an und bewegt die verbliebenen Objekte an den ihnen in der Anweisung zugewiesenen Ort: „Ich fang jetzt von hinten an, weil ich… das einfach noch in meinem Gedächtnis ist, was rechts vom Flur ist.“ (Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 29: 59: 23- 01: 30: 05: 17) 30 . Informantin S beschreibt eine Strategie, bei der ebenfalls das Lernmaterial so organisiert wird, dass es besser verarbeitet werden kann: Sie meint im Laut-Denk-Experiment, wenn man es nicht schaffe, die Anweisung des Tutors in der Übung vollständig zu rezipieren, man zunächst die Gebärden einzeln betrachten könne, indem man den Film immer wieder anhalte. Dann könne man den Schwierigkeitsgrad langsam steigern, indem man zwei Gebärden hintereinander ansehe etc. (Länge zu rezipierender Äußerungen langsam steigern (ID 129); Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 24: 03: 19- 01: 24: 13: 14). S schlägt also vor, die Komplexität der DGS-Äußerung zunächst zu reduzieren, jedoch - mit wachsender zielsprachlicher Kompetenz - diese Bestandteile wieder zu vergrößern und komplexer zu machen. Damit wächst die Herausforderung an den Lerner. Auf diese Weise kann der Lernende selbst das angemessene Maß hinsichtlich der Filmlänge bestimmen, die er imstande ist zu bearbeiten. Dies wirkt sich vermutlich auch positiv auf die Motivation aus: Durch das selbstbestimmte Lernen werden Unter- und Überforderung vermieden. 12.2.3.3 Schaffung von Gelegenheiten zur Sprachpraxis Drei weitere Strategien stellen lernorganisatorische Aktivitäten dar: Die Lernerinnen bemühen sich darum, möglichst viele Situationen zu schaffen, in denen sie Gelegenheit haben, ihre Sprachkenntnisse anzuwenden. Dies geschieht durch aktive Beteiligung am Unterricht, durch die Suche nach Kontakt zu Muttersprachlern außerhalb von Unterrichtssituationen sowie durch das Führen von Selbstgesprächen. Zwei Informantinnen, beide Anfängerinnen, eher zurückhaltende Charaktere und schwächere Lernerinnen, geben im Interview an, sich zu bemühen, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen (Aktive Beteiligung am Unterricht ID (66)). Damit beabsichtigen sie, möglichst viele Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie ihre Sprachkenntnisse anwenden können: „Das finde ich auch, dass man Gebärdensprache hauptsächlich über die Praxis lernt. Weil… wenn man da halt schüchtern wird und überhaupt nichts von sich gibt, dann lernt man einfach nichts. Das habe ich total gemerkt. […] in Gebärden- 30 Bei der Übung der Lektion 2, die Informantin S bearbeitet, ist dies möglich, da die Reihenfolge, in der die Objekte platziert werden müssen, irrelevant ist. Bei der Übung zur Wegbeschreibung in Lektion 6 dagegen müssen die Informantinnen die Anweisung des Tutors sequentiell abarbeiten, um den Weg - Stück für Stück - zu bewältigen. 322 <?page no="335"?> sprache geht man - glaube ich - eher unter, wenn man gar nichts von sich gibt.“ (Informantin V, Interviewaussagen-ID 244) „Also, bei mir ist es glaube ich so, dass es an mir liegt halt auch. Ich muss halt viel mehr aus mir rauskommen und dann wird’s halt auch besser. Aber wenn ich immer nur da sitze und beobachte und mich nicht traue, auch mal selber anzuwenden, dann kann’s ja auch nicht besser werden. Und dann kann ich halt auch nicht ausprobieren: Was ist möglich und was ist nicht möglich? “ (Informantin B, Interviewaussagen-ID 179) Beide Informantinnen haben also die Einsicht gewonnen, dass sie von einer aktiveren Beteiligung nur profitieren können und bemühen sich daher darum. Demselben Ziel gilt die Strategie der gezielten Suche nach Kontakt zu Muttersprachlern (ID 32). Auch hier beabsichtigen die Informantinnen die Schaffung von Gelegenheiten zur Sprachpraxis. Darüber hinaus erhoffen sie sich, möglichst viel und möglichst authentischen Input zu erhalten. Als problematisch stellt sich dabei die Tatsache dar, dass es nicht - wie bei anderen Fremdsprachen - die Möglichkeit gibt, in ein Land zu reisen, in der die Zielsprache gesprochen wird und sich so der Sprache vollständig auszusetzen. Neben privaten Kontakten erscheinen Praktika als eine der wenigen Möglichkeiten, seine Gebärdensprachkenntnisse zu erproben. Naturgemäß kommt diese - ebenso wie die zuvor genannte - Strategie nicht in den Experimenten vor. Ebenfalls, um sich Gelegenheiten zur Sprachpraxis zu schaffen, denken einige Informantinnen in der Zielsprache bzw. führen Selbstgespräche (ID 47; Interviewaussagen-ID 82, 83). Informantin J beschreibt: „[…] Dann, auch sehr gut, Selbstgespräche, immer; […] Ja, ich glaube, ich mache gern irgendwie… ich denke auch häufiger mal Sequenzen in Gebärdensprache (M1 nickt). Um irgendwas… um wieder reinzukommen, oder… um so ein bisschen vor mich hin zu gebärden.“ (Interviewaussagen-ID 82) 31 31 Die Informantinnen diskutieren darüber, in welcher Form dieses „Denken in der Zielsprache“ ablaufen mag. Verständlicherweise kommen sie dabei nicht wirklich zu einem Ergebnis: M3: „Und das machst Du in Struktur, indem Du eine Glosse denkst? Oder denkst Du das visuell? “ J: „Frag mich nicht. Ich denke es… ich glaube, es ist visuell. Aber ich weiß es nicht genau. Ich schnall das auch selbst nicht so ganz.“ M3: „Das ist toll! Das ist bei mir nicht. Das ich das so einfach könnte. Ich denke in Glossen. Wenn ich denke, denke ich in Glossen. Also, ich denke irgendwie in DGS- Grammatik; und bei Sachen, wo mir klar ist, dass ich die Gebärde kann, habe ich - glaube ich - wirklich nur die Glosse im Kopf. Und wenn ich dann stocke dabei und denke: Eigentlich würdest Du das jetzt gerne… Dann überlege ich: Wie funktioniert das? Also: Wie geht die Gebärde eigentlich dazu? “ J: „Nee, ich glaube, ich denke keine klaren Gebärden, aber es ist irgendwo eine Bewegung da. Also… Wollten wir nicht sowieso mal zum Denken in Gebärdensprache ein Seminar machen? (alle lachen) Da wäre ich ja gespannt.“ (Interviewaussagen-ID 82-84) 323 <?page no="336"?> Diese Strategie wird auch von Informantin A3 in einem Laut-Denk-Experiment erwähnt (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 47: 25: 17-01: 47: 35: 01). Eine Strategie, die sehr unspezifisch ist und vielerlei Zielen dienen kann, ist das Bilden von Arbeitsgruppen (Arbeits-/ Lerngruppen bilden (ID 21)). Das Treffen mit anderen Lernern kann mit der Intention veranstaltet werden, sich Sprachpraxis zu verschaffen. Es kann ebenso dazu dienen, Fragen zu klären oder Unterrichtsinhalte aufzubereiten und zu üben. Dabei können emotionale Gründe wie Angst vor der großen Gruppe eine Rolle spielen. Auch kann durch die Verabredung mit anderen ein gewisser Druck zu lernen aufgebaut werden. Letztlich kann auch einfach der Austausch mit anderen Lernern gesucht werden. Aufgrund der großen Spannbreite an Intentionen, mit denen diese Strategie ausgeführt werden kann, ist ihre Einordnung sehr schwierig. Da die Strategie nicht gezielt untersucht wurde, kann hier keine weitere Klassifizierung oder Bewertung vorgenommen werden. In den Interviews wird diese Strategie geschildert und als sehr hilfreich bewertet. Lerngruppen werden auf regelmäßiger Basis, nach Bedarf zur Klärung bestimmter Fragen oder zur Vorbereitung auf bestimmte Ereignisse (z.B. Prüfungen) gebildet. In den Experimenten kommt diese Strategie naturgemäß nicht vor. Sie wird lediglich in einem Laut-Denk-Experiment erwähnt: M3 kann eine Aufgabe nicht lösen und meint, dass sie die Übung „[…] zusammen mit jemandem noch mal angucken“ würde (Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 56: 52: 04-00: 56: 54: 19). 12.3 Metakognitive Kontrollen bezogen auf das Vorgehen beim Lernen Schließlich finden sich in den Daten Aktivitäten, bei denen die Lernerinnen ihr eigenes Vorgehen beim Lernen kontrollieren. Diese können unter dem Aspekt der Planung, Überwachung und Evaluation differenziert werden. 12.3.1 Planung Eine Strategie, die sich auf das Lernverhalten in einer konkreten Situation bezieht, ist die Lenkung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte (die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas lenken (ID 41)). In den Daten der Erhebungen bestehen diese Aspekte in bestimmten sprachlichen Formen. Handlungen dieser Art dienen im Korpus dazu, durch die Analyse dieser 324 <?page no="337"?> Aspekte Verstehensdefizite zu beheben 32 . Während der Vorsatz, seine Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Aspekt zu lenken, der metakognitiven Planungsphase zuzuordnen ist, stellt die Analyse selbst eine kognitive Leistung dar. In den Interviews geben die Lernerinnen an, dass diese Strategie bei ihnen im Unterricht keine große Rolle spiele (Interviewaussagen-ID 17, 18). Man folge eher Anweisungen des Dozenten, sich auf spezielle Aspekte zu konzentrieren, als dies selbst zu initiieren (ID 18). Möglicherweise liegt diese Aussage darin begründet, dass sich bei den Interviewaussagen der Informantinnen der Einsatz der Strategie auf das Verhalten in der Unterrichtssituation bezieht. Dort wird vermutlich die Lenkung der Aufmerksamkeit von der Konzentration auf das allgemeine Live-Geschehen überlagert. Vor allem bei der Bearbeitung von rezeptiven Aufgaben, bei denen der Lerner nicht unter Zeitdruck steht, besteht eher die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit gezielt auf Aspekte von Interesse zu richten. So wird denn auch im Laut-Denk-Experiment die Strategie ein Mal erwähnt. Bei der Bearbeitung des Dialoges im Sprachlernprogramm beschreibt Informantin A3: „Ja, und dann immer, wenn irgendwo ein Index vorkommt, dann… ähm… versuche ich das noch mal abzuspielen, weil ich mit Index … also, nicht gut klarkommen kann. Und… also, immer wieder noch mal sehen muss: ‚Wie wird das genau in bestimmten Situationen auch gebärdet? ‘“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 08: 33: 08-00: 08: 52: 22) A3 hat also erkannt, dass sie Schwierigkeiten mit dem Gebrauch der Gebärde INDEX hat; infolgedessen richtet sie ihre Aufmerksamkeit gezielt auf das Vorkommen dieser Gebärde: Bei der Rezeption von Texten aktiviert sie gleichsam eine generelle Wachsamkeit, um die Verwendung von INDEX zu analysieren. Ähnlich richtet S beim Anschauen des Gebärdenfilms ihre Aufmerksamkeit auf eine Gebärde, von der sie bei der vorangegangenen Lektüre der deutschen Übersetzung festgestellt hatte, dass sie sie nicht kennt (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 19: 41: 07-00: 19: 56: 18). Eine weitere Ausprägung dieser Strategie ist, sich auf die mentale Rotation von Gebärden zu konzentrieren, die eine räumliche Konstellation ausdrücken: Bei der Bearbeitung der Wegbeschreibungs-Übungen im Laut- Denk-Experiment lenken zwei Informantinnen ausdrücklich ihre Aufmerksamkeit auf diese Rotation und rufen sich ins Gedächtnis, dass sie die rezi- 32 Hier zeigt sich der zirkuläre Ablauf der positiven und negativen Evaluation im Lernverlauf: Der Strategie „Die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas lenken“ geht bereits die Erkenntnis über einen Fehler bzw. über ein Defizit voraus; das Defizit wurde in der Überwachungsphase erkannt, dann analysiert und evaluiert; da die Evaluation negativ verlief, wird nun durch den Einsatz dieser Strategie, d.h. durch das bewusste, intentionale Studium des Gegenstandes versucht, es zu beheben. 325 <?page no="338"?> pierten Gebärden nicht spiegelbildlich verstehen bzw. wiederholen dürfen (Informantin B in Transkript Laut-Denk_B, tc 01: 05: 37: 03- 01: 06: 16: 05 und Informantin A3 in Transkript Laut-Denk_A3, z.B. tc 00: 51: 09: 04-00: 51: 15: 01 und tc 00: 58: 56: 18-00: 58: 59: 19). Dies verdeutlich A3s Aussage: „Wenn ich konzentriert bin, und sozusagen immer weiß: ‚O.k., Du musst jetzt die Perspektive ändern! Du musst genau sehen, wie sie sieht! ‘ Und dann, würde es gehen. Und dann ist es auch… Problem für mich, wenn ich ähm… ja… sozusagen wiederum nicht darauf konzentriert bin, zu unterscheiden, wenn sie jetzt die rechte Hand nimmt, auch die rechte Hand zu nehmen. Dann… Ich wiederhole einfach. Und dann… ist die Ecke bei mir links! (grinst)“ (Transkript Laut- Denk_A3, tc 00: 50: 04: 09-00: 50: 35: 06) Und später bemerkt sie: „Wenn ich sowas [bezieht sich auf die Gebärde UM-DIE-ECKE-links bzw. -rechts, C.M.] sehe… Dann muss ich zuerst überlegen: War das die linke Hand, zu der die Richtung war? Oder… die Hand, mit der man gebärdet auch? “ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 59: 05: 00-00: 59: 15: 13) 12.3.2 Überwachung In den Daten der Erhebungen finden sich - neben den Fällen von Monitoring, die sich auf die Produktion oder Rezeption von Sprache beziehen - auch einige Vorkommen, in denen die Überwachung auf das Vorgehen beim Lernen ausgerichtet ist (Online-Monitoring, bezogen auf das Vorgehen beim Lernen (ID 160)). Im Laut-Denk-Experiment schildert Informantin A3, dass sie sich während der Bearbeitung des Dialogs bzgl. ihrer Vorgehensweise umentschieden hat: „Und dann habe ich schon überlegt, ob ich zuerst einfach alles durchgucken soll. Aber irgendwie nach dem zweiten Absatz, wenn ich etwas nicht verstehe, oder wenn ich fast alles nicht verstehe, dann finde ich einfach blöd, das… mir die Zeit zu rauben. Sondern es ist viel besser für die Übung, dass ich zuerst… also richtig das auseinanderlege und nachher… in dem, mit dem Bewusstsein oder mit dem Kenntnis der Vokabeln und so ein bisschen auch Grammatik noch mal das mir anschaue und einprägen kann. Das finde ich… also für mich ist es besser. Aber… ich würde vielleicht… am Ende der Lektion noch mal Dialog ansehen. Aber jetzt nicht mehr.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 19: 50: 08-01: 20: 40: 06) A3 ist sich also der unterschiedlichen Vorgehensweisen bewusst: Sie entscheidet sich gegen ein holistisches Vorgehen, da sie zu Beginn des Textes festgestellt hatte, dass ihr zuviel unbekannt war und sie infolgedessen den Inhalt des Textes nicht verstand. Während sie den ersten Abschnitt der Wegbeschreibung bearbeitet merkt A3, dass sie die Gebärden aus dem Film nur imitiert, ohne die Gebärden inhaltlich in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und sich ein Bild von der beschriebenen Wegstrecke zu machen: 326 <?page no="339"?> „Das hier ist wahrscheinlich nicht so sinnvoll. Ich versuche das einfach nur so bildlich nachzumachen, ohne mir wirklich… na ja, vorzustellen oder… noch mal den Text anzugucken.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 00: 24: 37: 22-00: 24: 53: 04) Daraufhin schaut sie sich diesen Dialogabschnitt in einzelnen Sequenzen - teils mehrfach - an und liest auch die deutsche Übersetzung. Nach der Bearbeitung des Dialogs will sich A3 dann zunächst den Erklärungen zur Grammatik zuwenden; plötzlich entschließt sie sich jedoch, zuerst die Vokabeln der Lektion anzusehen, „Weil: Vokabeln sind für mich einfach sehr wichtig. Grammatik auch, aber wenn ich Vokabeln nicht kann, dann kann ich eigentlich auch keine… Grammatik.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 22: 52: 21-01: 23: 13: 07) Auch bei Informantin V ist im Laut-Denk-Experiment festzustellen, dass sie ihr Vorgehen überwacht und auf Effizienz hin prüft: Beim Bearbeiten der Übungen bricht sie bei einer Teil-Übung den Lösungsprozess ab, da ihr das Vorgehen nicht effizient erscheint. Sie hat sich in der Stadtplan-Übung bei der Fahrt mit dem Auto verfahren und den Überblick verloren, und sie entscheidet, dass ihr weitere Lösungsversuche dieser Art nicht weiterhelfen: „Nee, das macht keinen Sinn.“ (Laut-Denk_V, tc 01: 07: 10: 01-01: 07: 12: 18) Infolge dieser Erkenntnis startet sie die Teil-Übung neu, um von vorn zu beginnen. Diese Strategie verfolgen auch andere Informantinnen (z.B. Transkript Laut-Denk_M3, tc 00: 53: 24: 23-00: 53: 32: 04; Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 40: 50: 12-00: 40: 53: 01; Transkript Laut-Denk_A3, tc 02: 21: 06: 15- 02: 21: 24: 12). 12.3.3 Evaluation Die Fehleranalyse (ID 111) von A3 (und in einem Fall auch von Informantin F) bezieht sich nicht nur auf die Analyse sprachlicher Aspekte, die sie missinterpretiert oder übersehen haben, sondern auch auf ihr eigenes Vorgehen beim Lernen. Einmal bemerkt A3 kritisch den Grund für ihr Nicht-Verstehen einer DGS-Sequenz: „Ähm, ich habe den Text nicht so ganz aufmerksam gelesen. Also, ich war mehr beim Film.“ (Trankript Laut-Denk_A3, tc 00: 48: 34: 20-00: 48: 43: 14) An einer anderen Stelle analysiert A3, warum sie die Wegbeschreibung falsch verstanden hat: Sie hat die Gebärden der Darstellerin im Film lediglich spiegelbildlich imitiert und sie nicht in ihre eigene Perspektive gedreht: „Weil ich gar nicht nachdenke, richtig; sondern einfach sehe. Und nachmache. Und das heißt, dann mache ich… sozusagen, spiegelbildlich, das nach, und nicht so wie… Also, ich ändere die Perspektive nicht. Ich denke nicht darüber nach. Wenn ich konzentriert bin, und sozusagen immer weiß: ‚O.k., Du musst jetzt die Perspektive ändern! Du musst genau sehen, wie sie sieht! ‘ Und dann, würde es 327 <?page no="340"?> gehen. Und dann ist es auch… Problem für mich, wenn ich ähm… ja… sozusagen wiederum nicht darauf konzentriert bin, zu unterscheiden, wenn sie jetzt die rechte Hand nimmt, auch die rechte Hand zu nehmen. Dann… Ich wiederhole einfach.“ (Trankript Laut-Denk_A3, tc 00: 49: 46: 20-00: 50: 32: 23) Informantin B hat Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Übungen zur vertikalen Wegbeschreibung. Sie ist sehr auf den Ausschnitt des Stadtplans fixiert, der jeweils auf der rechten Seite der Oberfläche gezeigt wird: Obwohl der Tutor gebärdet, sie solle „nach unten“ fahren und dann nicht sofort, sondern erst an der zweiten Möglichkeit links abbiegen, lässt sich B vom Bildausschnitt leiten: Dieser Ausschnitt zeigt eine Möglichkeit zum Abbiegen, allerdings oberhalb von Bs aktueller Position. Da sie offensichtlich nur nach einer Möglichkeit sucht, abzubiegen (bzw. diese Möglichkeit zu ignorieren und dann die zweite zum Abbiegen zu nutzen), schließt sie zunächst, sie müsse nach oben fahren: „Ähm… Weil er meint, die Straße nicht und weiterfahren… Also nehme ich jetzt einfach mal an, ich soll geradeaus, also nach oben, wegfahren.“ (Transkript Laut- Denk_B, tc 01: 00: 05: 11-01: 00: 15: 06) Dann erkennt sie jedoch, dass sie sich bei der Entscheidung, nach oben zu fahren, nur vom visuellen Eindruck des Bildausschnittes hat leiten lassen: „Ich glaube, ich lass mich dann einfach zu sehr von diesem Ausgangsbild verleiten. Und guck dann nur, was da ist. Obwohl er ja gezeigt hat: nach unten… fahr ich.“ (Transkript Laut-Denk_B, tc 01: 01: 35: 11-01: 01: 45: 11) 33 Informantin F gesteht an einer Stelle ein, dass sie zu schnell agiert und nicht sorgfältig genug rezipiert hat: „Das… Dann hab ich zu schnell… reagiert, bei dem.“ (Trankript Laut-Denk_F, tc 00: 41: 18: 02-00: 41: 21: 12) Auch die Analyse und Bewertung des eigenen Vorgehens beim Lernen stellt eine wichtige Erfahrung dar, die eine Modifizierung zukünftiger Handlungen ermöglicht. 12.4 Rückschau Setzt man die erhobenen Strategien zu dem in Kapitel 6 „Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit“ vorgeschlagenen Modell in Beziehung, so wird deutlich, dass in die Kategorie instrumentellen Handelns die der Regulierung dienenden 33 Dies geschieht, obwohl B vorher explizit festgestellt hatte, dass sich die Anweisung des Tutors nicht nur auf den Bildausschnitt bezieht (Transkript Laut-Denk_B, tc 00: 40: 35: 12-00: 40: 47: 04). 328 <?page no="341"?> kognitiven Kontrollen fallen. Lerner vollziehen hier Handlungen, um ihren Lernprozess für sie angemessen zu gestalten: Sie erstellen Lernmaterialien und unternehmen Schritte, um Bedingungen und Materialien zu optimieren 34 . Die weiteren metakognitiven Kontrollen sind m.E. als den kommunikativen, instrumentellen und strategischen Handlungen übergeordnete Aktivitäten anzusehen. Sie beziehen sich auf alle Handlungen: Sowohl bei kommunikativen als auch in instrumentellen oder strategischen Handlungen kann es notwendig sein, sich zu orientieren; sie können geplant und überwacht, ihre Sinnhaftigkeit überprüft und evaluiert werden. Auch an dieser Stelle werden im Folgenden die erhobenen metakognitiven Strategien für einen Überblick in einer Tabelle zusammengefasst: 34 Die Strategien, die hier dem Ressourcenmanagement zugeordnet wurden, sind nur im übertragenen Sinn als instrumentelle Handlungen anzusehen: Der Lerner differenziert zwischen verschiedenen Objekten - allerdings hier nicht, indem er physische Objekte auseinanderdividiert, sondern indem er abstrakte Entitäten, nämlich sprachliche Einheiten, unterscheidet. Nichtsdestoweniger ist das Bemühen um effizientes Handeln eine lernorganisatorische Maßnahme. Außerdem sind in dieser Kategorie auch durchaus Handlungen vorstellbar, die Ressourcenmanagement zum Ziel haben, und die auch im engeren Sinne instrumentelle Handlungen darstellen wie bspw. das Sortieren von Unterlagen, um Informationen möglichst schnell wiederfinden zu können. Metakognitive Kontrollen bezogen auf die Zielsprache Orientierung Sich die andere Sprachmodalität und das Prinzip der Raumnutzung bewusst machen (ID 30) Regulierung Ressourcenmanagement: Bemühen um Effizienz Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden (ID 90) Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden (ID 96) Lernmaterial erstellen Filmclips erstellen (ID 46) Karteikarten erstellen (ID 15) Notizen machen (ID 25) Vokabelheft führen (ID 37) Überwachung Online-Monitoring, bezogen auf Sprachproduktion und -rezeption (ID 22) Lautes Mitsprechen simultan zum Gebärden („verbales Glossieren“) (ID 116) Überprüfung Überprüfung der eigenen Kenntnisse Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86) Beim Vokabellernen zuerst selbst gebärden (dann die Form ansehen) (ID 123) Bekanntes von Unbekanntem unterscheiden (ID 90) Gebärden auf der Grundlage einer Glossenumschrift (ID 128) 329 <?page no="342"?> 330 Nachschlagen (ID 26) Text erneut gebärden (um Lernerfolg zu überprüfen) (ID 162) Text zuerst selbst gebärden (dann die DGS-Version ansehen) (ID 127) Übersetzen (ID 35) Vokabeln wiederholen (ID 39) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119) Überprüfung des eigenen Outputs eigenen Output gegen zielsprachliches Vorbild abgleichen (ID 79) Überprüfung des Verstehens Textstellen wiederholt ansehen (ID 75) Verstehen an Glossenumschrift überprüfen (ID 161) Verstehen an L1-Textversion überprüfen (ID 156) Überprüfung von Hypothesen Hypothesen testen (ID 150) Evaluation Fehler analysieren (ID 111) Output evaluieren (ID 144) Metakognitive Kontrollen bezogen auf Lernobjekte und die Lernumgebung Orientierung Programmfunktionen kennen lernen und ausprobieren (ID 101) Sich einen Überblick verschaffen (ID 106) Planung Sich vornehmen, einen zusammenhängenden Abschnitt „am Stück“ zu bearbeiten (ID 153) Regulierung Optimierung der Lernbedingungen Augen schließen (ID 104) Etwas laut vorlesen (ID 125) Optimierung des Lernmaterials Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83) Erst bearbeiten, woran man sich noch erinnert (ID 131) Länge zu rezipierender Äußerungen langsam steigern (ID 129) Navigation im Programm (ID 102) Sequenzierung von Textstellen (ID 164) Schaffung von Gelegenheiten zur Sprachpraxis Aktive Beteiligung am Unterricht (ID 66) In der Zielsprache denken/ Selbstgespräche führen (ID 47) Suche nach Kontakt zu Muttersprachlern (ID 32) Arbeits-/ Lerngruppen bilden (ID 21) <?page no="343"?> 331 Tab. 16: Erhobene metakognitive Strategien Metakognitive Kontrollen bezogen auf das Vorgehen beim Lernen Planung Aufmerksamkeit gezielt auf etwas lenken (ID 41) Überwachung Online-Monitoring, bezogen auf das Vorgehen beim Lernen (ID 160) Evaluation Fehler analysieren (ID 111) <?page no="345"?> 13 Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren Wie in Kapitel 6 „Strategien innerhalb eines handlungstheoretischen Ansatzes: Handlung - Operation - Fertigkeit“ beschrieben, ist innerhalb der Habermasschen Theorie eine besondere Handlungskategorie die der Fertigkeiten. Darunter werden Übungshandlungen verstanden, die speziell auf das Trainieren von an sich unselbständigen Handlungen ausgerichtet sind, bis diese perfekt ausgeführt werden können. Es wird das „Werkzeug“ geübt, mit dem kommunikative Handlungen vollzogen werden können. Im Fremdsprachenunterricht können solche Fertigkeiten von Kommunikation unabhängig geübt werden (bspw. die Artikulation bestimmter Laute oder Handbewegungen); ebenso können Fertigkeiten aber auch eingebettet in kommunikative Handlungen trainiert werden. In den Experimenten setzen die Lernerinnen zum einen Strategien ein, mit denen sie die Artikulation von Gebärden üben, und zum anderen Strategien, die auf die Verankerung zielsprachlicher Einheiten und Strukturen im Gedächtnis abzielen 1 . Die meisten Strategien beziehen sich auf das Üben isolierter Elemente; lediglich das Lernen im Kontext stellt eine Strategie dar, bei der Gebärden in einen bedeutungsvollen Kontext eingeordnet werden 2 . 