Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung
"Bei den Alten in die Schule gehen"
1119
2008
978-3-8233-7419-0
978-3-8233-6419-1
Gunter Narr Verlag
Christopher Meid
Für die deutschsprachige Literatur des 18. Jahrhunderts ist die Orientierung an der griechischen Antike von geradezu paradigmatischer Bedeutung, insbesondere auf dem Gebiet der Tragödie. Die produktive Auseinandersetzung mit den griechischen Tragikern beginnt bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, was allerdings von der Forschung lange vernachlässigt wurde. Diese Studie untersucht erstmals im Kontext die deutschsprachigen Bearbeitungen der griechischen Prätexte. Dabei reicht die Bandbreite von der Hanswurstiade Stranitzkys über die heroisch-klassizistische Tragödie Johann Elias Schlegels bis hin zum bürgerlichen Trauerspiel Lessings. In textnahen gründlichen Interpretationen wird gezeigt, wie der antike Mythos mit Positionen der Aufklärung verbunden wird, wie im Wettstreit mit der französischen Literatur neue Wege erprobt werden, den antiken Mythos auf der Bühne der Neuzeit heimisch zu machen.
<?page no="0"?> Christopher Meid Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung »Bei den Alten in die Schule gehen« Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="1"?> Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung <?page no="2"?> DRAMA Neue Serie · Band 6 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Herausgegeben von Bernhard Zimmermann in Zusammenarbeit mit Juan Antonio López Férez (Madrid), Giuseppe Mastromarco (Bari), Bernd Seidensticker (Berlin), N.W. Slater (Atlanta), Alan H. Sommerstein (Nottingham), Pascal Thiercy (Brest). <?page no="3"?> Christopher Meid Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung »Bei den Alten in die Schule gehen« Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Humanismus Heute und des Freiburger Promotionskollegs »Geschichte und Erzählen«. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1862-7005 ISBN 978-3-8233-6419-1 <?page no="5"?> Inhalt Dank .....................................................................................................................7 1. Einleitung ..................................................................................................9 2. Die komische Brechung des Mythos: Joseph Anton Stranitzkys Der Tempel Dianae oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft ...........................................................................................16 3. Die griechische Tragödie in Gottscheds Dramentheorie ..............22 4. Johann Elias Schlegels Bearbeitungen griechischer Tragödien ..36 4.1. Die Trojanerinnen, ein Trauerspiel .................................................38 4.1.1. Hekuba .......................................................................................42 4.1.2. „Helden voller Furcht“: Ulyß und Agamemnon ................46 4.2. Orest und Pylades, ein Trauerspiel .................................................53 4.2.1. Die Menschenopfer ..................................................................56 4.2.2. Der Freundschaftskult .............................................................58 4.2.3. Maximen vernünftigen Handelns: Die List ..........................61 4.2.4. Der Dramenschluss: Tyrannenmord und Aufklärung .......62 5. Christoph Friedrich von Derschau: Pylades und Orestes oder Denckmaal der Freundschafft. Ein Trauerspiel .................................65 5.1. Die Figur der Iphigenia ................................................................69 5.2. Thoas’ Tyrannenherrschaft ..........................................................71 5.3. Pylades zwischen Liebe und Freundschaft ...............................73 6. Johann Heinrich Steffens: Oedipus, ein Trauerspiel ......................77 6.1. Die analytische Struktur und ihre Umsetzung bei Steffens ...81 6.2. Oedipus zwischen Jähzorn und Melancholie ...........................84 <?page no="6"?> 6.3. Religionskritik und Orthodoxie ..................................................86 6.4. Ein pädagogischer Oedipus: Die Botschaft des Dramenschlusses ...........................................................................87 7. Griechische Tragödie und bürgerliches Trauerspiel: Gotthold Ephraim Lessings Miß Sara Sampson ...............................................91 8. Johann Jacob Bodmers Bearbeitungen griechischer Tragödien ..98 8.1. Electra, oder die gerechte Uebelthat. Ein Trauerspiel ...................101 8.1.1. Empfindsame Geschwisterliebe und asiatischer Despotismus ............................................................................104 8.1.2. Der Muttermord als politische Befreiungstat ....................107 8.2. Oedipus, ein Trauerspiel ................................................................110 8.2.1. Ein tugendhafter Oedipus: Bodmers Bewunderungsdramaturgie .................................................113 8.2.2. Die christliche Umdeutung des Dramenschlusses ...........114 8.3. Karl von Burgund. Ein Trauerspiel - Bodmers Transposition der Perser des Aischylos .............................................................117 9. Resümee: Aufklärung und griechische Tragödie .........................121 10. Literaturverzeichnis ...........................................................................127 10.1. Quellen .........................................................................................127 10.2. Darstellungen ..............................................................................131 <?page no="7"?> Dank Die Abfassung dieser Arbeit wäre ohne die große Unterstützung von Prof. Dr. Werner Frick und Prof. Dr. Bernhard Zimmermann kaum möglich gewesen; Herrn Prof. Zimmermann danke ich für die Aufnahme in die Reihe DRAMA. Für Druckkostenzuschüsse bin ich der Landesstiftung Humanismus Heute des Landes Baden-Württemberg, dem Promotionskolleg „Geschichte und Erzählen“ der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Frau Maria Werlein zu großem Dank verpflichtet. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern und Simone. <?page no="9"?> 9 1. Einleitung Gehet das weiter so fort: so griechenzen wir ärger, als die griechenzensten Griechen gegriechenzet haben. 1 In seiner gegen Klopstock und Bodmer gerichteten Literatursatire reflektiert Christoph Otto von Schönaich bereits 1754 die Graecomanie, die das kulturelle Leben des 18. Jahrhunderts zunehmend bestimmt. Spätestens seit Johann Joachim Winckelmanns Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst 2 aus dem Jahr 1755 gilt die griechische Antike als bestimmender Maßstab. 3 Insbesondere die Vorstellung, eine „edle Einfalt, und eine stille Größe“ 4 seien Kennzeichen der griechischen Kunst, werden prägend für viele gerade auch literarische Auseinandersetzungen mit den klassischen Vorbildern. Betrachtet man die weitere Entwicklung der deutschsprachigen Literatur, so scheint Schönaichs ursprünglich auf die Lyrik bezogene Prognose insbesondere auf die Tragödie zuzutreffen: Um 1800 nehmen die bedeutendsten Autoren den Wettstreit mit den Alten auf; Goethes Iphigenie in Tauris, Schillers Braut von Messina ebenso wie Heinrich von Kleists Penthesilea und Der zerbrochne Krug dokumentieren exemplarisch eine produktive Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie in zentralen Werken der deutschsprachigen Literatur. Allerdings verstellen diese sowohl qualitativ als auch wirkungsgeschichtlich herausragenden Beispiele einer Literatur auf zweiter Stufe 5 in gewisser Weise den Blick dafür, dass sich auch Goethe, Schiller und Kleist in einer Traditionslinie der Auseinandersetzung mit der griechischen Antike befinden, die nicht erst mit Winckelmann beginnt: Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen - zunächst durchaus zögerlich und eher vereinzelt - deutschsprachige Bearbeitungen griechischer Tragödien, die den Beginn der kontinuierlichen produktiven Anverwandlung des antiken Mythos auf der deutschsprachigen Bühne bedeuten. Dass die intensivste neuzeitliche Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur gerade auf dem Gebiet des Dramas stattfindet, liegt zu einem Gutteil an dem agonalen Grundzug der tragischen Gattung. Bereits die Aufführungssituation der attischen Tragödie verdeutlicht den Wett- 1 Christoph Otto von Schönaich, Die ganze Ästhetik in einer Nuss, oder Neologisches Wörterbuch […], hrsg. von Albert Köster, Berlin 1900, S. 288. 2 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hrsg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 1995. 3 Vgl. Lorella Bosco, „Das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen“. Deutsche Antikebilder (1755-1875), Würzburg 2004. 4 Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, S. 20. 5 Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993. <?page no="10"?> 10 kampfcharakter des kultischen Spiels. 6 Der Wettbewerb wird durch Wiederholung im Inhaltlichen, durch immer neue Dramatisierungen der gleichen Stoffe noch gesteigert; Wiederholung und Wettkampf hängen somit eng zusammen. Der griechischen Tragödie liegt der Mythos zugrunde, der immer schon Variation ermöglicht, ja geradezu herausfordert: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“. 7 Dies wird exemplarisch bereits an antiken Mythenvariationen deutlich, wie etwa den verschiedenen Fassungen des Medea-Mythos, die jeweils den Tod der Kinder unterschiedlich erklären. Diese antiken Varianten des Mythos werden in der neuzeitlichen Literatur nicht zuletzt deshalb aufgenommen, weil sie es ermöglichen, bekannte Konstellationen neu durchzuspielen, die gleichwohl durch die Autorität des Mythos sanktioniert sind. Sie machen deutlich, dass die Offenheit für Variation eine grundlegende Eigenheit des Mythos darstellt: „Die mythologische Tradition scheint auf Variation und auf die dadurch manifestierbare Unerschöpflichkeit ihres Ausgangsbestandes angelegt zu sein, wie das Thema musikalischer Variationen darauf, bis an die Grenze der Unkenntlichkeit abgewandelt zu werden.“ 8 Von den erhaltenen 32 griechischen Tragödien liegt lediglich den Persern des Aischylos ein historischer Stoff zugrunde. Offenbar behandelte die überwältigende Mehrheit der griechischen Tragödien einen recht überschaubaren Kreis von Stoffen: 9 „Das Prinzip der an den Vorgänger anknüpfenden Wiederholung herrschte offenbar seit frühester Zeit.“ 10 Wiederholung ist somit ein grundlegendes „Wesensmerkmal des dramatisierten Mythos“. 11 Die Überzeitlichkeit, die durch die weitgehende Abwesenheit historischer Stoffe erreicht wird, prädestiniert gerade die attische Tragödie als Muster moderner Mythosvariationen. Hinzu kommt der Wettkampfcharakter. So erlaubt der dramatische Agon einen diachronen Dialog, der einerseits Autoren ermöglicht, sich in eine Jahrtausendalte Traditionskette einzu- 6 Vgl. zu den Aufführungsbedingungen der griechischen Tragödie Bernhard Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2000, S. 27-45. 7 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 2006 (erstmals 1979), S. 40. 8 Ders., Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11-66, hier S. 21. 9 Vgl. Aristoteles, Poetik, Griechisch/ Deutsch, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 47 (Kap. 14). 10 Manfred Fuhrmann, Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im Drama des 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 121-143, hier S. 121. 11 Ebd. <?page no="11"?> 11 schreiben, der andererseits gerade im Vergleich mit Autoritäten die Bestimmung eines eigenen, auch dezidiert modernen Standpunkts gestattet. 12 Auch wenn in der Dramatik der Aufklärung die Zahl produktiver Auseinandersetzungen mit der griechischen Tragödie vergleichsweise gering ist, so kommt den Mythosbearbeitungen eine besondere Bedeutung zu, da sie in der Praxis das nachzuvollziehen versuchen, was in der theoretischen Diskussion durchgängig postuliert wird, nämlich die Orientierung an den als vorbildhaft empfundenen attischen Tragikern. Die Mythosbearbeitungen gehören zu den reflektierteren und ambitionierteren Beispielen der Gattung. Die Dramen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, sind nicht zuletzt Dokumente einer Übergangszeit, ästhetische Experimente, die unterschiedlichste Einflüsse amalgamieren: Dabei reicht das Gattungsspektrum vom Wiener Volkstheater Stranitzkys bis zur heroischen Alexandrinertragödie Gottschedscher Prägung, finden sich Reflexe der griechischen Tragödie auf dem Schultheater und in versteckter Form im bürgerlichen Trauerspiel. Diese Vielfalt verweist einerseits auf eine fruchtbare Theaterlandschaft, zeigt andererseits eine Unentschlossenheit in ästhetischen Fragen an: So ist der Beginn des 18. Jahrhunderts von einem einschneidenden Geschmackswandel geprägt. 