13.1 Artikulation Bzgl. des Übens der Artikulation finden sich in den Daten einige Strategien, die bereits bei den Strategien des sensomotorischen Niveaus beschrieben wurden (vgl. Kapitel 11.1). Die Lernerinnen fahren die Bewegung einer rezipierten Gebärde mit einer neutralen Handform nach (ID 124), oder sie imitieren Gebärden bzw. Gebärdensequenzen, die sie in einem Film sehen (ID 19, 94, 119). Dafür sehen sie sich z.T. Filmsequenzen mehrmals (ID 75) an, gelegentlich auch in Zeitlupe (ID 83). 1 Auch die Produktion von Texten wird natürlich geübt. Dabei steht jedoch i.d.R. die Formulierung einer inhaltlichen Aussage, d.h. eine kommunikative Handlung, im Vordergrund. 2 Eine tabellarische Übersicht der Strategien befindet sich am Ende dieses Kapitels. 333 <?page no="346"?> 13.2 Memorierung Die Daten zeigen, dass die Informantinnen auf verschiedene Handlungen zurückgreifen, um einzelne Vokabeln, aber auch grammatische Strukturen in ihrem Gedächtnis zu verankern. Eine Strategie, um sich Vokabeln besser zu merken, ist das Lernen im Kontext (ID 17). Dieses Integrieren von Gebärden in einen Kontextzusammenhang führt dazu, dass sich die Lernerinnen mit dem zielsprachlichen Material auseinandersetzen und es auf diese Weise festigen. Das Auswendiglernen (ID 130) wird von den Lernerinnen nicht nur im Zusammenhang mit einzelnen Vokabeln erwähnt. Informantin S äußert am Rande des Laut-Denk-Experiments, dass sie es für sinnvoll halte, gelegentlich auch Gebärdensequenzen (aus Filmen) auswendig zu lernen. Auf diese Weise würden sich Artikulationsmuster einschleifen und automatisieren. Diese ließen sich dann u.U. auch auf andere Kontexte übertragen (Transkript Laut-Denk_S, tc 01: 25: 43: 02-01: 25: 50: 24). Informantin A3 liest im Vokabel-Teil der Lektion, die sie im Laut-Denk- Experiment bearbeitet, die Glossen der Vokabeln laut vor (Etwas laut vorlesen (ID 125)). Dieses multimodale Vorgehen dient ihrer eigenen Aussage zufolge der besseren Memorierung der Vokabeln 3 : „Und… ich finde es viel… viel leichter… zu lesen. Also, laut. Überhaupt: Das zu sprechen, und nachher sich zu merken.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 47: 10: 00-01: 47: 20: 06) Möglicherweise steigert sie durch das laute Lesen ihre Konzentration (vgl. Kapitel 12.2.3 „Regulierung“). Die Annahme, dass es sich hierbei nicht um ein Erhebungsartefakt handelt, wird dadurch gestützt, dass die Informantinnen die Texte ansonsten nicht laut vorlesen. Auch die Aussage von Informantin A3 bestätigt dies: Sie bemerkt, dass sie auch zu Hause laut lese: Ch: „Du hast jetzt hier immer… auch das deutsche Wort laut vorgelesen. Hast Du das nur für mich laut vorgelesen? Oder würdest Du das zu Hause wahrscheinlich auch machen? “ A3: „Nee, ich… ich lese das zu Hause auch… auch vor.“ Ch: „Laut? “ A3: „Laut.“ (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 46: 36: 01-01: 46: 48: 05) 3 Aebli unterscheidet drei Funktionen von Sprache: Sprechen, um etwas zu bewirken, Sprechen, um wahrgenommene Wirklichkeit und eigenes Erleben darzustellen sowie Sprechen und Lesen als Stütze von Denk- und Behaltensprozessen (Aebli 1981, Kapitel 7, insbes. S. 335f.). Die letzte Funktion trifft auf diese Vorkommen zu. Hier erfüllt das laute Sprechen eine „eingeschränkte, sozusagen technische Funktion“ (Aebli 1981, S. 335). 334 <?page no="347"?> Die meisten Informantinnen schreiben Vokabeln auf (ID 25) - in erster Linie, um später Materialien zum Nachschlagen zu haben (vgl. Kapitel 12.1.3 „Regulierung“). Vier Informantinnen geben darüber hinaus an, dass sie sich Vokabeln allein durch Notieren - ohne weitere Memorierung - bereits besser merken können (Interviewaussagen-ID 90, 91, 133, 192). Die Strategie, Gebärden auf ihre Bestandteile hin zu analysieren (ID 27) wird im Zusammenhang mit dem Notieren von Vokabeln genannt: Beim Aufschreiben von Gebärden mit HamNoSys wird automatisch eine phonologische Analyse vorgenommen, da durch das Notationssystem die einzelnen Parameter einer Gebärde (Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung) festgehalten werden. Das Notieren dient zwar in erster Linie dazu, ein Vokabelverzeichnis zu erstellen (s. Kapitel 12.1.3 „Regulierung“); zwei Informantinnen stellen jedoch in den Interviews fest, dass sie sich durch diese Analyse die Gebärden besser merken können (ID 7, 133, 136). Das Aufschreiben dient also auch dazu, Gebärden besser im Gedächtnis zu verankern. Die Informantinnen benennen in den Interviews mehrfach das Kreieren von Eselsbrücken (ID 8) als nützliche Hilfe, um sich sprachliche Elemente einzuprägen (Interviewaussagen-IDs 11, 12, 123, 240, 265, 266, 297) 4 . Diese Strategie dient in den meisten Fällen der Memorierung von Vokabeln. Die kognitiven Leistung besteht in der Herstellung von Analogien. Diese können unterschiedlicher Art sein. Zum einen stellen die Lernerinnen Analogiebeziehungen zwischen Gebärden und ihren Referenzobjekten in der realen Welt her. Zum anderen bilden sie auch Relationen zwischen formähnlichen oder formgleichen Gebärden. 13.2.1 Wiederholung Neben diesen Strategien, die der Memorierung dienen, finden sich weitere Strategien, die als gemeinsames Merkmal die Wiederholung haben. Wiederholungsstrategien dienen i.d.R. der Memorierung von Inhalten, meist Vokabeln, aber z.B. auch sprachlichen Regeln, Satzbeispielen o.Ä. Durch Wiederholungshandlungen sollen diese Inhalte im Gedächtnis verankert werden. Insbesondere vor Prüfungen ist das Wiederholen eine beliebte Strategie, um Inhalte zu festigen (Interviewaussagen-ID 134, 192, 202). Die Aussagen der Informantinnen verdeutlichen, dass diese Wiederholungshandlungen sehr unterschiedlich beschaffen sein können: 4 Mehrere Untersuchungen wiesen nach, dass ikonische Gebärden (bzw. vielmehr solche, die als ikonisch eingeschätzt werden, s. Mandel (1977a)) von Lernern leichter behalten werden als nicht-ikonische, vgl. hierzu z.B. Mandel (1977a) und Luftig und Lloyd (1981) für hörende Erwachsene ohne ASL-Kenntnisse sowie Beykirch, Holcomb und Harrington (1990) für Lerner von ASL. 335 <?page no="348"?> Zum einen können einzelne Gebärden wiederholt werden (Strategie Vokabeln wiederholen (ID 39)). Dabei vergegenwärtigt sich der Lerner Form und Bedeutung der Gebärden. Dies kann auf unterschiedliche Arten und Weisen geschehen: • durch rein mentales Wiederholen: Informantin A3 beschreibt, dass sie manchmal die Gebärden, die ein Dozent im Unterricht produziert hat, quasi wie einen Film vor dem geistigen Auge ablaufen lässt (Strategie mentales Wiederholen von Vokabeln (ID 64)); auf diese Weise kann sie die Ausführung der Gebärde erneut „betrachten“: „Also, […] dann kann ich sozusagen in meinem Kopf den Ablauf… ja, der Stunde rekonstruieren, fast. Und dann sehe ich sozusagen zum Beispiel [nennt den Namen eines Dozenten, C.M.] oder [nennt den Namen eines Dozenten, C.M.] noch mal in meinem Kopf gebärden.“ (Interviewaussagen-ID 137; ebenso ID 154, 156) Auch im Laut-Denk-Experiment erwähnt sie diese Strategie: Das Abrufen des Lernkontextes hilft den Lernerinnen beim Erinnern (Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 20: 48: 04-01: 21: 12: 07 und 01: 25: 03: 24-01: 25: 11: 15); • anhand von schriftlichen Materialien, z.B. Vokabellisten und -kärtchen, mit denen im Fall einer Notation mit Glossen oder „echten“ deutschen Wörtern eine Übersetzungsleistung einhergeht (Interviewaussagen-ID 90, 134, 192, 193; Strategien Vokabelheft führen (ID 37), Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86), Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151) 5 ; hier ordnen oder klassifizieren die Lernerinnen die sprachlichen Einheiten, • anhand von Filmmaterial (Interviewaussagen-ID 73, 82, 132; Strategie Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163)), • durch Imitieren eines realen sprachlichen Vorbildes (Interviewaussagen-ID 82). Die Wiederholung kann rein durch gedankliches Abrufen bzw. Nachvollziehen der Vokabel geschehen oder durch den tatsächlichen physischen Akt des Gebärdens. Es erscheint sinnvoll, zwischen zwei Arten des Wiederholens zu differenzieren. Einerseits beschäftigen sich Lerner mit bereits bekanntem Material: Sie „frischen“ ihre Kenntnisse „auf“ und beabsichtigen, das zu Erlernende zu festigen und im Gedächtnis zu verankern. Andererseits kommt es zu Wiederholungshandlungen, bei denen sprachliche Vorbilder imitiert wer- 5 Informantin F merkt an, dass sie sich Vokabeln zwar notiere, diese aber nicht wieder anschaue, „weil meine Vokabeln ja dann nicht alphabetisch geordnet sind oder irgendeiner Logik folgen“ (Interviewaussagen-ID 3). 336 <?page no="349"?> den. Dieses Imitieren kann sowohl beim Auffrischen von Wissen als auch bei neuen Lerngegenständen auftreten 6 . Neben Einzelvokabeln werden von den Lernerinnen auch komplexere Inhalte wiederholt. Dies geschieht zum einen in Form der Vor- und Nachbereitung von Unterrichtsinhalten (Strategie Unterrichtsinhalte vor- und nachbereiten (ID 36 und 31)). Dies ist eine übergeordnete Strategie, die mehrere andere Strategien umfasst. Im Wesentlichen besteht sie in der Wiederholung des Unterrichtsstoffes, in erster Linie der Vokabeln; aber es werden auch allgemein Themen und Regeln rekapituliert (Interviewaussagen- ID 14, 20, 21, 22, 154, 202, 206). Die fortgeschrittenen Lernerinnen bemerken allerdings, dass dies aufgrund der wenigen vorhandene Materialien schwierig sei: Meist sei kein Material vorhanden, das man nachbereiten könne - außer den selbst mitgeschriebenen Informationen, hier vor allem Vokabeln (s. Strategie „Notizen machen“, Kapitel 12.1.3 „Regulierung“) 7 . Aufgrund des experimentellen Designs kommt diese Strategie nicht in den Erhebungen vor. Zum anderen treten Wiederholungshandlungen im Rahmen der Arbeit mit Texten auf: Informantin A3 beschreibt im Laut-Denk-Experiment die Möglichkeit, bei der Arbeit mit Texten zunächst einzelne Abschnitte nacheinander zu bearbeiten und dann den Text noch einmal im Zusammenhang anzusehen (Strategie nach dem Durcharbeiten einzelner Text-Abschnitte den Text noch einmal im Zusammenhang ansehen (ID 122); Transkript Laut-Denk_A3, tc 01: 19: 50: 08-01: 20: 40: 06). 6 Das Imitieren kann prinzipiell verschiedenen Zwecken dienen: a) der Verankerung der sprachlichen Einheit im Gedächtnis (dieses Ziel ist für diese Strategiekategorie relevant), b) dem motorischen Training (hierfür vgl. Kapitel 11.1 „Strategien auf dem sensomotorischen Niveau“), oder c) der Veranschaulichung, nämlich um etwas Rezipiertes in die eigene Perspektive zu bringen (vgl. Kapitel 11.3 „Strategien auf dem konkret-anschaulichen Niveau“). Diese Imitationen können zeitgleich oder zeitversetzt zum sprachlichen Vorbild auftreten (Strategie zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94) und Strategie zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19), und sie können physisch-real oder mental (ID 92) vollzogen werden. Einige Informantinnen greifen beim Imitieren auch auf die Glossenumschrift zurück und orientieren sich daran (ID 119). 7 Aus demselben Grund wird - wiederum in den höheren Studiensemestern - der Unterricht auch kaum im eigentlichen Sinne vorbereitet: Nur zu Beginn des Lernprozesses (d.h. in den ersten beiden Semestern) ist die Vorbereitung einer Lektion möglich, da nur dann entsprechende Lehrwerke vorhanden sind (Interviewaussagen-ID 202, 206). Diese Strategie ist am ehesten dem affektiven Bereich zuzuordnen: Durch die Vorarbeit kann der Lerner die Inhalte der kommenden Stunde schon einmal kennen lernen; damit verschafft er sich die Sicherheit, nicht auf Unbekanntes zu stoßen, sondern mit den Unterrichtsinhalten umgehen zu können. Außerdem könnte eine extrinsische Motivation in der Erreichung guter Noten liegen: Die Vorbereitung ermöglicht eine höhere Beteiligung am Unterricht, die durch gute Noten belohnt wird. 337 <?page no="350"?> Auch die Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren, sollen an dieser Stelle tabellarisch zusammengefasst werden: Strategien, die dem Üben der Artikulation dienen Aktivierung der Zeitlupenfunktion (ID 83) Bewegung einer Gebärde mit einer neutralen Handform nachfahren (ID 124) Imitieren zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119) Textstellen wiederholt ansehen (ID 75) Strategien, die zur Memorierung eingesetzt werden Eselsbrücken bauen (ID 8) Etwas laut vorlesen (ID 125) Gebärdensequenzen auswendig lernen (ID 130) Kontextualisieren (ID 17) Notizen machen (ID 25) Phonologische Analyse von Gebärden (ID 27) Wiederholungsstrategien Aufstellen thematischer Vokabellisten (ID 86) Filmclips zum (Vokabel-) Lernen benutzen (ID 163) Imitieren zeitgleiches Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 94) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden (ID 19) zeitversetztes Imitieren eines Vorgebärdenden, unterstützt von einer Glossenumschrift (ID 119) Karteikarten zum Lernen benutzen (ID 151) Mentales Wiederholen von Vokabeln (ID 64) Nach dem Durcharbeiten einzelner Text-Abschnitte den Text noch einmal im Zusammenhang ansehen (ID 122) Unterrichtsinhalte vorbereiten (ID 36) Unterrichtsinhalte nachbereiten (ID 31) Vokabelheft führen (ID 37) Vokabeln wiederholen (ID 39) Tab. 17: Erhobene Strategien, die die Entwicklung von Fertigkeiten trainieren 338 <?page no="351"?> 14 Produktionsstrategien In diesem sowie im folgenden Kapitel werden die erhobenen Sprachverwendungsstrategien dargestellt. Hierunter fallen solche, bei denen nicht das Lernen zielsprachlicher Elemente und Strukturen in Vordergrund steht, sondern bei denen die Intention der Lernerinnen ist, sich entweder möglichst korrekt und effektiv in der Zielsprache auszudrücken (Produktionsstrategien) oder diese zu verstehen (Rezeptionsstrategien). Die die Sprachproduktion betreffenden Strategien lassen sich unterscheiden in solche, die von den Studierenden eingesetzt werden, um ihren eigenen sprachlichen Output möglichst korrekt zu gestalten, und andere Strategien, die mit der Intention eingesetzt werden, sprachliche Lücken zu kompensieren. Außerdem finden sich Vermeidungsstrategien; sie können in Strategien eingeteilt werden, die zum einen den sprachlichen Output angehen und die zum anderen das Vorgehen beim Lösen von Aufgaben betreffen 1 . 14.1 Produktionsstrategien, die den möglichst korrekten Ausdruck zum Ziel haben 14.1.1 Prozess/ Abläufe von Ereignissen mitbeschreiben, nicht nur das Ergebnis (ID 50) Diese Strategie wurde als eine konkrete Ausprägung des Bildens von Hypothesen bzgl. der Zielsprache (ID 11) eingestuft (vgl. Kapitel 11.4.7 „Verallgemeinern“). Einige Informantinnen - vor allem die Expertinnen - haben für sich die Hypothese gebildet, dass es ein charakteristisches Merkmal gebärdensprachlicher Äußerungen sei, dass nicht nur das Ergebnis eines Prozesses benannt, sondern auch der vorangegangene Ablauf mitbeschrieben und/ oder beispielhaft illustriert wird. Dementsprechend produzieren sie selbst in ihren Äußerungen solche Beschreibungen. Im Interview beschreibt Informantin M1, dass sie sich oftmals in DGS ausführlicher äußert als sie dies aus dem Deutschen gewohnt sei. Sie empfindet dies als einen erfolgreichen „Weg“, sich verständlicher auszudrükken, und als einen zielsprachlich angemessenen Ausdruck: M1: „Also, ich habe eine Zeit lang habe ich mich immer sehr beeilt. Und versucht, möglichst viel möglichst kompakt zu erzählen. Und damit bin ich ganz oft gegen eine Wand gerannt. Und dann ist mir irgendwann aufgefallen, dass ich aus 1 Eine tabellarische Übersicht der Strategien befindet sich am Ende dieses Kapitels. 339 <?page no="352"?> einem Satz auch fünf machen kann. Und dass das auch gar nicht schlecht ist; dass die Leute nicht gähnend davongehen, sondern, dass sie mich sogar besser verstehen. Also, dass einfach da so ein Umdenken stattgefunden hat. Und das hat‘s mir erleichtert. Gerade, wenn ich was mitteilen will. Dann gehe ich jetzt eher noch mal um drei Ecken, und bin dann da, weiß dann aber auch, dass ich es rübergebracht habe; und mit einem viel einfacheren Satzbau. Also, mich von diesem Satzbau zu lösen, das hat irgendwann dann einfach geklappt. Ch: „Vom Satzbau - meinst Du dann…“ M1: „Vom deutschen, ja, vom deutschen Satzbau zu lösen. Und, auch von Vokabeln, also, das hat bei mir ganz, ganz lange gedauert; es ist bestimmt auch noch nicht fertig, aber das war für mich ein ganz, ganz wichtiger Schritt; zu sehen, dass ich nicht eins zu eins übersetze, sondern dass ich anfange, auf anderen Wegen zu gehen, in der Gebärdensprache.“ Ch: „Kannst Du diese Wege beschreiben? “ M1: „Ich finde sie… weniger abstrakt, oft. Wenn da vielleicht auch einige Leute böse sind, wenn man das sagt. … Beschreibender, also, die Sachen, die ich sage, sind auf jeden Fall beschreibender, mehr. Und… oft auch… Zeitverläufe [? ? ? Aufnahme unverständlich, C.M.],… dass ich die nachempfinde, einfach, in dem, was ich sage… also…“ Ch: „Nachempfinden? “ M1: „Also… Nein,… dass ich einfach irgendwie… Das fällt eigentlich unter das Beschreiben; also… glaube, ich; dass man… ich finde das gerade schwer zu erklären. Also, wenn man irgendeinen Ablauf… also, wenn es mir um ein Ergebnis geht, aber der Ablauf davor steht, dann beschreibe ich ganz oft den Ablauf noch mit; und dann bin ich am Ende da, wo ich hin will. Aber dann habe ich halt alles sozusagen mit drin, auch wenn der Ablauf vielleicht gar nicht wichtig ist, nehme ich den trotzdem noch mit rein. […] Ich glaube, das ist eine Art Umschreibung. Also… mir geht es dann oft so, dass ich mehrere Wörter brauche, oder mehrere Gebärden für ein Wort. Sozusagen. Aber… das ist nicht so, dass ich auf der Suche nach einem Wort bin und dann mehrere Sachen sage bis mein Gegenüber nickt, sondern… Es ist eher auch kein Umschreiben, sondern ein Beschreiben, wieder; also, das ist… das ist total schwer zu sagen.“ (Interviewaussagen-ID 97, 98) M1 hat also die Erfahrung gemacht, dass diese Art des ausführlicheren Beschreibens von Abläufen ihr dabei hilft, verstanden zu werden. Sie meint, es als „gebärdensprachtypisches“ Merkmal herausgefunden zu haben, dass in DGS z.T. nicht nur eine Gebärde zur Bezeichnung eines Vorgangs produ- 340 <?page no="353"?> ziert wird, sondern dass zudem der Vorgang selbst kurz beschrieben und/ oder beispielhaft illustriert wird 2 . Obwohl dies in den Interviews von den anderen Informantinnen nicht weiter erwähnt wird, verwenden die Informantinnen des öfteren gebärdensprachliche Formulierungen wie sie M1 in der oben genannten Aussage beschreibt. Solche Äußerungen kommen in den Experte-Novize-Experimenten vergleichsweise häufig vor. Dies lässt darauf schließen, dass auch die anderen Lernerinnen ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie M1 3 . In allen Experte-Novize-Experimenten setzen - in erster Linie die Expertinnen - diese Strategie ein. Die Lernerinnen nutzen für die Beschreibungen verschiedene Mittel: Zum einen beschreiben sie den Prozess bzw. den Ablauf von Ereignissen oder Vorgängen. Dies trifft auf die Begriffe ‚Versteinerung“. Bspw. gebärdet Informantin F: „MARKER-B ZEITPHASE TIER STERBEN STERBEN / BODEN Kl-MASS- OBERFLÄCHE-SINKEN / Kl-SUBST-PERSON-LIEGEN / DANN VERÄ… / ZEIT DURCHGÄNGIG / LANGSAM VERÄNDERN STEIN“ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 40: 42: 08-00: 40: 59: 20) 4 Ähnlich Informantin M3: „BEISPIEL FISCH / DANN MEER Kl-MASS-OBERFLÄCHE-sinken / TIER STERBEN STERBEN STERBEN / SAND Kl-SUBST-PERSON-LIEGEN Kl-SUBST- PERSON-LIEGEN Kl-SUBST-PERSON-LIEGEN / […] / AUCH Kl-SUBST-VIE- LE-OBJEKTE-FALLEN / MEHR SCHICHT SCHICHT SCHICHT / Kl-MASS- OBERFLÄCHE-drücken / Kl-MASS-DRÜCKEN2“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 17: 11: 06-00: 17: 36: 24) 5 Und Informantin J: 2 Dieses Vorgehen ähnelt der Kompensationsstrategie „Paraphrasieren“. Bspw. beinhaltet auch die Umschreibung z.B. von Fachbegriffen teilweise die Beschreibung von Abläufen. Der Unterschied zwischen diesen Strategien liegt darin, dass beim Paraphrasieren eine Vokabellücke kompensiert wird, wohingegen diese Strategie nicht aus einer Defizitsituation heraus eingesetzt wird. 3 Aus meiner gebärdensprachlichen Erfahrung heraus teile ich M1s Einschätzung. M.E. handelt es sich hierbei um ein sprachbzw. kulturspezifisches Phänomen. Vermutungsweise spielen dabei Faktoren wie Absicherung der Referenz und Mangel an Fachvokabular bzw. wenig verbreitetes Fachvokabular eine Rolle. Bisher gibt es meines Wissens keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben. 4 Eine sinngemäße deutsche Übersetzung lautet: „Zu dieser Zeit sind die Tiere ausgegestorben. Sie sind auf den Boden gesunken, und mit der Zeit haben sie sich langsam in Steil verwandelt.“ 5 Eine sinngemäße deutsche Übersetzung lautet: „Zum Beispiel die Fische; die sind dann im Meer auf den Grund gesunken. Die Tiere sind gestorben und lagen dann im Sand. […] Die sind alle so nach unten gefallen. Und dann gab es mehrere Schichten… und Druck von oben.“ 341 <?page no="354"?> „ODER VORSTELLEN FRÜHER / WENN TIER STERBEN / LANGE-ZEIT / BEISPIEL MEER UNTEN BODEN Kl-SUBST-PERSON-LIEGEN / TOT Kl- SUBST-PERSON-LIEGEN / SAND BEDECKEN / DANN AUCH WASSER Kl- MASS-DRÜCKEN1 / DANN LANGSAM LANGSAM VERÄNDERN STEIN“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 01: 47: 18-01: 02: 12: 02) 6 Außer der Beschreibung des Ablaufs verwenden die Informantinnen das Einführen eines Kontrasts als zusätzliche Information bzw. Abgrenzung. Hier kontrastieren die Lernerinnen den zu beschreibenden Begriff mit einem anderen, semantisch entgegengesetzten Begriff. Beispiel hierfür sind folgende Äußerungen, in denen die Informantinnen die Verdeutlichung des Begriffs ‚vielzellig‘ planen: „Und ich glaube, mir ist dabei eingefallen… ähm… bei ‚vielzelligen Lebewesen‘… könnte man vielleicht als Vergleich - um kurz zu erklären, was man überhaupt hier mit ‚vielzelligen Lebewesen‘ meint - … … ähm… einzellige Lebewesen… beschreiben, und dann sagen: Und dann… Also, FRÜHER gabs… ähm… einzellige Lebewesen. Nur. Und dann so in der Entwicklung… wurden die eben vielzellig. Und diese vier… vielzelligen gab es das erste Mal in diesem Paläozo… zoikum.“ (Informantin J in Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 51: 05: 17-00: 51: 36: 04) „Sonst, sozusagen, wenn man dann das Gegenteil EINZELLER nimmt, … ob das… klar ist.“ (Informantin M2 in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 53: 38: 10- 00: 53: 44: 05) „Vielleicht könnte man wenigstens dann so was dazu sagen wie: ‚Das sind halt noch keine richtigen Tiere.‘ Oder so was.“ (Informantin A2 in Transkript Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 22: 48: 24-00: 22: 53: 17) Neben diesen Kontrasten fügen die Lernerinnen auch erklärende Erläuterungen und beschreibende Merkmale zu den Informationen hinzu, die eigentlich in dem Artikel vorhanden sind. Eine solche Erläuterung findet sich z.B. bei Informantin J. Sie fügt zur Erläuterung des Begriffs ‚einzellig‘ eine Bemerkung in ihren Text ein, durch die sie für den Rezipienten einen Bezug zu etwas Bekanntem herstellt: Sie erinnert daran, dass man in der Schule Einzeller unter dem Mikroskop beobachtet hat: „SPEZIELL INDEX TIER NUR EIN ZELLE / KENNEN DU? / BEISPIEL WENN SCHULE MIKROSKOP / SEHEN INDEX Kl-MASS-WINZIG / ODER / ZELLE KÖRPER Kl-MASS-WINZIG DAS-IST-ES / EIN ZELLE TIER“ (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 57: 04: 21-00: 57: 23: 18) 6 Eine sinngemäße deutsche Übersetzung lautet: „Oder, stell‘ Dir vor, früher, wenn die Tiere gestorben sind… und dann nach unglaublich langer Zeit… zum Beispiel im Meer auf dem Grund gelegen haben - also: da so tot rumgelegen haben - dann wurden sie von Sand bedeckt. Und vom Wasser gab es dann einen starken Druck von oben; und dann haben sie sich ganz langsam in Stein verwandelt.“ 342 <?page no="355"?