13 Die Literatur der jüngsten Vergangenheit gilt als manierierter Schwulst, ohne dass zunächst befriedigende Alternativen entwickelt werden. Diese Ratlosigkeit manifestiert sich auch in der Quantität der literarischen Produktion. Während kleinere Formen nach wie vor eifrig gepflegt werden, erscheinen zwischen 1685 und 1732 lediglich neun Originaldramen, die man der Tragödie zuordnen kann. 14 Erst Gottscheds Literaturreform bewirkt eine Steigerung der Dramenproduktion auf Grundlage der philosophischen Gedanken der Aufklärung. Dieser ideengeschichtliche Hintergrund scheint zunächst für eine intensive Beschäftigung mit der griechischen Tragödie äußerst ungünstig: Mythische Stoffe mit ihren übernatürlichen Elementen sind auf den ersten Blick kaum mit dem Vernunftpostulat der Aufklärung in Einklang zu bringen; gerade auch die deterministischen Schicksalsvorstellungen, die vielfach die Handlung der griechischen Tragödie bestimmen, widersprechen einem Weltbild, das von Vernunft- und Freiheitsvorstellungen geprägt ist. In diesem Zusammenhang erscheint gerade eine aufgeklärte Tragödie als Para- 12 Vor diesem Hintergrund sind etwa die brieflichen Äußerungen Schillers über die Braut von Messina zu verstehen, er wolle sehen, ob er als Zeitgenosse des Sophokles auch einen Preis gewonnen hätte. Vgl. Friedrich Schiller, Brief an Wilhelm von Humboldt, 17.2.1803, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1981, Bd. II, S. 1278. 13 Vgl. für die folgenden Ausführungen Peter-André Alt, Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübingen/ Basel 1994, S. 36-42. 14 Vgl. ebd., S. 40. <?page no="12"?> 12 dox. 15 Hinzu kommt, dass mythische Stoffe ohnehin auf die Opernbühne verbannt scheinen. Dennoch nimmt die Beschäftigung mit der griechischen Tragödie eine zentrale Rolle zumindest in der Dramentheorie der Epoche ein; die Hinwendung von der römischen zur griechischen Antike ist für die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts von wesentlicher Bedeutung. 16 Dies liegt sicherlich auch an der Orientierung an der als mustergültiges Vorbild empfundenen französischen Literatur, wo bereits seit dem 16. Jahrhundert Antikenbearbeitungen von hoher literarischer Qualität entstehen, wie etwa Robert Garniers Antigone oder seine Troade. Gerade die französische haute tragédie des 17. Jahrhunderts ist wesentlich vom Rückbezug auf das attische Drama geprägt: So beginnt Jean Racine seine Karriere mit einer Thébaïde, Pierre Corneille mit einer Medée; daneben setzt sich eine Vielzahl heute vergessener poetae minores wie Nicolas Pradon oder Joseph de La Grange- Chancel produktiv und in genauer Textkenntnis mit den antiken Vorlagen auseinander. In Deutschland hingegen bleibt Martin Opitz’ von kulturpatriotischem Impetus geprägte Übersetzung der sophokleischen Antigone ein zunächst folgenloser Einzelfall, so dass sich die Autoren des 18. Jahrhunderts an französischen Dramen orientieren, die zeigen, wie eine Aneignung des Mythos unter Bedingungen der Moderne funktionieren kann. Wie nicht anders zu erwarten, dominieren in der Beschäftigung mit dem Mythos Versuche, diesen rational euhemeristisch zu erklären. 17 „Die Aufklärung hat durchweg den Mythos als Fabel verstanden.“ 18 In der Theorie bringt diese an Aristoteles’ Poetik orientierte Sichtweise 19 deutlich weniger Probleme mit sich als in der Praxis, wo sich vielfach ein Unbehagen an den bearbeiteten Texten beobachten lässt. Eine Auflösung dieser Diskrepanzen gelingt zu keiner Zeit, wohl aber schlagen sie sich in durchaus fruchtbarer Weise in den Texten nieder. Die Lösungsansätze reichen von dem Versuch, aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse der Zeit in die Bearbeitungen zu integrieren, bis hin zur komischen Brechung. Johann Elias Schlegel greift als erster deutschsprachiger Autor der Aufklärung auf die griechische Tragödie zurück; die wesentlichen theoretischen Anregungen für seine heroischen Alexandrinertragödien gehen von der Dramentheorie Gottscheds aus. Das gilt ebenso für Christoph Friedrich von Derschaus Pylades und Orestes, in gewisser Weise auch für das Schuldrama 15 Vgl. Kurt Wölfel, Aufgeklärte Tragödie, in: Volker C. Dörr u. Helmut J. Schneider (Hg.), Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext, Bielefeld 2006, S. 69-87, bes. S. 69. 16 Helmut Koopmann, Drama der Aufklärung. Kommentar zu einer Epoche, München 1979, S. 15. 17 Vgl. Heinz Gockel, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a. M. 1981 (= Das Abendland, NF 12), S. 27-58. 18 Ebd., S. 31. 19 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 19 (Kap. 6): „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos.“ <?page no="13"?> 13 von Johann Heinrich Steffens. Im Kontrast zu diesen Versuchen, sowohl an die antike Tragödie als auch an das Drama der französischen Klassik anzuschließen, steht Stranitzkys Iphigenie-Travestie, die Merkmale der Wanderbühne aufweist und als Beispiel eines gleichsam spielerischen Umgangs mit dem Mythos dienen kann. Auch Lessing und Bodmer richten sich gegen Gottscheds Vorgaben, allerdings mit denkbar unterschiedlichen Ergebnissen: Während Lessing Anspielungen auf den antiken Mythos in sein bürgerliches Trauerspiel Miß Sara Sampson integriert, treibt Bodmer die Bewunderungsdramaturgie auf die Spitze, um seine politischen Ideale anhand tugendhafter Helden der griechischen Tragödie zu propagieren. In der deutschen Aufklärung beginnt also eine intensive und produktive Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie, die bis in die Gegenwart nicht abreißt. 20 Allerdings wurden diese frühen Bearbeitungen von der Forschung weitgehend ignoriert; 21 Hellmut Flashar repräsentiert durchaus den Forschungskonsens, wenn er behauptet: Weder Gottscheds ‚Theaterreform’ noch die Theatergesellschaften des 18. Jahrhunderts (erst recht nicht die Schauspielerwandertruppen), noch die Bemühungen um ein Nationaltheater in Hamburg oder anderswo haben das antike Drama auf die Bühne gebracht, noch nicht einmal in bearbeiteten Fassungen französischer oder italienischer Machart, es sei denn in der Form der Oper. 22 Tatsächlich wird schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl französischer Dramen mit oftmals antikem Stoff in Deutschland heimisch gemacht; 23 diese Dramen wiederum regen deutschsprachige Autoren zu einer intensiven Beschäftigung mit den griechischen Originalen an. Einerseits geht es darum, die Leistungen der griechischen Tragödie zu erreichen und zu übertreffen, andererseits gilt es, die Franzosen als Sachwalter des griechischen Erbes gleichsam abzulösen. Bei der Etablierung einer deut- 20 Vgl. zum Epochenkontext Peter-André Alt, Aufklärung, Stuttgart/ Weimar 1996. Einen komparatistischen Überblick über neuzeitliche Aneignungen der griechischen Tragödie gibt Martin Mueller, Children of Oedipus and other essays on the imitation of Greek tragedy 1550-1800, Toronto 1980. 21 Zwar fand das dramatische Werk Schlegels in der Forschung durchaus einige Beachtung, allerdings galt das Interesse primär Canut, Herrmann und den Komödien. Derschaus Drama wurde, von Hottenrotts Marburger Dissertation von 1911 abgesehen, die hauptsächlich eine Inhaltsangabe bietet, lediglich im Kontext anderer Iphigenie- Dramen behandelt, wobei deshalb wichtige Aspekte des Stücks keine Beachtung finden konnten. Im Fall von Steffens Oedipus dürfte es sich, soweit ich die Literatur überschaue, um die erste literaturwissenschaftliche Untersuchung des Dramas überhaupt handeln. 22 Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit, München 1991, S. 41. 23 Vgl. dazu die Nachweise bei Reinhart Meyer, Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart, 2. Abteilung, Einzeltitel, Bd. Iff, Tübingen 1993ff.; Ders., Das deutsche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Eine Bibliographie, München 1977. <?page no="14"?> 14 schen Tragödie kommt den Mythosbearbeitungen eine besondere Bedeutung zu, da erst sie der Gattung wahre Dignität verleihen können. Schließlich entstehen Übersetzungen antiker Dramatiker auch im deutschen Sprachraum. Allerdings überwiegen zunächst die Übersetzungen französischer Antikendramen, die das Bild von der griechischen Tragödie wesentlich prägen. Erst seit der zweiten Jahrhunderthälfte liegen umfassende deutsche Übersetzungen vor, wie etwa Johann Jacob Steinbrüchels Tragisches Theater der Griechen 24 (1763), die allerdings zunächst nicht mit den etablierten französischen Übersetzungen konkurrieren können. All diese Faktoren bewirken gemeinsam, dass die griechische Tragödie allmählich präsent wird, und schaffen so erst die Voraussetzungen für die Leistungen der Sattelzeit um 1800. Die Tragödienbearbeitungen der Frühaufklärung sind oftmals hybride Gebilde, Kontaminationen verschiedener Prätexte, die in einem spezifischen agonalen Verhältnis sowohl zur antiken als auch zur zeitgenössischen französischen Literatur stehen. Diese divergenten Texte - alle zwischen 1700 und 1771 entstandenen bekannten deutschsprachigen Dramen, denen eine griechische Tragödie zugrunde liegt 25 - werden in dieser Arbeit erstmals im Kontext analysiert. Dabei kann es nicht um den Versuch einer Rettung vermeintlich zu Unrecht vergessener Meisterwerke gehen, vielmehr sollen Texte, die oftmals lediglich als Vorstufen, als zögernde Annäherungen an eine doch im Grunde wesensfremde griechische Antike betrachtet wurden, in ihrem Eigenwert belassen und in zeitgenössischen Diskursen verortet werden. Wegen des geringen Bekanntheitsgrades der Texte empfiehlt sich eine gründliche Interpretation, die einerseits unter Zuhilfenahme des Modells von Manfred Pfister 26 und insbesondere der differenzierten Terminolo- 24 [Johann Jacob Steinbrüchel], Das tragische Theater der Griechen, 2 Bde, Zürich 1763. 25 Vgl. Meyer, Bibliographia; Ders., Das deutsche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Für 1741 führt Meyer, Das deutsche Trauerspiel, S. 73, sowie Bibliographia, Bd. 11, 1998, S. 498, eine Antigone, vermutlich von Georg Christoph Tobler, an. Diese Angabe ist unzutreffend: Tobler lebte von 1757 bis 1812; seine Übersetzungen antiker Dramen stammen aus den 1780er Jahren. Vgl. Baechtold, Georg Christoph Tobler, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. durch die historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 38, Leipzig 1894, S. 392. Laut dem Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek, wo Meyer das Drama lokalisiert, erschien Toblers Antigone-Übersetzung 1781. Opernlibretti oder Dramatisierungen des antiken Mythos schlechthin werden in dieser Arbeit nicht untersucht. Vgl. zu diesem Komplex etwa Rosmarie Zeller, Die Rezeption des antiken Dramas im 18. Jahrhundert. Das Beispiel der Merope (Maffei, Voltaire, Lessing), in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Colloquium Rauricum, Bd. 5, Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 142-160. 26 Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: Ulrich Broich u. Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1-30. Pfister entwickelt ein Skalierungsmodell, das helfen kann, den Intertextualitätsgrad eines Textes zu bestimmen. Die in dieser Arbeit untersuchten Texte sind zumeist schon durch die Titelgebung und Quellenangaben in den Vorreden stark intertextuell markiert. <?page no="15"?> 15 gie Gérard Genettes 27 die intertextuellen Verfahren herausarbeitet und zugleich in komparatistischer Weitung den vielfachen Bezügen zur europäischen zeitgenössischen Dramatik nachgeht, um so den Status der Dramen im Kontext ihres Antikenbezugs zu bestimmen. 28 So kann diese Arbeit weitgehend vergessene Aspekte sowohl der deutschen Dramengeschichte als auch der Rezeption der griechischen Tragödie neu beleuchten. 27 Vgl. Genette, Palimpseste. 28 Die Anordnung der Texte erfolgt mit einer Ausnahme chronologisch; aufgrund der besseren Vergleichsmöglichkeiten stehen die Interpretationen von Derschaus und Schlegels Iphigenie-Dramen nebeneinander. <?page no="16"?> 16 2. Die komische Brechung des Mythos: Joseph Anton Stranitzkys Der Tempel Dianae oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft Von einer agonalen Motivation ist in der Haupt- und Staatsaktion Der Tempel Dianae oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft wenig zu bemerken. 29 Sie wurde wohl am Wiener Kärntnertortheater gespielt, dessen Leitung der ehemalige Marionettenspielunternehmer und examinierte Zahn- und Mundarzt Joseph Anton Stranitzky seit 1710 innehatte. Ein Aufführungs- oder Entstehungsdatum lässt sich nicht ermitteln; aus dem Datum der Niederschrift geht lediglich hervor, dass Stranitzkys Stück vor 1724 entstanden sein muss. 30 Als Vorlage diente ein Opernlibretto von Nicolo Minato, Il tempio di Diana in Taurica aus dem Jahr 1678, 31 an dessen Handlung sich Stranitzky eng anlehnt; Zusätze sind die Hanswurstszenen sowie der Handlungsstrang um den unerkannten Königssohn Teucrus. 32 Das Drama setzt mit der Ankunft Ifigenias in Taurica ein, wohin sie von der Göttin Diana entrückt wurde. Der taurische König Toante macht sie zur Priesterin eben dieser Göttin. 33 Aufgrund eines Orakelspruchs muss sie so lange Menschen opfern, bis Orestes durch ihre Hand stirbt; dann erst soll sie von ihrem Amt erlöst werden. Orestes kommt in Begleitung seines Freundes Pilades, der zugleich Bräutigam Ifigenias ist, ebenfalls nach Taurica; er wird von Plagegeistern verfolgt. Ifigenia verhindert die Opferung, ein Tugendwettstreit (Pilades gibt sich für Orestes aus und umgekehrt) gibt den Protagonisten Gelegenheit, moralisch zu glänzen, ehe ein erneuter Orakelspruch die Verwirrung löst. Schließlich werden die Liebenden vereint, Orestes ist 29 Der Tempel Dianae oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft mit H: W: Den sehr übl geplagten Jungengesellen von zwey alten Weiberen […], in: Wiener Haupt- und Staatsaktionen, eingeleitet und hrsg. von Rudolf Payer von Thurn, Bd. II, Wien 1910, S. 1-62. Seitenangaben künftig in diesem Kapitel in Klammern im Text. Vgl. zu Stranitzky Cornelia Fritsch, Joseph Anton Stranitzky, in: Walther Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 11, Gütersloh/ München 1991, S. 235f.; Reinhild-Ursula Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus im Wiener Volkstheater von Stranitzky bis Raimund, Wien 1973; Reinhard Urbach, Die Wiener Komödie und ihr Publikum. Stranitzky und die Folgen, Wien/ München 1973. 