> Ebenfalls J weist mit der Nennung der Attribute ‚beißen‘ und ‚trampeln‘ beschreibende Merkmale eines ‚Dinosauriers‘ zu („Das Viech, das beißt und trampelt.“; Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 04: 24: 24-01: 04: 26: 18), Eine weiteres Mittel, das die Informantinnen einsetzen, sind zusätzliche Beispiele. Diese sollen den jeweiligen Begriff illustrieren und erklären. Informantin J gebärdet erläuternd zum Begriff ‚Kontinent‘: „GESTE AMERIKA AFRIKA EUROPA“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 02: 53: 11- 01: 02: 58: 11) Aus einer Äußerung von Informantin A2 wird deutlich, dass sie das Einfügen von Beispielen für eine der Norm der Zielsprache angemessene bzw. sogar notwendige Maßnahme erachtet: „Wenn wir ein Beispiel wüssten, dann könnten wir wenigstens BEISPIEL sagen, und dann… … was es denn so ist. Also, damit man nicht… Also, ich find, das ist halt immer so… Kann man sich überhaupt nicht vorstellen: Vielzellige Lebewesen. Und ich glaub auch, kein Gehörloser würde ernsthaft sagen: ‚Das sind dann vielzellige Lebewesen.‘ Oder? “ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 22: 07: 13- 00: 22: 22: 10) Ähnlich bemerkt sie später, dass Beispiele ihrer Ansicht nach ein Merkmal eines gut verständlichen DGS-Textes darstellen (tc 00: 38: 53: 07- 00: 38: 56: 18). Auch Informantin J meint, dass ein typisches Merkmal von DGS-Äußerungen ihre Ausführlichkeit sei: J: „Und dann muss man, glaub ich, einfach immer… eher… ins Detail gehen, und noch ‘n büschen mehr DAZU… “ S: „Eher zuviel als zuwenig. So? Ja.“ J: „Hm, hm.“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 06: 35: 06-01: 06: 46: 03) Die Informantinnen fügen diese Beschreibungen, Erläuterungen, Beispiele und Kontraste in der Erhebung i.d.R. ein, um die Bedeutung von Begriffen zu erklären, bei denen sie davon ausgehen, dass sie Gehörlosen nicht unbedingt bekannt sind. Dies wird z.B. durch die Äußerung von M2 deutlich: „Und ich find auch dieses ‚vielzellig‘ schwierig. Da weiß ich einfach auch nicht, ob das reicht, wenn man sagt: VIELE ZELLEN. Ob das dann, sozusagen, genug ist. Oder ob man… ob man… noch eigentlich… mehr… mehr Beispiele bringen muss.“ (Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 52: 52: 23-00: 53: 08: 14) A2s Aussage bestätigt diese Unsicherheit: „Das finde ich auch immer sehr schwer: Was man voraussetzen kann? Also: Ist EVOLUTION wirklich was… Und dann sagt der Dir: ‚Ja, klar, kenn ich.‘ Oder ist es was, wo man auch noch mal dann… was dazu packen würde? Das find ich immer schwierig, wie man Texte gebärden muss, weil ich da noch überhaupt kein Gefühl für hab, wann man… Man darf ja nicht sagen ‚Erklärung‘, eine ‚Um- 343 <?page no="356"?> schreibung‘… mit einfügt. Und wann man‘s bleiben lässt. “ (Transkript Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 43: 16: 05-00: 43: 35: 19) Diese Problematik schildert auch M3 (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 39: 58: 10-00: 40: 21: 15). J spricht in diesem Zusammenhang von „gehörlosen-angepassten“ Texten (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 06: 26: 06- 01: 06: 34: 06). Damit meint sie, dass zum einen vergleichsweise viele Begriffe nicht nur benannt, sondern zusätzlich auch erläutert werden; zum anderen liegt J aber viel daran, den Text durch ergänzende Äußerungen nicht nur verständlich, sondern auch interessant zu gestalten (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 34: 42: 00-00: 35: 41: 18) 7 . Dieser Sorge gelten bspw. auch mehrere Bemerkungen von Informantin A2: „Also, es war dann plötzlich so trocken.“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 33: 06: 10-00: 33: 08: 02; außerdem ähnlich in tc 00: 38: 40: 07-00: 39: 19: 08, 00: 38: 49: 06-00: 38: 51: 06 und 00: 40: 39: 04-00: 40: 41: 10) 14.1.2 Strukturierung und Planung des eigenen sprachlichen Outputs Die Informantinnen beschreiben und benutzen auch einige Produktionsstrategien. Sie haben bestimmte Strategien identifiziert, die bei der Formulierung - der Strukturierung des eigenen sprachlichen Outputs - hilfreich sind. 7 Damit hat Novizin S zunächst große Schwierigkeiten. Ihr Ziel ist es, die im Artikel vorhandenen Informationen der Vorlage entsprechend angemessen sachlich wiederzugeben (Transkript Exp-Nov_S_J, tc). Sie befürchtet, dass durch zusätzlich eingebaute Erläuterungen der Text „verzerrt“ würde (tc 00: 36: 13: 11-00: 36: 17: 09). Später, nachdem J ihre Version gebärdet hat, stimmt S ihrer Experiment-Partnerin J jedoch zu: „Ja, jetzt versteh ich auch, was Du meintest mit: ‚Ist nicht so interessant, dieser Text‘. Also, Du hast ihn jetzt interessant gemacht… sozusagen. […] Ja, also, ich merk halt noch, dass ich ganz anders… daran […] das angepackt habe. Also: Text, was da steht, diese Information gebe ich weiter. Aber… Ob jetzt da vorher noch… nur Einzeller da waren, also… wär mir gar nicht eingefallen, das auch noch einzufügen. Also… Da… So… Ich mein, das… ist viel verständlicher. Also, jetzt auch für jemand, der nicht unbedingt… Also, der… den Text auch verstanden hat.“ (tc 01: 05: 32: 23-01: 06: 23: 20). In anderem Zusammenhang - bei der Bildergeschichte „Ein Geizhals“ - nennt J ein weiteres Mittel, einen DGS-Text interessant zu gestalten: Die Äußerung von Gefühlen (mittels Constructed Action). Sie findet, dass eine „nette Gefühlsäußerung […] immer gut [in Gebärdensprach-Geschichten] reinpasst“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 21: 42: 08- 00: 21: 52: 10). 344 <?page no="357"?> 14.1.2.1 Nutzung bestimmter Gebärden zur Strukturierung des eigenen sprachlichen Outputs Eine bestimmte Gebärde zur Strukturierung des Gebärdenraums einsetzen (ID 73) Diese Strategie bezieht sich in erster Linie auf die Verortung von abstrakten Bedeutungen im Gebärdenraum. In gebärdensprachlichen Äußerungen werden nicht nur gegenständliche, konkrete Objekte oder Personen analog im Gebärdenraum „abgebildet“; auch bei konzeptuellen Entitäten ist es üblich, diesen einen Ort im Raum zuzuweisen, auf den man sich im weiteren Verlauf des Gebärdens rückbeziehen kann. Vor allem die Verortung von abstrakten Bedeutungen ist für Gebärdensprachlerner nicht einfach; sie liegt in diesen Fällen nicht so nahe wie bei konkreten Objekten, da es für abstrakte Bedeutungen keine gegenständlichen Referenzobjekte in der realen Welt gibt, deren Anordnung und Position „nur“ in den Gebärdenraum transferiert werden müsste. Zwei Informantinnen nennen verschiedene Gebärden, die sie als Möglichkeiten identifiziert haben, Abstrakta im Gebärdenraum zu verorten, und zwischen denen sie bei einer solchen Verortung wählen: Informantin J beschreibt: „Man hat einen Begriff (gebärdet: THEMA), und dann (gebärdet: AUFFÄCHERN1nach-unten)… da hat man so Aufteilungen, irgendwie so. Da kann man sich ganz toll drauf beziehen. Aber, als ich das das erste Mal ausprobiert habe, war auch gleich klar, dass das viel, viel einfacher ist (M1 nickt). Und deshalb…“ (Interviewaussagen-ID 118) Abb. 47: Gebärde THEMA 345 <?page no="358"?> Informantin A1 nennt weitere Gebärden (Interviewaussagen-ID 165 und 171); sie bedauert aber auch, dass sie zwar diese sprachlichen Mittel als solche kennt, jedoch nicht genau weiß, wann sie welches einsetzen soll: „Diese Dinger aufteilen, AUFFÄCHERN2-nach-unten, oder es so aufzuteilen, SPEKTRUM, oder in solche Stränge, EINZELSTRÄNGE, oder so was… Es scheint für mich immer ein bisschen willkürlich. Und, ähm… Und es hat auch nie jemand erklärt. Das muss man… Und ich weiß auch nicht, wie man das macht, wie man das rauskriegt. Also… nur durch Beobachten und… jedes Mal sagen: ‚O.k. Das war besser. Merk ich‘s mir mal.‘“ (Interviewaussagen-ID 165) Abb. 48: Gebärde AUFFÄCHERN1-nach-unten; Handstellung in der Anfangs- und Endposition Abb. 49: Gebärde AUFFÄCHERN2-nach-unten 346 <?page no="359"?> Abb. 50: Gebärde SPEKTRUM; Handstellung in der Anfangs- und Endposition Abb. 51: EINZELSTRÄNGE; Handstellung in der Anfangs- und Endposition Abb. 52: Gebärde BEREICH 347 <?page no="360"?> Aufgrund des in den Experte-Novize-Experimenten verwendeten Materials kommt die Strategie „eine bestimmte Gebärde zur Strukturierung des Gebärdenraums einsetzen“ (ID 73) nicht vor. Eine bestimmte Gebärde zur Signalisierung eines Themenwechsels einsetzen (ID 152) Informantin D beschreibt, dass sie die Gebärde WEGSCHIEBEN gern einsetzt, um das Ende eines Themas bzw. den Beginn eines neuen Themas zu signalisieren. Sie benutzt diese Gebärde vor allem dann, wenn sie bereits viele Objekte im Gebärdenraum verortet hat und „es einfach nur noch… voll“ wird (Interviewaussagen-ID 208, 210). Mit Hilfe dieser Gebärde „leert“ sie quasi den Gebärdenraum und kann auf diese Weise neue Informationen verorten. A2 bemängelt allerdings, dass im Unterricht keine Angaben zu den genauen Verwendungsmöglichkeiten dieser Gebärde gemacht werden. Aufzählungen einsetzen (ID 82) Informantin M2 gibt an, dass sie das Aufzählen von Aspekten als einen „ein sicherer Weg“ empfindet, sich auszudrücken (Interviewaussagen-ID 282). Diese Aufzählung ist gleichsam eine „Durchnummerierung“ der Aspekte: Jeder Gesichtspunkt wird mit einer Gebärde für eine Ordinalzahl versehen. Dies ist eine Möglichkeit, gebärdensprachlich eindeutig verschiedene Informationen zu vermitteln, ohne den Gebärdenraum zu nutzen. Diese Strategie kommt aufgrund des in den Experte-Novize-Experimenten verwendeten Materials nicht vor. Abb. 53: Gebärde WEGSCHIEBEN; Handstellung in der Anfangs- und Endposition 348 <?page no="361"?> 14.1.2.2 Planung von sprachlichem Output Die Planung von sprachlichem Output ist eine Strategie, die der Planungsphase der metakognitiven Kontrollen zuzuordnen ist (vgl. Kapitel 12.1.2 „Planung“). Dieser Planung dienen folgende Strategien: Mentales Vorformulieren von Sätzen vor der realen Äußerung (ID 38) Einige Informantinnen beschreiben, dass sie häufig, bevor sie eine Äußerung tatsächlich gebärden, diese gedanklich vorformulieren (Interviewaussgen-ID 29, 33, 35, 81, 99). Dies dient dazu, den Output zu kontrollieren und sich dadurch möglichst korrekt auszudrücken. Informantin M3 bemerkt bspw.: M3: „Das ist dann bei mir glaube ich auch fehlende Praxis, das dass nicht so raussprudelt. Sondern, ich muss dann mich hinsetzen und jeden Satz erst mal gedanklich vorformulieren, bevor es dann klappt. Und weil ich das nicht so mache, normalerweise, sondern eher losrede, halt in den anderen Fällen, kommt‘s dann irgendwie falsch raus.“ Ch: „Und dieses Vorformulieren: Geht‘s da um die Reihenfolge? Oder: Welcher Klassifikator nun genau? “ M3: „Ja genau, eher das zweite.“ (Interviewaussagen-ID 81) Da also im normalen Gespräch auch oft die Zeit nicht ausreicht, um den Output vorzuformulieren, unterbleibt dies und resultiert in grammatikalisch falschen Äußerungen. In den Experimenten wird diese Strategie nicht erwähnt. Probe-Gebärden (ID 29) Neben dem gedanklichen Vorformulieren geben einige Informantinnen an, dass sie auch tatsächlich „zur Probe“ gebärden (Interviewaussagen-ID 31, 32, 35, 36, 167). Dies geschieht bei der Vorbereitung von Referaten oder allgemein bei Sprachproduktionsaufgaben vor der endgültigen Präsentation. Das „Probe-Gebärden“ dient ebenfalls dazu, den endgültigen Output zu planen und zu optimieren. Bspw. meint A1: „Zum Beispiel, wir haben jetzt eine Aufgabe über die Semesterferien. Und das ist eben auch so eine Textübertragung. Da sitzt man halt ziemlich lange davor und überlegt sich verschie… Oder mach ich so: Überlege mir verschiedene Versionen. Und probier sie aus und stelle dann fest: ‚Irgendwie ist das nicht gut.‘ Und muss mal überlegen: ‚Wie viele Orte muss ich eigentlich unterbringen? ‘ Und fang dann noch mal von vorne an und so.“ (Interviewaussagen-ID 167) Zwei der Informantinnen bemerken, dass sie diese „Probe-Gebärden“ z.T. auch vor dem Spiegel ausführen: 349 <?page no="362"?> „Ich übe oft vor dem Spiegel, und dann geht es viel besser, weil man sich selber kontrollieren kann.“ (Informantin S in Interviewaussagen-ID 31; ähnlich S-E in ID 32) Informantin F schildert, dass sie z.T. nicht real etwas probehalber gebärdet, sondern gedanklich (Interviewaussagen-ID 33). In den Experte-Novize-Experimenten gebärden einige Informantinnen ebenfalls erst einmal „zur Probe“. Da diese Vorkommen jedoch im Zweifel auf die experimentelle Anordnung zurückzuführen sind (die Informantinnen sollten sich ja über ihren Output oder den geplanten Output austauschen), können sie hier nicht unbedingt als strategische Handlungen gewertet werden. Gliederung ausarbeiten (ID 9) Ebenfalls der Planung des sprachlichen Outputs dient die Ausarbeitung einer Gliederung: Zwei Informantinnen betonen mehrfach, dass sie es für sehr wichtig und hilfreich halten, bei der Vorbereitung eines Referats eine Gliederung anzufertigen (Interviewaussagen-ID 15, 35, 36, 65, 66). Während beim „Probe-Gebärden“ meist die sprachliche Form im Vordergrund steht, werden hierbei eher die zu produzierenden Inhalte als solche strukturiert. Dabei identifizieren die Lernerinnen die wesentlichen Informationen und ordnen sie auf eine angemessene Weise. Die folgenden Aussagen zweier Informantinnen illustrieren, welche Gedanken sie bei der Ausarbeitung der Gliederung geleitet haben: „Und Referate vorbereiten. (F: „Ja, klar.“) Das ist natürlich immer sehr intensiv. Also, wenn man, ich weiß nicht… wir mussten ins Völker[kunde]museum. Und solche Sachen. Also, die fand ich… die haben auch richtig viel Vorbereitung erfordert. […] Das war damals die erste [Video-] Aufnahme, die wir gemacht haben. Und da habe ich richtig lange… also: ‚Wie mache ich das? ‘ ‚Wie fange ich die Intro an? ‘ Und: ‚Wie erkläre, oder - wie mache ich die Beschreibung der und der Maske? ‘ ‚Wo fange ich an? “ Und da habe richtig auch systematisch überlegt. Und, das hat mir viel geholfen. Da habe ich so das Gefühl gehabt, ich werde auch sicherer.“ (Informantin S-E, Interviewaussagen-ID 15) „[…] dann überlege ich mir: ‚Womit fange ich an? ‘ ‚Wie glieder ich das? ‘ Das ist für mich sehr wichtig. Und… also, so ein bisschen wie bei einer Hausarbeit, fast. ‚Was packe ich an welche Stelle? ‘ ‚Wo kommt es besonders gut hervor? ‘ ‚Wie sind die Verknüpfungen? ‘ ‚Wie komme ich von einem Thema zum nächsten? ‘“ (Informantin S-E, Interviewaussagen-ID 65) „Aber da habe ich mir jetzt… doch, da habe ich mir auch was zu aufgeschrieben… von der Reihenfolge her.“ (Informantin F, Interviewaussagen-ID 36) „Eine gute Gliederung war das A und O. Und genau das fand ich in DGS halt auch immer sehr wichtig. Wenn man mal eine Gebärde nicht kannte, wie gesagt, kann man zwischendurch immer nachfragen, oder…; das war alles nicht so 350 <?page no="363"?> schlimm, aber es musste irgendwie alles einen roten Faden haben. Weil: Das ist ja das Schlimmste: Wenn man diesen Faden verliert.“ (Informantin S-E, Interviewaussagen-ID 65) Die Gliederung dient also dazu, Elemente des Textes zu ordnen und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen - und schließlich, um während des Referats den „roten Faden“ zu behalten. Diese Strategie kommt auch in den Expterte-Novize-Experimenten in zweifacher Form vor: Einerseits unterhalten sich die Informantinnen und planen auf Deutsch, welche Informationen sie in ihren Text aufnehmen werden und in welcher Reihenfolge sie dies tun wollen. Andererseits fertigt eine Informantin bei der Wiedergabe des Artikel „Ende eines Zeitalters“ eine stichpunktartige schriftliche Gliederung an, in der sie die Inhalte und deren Reihenfolge festhält (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 12: 39: 01- 00: 24: 24: 22). Diese soll ihr bei der inhaltlichen Wiedergabe des Textes als Leitfaden und Erinnerungshilfe dienen. Das Ausarbeiten einer Gliederung ist eine Tätigkeit mit einem hohen Komplexitätsgrad: Der Lerner muss die Inhalt verstehen, zueinander in Beziehung setzen, in der Zielsprache formulieren und sich über rhetorische Fragen Gedanken machen. M.E. ist jedoch das Hauptziel der Erstellung einer Gliederung, die zu präsentierenden Inhalte sinnvoll zu ordnen. Sich die Aufteilung des Gebärdenraums überlegen (ID 139) Die Informantinnen planen in den Expterte-Novize-Experimenten nicht nur die Inhalte, die sie in ihrem Text wiedergeben wollen, sondern auch die sprachliche Form der Wiedergabe. Sie diskutieren wie sie den Gebärdenraum aufteilen, wo sie welche Referenten verorten wollen. Sich möglichst einfach und sortiert ausdrücken (ID 78) Diese Strategie dient nicht der Planung eines konkreten Textes wie die drei vorhergehenden. Sie stellt vielmehr einen allgemeinen Vorsatz dar. Vor allem die Anfängerinnen sehen es als erstrebenswert an, sich möglichst „einfach“ und „sortiert“ auszudrücken (Interviewaussagen-ID 97, 233, 235, 278, 281). Damit meinen sie sowohl grammatikalische („einfache, normale, kurze Sätze“) als auch textlinguistische Aspekte. Bspw. beschreibt Anfängerin B: B: „Also, mitunter… wenn ich dann irgendwie was erzählen will, was ich erlebt habe, dann denke ich noch viel zu weit und groß; und ich muss mir einfach mal… einfach… Ja, es einfach nur zurechtlegen erstmal. Und viel einfacher denken als in großen, abstrakten Worten oder so. Aber…“ Ch: „Abstrakt? “ 351 <?page no="364"?> B: „Dass es halt zu groß wird. Und… na ja, abstrakt ist vielleicht das falsche Wort, aber… Und viel zu viel und… überhaupt nicht sortiert.“ (Interviewaussagen-ID 233) Auch Informantin D glaubt, dass man „einfach manchmal oft dazu [tendiert], etwas komplizierter zu erzählen als es eigentlich ist“: „Das ist glaube ich auch… also für mich das Problem, dass ich einfach sage manchmal: ‚Ich muss es mir irgendwie einfacher gestalten.‘“ (Interviewaussagen- ID 235; ebenso Informantin V in Interviewaussagen-ID 278) Es fällt den Informantinnen jedoch schwer, dieses Vorhaben zu spezifizieren. Zum einen meinen sie vermutlich, dass es ihnen schwer fällt, bspw. Strukturen zu produzieren, die im Deutschen mit Nebensätzen ausgedrückt werden (vgl. Interviewaussagen-ID 97). Gerade die Anfängerinnen gehen bei ihrer DGS-Produktion meist vom deutschen Satzbau aus und versuchen, diesen in DGS zu transformieren. Da die Zielsprache anders strukturiert ist, funktioniert dies nicht - zumindest nicht durch eine einfache 1: 1-Übertragung. Zum anderen fällt in diese Kategorie vermutlich auch, dass sich die Informantinnen vornehmen, inhaltlich nicht zwischen Themen zu springen, so dass Rückbezüge notwendig würden. Es erscheint ihnen einfacher, ein Thema nach dem anderen „abzuarbeiten“: „Wenn man also ein Thema anfängt, dass man das auch beenden muss, weil es sonst… sozusagen ausfranst. Und da einfach stehen bleibt und überläuft. Und das geht nicht.“ (Informantin K, Interviewaussagen-ID 281) Möglicherweise spielen die Informantinnen auch darauf an, was viele als eine Gewisse „Logik“ in gebärdensprachlichen Äußerungen empfinden: „Und wenn der Dozent das macht, dann sieht das so… Ja, klar, geht ja gar nicht anders! Also, es ist so logisch, wie er das macht.“ (F, Interviewaussagen-ID 29) „Also, wenn mich jemand nicht versteht, dann ist mir klar, dass der Klassifikator oder irgendwas falsch war. Dass es dann… das nicht logisch ist, oder so.“ (M1, Interviewaussagen-ID 112) „Also, was mir schwer fällt, ist, wenn ich einmal eine Sache irgendwo verortet habe, die anderen Sachen irgendwie… logisch dazu zu ordnen. Und vor allem dann auch wieder darauf zurückzugreifen.“ (M1, Interviewaussagen-ID 115) „Ja, wobei, diese Bereiche, Verortung und so, sind schon, wenn man drüber nachdenkt, ziemlich logisch.“ (M3, Interviewaussagen-ID 120) „Und es ist halt irgendwie logischer. Also, ich finde, da baut eins auf dem anderen auf, normalerweise. Da fängt man nicht hinten an, und dann noch mal in die Mitte, und dann noch mal irgendwas. Was eigentlich schon ganz woanders hingehört hätte. Also, ich finde, die sind oft auch logischer strukturiert. […] Ja. Und weil ich halt nicht von was erzählen kann, was ich nicht ein… eingeführt habe. Aber auf Deutsch geht das aber. Wenn wir uns irgendwas erzählen, und eigentlich hab ich… dann zieh ich nach, und erklär dann noch mal, was es ist. Aber in 352 <?page no="365"?> DGS würde man das nie so machen. Wenn ich davon erzähle, dann erzähl ich das jetzt richtig. Und dann erzähl ich das komplett. Und nicht immer so: mal ein bisschen was, und was anderes dann wieder was dazu.“ (Informantin A2 in Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 39: 02: 04-00: 39: 50: 00) Informantin F führt diese subjektiv empfundene „Logik“ auf den natürlichen, spontanen mimischen Ausdruck gehörloser Muttersprachler zurück (Interviewaussagen-ID 29). M1 und M3 betonen eher die räumliche „Logik“, womit sie vermutlich die analoge Repräsentation von Objekten der realen Welt meinen oder auch die häufig durch Weltwissen bedingte Verortung von konzeptuellen Entitäten. Informantin A2 empfindet den Aufbau von DGS-Texten als „logisch“, da sie die Reihenfolge der Inhalte als geordneter ansieht. Ziel dieser Strategie ist es einerseits, Fehler zu vermeiden, andererseits aber auch, sich klar und möglichst unmissverständlich ausdrükken. Diese Strategie wird in den Experte-Novize-Experimenten einmal eingesetzt: Informatin M2 versucht bei der Wiedergabe des deutschen Artikels, sehr viele Informationen auf einmal auszudrücken. Dann stockt sie jedoch, grinst und meint: „Hm… Das sind zu viele Informationen in einem Satz. Wir müssen vielleicht…“ 8 (Transkript Exp-Nov_V_M2, 00: 32: 01: 15- 00: 32: 04: 21) Færch und Kasper (1984) sehen diese Strategie als psycholinguistische Lösung eines Kommunikationsproblems an: „Communication strategies may entail a ‚psycholinguistic‘ solution to the communication problem instead of one which relies upon the negotiation of meaning. Examples of psycholinguistic solutions are the reduction of language complexity in order to avoid errors, and expression of the communicative goal in a different way but at the same level of complexity.“ (zitiert in O‘Malley und Chamot 1990, S. 43/ 44) 14.2 Kompensationsstrategien, die bei der Sprachproduktion eingesetzt werden Bei der Kompensation von Vokabellücken zeigen vor allem die fortgeschrittenen Lernerinnen ein hohes Maß an sprachlicher Kreativität. Sie nutzen verschiedene Verfahren, um Gebärden zu kreieren bzw. zu verstehen. Handlungsziel ist dabei die Überwindung eines sprachlichen Defizits - sei es aktiv bei der Sprachproduktion oder bei der Sprachrezeption. Im Folgenden werden solche Strategien dargestellt, die bei der Sprachproduktion verwendet werden. Kompensationsstrategien, die bei der Rezeption der Zielsprache eingesetzt werden, werden im nachfolgenden Kapitel behandelt. 8 Dann wird sie von V unterbrochen und die beiden wechseln das Thema. 353 <?page no="366"?> Beim Lernen von gesprochenen Sprachen ist die Nutzung vieler der im Folgenden beschriebenen Kompensationsverfahren in dieser Form nicht möglich. Dabei können allenfalls Kompositions- oder Derivationsprozesse zur Bildung von Wörtern und Erschließung von Bedeutungen genutzt werden. In Gebärdensprachen stehen jedoch - bedingt durch die visuelle Sprachmodalität - noch weitere Verfahren der Gebärdenbildung zur Verfügung. Da diese Prozesse auch im Kontext des Gebärdensprachlernens von besonderer Bedeutung sind, werden sie im Folgenden zunächst genauer erläutert. Sollten Lerner der DGS ähnliche Prozesse bei der Bildung von Gebärden einsetzen wie sie für Gebärden des L1-Lexikons identifiziert wurden, so kann dies als ein Indiz für die Beherrschung der gebärdensprachlichen Mechanismen und damit für die Sprachkompetenz der Lerner interpretiert werden. 14.2.1 Verfahren der Gebärdenbildung Mit der Zusammensetzung des Lexikons der DGS sowie mit Verfahren der Lexikonerweiterung befasst sich Claudia Becker. Sie beschreibt verschiedene Prozesse und Einflussfaktoren, die für die Bildung des DGS-Lexikons konstitutiv sind (Becker 2003, Kapitel 2): • Ikonische Bildungsprozesse • Einfluss der deutschen Lautsprache • Komposition und Derivation • Gesten als Grundlage für Gebärden • Entlehnungen aus anderen Gebärdensprachen 14.2.1.1 Ikonische Bildungsprozesse Eine Möglichkeit für die Entstehung von Gebärden ist der Einsatz von Visualisierungsverfahren. Becker (2003) unterscheidet dabei vier verschiedene Verfahren: • die Visualisierung formaler Merkmale mit Hilfe skizzierender Gebärden, maßanzeigender Gebärden sowie Gebärden mit Substitutoren, • die Visualisierung durch Imitation von Handlungen und Verhalten mit Hilfe von Manipulatoren oder auch durch den Einsatz des gesamten Oberkörpers einschließlich Mimik, • den Einsatz von Zeigegebärden sowie • die Kombination verschiedener Visualisierungsverfahren. Unter Handformen, mit denen eine Form skizziert oder ein Maß anzeigt wird, sowie unter Substitutoren und Manipulatoren werden solche Handformen verstanden, die auch als so genannte Klassifikatoren bekannt sind 9 . 