30 Erstdruck in Wiener Haupt- und Staatsaktionen, Bd. II. 31 Vgl. für die folgenden Ausführungen grundlegend die Einleitung von Rudolf Payer von Thurn (Hg.), Wiener Haupt- und Staatsaktionen, Bd. I, Wien 1908, S. V-XLI. Modifikationen bezüglich Stranitzkys Biographie bei Helmut G. Asper, Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Emsdetten 1980, S. 34-49. 32 Detaillierter Vergleich bei Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus, S. 100-110. 33 Die italienischen Namensformen zeigen deutlich an, dass Stranitzky einen italienischen Text als Vorlage benutzte und keinerlei Einfluss der euripideischen Tragödie anzunehmen ist. <?page no="17"?> 17 geheilt. Diese Handlung ist der Iphigenie im Taurerlande des Euripides recht nahe; sie wird flankiert von rührseligen und komischen Zusätzen: So tritt mit Teucrus ein unbekannter Sohn Toantes auf, der sich in seine Schwester Clarice verliebt. Diese wiederum schwärmt für Orestes, während Ifigenia Pilades liebt. Toante fühlt sich zu Ifigenia hingezogen, ebenso wie kurzzeitig sein Sohn Teucrus, nachdem dieser alle Hoffnungen auf Clarice aufgegeben hat. Schließlich wird Hanswurst in komischer Spiegelung der amourösen Verwirrungen von zwei abstoßenden alten Frauen verfolgt. Stranitzkys Bearbeitung ist im Wesentlichen eine Erweiterung des Opernlibrettos. Aus Minatos 20 Szenen werden bei Stranitzky insgesamt 43. 34 Diese Erweiterung - laut Genette eine „Ausgestaltung durch massive Hinzufügung“ 35 - lässt zeitweise das eigentliche Geschehen in den Hintergrund rücken, so dass die Elemente des Mythos manchmal völlig hinter Liebesintrigen und derb-komischen Hanswurstiaden zurücktreten. Bereits Minato verzichtet auf wesentliche Elemente des euripideischen Dramas: So findet der Muttermord keinerlei Erwähnung, weshalb unklar ist, weshalb Orestes von den Furien verfolgt wird. Auch ist die Zeitstruktur problematisch, da Orestes bereits kurze Zeit nach Ifigenias Entrückung in Taurica ankommt. 36 Nur mit Mühe lässt sich der antike Stoff hinter dieser doppelten Überformung ausmachen. Zwar besaß Stranitzky Kenntnisse des Lateinischen und der antiken Mythologie 37 und kannte wohl Ovids Metamorphosen, 38 Zugang zu griechischen Tragödien hatte er jedoch sicherlich nicht. So scheint unter der tragikomischen Oberfläche der Bearbeitung und Erweiterung eines italienischen Opernlibrettos von Zeit zu Zeit Euripides’ Iphigenie im Taurerlande (414 oder 413 v. Chr.) durch. Allerdings ließe sich Der Tempel Dianae kaum vor der Folie einer antiken Vorlage interpretieren, wohl aber als Symptom eines Umgangs mit dem antiken Mythos. Stranitzky arbeitet - ob wissentlich oder nicht spielt dabei keine Rolle - eben diejenigen Elemente der Handlung heraus, die bereits bei Euripides komische Züge aufweisen. Stranitzkys Bearbeitung ist ohne den Hintergrund des Wiener Volkstheaters nicht zu verstehen. 39 Prägende Einflüsse kamen sowohl von der italie- 34 Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus, S. 108. 35 Genette, Palimpseste, S. 353. 36 Vgl. Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus, S. 110. 37 Payer von Thurn, Wiener Haupt- und Staatsaktionen, Bd. I, S. XV. 38 Vgl. Der Tempel Dianae, S. 2. In der kurzen Inhaltsangabe, die dem Stück vorangestellt ist, verweist Stranitzky darauf, dass die Handlung seines Stücks in den Metamorphosen Ovids ihre Entsprechungen finde. Zu genau kann seine Kenntnis des Ovidschen Textes allerdings nicht gewesen sein, schließlich berichten die Metamorphosen lediglich von der Opferung Iphigenies in Aulis, nicht etwa von der Freundschaft zwischen Orest und Pylades, wie Stranitzky meint. Vgl. P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, S. 618-621 (Buch XII). 39 Vgl. Harald Rehm, Die Entstehung des Wiener Volkstheaters im Anfang des 18. Jahrhunderts, München 1936; Urbach, Die Wiener Komödie und ihr Publikum. <?page no="18"?> 18 nischen Commedia dell’arte als auch von der Opera seria und dem barocken Jesuitentheater. Diese heterogenen Elemente formten einen Theatertyp, der von festgefügten Personenkonstellationen bei gleichzeitiger großer improvisatorischer Freiheit lebte. Als Spielorte dienten zunächst Ballhäuser, später eigene Theaterbauten. Das Publikum umfasste auch Angehörige der Oberschicht, 40 so dass man sicher nicht davon sprechen kann, die Hanswurst- Gestalt Stranitzkys sei „Vermittler zwischen barocker Hochstildramatik und dem einfachen Publikum“. 41 Im Gegenteil, erfolgreiche Parodie setzt die Kenntnis des Parodierten beim Publikum voraus. Stranitzky, der als „Begründer des Altwiener Volkstheaters“ 42 gilt, spielte selbst die Rolle des Hanswursts. 43 Dessen Merkmale blieben in jedem Stück unverändert: Hanswurst ist ein Sau- und Krautschneider aus dem Salzburgischen, der seinen Beruf nicht mehr ausübt. Er trägt sein Haar zum Schopf gebunden unter dem spitzen grünen Hut, schwarzen Vollbart, ein Hemd mit Halskrause unter der offenen Joppe, das Herz und die Initialen HW auf dem Brustfleck. 44 Hanswurst ist im Wiener Volkstheater integraler Teil der Dramenhandlung: Er bricht das Pathos der Opernstoffe, bietet eine Sicht von unten und sorgt mit derben, oft akrobatischen Aktionen für Komik, die aber jederzeit wieder in Sentimentalität umschlagen kann, wenn die Handlung das Register wechselt. Dabei weist er manchmal auch Züge des aufschneiderischen Capitano der Commedia dell’arte auf. 45 Der permanente Illusionsbruch, für den er verantwortlich ist, verhindert eine Identifikation des Publikums mit den Figuren des Dramas. Bereits der Beginn des Stücks verdeutlicht die Grundzüge von Stranitzkys Arbeitsweise. Nachdem Ifigenia mit göttlicher Hilfe in Taurica angelangt ist, preist sie in einer kurzen Arie die Göttin Diana als ihre Retterin. Die erste Person, der sie an ihrem Zufluchtsort begegnet, ist ausgerechnet Hanswurst, der Diener des Königs Toante. Sofort weckt die unbekannte Frau die sexuellen Gelüste des seinerseits von zwei lüsternen alten Frauen bedrängten Aufschneiders: Daß wird ein Fang sein vor meine wurstlsche Persohn. Ich kan mich kaum enthalten, daß ich nicht hingehe und sie mit einen Schmatzerl bewillkome. (10) Ifigenia ist zu sehr in ihrer heroischen Geste gefangen, um dem „Monstrum“ (ebd.) Aufmerksamkeit zu schenken. Hanswurst gelingt es allmählich, die Unbekannte aus der Reserve zu locken. Als er sie schließlich vor dem hinzu- 40 Vgl. Urbach, Die Wiener Komödie und ihr Publikum, S. 24. 41 Fritsch, Joseph Anton Stranitzky, S. 236. 42 Ebd., S. 235. 43 Bereits die griechische Komödie kannte die Narrengestalt, den sog. bomolochos. 44 Urbach, Die Wiener Komödie und ihr Publikum, S. 23. 45 Vgl. Henning Mehnert, Commedia dell’arte. Struktur - Geschichte - Rezeption, Stuttgart 2003, S. 113-115. <?page no="19"?> 19 getretenen König als „Landstreicherin“ (13) bezeichnet, verliert sie die Selbstbeherrschung und ohrfeigt den Narren. Stranitzky konfrontiert das Personal des Mythos mit Figuren und Ereignissen, die dieses permanent zwingen, aus seiner Rolle herauszutreten. Aus dieser Gegenüberstellung verschiedener Bereiche entsteht Komik - nicht zuletzt dadurch, dass sich die Protagonisten auf die Auseinandersetzung mit Hanswurst einlassen. Im Kontrast zu dem Salzburger Dialekt Hanswursts erscheint der von Pathosformeln bestimmte Sprechgestus der Oper in ironischem Licht. Gerade in Konfrontation mit Figuren des Mythos wirkt der Gegensatz zwischen ernsthafter und potentiell tragischer Handlung und komischer Rahmung besonders groß. 46 Dazu kommen pantomimische Szenen, die den statuarischen Gestus der Oper konterkarieren. So erscheinen etwa bei Stranitzky die Erinnyen auf offener Bühne. Sie folgen Orestes bei dessen erstem Auftritt (17) und lassen fortan nicht von ihm ab: (Orestes springt gäg auf und die Geister lassen sich sehen.) Ach mir! helffet, umb des Himmels Willen, helffet! (Laufet hinweg. NB. Hw komet mit den Geistern zugleich auf der anderen Seiten und sihet ihm lauffen.) (Pilades laufft ihm nach.) Auch bis in den Höllengrundt folg ich dir, mein Freundt. (Orestes laufft abermahl herauf, die Plaggeister und Pilades ihm nach.) (19) Hanswurst kommentiert diese ohnehin schon komische Szene: Er fühle sich mit Orestes verbunden, da sie beide gleichermaßen Narren seien (19). Diese groteske Brechung des ursprünglich tragischen Geschehens durchzieht das ganze Stück. So laufen auch Orestes und Pilades, verfolgt von den Plagegeistern, wiederholt im Hintergrund vorbei. Diese aufgedreht-mechanischen Bilder zeigen deutlich, wieso die Wahnsinnsanfälle Orests und die mit ihnen verbundene Frage, ob man die Furien auf der Bühne zeigen müsse, ein großes Problem für neuzeitliche Bearbeiter des Iphigenie-Stoffs darstellten. So hielt Schiller bei seiner Bearbeitung der Goetheschen Iphigenie in Tauris die Rolle des Orest für „das Bedenklichste im Ganzen“: 47 „Ohne Furien ist kein Orest“; ohne sinnliche Darstellung würden die Qualen des Orest langweilig, gleichzeitig aber sei es äußerst schwer, diese sinnliche Darstellung 46 Als weiteres Beispiel kann eine deutsche Bearbeitung der Medea des Niederländers Jan Vos dienen, in der ebenfalls Hanswurst in Interaktion mit den Figuren des Mythos tritt. Der Text der Wanderbühnenbearbeitung von Jan Vos’ Medea (UA 1665) lag mir nicht vor. Eine ausführliche Inhaltsangabe und Textproben bei [Wilhelm] Creizenach, Studien zur Geschichte der dramatischen Poesie im 17. Jahrhundert I, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Classe, Bd. XXXVIII, Leipzig 1886, S.93-118, bes. S. 107-118. 47 Friedrich Schiller, Brief an Johann Wolfgang Goethe, 22. 1. 1802, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, Bd. I: Text, hrsg. von Manfred Beetz, München 2005, S. 878. <?page no="20"?> 20 adäquat umzusetzen. 48 Stranitzky nutzt entschieden das komische Potenzial dieser Konstellation und übersteigert sie zu slapstickhaften Szenen, die ihren Ursprung in der Commedia dell’arte haben. 49 Insbesondere die Anagnorisis-Szenen gipfeln bei Stranitzky ins Groteske. Gerade das nächtliche Versteck- und Verwirrspiel im dritten Akt, das die Auflösung des Handlungsknotens noch einmal entscheidend verzögert (40- 48), ist bezeichnend für Stranitzkys Verfahren der Komisierung: Clarice und Orestes sowie Ifigenia und Pilades haben sich zu einem Rendezvous verabredet; dazu stoßen auch Toante und sein unerkannter Sohn Teucrus, die von Hanswurst benachrichtigt wurden. Im Dunkeln umarmen sich Ifigenia und Toante sowie Clarice und Pilades und wecken - sobald die Szenerie erleuchtet wird - Orestes’ Eifersucht, die allerdings bald ausgeräumt werden kann; Pilades hingegen verzweifelt an Ifigenias Treue, da sie zum Schein Toante die Hochzeit versprochen hat. In der Verwechslungsszene „scheint eine Ursituation des komischen Theaters vorzuliegen“. 50 Sie dient als retardierendes Moment und macht zugleich die Mechanik des Geschehens deutlich. Nicht zuletzt parodiert Stranitzky auch den emphatischen Freundschaftskult der Librettovorlage. So überredet Pilades den Freund zum Kleidertausch: „Damit, weillen unsere Seelen vereiniget, auch die Leiber vereiniget werden, also daß du Pilades und ich Orestes.“ (50) Die Freundschaft manifestiert sich in Stranitzkys Haupt- und Staatsaktion als Maskerade, als Mummenschanz, der auch verdeutlicht, wie oberflächlich die Figurenzeichnung tatsächlich ist. Doch auf ausgefeilte Charakterdarstellung kommt es in dieser Art des Theaters nicht an: Vielmehr geht es um eine Art von mythologisch aufgeladenem Marionettenspiel, in dem die eigentlichen Protagonisten oftmals nur Stichwortgeber für den anarchischen Hanswurst sind. Stranitzkys Stück ist allerdings nicht nur auf parodistische Züge zu reduzieren. So nähert die Darstellung tränenseliger Familienvereinigungen und Liebesbündnisse die mythische Farce manchmal geradezu dem Rührstück an. In diesem kruden, aber doch liebenswerten Versuch finden sich etliche Elemente, die auch für die folgenden seriösen, tragödientheoretischen Überlegungen verpflichteten Dramen des 18. Jahrhunderts typisch sind. Neben dem Freundschaftsmotiv, das auf einen der zentralen Diskurse der Aufklärung verweist und gerade in Verbindung mit dem Iphigenie-Stoff häufig auf der Bühne dargestellt wurde, ist vor allem die Bedenkenlosigkeit zu nennen, mit der Orakel umgedeutet oder verworfen bzw. durch neue ersetzt werden. Auch die intertextuellen Verfahren, die Stranitzky anwendet, sind durchaus typisch für Mythenbearbeitungen des 18. Jahrhunderts. Keine der heroischen Tragödien kommt ohne eine Erweiterung der antiken Vorlage aus, allerdings unter inhaltlich anderen Vorzeichen, als dies in Stranitz- 48 Ebd. 49 Vgl. zu den Lazzi Mehnert, Commedia dell’arte, S. 38-40. 50 Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus, S. 106 (Fußnote). <?page no="21"?> 21 kys Travestie der Fall ist, 51 die programmatisch auf Depotenzierung und Entheroisierung der Vorlage setzt: Immerhin aber manifestiert sich in diesem respektlosen halbimprovisatorischen Spektakel ein distanzierter, kritischer Blick auf die Sprechweisen und Konventionen des höfisch-heroischen Barocktheaters und darin vielleicht doch so etwas wie ein frühaufklärerisches Verfremdungsbewußtsein sowie eine gute Dosis rationalistischer Skepsis gegenüber den Konventionen der italienischen Barockoper und der französischen tragédie classique. 52 Die Oper, die in Wien anders als etwa in Hamburg dezidiert höfisches Theater ist, wird dem Gelächter preisgegeben, allerdings nicht denunziert. So sind Stranitzkys Erweiterungen der Vorlage durchaus operngerecht, ja erweitern das Libretto um opernhafte Elemente. 53 Allenfalls ließe sich in dem Übermaß an Verwirrung, das sie stiften, eine parodistische Tendenz sehen. Karikiert wird weniger der Mythos, der hier lediglich als Handlungsgerüst, als Plot im aristotelischen Sinn verwendet wird, als vor allem der zu Pathosformeln erstarrte Gestus der Opera seria. In diesem Sinne lässt sich Stranitzkys Dramatik auch als Krisensymptom verstehen. 51 Genette versteht die burleske Travestie als „eine Neufassung eines erhabenen Textes in der Form, daß seine ‚Handlung’, d. h. sein grundlegender Inhalt und seine Bewegung […] belassen wird, ihr aber eine völlig andere elocutio, d. h. ein anderer ‚Stil’, aufgesetzt wird“ (Genette, Palimpseste, S. 82). 52 Werner Frick, Die Schlächterin und der Tyrann. Gewalt und Aufklärung in europäischen Iphigenie-Dramen des 18. Jahrhunderts, in: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 126-141, hier S. 131. Ganz ähnliche Tendenzen der Brechung finden sich bereits in Christian Weises Masaniello (1682), wo die politisch akzentuierte Haupthandlung von einer Narrenfigur kommentiert und karikiert wird. Vgl. Christian Weise, Masaniello, hrsg. von Fritz Martini, Stuttgart 1979 u. ö. 53 So konstatiert Traitler, Antike Mythologie und antiker Mimus, S. 108, verwundert, in Minatos Libretto gebe es keine Erweiterung der mythischen Handlung durch Liebesintrigen. Diese sind eine Zutat Stranitzkys, der so wohl den Erwartungen eines durchaus mit Opernkonventionen vertrauten Publikums entgegenkam. <?page no="22"?> 22 3. Die griechische Tragödie in Gottscheds Dramentheorie Das Unbehagen an der starren und pomphaften Theatralik des 17. Jahrhunderts verbindet Stranitzky mit Johann Christoph Gottsched, der allerdings denkbar unterschiedliche Konsequenzen aus einem ähnlichen Befund zog. Während der Wiener Hanswurst das höfische Theater parodierte und ironisch brach, lehnte Gottsched gerade diese „pöbelhafte[n] Fratzen und Zoten“ 54 auf schärfste ab. Im selben Jahr, in dem Stranitzkys Stücke aufgezeichnet wurden, traf Gottsched auf der Flucht vor preußischen Werbern in Leipzig ein, wo er schon bald seine Bemühungen um das Drama aufnehmen sollte. Die Verbindung mit der Truppe der Neuberin gipfelte 1737 in der allegorischen Vertreibung des Hanswursts von der Bühne. 55 Gottscheds Theaterreform zielt auf die Installierung allgemeingültiger Regeln, die auf überzeitlichen Vernunftmaximen basieren. Dabei beruft er sich ausdrücklich auf das Vorbild der griechischen Tragödie, macht jedoch zugleich deutlich, dass ihm der Zugang zu den Texten zunächst durchaus schwerfiel, was sicherlich auch an fehlenden oder unzureichenden Griechischkenntnissen lag: 56 So habe die mangelhafte Qualität der Antigone-Übersetzung (1636) von Martin Opitz eine größere Wirkung dieser Tragödie auf ihn verhindert. 57 Erst eine spätere Lektüre von Brumoys Théâtre des Grecs und von Daciers Aristoteles-Übersetzung habe ihn mit den Schönheiten der griechischen Dichtung vertraut gemacht. 58 Gottsched eignete sich seine Kenntnisse der griechischen Tragödie also über die französische Literatur an, die auch im Zentrum seiner Vermittlertätigkeit steht. Wie die Quellenangaben im Versuch einer Critischen Dichtkunst 59 bezeugen, war Gottsched sowohl in moderner als auch in antiker Literatur äußerst belesen. 60 Allerdings dominiert bei 54 Johann Christoph Gottsched, Vorrede zum ‚Sterbenden Cato’, in: Ders., Schriften zur Literatur, hrsg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1998, S. 197-211, hier S. 199. 55 Vgl. [Christian Heinrich Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, o. O. [Leipzig] 1775, S. 50. 56 P. M. Mitchell, Johann Christoph Gottsched: Harbinger of German Classicism, Columbia 1995, S. 34. 57 Johann Christoph Gottsched, Vorrede zum ‚Sterbenden Cato’, S. 198. 58 Ebd., S. 200f. 59 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4. Auflage, Leipzig 1751, Neudruck Darmstadt 1961. Künftig mit CD abgekürzt. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 60 In der Vorrede zur zweiten Auflage listet Gottsched unter anderem Aristoteles, Horaz, Pseudo-Longin, Julius Cäsar Scaliger, Boileau, Le Bossu, Dacier, Perrault, Bouhours, Fénelon, Saint-Évremond, Fontenelle, La Motte, Corneille, Racine, Muralt, Voltaire, Addison und Steele auf, um nur die bekanntesten zu erwähnen (Vgl. CD, S. 27). <?page no="23"?> 23 seiner Beschäftigung mit antiker Literatur klar die römische: 61 So stellt er der Critischen Dichtkunst programmatisch eine Alexandrinerübersetzung der Ars poetica des Horaz voran. Wenn Gottsched griechische Autoren zitiert, dann oftmals nach lateinischen Übersetzungen, 62 was sicherlich teilweise mit einem Streben nach größerer Verständlichkeit zu erklären ist. 63 Trotz der offensichtlich mangelnden Vertrautheit räumte Gottsched der griechischen Tragödie einen so hohen Stellenwert ein, dass er die antiken Texte einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen wollte. So kündigte er 1740 in den Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit die Konzeption der Deutschen Schaubühne an: Der I. Teil wird in sich halten, 1.) die ‚Dichtkunst’ Aristotels, als worin die rechten Grundregeln der wahren theatralischen Poesie enthalten sind, ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Herrn Prof. Gottscheden. 2.) Ein paar Trauerspiele des Sophokles, nämlich ‚Ödipus’ und ‚Elektra’, auf welche sich Aristoteles allezeit bezogen hat; gleichfalls deutsch übersetzt, daraus man sich von der Beschaffenheit der alten griechischen Schaubühne einen vollkommenen Begriff wird machen lernen. 64 Programmatisch sollten also zu Beginn der Sammlung von Musterdramen der wirkungsmächtigste poetologische Text der Antike und die bekanntesten Tragödien des Sophokles stehen. Intendiert ist offensichtlich ein Rückgriff auf die attische Tragödie, die vorbildhaft auf die zeitgenössische literarische Produktion einwirken soll. Als aber 1741 der zweite Band der deutschen Schaubühne noch vor dem ersten erschien, standen in diesem Fénélons Gedanken von der Tragödie, Übersetzungen von Dramen Corneilles, Molières, Holbergs sowie Gottscheds eigener, aus Dramen von Addison und Deschamps kompilierter Sterbender Cato. Keiner der insgesamt fünf Bände von Gottscheds Projekt enthält die Übersetzung einer griechischen Tragödie; einzig Racines Iphigénie - von Gottsched übersetzt - behandelt einen antiken mythischen Stoff. Die Diskrepanz zwischen Ankündigung und Ergebnis ist offenkundig. Dass Gottsched, nahezu alleiniger Anreger der Wiederbelebung der Tragö- 61 Es verwundert nicht, dass Gottscheds Kenntnis der lateinischen Literatur die der griechischen bei weitem übertraf. Einen groben Eindruck davon kann der Auktionskatalog von Gottscheds Bibliothek vermitteln, in dem sich nur wenige griechische Werke und mehrere hundert lateinische finden: Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius […] collegit atque reliquit […], Leipzig 1767, Neudruck München 1977. 62 Die Ilias etwa zitiert Gottsched in Latein, ebenso verweist er nachdem er die Medea des Euripides erwähnt hat, auf die Tragödie Senecas (CD, S. 23). 63 Kurt Sier, Gottsched und die Antike, in: Kurt Nowak und Ludwig Stockinger (Hg.), Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig, Stuttgart/ Leipzig 2002, S.89-110, hier S. 92. 64 Nachricht von der unter der Presse sich befindlichen deutschen Schaubühne, in: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, hrsg. von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur, Bd. 6, Leipzig 1740, 24. Stück, S. 521-526, hier S. 525. <?page no="24"?> 24 die, 65 programmatisch auf die griechische Tragödie als Vorbild verweist, gibt jedoch wichtige Impulse für die Beschäftigung und bald auch produktive Auseinandersetzung mit den antiken Texten. 66 Eben dass er die griechische Tragödie als Kunstwerk betrachtet, das nicht nur von historischem Interesse ist, ermöglicht erst eine fruchtbare Beschäftigung mit den griechischen Klassikern. Allerdings schwankt Gottscheds Verhältnis zur griechischen Tragödie eigentümlich zwischen historischer Betrachtung und unhistorischen Setzungen, die aufgrund seiner rationalistischen Tragödientheorie von außen Interpretationen an die Texte herantragen, die offensichtlich einer Überprüfung nicht standhalten. 67 Gottsched beschäftigt sich insbesondere im Versuch einer Critischen Dichtkunst, der wichtigsten und einflussreichsten deutschsprachigen Poetik der Zeit, 68 mit der griechischen Tragödie und entwirft an ihrem Beispiel seine zumindest bis zur Mitte des Jahrhunderts maßgebliche Tragödientheorie. Er stellt ausführlich die Entstehung der tragischen Gattung dar und folgt dabei im Wesentlichen seinen zumeist französischen Vorbildern. So leitet er im Kapitel „Von Tragödien, oder Trauerspielen“ die Herkunft der Gattung aus der Musik her, nämlich aus Chören, die zu Ehren des Weingottes Bacchus gesungen worden seien. Da sowohl Sänger als auch Publikum ein „Räuschchen“ (603) gehabt hätten, sei es mit der Ernsthaftigkeit der Lieder nicht weit hergewesen. Verschiedene Chöre hätten dabei einen Wettstreit ausgefochten, der siegreiche habe einen Bock als Gewinn erhalten. So erklärt Gottsched die Etymologie des Wortes Tragödie, wörtlich Bock-Gesang. Der Dichter Thespis, eine Art Wanderbühnenunternehmer, 69 habe - so Gottsched, der damit der gängigen Ursprungshypothese folgt - als erster den Schauspieler vom Chor abgesondert und könne somit als Erfinder der Tragödie gelten. Aischylos habe den zweiten Schauspieler eingeführt und so den dramatischen Dialog erst möglich gemacht. Zudem habe er der Gattung 65 David E. R. George, Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentar, München 1972, S. 147. 66 Dies lässt sich unter anderem an der raschen Zunahme von Dramen ablesen, die Stoffe der griechischen Tragödie neu bearbeiten. Alle diese Bearbeitungen der ersten Jahrhunderthälfte stehen unter dem Einfluss Gottscheds (Schlegel, Derschau, Steffens) oder grenzen sich programmatisch von ihm ab (Bodmer). Dass auch die einzelnen von Gottsched geförderten Autoren zum Teil abweichende Positionen vertreten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die angebliche Tyrannei Gottscheds. 67 Vgl. Joachim Birke, Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie: Gottsched, Scheibe, Mizler, Berlin 1966. Unter den rationalistischen Vorurteilen leidet insbesondere Gottscheds Interpretation des König Oidipus. 68 Vgl. zur großen Wirkung von Gottscheds Poetik P. M. Mitchell, Die Aufnahme von Gottscheds Critischer Dichtkunst, in: Daphnis 16 (1987), S. 457-484. Bei der Critischen Dichtkunst handelt es sich um das typische Produkt einer Übergangszeit, um eine Kompilation, die in vielen Aspekten kurz nach ihrem Erscheinen bereits veraltet war, in anderen Zügen aber die deutsche Literatur lange prägte. 69 Christopher Wild, Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit: Der Fall Gottsched, in: Lessing Yearbook XXXIV (2002), S. 57-77, hier S. 67. <?page no="25"?> 25 eine gewisse Dignität verliehen, indem er ein festes Theater begründet und auf angemessene Ausstattung wie Kostüme und Masken geachtet habe. Diese Darstellung entspricht dem Wissensstand des 18. Jahrhunderts; zugleich projiziert Gottsched hier eine Entwicklung von der Wanderbühne hin zum angestrebten Nationaltheater auf die griechische Antike. Zur gleichen Zeit wurde, so führt Gottsched weiter aus, der Stil der Tragödie angehoben; die ursprünglich ländlich-satirische Schreibart, die „voller Zoten und gemeiner Possen“ (604) gewesen sei, wurde wegen des verfeinerten Publikumsgeschmacks aufgegeben. Sophokles habe den zweiten, in manchen Stücken auch den dritten Schauspieler eingeführt und nicht zuletzt die Chorlieder so gestaltet, dass sie zur Tragödienhandlung passten. Euripides schließlich habe in seine Stücke den zeitgenössischen philosophischen Diskurs integriert, so dass „auch Sokrates sie gern sehen mochte“ (605). Gleichzeitig mit diesen inhaltlichen und stilistischen Verfeinerungen habe eine Versreform stattgefunden: Die ursprünglich vorherrschenden sangbaren vierfüßigen Jamben seien durch den Alexandriner ersetzt worden, so wie in Deutschland Martin Opitz’ Reform den Knittelvers abgelöst habe. Diese Feststellung ist sachlich falsch: Der Alexandriner ist der vorherrschende Vers der französischen Klassik und der deutschen Barockliteratur, kein antiker Vers. Hier stellt Gottsched eine Analogie zwischen der allmählichen Verfeinerung der Tragödie und der Opitzschen Literaturreform her: Implizit lässt sich die Linie bis hin zu Gottsched verlängern, der sich in Opitz’ Tradition sieht. 