9 Nach einem kurzen Abriss zum Klassifikatorbegriff als solchem werden diese Handformtypen näher erläutert. 354 <?page no="367"?> Der Gebrauch von produktiven Gebärden mit solchen Handformen stellt für Gebärdensprachlerner eine besondere Schwierigkeit dar (Jacobs 1996, S. 195; Wilcox und Wilcox 1997, S. 37, McKee und McKee 1992, S. 134). Klassifikatorkonstruktionen bilden eine Gruppe von Gebärden, die in der Gebärdensprachlinguistik seit nunmehr über 30 Jahren kontrovers diskutiert werden, und denen auch im Kontext des Sprachlernens ein besonderer Stellenwert zukommt. Daher sollen Struktur und Gebrauch dieser Gebärden hier kurz umrissen werden. Menschliche Hände sind sehr beweglich. Sie können auf ausgesprochen dynamische Weise quasi unendlich viele verschiedene Formen bilden, und auf diese Weise Gegenstände, Vorgänge und Handlungen darstellen. Gebärdensprachen bzw. vielmehr Gebärdenspachbenutzer machen von dieser Flexibilität Gebrauch und nutzen diese Möglichkeit zur Visualisierung von Informationen produktiv für die sprachliche Kommunikation: „Wenn ein Kommunikationsmedium bildliche Darstellungen zulässt und unterstützt, ist zu erwarten, dass diese Visualisierungsmöglichkeiten in der Kommunikation auch eingesetzt werden, und zwar genau für die Arten von Informationen, für die sie sich besonders gut eignen. Dies ist bei Gebärdensprachen der Fall. […] [Handzeichen, C.M.] sind besonders geeignet, mit Hilfe verschiedener Handformen und Bewegungen Handlungen nachzuahmen und Gegenstände und Vorgänge bildhaft darzustellen. Auf diese Weise können bewegte und unbewegte Bilder erzeugt und in gebärdensprachlichen Äußerungen zur Informationsübermittlung genutzt werden.“ (Langer 2005, S. 254) Bei dieser bildhaften Motivierung von Handzeichen spricht man von Ikonizität; die Form einer Gebärde ähnelt also gänzlich oder teilweise dem außersprachlichen Referenzobjekt. Hinsichtlich der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und außersprachlichem Referenzobjekt gibt es verschiedene Analysen (vgl. z.B. Mandel 1977b, Taub 1997, Becker 2003). Eine Beschreibung der Ähnlichkeitsbeziehungen, die aufgrund ihrer Anschaulichkeit für eine Übertragung in die Gebärdensprachlehre besonders geeignet zu sein scheint, ist die von Langer (2005). Sie differenziert zwischen Form-, Raum- und Verhaltensikonizität (vgl. ebd., S. 255): Formikonizität: Entweder die Form der Hand oder der Verlauf der Bewegung ähnelt der äußeren, sichtbaren Form eines konkreten Gegenstands. Raumikonizität: Die Platzierung, die Orientierung und die Anordnung der Hände entspricht den Standorten, der Orientierung und der Anordnung von Gegenständen im Raum. Verhaltensikonizität: Die Bewegung einer Gebärde korrespondiert auch hinsichtlich der zeitlichen Dimension mit Bewegungen, Veränderungen oder dem Verhalten von Gegenständen oder Personen. Eine Gebärde wird dabei zwar durch das zugrunde liegende Bild motiviert; die endgültige Form jedoch wird zum Teil durch sprachspezifische, 355 <?page no="368"?> aber auch durch kulturspezifische Abbildungskonventionen bestimmt. Bspw. beschreibt Becker (2003) die konventionelle Nutzung bestimmter Handformen zur Bezeichnung von Formen oder semantischen Klassen (S. 70), von bestimmten Ausführungsstellen für spezifische Inhalte sowie teilweise auch der Mimik (S. 71). Diese Konventionen sind entscheidende Faktoren dabei, dass eben nicht (wie häufig angenommen wird) die Bedeutung von Gebärden leicht von nicht gebärdensprachkompetenten Personen erraten werden kann - ganz zu schweigen von längeren Gebärdensprachäußerungen (vgl. hierzu Kapitel 3.2.2 „Weitere Untersuchungen von Einflussfaktoren auf das Lernen einer Gebärdensprache“). Den Adressaten veranlasst ein ikonisches Zeichen zu assoziativer Interpretation: „Entscheidend dabei ist eine Gemeinsamkeit der ‚Modelle der Wahrnehmung‘, die Grundlage sowohl für die Wahrnehmung des Sachverhalts als auch des Zeichens ist. […] So ist es […] nicht notwendig, dass durch die Gebärde die Realität vollständig abgebildet wird. Entscheidend ist vielmehr, dass durch die Form der Gebärde entsprechende Assoziationen ausgelöst werden können. Dafür kann es ausreichen, dass ein zentraler Aspekt des jeweiligen Konzepts dargestellt wird.“ (Becker 2003, S. 30) Ähnlichkeiten zwischen der Form einer Gebärde und ihrem Inhalt sind also nicht objektiv gegeben, sondern werden von den Zeichenbenutzern konstruiert. Diese Eigenschaft, in Handzeichen Formaspekte eines Referenzobjekts zu transportieren, und dabei in der Gebärde die Merkmale mehrerer, formähnlicher Objekte wiedergegeben zu sehen, verleitete zur Übernahme des Klassifikator-Begriffs aus der Lautsprachlinguistik. Dort bezeichnet ein Klassifikator ein „grammatisches oder lexikalisches Element einer Sprache, mit dem Gegenstände oder Vorgänge aufgrund gemeinsamer und/ oder kontrastiver Merkmale (im weitesten Sinne; oft aufgrund von Form oder Beschaffenheit) zu Klassen zusammengefasst werden“ (Glück 1993). Frishberg führte diesen Begriff 1975 erstmals in die Gebärdensprachlinguistik ein. In der Folge entwickelte sich eine breite Diskussion, im Zuge derer verschiedene Analysemodelle vorgeschlagen wurden (u.a. DeMatteo 1977; Supalla 1978, 1982, 1986; Schick 1990) 10 . Darin wurden als Klassifikatoren verschiedene Handformen identifiziert, die Formaspekte des Referenzobjektes und teilweise auch seine Bewegung im Gebärdenraum wiedergeben, sowie ihr Zusammenspiel mit den weiteren Parametern Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung analysiert. 10 Von einigen Autoren wird jedoch mittlerweile die Einordnung dieser Gebärden als Klassifikatoren angezweifelt bzw. bestritten (Schembri 2003; Engberg-Pedersen 1993). Für eine kurze Zusammenfassung der Diskussion des Klassifikator-Begriffs s. Emmorey 2002, S. 87-91; ausführliche Beiträge zu dieser Debatte sowie zum aktuellen Forschungsstand finden sich in Emmorey (2003). 356 <?page no="369"?> „Signers can schematize signing space to represent physical space or to represent abstract conceptual structure. For sign languages, spatial languages - the linguistic devices used to talk about space - primarily involves the use of classifier constructions, rather than prepositions or locative affixes. These constructions appear to be universal to sign languages […], and they exhibit some properties that may turn out to be typologically unique and arise from the visual-spatial modality.“ (Emmorey 2002, S. 73) Konrad et al. (2003) sowie Langer (2005) legen eine empirisch fundierte und weitgehend trennscharfe Kategorisierung von Klassifikatoren vor 11 . Sie interpretieren Klassifikatoren im Rahmen von Bilderzeugungstechniken der DGS und identifizieren folgende sechs Techniken (Konrad et al. 2003, S. 453/ 454): „Substitutive Technik (Hand als Gegenstand) Bei der substitutiven Technik stehen die Hände für Gegenstände oder Teile von Gegenständen. Häufig spiegelt dabei die Handform Formaspekte des jeweiligen Gegenstands wider 12 . Mit dieser Darstellungstechnik ist es möglich, die Position und Lage eines Gegenstands im Raum, seine Anordnung zu anderen Objekten und seine Bewegungen direkt darzustellen. Dies geschieht oft in einem verkleinerten Maßstab im Gebärdenraum, der gleichsam als Bühne für diese dreidimensionale Darstellung verwendet wird. Die Bewegung beschränkt sich entweder auf ein deutliches Platzieren der Hand an der relevanten Stelle im Gebärdenraum bzw. im Verhältnis zur anderen Hand oder sie imitiert analog die Bewegungen des Gegenstands im und durch den Raum. Ersteres erzeugt ein unbewegtes Bild, letzteres ein bewegtes Bild […]. Manipulative Technik (Hand als Hand) Bei der manipulativen Technik ahmen die Hände die Formen, die Anordnung und die Bewegungen der Hände einer Person bei einer bestimmten Handlung mehr oder weniger detailgetreu nach. Bei der Interaktion mit imaginären Gegenständen werden dabei Handformen gebildet, die zeigen oder andeuten, wie diese Gegenstände angefasst (Griffhandformen), berührt oder bedient werden 13 . Sie passen sich dabei an diese Gegenstände an. Die Gegenstände selbst werden nicht dargestellt, sind aber im Bild durch die Form der Hand, die räumlichen Verhältnisse und die Bewegungen indirekt präsent. Sofern die dargestellte Tätigkeit eine Bewegung enthält, die imitiert wird, wird mit der manipulativen Technik ein bewegtes Bild erzeugt […]. 11 Nach Angaben der Autoren haben die Texte von Mandel (1977) und Johnston und Schembri (1996) „wichtige Impulse für die Entstehung der Einteilung geliefert“ (Langer 2005, S. 257). 12 Handformen diesen Typs werden in der vorliegenden Arbeit „Substitutor“ (SUBST) genannt. 13 Handformen diesen Typs werden in der vorliegenden Arbeit „Manipulator“ (MANIP) genannt. 357 <?page no="370"?> Skizzierende Technik (Hand als Zeichenwerkzeug) Bei der skizzierenden Technik werden Hände oder einzelne Finger dazu verwendet, mit ihrer Bewegung einen unbewegten Gegenstand mit seiner Form und räumlichen Ausdehnung in die Luft zu zeichnen. Dazu können unterschiedliche Handformen verwendet werden, die bereits Formaspekte des gemeinten Gegenstands aufgreifen oder andeuten 14 . Die Hände dienen als Werkzeuge, mit deren Hilfe durch die Bewegung eine ein-, zwei- oder dreidimensionale Spur erzeugt wird, die als vollendetes Gebilde Form, Position, Lage und Ausdehnung des gezeichneten Gegenstands repräsentieren kann. Da durch die Bewegung Formaspekte des skizzierten Gegenstands gezeichnet werden, können mit der skizzierenden Technik ausschließlich unbewegte Bilder erzeugt werden. Werden zwei Hände zum Skizzieren verwendet, beginnen oft beide Hände an einer Stelle und gehen symmetrisch auseinander. In anderen Fällen bleibt eine Hand - meist die nichtdominante - am Ausgangspunkt einer Skizze stehen, während die andere Hand die zeichnende Bewegung ausführt […]. Stempelnde Technik (Hand als Stempel) Bei der stempelnden Technik wird die Hand dazu verwendet, mit einer kurzen, geraden Bewegung einen unbewegten Gegenstand an einem bestimmten Ort im Gebärdenraum zu platzieren, analog zum Stempeln, bei dem der Stempel an einer bestimmten Stelle auf einem Schriftstück angebracht wird. Dabei greift die Handform entsprechende Formaspekte des Gegenstands oder seiner Bestandteile auf. Der Gegenstand oder seine Bestandteile können im Gebärdenraum, am Körper oder auf der nichtdominanten Hand platziert werden […]. Indizierende Technik (Hand als Wegweiser) Bei der indizierenden Technik wird die Hand dazu verwendet, den gemeinten realen oder imaginären Gegenstand zu identifizieren, indem sie entweder in dessen Richtung weist oder ihn sogar selbst berührt. Die Hand dient bei dieser Technik lediglich als Wegweiser oder Anzeiger, der den Blick und die Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung und auf den gemeinten Gegenstand lenkt. Hierfür wird in der DGS eine kleine Anzahl bestimmter Handformen verwendet, am häufigsten Zeigehand und Flachhand 15 . In einigen Fällen kann auch auf den Gegenstand verwiesen werden, indem nicht nur in seine Richtung gezeigt wird, sondern indem die Zeigehand gleichzeitig sein Ausdehnungsgebiet oder die Strecke, die ein Gegenstand durchläuft, andeutet. In diesen Fällen gibt es eine Überschneidung oder Kombination mit skizzierenden Gebärden […] bzw. mit substitutiven Gebärden […]. 14 Handformen diesen Typs werden in der vorliegenden Arbeit „Skizze“ (SKIZZE) genannt. 15 Gebärden diesen Typs entsprechen den Zeigegebärden bei Becker (2003). 358 <?page no="371"?> Maßanzeigende Technik (Hand als Begrenzungsanzeiger) Bei der maßanzeigenden Technik werden Hände oder einzelne Finger dazu verwendet, die Größe bzw. Ausdehnung eines Gegenstands anzuzeigen. Die Finger oder Hände werden dabei so zueinander oder zu einem anderen Bezugspunkt (z.B. dem Boden) in Beziehung gesetzt, dass hierdurch eine bestimmte Größe angedeutet wird. Hierzu werden nur einige wenige, relativ einfache Handformen verwendet, die keine Formaspekte des jeweiligen Gegenstands enthalten 16 . Die Handform ist jedoch in der Regel an die Größe oder Ausdehnung des Gegenstands angepasst. Mit der Flachhand wird die Ausdehnung von großen, dreidimensionalen Gegenständen gezeigt, mit der Zeigehand oder kleinen C-Hand die Ausdehnung von kleinen Gegenständen. Maßanzeigende Gebärden enthalten häufig keine Bewegung […] oder nur eine kleine platzierende Bewegung […].“ 17 Diese Techniken sind - neben anderen Verfahren, die bei der Erzeugung von Gebärden vorkommen - konstitutiv für die Bildung von Gebärden. Sie „werden eingesetzt, wenn neue Gebärden gebildet werden. Besonders bei produktiven Gebärden kommen diese Techniken zum Tragen. Alle sechs beschriebenen Bilderzeugungstechniken können allein oder kombiniert produktiv eingesetzt werden, um neue Gebärdenzeichen zu bilden. Darüber hinaus lassen sich die Bilder vieler konventioneller Gebärden auf diese Techniken zurückführen. Da konventionelle Gebärden auf Konvention beruhen, sind sie in ihren Formen jedoch nicht wie produktive Gebärden darauf beschränkt, mit den genannten Bilderzeugungstechniken ein in sich geschlossenes und unmittelbar einsichtiges Gesamtbild zu realisieren“ (Konrad et al. 2003, S. 456). Gebärden, bei denen die Hand als Stempel oder als Wegweiser genutzt wird, spielen im Kontext von Kompensationsstrategien im Korpus der vorliegenden Arbeit keine Rolle. 16 Handformen diesen Typs werden in der vorliegenden Arbeit „Maß“ (MASS) genannt. 17 In Anhang 2 und 3 der vorliegenden Arbeit befinden sich Abbildungen mit den Handform-Phonemen der DGS und dem Fingeralphabet. Hier sind u.a. die Handformen abgebildet, von denen in diesem Kapitel häufig die Rede ist. 359 <?page no="372"?> Die „klassifizierenden“ Handformen stellen Bestandteile von komplexen, multimorphemischen Gebärden dar, die einen hohen Grad an Produktivität aufweisen. In einer einzigen Gebärde kann z.B. ausgedrückt werden, dass sich ein Objekt einer bestimmten Form, in einer bestimmte Art und Weise entlang einer bestimmten Strecke bewegt. Diese semantische Komplexität, die sich artikulatorisch nicht auf das Handzeichen beschränkt, sondern Mimik und Körperhaltung mit einschließt, stellt für die Lerner einer Abb. 54: Bilderzeugungstechniken der DGS aus: Langer 2005, S. 263 360 <?page no="373"?> Gebärdensprache eine besondere Herausforderung dar. Die Produktion und auch die Rezeption dieser Konstruktionen stellen hohe sprachliche und kognitive Anforderungen an Gebärdensprachbenutzer, und erfahrungsgemäß fallen sie Lernern besonders schwer: Sprache ist hier nicht bzw. nicht ausschließlich sequentiell strukturiert, wie es zumindest Personen, die eine Lautsprache als L1 haben, gewohnt sind; vielmehr werden mehrere bedeutungstragende Elemente auf vielschichtige Weise in produktiver Weise simultan miteinander verknüpft. Gerade dieses hohe Maß an Produktivität erschwert das Lernen, da die Form der Gebärden in starkem Maße vom sprachlichen und situativen Kontext abhängig ist und nicht als solche gelernt werden kann 18 . Der Lerner muss also die Mechanismen kennen, nach denen eine Form gebildet wird. Dies wurde lange Zeit durch einen defizitären linguistischen Forschungsstand bzw. einen Mangel an Übertragung von Forschungsergebnissen in die Gebärdensprachlehre erschwert. Wie die vorliegenden Daten zeigen, sind diese ikonischen Gebärdenbildungsverfahren nicht nur für die linguistische Analyse von Gebärden interessant, sondern spielen auch im Kontext des Lernens einer Gebärdensprache eine wichtige Rolle. 14.2.1.2 Einfluss der deutschen Lautsprache auf Zeichenbildungsprozesse in der DGS Becker (2003) zufolge spielen aber nicht nur ikonische Bildungsprozesse eine Rolle, sondern auch Wortbilder, Lehnformationen sowie die deutsche Schriftsprache haben einen Einfluss auf Zeichenbildungsprozesse in der DGS. Wortbilder 19 : Als so genannte Wortbilder (auch: Ablesewörter oder Mundbilder) werden solche Artikulationsbewegungen des Mundes bezeichnet, die sich auf Wörter der Lautsprache oder Teile davon beziehen lassen 20 . 18 In diesem Fall trifft das Schlagwort der kontrastiven Analyse, die von einem Einfluss der L1 auf die Zielsprache sowie davon ausgeht, dass „in Grund- und Zielsprache identische Elemente und Regeln leicht und fehlerfrei zu lernen sind, unterschiedliche Elemente und Regeln dagegen Lernschwierigkeiten bereiten und zu Fehlern führen“ (Bausch und Kasper 1979, S. 5) zu: „degree of difference = degree of difficulty“. Für eine kurze kritische Beschreibung der „Kontrastiv-Hypothese“ vgl. Edmondson und House 1993, S. 208-212. 19 Becker benutzt in ihrer Arbeit den Terminus „Ablesewörter“. 20 Davon abzugrenzen ist die so genannte Mundgestik (auch: Mundmimik), ebenfalls Bewegungen des Mundes, die jedoch keinen erkennbaren Lautsprachbezug aufweisen. 361 <?page no="374"?> Der Status von Wortbildern ist umstritten 21 , und ihre Untersuchung wurde lange aus wissenschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Gründen vernachlässigt. Bzgl. des Verhältnisses von Wortbild und Handzeichen sprechen Ebbinghaus und Heßmann (1994, 1995) von einer signalverstärkenden Funktion und einer wechselseitigen Kontextualisierung: Das Wort spezifiziert die Gebärde und die Gebärde kontextualisiert das Wort. „Das gemeinsame Auftreten von Ablesewörtern mit Gebärden erweist sich als funktional zur Stabilisierung der Zeichenkonstellation: Gebärde und Wort ergänzen einander zu einem stabilen Wahrnehmungsgegenstand. Dadurch werden die Bedeutungen des deutschen Wortschatzes prinzipiell für die visuelle Kommunikation verfügbar.“ (Ebbinghaus 1998c, S. 446) Lehnformation: Durch die Integration deutscher Wörter in Form von Wortbildern in die DGS können diese Wörter Einfluss auf die Struktur einer Gebärde haben. Darunter versteht Becker, dass die Komplexität bzw. Mehrgliedrigkeit von Gebärden sich „häufig auf die morphologische Struktur des sie begleitenden Ablesewortes zurückführen“ lässt und „nicht notwendigerweise auf der Basis innersprachlicher Gebärdenbildungsprozesse entstanden“ ist (Becker 2003, S. 99). Becker beschreibt Lehnübersetzung, Lehnübertragung und Lexikalisierung von Lehnformationen als die dabei relevanten Prozesse. Einfluss der Schriftsprache: Einen weiteren Einfluss auf Zeichenbildungsprozesse in der DGS hat die Schriftsprache. Sie wird dabei in Form des Fingeralphabets, also gleichsam in einer „neuen Orthografie“ (vgl. Hernandez 1998, S. 235), in die Gebärdensprache integriert. Die lautsprachlichen Wörter können teilweise (z.B. als initialisierte Gebärden) oder vollständig repräsentiert sein. Im letzteren Fall „handelt es sich um häufig gebrauchte Wörter, die gefingert werden und im Laufe der Zeit phonologische Anpassungsprozesse erfahren“ 22 (Becker 2003, S. 125; s. ebd. für weitere Ausprägungen hinsichtlich der Nutzung des Fingeralphabets). 14.2.1.3 Komposition und Derivation Neben ikonischen Bildungsprozessen und Einflüssen aus der Lautsprache existieren mit Komposition und Derivation weitere Prozesse, mit denen 21 Für die Deutsche Gebärdensprache entbrannte 1997/ 1998 die so genannte „Mundbilddebatte“, in der der Status von Wortbildern als genuiner Bestandteil der DGS intensiv diskutiert wurde; vgl. hierzu Leuninger, Pater Amandus und Wempe (1997), Ebbinghaus (1998a, 1998b, 1998c, 1998d), Leuninger (1998), Happ und Hohenberger (1998) und Keller (1998). Für eine genaue Beschreibung des Verhältnisses von Wortbild und Gebärde vergleiche außerdem Langer, Bentele und Konrad (2002). Zur Diskussion in der internationalen Forschung s. Boyes Braem und Sutton-Spence (2001). 22 Bedingt eben durch die phonologische Anpassung werden die Wörter meist nicht mehr vollständig gefingert. Diese Art von Gebärden konnte Becker für DGS allerdings nicht mit Sicherheit nachweisen (2003, S. 126). 362 <?page no="375"?> neue Gebärden gebildet werden (Becker 2003, S. 133 f.). Allerdings spielen diese Prozesse nur eine sehr untergeordnete Rolle. „Dies ist nicht weiter verwunderlich, da der DGS mit den Möglichkeiten der Visualisierung und dem Zugriff auf den Wortschatz der deutschen Lautsprache bereits kreative Mittel zur Verfügung stehen, auch neue Sachverhalte ökonomisch zu bezeichnen.“ (Becker 2003, S. 196) 14.2.1.4 Gesten als Grundlage für Gebärden Auch in gebärdensprachlicher Kommunikation werden Gesten benutzt (s. z.B. Emmorey 1999). Solche Gesten können Becker zufolge als Grundlage der Bildung von Gebärden dienen. Dabei unterscheiden sich diese Gebärden hinsichtlich folgender Aspekte von Gesten (Becker 2003, S. 201): • Gebärden sind als lexikalische Einheiten in syntaktische Konstruktionen eingebettet und fungieren damit als Satzelemente. • Gebärden, die auf Gesten beruhen, werden während des Lexikalisierungsprozesses - vor allem aus sprachökonomischen Gründen - in ihrer Form leicht verändert. • Gebärden, die auf Gesten beruhen, können semantisch verengt und nach den morphologischen Regeln der DGS modifiziert werden. 14.2.1.5 Entlehnungen aus anderen Gebärdensprachen Schließlich können Gebärden aus anderen Gebärdensprachen entlehnt werden und in das Lexikon der DGS eingehen. Befördert wird dieser Prozess durch den zunehmenden Sprachkontakt und Austausch Gehörloser auf internationaler Ebene. 14.2.2 Erhobene Strategien Im Hinblick auf Lerner der DGS kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eindeutig geklärt werden, inwiefern diese von Becker genannten Verfahren den Informantinnen wirklich als solche bekannt sind und von ihnen bewusst eingesetzt werden. In den Experimenten greifen die Lernerinnen auf zielsprachliche, muttersprachliche und außersprachliche Mittel zurück, mit denen sie Wissenslücken substitutiv kompensieren. Die Auswertung der Daten ergibt jedoch, dass die Verfahren teilweise durchaus als probate „Methoden“ der Überwindung von Wortschatzlücken empfunden werden und auch als solche formuliert werden können. Dies wird bspw. durch die Aussage von J deutlich, die sie am Ende eines Laut-Denk-Experiments macht, und in der viele Kompensationsstrategien thematisiert werden. Gefragt nach Kriterien, die sie beim „Kreieren“ neuer Gebärden bei Vokabellücken anlege, antwortet sie: 363 <?page no="376"?> J: „Bei so was wie ‚Dinosaurier‘ Ikonizität. Also, auch… ähm… was… gesellschaftlich am bekanntesten ist. Also, ich würde dann irgendwie das (gebärdet: BEISSEN) … [? ? ? Aufnahme unverständlich, C.M.]… fällt mir spontan ein… wegen Tysanno… Tyrannosaurus Rex. Oh, Gott. Zuviel gebärdet. Ja.“ Ch: „Und bei was anderem als ‚Dinosaurier‘? “ J: „Ja. Sag mal irgendwas… Irgendwas…“ S: „Also, hast Du vorhin gerade gemacht: Mit dem Zeitalter hast Du dann… (gebärdet den Buchstaben „M“)“ J: „Ja, gut. Aber das ist ja abgekürzt. Nur dann… weil ich zu faul bin, das noch mal alles wieder… neu zu fingern.“ S: „Hm, hm.“ J: „Ähm… Irgendwas Abstraktes? Das würde ich umschreiben. Glaube ich. Also, wenn das jetzt… Ja, vielleicht auch konkretere Sachen umschreiben. Also, ‚Dinosaurier‘ ist jetzt irgendwas, das kennt jeder. Da brauch ich wahrscheinlich auch nur so (gebärdet: BEISSEN) zu machen. Oder… Wöm, wöm, wöm, wöm (gebärdet: TIER bzw. SUBST-FÜSSE-trampeln). Und dann ist es irgendwie klar. Aber wenn ich jetzt - was weiß ich - ein Gnu vielleicht umschreiben würde, dann würde ich irgendwie sagen: Ja, stell Dir vor: Sieht aus wie ‘ne Kuh. Weiß ich jetzt nicht genau. Glaub schon. Mit Hörnern. Und lebt irgendwie da und da. Und ist wild. So was. Und ich nehm jetzt das… die Gebärde für Kuh, oder mit Hörnern (gebärdet: HÖRNER). Und dann ist schon klar.“ Ch: „Mit Mundbild ‚gnu‘, sozusagen? “ J: „Genau. Also, ich hatte bis jetzt so mit noch nie so wirklich Probleme. Klappt so. Auch wenn man das vorher einmal fingert.