70 Die Tragödie hat also, argumentiert Gottsched, im Laufe ihrer Entwicklung ihren Charakter völlig verändert: „Aus den abgeschmacktesten Liedern besoffener Bauern, ist das ernsthafteste und beweglichste Stück entstanden, welches die ganze Poesie aufzuweisen hat.“ (605) Wegen des hohen geistigen Gehalts der Dramen, die die „vortrefflichsten Sittenlehren und Tugendsprüche“ enthielten (606), wurden die Dramenaufführungen in Athen bald zu einer Art von Gottesdienst, der den eigentlichen religiösen Zeremonien bald den Rang ablief. Insbesondere die Chorlieder mit ihren sentenzenhaften Weisheiten hätten zur Beliebtheit und zum Ansehen der Tragödie beigetragen. Es ist bemerkenswert, wie Gottsched die religiöse Komponente streng rationalistisch definiert: Während die neuere Forschung bemüht ist, in den 70 Vgl. Johann Christoph Gottsched, Gedächtnisrede auf Martin Opitzen von Boberfeld [1739], in: Schriften zur Literatur, S. 212-238. Die Vorläuferrolle Opitz’ ist Grundtenor dieser Rede: Der Barockdichter sei gerade auch in der Aneignung der Antike vorbildhaft (ebd., S. 216). „Er hatte keine Vorgänger als die Alten.“ (Ebd., S. 228) Die Analogie zu Opitz lässt sich noch einen Schritt weiter verfolgen: Seine Aneignung der literarischen Mittel der antiken Autoren habe ihn, Gottsched zufolge, schließlich befähigt, die deutsche Literatur über den Weg der Nachahmung auf einen Stand zu bringen, der der Literatur der europäischen Nachbarländer überlegen sei (ebd., S. 230). <?page no="26"?> 26 griechischen Tragödien ein dionysisches Substrat zu finden, 71 stellt Gottsched die rauschhaften Elemente als zivilisatorisch überwundene und zu überwindende Elemente dar. 72 Der religiöse Charakter der Tragödienaufführungen rührt für Gottsched nicht etwa daher, dass sie im Rahmen der attischen Dionysosfeste stattfanden, sondern erklärt sich vielmehr aus dem quasi-religiösen Status ihrer vernünftigen Weisheitslehren. Dabei tritt die Tragödienaufführung durchaus in Konkurrenz zur konkreten Religionsausübung - eine Tatsache, die sich mit Blick auf das Verhältnis von religiöser Orthodoxie und Theater zu Beginn des 18. Jahrhunderts erklären lässt: Der Versuch, das „Theater neben der Kanzel als komplementäre Institution zu legitimieren“, 73 findet sich für Gottsched bereits musterhaft in Athen vorgebildet. Vernunft und Religion sind aufs engste miteinander verbunden, so dass die an Vernunftregeln orientierte und zugleich Vernunftregeln vermittelnde Tragödie dem Gottesdienst ebenbürtig wird. 74 Gottscheds kurzer Abriss der Tragödiengeschichte verfolgt also zwei Absichten: Zum einen bietet er in komprimierter Form eine Faktendarstellung, die ihre Informationen sowohl aus antiken Quellen wie Aristoteles und Horaz als auch aus zeitgenössischer, zumeist französischer Theorie von Dacier und Brumoy bezieht, zum anderen versucht Gottsched auch in diesem Tatsachenabriss sein Reformprogramm zu legitimieren, indem er es gleichsam historisch fundiert und „mythologisch und legendenhaft verkleidet“ einen eigenen „Ursprungsmythos“ schafft. 75 Dass er dabei die Fakten manchmal willkürlich behandelt, ist auf diese Wirkungsintention zurückzuführen. Für Gottsched hat die Tragödie im Athen des fünften Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. Folglich ist die attische Tragödie das Muster, an dem sich alle neueren Versuche in der Gattung zu orientieren haben, wollen sie vor einem kritischen Publikum bestehen: Das sicherste Mittel denselben [den Geschmack] zu erhalten, ist also, wenn man sich an die Regeln hält, die uns von den Kunstverständigen und Meistern der Alten übrig geblieben. Wenn man die Reste von ihren Meisterstücken dargegen hält, so wird man gewiß finden, daß sie eine Schönheit an sich haben, die der Vernunft nothwendig gefallen muß. (129f.) Rationalität ist also auch in Bezug auf Gottscheds Tragödientheorie das entscheidende Stichwort. Da die attische Tragödie so konzipiert war, dass sie dem überzeitlich gültigen, von Kriterien der Vernunft bestimmten guten Geschmack genügte, hat sich an ihrer Vorbildhaftigkeit bis zu Gottscheds Zeit 71 Vgl. Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 13-23; Walter Burkert, Homo necans: Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2., um ein Nachwort erweiterte Auflage, Berlin/ New York 1997. 72 Ähnlich verfährt Aristoteles im vierten Buch der Poetik. Die teleologische Darstellung der Entstehung der Tragödie gipfelt in der Behauptung: „Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte.“ (Aristoteles, Poetik, S. 15) 73 Wild, Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit, S. 60. 74 Ebd., S. 64f. 75 Ebd., S. 66. <?page no="27"?> 27 nicht geändert. Schließlich habe sich, so Gottsched, auch die Natur des Menschen nicht geändert: Die Natur des Menschen, und seiner Seelenkräfte ist noch eben dieselbe, als sie seit zweytausend Jahren gewesen: und folglich muß der Weg, poetisch zu gefallen, noch eben derselbe seyn, den die Alten dazu so glücklich erwählet haben. (XI) Wegen dieser Konstanz lässt sich poetische Produktion in Regeln fassen. Die Vorbildhaftigkeit der antiken Tragödie liegt gerade darin, dass sich aus ihr überzeitig gültige Regeln ableiten lassen, die normative Geltung beanspruchen. Bei der Darlegung dieser Regeln beruft sich Gottsched insbesondere auf Aristoteles: „Unter den Griechen ist ohne Zweifel Aristoteles der beste Kriticus gewesen, was nämlich die Redekunst und Poesie anlanget.“ (97) Im Horizont der französischen Klassik gilt Aristoteles ja nicht zuletzt deshalb als musterhaft, weil seine Poetik als Regelwerk verstanden wurde. So schreibt André Dacier im Vorwort seiner für das 18. Jahrhundert eminent wichtigen Aristoteles-Übersetzung, er habe dessen Poetik ins Französische übertragen, um Regeln zu re-etablieren, mit denen das zeitgenössische Theater reformiert und im Niveau angehoben werden könne: [J]e croy qu’il est necessaire d’établir non seulement que la Poësie est un art, mais que cet art est trouvé & que ses regles sont si certainement celles qu’Aristote nous donne, qu’il est impossible d’y réüssir par un autre chemin. 76 Für Gottsched, der Aristoteles über Daciers Übersetzung kennenlernte, 77 ist das Werk des Griechen ebenfalls eine Regelsammlung, eine Sichtweise, die den teilweise rein deskriptiven Charakter der Poetik völlig ignoriert. 78 Gottsched folgt Aristoteles, wenn er die Tragödie als „Nachahmung einer Handlung, dadurch sich eine vornehme Person harte und unvermuthete Unglücksfälle zuzieht“ (606), bestimmt, weicht allerdings bei der Definition der Wirkungsabsicht der tragischen Gattung beträchtlich von der Poetik „des tieffsinnigsten unter allen Weltweisen“ (469) ab. Absicht der Tragödie ist es - so Gottsched -, „durch die Unglücksfälle der Großen, Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung bei den Zuschauern zu erwecken“ (606). An dieser Stelle wird deutlich, dass Gottsched in dem dramentheoretischen Kapitel der Critischen Dichtkunst verschiedene antike und moderne Dramentheorien kompiliert: Die Kategorie der Bewunderung stammt aus der französischen Poetik des 17. Jahrhunderts; der prominenteste Verfechter dieser Wirkungsintention ist Pierre Corneille. In der Vorrede zu seinem Drama Nicomède (1651) stellt er die Bewunderung als Mittel zur Affektreini- 76 André Dacier, La Poetique d’Aristote […], Traduite en françois avec des remarques critiques sur tout l’ouvrage, Paris 1692, Neudruck Hildesheim u.a. 1976, unpaginierte Vorrede. 77 Gottsched, Vorrede zum ‚Sterbenden Cato’, S. 200. 78 Vgl. Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles - Horaz - Longin. Eine Einführung, Düsseldorf/ Zürich 2002 , S. 1f. <?page no="28"?> 28 gung dar. 79 In der Nachfolge Corneilles und Saint-Évremonds wird die admiration zentral für die Dramentheorien der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; allerdings suspendierten bereits viele der französischen Vorläufer Gottscheds diese Wirkungskategorie, 80 die in vielem noch den barocken neustoischen Märtyrertragödien verpflichtet ist. 81 Für Gottscheds Dramaturgie ist die Bewunderung konstitutiv, bewirkt sie doch im Zuschauer den Drang, dem bewunderten Helden nachzuahmen. 82 Auch die die Passagen, die Gottsched den meisten Spott eintrugen, nämlich die Bestimmung der Arbeitsweise des Dramatikers, folgen Theorien der französischen Klassik, im Wesentlichen Positionen von Le Bossu, gerade auch in der berüchtigten Formulierung eines moralischen Satzes als Grundlage der Tragödie: 83 „Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will.“ (611) Dazu erfindet der Dichter eine Fabel und sucht dann in der Geschichte nach dazu passenden Beispielen. Aus diesem Material, das in fünf Akte gegliedert wird, setzt er die Tragödie zusammen. Als Beispiel für diese Arbeitsweise führt Gottsched seinen Sterbenden Cato und - durchaus kühn - den König Oidipus des Sophokles an. Diese Tragödie zeige, „daß Gott auch die Laster, die unwissend begangen werden, nicht ungestraft lasse“ (611). 84 Überhaupt verwendet Gottsched den König Oidipus mehrfach als Beispiel für seine Theorie - eben das Drama, das für Aristoteles die Tragödie schlechthin war. 85 Bereits im Kapitel „Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie“ analysiert Gottsched die sophokleische Tragödie eingehender, um an ihr zu zeigen, dass auch die antiken Vorbilder manchmal gegen das Gebot der Wahrscheinlichkeit verstoßen hätten. In ihren wesentlichen Kritikpunkten 79 Albert Meier, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993, S. 45. 80 Vgl. Catherine Julliard, Gottsched et l’esthétique théâtrale française: la réception allemande des théories françaises, Frankfurt a. M. u. a. 1998, bes. S. 292-295. In Deutschland bricht erst Lessing mit der Bewunderungsdramaturgie: Im ersten Stück der Hamburgischen Dramaturgie warnt er vor der Abstumpfung des Rezipienten angesichts einer Fülle von bewunderungswürdigen Dramenhelden: „Wenn heldenmütige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern sieht, höret man auf zu bewundern.“ (Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von Wolfgang Stammler, München 1959, Bd. II, S. 327-778, hier S. 335) 81 Vgl. Raimund Neuß, Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert, Bonn 1989. Allerdings verficht auch Moses Mendelssohn die Bewunderung als zentrale Wirkungsabsicht der Tragödie. Lessings Position bedeutet keinesfalls das Ende dieser Tradition. 82 Vgl. Gottsched, Vorrede zum ‚Sterbenden Cato’, S. 210. 83 Vgl. zum Verhältnis zu Le Bossu Julliard, Gottsched et l’esthétique théâtrale française, S. 320. 84 Vgl. George, Deutsche Tragödientheorien, S. 157, zum Scheitern von Gottscheds Oidipus- Analyse. 85 Vgl. Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 46. <?page no="29"?> 29 gleicht diese Untersuchung sogar wörtlich Voltaires Lettres sur Œdipe: 86 Im Vergleich seines eigenen Oidipus-Dramas mit denen von Corneille und Sophokles kommt Voltaire zu dem Ergebnis, der Grieche habe an vielen Stellen etwa dadurch gegen das Gebot der Wahrscheinlichkeit verstoßen, dass Oidipus erst im Verlauf der Dramenhandlung über das Schicksal seines Vorgängers Laios informiert werde. 87 Die polemische Kritik gipfelt darin, Sophokles’ Hauptverdienst sei es, den Oidipus als Vorlage für Voltaires Stück geschrieben zu haben. 88 Gottsched empfiehlt Voltaires Polemik ausdrücklich zur Lektüre, 89 was den Schluss erlaubt, dass er den Argumenten des Franzosen im Wesentlichen folgt. Allerdings ist Gottsched weitaus versöhnlicher als Voltaire, wenn er etwa dem Drama zugesteht, dass es trotz seiner offensichtlichen Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit seinen Wert behalte (219). Im Gegensatz zu Voltaire vertritt Gottsched hier die Position eines ancien: Die Fehler des Sophokles resultierten nicht aus einer prinzipiellen Unterlegenheit der Griechen, sondern seien rein handwerklicher Natur und könnten somit Autoren jeder Epoche unterlaufen. Auch die Orakel, die Voltaire als Verstoß gegen das Gebot der vraisemblance kritisiert, werden nicht einmal erwähnt. Allerdings können diese für Gottsched, der hier eine grundsätzliche Verschiedenheit der Epochen annimmt, „in Betrachtung der heidnischen Theologie, entschuldiget werden“ (182). Insgesamt ist Gottsched wesentlich autoritätsgläubiger als Voltaire: Er schwächt dessen Sophokles-Kritik ab, da es vermutlich in den Gang seiner Argumentation nur schlecht passen würde, ein eben erst aufgebautes Vorbild sofort wieder substantiell zu beschädigen. 90 86 Voltaire, Lettres sur Œdipe, in: Les Œuvres Complètes de Voltaire, Bd. I A, Oxford 2001, S. 285-385. Vgl. zu Gottscheds Übernahmen Julliard, Gottsched et l’esthétique théâtrale française, S. 113. 87 „Il est déjà contre la vraisemblance, qu’Œdipe qui règne depuis si longtemps ignore commment son prédécesseur est mort, mais qu’il ne sache pas même si c’est aux champs ou à la ville que ce meurtre a été commis, et qu’il ne donne pas la moindre raison, ni la moindre excuse de son ignorance. J’avoue wue je ne connais point de terme pour exprimer une pareille absurdité.“ (Voltaire, Lettres sur Œdipe, Troisième Lettre, S. 336f.) 88 „J’avoue que peut-être sans Sophocle je ne serais jamais venu à bout de mon Œdipe.“ (Ebd., S. 351) 89 „Wer sich ausführlicher darum bekümmern will, der kann die Kritik nachlesen, die Voltaire über die drey Oedipen, nämlich den griechischen, des Corneille französischen, und seinen eigenen gemacht hat.“ (CD, S. 221) 90 Weniger bekannt als seine Auseinandersetzung mit dem König Oidipus ist Gottscheds Interpretation der Antigone, die ihm in Martin Opitz’ Übersetzung vorlag. Auch dieses Beispiel zeigt, dass es kaum gelingt, als Grundlage der antiken Texte einen moralischen Satz auszumachen, der tatsächlich überzeugt: „GOtt läßt die Frevelthaten der Könige und Fürsten nicht ungestraft; und rottet offt ganze Geschlechter gottloser Regenten aus.“ (Johann Christoph Gottsched, Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen von Wolfgang Martens, Stuttgart 1975, S. 17 [95. Blatt, 28.2.1729]) <?page no="30"?> 30 Da die Handlung der Tragödie dazu diene, einen moralischen Satz zu illustrieren, ist für Gottsched die Forderung nach der Einheit der Handlung zwangsläufig; die Einheit der Zeit begründet Gottsched ebenso aus der griechischen Tragödie wie die Einheit des Ortes. Notwendiger Bestandteil der Fabel ist der Glückswechsel. Als Beispiele für die mustergültige Gestaltung der Peripetie führt Gottsched die Elektra des Sophokles und die Iphigénie Racines an (617). Auch der Charakter der Protagonisten muss den Ansprüchen der Wahrscheinlichkeit genügen; die Zeichnung aus Geschichte oder Mythos bekannter Personen solle dem entsprechen, was von ihnen bekannt sei. 91 Der widersprüchliche Charakter hingegen sei „ein Ungeheuer, das in der Natur nicht vorkömmt“ (619). Ohnehin sei es höchst unwahrscheinlich, dass sich ein Charakter in der kurzen auf der Bühne dargestellten Zeit vollständig ändere. Der Stil der Tragödie ist die hohe Schreibart, das genus grande der klassischen Rhetorik, allerdings „durch die Regeln der Wahrscheinlichkeit“ (620) gemäßigt. Als Vorbild dient wiederum Sophokles, der „seinen Oedipus nichts schwülstiges [habe] sagen lassen“ (621), eben weil sein Vorbild die Natur gewesen sei. Im Gegensatz zu dieser Natürlichkeit steht Seneca. Die Abwertung Senecas, des großen Vorbilds der barocken Dramatiker, geht unter anderem auf Brumoy zurück, der in seinem Théâtre des Grecs den sophokleischen König Oidipus über den Senecas stellt und besonders die Orakelbefragung und die anschließende Geisterbeschwörung im zweiten Akt des römischen Dramas scharf kritisiert: Mais, comme si ce spectacle étoit encore trop peu pour l’enthousiasme Espagnol du Poëte, Tirésias peu instruit par ce sacrifices qui n’instruit que trop les spectateurs, se réserve à consulter les enfers & à évoquer toutes les Ombres. 92 Dieser schädliche „enthousiasme Espagnol“ steht im Gegensatz zur unterstellten Simplizität der griechischen Tragödie. 93 Brumoys Abwendung von den Römern hin zu den Griechen ist eine der grundlegenden Tendenzen in 91 Darin folgt Gottsched Horaz, der fordert, die Charakterzeichnung müsse mit dem mythologischen Vorwissen des Rezipienten übereinstimmen. Vgl. Horaz, De arte poetica, in: Ders., Epistulae. De arte poetica. Lateinisch-deutsch, übersetzt von Gerd Herrmann, hrsg. von Gerhard Fink, Düsseldorf/ Zürich 2003, S. 116-143, V. 119f.: „Aut famam sequere aut sibi conuenientia finge / scriptor. Honoratum si forte reponis Achillem, / impiger, iracundus, inexorabilis, acer / iura neget sibi nata, nihil non adroget armis. / sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino, / perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.“ „Folge dem Mythos oder erfinde etwas, das mit sich / Selbst übereinstimmt: Achill, der gerühmte, erneut auf der Bühne, / Unerbittlich sei er, rastlos, wütend im Zorne, / Recht und Gesetz mißachtend, alles errotzend mit Waffen; / Wild sei die unüberwund’ne Medea, in Tränen die Ino, / Treulos Ixion, Io gejagt, voll Schwermut Orestes.“ 92 Le Théâtre des Grecs, Par le R. P. Brumoy. Nouvelle Edition, revue, corrigée & augmentée, Bd. I, Paris 1763, S. 394. Die Erstauflage (Paris 1730) lag mir nicht vor, die von mir verwendete Neuauflage macht Zusätze allerdings kenntlich. 93 Bezeichnend ist, dass Brumoy Seneca als Spanier und nicht als Römer betrachtet und so implizit die römische Literatur als Vorbild nicht abwertet. <?page no="31"?> 31 der Literatur der Aufklärung, die in Deutschland allerdings erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Breite wirksam wurde. 94 Gottsched vollzieht sie nur theoretisch; erst Johann Elias Schlegel bearbeitet ohne Vermittlung griechische Prätexte. Angesichts des Wahrscheinlichkeitsgebots verwundert, dass Gottsched gerade die Musik als wesentliches Element der griechischen Tragödie würdigt. Er erwähnt die starke Wirkung, die von dem Chor in den Eumeniden ausging, schreibt das Drama allerdings fälschlicherweise Euripides zu. 95 Für das moderne Theater schlägt Gottsched vor, statt der üblichen ablenkenden Zwischenaktmusiken Kantaten aufzuführen, die in einem inhaltlichen Bezug zur Dramenhandlung stünden und so den Zuschauer in seiner Stimmung beließen. Dies sei einer Oper vorzuziehen, die, um „den Liebhabern der Musik zu gefallen alles durchgehends musikalisch vorstellen läßt“ (624). Gottsched sieht den Chor also nicht wie etwa Schiller als Werkzeug der Illusionsdurchbrechung, 96 sondern im Gegenteil als illusionsfördernd. Zudem sei, so schreibt Gottsched im Biedermann, in den Chorpassagen der attischen Tragödie die philosophische Grundaussage des Stückes formuliert gewesen: „Folglich können sie mit unsern geistlichen Gesängen verglichen werden, die wir in Kirchen singen.“ 97 In Gottscheds Nobilitierung der tragischen Kunst darf der Chor folglich nicht fehlen - umso auffälliger ist es, dass die meisten der von Gottsched beeinflussten Autoren auf den Chor verzichten. 98 94 Helmut Koopmann, Drama der Aufklärung, S. 14f. 95 So in allen Auflagen der CD, ein Hinweis auf Gottscheds geringe Vertrautheit mit der griechischen Tragödie. 96 Vgl. Friedrich Schiller, Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. II, S. 815-823. 97 Der Biedermann, Fünf und neunzigstes Blatt, 28. Februar 1729, S. 180. 98 Bedenkt man Gottscheds Aufgeschlossenheit gegenüber chorischen Elementen, verwundert zunächst seine Polemik gegen die Oper: „Die Opera wurde ein ganz nagelneues Stück in der Poesie, davon sich bey den Alten wohl niemand hätte träumen lassen.“ (CD, S. 738) Er negiert allerdings völlig, dass die attische Tragödie eine Art Oper gewesen sei (Vgl. CD, S. 731f.). Da die Oper nicht den Regeln der Tragödie gehorche bzw. sich von diesen entfernt habe, sei sie eine minderwertige Gattung, die allein von denjenigen geschätzt werde, die nicht die Gelegenheit hätten, sich mit den Regeln der Dichtung auseinanderzusetzen. Krude Handlung, unnatürliche Sprache und nicht zuletzt die Verbindung mit der Musik führen dazu, dass Gottsched im Anschluss an Saint-Évremond die Oper „das ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat“ nennt (CD, S. 739). Naturwidrigkeit und Unvernunft lassen die Oper in schärfstem Gegensatz zur regelmäßigen Tragödie erscheinen. An der negativen Wirkung der Oper besteht für Gottsched kein Zweifel: Sie sei „eine Beförderung der Wollust, und Verderberinn guter Sitten“ (CD, S. 741) und zudem jugendgefährdend, da der Opernbesuch den deutschen Charakter untergrabe: „So wird die Weichlichkeit von Jugend auf in die Gemüther der Leute gepflanzet, und wir werden den weibischen Italienern ähnlich, ehe wir es inne geworden, daß wir männliche Deutsche seyn sollten.“ (Ebd.) In einer grundlegenden Opernkritik, die 1729 in der moralischen Wochenschrift Der Biedermann erschien, geht Gottsched noch einen Schritt weiter. Die Oper sei schädlich für das Christentum, da sie heidnische Stoffe darstelle und zudem die antiken Götter selbst aufträten: „Die alten Heydnischen Götter kommen daher bey <?page no="32"?> 32 Gottsched verdammt, wie nicht anders zu erwarten, Götter als Protagonisten der Tragödie, auch wenn er den Einsatz eines Deus ex machina zeitweise billigt, da in der Antike die Vorstellung von direktem göttlichen Eingreifen weniger gegen die Wahrscheinlichkeit verstoßen habe. 99 Weitaus schärfer wendet sich Gottsched gegen „die Zaubereyen, welche man die Maschinen der neuern Zeit nennen könnte“ (625), also gegen Geistererscheinungen auf der Bühne. Während etwa Voltaire die historische Distanz zur griechischen Tragödie als so groß ansieht, dass Adaptationen im Sinne seines Œdipe nötig seien, um die Fehler der Vorlagen zu verbessern, 100 gesteht Gottsched den antiken Texten einen größeren Eigenwert zu. Ausdrücklich empfiehlt er die Lektüre und Aufführung der griechischen Dramen. Dennoch bleibt das aktuelle Vorbild immer die französische Literatur: Was bey den Römern die Griechen waren, das sind für uns itzo die Franzosen. Diese haben uns in allen großen Gattungen der Poesie sehr gute Muster gegeben, und sehr viele Discurse, Censuren, Kritiken und andere Anleitungen mehr geschrieben, daraus wir uns manche Regel nehmen können. (41, Fußnote) Da die Franzosen der antiken Literatur am nächsten gekommen seien, müssen nach Gottsched zunächst ihre Werke als Vorbild dienen, ehe die griechiuns viel häufiger auf die Schau-Bühne; als vormahls bey ihren Anbetern; welches unsrer Religion eine treffliche Ehre ist.“ (Der Biedermann, Fünf und neunzigstes Blatt, 28. Februar 1729, S. 180) Hier ergänzen sich patriotische und religiöse Argumente. Während die Tragödie im Lauf ihrer Entwicklung also gleichsam komplementär zur Religion wurde, stellt die Oper unvernünftige Elemente zur Unterhaltung aus. Gottscheds Opernkritik folgt in vielem dem theaterfeindlichen Diskurs. (Vgl. Wild, Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit, S. 63ff.) Über die Verdammung der Oper wertet Gottsched die Tragödie auf. Indem er den Vorurteilen der theaterfeindlichen Orthodoxie folgt und diese allein auf die Oper anwendet und zugleich den quasi-religiösen Charakter einer Tragödienaufführung betont, lenkt er die Vorurteile, die gegen theatralische Aufführungen insgesamt bestehen, auf eine einzelne dramatische Gattung. (Vgl. Johann Christoph Gottsched, Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: Ders., Schriften zur Literatur, S. 3- 11, besonders S. 10.) 99 Bereits die antiken Tragödiendichter hätten die Problematik des göttlichen Eingreifens erkannt und daher so wenig wie möglich den deus ex machina eingesetzt (CD, S. 625). Allerdings scheint Gottsched insbesondere das Spätwerk des Euripides nicht zu kennen, in dem oftmals ein Deus ex machina eine unlösbar gewordene Handlung entwirrt und in die Bahnen des Mythos zurücklenkt. Auch die Behauptung, die antiken Tragiker seien gerade in ihrem Umgang mit den Göttern vielfach mustergültig gewesen, da auch sie bei der Dramatisierung zeitgenössischer Stoffe auf Göttererscheinungen verzichtet hätten (CD, S. 184), ist nicht beweisbar, da die Perser des Aischylos das einzige erhaltene antike Drama ohne mythische Stoffgrundlage sind; zudem enthält es eine Geistererscheinung. 100 „Nous devons nous-mêmes, en blâment les tragédies des Grecs, respecter le génie de leurs auteurs; leurs fautes sont sur le compte de leur siècle; leurs beautés n’appartiennent qu’à eux, et il est à croire que s’ils étaient nés de nos jours, ils auraient perfectionné l’art qu’ils ont presque inventé de leur temps.“ (Voltaire, Lettres sur Œdipe, Troisième Lettre, S. 250) <?page no="33"?> 33 schen Originale zur Kenntnis genommen werden können. In diesen Kontext der vermittelten Aneignung der griechischen Tragödie gehört auch Gottscheds Übersetzung der Iphigénie von Jean Racine, deren Buchausgabe neben dem Text auch Auszüge aus der Iphigenie in Aulis des Euripides sowie eine ausführliche Gegenüberstellung der beiden Dramen enthält. Diese Technik der Gegenüberstellung und auch eine äußerst ausführliche Inhaltsangabe der griechischen Tragödie - denn um nichts anderes handelt es sich bei Gottscheds Text - finden sich in Brumoys Théâtre des Grecs vorgezeichnet. 101 Gottsched überlässt die Wertung weitgehend dem Leser, kommt allerdings zu dem vermittelnden Ergebnis, beide Tragödien, die antike ebenso wie die moderne, seien Meisterwerke. Die Unterschiede hätten keine Auswirkung auf die literarische Qualität, sondern lägen allein in den historischen und kulturellen Bedingungen begründet: „Nur die Sitten sind bey dem Euripides etwas einfältiger und ungekünstelter, nach Art der alten Griechen: Bey dem Racine aber etwas neuer, nach Art unsrer Zeiten, eingerichtet.“ 102 Beide Dramen sind musterhaft; wegen der geringeren kulturellen Distanz empfiehlt sich offenbar das Drama Racines als Vorbild, während Gottscheds Interesse für die Iphigenie in Aulis des Euripides doch eher antiquarischer Natur zu sein scheint. 103 Dies wird daran deutlich, dass er zwar eine Aufführung anregt, allerdings in Originalsprache, und so die Beschäftigung mit der griechischen Tragödie in der akademischen Sphäre belassen möchte: Man solle Euripides’ Iphigenie „der studirenden Jugend“ 104 überlassen, während - so wird implizit deutlich - seine Übersetzung des Dramas Racines einen weitaus größeren Rezipientenkreis erreichen möchte. Die Grundtendenz ist auch hier, über die Beschäftigung mit der französischen Literatur zu den griechischen Quellen vorzudringen. Die „Relation zum Altertum ist das Kriterium der Vorbildhaftigkeit der Nachbarn“. 