“ (Exp_Nov_S_J, tc 01: 07: 53: 16-01: 09: 52: 05) Dieser Dialog zwischen den Informantinnen zeigt, dass der Expertin J verschiedene Strategien zu Verfügung stehen, um Bedeutungen auszudrücken, für die sie die Vokabeln nicht kennt. Darunter fallen: • die Wahl einer Klassifikatorkonstruktion, die sie mit einem Wortbild kombiniert, • die Initialisierung des betreffenden Begriffs mithilfe des Fingeralphabets, • die Paraphrasierung des betreffenden Begriffs, • die Wahl einer bedeutungsverwandten Gebärde, die sie mit einem Wortbild kombiniert. Naturgemäß wurden produktive Kompensationsstrategien in erster Linie in den Experte-Novize-Experimenten gefunden. Die unterschiedlichen Strategien werden - soweit sie diesen entsprechen - in der gleichen Reihenfolge dargestellt, in der die Gebärdenbildungsverfahren erläutert wurden. 364 <?page no="377"?> 14.2.2.1 Nutzung von produktiven Handzeichen-Mundbewegungs-Kombinationen (ID 58) Diese Strategie besteht in der produktiven Nutzung der Gebärdenbestandteile Handzeichen und Wortbild bzw. Mundgestik. Durch substitutive Mechanismen bilden die Informantinnen Gebärden, die sie zum Ausdruck des zu übermittelnden Inhalts benötigen, die ihnen jedoch (aktuell) nicht zur Verfügung stehen. Die Lernerinnen stoßen - vor allem bei der Wiedergabe des Artikels „Ende eines Zeitalters“ - des Öfteren auf Begriffe, für die ihnen die entsprechenden Gebärden bzw. adäquate gebärdensprachliche Ausdrücke unbekannt sind. Insgesamt wird diese Strategie 100-mal eingesetzt bzw. thematisiert. Um die Vokabellücken auf diese Weise zu kompensieren, greifen die Lernerinnen auf zwei Verfahren zurück: Zum einen setzen sie Handzeichen ein, die sie aus den Handformtypen Substitutor, Manipulator, Skizze und Maß sowie Bewegungen gebildet haben; diese kombinieren die Informantinnen häufig mit dem Wortbild des Begriffs, den sie auszudrücken versuchen, oder mit einer Mundgestik. Dabei werden charakteristische Merkmale des Referenzobjekts, von denen die Informantinnen annehmen, dass sie typischerweise mit dem zu bezeichnenden Objekt assoziiert werden, mit dem Handzeichen ausgedrückt und zur Spezifizierung mit dem entsprechenden Wortbild versehen 23 . Diese Merkmale bestehen in erster Linie in Formaspekten (15 Formen), aber auch Raum- (drei Formen) und Verhaltensikonizität (ebenfalls drei Formen) spielen bei der Bildung von Gebärden für die Informantinnen eine Rolle. Beispiele für dieses Verfahren der Gebärdenbildung sind Gebärden, bei denen 23 Von den vier Begriffen (‚ein Seil reißt‘, ‚Äpfel fallen‘, ‚aussterben‘, ‚Säuge[tier]‘), bei denen die Handzeichen mit einer Mundgestik kombiniert werden, haben drei klar eine verbale Bedeutung. Im vierten Fall möchte die Informantin zwar durch die Kombination der Gebärden SÄUGEN+TIER das Nomen ‚Säugetier ’ ausdrücken; sie verwendet aber begleitend zur Gebärde SÄUGEN eine Mundgestik, die eigentlich eine Säugeaktivität darstellt und für das Verb SÄUGEN geeignet wäre. Diese Verteilung von Mundgestiken im Vergleich zu Wortbildern ist vermutlich nicht als Zufall anzusehen. Ebbinghaus zufolge treten nominale Ausdrücke in DGS eindeutig konsequenter mit Wortbildern auf als Prädikatsausdrücke (Ebbinghaus 1998d, S. 602). Dies entspricht der von Ebbinghaus und Heßmann vertretenen Ansicht, eine wichtige Funktion von Wortbildern (in ihrer Terminologie: Ablesewörter) sei die Spezifizierung von Handzeichen durch Benennung des Referenzobjekts. Dem gegenüber stehen Bedeutungen, die eben nicht benannt, sondern gezeigt werden können. Dies trifft häufig auf verbale Bedeutungen zu, und Handzeichen, die eine solche Bedeutung transportieren, werden dementsprechend eher nicht von Wortbildern begleitet. Ebbinghaus unterscheidet insgesamt acht Klassen, „die jeweils spezifische Gründe für das kontexutell bedingte Ausbleiben von Wörtern benennen“: Rollenbenennung, mehrfach wiederholte Denotation, das Wort wird durch mehr als eine Gebärde kontextualisiert, Verschiebung im Kontext, deiktische Gebärden, produktive Manualformen, expressive Gebärden und gebärdensprachliche Verben (Ebbinghaus 1998d). 365 <?page no="378"?> ‚langer Hals‘ mit ‚Dinosaurier‘, ‚kleines, rundes Objekt‘ mit ‚Zelle‘ oder ‚unebene Oberfläche‘ mit ‚Riff‘ assoziiert werden. Zum anderen verwenden die Lernerinnen lexikalische Gebärden, um Vokabellücken zu kompensieren: Sie benutzen dabei eine ihnen bekannte Gebärde, die mit dem zu bezeichnenden Objekt semantisch verwandt ist. Dieses Lexem wird ebenfalls vom Wortbild des zu bezeichnenden Objekts begleitet. Meist benutzen die Informantinnen dabei Lexeme, die Hyperonyme zu dem Begriff sind, der eigentlich ausgedrückt werden soll. Aber auch Hyponyme werden eingesetzt. Neben diesen beiden semantischen Relationen verwenden die Informantinnen Lexeme, die ein charakteristisches Merkmal des zu bezeichnenden Referenten darstellen. Außerdem finden sich von den Informantinnen ad hoc gebildete Gebärden, bei denen das Handzeichen - z.T. grammatikalisch - modifiziert wird. Die Grenze zwischen diesen beiden Verfahren ist fließend und hängt davon ab, welche Gebärden man als lexikalisch einstuft. Vor allem bei wenig gebräuchlichen Fachgebärden, wie sie für Fachbegriffe im Artikel des Experte-Novize-Experiments vorkommen, ist diese Einstufung nur schwer zu treffen. Zudem findet man bei bildhaften konventionellen Gebärden grundsätzlich dieselben Bilderzeugungstechniken vor wie bei produktiven Gebärden (s.o.; auch Langer 2005, S. 268) 24 . Daher wurden beide Verfahren in einer Strategiekategorie zusammengefasst. Berücksichtigt wurden solche Vorkommen, bei denen durch Äußerungen oder durch das Verhalten der Informantinnen deutlich wurde, dass ihnen die Gebärde für das zu Bezeichnende unbekannt bzw. dass diese Gebärde nicht abrufbar war. Um eine zielsprachliche Vergleichsversion zu haben, mit der die Gebräuchlichkeit und Angemessenheit der von den Informantinnen produzierten Gebärden abgeglichen werden konnte, wurde ein gehörloser Muttersprachler gebeten, die Bildergeschichte sowie den Artikel des Experte- Novize-Experiments in DGS wiederzugeben. Dieser Muttersprachler gebärdete eine Version der Bildergeschichte und drei Versionen des Artikels; letztere weichen in Textaufbau und Wortwahl teilweise voneinander ab. Zudem wurden in Einzelfällen weitere gehörlose Muttersprachler (insgesamt fünf Personen) bzgl. der Angemessenheit von Gebärden befragt. Im Folgenden wird der Einsatz dieser Kompensationsstrategie zu den Begriffen wiedergegeben, die den Informantinnen Schwierigkeiten machten. Dabei werden zunächst die Begriffe aus der Bildergeschichte „Ein Geiz- 24 „Zusätzlich können bei konventionellen Gebärden auch noch andere Formelemente (wie z.B. Fingeralphabet-Handformen) oder der metaphorische Gebrauch einzelner Bildelemente (wie z.B. oben für ‚positiv‘ und unten für ‚negativ‘) vorkommen. Darüber hinaus kann das einer konventionellen Gebärde zugrunde liegende Bild durch Stilisierung verfremdet oder durch Formveränderungen aufgrund von Sprachwandelprozessen teilweise oder ganz verblasst sein.“ (Langer 2005, S. 268; Hervorhebung im Original) 366 <?page no="379"?> hals“ und im Anschluss diejenigen aus dem Artikel „Ende eines Zeitalters“ dargestellt 25 . Kriterium für die Reihenfolge ist dabei jeweils die Häufigkeit, mit der die Informantinnen für die Begriffe neue Gebärden bildeten. Da es bei den Lerneräußerungen i.d.R. um zur Kompensation gewählte Einzelgebärden, insbesondere um die Handformen geht, wird die Beschreibung der einzelnen Vorkommen mit Standbildern illustriert. ‚reißendes Seil‘ Eine Schwierigkeit besteht für fast alle Informantinnen in der Wiedergabe des unter Spannung stehenden und dann reißenden Seils in der Bildergeschichte „Ein Geizhals“. Hier werden mittels ikonischer Bildungsprozesse verschiedene Gebärden kreiert, um das Ereignis darzustellen. Diese Handzeichen werden häufig von einer Mundgestik begleitet. Vor allem die Expertinnen kreieren - manchmal erst nach einigen Überlegungen - die Gebärde, die der authentischen DGS-Gebärde entspricht, und deren Handform aus einem Substitutor für ein langes, dünnes Objekt besteht. 25 Abbildungen beider Stimuli finden sich in Kapitel 9.2.5 „Erhebung III: Experte-Novize-Experimente zur Ermittlung von Lern- und Gebrauchsstrategien“ der vorliegenden Arbeit. Abb. 55: Substitutoren für ‚ein langes, dünnes Objekt (reißt)’ 367 <?page no="380"?> Im Anschluss an die produktive Phase wurden die Informantinnen im Experiment befragt, wie sie auf diese Gebärde gekommen seien. Ihren Angaben zufolge waren ikonische Merkmale, die auf einer Formähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Seil und der Handform beruhten, ausschlaggebend. Beispielsweise gibt Informantin F an, darauf zu achten, „dass es irgendwie so‘n bisschen ikonisch ist“ (F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 15: 43: 17-00: 15: 46: 06). A1 erläutert ihre Wahl wie folgt: Ch: „Und wie bist Du drauf gekommen, dass das Seil wahrscheinlich so reißen würde? “ A1: „Ähm… Keine Ahnung. Weil das Seil hat halt… Das ist halt irgendwie so was Dünnes. Also, ob man das nun SO macht, oder irgendwie SO… ist eigentlich egal [gebärdet hier verschiedene Formen: MANIP-UMFASSEN-Seil-reißt / MASS- KLEIN / SUBST-SEIL]. Und wenn… Ja… Und es ist halt… Ich denk mal, dass das ein passender Klassifikator ist. Aber vielleicht… weil so’n Seil ja einfach so’n dünnes Ding ist. Und wenn es nun gerade reißt - außerdem noch - dann kann man hier so schön die Finger auseinandernehmen. So, da passt es. Fand ich. Also… ich weiß nicht, ob das… ob das authentisch ist. Aber…“ (Transkript Exp- Nov_A3_A1, tc 00: 14: 23: 04- 00: 14: 57: 20) Abb. 56: Manipulatoren für ‚etwas Dünnes umfassen (und zerreißen)‘ 368 <?page no="381"?> Mit der Wahl des Substitutors hat A1 die richtige Intuition; ihre Vermutung, dass die anderen beiden Handformen, der Manipulator und das Maß, ebenfalls korrekt sind, ist jedoch falsch. Der Manipulator wird auch in anderen Experimenten vor allem von den Novizinnen als Handform gewählt (S in Exp-Nov_S_J, tc 00: 08: 44: 08-00: 08: 45: 13; V in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 11: 41: 08-00: 11: 44: 20). Expertin M2 erläutert jedoch, dass ihr diese Handform im Vergleich zum Substitutor aufgrund der geringeren Ähnlichkeitsbeziehung nicht geeignet erscheint: „Ja, ja. Genau. Das war halt auch einfach der Punkt, wieso ich DIES hier nicht so schön fand [gebärdet: MANIP-UMFASSEN]. Weil… DIES hier [gebärdet: SUBST- SEIL] irgendwie mehr… mehr das Bild wiedergibt. Also, da ist ja ikonisch auch ne ganz große Hilfe, um Sachen deutlich zu machen.“ (Transkript Exp- Nov_V_M2, tc 00: 59: 08: 02-00: 59: 21: 19) M.E. sind mehrere Interpretationen vorstellbar, warum die Informantinnen die Manipulator-Faust-Handform in Betracht ziehen: Zunächst einmal ist die Faust-Handform auch die Handform der lexikalischen Gebärde SEIL. Daher liegt es nahe, diese Handform „weiter“ zu benutzen. Darüber hinaus ist dieser Manipulator eine sehr gängige Handform für ‚etwas festhalten’ bzw. ‚etwas umfassen’. Aufgrund dieser hohen Frequenz ist sie vermutlich leicht abrufbar und wird quasi als Default-Handform eingesetzt. Der Grund, weshalb der Manipulator jedoch hier nicht für die Darstellung des Zerreißens des Seils verwendet werden kann, liegt in der Semantik: In der Bildergeschichte zerreißt das Seil aufgrund der großen Spannung, unter der es steht. Es gibt dabei aber keinen Akteur, der das Seil zum Reißen bringt. Der Einsatz eines Manipulators impliziert jedoch, dass ein Akteur vorhanden ist, der mit seinen Händen agiert. Da dies in der Geschichte nicht der Fall ist, ist die Verwendung eines Manipulators inkorrekt. Abb. 57: Maß für ‚etwas Kleines, Dünnes‘ 369 <?page no="382"?> Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Informantinnen auch die Stärke des Seils in der Gebärde angeben wollen. Dies wird angedeutet dadurch, dass A1 eine Maß-Handform wählt, die die Größe eines Objekts, aber auch die Stärke z.B. eines Seils zum Ausdruck bringen kann. Die Faust-Handform impliziert zwar, dass mit den Händen etwas umfasst wird, das eine vergleichsweise geringe Stärke hat. Die Kernbedeutung läge wie soeben beschrieben jedoch darin, dass ein Akteur etwas umfasst. Dies trifft in der Bildergeschichte nicht zu. Diese Interpretationen zeigen, dass es für den Gebrauch der Faust- Handform zwar Gründe gibt; da ihr Einsatz jedoch semantischen Kriterien widerspricht, ist sie in diesem Kontext falsch 26 . Informantin F bildet ebenfalls nicht den korrekten Substitutor für die Darstellung des reißenden Seils, sondern kreiert eine andere Form: Sie bildet mit der 5-Finger-Handform einen Substitutor, mit dem sie die ausgefransten Fasern des Seils verdeutlichen möchte (Transkript Exp-Nov_B_F, tc gebildet in 00: 08: 13: 09-00: 08: 14: 14, benutzt in 00: 12: 45: 21-00: 12: 47: 04; erläutert in 00: 15: 41: 24-00: 15: 49: 05). Diese Form ist in diesem Kontext als falsch anzusehen; sie würde eher im Kontext eines reißenden Netzes oder Gewebes gebraucht. Nur einer der fünf befragten Muttersprachler befand diese Form für akzeptabel. Eine weitere Gebärde schließlich, die von den Lernerinnen eingesetzt wird, ist die lexikalische Gebärde SPANNUNG mit der Bedeutung ‚sich spannen/ dehnen’. F und M2 modifizieren die Gebärde dahingehend, dass 26 Die Faust kann generell durchaus als Substitutor eingesetzt werden, z.B. als Stellvertreter für einen Kopf. Dabei impliziert sie jedoch das Form-Merkmal ‚kugelförmig’, das im Kontext der Bildergeschichte nicht auf den Referenten zutrifft. Abb. 58: Substitutoren für ‚reißende Fasern‘ 370 <?page no="383"?> sie die lexikalische Form gleichsam „delexikalisieren“ und aus einer lexikalischen Gebärde eine produktive Form bilden: Sie verändern den Parameter Bewegung, in der lexikalischen Form eine leichte „Dehn-Bewegung“ der Hände, und bringen quasi die beiden „gedehnten Elemente“ mit einer ruckartigen Bewegung zum Reißen 27 (F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 08: 07: 12-00: 08: 13: 09; erläutert in 00: 15: 32: 00-00: 15: 34: 17; M2 in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 11: 23: 03-00: 11: 24: 07). Informantin F erklärt auch, warum sie auf diese Form kommt, und dass sie sich unsicher ist, ob sie zur Darstellung eines reißendes Seils verwendet werden kann: „Das ist… ja auch DEHNEN… Oder… dann… … ist nur die Frage, ob das dann nicht nur dehnt, oder ob das dann auch halt reißt. Oder spannt.“ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 15: 33: 00-00: 15: 41: 09) Diese Form ist in diesem Kontext eher als falsch anzusehen; sie wird üblicherweise entweder für ein reißendes Gummiband oder aber auch für eine muskuläre Verletzung, z.B. eine Zerrung oder einen Muskelriss, verwendet. Wiederum befand nur einer der fünf befragten Muttersprachler diese Form für akzeptabel. Eine weitere Form dieser „Delexikalisierung“ findet sich bei Informantin S in der Darstellung des aufschreckenden Jakobs am Ende der Bildergeschichte: Sie verwendet die lexikalische Gebärde PAUSE-MACHEN, von der sie offensichtlich annimmt, sie sei durch ‚übereinanderliegende/ hoch- 27 Auch Singleton und Newport schildern eine Äußerung von Lernern, bei denen die Handform des Nomens bei der Produktion des darauf folgenden Verbs beibehalten wird. Die beiden gehörlosen Personen hatten erst im Alter von 15 bzw. 16 Jahren ASL erlernt (Singleton und Newport 2004, S. 397). Abb. 59: „delexikalisierte“ Gebärde SPANNUNG 371 <?page no="384"?> gelegte Beine’ motiviert 28 . Diese Gebärde, die eigentlich eine kurze Abwärtsbewegung enthält, führt S mit einer ruckartigen Aufwärtsbewegung aus (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 20: 35: 10-00: 20: 36: 22). Expertin J greift diese Idee auf und produziert die korrekte Gebärde mit einem Substitutor (tc 00: 20: 36: 22-00: 20: 38: 05): Während die „Delexikalisierung“ von Gebärden in diesen Fällen als falsch oder zumindest als sehr grenzwertig einzuschätzen ist, ist dieser Prozess als solcher durchaus eine bekannte Möglichkeit des gebärdensprachli- 28 Alternativ ist denkbar, dass S nicht vom Lexem PAUSE-MACHEN ausgeht, sondern die gezeigte Handform als Substitutor für ‚Beine’ einsetzt. Mit der U-Handform würde sie in diesem Fall die falsche Handform wählen. Da die Gebärde PAUSE-MACHEN eine auch in den Anfänger-DGS-Kursen sehr gängige Gebärde ist, liegt m.E. die Vermutung näher, dass sie sich an dieser orientiert. Abb. 60: Lexem PAUSE-MACHEN und „delexikalisierte“ Form „aufschrecken“ Abb. 61: Substitutoren für ‚die Beine hochwerfen‘ 372 <?page no="385"?> chen Ausdrucks. So kann eine bereits lexikalisierte Gebärde „delexikalisiert“ werden, indem einer ihrer Parameter auf ikonische Art und Weise modifiziert wird. Becker beschreibt dieses Verfahren: „Motivierte Gebärden haben allerdings nicht nur mnemotechnischen Wert. Durch Prozesse der Reikonisierung bzw. Delexikalisierung kann das ikonische Potential, das auch in solchen lexikalisierten Gebärden weiterhin ‚schlummert‘, zu neuem Leben erweckt und erneut zur Zeichenbildung bzw. -modifizierung genutzt werden. Dafür genügt es, das Zeichen nur in einer seiner Eigenschaften zu verändern […] Es können selbst solche Gebärden reikonisiert werden, die auf den ersten Blick betrachtet nur noch über sehr wenig Transparenz verfügen […]. Die ‚Wiederbelebung‘ des ikonischen Potentials einer etablierten Gebärde setzt allerdings voraus, dass den Zeichenbenutzern dies bewusst ist.“ (Becker 2003, S. 86) Möglicherweise kann hier von einer Übergeneralisierung der Möglichkeit zur produktiven Verwendung von Gebärden gesprochen werden (vgl. Kapitel 11.2 „Strategien auf dem intuitiv-prälogischen/ eskapistischen Niveau“). Diese Interpretation impliziert, dass den betreffenden Informantinnen das Prinzip der Ikonizität bekannt ist (die Vorkommen zeichnen sich dadurch aus, dass die Gebärden verhaltensikonisch modifiziert werden), dass sie es aber nicht bzw. in diesen Fällen nicht angemessen zur produktiven Verwendung von Gebärden einsetzen können. ‚Liegestuhl‘ Weitere Schwierigkeiten haben die Informantinnen mit dem Begriff ‚Liege(stuhl)’. Während einige diese Vokabellücke mit Hilfe der Verwendung von LBG kompensieren (s.u.), konstruiert J eine Gebärde mit Hilfe eines Lexems sowie einem Handzeichen mit einem Substitutor. Sie kreiert eine Gebärde, indem sie an das Lexem STUHL den Substitutor für ‚liegende Person’ anfügt (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 19: 52: 08-00: 19: 53: 10). Damit löst sie die Struktur des deutschen Determinativkompositums „Liegestuhl“ in eine Phrase auf, die ihr offensichtlich DGS-typischer erscheint: Sie stellt das Grundwort (im Deutschen „Stuhl“) voran, und lässt diesem das Bestimmungswort („Liege“) folgen. Damit folgt sie der DGS-typischen Struktur, in der zuerst der Grund benannt wird, welchem anschließend die Figur folgt. Genau genommen bildet J also keine neue Gebärde, sondern umschreibt quasi den deutschen Begriff ‚Liegestuhl’ mit einer Phrase („ein Stuhl zum Liegen“). 373 <?page no="386"?> ‚Zaun‘ Eine weitere Konstruktion, die von einer Formähnlichkeitsbeziehung geprägt ist, bildet B, die die Gebärde für ‚Zaun’ nicht kennt: Sie verwendet die Flachhand, die als Vertreter für flache Objekte fungiert, und stellt mit dieser Handform eine zaunartige Abgrenzung im Gebärdenraum dar (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 03: 02: 12-00: 03: 06: 22). Abb. 62: Substitutor für ‚(Person) liegen‘ Abb. 63: Skizzen für ‚flaches, aufrecht stehendes Objekt‘ 374 <?page no="387"?> ‚Äpfel‘ Fast alle Informantinnen haben mehr oder weniger große Schwierigkeiten, die in der Bildergeschichte vom Baum geschleuderten und dann auf Herrn Jakob fallenden Äpfel in DGS zu beschreiben. Sie verwenden eine Reihe unterschiedlicher Formen, die im Folgenden erläutert werden. WERFEN Zwei Paare in den Experte-Novize-Experimenten verwenden die Gebärde WERFEN, um die durch die Luft sausenden Äpfel darzustellen (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 05: 32: 13-00: 05: 34: 24 und Transkript Exp- Nov_V_M2, tc 00: 05: 39: 15-00: 05: 45: 12). Um die große Anzahl der Äpfel auszudrücken, benutzen sie eine Form, bei der die Gebärde WERFEN mit beiden Händen und einer alternierenden Bewegung ausgeführt wird (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 11: 23: 09- 00: 11: 26: 04 und Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 10: 19: 11-00: 10: 21: 17). Abb. 64: Lexem WERFEN; Handstellung in der Anfangs- und Endposition 375 <?page no="388"?> Die Informantinnen A1 und V benutzen diese Gebärde auch für den Ausdruck von ‚vom Baum fallenden Äpfeln’ (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 05: 32: 13-00: 05: 34: 24 und Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 05: 39: 15- 00: 05: 45: 12): Der Einsatz dieser lexikalischen Gebärde WERFEN ist als falsch einzuschätzen. Nur einer der fünf befragten Muttersprachler schätzte sie in diesem Zusammenhang als akzeptabel ein. Von drei Personen wurde die alternierende Bewegung allgemein, d.h. unabhängig von der Wahl der Gebärde (WERFEN oder die im Folgenden Abb. 65: Lexem WERFEN, zweihändig und mit alternierender Bewegung Abb. 66: Substitutor für ‚Baum‘ (rechte Hand) und Lexem WERFEN (für ‚vom Baum fallende Äpfel‘; linke Hand) 376 <?page no="389"?> beschriebenen Klassifikatorkonstruktionen), entschieden als falsch zurückgewiesen, da die Äpfel in der Geschichte durch das Reißen des Seils alle auf einmal losgeschleudert werden. Die Äpfel werden nicht von einem Akteur geworfen, sondern sie werden - bedingt durch die beim Reißen des Seils freigewordene Kraft - vom Baum geschleudert. FALLEN Informantin A3 benutzt eine nur schwer einzuordnende Gebärde, um die durch die Luft fliegenden und fallenden Äpfel darzustellen. Sie verwendet die U-Handform und eine alternierende Bewegung, die das Fliegen bzw. Fallen ausdrückt (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 09: 05: 05- 00: 09: 07: 17 und tc 00: 09: 09: 10-00: 09: 11: 21): Abb. 67: ‚durch die Luft fliegende Äpfel‘ Abb. 68: ‚zu Boden fallende Äpfel‘ 377 <?page no="390"?> M.E. ist nicht klar, was A3 zu dieser Handform motiviert. Die einleuchtendste Erklärung scheint mir, dass sie die Gebärde FALLEN modifiziert und einsetzt, um die fliegenden und fallenden Äpfel zu beschreiben 29 . Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre, dass A3 die Gebärde LIEGENLASSEN modifiziert. Diese lexikalische Gebärde enthält ebenfalls eine U-Handform und wird zweihändig ausgeführt. Allerdings hat sie keine alternierende, sondern nur eine „einfache“ Drehbewegung aus dem Handgelenk. Diese Gebärde wird eingesetzt, um z.B. auszudrücken, dass man seine Schlüssel zu Hause ‚liegengelassen’ hat. Substitutor für ‚kleines Objekt’ Die Informantinnen A3 und A1, die rätseln, wie sie die ‚fallenden’ und die ‚fliegenden Äpfel’ in DGS beschreiben sollen, verwenden mit der G- Hand einen sehr unspezifischen Substitutor, der üblicherweise zum Ausdruck von entweder sehr kleinen Objekten oder sehr weit entfernten größeren (also in der Wahrnehmung kleinen) Objekten benutzt wird 30 . A3 beginnt in ihrer Textversion zunächst damit, die fallenden Äpfel auf diese Weise darzustellen (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 05: 32: 01-00: 05: 33: 07, 00: 07: 54: 01-00: 07: 56: 22): 29 M.E. ist unklar, ob es sich bei FALLEN um eine lexikalisierte Gebärde handelt oder noch um eine Klassifikatorkonstruktion: Die Form der Gebärde kann auf einen Substitutor für ‚Beine’ zurückgeführt werden; mir ist nicht bekannt, inwieweit diese Form in DGS wirklich für andere ‚fallende Objekte’ als für Menschen benutzt wird. 30 Je nach Interpretation könnten einige der Formen auch als Gebärden angesehen werden, die mit der indizierenden Technik gebildet wurden. Abb. 69: Substitutor für ‚ein kleines, nach unten fallendes Objekt‘ [linke Person] 378 <?page no="391"?