105 Wie 101 Réflexions sur cette Pièce [die euripideische Iphigenie im Taurerlande] & sur celles de Rotrou, de Racine, & de Lodovico Dolée, in: Théâtre des Grecs, Bd. II, S. 477-504. 102 Johann Christoph Gottsched, Auszug aus der griechischen Iphigenia des Euripides, in: Ders., Ausgewählte Werke, hrsg. von Joachim Birke, Bd. III, Berlin 1970, S. 109-129, hier S. 129. 103 Für Brumoy ermöglicht der Vergleich mit modernen Nachahmungen ein besseres Verständnis und eine höhere Wertschätzung des Originals: „Mais comme cetta comparaison fait honneur aux Anciens, dont il a puisé ce goût naturel qui le rend si cher aux François, il m’a parû qu’on ne pouvoit mieux sentir les beautés d’Euridipe qu’en les rapprochant de celles de Racine.“ (Réflexions sur cette Pièce, S. 504) 104 Gottsched, Auszug aus der griechischen Iphigenia des Euripides, S. 129. 105 Sier, Gottsched und die Antike, S. 103. Es ist aufschlussreich, dass bereits in dieser frühen Phase der Aneignung wie selbstverständlich angenommen wird, man werde bald die französischen Vorbilder übertreffen und den griechischen Originalen näher kommen, als es den Franzosen jemals möglich gewesen sei. Ein kleiner Hinweis in diese Richtung findet sich auch in der Vorrede zum dritten Band der Deutschen Schaubühne, in dem Gottscheds Racine-Übersetzung erschien: Er habe, um sich den antiken Sitten anzunähern, die Anredeformen geändert, so dass sich die Personen sich mit Du statt mit Ihr anredeten. Diese Veränderung der Anredeformen gebe dem Leser „einen weit ed- <?page no="34"?> 34 vermittelt Gottscheds Rezeption der griechischen Antike ist, wird daran deutlich, dass erst eine Übersetzung der Racineschen Iphigénie den Anstoß bildet, sich intensiver mit dem griechischen Drama des Euripides zu beschäftigen. Frappierend ist, dass sich Gottsched im Lauf der Jahre immer mehr vom Vorbild der griechischen Antike abwendet und in zunehmendem Maße die Mustergültigkeit der französischen Literatur betont. Diese „Neigung, die Vormundschaft der Griechen gegen jene der Franzosen einzutauschen“, 106 wird am Inhalt der Deutschen Schaubühne deutlich, die wie erwähnt anstatt der angekündigten Sophokles-Übersetzungen eine große Anzahl von französischen Dramen enthält. Der Verzicht auf den König Oidipus und die Elektra liegt sicherlich nicht daran, dass ein solches Vorhaben unmöglich gewesen wäre. Im Gegenteil, bereits 1739 lag eine deutsche Übersetzung der Elektra vor, die Johann Elias Schlegel auf Anregung Gottscheds erstellt hatte. 107 Auch dass Gottsched darauf verzichtete, seine Aristoteles- Übersetzung zu veröffentlichen, erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur den Sprachproblemen des Übersetzers geschuldet; vielmehr wird deutlich, dass Gottscheds zunehmend gegen den Zeitgeist gerichtete Hinwendung zu den Franzosen durchaus programmatisch zu verstehen ist. Paradoxerweise scheint gerade eine genauere Kenntnis der griechischen Originale zu dieser Schwerpunktverlagerung innerhalb der Vorbilder zu führen: Der für Gottsched musterhafte Klassizismus war in der französischen Literatur viel eher anzutreffen, als in der attischen Tragödie, 108 die offenkundig viel weniger seinen ursprünglichen Vorstellungen entsprach. In der Querelle des Anciens et des Modernes 109 nimmt Gottsched eine Mittelstellung ein, wenn er einerseits er die Mustergültigkeit der griechischen Literatur unterstreicht, andererseits durchaus die Möglichkeit zugesteht, dass moderne Autoren die Leistungen der antiken Autoren erreichen, ja sie gegebenenfalls sogar übertreffen könnten. 110 Die griechische Antike ist für Gottsched vor allem als aufgeklärtes Zeitalter von Interesse, das ein Vorbild für Deutschland sein kann, das noch im Prozess der Aufklärung und Geleren Begriff von der ungekünstelten Einfalt der damaligen Zeiten“. (Gottsched, Vorrede zur ‚Deutschen Schaubühne’, in: Ders., Schriften zur Literatur, S. 253-275, hier S. 269). Dies sei dem Gebot der Wahrscheinlichkeit geschuldet. Diese Antikisierung der Iphigénie Racines deutet zumindest an, dass aus Gottscheds Perspektive auch die französischen Antikenannäherungen verbesserungsbedürftig sind; er gesteht sich hier eine größere Einfühlung in das griechische Original zu. 106 George, Deutsche Tragödientheorien, S. 151. 107 Vgl. Wolfgang Paulsen, Johann Elias Schlegel und die Komödie, Bern/ München 1977, S. 7. 108 George, Deutsche Tragödientheorien, S.151. 109 Vgl. zur Querelle-Problematik Hans Robert Jauß, Antiqui/ moderni (Querelle des Anciens et des Modernes), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. I, Darmstadt 1971, Sp. 410-414. 110 Vgl. Thomas Pago, Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung, Frankfurt a. M. u.a. 1989, S. 273, sowie Sier, Gottsched und die Antike, S. 102. <?page no="35"?> 35 schmacksverfeinerung begriffen ist. 111 Grundzug von Gottscheds Beschäftigung mit der antiken Tragödie ist stets die Rückprojektion aktueller Diskurse auf die Antike. Dies lässt sich an der Akzentuierung der Entstehungsgeschichte ebenso deutlich machen wie an der quasi-religiösen Aufwertung der Tragödie. Wenn die griechische Tragödie als Organ einer Vernunftreligion erscheint, verweist dies nicht zuletzt auf den hohen Anspruch, den Gottsched mit seiner Theaterreform vertritt. Insgesamt sieht man sich mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass Gottscheds Lob der griechischen Tragödie in nicht geringem Maße aus mangelnder Vertrautheit mit den Texten resultiert. Die Autorität der Alten dient zwar dazu, nahezu alle Regeln der modernen Tragödie herzuleiten, gleichzeitig aber beruht seine Dramentheorie größtenteils auf französischen Autoren, wie etwa Boileau und Le Bossu. Die Autoren aus Gottscheds Umfeld, die bald den antiken Mythos neu auf die Bühne brachten, hatten folglich nicht geringe Probleme, die Forderungen Gottscheds und die Anforderungen der griechischen Vorlagen in Einklang zu bringen. 111 Unter ähnlichem Blickwinkel betrachtet Gottsched Horaz, der den Römern die Dichtkunst der überlegenen Griechen nahegebracht habe. Vgl. CD, S. 4 (Einleitung). <?page no="36"?> 36 4. Johann Elias Schlegels Bearbeitungen griechischer Tragödien Der erste deutsche Autor des 18. Jahrhunderts, der einen unverstellten Zugang zu den Originaltexten der griechischen Tragödie findet, diese theoretisch reflektiert und als Basis für eigene literarische Transformationen verwendet, ist Johann Elias Schlegel. Bereits seine Zeitgenossen gestanden ihm diese Vorreiterrolle zu. Wie Christian Heinrich Schmid in der Chronologie des deutschen Theaters erklärt, habe Schlegel als erster den „Muth [gehabt], die Quellen selbst, das heißt die Griechen aufzusuchen, sie zu studiren und nachzuahmen“. 112 Schlegels erste Tragödien sind Bearbeitungen griechischer Prätexte, die er noch während seiner Schulzeit in Pforta mit Hilfe der Anleitungen in Gottscheds Critischer Dichtkunst verfasste. 113 Zuvor hatte er bereits eine Prosaübersetzung der Elektra des Sophokles angefertigt, die er später versifizierte. Wegen dieser frühen Beschäftigung mit der griechischen Literatur besaß Schlegel - anders als die meisten seiner Zeitgenossen - profunde Kenntnisse der attischen Tragödie, wie nicht zuletzt die Anmerkungen zu seiner Elektra-Übersetzung demonstrieren. 114 Während für Gottsched tatsächlich die Autoren der französischen Klassik im Vordergrund standen, war für Schlegel die griechische Tragödie maßgeblich, die er programmatisch über die französischen Bearbeitungen stellt: 112 [Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, S. 83. 113 Vgl. Johann Heinrich Schlegel, Leben des Verfassers, in: Johann Elias Schlegel, Werke, hrsg. von Johann Heinrich Schlegel, 5 Bde, Kopenhagen 1764-1773, Neudruck Frankfurt a.M. 1973, Bd. V, S. VII-LII. Tatsächlich erschien die Werkausgabe bereits von 1761 bis 1770. So erklärt Paulsen, Johann Elias Schlegel und die Komödie, Bern/ München 1977, S. 108, Fußnote 12: „Man hat eine gemischte Ausgabe aus der Universitätsbibliothek Freiburg zugrunde gelegt, von der einige Bände keine Erstdrucke sind.“ 114 Zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den griechischen Originalen befähigte Schlegel nicht zuletzt seine außergewöhnlich gute Ausbildung in den alten Sprachen, die er bereits im Elternhaus erhalten hatte. So korrespondierte er mit seinem Vater in lateinischer Sprache; dieser regte ihn auch dazu an, eigene Übersetzungen sowohl griechischer (Herodian, Xenophon) als auch lateinischer Klassiker (Vergil, Horaz) anzufertigen. Auf der sächsischen Fürstenschule Pforta, die Schlegel von 1733 bis 1739 besuchte, erhielten die Schüler eine fundierte Ausbildung in den alten Sprachen, die das zu dieser Zeit in Deutschland Übliche bei weitem übertraf. Lebende Sprachen allerdings wurden nur wenig zur Kenntnis genommen, ja die Beschäftigung mit ihnen war geradezu verpönt. Dennoch konnte sich Schlegel beträchtliche Kenntnisse gerade der französischen Literatur aneignen. Auch Theateraufführungen waren in Pforta nicht erlaubt, so dass Schlegels erste dramatische Versuche heimlich in den Fastnachtsferien aufgeführt werden mussten und keineswegs in der Tradition des protestantischen Schultheaters stehen (Vgl. zur Geschichte dieser Schule den Überblick von Petra Dorfmüller u. Eckart Kissling, Schulpforte. Zisterzienserabtei Sankt Marien zur Pforte. Landesschule Pforta, München/ Berlin 2004). <?page no="37"?> 37 Du mußt aber die Alten nicht nach Art des Perrault, und anderer Leute beurtheilen, deren Geschmack sich nicht weiter erstreckt, als daß sie die Sitten ihres Volks für die schönsten, die jemals seyn können, oder wohl gar allein für schön achten. 115 Ein Gefühl für die historische Bedingtheit der Gattung verbindet sich bei Schlegel mit einer allmählichen Modifikation der Gottschedschen Regeln. Gerade deren zu enger Wahrscheinlichkeitsbegriff führte dazu, dass sich Schlegel allmählich an Bodmer annäherte, ohne sich allerdings offen von Gottsched zu distanzieren. Überhaupt kann von einer grundsätzlichen Abkehr von Gottscheds Dichtungstheorie nicht die Rede sein, lediglich von Modifikationen, die gerade in Bezug auf die antike Tragödie auf Schlegels überlegener Textkenntnis beruhen: Zwar nimmt Schlegel in seinen theoretischen Schriften vielfach Positionen Lessings vorweg, bewegt sich aber zeitlebens auf dem Fundament der Poetik Gottscheds. 116 Dies erklärt auch den prägenden französischen Einfluss, dem Schlegels Antikenbearbeitungen unterliegen. 117 Sie stehen am Beginn seines dramatischen Schaffens. Die Trojanerinnen und Orest und Pylades sind Adaptionen von Tragödien des Euripides, während Dido eine Episode aus Vergils Aeneis zugrunde liegt. Auch wenn Schlegel später keine antiken Stoffe mehr dramatisierte und sich zunehmend der Komödie zuwandte, 118 sind seine Bearbeitungen griechischer Tragödien sowohl für sein eigenes dramatisches Schaffen als auch für die literarische Produktion anderer Autoren von Bedeutung: Die zeitweilig äußerst populären Dramen Schlegels etablierten die mythischen Stoffe auf der Gottschedschen Reformbühne. 115 Johann Elias Schlegel, Auszug eines Briefs, welcher einige kritische Anmerkungen über die Trauerspiele der Alten und Neuern enthält, in: Ders., Werke, Bd. III, S. 203-212, hier S. 206. 116 Vgl. grundlegend Elizabeth M. Wilkinson, Johann Elias Schlegel: a German Pioneer in Aesthetics, Oxford 1945, sowie ergänzend Gerlinde Bretzigheimer, Johann Elias Schlegels poetische Theorie im Rahmen der Tradition, München 1986. 117 Vgl. auch H. Bünemann, Elias Schlegel und Wieland als Bearbeiter antiker Tragödien. Studie zur Rezeption der Antike im 18. Jahrhundert, Leipzig 1928. 118 Wolfgang Paulsen, Johann Elias Schlegel und die Komödie, S. 30, vermutet als Grund für Schlegels Hinwendung zur Komödie eine tiefe Unzufriedenheit mit den Möglichkeiten der Aufklärungstragödie und eine letztlich untragische Disposition von Schlegels Charakter. Angesichts von Schlegels kurzer Lebenszeit scheint mir ein solches Abfolgemodell wenig ergiebig, zumal sich Schlegel bis an sein Lebensende mit Tragödienplänen beschäftigte. <?page no="38"?> 38 4.1. Die Trojanerinnen, ein Trauerspiel Das Trauerspiel Die Trojanerinnen, 119 Johann Elias Schlegels erstes Drama, entstand noch während seiner Zeit auf der Fürstenschule in Pforta. 120 Die erste Fassung von 1736/ 37 trug den Titel Hekuba. Umarbeitungen sprachlicher Natur erfolgten 1742 - dabei erhielt das Drama den Titel Die Trojanerinnen - und 1745. Das Drama galt bei Zeitgenossen als Schlegels beste Tragödie, es wurde allgemein höher eingeschätzt als Herrmann oder Canut 121 und wurde bis in die 1780er Jahre gespielt. 122 Moses Mendelssohns äußerst positive Wertung des Stücks in den Literaturbriefen (1765) kann als repräsentativ gelten: „Jenes ist, so wie die mehresten Stücke des Racine, eine Nachahmung der Alten, aber eine Nachahmung, die gewiß mehr werth ist, als eine mittelmäßige Originalarbeit.“ Die Trojanerinnen seien „das beste Trauerspiel geworden, das wir von dieser Gattung auf unserer Bühne haben“. 123 Das Drama spielt in den Ruinen Trojas. 