> Damit benutzt A3 insofern eine korrekte Gebärde, als diese für ein bzgl. seiner Form nicht weiter spezifiziertes, nach unten fallendes, kleines Objekt benutzt werden kann, z.B. als Stellvertreter für einen Wassertropfen. Diese Gebärde ist in diesem Kontext jedoch eher ungebräuchlich bzw. falsch, da andere, spezifischere Klassifikatoren für die Darstellung von fliegenden bzw. fallenden Äpfeln existieren 31 . Einige Minuten später fragt A3 sich, wie wohl die fliegenden Äpfel in DGS auszudrücken seien. Sie schlägt wiederum eine Gebärde vor, die den Klassifikator für kleine bzw. weit entfernte Objekte enthält (Zeigefingerhand). Dieses Mal modifiziert sie die Handstellung so, dass die Objekte gleichsam an ihrem Kopf vorbeifliegen (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 11: 21: 09-00: 11: 22: 15): Auch mit dieser Form liegt Informantin A3 nicht ganz falsch: Diese Form kann für Objekte benutzt werden, die sich sehr schnell am Erzähler vorbeibewegen, bspw. vorbeisausende Fahrzeuge auf einer Autobahn. Jedoch ist diese Form in diesem Kontext wieder ungebräuchlich bzw. inhaltlich unrichtig, da die Äpfel in der Geschichte nicht in dieser Form an Herrn Jakob „vorbeisausen“, sondern auf ihn herunterfallen. M3 verwendet diesen vergleichsweise unspezifischen Klassifikator ebenfalls, um die fliegenden Äpfel zu beschreiben. Sie benutzt jedoch eine ande- 31 A3 benutzt noch eine weitere Form, um die herunterfallenden Äpfel zu beschreiben: Sie verwendet zweimal eine Gebärde, die der Gebärde AUF sehr ähnlich ist (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 07: 54: 01-00: 07: 56: 22). Es bleibt jedoch unklar, ob sie diese Gebärde einsetzen wollte, oder ob möglicherweise ein phonologischer Handformfehler vorliegt. Abb. 70: Substitutoren für ‚vorbeisausende Objekte‘ 379 <?page no="392"?> re Handstellung und eine andere Bewegung (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 06: 10: 21-00: 06: 11: 20): Allerdings wird nicht ganz klar, ob M3 damit (auch) auf die Darstellung der Äpfel abzielt, oder mit dieser Gebärde nur die hohe Geschwindigkeit zum Ausdruck bringen will. „Und dann… wegen der Geschwindigkeit SO? (gebärdet: Kl-SUBST-EIN-OBJEKT- FLIEGT) Sowas? “ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 06: 11: 20-00: 06: 14: 08) Da sie jedoch kurz zuvor auch die modifizierte, zweihändige Form mit einer alternierenden Bewegung in Betracht zieht (ebd., tc 00: 05: 46: 00- 00: 05: 47: 08), möchte sie mit dieser Gebärde vermutlich auch die Äpfel als einzelne Objekte darstellen. Beide Formen, sowohl die einals auch die zweihändige Gebärde, sind in diesem Kontext eher als falsch anzusehen. Einer der fünf von mir befragten Mutterspachlern schlug allerdings selbst die zweihändige Gebärde als mögliche Form - mit alternierender Bewegung - zur Darstellung der von oben auf Herrn Jakob fallenden Äpfel vor. Substitutor für ‚viele Objekte’ Die korrekte Gebärde, der Klassifikator für ‚viele fliegende Objekte’, wird von zwei Informantinnen, F und M3, gewählt (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 12: 50: 09-00: 12: 57: 03 und Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 05: 47: 08-00: 05: 48: 03). Abb. 71: Substitutor für ‚ein kleines, fliegendes Objekt‘ 380 <?page no="393"?> Allerdings sind auch sie sich nicht sicher, ob sie damit die korrekte Form gewählt haben. „Mit dem Rest… krieg ich’s einfach nicht besser hin mit den Klassifikatoren. Also… Ich weiß nicht, wie das… die… wie die Äpfel… (gebärdet: Kl-SUBST-VIE- LE-OBJEKTE-FLIEGEN1) Also, das… jetzt so für ‚Masse‘, oder so was, was… da rüber fliegt (gebärdet: Kl-SUBST-VIELE-OBJEKTE-FLIEGEN1).“ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 14: 35: 03-00: 14: 42: 11) Informantin A2 greift diese Gebärde auf, die von ihrer Experiment-Partnerin M3 vorgeschlagen wurde, auf und meint: „Ich glaube, ich würde das schon so als Masse… irgendwie da rüber fliegen lassen.“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 06: 25: 06-00: 06: 28: 14) Sowohl F als auch M3 verwenden außerdem eine Variante, in der sie die Gebärde mit einem Fingerspiel 32 ausführen (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 14: 41: 11-00: 14: 46: 03 und Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 05: 23: 20- 00: 05: 27: 04). Substitutor für ‚kugelförmiges Objekt’ Während die bisher beschriebenen Formen nur jeweils von einigen Informantinnen benutzt werden, wird die Gebärde, die einen Substitutor für ein kugelförmiges Objekt enthält, von allen Informantengruppen verwendet. Die Informantinnen benutzen die gebogene 5-Finger-Handform, um darzustellen, wie die Äpfel • am Baum hängen, • vom Baum fallen und • durch die Luft fliegen. 32 Unter „Fingerspiel“ wird eine leichte Zitterbewegung der Finger verstanden. Abb. 72: Substitutoren für ‚viele, fliegende Objekte‘ 381 <?page no="394"?> ‚am Baum hängen‘ Informantin S beschreibt, wie die Äpfel am Baum hängen (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 08: 59: 04-00: 09: 00: 21): Ihre Experiment-Partnerin greift diese Gebärde später auf und verwendet sie selbst in ihrer Version der Bildergeschichte. ‚vom Baum fallen‘ Die gebogene 5-Finger-Handform wird auch häufig benutzt, um die vom Baum fallenden Äpfel darzustellen. Informantin J verwendet die korrekte Form mit der Handflächenorientierung nach oben (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 11: 02: 17-00: 11: 05: 03): Abb. 73: Substitutoren für ‚kugelförmige Objekte hängen (am Baum)‘ Abb. 74: Substitutor für ‚kugelförmiges, fallendes Objekt‘ 382 <?page no="395"?> Allerdings verwenden die Informantinnen dabei häufig eine falsche Handflächenorientierung, nämlich nach unten statt nach oben (z.B. Informantin F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 10: 59: 02-00: 11: 04: 04): Zum Teil sind sich die Informantinnen dieser Frage der Handflächenorientierung bewusst. Informantin F überlegt außerdem, ob sie noch die Gebärde FALLEN einfügen sollte, um sich klarer auszudrücken: „Ob Äpfel nun SO fallen… (gebärdet: FALLEN-2hd.) Oder… Keine Ahnung, wie Äpfel vom Baum fallen (gebärdet: Kl-SUBST-KUGEL-fallen (Handflächenorientierung nach unten)). Also… (gebärdet: Kl-SUBST-KUGEL-fallen (Handflächenorientierung nach oben)) Oder: (gebärdet: FALLEN) Ja… Das sind halt so Sachen, die ich einfach nicht weiß. Die ich mir auch so nicht ausdenken kann.“ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 14: 48: 16-00: 14: 59: 12) Während andere Informantinnen nur die Gebärde wiederholen, um den Plural der Objekte darzustellen, wählt F die zweihändige Form mit einer alternierenden Bewegung (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 11: 29: 04- 00: 11: 33: 00): Abb. 75: Substitutor für ‚kugelförmiges, fallendes Objekt‘ [Handflächenorientierung fälschlicherweise nach unten] 383 <?page no="396"?> ‚durch die Luft fliegen‘ Die Novizinnen B und S nutzen diesen Klassifikator, um damit anzuzeigen, dass die Äpfel durch die Luft fliegen. Um auszudrücken, dass es sich um mehrere Objekte handelt, setzen sie eine zweihändige Gebärde ein (in der folgenden Abbildung Informantin S in Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 05: 15: 20-00: 05: 18: 06): Abb. 76: Substitutoren für ‚mehrere kugelförmige, fallende Objekte‘ Abb. 77: Substitutoren für ‚kugelförmige, fliegende Objekte‘; Bewegung zweihändig, Orientierung vom Körper weg bzw. zur Seite 384 <?page no="397"?> Informantin A2 überlegt, ob sie die durch die Luft fliegenden Äpfel mit diesem Substitutor beschreiben soll. Sie wählt eine zweihändige Form mit einer alternierenden Bewegung, um den Plural auszudrücken (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 05: 49: 05-00: 05: 53: 01): Informantin J nutzt diese Konstruktion ebenfalls, allerdings ist bei ihr die Handflächenorientierung zum Körper hin (und nicht vom Körper weg bzw. zur Seite; Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 16: 24: 14-00: 16: 26: 13): Abb. 78: Substitutoren für ‚kugelförmige, fliegende Objekte‘; Bewegung alternierend, Orientierung vom Körper weg Abb. 79: Substitutoren für ‚kugelförmige, fliegende Objekte‘; Bewegung zweihändig, Orientierung zum Körper 385 <?page no="398"?> Es ist nicht mit hundertprozentiger Sicherheit einzuschätzen, ob diese Klassifikatorkonstruktionen, bei denen die Informantinnen die gebogene 5- Finger-Handform einsetzen, korrekt oder falsch sind 33 . Während die Person im Vergleichsfilm auch diese Konstruktion benutzt (sie verwendet die von Informantin J eingesetzte Form, allerdings mit einer alternierenden Bewegung), lehnen vier der fünf weiteren befragten Gehörlosen diese Formen eher ab. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Informantinnen durchaus über Mittel verfügen, um das in der Bildergeschichte abgebildete Ereignis darzustellen. Es finden sich diverse lernersprachliche Konstruktionen, die anscheinend die Elemente enthalten, die nach Becker (2003) bei der Bildung von muttersprachlichen Gebärden eine wesentliche Rolle spielen 34 . Die Lernerinnen zeigen auch richtige Ansätze, indem sie sich von Form- (Substitutor für ‚kugelförmiges Objekt’) oder Verhaltensikonizität (Substitutor für ‚kleines, fallendes oder fliegendes Objekt’) leiten lassen. Allerdings unterlaufen den Informantinnen dabei zum einen phonologische Fehler (Handflächenorientierung), zum anderen sind die Klassifikatoren in diesem speziellen Kontext z.T. unangemessen - z.B. weil sie zu unspezifisch sind. ‚Lebewesen‘ Auch mit dem Begriff ‚Lebewesen’, der im Artikel „Ende eines Zeitalters“ vorkommt, haben alle Informantinnen Schwierigkeiten. Informantin F geht bei dieser Strategie den einfachsten Weg und kombiniert die lexikalische Gebärde für ‚Leben’ mit dem Wortbild „lebewesen“ (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 28: 47: 10-00: 28: 48: 16). 33 Informantin A3 verwendet zweimal eine zu diesem Klassifikator ähnliche Form, die gebogene Dreifinger-Handform. Damit beschreibt sie, wie die Äpfel durch die Luft fliegen und am Boden liegen (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 08: 27: 06-00: 08: 29: 00 und 00: 05: 36: 23-00: 05: 40: 11). Dieser Substitutor kann als Stellvertreter für kleinere, kugelförmige Objekte verwendet werden. Für die Darstellung von Äpfeln ist diese Handform jedoch vermutlich eher ungebräuchlich. 34 Allerdings handelt es sich bei den Gebärden, die Becker untersuchte, meines Wissens nicht um solche Gebärden, die während einer natürlichen Kommunikationssituation online von Muttersprachlern kreiert wurden. Vielmehr untersuchte sie Sammlungen von weitgehend lexikalischen Gebärden und DGS-Phrasen. 386 <?page no="399"?> Die anderen Informantinnen entscheiden sich für einen anderen Bildungsmechanismus: Sie greifen auf die lexikalische Gebärde für LEBEN zurück, fügen dieser eine andere, mit dem Begriff ‚Wesen’ semantisch verwandte Gebärde hinzu und versehen diese Gebärdenkombination mit dem Wortbild „lebewesen“. Dabei wählen sie folgende Begriffe: • Art • Tier • Person • Mensch Informantin M3 kreiert eine Gebärde für ‚Wesen’, indem sie die Gebärde ART verwendet, die Pluralform bildet und mit dem Wortbild „wesen“ kombiniert (Tranksript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 17: 06: 20-00: 17: 11: 06, tc 00: 30: 36: 01-00: 30: 38: 15, tc 00: 31: 11: 18-00: 31: 16: 22, tc 00: 33: 45: 01-00: 33: 46: 06): Abb. 80: Lexem LEBEN + Wortbild „lebewesen“ 387 <?page no="400"?> Sie ist sich jedoch in ihrer Wahl nicht sicher, so dass sie weitere Formen ausprobiert: Sie verwendet zum einen das Lexem MENSCH mit dem Wortbild ‚lebewesen’. Dies stellt - ebenso wie die außerdem verwendeten Gebärden für ‚Person’ und ‚Tier ’ - ein Hyponym zu ‚Lebewesen’ dar (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 33: 46: 23-00: 33: 49: 09). Abb. 81: Lexem ART-Pl. + Wortbild „wesen“ Abb. 82: Lexem MENSCH + Wortbild „wesen“ 388 <?page no="401"?> Zum anderen reiht sie die Lexeme PERSON und ART-Pl. aneinander und versieht sie mit dem Wortbild „lebewesen“. Letztlich benutzt sie in ihrer Version der Wiedergabe des deutschen Artikels die Variante LEBEN+ ART-Pl. mit dem Wortbild „lebewesen“. Diese Form kann als eine legitime DGS-Gebärde angesehen werden. Sie wird ebenfalls von der gehörlosen Person im ersten Vergleichsfilm verwendet. Auch Informantin S verwendet das Lexem PERSON, setzt es allerdings in den Plural und fügt es an die Gebärde LEBEN an (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 43: 31: 01-00: 43: 36: 19) 35 . Diese Form, die Aneinanderreihung der Gebärden LEBEN und PERSON mit Wortbild „lebewesen“ verwendet auch M2, schließt jedoch gleich die Überlegung an: „LEBEWESEN (gebärdet: LEBEN+PERSON)? LebeWESEN (gebärdet: TIER)? Na ja, eigentlich kann man ja nicht PERSONEN machen, oder? Man muss schon TIER irgendwie eher machen.“ (M2 in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 25: 54: 03- 00: 26: 00: 20) Demzufolge entscheidet sich Informantin M2 für die letzte Form, die ihr im Kontext des Artikels als die angemessenste erscheint: Sie wählt die Gebärde LEBEN mit dem Wortbild „lebe“; daran hängt sie die Gebärde für ‚Tier ’ an und kombiniert sie mit dem Wortbild „wesen“ (s. Abb. 84). Auch diese Form kann als eine gebräuchliche DGS-Gebärde angesehen werden. Sie wird von der gehörlosen Person im dritten Vergleichsfilm verwendet. 35 Da S die Gebärde PERSON auch in anderen Kontexten in übergeneralisierter Form verwendet, kann dieses Vorkommen - und vermutlich auch das von M3 - als strategische Übergeneralisierung angesehen werden (vgl. Kapitel 11.2 „Strategien auf dem intuitiv-prälogischen/ eskapistischen Niveau“). Abb. 83: Lexem PERSON + Wortbild „wesen“ 389 <?page no="402"?> ‚Kontinent‘ Auch beim folgenden Begriff wird überwiegend die Bildung einer neuen Gebärde mittels der Kombination eines Lexems mit einem Wortbild eingesetzt. Für den Begriff ‚Kontinent’ kreieren die meisten Informantinnen eine Gebärde, indem sie das konventionelle Handzeichen für ‚Land’ benutzen und dieses mit dem Wortbild „kontinent“ kombinieren (z.B. Informantin F in Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 34: 09: 14-00: 34: 14: 02, J in Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 02: 52: 05-01: 02: 53: 11, V in Exp-Nov_V_M2, tc 00: 24: 17: 15- 00: 24: 19: 09). Diese Gebärde wird ebenfalls im Vergleichsfilm von der gehörlosen Person benutzt. Abb. 84: Lexem TIER + Wortbild „wesen“ [rechte Person] 390 <?page no="403"?> Zwei Informantinnen verwenden einen Substitutor, die gebogene 5-Finger-Hand, der üblicherweise zur Verortung großer, bzgl. ihrer Form nicht weiter spezifizierter Objekte benutzt wird, und kombinieren ihn mit dem Wortbild „kontinent“ (Informantin B in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 34: 05: 10-00: 34: 07: 06 und Informantin A1 in Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 40: 42: 17-00: 40: 49: 16). Diese Handzeichen-Wortbild-Kombination ist m.E. keine konventionelle Form. Zur Verortung der „Kontinente“ dagegen (s.u.) ist dieser Substitutor das korrekte Mittel. Abb. 85: Lexem LAND + Wortbild „kontinent“ Abb. 86: Substitutor für ‚großes, nicht weiter spezifiziertes Objekt‘ + Wortbild „kontinent“ 391 <?page no="404"?> Das Zusammendriften der Kontinente stellen die meisten Informantinnen dar, indem sie zuerst die Erdkugel etablieren, und dann mittels eines Substitutors die Verschiebung der Landmassen auf der Erdkugel beschreiben (in der folgenden Abbildung Informantin A1 in Transkript Exp- Nov_A3_A1, tc 00: 40: 53: 19-00: 40: 57: 00). Zwei Informantinnen stellen dieses Zusammendriften nicht auf der Erdkugel dar, sondern im neutralen Gebärdenraum, und benutzen dafür nicht die gebogene 5-Fingerhand, sondern die Flachhand (s. Abb. 88; M3 in Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 30: 47: 15-00: 30: 52: 09 sowie V in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 24: 19: 09-00: 24: 23: 17). Beide Verfahren, die Verortung auf der vorher etablierten Erdkugel sowie die im neutralen Gebärdenraum, erscheinen zulässig 36 . Die Unterschiedlichkeit der Handformen ist der unterschiedlichen Nutzung des Gebärdenraums geschuldet: Die (Erd-) Kugel erfordert den Einsatz einer Handform, die sich der dreidimensionalen „Kugelform“ anpassen kann. Dies ist mit der flächigen, geraden Flachhand nicht möglich, weshalb die gebogene 5-Finger-Handform gewählt wird. 36 Im Vergleichsfilm benutzt der gehörlose Erzähler die Variante im neutralen Gebärdenraum. Abb. 87: Verortung der ‚Kontinente‘ auf der vorher etablierten Erdkugel mit Substitutoren für ‚großes, nicht weiter spezifiziertes Objekt‘ 392 <?page no="405"?> ‚Dinosaurier‘ Zwei Informantinnen benutzen zum Ausdruck des Begriffs ‚Dinosaurier ’ die Gebärde für ein Hyperonym, TIER, die sie mit dem Wortbild „dinosaurier“ kombinieren (in der folgenden Abbildung Informantin S in Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 45: 14: 01-00: 45: 15: 02) - eine mögliche DGS-Gebärde für ‚Dinosaurier ’, die im Vergleichsfilm von der gehörlosen Person benutzt wird 37 : 37 Diese Einordnung setzt voraus, dass man das Handzeichen von F als die lexikalische Gebärde TIER interpretiert. Es ist aber auch denkbar, das Handzeichen als Substitutor für ‚trampelnde Füße’ anzusehen. Abb. 88: Verortung der ‚Kontinente‘ im neutralen Gebärdenraum mit Substitutoren für ‚flaches Objekt‘ 393 <?page no="406"?> Die anderen Gebärdenneubildungen bestehen aus solchen Handzeichen, die ein Merkmal des zu bezeichnenden Dinosauriers ausdrücken, das man typischerweise mit diesem Tier assoziiert: Zwei Informantinnen kombinieren die Gebärde BEISSEN mit dem Wortbild „dinosaurier“ (Informantin J in Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 26: 07: 00-00: 26: 08: 18 und Informantin F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 29: 39: 05-00: 29: 40: 22): Wiederum zwei Informantinnen schließlich sehen im langen Hals das typische Merkmal eines Dinosauriers („Stellvertreter… Brontosaurus…“, Informantin F, Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 29: 32: 17-00: 29: 35: 04). Sie wählen jedoch unterschiedliche Gebärden, um dieses Merkmal in DGS umzusetzen: Abb. 89: Lexem TIER + Wortbild „dinosaurier“ Abb. 90: Substitutoren für ‚beißen‘ + Wortbild „dinosaurier“ 394 <?page no="407"?> So benutzt A1 einen Substitutor, bei dem mit dem Unterarm der Hals und mit der Hand der Kopf dargestellt wird (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 31: 31: 06-00: 31: 35: 21, tc 00: 37: 35: 06-00: 37: 37: 00): Informantin F dagegen benutzt eine Skizze, mit der sie einen langen Hals darstellt (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 29: 32: 17-00: 29: 38: 19, tc 00: 39: 13: 18-00: 39: 15: 10): Während die Kombinationen aus dem Wortbild „dinosaurier“ mit den Handzeichen TIER und der Klassifikatorkonstruktion für ‚beißen‘ tendenziell als zulässig bzw. gebräuchliche Gebärden bewertet werden können, sind Abb. 91: Substitutor für ‚langer Hals und Kopf‘ + Wortbild „dinosaurier“ Abb. 92: Skizze für ‚langer Hals‘ + Wortbild „dinosaurier“ 395 <?page no="408"?> die Formen, in denen der Hals als charakteristisches Merkmal gewählt wurde, vermutlich eher unzulässig bzw. ungebräuchlich. ‚Zelle‘ Den meisten Informantinnen ist auch die Gebärde für ‚Zelle’ unbekannt, so dass sie dafür eine neue Gebärde bilden (müssen) 38 . Der Begriff kommt im Artikel im Zusammenhang mit „vielzelligen Lebewesen“ vor. Sechs Informantinnen verwenden hierzu als Substitutor die F-Handform bzw. „kleines F“ (F-Handform mit gekrümmten Zeigefinger), die ein kleines, rundes Objekt repräsentiert (in der folgenden Abbildung Informantin F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 36: 24: 17-00: 36: 38: 16). Diese Gebärde, die die Informantinnen z.T. auch mittels einer zweihändigen, wiederholten Ausführung für den Plural modifizieren, kombinieren sie meistens mit dem Wortbild „zelle“. Diese Handzeichen-Wortbild-Kombination ist eine mögliche DGS-Gebärde für ‚Zelle’, die im Vergleichsfilm von der gehörlosen Person verwendet wird (Film 3, tc 00: 01: 03). Eine andere Informantin gebärdet - gleichsam als „Unterlage“ - zusätzlich zu diesem Substitutor einen weiteren Substitutor, die Flachhand, mit der nicht-dominanten Hand. Da sich die Informantinnen jedoch meist nicht sicher sind, ob sie mit dem Substitutor F-Handform die richtige Wahl getroffen haben, probieren sie weitere Handzeichen-Wortbild-Kombinationen aus. Drei Informantin- 38 Vgl. auch die Strategie von J, die nicht nur eine „neue“ Gebärde bildet, sondern zum besseren Verständnis auch eine Erläuterung zum Begriff ‚Zelle’ bietet (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 56: 51: 23-00: 57: 21: 15). Abb. 93: Substitutor für ‚kleines, rundes Objekt‘ 396 <?page no="409"?> nen verwenden dazu Skizzen: A1 und F stellen kleine, rautenförmige Objekte dar (A1 in Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 36: 57: 05-00: 37: 03: 13; F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 28: 31: 03-00: 28: 41: 04) und V ein kleines rundes Objekt (Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 30: 30: 21-00: 30: 32: 23). M2 schließlich verwendet ein Maß-Handzeichen, MASS-KLEIN, das ein von der Form unbestimmtes, kleines Objekt bezeichnet (Transkript Exp- Nov_V_M2, tc 00: 26: 07: 11-00: 26: 09: 12). ‚Säugetier‘ Auch die Gebärde für den Begriff ‚Säuge-’, der im Artikel als Teil des Kompositums ‚Säugetier ’ vorkommt, ist den Informantinnen unbekannt. Nur M3 und A2 scheinen die Gebärde zu kennen und benutzen sofort die korrekte Gebärde. Neben der Kompensation durch das Fingeralphabet schaffen es jedoch alle vier Expertinnen, mittels eines Substitutors die richtige Gebärde zu kreieren (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 32: 28: 04- 00: 32: 31: 02, Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 31: 58: 18-00: 32: 00: 11, Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 04: 59: 01-01: 05: 01: 16, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 33: 25: 05-00: 33: 27: 01). Dies erfordert einen nicht unerheblichen Übertragungsaufwand bzw. Kenntnisse über die Gebärdenbildungsverfahren der DGS. Zum einen muss von dem Begriff ‚Säugetier ’ auf das gemeinsame Abb. 94: Maß für ‚kleines Objekt‘ 397 <?page no="410"?> Merkmal dieser Tierart ‚säugen’ geschlossen werden 39 . Außerdem muss die Säugetätigkeit vom säugenden Tier auf den säugenden Menschen übertragen werden, da die Gebärde an der Brust des gebärdenden Menschen ausgeführt wird. Die vielleicht größte Herausforderung besteht jedoch darin, dass in der Gebärde nicht die Aktion der Säugenden, sondern die des Saugenden ausgedrückt wird. Damit verschieben sich also die semantischen Rollen: Ist beim deutschen Wort das Agens die Mutter bzw. das Muttertier, so ist das Agens in der Gebärde das saugende Kind bzw. das Jungtier. Zudem muss das Handzeichen ausgewählt werden, mit dem diese Saugtätigkeit ausgedrückt werden kann. ‚Saugende Lippen’ kommen im kommunikativen Alltag und auch im Unterricht - im Gegensatz z.B. zu ‚flachen’ oder ‚runden Objekten’ o.Ä., von denen vergleichsweise häufig die Rede ist und deren Substitutoren bekannt sind - selten vor. Der Einsatz des korrekten Handzeichens erfordert ein gutes Verständnis von den zur Verfügung stehenden Mitteln: Die Hand hat mit ihren fünf Fingern keine besondere Ähnlichkeit zu Lippen, so dass die Darstellung des Säugens auf der Basis ikonischer Ähnlichkeitsverhältnisse nicht naheliegt. 39 Dies scheint aufgrund des deutschen Wortes ‚Säugetier‘ trivial, wird jedoch nicht von allen Informantinnen sofort erkannt. So überlegen bspw. A3 und A1 nach gemeinsamen Merkmalen: A3: „Was haben die Säugetiere alles gemeinsam? Dass sie…“ A1: „Lebend gebären.“ A3: „Lebend gebären. Vielleicht einfach so umschreiben, wenn man die Gebärde nicht kann.“ (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 32: 15: 14-00: 32: 26: 08) A1 kreiert zwar später die korrekte Form SÄUGEN, entscheidet sich in ihrer Version der Wiedergabe des deutschen Artikels jedoch für das Fingern von „Säuge-“ und für eine Erläuterung des gefingerten Wortes: „INDEX SELBST-Sg. SCHWANGER DANN GEBÄREN / KIND SCHON LEBEN“. Abb. 95: Substitutor für ‚an der Brust saugende Lippen‘ + Wortbild „säuge“ 398 <?page no="411"?> Informantin B, eine Novizin, schlägt ein anderes Handzeichen vor. Sie kreiert eine Gebärde für ‚säugen’, indem sie eine bekannte Gebärde wählt, die sie mit ‚säugen’ assoziiert: MELKEN (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 31: 51: 04-00: 31: 53: 07). Dies ist kein allzu fern liegender Gedanke, da auch der Melkvorgang - ebenso wie das Säugen - einen Milchfluss impliziert. Allerdings ist das Agens beim Melken menschlich, wohingegen beim Säugen (bzw. Saugen) das Agens auch tierisch sein kann. ‚Riff‘ Für den Begriff ‚Riff’ verwenden nur zwei Informantinnen diese Strategie der Gebärdenbildung (s. Abb. 96 und 97; Informantin A1 in Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 28: 51: 00-00: 28: 58: 12, tc 00: 40: 12: 04-00: 40: 14: 04 und Informantin F in Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 42: 14: 19-00: 42: 18: 08). Als hervorstechendes Merkmal erscheint ihnen die unebene bzw. zur Wasseroberfläche hin ansteigende Oberfläche eines Riffs, das sie mit einer Skizze darstellen und mit dem Wortbild „riff“ kombinieren. Diese Formen nähern sich an die Gebärde an, die der Gehörlose in der Vergleichsversion einsetzt. Er verwendet jedoch eine etwas andere Handform, die gebogene 5-Fingerhand, und zusätzlich ein Fingerspiel, dass nicht nur die großflächigen Unebenheiten darstellt, sondern auch die kleinen, unregelmäßigen Vertiefungen eines Riffs. Abb. 96: Skizze für ‚unebene Oberfläche‘ + Wortbild „riff“ 399 <?page no="412"?> Eine Informantin gibt auf die Frage, warum sie das „Riff“ in ihrer DGS- Version nicht erwähnt habe, an, dass sie diese Information nicht für wichtig halte: „Ja, aber das finde ich auch nicht so wichtig, wenn man sagt: ‚Das sind…‘ … ähm… Also, wenn man erzählt: Da ist ein BERG, und da war früher ein MEER, und das Meer ist RUNTER, und da sind jetzt die Versteinerungen drin… Also, ich find, das Wort ‚Riff‘ an sich ist nicht ausschlaggebend. […] Also, ich find, es gibt… Also… Oder mir fällt spontan nicht so ein, warum man jetzt unbedingt genau dieses Wort benutzen müsste. Also, ich finde, das kann man so… Also, irgendwie finde ich es auch logisch, wenn man sich das so vorstellt.“ (Informantin A2, Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 44: 47: 06-00: 45: 25: 06) Ein weiterer Grund, weshalb diese Informantin das „Riff“ als solches nicht erwähnt, mag auch sein, dass sie sich über das Aussehen und die Lage eines Riffs nicht ganz im Klaren ist und es daher auch nicht in DGS mittels ikonischer Verfahren beschreiben kann: „Weil ich nicht weiß, ob ein Riff am Rand nur ist, oder ob das auch unter Wasser ist. Mehr so unter Wasser, ne? So Riffe ja. Ich glaube, das ist richtig unter Wasser. Und so fiel das mit dem Meer dann SO [stellt den sinkenden Meersspiegel dar].“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 45: 25: 18-00: 45: 35: 23) ‚Versteinerung‘ Der Begriff der ‚Versteinerung’ wird von den meisten Informantinnen als Prozess dargestellt (s. Kapitel 14.1.1 „Prozess/ Abläufe von Ereignissen mit beschreiben, nicht nur das Ergebnis (ID 50)“). Zwei Informantinnen versuchen jedoch auch, diese Strategie zur Kompensation der Vokabellücke zu nutzen. Abb. 97: Skizze für ‚ansteigende Oberfläche‘ + Wortbild „riff“ 400 <?page no="413"?> Informantin F verwendet das Lexem STEIN und kombiniert es mit dem Wortbild „versteinert“ (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 41: 32: 16-00: 41: 38: 10, tc 00: 42: 04: 09-00: 42: 06: 05). Informantin S dagegen bildet eine Gebärde, mit der sie ein (für sie) typisches Merkmal eines versteinerten Objekts darstellt: ein (er)starr(t)er, fester Brocken. Sie wählt eine Maß-Handform, um ein Handzeichen zu kreieren, das einen ‚starren Klumpen’ ausdrückt (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 44: 39: 24-00: 44: 40: 17, tc 00: 44: 43: 02-00: 44: 43: 16): ‚mountain‘ Das englische Wort ‚mountain’ kommt im Artikel im Zusammenhang mit den Guadalupe Mountains in Texas vor. Hierfür nutzen fünf Informantinnen, denen die ASL-Gebärde für ‚Berg‘ unbekannt ist, dieselbe Strategie: Sie verwenden die DGS-Gebärde BERG und kombinieren sie mit dem Wortbild „mountain“ (Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 39: 23: 20-00: 39: 32: 03, Exp-Nov_B_F, tc 00: 41: 25: 11-00: 41: 32: 16, Exp-Nov_B_F, tc 00: 30: 42: 08-00: 30: 43: 20, Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 32: 21: 18-00: 32: 23: 14, Exp-Nov_S_J, tc 00: 44: 24: 05- 00: 44: 33: 01) 40 . 40 Eine Informantin, J, kennt die ASL-Gebärde MOUNTAIN. V und M2 sprechen - auch in der Planungsphase - überhaupt nicht von „mountains“, sondern nur von „Bergen“. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass sie dermaßen mit der Klärung des Textinhalts beschäftigt sind, dass sie an einer authentischen Wiedergabe nicht interessiert sind. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass sie auch den Namen des Gebirges nicht fingern. Abb. 98: Maß für ‚starrer Klumpen‘ 401 <?page no="414"?> ‚aussterben‘ Ein weiteres Verfahren, das die Informantinnen einsetzen, um eine Vokabellücke zu schließen, ist die Modifikation einer Gebärde für die grammatische Kategorie Numerus. Für den Begriff ‚aussterben’ bilden die beiden Lernerinnen die Pluralform der Gebärde STERBEN und kombinieren diese mit einer Mundgestik (in der folgenen Abbildung Informantin M2 in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 35: 50: 02-00: 35: 53: 17). Bemerkenswert ist, dass diese ad hoc gebildete Gebärde vermutlich als akzeptable DGS-Gebärde zum Ausdruck von ‚aussterben’ gelten kann, dass der Gehörlose diese Form jedoch in keiner der drei Vergleichversionen verwendet. Er benutzt die Gebärden VERSCHWINDEN und AUS(LÖSCHEN). ‚Texas‘ Auch die Gebärde für ‚Texas’ ist den Informantinnen unbekannt. Während jedoch die meisten Informantinnen den Begriff entweder fingern oder umschreiben, kreiert A2 eine Gebärde für ‚Texas’: Sie verwendet eine Gebärde für einen Begriff, den sie offensichtlich als ein typisches Merkmal für ‚Texas’ empfindet: eine Modifizierung der lexikalischen Gebärde PISTOLE bzw. SCHIESSEN (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 25: 27: 04-00: 25: 29: 02, tc 00: 34: 42: 03-00: 34: 44: 13). Abb. 99: Gebärde (AUS)STERBEN 402 <?page no="415"?> Mit dieser semantischen Assoziation liegt A2 sogar ziemlich richtig: Der Gehörlose gebärdet in den Vergleichsfilmen eine ähnliche Form, wobei er allerdings die Bewegung etwas anders ausführt. ‚Evolution‘ M3 bringt in ihrer Wiedergabe des Artikels den Begriff ‚Evolution’ ein. Dafür verwendet sie die Gebärde ENTWICKLUNG und kombiniert sie mit dem Wortbild „evolution“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 29: 23: 05- 00: 29: 28: 07; vgl. auch Kapitel 10.1.3 „Metaphorik“). Abb. 100: Gebärde PISTOLE + Wortbild „texas“ Abb. 101: Lexem ENTWICKLUNG + Wortbild „evolution“ 403 <?page no="416"?> Auf Nachfrage erläutert M3, dass sie die Gebärde für diesen Begriff nicht kenne, die Gebärde ENTWICKLUNG aber gewählt habe „weil [in der Semantik des Begriffs ‚Evolution’, C.M.] ‚Entwicklung’ da… mit drin liegt“ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 43: 53: 17-00: 44: 11: 07). ‚Erde‘ Informantin A3 ist die Gebärde für ‚Erde’ bzw. ‚Erdkugel’ unbekannt. Sie greift auf ein typisches Form-Merkmal des Erdballs, ‚kugelförmig’, zurück und bildet zwei unterschiedliche Formen: Zum einen kreiert sie mittels einer Skizze die (korrekte) Gebärde für ‚Erde’ (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 36: 01: 22-00: 36: 06: 02): Zum anderen gebärdet A3 einen Substitutor, der für ein kugelförmiges Objekt stehen kann (ebd.). Damit wählt sie den korrekten Substitutor als Vertreter; dies ist jedoch keine lexikalische Gebärde für ‚Erde’, sondern könnte bspw. benutzt werden, um das Kreisen der Erde um die Sonne darzustellen. Abb. 102: Skizze für ‚(Erd-)Kugel‘ 404 <?page no="417"?> ‚Landmasse‘ Informantin B, eine Novizin, hält sich vergleichsweise eng an die deutsche Textvorlage und versucht, eine Gebärde zu bilden, die den Begriff ‚Landmasse’ wiedergibt 41 . Dafür benutzt sie mit der gebogenen 5-Finger- Hand einen Substitutor, der üblicherweise zur Verortung großer, bzgl. ihrer Form nicht weiter spezifizierter Objekte benutzt wird (s. Abb. 104; Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 34: 38: 22-00: 34: 48: 02; vgl. die Darstellungen zum Begriff ‚Kontinent’). Auch wenn sie bei der Übertragung des Begriffs ‚Landmasse’ an sich sehr am deutschen Text orientiert ist, so ist B doch klar, dass eine angemessene DGS-Form wohl nicht der Morphologie des deutschen Kompositums „Landmasse“ folgt. Daher setzt sie diesen Substitutor ein, mit dem sie hinsichtlich der Semantik auch eine richtige Form gewählt hat - sofern sie das Zusammendriften der Landmassen darstellen (und nicht die Landmasse benennen) würde. In den Vergleichsfilmen benutzt der Gehörlose einen anderen Substitutor (die C-Handform, bei der der Mittel-, der Ring- und der kleine Finger eingelegt sind (Baby-C)) und die lexikalische Gebärde GROSS um die komplexe Masse der zusammengedrifteten Kontinente darzustellen. 41 Daraufhin bemerkt die Expertin: „Du brauchst nicht so wörtlich…“ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 34: 40: 01-00: 34: 42: 10). Abb. 103: Substitutor für ‚(Erd-)Kugel‘ 405 <?page no="418"?> ‚Alter‘ M3 kreiert eine Gebärde für ‚Alter ’ i.S.v. ‚Zeitalter ’. Dabei beabsichtigt sie auszudrücken, dass es drei verschiedene Zeitalter gegeben habe. Sie verwendet dazu eine Gebärde, mit der angezeigt werden kann, dass es drei „Abzweigungen“ i.S.v. Möglichkeiten oder Varianten gegeben hat; diese Gebärde kombiniert M3 mit dem Wortbild „alter“ (s. Abb. 105; Transkript Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 29: 37: 13-00: 29: 38: 24). Diese Gebärde ist in diesem Kontext jedoch nicht akzeptabel, da auf diese Weise keine Zeitabschnitte dargestellt werden können wie M3 es eigentlich beabsichtigt. Die Idee als solche, die drei Zeitalter im Gebärdenraum voneinander abgegrenzt darzustellen, ist also richtig; das gewählte sprachliche Mittel dazu ist jedoch nicht korrekt. ‚Labor‘ Eine Verwendung dieser Strategie findet sich auch in einem Laut-Denk- Experiment. Informantin S schaut nicht, wie die anderen Informantinnen, zuerst die Gebärdensprachfilme des Sprachlernprogramms und versucht dann, diese DGS-Sequenzen mit Hilfe des Films oder anhand der Glossenumschrift zu wiederholen; sie beginnt vielmehr von vornherein, den deutschen Text zu übersetzen. Daher stößt sie auf Begriffe, für die sie die Gebärden nicht kennt. Im Fall von ‚Labor ’ kreiert S eine Gebärde: Sie benutzt die lexikalische Gebärde für RAUM (i.S.v. ‚Zimmer ’), ein Hyperonym zu ‚Labor ’ (Transkript Laut-Denk_S, tc 00: 26: 13: 07-00: 26: 15: 02). Abb. 104: Substitutor für ‚großes, nicht weiter spezifiziertes Objekt‘ 406 <?page no="419"?> Allgemeine Bemerkungen zu dieser Strategie Bemerkenswert bei dieser Strategie „Nutzung von produktiven Handzeichen-Mundbewegungs-Kombinationen“ ist, dass sie von den Expertinnen fast genau doppelt so häufig eingesetzt wird wie von den Novizinnen: Es finden sich 67 Vorkommen, in denen die Expertinnen durch neue Handzeichen-Wortbild-Kombinationen „neue“ Gebärden bilden; dagegen nutzen die Novizinnen diese Verfahren nur 33-mal. Diese Verteilung ist insofern einleuchtend, als die erfahreneren Expertinnen zum einen einen größeren Wortschatz haben als die Novizinnen, aus dem sie schöpfen können. Zum anderen haben die Expertinnen ein größeres Verständnis von den Gebärdenbildungsverfahren und den sprachlichen Mitteln, die sie zur Bildung einer Gebärde einsetzen können. Bestätigt wird diese Annahme nicht nur durch die Verteilung, sondern auch dadurch, dass M3, die von allen Novizinnen die meiste Sprachlernerfahrung hat, auch die Novizin ist, die die Strategie bei weitem am häufigsten verwendet: Sie gebraucht die Strategie insgesamt 13-mal, wogegen die anderen Novizinnen die Strategie z.T. fast gar nicht einsetzen (A3 zweimal, B siebenmal, S achtmal und V zweimal). Eine weitere Bestätigung ist die Tatsache, dass ein gewisses Maß an Gebärdensprachkompetenz allein nicht unbedingt zur Bildung von Gebärden nach diesem Muster befähigt: Die Novizin A3, die sich vergleichsweise gut ausdrücken kann, verwendet diese Strategie nur zweimal. Dies deutet dar- Abb. 105: ‚drei Abzweigungen‘ 407 <?page no="420"?> auf hin, dass sie vielleicht die zur Bildung von Gebärden notwendigen Verfahren noch nicht verinnerlicht hat 42 . Der Gebrauch dieser Strategie scheint sehr erfolgreich zu sein: In vielen Fällen kreieren die Lernerinnen Gebärden, die entweder den authentischen DGS-Gebärden entsprechen oder die diesen sehr ähneln. Selbst in den Fällen, in denen dies nicht gelingt, greifen die Informantinnen auf sprachliche Mittel zurück, die auf ein gewisses Verständnis der Gebärdenbildungsverfahren schließen lassen, und mit denen sie Gebärden kreieren, die im Kontext vermutlich auch verstanden würden. M2 vermutet im Interview, dass DGS-Muttersprachler im Vergleich zu Muttersprachlern anderer Sprachen eine niedrigere Akzeptanzschwelle bzgl. der Äußerungen von Lernern haben: M2: „Ja, ich finde auch, dass man da mehr Freiheiten hat. Also, was Improvisation, irgendwie anders ausdrücken angeht, finde ich zum Teil größer als ich das so aus anderen Sprachen kenne. … Vielleicht ist auch einfach nur die Akzeptanzschwelle größer [M2 meint: niedriger; als „größer“ erachtet sie die Bereitschaft, nichtkonventionelle Formen zu akzeptieren, C.M.], ne? “ K: „Ja.“ (Interviewaussagen-ID 303) Dies mag zutreffen und zum einen vor dem Hintergrund zu sehen sein, dass manche Gehörlose grundsätzlich erfreut über gebärdende Hörende sind; zum anderen tragen mehrere Faktoren dazu bei, dass so manche gebärdensprachliche Äußerung nicht grundsätzlich als korrekt oder falsch bewertet werden kann: die dialektale Vielfalt, das erst jung erwachte sprachliche Bewusstsein Gehörloser und die fehlende bzw. nur ansatzweise vorhandene Beschreibung der Grammatik der DGS, die in gewissem Maß vermut- 42 Ihr guter Ausdruck ist zum Gutteil darauf zurückzuführen, dass A3 häufig auf Constructed Action zurückgreift (für eine Erläuterung von Constructed Action s.u.). Damit kann sie einerseits z.T. fehlende Vokabeln kompensieren; andererseits ist ihr Output dadurch sehr authentisch und fällt vor allem deswegen positiv auf, weil Constructed Action i.d.R. von Anfängerinnen kaum benutzt wird. 408 <?page no="421"?> lich auch eine normierende Wirkung hätte 43 . Dennoch besteht in den vielfältigen Möglichkeiten, Gebärden zu bilden, eine grundsätzlich andere Situation als bei gesprochenen Sprachen. So ist die Akzeptanzschwelle nicht nur aus sozialen Gründen niedriger, sondern auch aus linguistischen: Da die Sprache selbst die Kombination verschiedener Elemente erlaubt bzw. sogar verlangt, ist die produktive Bildung von Gebärden keine Ausnahme, sondern die Regel. 14.2.2.2 Nutzung von Constructed Action (ID 85) Unter Constructed Action wird eine Ausdrucksform verstanden, bei der der Gebärdende gleichsam in die Rolle eines anderen schlüpft und dessen Verhalten und emotionale Verfassung wiedergibt 44 . Aufgrund dieses oberflächlich pantomimischen „Rollenspiels“ wurde in der englischen Literatur bis zur Mitte der 1990er Jahre von role playing, role shifting, role-switching oder taking on the role of a character gesprochen, in der deutschen Literatur von Rollenübernahme, Rollenspiel, Rollenwechsel oder auch darstellendes Körperverhalten 45 . 43 Bspw. beschreibt Becker anekdotisch: „Zum Teil sind Bildungen dieser Art personenabhängig oder werden nur in einem relativ kleinen Kreis verwendet. Dabei muss es sich nicht um dialektale Varianten handeln. So werden von gehörlosen Studierenden an der Universität Köln unterschiedliche Gebärden für die Bezeichnung von ‚Fachschaft’ verwendet […] Auf die Frage, welche Gebärde denn nun die richtige sei, antwortete ein Student, dass er es zwar so gebärde, ein anderer es aber anders mache, was er durchaus als richtig tolerieren könne und das gegenseitige Verständnis nicht einschränke“ (Becker 2003, S. 115). Selbstverständlich werden sich immer auch Muttersprachler finden, die ausschließlich „ihre“ Gebärden für die einzig korrekten halten. Diese Situation ist selbstverständlich für Lerner (gerade in Prüfungssituationen) nicht einfach. Bzgl. der Akzeptanz bzw. Inakzeptanz von lexikalischen Formen äußern sich die Informantinnen K und V im Interview folgendermaßen: K: „Das fand ich übrigens auch ganz am Anfang nicht so einfach. Dass es für verschiedene Gebärden verschiedene Varianten gibt. Also… ich hatte das dann relativ schnell so… gedacht: ‚O.k., ist dann eben so.‘ Aber ich weiß, dass damit ganz viele Leute gekämpft haben; zu sagen: ‚Wieso? Die Gebärde ging doch so und so.‘ Und nicht akzeptieren konnten, dass es irgendwie verschiedene Varianten gibt.“ Ch: „Und die sind dann… Ich weiß nicht… erst mal eine Weile daran gescheitert? Dass die das nicht gleich verstanden haben, oder nicht produzieren konnten, oder…? “ K: „Nee, die wollten die richtige Gebärde! Weißt Du? “ […] V: „Ja, bei mir im Kurs werden die auch regelmäßig wütend; also… ‚Letztes Mal war ’s doch noch so! Und jetzt ist es so! ’ Also, die regen sich richtig auf.“ (Interviewaussagen-ID 313) 44 Während Becker (2003) die Visualisierung durch Imitation von Handlungen und Verhalten als ikonischen Gebärdenbildungsprozess für lexikalische Gebärden beschreibt, handelt es sich bei Constructed Action um die Äußerung nicht-lexikalischer, größerer Diskurseinheiten (vgl. Fischer und Kollien 2006, S. 99). 45 S. z.B. Mandel 1977, Liddell 1980, Padden 1986, 1990; Beecken et al. 1999a, 1999b, 2002a, 2002b, Heßmann 2001. 409 <?page no="422"?> Metzger (1995) etablierte in Anlehnung an Tannen (1986, 1989) den Terminus „Constructed Action“. Darunter versteht sie die kreative Konstruktion eines Ereignisses, das von einem Gebärdenden beschrieben wird (Metzger 1995, S. 266): „Constructed action in ASL is described as what was once referred to as ‚role playing‘, in which the signer assumes the posture and actions of a character ‚and imitat(es) them, either as mime, or while signing about that character‘ (Winston 1992, 98-99).“ (Metzger 1995, S. 257) Als eine Form von Constructed Action beschreibt Metzger den Constructed Dialogue. Während Constructed Action die Darstellung von Handlungen, Verhalten und Emotionen eines Akteurs umfasst, werden bei Constructed Dialogue Äußerungen oder Gedanken wiedergegeben 46 . Constructed Action, die für die Kontexte der vorliegenden Arbeit von Bedeutung ist, besteht aus einem hohen (panto-)mimischen Anteil, bei dem nicht nur die Hände, sondern auch Kopf- und Oberkörperhaltung, Gesichtsmimik und der Blick eine große Rolle spielen. Je nach theoretischer Analyse überlagern sich diese Äußerungsformen z.T. mit Klassifikatorkonstruktionen bzw. treten im Wechsel mit ihnen auf, oder sie sind gestischer Natur 47 . Charakteristisch ist dabei die Maßstabsentsprechung zwischen den Körperteilen des Sprechers und des Referenten. Metzger (1995) identifiziert drei Formen von Constructed Action, die sie auf einem Kontinuum verortet, dessen Pole die vollständige Konstruktion und die annähernd vollständige Erzählung sind. Regeln der Constructed Action sind bisher nur sehr wenig erforscht. Winston (1992) z.B. sieht die Funktion von Constructed Action und Constructed Dialogue in ASL als die paralleler Diskursstrategien: „Winston terms this action performatives and describes the dynamic interaction of constructed action and dialogue in an ASL lecture as discourse strategies used to more actively involve the audience.“ (Metzger 1995, S. 257) Fischer und Kollien (2006) sehen die Hauptfunktion von Constructed Action in der Darstellungsfunktion: Keinesfalls sei Constructed Action als eine „rhetorische Ausschmückung eines Gesprächbeitrags“ zu interpretieren, „mit der die Gebärdende die Möglichkeit zur alltagsrhetorischen Selbstinszenierung verwirklicht“ (ebd., S. 101). Vielmehr trage sie „zur Bedeutungs- und Sinnkonstitution bei, indem sie die verstehensmäßige Nachvollziehbarkeit der versprachlichten Vorgänge vergrößert resp. die größtmögliche Nachvollziehbarkeit verschafft“ (ebd., S. 102). 46 Dabei muss der Akteur nicht menschlich sein (vgl. Metzger 1995, S. 256). 47 Liddell und Metzger (1998) bspw. sehen Constructed Action als Teil des gestischen und nicht des grammatischen Codes (S. 673; s. auch Liddell 2003, S. 157). Für einen Überblick über Ansätze, die Constructed Action als Teil der Grammatik interpretieren s. Liddell und Metzger 1998, Kapitel 4.1. 410 <?page no="423"?> Für Lerner stellt Constructed Action - ebenso wie Klassifikatorkonstruktionen - ein nur schwer zu beherrschendes Ausdrucksmittel dar. „Direct action seems to be a relatively straightforward construction in ASL. However, though often labeled as mimelike, this type of construction is not generally easily mastered by second language learners, as one might expect since mimelike gesturing is a genre accessible to all linguistic communities.“ (Metzger 1995, S. 263) Auch Hofstätter (1998) beschreibt die „Technik des Rollenspiels“ als etwas, das Lernern große Schwierigkeiten bereitet: „Dieser ständige Wechsel personenbezogener Äußerungen stellt auch an die fortgeschrittenen GS-Lerner noch größte Anforderungen. Insbesondere die rasche Abfolge affektiver und grammatisch relevanter Mimik, verbunden mit weiteren nichtmanuellen Markierungen zur Kennzeichnung syntaktischer Strukturen bedarf einiger Übung.“ (ebd., S. 30) Ein weiterer erschwerender Faktor liege in der kulturell bedingten „Scheu vor dem Sich-zur-Schaustellen“ (ebd., S. 37). Daneben bestünden auch hohe Anforderungen an die Wahrnehmung des Adressaten, an ein diesbezüglich (noch) untrainiertes Auge (ebd., S. 31ff.): Ein charakteristisches Merkmal von Constructed Action ist die hohe Informationsdichte aufgrund der vielen, simultan eintreffenden Informationen bestehend aus Handzeichen, Wortbild, Mimik sowie Kopf- und Körperhaltung. Fischer und Kollien (2006) nennen weitere Lernschwierigkeiten, die durch die Modalität selbst (mit-) bedingt sind (ebd., S. 98): Zum einen gebe es physische Einschränkungen, die in motorischer Ungeübtheit bestünden; darüber hinaus existierten aber auch „Probleme, die sich aus der Unterrichtsmethode ergeben - wenn zum Beispiel den FremdsprachenlernerInnen die kognitive Stützung (etwa durch kontrastive Regeln als expliziertes Sprachwissen) vorenthalten wird.“ Eine Konsequenz solcherlei Unterrichts 48 sehen Fischer und Kollien in dem möglicherweise mangelnden Bewusstsein über die Fehlerquellen: Aufgrund der fehlenden Explizierung könnten Lernenden u.U. die Unterschiede „auf dem Spektrum von Pantomime bis grammatischem Marker nicht deutlich werden“ (Fischer und Kollien 2006, S. 98; vgl. auch McKee und McKee 1992, S. 138ff.). Die Verwendung von Constructed Action zur Kreation eigener Gebärden bei Vokabellücken wird in den Interview-Daten der vorliegenden Arbeit einmal explizit als nützliche Strategie benannt. Auf die Frage, wie sie mit Wortschatzlücken umgehe, antwortet M2: 48 Wenig explizierender Unterricht ergibt sich in diesem Fall m.E. nicht nur aus der Unterrichtsmethode, sondern gezwungenermaßen in erster Linie aus einer defizitären Forschungslage: Da es bisher keine Erkenntnisse bzgl. einer möglichen Konventionalisiertheit des Einsatzes von Constructed Action gibt (für erste Annahmen vgl. Fischer und Kollien 2006), besteht in der DGS-Lehre nicht die Möglichkeit zu dem Versuch, Constructed Action bspw. kontrastiv zu unterrichten. 411 <?page no="424"?> „Na ja, was halt einfach ein Vorteil ist, dass man ins Rollenspiel gehen kann. Und, wenn man da… wenn man da nicht so scheu ist, dann hat man schon viele Möglichkeiten, [? ? ? Aufnahme unverständlich, C.M.] darzustellen. Gerade auch mit Klassifikatoren und so weiter (K nickt), und man hat dann irgendwann ja auch die Möglichkeit, Dinge nicht unbedingt benennen zu müssen, sondern mehr sich in der Sprache auch ein bisschen bewegen zu können, und dann Sachen einfach anders auszudrücken, auch wenn man gerade die Vokabel meint sonst lieber zu wählen. Es kommt halt immer darauf an, wie… niveauvoll sozusagen der Sprachgebrauch von einem selber ist. So.“ (Interviewaussagen-ID 300) Vorkommen dieser Strategie bzw. ihre Thematisierung finden sich nur in den Experte-Novize-Experimenten: acht Mal bei den Novizinnen und vier Mal bei den Expertinnen 49 . Ein eindeutiges Beispiel besteht in der Äußerung von S: Sie kennt die Gebärde für ‚Geiz’ nicht und kreiert die (korrekte) Gebärde für ‚Geiz’ mit dem Mittel der Constructed Action. Diese Gebärde enthält einen Manipulator, der ein typisches Verhalten zeigt, das üblicherweise mit ‚Geiz’ assoziiert wird: ‚raffen' (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 02: 05: 07-00: 02: 07: 22; ebenso A2 in Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 08: 20: 07-00: 08: 23: 03 und ebd. M3, tc 00: 08: 20: 07-00: 08: 21: 04). Darüber hinaus thematisiert S den Einsatz dieser Strategie: „Oder… oder… halt so diese… ähm… diese emotionale Komponente, wie… ‚ist erleichtert‘, oder ‚erstaunt‘. Also… Klar kann man das mimisch dann machen. Aber so die Vokabeln dazu… fehlten jetzt. Oder: Es ist ‚gemütlich‘, wie er da liegt, und so.“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 19: 57: 16-00: 20: 14: 08) Diese Äußerung zeigt, dass S der Status bzw. der Gebrauch von Constructed Action in der Tat nicht ganz klar ist: Offensichtlich empfindet sie es als Kompensation einer Wissenslücke, Constructed Action einzusetzen. Dabei ist gerade bei der von S erwähnten „emotionalen Komponente“ der Einsatz von Constructed Action unerlässlich. 14.2.2.3 Verwendung des Fingeralphabets Einen Rückgriff auf das Deutsche stellt der Einsatz des Fingeralphabets dar. 49 Constructed Action als solche wird weitaus häufiger verwendet. Im Transkript markiert wurden jedoch nur solche Fälle, in denen es sicher war oder äußerst wahrscheinlich schien, dass die Informantinnen die lexikalische Gebärde nicht kannten. 412 <?page no="425"?> Fingern (vollständiger Wörter) (ID 55) Die Informantinnen fingern einige der Begriffe, für die sie keine Gebärden kennen, vollständig. Im Experte-Novize-Experiment trifft dies auf die Begriffe ‚Paläozoikum’, ‚Mesozoikum’, ‚Känozoikum’, ‚Perm’, ‚Pangäa’ und ‚Guadalupe’ zu. Diese werden immer gefingert, und es wird kein Versuch unternommen, eine andere Kompensationsstrategie einzusetzen. In den Experte-Novize-Experimenten setzen die Informantinnen diese Strategie insgesamt 77-mal ein, davon 34-mal die Novizinnen und 43-mal die Expertinnen. Teilweise entwickelt sich unter den Informantinnen eine rege Diskussion darüber, ob das Fingern notwendig und sinnvoll ist oder nicht (Informantin A1, Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 43: 42: 11-00: 43: 58: 09; Informantin V, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 51: 33: 00-00: 51: 39: 09). So vertreten die meisten Informantinnen aus verschiedenen Gründen die Ansicht, dass man diese Wörter maximal einmal fingern solle. Sonst sei der Gebärdenfluss gestört, es sehe unschön aus bzw. sei diese Information ohnehin nicht so wichtig: „Das stört ja auch echt den… den Fluss, ja? “ (Informantin A1, Transkript Exp- Nov_A3_A1, tc 00: 44: 07: 07-00: 44: 09: 24) „Es sieht halt auch so unschön aus, wenn Du da die ganze Zeit…“ (Informantin A2, Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 27: 49: 05-00: 27: 51: 23) „Und eigentlich ist auch egal, ob diese Berge da nun Guadelupe Mountains heißen, oder nicht. Das ist halt so in Texas, die Berge, da hat man das gefunden. Das reicht eigentlich… völlig. Um den Inhalt zu erzählen. Ja, wahrscheinlich. Ist ja nicht so wichtig.“ (Informantin A1, Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 44: 13: 16- 00: 44: 28: 08) Grundsätzlich ist das Fingern bei den Informantinnen nicht sonderlich beliebt und wird z.T. aus „Faulheit“ vermieden bzw. nicht als absolut notwendig betrachtet (Informantin J, Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 08: 45: 23- 01: 08: 51: 02). Eine Informantin stellt fest, dass dermaßen lange gefingerte Wörter sowieso nicht verstanden würden: „Oder Du lässt sie weg. Weil… Also, ich glaub… Wie ist das? Alles, was über fünf oder sieben Buchstaben geht, kann man… direkt weglassen, ohne Gebärde. Also… Macht keinen Sinn mehr, weil‘s nicht funktioniert. Und wieviel haben wir hier immer? Zehn? Doch. [nennt den Namen einer Dozentin] sagt immer: Alles, was über so und soviel Buchstaben geht, macht keinen Sinn mehr, richtig. Und ich glaube, es ist ne relativ lange Zahl. Also, so was wie fünf oder sieben. Und… es hat, glaube ich… Also, ich glaub, einem Gehörlosen würde es nichts bringen, einmal ‚Paläozoikum‘ zu hören. Und dann noch einmal… Also, noch mal zwei so komische Wörter, die auch so ähnlich - am Ende zumindest - aussehen [meint Paläozoikum, Mesozoikum und Känozoikum, C.M.].“ (Informantin A2, Transkript Exp- Nov_M3_A2, tc 00: 26: 52: 08-00: 27: 27: 12) 413 <?page no="426"?> Für Dolmetschkontexte kann diese Faustregel möglicherweise stimmen; in normalen Kommunikationssituationen trifft dies m.E. jedoch nicht zu, da i.d.R. sehr viel mehr Zeit zur Verfügung steht. Andere unbekannte Vokabeln werden auch gefingert, jedoch werden hier auch andere Strategien wie „paraphrasieren“ oder die „Nutzung von produktiven Handzeichen-Mundbewegungs-Kombinationen“ eingesetzt, um die Bedeutung auszudrücken. Dies trifft in der Erhebung auf die Begriffe ‚Texas’, ‚Riff’, ‚Dinosaurier ’ und ‚Säuge[tiere]’ zu. Tendenziell wird vermieden, unbekannte Vokabeln durch das Buchstabieren mit dem Fingeralphabet zu kompensieren, da dies für untypisch gehalten wird: „Dann gäb‘s halt die Möglichkeit, Fingeralphabet zu machen, … was wahrscheinlich, … sehr DGS-untypisch wäre.“ (Informantin F, Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 43: 30: 12-00: 43: 37: 02) Kreation von initialisierten Gebärden bei Vokabellücken (ID 145) Diese Strategie, die in den Interviews nicht benannt wurde, wird in den Experte-Novize-Experimenten insgesamt 16-mal benutzt, dabei von drei Novizinnen (insgesamt viermal) und drei Expertinnen (insgesamt zwölfmal). Da allgemein ungern gefingert wird (s.o.), gehen einige Informantinnen dazu über, für die Begriffe ‚Paläozoikum’, ‚Mesozoikum’, ‚Känozoikum’, ‚Perm’, ‚Pangäa’, ‚Texas’ und ‚Dinosaurier ’ initialisierte Gebärden 50 zu verwenden und den jeweiligen Anfangsbuchstaben des deutschen Wortes als Bezeichner zu benutzen. 14.2.2.4 Verwendung von LBG (ID 62) In einem Interview bezeichnet eine Informantin den Einsatz von Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) als eine hilfreiche Möglichkeit, Wortschatzlücken zu umgehen. Gefragt, was sie mache, wenn sie sich äußern wolle, aber eine Vokabel nicht wisse, antwortet A3: „Ich versuche zuerst, zu beschreiben. Ähm… sozusagen entweder meine eigene Gebärde zu entwickeln. Oder was… was von mir… ja… ich würde denken, dass es dann passt. Also Gebärde. Aber wenn… wenn die Gehörlosen das nicht verstehen, dann versuche ich zuerst sozusagen… mit, na ja, LBG (setzt „LBG“ ge- 50 Sutton-Spence und Woll differenzieren zwischen initialisierten Gebärden und „Single Manual Letter Signs“ (SMLS). Gemäß dieser Unterscheidung basieren initialisierte Gebärden auf bereits etablierten Gebärden, denen eine Handform des Fingeralphabets simultan hinzugefügt wird, z.B. die Gebärde TEAM. SMLS dagegen sind solche Gebärden, bei denen nur der erste Buchstabe eines Wortes gefingert wird und dieser dann zur standardisierten Form wird (Sutton-Spence und Woll 1999, S. 226/ 227). Demzufolge wären die Vorkommen im Korpus der vorliegenden Arbeit SMLS. 414 <?page no="427"?> stisch in Anführungszeichen), und… das Wort einfach teilen, in die Gebärden, die ich kann.“ (Interviewaussagen-ID 152) Diese Verwendung von LBG auf lexikalischer Ebene findet sich auch in den Experte-Novize-Experimenten, fünfmal bei den Novizinnen und viermal bei den Expertinnen. Die Informantinnen verwenden diese Strategie bei den Begriffen ‚Gartenliege’, ‚Liegestuhl’, ‚Geizhals’ und ‚Zeitalter ’. Gebärden für diese Begriffe sind ihnen offensichtlich unbekannt. Die Lernerinnen konstruieren eigenständig eine „neue“ Gebärde, wobei sie sich offensichtlich von der Morphologie des deutschen Wortes leiten lassen 51 . So kreiert die Expertin F bspw. eine Gebärde für ‚Gartenliege’, indem sie das Lexem GARTEN und den Substitutor für ‚liegende Person’ kombiniert und mit dem Wortbild „gartenliege“ versieht: „Ich… ich kenn die Gebärde für ‚Liege‘ kenn ich auch nicht. GARTEN+Kl- SUBST-PERSON-LIEGEN (Wortbild: ‚gartenliege‘) … Würd ich einfach so machen.“ (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 04: 02: 10-00: 04: 05: 09) Auch die Novizin A3 kreiert eine Gebärde für ‚Liegestuhl’, verwendet allerdings noch zusätzlich Constructed Action: Sie gebärdet zuerst einen Substitutor für ‚die Beine hochlegen’ 52 , an den sie das Lexem STUHL anschließt; beide Gebärden werden begleitet von Constructed Action sowie von dem Wortbild „liegestuhl“ (Transkript Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 04: 52: 16- 00: 04: 54: 12). Informantin S, eine Novizin, kreiert eine Gebärde auf ähnliche Art und Weise für ‚Liegestuhl’: Sie verwendet die Gebärden PAUSE-MACHEN und STUHL, begleitet vom Wortbild „liegestuhl“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 19: 49: 08-00: 19: 52: 08). Auch Novizin B leitet eine Gebärde aus der Morphologie des Deutschen ab: Sie kombiniert die Gebärde ZEIT und ALT für ‚Zeitalter ’ (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 24: 20: 24-00: 24: 25: 11). Diese Kombination der Gebärden ZEIT und ALT scheint eine legitime DGS-Form zu sein. Die als Gegenprobe von einem Gehörlosen gebärdete Version des deutschen Artikels enthält diese Form ebenfalls - auch wenn hauptsächlich auf die Gebärden SUBST- ABSCHNITT und MASS-BLOCK zurückgegriffen wird. 51 Es gibt in der DGS durchaus viele Lehnformationen, die auf morphologische Vorbilder der deutschen Lautsprache zurückzuführen sind. Die Untersuchung des DGS-Lexikons von Becker ergab, dass 7% bzw. 24% der untersuchten Einzelgebärden solche komplexen Entlehnungen waren (je nachdem, welche Gebärdensammlung man zugrunde legt); bei Gebärden im Kontext (in einer Phrasensammlung sowie in DGS-Texten) dagegen fanden sich solche Lehnformationen nur zu 2,8% bzw. sogar nur zu 1% (vgl. Becker 2003, S. 147/ 148). 52 A3 benutzt allerdings nicht den korrekten Substitutor, sondern vielmehr eine Mischung aus dem Substitutor für ‚liegende Person’ und dem Substitutor für ‚die Beine hochlegen’. 415 <?page no="428"?> Das Vorkommen wurde aufgenommen, da sich die Informantin B offensichtlich unsicher ist, ob es sich bei der von ihre gebärdeten Lehnformation um eine DGS-Gebärde handelt: „Also… Wenn man das irgendwie gebärden könnte… dann würd ich vielleicht erst mal anfangen, dass… ähm… dass es… DREI Zeitalter… äphh… gibt. Gibts dafür irgendnen… ZEIT… ALTER bestimmt nicht, oder? “ (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 24: 02: 17-00: 24: 25: 21) 14.2.2.5 Zeigen (ID 52) Das Zeigen auf anwesende oder auch auf im Vorwege im Gebärdenraum etablierte abwesende Referenten ist ein legitimes gebärdensprachliches Mittel (vgl. die Darstellung der Funktion von Zeigegebärden als Mittel der Visualisierung bzw. die der indizierenden Technik, Kapitel 14.2.1 „Verfahren der Gebärdenbildung“). Eine Informantin erläutert jedoch im Interview, dass sie besonders in der Kommunikation über Fachinhalte Schwierigkeiten habe sich auszudrücken, und dass sie daher auf das Zeigen auf anwesende Objekte zurückgreife: „Oder innerhalb in einem Fachgebiets kommunizieren. Die Übertragung ist da noch nicht so doll… Und da würde ich mich, glaube ich, wenn ich sie hätte, sehr auf die Fachvokabeln verlassen, und dann relativ nahe an der Grammatik des Deutschen bleiben. Und wenn ich sie nicht habe, bin ich halt ganz oft relativ hilflos und versuche es einfach nur mit Zeigen. Aber das ist dann keine DGS mehr.“ (Informantin M1, Interviewaussagen-ID 103) Abb. 106: Substitutor für ‚Zeitabschnitt‘ aus: Bestand IDGS Abb. 107: Maß für ‚Zeitabschnitt‘ aus: Bestand IDGS 416 <?page no="429"?> Das einzige Vorkommen für diese Strategie in der Erhebung findet sich in einem Experte-Novize-Experiment: B, eine Novizin, weiß bei der Wiedergabe des deutschen Artikels nicht, wie sie etwas gebärden soll und zeigt stellvertretend dafür auf die schriftliche Vorlage (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 30: 49: 24-00: 30: 51: 05). Aus der Situation wird nicht ganz klar, ob ihr Gebärden fehlen, ob es ihr schwer fällt, einen Satz zu formulieren, oder ob sie das Fingern eines Namens („Guadalupe Mountains“) vermeiden will. In jedem Fall ist ihr bewusst, dass sie damit aus der gebärdensprachlichen Wiedergabe aussteigt und sich vor der DGS-Äußerung drückt, was durch ihr Grinsen und auch durch die Reaktion der Expertin zum Ausdruck (sie lacht und meint: „Auch ‘ne Möglichkeit.“) kommt. Es ist davon auszugehen, dass es Fälle geben kann, in denen eine Unterscheidung zwischen dem Einsatz einer legitimen Zeigegebärde und einer „illegitimen“ Zeigegeste nicht eindeutig vorzunehmen ist. In den beiden Vorkommen des Korpus ist die Einordnung jedoch möglich. 14.2.2.6 Nutzung von Pantomime (ID 63) Vier Informantinnen äußern sich in den Interviews dazu, Vokabellücken durch den Einsatz von Pantomime kompensieren zu können. Dabei ist die Abgrenzung zwischen der Verwendung von Pantomime und dem Gebrauch von Constructed Action sowie Nonverbaler Kommunikation (NVK) sowohl in den Äußerungen der Informantinnen als auch in der linguistischen Diskussion nicht immer klar. Da die Informantinnen in den Interviews den Einsatz von Pantomime jedoch explizit erwähnen, wird dieser Aspekt hier aufgegriffen. Abb. 108: Zeige-Geste auf die Vorlage 417 <?page no="430"?> Der Gebrauch pantomimischer Ausdrucksformen wird von ihnen zwar als mögliches Mittel angesehen, sich in der Gebärdensprachkommunikation verständlich zu machen. Ihnen ist jedoch klar, dass dies nur eine Notlösung darstellt. So äußert sich Informantin M3 eher kritisch: „Ich finde… Das, finde ich aber, ist relativ… Einerseits ist es befreiend, aber andererseits auch sehr schwierig, dass diese… dass DGS da sehr offen ist, was eben… na, ich nenne es trotzdem: pantomimischen Anteil jetzt mal angeht. Weil, da gibt es ja auch ein paar neuere linguistische Arbeiten, die das tatsächlich wieder so benennen. Das ist einerseits… ja, wie gesagt… praktisch, weil man dadurch mehr Möglichkeiten hat. Gerade in so Unsicherheitsfragen dann leichter beschreiben kann. Andererseits ist es ja trotzdem so, dass es auch für diesen pantomimischen Bereich doch wieder feste Regeln bzw. nicht Regeln, aber… Grundsätze gibt, die auch da gelten. Und wenn die nicht ganz sicher bei mir sind, was sie nicht sind, dann ist es halt doch so, dass man aus der Sprache rausfällt. Also, meistens klappt die Kombination trotzdem, aber… Also, es ist halt doch ein häufiges Sich-Fragen: Ist das jetzt noch Gebärdensprache, oder nicht? “ (Interviewaussagen-ID 113) Für diese Strategie finden sich keine Belege in den Experimenten. 14.2.2.7 Viel Mimik einsetzen (ID 43) Zwei Informantinnen geben im Interview an, zur besseren Verständigung gezielt möglichst viel Mimik einzusetzen (Interviewaussagen-IDs 39, 41, 106): „Ich finde, man kann durch Mimik auch ganz schön viel kompensieren. […] ich mache mir Mimik glaube ich relativ viel zu Nutze (J nickt), weil einfach dadurch viel an Bedeutung auch rübergeschickt werden kann. Und ich glaube, dass ich auch nicht so… Also, klar empfinde ich es auch als Kompensation, aber… es gehört ja tatsächlich zur Gebärdensprache dazu, und ist da nicht falsch, in dem Moment, sondern… vielleicht ein bisschen hilflos, aber… es ist vollkommen in Ordnung.“ (Informantin M3, Interviewaussagen-ID 106) „Also, ich habe meist am Anfang immer spontane Mimik eingesetzt. Um mich verständlich zu machen. […] Ja, ich habe so das Gefühl, wenn ich Mimik nicht einsetze, wird das für sehr viele unverständlich. Und daher war das eher so eine Notwendigkeit von Anfang an Mimik zu benutzen.“ (Informantin S-E, Interviewaussagen-IDs 39 und 41) In den Experimenten wird diese Strategie nicht eingesetzt. Dies ist vermutlich dadurch zu erklären, dass es sich - auch bei dem produktiven Experiment - nicht um natürliche Gesprächssituationen handelte, in denen ein Gesprächspartner auf die Mimik entsprechend reagiert hätte. 14.2.2.8 Paraphrasieren (ID 51) Im Unterschied zur Strategie „Nutzung von produktiven Handzeichen- Mundbewegungs-Kombinationen“ (ID 58), bei der versucht wird, mittels 418 <?page no="431"?> gebärdensprachlicher Mittel die unbekannte Gebärde ad hoc zu kreieren, wird bei der Strategie „paraphrasieren“ die Vokabel, die man nicht kennt, durch eine bekannte ersetzt bzw. mittels bekannter Gebärden umschrieben. In den Interviews wird die Strategie von drei verschiedenen Informantinnen als Mittel zur Kompensation von Vokabellücken genannt (Interviewaussagen-IDs 98, 107, 152). Sie wird in allen Experte-Novize-Experimenten eingesetzt. Insgesamt finden sich 29 Vorkommen, wobei die Strategie 18mal von Expertinnen und 11-mal von Novizinnen verwendet wird. Dieses Verhältnis ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Expertinnen über einen größeren Wortschatz verfügen und somit eher über die Möglichkeit, die unbekannte Gebärde mit anderen Gebärden zu umschreiben. Besondere Schwierigkeiten bereiteten den Informantinnen - erwarteterweise - die Fachbegriffe aus dem deutschen Artikel, insbesondere die deutschen Ausdrücke ‚versteinerte Meerestiere’, ‚Säugetiere’, ‚vielzellige Lebewesen’ und ‚Riff’. Bei der Umschreibung dieser Begriffe versuchen die Lernerinnen zum einen, den Prozess zu beschreiben, den ein Begriff impliziert. Beispielweise kreiert F eine Gebärde für ‚versteinert’, indem sie eine maßanzeigende Gebärde, MASS-OBERFLÄCHE-zusammengedrückt, benutzt, der die Verringerung der Masse durch die Verdichtung von Sedimenten darstellt (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 30: 35: 15-00: 30: 38: 01). Ausführlicher beschreibt J den Prozess der Versteinerung: „[…] TIER Kl-MASS-KLEIN2 STEIN / ODER VORSTELLEN FRÜHER / WENN TIER STERBEN / LANGE-ZEIT BEISPIEL MEER UNTEN BODEN Kl-SUBST- PERSON-LIEGEN / TOT Kl-SUBST-PERSON-LIEGEN / Geste: nach Worten suchen / DANN AUCH WASSER Kl-MASS-DRÜCKEN1 / DANN LANGSAM LANGSAM VERÄNDERN STEIN“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 01: 01: 47: 18- 01: 02: 12: 02) 53 Zum anderen suchen sie nach Attributen, die typisch für die Bedeutung des Begriffs sind, für den sie die Vokabel nicht wissen. A3 und A1 überlegen bspw., durch welche Merkmale sie ‚Säugetier ’ umschreiben könnten: A3: „Was haben die Säugetiere alles gemeinsam? Dass sie…“ A1: „Lebend gebären.“ A3: „Lebend gebärden. Vielleicht einfach so umschreiben, wenn man die Gebärde nicht kann.“ (Transkript Exp-Nov_A1_A3, tc 00: 32: 15: 14-00: 32: 26: 08) 53 Eine sinngemäße deutsche Übersetzung lautet: „[…] Kleine Tiere aus Stein. Oder… stell Dir vor… vor langer Zeit… wenn Tiere gestorben sind, dann sind sie nach ganz unglaublich langer Zeit… also, zum Beispiel im Meer… dann sind sie nach unten auf den Grund gesunken - also, sie waren dann tot. Und dann hat Sand sie bedeckt. Und dann war der Wasserdruck so groß, dass ganz langsam alles zu Stein geworden ist.“ 419 <?page no="432"?> S beschreibt charakteristische Merkmale von Versteinerungen: „KLEIN STARR FEST.“ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 44: 52: 21-00: 44: 54: 23) Ein weiteres Beispiel stellt die Äußerung von M3 dar, die die Gebärden für ‚Riff’ nicht kennt und daher eine Ähnlichkeitsbeziehung zu einem semantisch verwandten Wort, ‚Berg’, herstellt und eine typische Eigenschaft ‚unter Wasser ’ beschreibt (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 45: 01: 23- 00: 45: 11: 11; eine ähnliche Idee hat M2 in Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 48: 39: 24-00: 48: 59: 01). Des Weiteren nutzen die Lernerinnen auch die Beschreibung der Form des zu bezeichnenden Begriffes, um die Bedeutung zu transportieren; so umschreibt F z.B. den Begriff ‚Riff’, indem sie zuerst den Stoff benennt, STEIN, und dann einen Klassifikator benutzt, SKIZZE-OBERFLÄCHE- FLACH-ANSTEIGEND, der die Form eines Riffs darstellt (Transkript Exp- Nov_B_F, tc 00: 42: 19: 17-00: 42: 21: 02). Als eine weitere Möglichkeit der Umschreibung nutzen die Lernerinnen semantisch verwandte Lexeme, die in verschiedenen Relationen zur Bedeutung der unbekannten Gebärde stehen: • Synonyme: Informantin J: ‚LEBEN+FORM’ für ‚Lebewesen’ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 43: 40: 14-00: 43: 43: 00) • Hyponyme: Informantin J: „TIER“ für ‚Lebewesen’ (Transkript Exp- Nov_S_J, tc 00: 43: 49: 18-00: 43: 51: 05) • Hyperonyme: Informantin S: „ALT TIER“ als Umschreibung für ‚Dinosaurier ’ (Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 45: 23: 07-00: 45: 24: 18) Auch im Begriff ‚reißen’ in der Bildergeschichte „Ein Geizhals“ besteht eine Schwierigkeit - in erster Linie für die Novizinnen: Da ihnen die Gebärde unbekannt ist, ersetzen sie eine entsprechende Gebärde durch das Lexem KAPUTT (A3 in Exp-Nov_A3_A1, tc 00: 08: 17: 05-00: 08: 19: 20 und V in Exp- Nov_V_M2, tc 00: 10: 59: 14-00: 11: 02: 14). Bzgl. dieser Strategie gibt es Überschneidungen mit der Strategie „Prozess/ Abläufe von Ereignissen mit beschreiben, nicht nur das Ergebnis“ (ID 50), da Umschreibungen (v.a. für Fachbegriffe) teilweise die Beschreibung von Abläufen beinhalten. Der Unterschied zwischen den Strategien besteht darin, dass das Ziel des Paraphrasierens darin besteht, eine Vokabellücke zu kompensieren. Dagegen beschreiben die Lernerinnen Prozesse und Abläufe, weil sie der Ansicht sind, dass dies zu einem angemessenen gebärdensprachlichen Ausdruck gehört. Sie meinen, damit ein „gebärdensprachtypisches“ Merkmal herausgefunden zu haben, dass in DGS z.T. nicht nur eine Gebärde zur Bezeichnung eines Vorgangs produziert wird, sondern dass zudem der Vorgang selbst kurz beschrieben und/ oder beispielhaft illustriert wird. 420 <?page no="433"?> 14.2.2.9 Rückschau In dieser Analyse wird deutlich, dass auch die Lernerinnen für die Bildung von Gebärden im Prinzip auf die gleichen Verfahren zurückgreifen, wie sie für die Gebärden des muttersprachlichen Lexikons z.B. von Becker (2003) beschrieben wurden. Auch die Informantinnen • visualisieren formale Merkmale mit Hilfe von skizzierenden Gebärden, maßanzeigenden Gebärden sowie von Gebärden mit Substitutoren, • visualisieren durch Imitation von Handlungen und Verhalten mit Hilfe von Manipulatoren oder auch durch den Einsatz des gesamten Oberkörpers einschließlich Mimik und • greifen auf die deutsche Lautsprache zurück. Vor allem die Expertinnen verwenden bei diesen Gebärdenbildungsverfahren zu einem großen Teil sprachliche Mittel, die zu einer korrekten DGS- Gebärde führen. Demnach haben sie die Verfahren verinnerlicht und können sie ad hoc zur Kreation von Gebärden einsetzen. Neben diesen Übereinstimmungen von lernersprachlichen Gebärden und Einträgen im muttersprachlichen Lexikon zeigen sich jedoch auch Unterschiede: So benutzen die Informantinnen Zeigegesten, die jedoch in diesen Fällen nicht als genuiner Bestandteil der DGS gelten können, sondern als Mittel eines nicht-sprachlichen Kompensationsverfahrens einzuschätzen sind. Ebenfalls als nicht-sprachliche Verfahren sind der Einsatz von Pantomime sowie die übermäßige, zur Kompensation eingesetzte Verwendung von Mimik anzusehen. Diese Verfahren sowie die Fehler bei den ikonischen Bildungsprozessen stellen lernersprachliche Phänomene dar. 14.3 Vermeidungsstrategien Eskapistische Strategien finden sich ebenfalls im Korpus. Dabei lässt sich zwischen solchen Strategien unterscheiden, die den sprachlichen Output der Informantinnen betreffen und solchen, die ihr Vorgehen beim Bearbeiten einer Aufgabe angehen. 14.3.1 Strategien, die den eigenen sprachlichen Output betreffen 14.3.1.1 Weglassen (ID 68) Eine Informantin nennt als Strategie, „um wirklich keine Fehler machen zu können“, das Weglassen von Äußerungen, die man eigentlich machen will (Informantin D, Interviewaussagen-ID 197). Dass etwas ausgelassen wurde, kann durch entsprechende Bemerkungen der Lernerinnen festgestellt werden. In den Experte-Novize-Experimenten wird diese Strategie siebenmal eingesetzt bzw. thematisiert, dreimal von 421 <?page no="434"?> den Novizinnen und viermal von den Expertinnen. Hier steht allerdings weniger die Absicht im Vordergrund, durch das Unterlassen von Äußerungen keine Fehler zu machen; vielmehr wird etwas weggelassen, da die Gebärde für das zu Bezeichnende nicht bekannt ist: So überlegt B, wie ‚Säugetier ’ gebärdet wird, hat auch eine Idee, die sie aber verwirft und lässt diese Information schließlich weg (Transkript Exp-Nov_B_F, tc 00: 32: 03: 12- 00: 32: 04: 11). Informantin M3 lässt den Titel der Bildergeschichte aus, da sie die Gebärde für ‚geizig’ nicht kennt (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 08: 15: 01-00: 08: 17: 16; ebenso J, Transkript Exp-Nov_S_J, tc 00: 01: 55: 13- 00: 02: 02: 05 und M2, Transkript Exp-Nov_V_M2, tc 00: 02: 43: 21-00: 02: 45: 08); desgleichen M3 bei dem Begriff ‚vielzellig’ (Transkript Exp-Nov_M3_A2, tc 00: 42: 01: 23-00: 42: 18: 05). A2 merkt an, dass sie die Information ‚