124 Dort erwarten die trojanische Königin Hekuba, ihre Töchter Cassandra und Polyxena sowie ihre Schwiegertochter Andromacha, die Witwe Hektors, ihr Schicksal. Ein griechischer Soldat kündigt an, dass wegen des widrigen Windes, der die Griechen an der trojanischen Küste zurückhält, die schönste Trojanerin dem Achill geopfert werden solle; der Geist des griechischen Helden habe selbst dieses Opfer gefordert. Der griechische Bote Talthybius erklärt, Hekuba solle künftig Ulyß als Sklavin dienen, Andromacha sei Achills Sohn Pyrrhus zugesprochen, Cassandra dem Agamemnon; zudem berichtet er, dass die für den Krieg verantwortliche Helena von Menelas wieder als Gattin aufgenommen worden sei. Da er Polyxena nicht erwähnt hat, liegt der Schluss nahe, dass 119 Zitiert wird nach Johann Elias Schlegel, Die Trojanerinnen, ein Trauerspiel, in: Ders., Werke, Bd. I, S. 137-208. Fortan in diesem Kapitel Seitenangaben in Klammern im Text. 120 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Johann Heinrich Schlegels Vorbericht, ebd., S.139-150. 121 Vgl. dazu J. W. Eaton, Johann Elias Schlegel and German Literature, in: The Germanic Review 4 (1929), S. 327-351, hier S. 330; [Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, S. 129f.; Johannes Rentsch, Johann Elias Schlegel als Trauerspieldichter, unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Gottsched, Leipzig 1890, S. 49. 122 Paulsen, Johann Elias Schlegel und die Komödie, S. 6 123 Moses Mendelssohn, Briefe die neueste Litteratur betreffend, 1765, Teil XXI, in: Ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 5, 1, Stuttgart 1991, S. 640. Der Vergleich mit Racine geschieht nicht zufällig: So schreibt Christian Heinrich Schmid in der Chronologie des deutschen Theaters, Schlegel habe mit seinem Herrmann „eine neue Epoche des deutschen Trauerspiels angefangen“ und trage „seitdem den Namen eines deutschen Racine“ ([Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, S. 110, vgl. auch Charlotte von Dach, Racine in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bern/ Leipzig 1941 [S. 46- 55 zu Schlegel]). 124 Darin folgt Schlegel Seneca. Die Handlung von Euripides Troerinnen hingegen spielt im griechischen Lager. Vgl. zu den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, Rentsch, Johann Elias Schlegel als Trauerspieldichter, S. 51. <?page no="39"?> 39 sie als Opfer ausgewählt wurde. Im Gegensatz zu Hekuba, die heroisches Durchhalten propagiert, um die Erinnerung an den Ruhm Trojas wachzuhalten, zieht Polyxena den Tod der Entehrung in der Sklaverei vor. Der griechische Anführer Agamemnon fühlt Mitleid mit der Trojanerin, kann sich allerdings nicht zum Handeln durchringen. Die Untergangsprophezeiungen Cassandras ignoriert er bewusst. Indessen droht ein weiteres Übel: Hektors Sohn Astynax soll getötet werden, da die Griechen fürchten, er werde einst Rache nehmen. Andromacha versteckt ihn in Hektors Grab und gibt gegenüber Ulyß vor, ihr Sohn sei bereits tot. Ulyß droht daraufhin, Hektors Grabmal zu zerstören; gezwungenermaßen liefert sie ihren Sohn den Griechen aus. Pyrrhus hat Agamemnon gezwungen, Polyxena herauszugeben, die dieser zuvor unter seinen Schutz gestellt hatte. Sie wird geopfert; Ulyß wirft Astynax vom letzten noch stehenden Turm Trojas. Die Griechen brechen mit ihren Gefangenen auf. In seinen Trojanerinnen kontaminiert Schlegel mehrere Prätexte, 125 wobei sich die Handlung in ihren wesentlichen Zügen an den euripideischen Troerinnen (415 v. Chr.) orientiert, so dass es sich bei Schlegels Drama letztlich um eine Erweiterung dieser Tragödie handelt. 126 Daneben finden sich wesentliche Einflüsse der Hekabe des Euripides (wohl zwischen 428 und 415 v. Chr.): Aus diesem Stück stammen die Figuren von Polyxena, Agamemnon und Odysseus; auch die Charakterzeichnung der Protagonistin der euripideischen Tragödie wirkte auf die Zeichnung der Hekuba Schlegels. Aus Senecas Troades (wohl 50 n. Chr.), die wiederum auf Euripides basieren, 127 stammt die Wahl des Schauplatzes sowie die Episode um Hektors Grab; in der äußerst negativen Charakterzeichnung der Odysseus-Figur sind ebenfalls die Einflüsse des römischen Dramas zu erkennen. Schlegel übernimmt handlungsanreichernde Elemente aus dem mittlerweile als schwülstig geltenden Drama des römischen Dichters und Philosophen, auch wenn er sich primär an den griechischen Texten orientiert. Übersetzte noch Martin Opitz 1625 die Troades Senecas als musterhafte antike Tragödie, 128 so gilt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders der Stil des römischen Dichterphilosophen gemeinhin als gezwungen und unnatürlich. Schlegels deutliche 125 Vgl. zur Kontamination Genette, Palimpseste, S. 359. 126 Vgl. zur Erweiterung ebd., S. 353-360. 127 Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Euripides, Sämtliche Tragödien und Fragmente, griechisch-deutsch, übersetzt von Ernst Buschor, hrsg. von Gustav Adolf Seeck, 6 Bde, München 1972-1981; Seneca, Sämtliche Tragödien, lateinisch und deutsch, übersetzt und erläutert von Theodor Thomann, 2 Bde, Zürich/ Stuttgart 1961-1969. Angegeben werden jeweils die Verszahlen. 128 In der Vorrede zu seiner Übersetzung betont Opitz den Exempelcharakter, den das Drama überzeitlich aktuell mache. Die Trostfunktion der Tragödie komme dadurch zustande, dass der Zuschauer in der Auseinandersetzung mit tragischen Schicksalen für die Wechselfälle des Lebens gleichsam abgehärtet werde. Vgl. Martin Opitz, Leservorrede zu: Trojanerinnen, deutsch übersetzet, in: Ders., Buch von der Deutschen Poeterey, Studienausgabe, hrsg. von Herbert Jaumann, Stuttgart 2002, S. 113-115. <?page no="40"?> 40 Bezugnahme auf Seneca zeigt indes, wie groß dessen Wirkung auf die Dramenproduktion des 18. Jahrhunderts tatsächlich ist. 129 Dass Schlegel überhaupt diesen Stoff bearbeitete, könnte eine Erwähnung in Hédelins Pratique du théâtre (1657) geschuldet sein, in der Euripides’ Troerinnen und Iphigenie im Taurerlande als besonders geeignet zur Nachahmung empfohlen werden, da sie als Exempel der launischen Fortuna dienen könnten: 130 „C’est-là que les plus grossiers apprennent, que les faveurs de la Fortune ne sont pas de vrais biens, quand ils y voient la ruine de cette Roiale Famille de Priam.“ 131 An anderer Stelle in seiner auch in Deutschland breit rezipierten Schrift hebt Hédelin an diesen beiden Dramen hervor, dass sie eine Vielzahl von emotionsgeladenen Szenen enthielten, die es einem modernen Bearbeiter leicht machten, pathetisch aufgeladene Redepassagen zu verfassen. 132 Trotz souveräner Kenntnis der antiken Prätexte ist Schlegel in hohem Maße von der französischen Literatur beeinflusst. So dienen ihm neben den erwähnten antiken Tragödien auch französische Dramen als Quelle, 133 insbesondere die Tragödie La Troade 134 von Robert Garnier (1578) und das gleichnamige Stück Nicolas Pradons (Uraufführung 1679). 135 Zudem weist das deutsche Drama deutliche Parallelen zu Racines Iphigénie auf, 136 insbesondere in der Charakterisierung Polyxenas, einer „Schwester Iphigenies“, 137 und in der Gestaltung von Agamemnons innerem Konflikt. 138 Obwohl Schlegel deutlich von den erwähnten französischen Dramen geprägt ist, vermeidet er bemerkenswerterweise die für die französische Tragödie 129 Vgl. exemplarisch zur lange unterschätzten Nachwirkung Senecas im 18. Jahrhundert Wilfried Barner, Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas, München 1973. 130 François Hédelin Abbé d’Aubignac, La pratique du théâtre und andere Schriften zur Doctrine classique, Nachdruck der dreibändigen Ausgabe Amsterdam 1715 mit einer einleitenden Abhandlung von Hans-Jörg Neuschäfer, München 1971, S. 5. Dort gilt - deutlich unter dem Einfluss Senecas - die Handlung der Troerinnen als stoisch getöntes Beispiel für die wankelmütige Fortuna. 131 Hédelin, La pratique du théâtre S. 5. 132 Ebd., S. 315. 133 Ausführlich dazu Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 99ff. Einflüsse von Euripides’ Andromacha und Racines Andromaque liegen nicht vor. 134 Robert Garnier, La Troade. Tragédie, Edition critique, établie, présentée et annotée par Jean-Dominique Beaudin, Paris 1999 (=Théâtre complet V). 135 Nicolas Pradon, La Troade. Tragédie, in: Le Théâtre de Mr. De Pradon, Paris 1695, S. 237- 323. Vgl. Thomas W. Bussom, The Life and Dramatic Works of Pradon, Paris 1922, S. 125- 132. 136 Racine war besonders in stilistischer Hinsicht das Vorbild Schlegels. Vgl. Theatralische Werke. Vorrede [1747], in: Johann Elias Schlegel, Ausgewählte Werke, hrsg. von Werner Schubert, Weimar 1963, S. 532-552, bes. S. 537ff. 137 Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 78. 138 Erste Hinweise dazu finden sich bei Rentsch, Johann Elias Schlegel als Trauerspieldichter, S. 56f., allerdings ohne Auswertung des Befunds. <?page no="41"?> 41 der Klassik typische Dämpfung. 139 Gerade der Vergleich mit Pradons Troade zeigt, wie ungewöhnlich Schlegels Verzicht auf eine von den Greueln der Handlung ablenkende Liebeshandlung ist. In dem hauptsächlich an Seneca orientierten Stück Pradons verliebt sich Ulisse in Polixene, Pyrrhus in Andromaque. Nach eigener Aussage in der Vorrede kam der Autor mit den Greueln der Vorlage nicht zurecht. Die antike Tragödie sei zweifellos vorbildhaft, „mais aussi les caracteres de leurs Heros sont si pleins de ferocité, qu’on n’eût pû voir sans horreur Ulisse precipiter Astynax & Pyrrhus immoler Polixene. Il falloit trouver un milieu & un juste temperament pour adoucir cette action“. 140 Die Dämpfungstendenzen Pradons führen allerdings zu einer Vielzahl von Inkongruenzen in der Handlungsführung. So ist Ulisse zwar „un des plus galans hommes de la Grece“ 141 und zudem in Polixene verliebt, die wiederum ihrem verstorbenen Geliebten Antenor nachtrauert. Diese zarten Gefühle hindern Ulisse aber nicht daran, die Auslieferung Astynax’ zu erpressen. Auch Pyrrhus ist verliebt, und zwar in Andromaque, die Ulisse als Sklavin zugesprochen ist. Ein Ehrkonflikt zwischen den beiden Männern führt schließlich zur Katastrophe. Obwohl beide es wollen, können sie die Opferung Polixenes und den Tod Astynax’ nicht verhindern - zu aufgebracht ist das ungeduldig wartende griechische Heer. Astynax springt vom Turm, bevor Ulisse ihn stoßen kann, die lebensmüde Polixene tötet sich selbst, da der weinende Pyrrhus nicht die Opferung vollziehen kann. Angesichts dieser Hilflosigkeit gegenüber einer die Konventionen der bienséance sprengenden Vorlage ist es umso bemerkenswerter, dass Schlegel die Geschehnisse und Motivationen der antiken Vorlagen beibehält, 142 ja auf die ältere, deutlich pessimistischere vorklassische Tragödie Robert Garniers zurückgeht, deren hoffnungslose Grundstimmung der düsteren Atmosphäre in Schlegel Trojanerinnen entspricht. 143 Schlegel macht unter dem prägenden Einfluss Gottscheds und der französischen Klassik aus seinen Prätexten eine Alexandrinertragödie in hohem Stil, deren Handlungsführung dem Fünfaktschema folgt. Wie die meisten modernen Bearbeiter antiker Tragödien verzichtet Schlegel auf den Chor. 144 139 Vgl. Leo Spitzer, Die klassische Dämpfung in Racines Stil, in: Ders., Romanische Stil- und Literaturstudien I, Marburg 1931, S. 135-268. 140 Pradon, La Troade, S. 243. 141 Ebd., S. 244. 142 Dass Schlegel Pradons Stück kannte, machen große Ähnlichkeiten in der Eingangsszene wahrscheinlich. Vgl. Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 99f. Die Anklänge an Pradon sind allerdings nur sprachlicher Natur, von der Grundkonzeption dieses Dramas ist Schlegels Stück denkbar weit entfernt. 143 Robert Garniers Troade weist vielerlei Bezüge zur französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts auf; so erscheint der trojanische Krieg als Parallele zu den Religionskriegen; Hekuba erinnert an die Regentin Katharina von Medici. Vgl. die Einleitung von Jean-Dominique Beaudin: Garnier, La Troade, S. 7-30. 144 Genette, Palimpseste, S. 391f., führt den Wegfall des Chors in der klassizistischen Tragödie als Beispiel für eine intramodale Transformation an. Trotz Gottscheds Wertschät- <?page no="42"?> 42 Aus Gründen der Wahrscheinlichkeit vermeidet er lange Monologe, ebenso eliminiert er übernatürliche Elemente wie etwa den Götterprolog. Allerdings verzichtet er nicht gänzlich auf das Übernatürliche. So übernimmt er aus den Troerinnen des Euripides die Kassandra-Episode, wohl um die Grundthematik des Dramas zu unterstreichen und das Episodenhafte der Handlung als lediglich eine Station des grausamen Mythos herauszustellen. Beim Versuch, die Handlung der antiken Tragödie zu rationalisieren, ist Schlegel also auf halbem Weg stehengeblieben: In seinem zweiten Drama, Orest und Pylades, sind die irrationalen Elemente noch weitaus deutlicher zurückgedrängt, ohne allerdings durch völlig befriedigende Alternativen ersetzt zu werden. So ist die Handlung von Schlegels Tragödie geprägt von äußerster Drastik und Grausamkeit; nichts lindert das Leid. Dafür sorgt der abstoßende Zynismus Ulyß’ ebenso wie das abrupte Ende, das Protagonisten und Rezipienten gleichermaßen sprachlos zurücklässt. 145 Wenn überhaupt von einer Dämpfung gesprochen werden könnte, dann nur insofern, als Schlegel Hekuba trotz eines unterschwellig geäußerten Rachewunschs nicht handeln lässt, anders als in der euripideischen Hekabe, wo die Protagonistin schließlich buchstäblich zur Tat gezwungen wird. 4.1.1. Hekuba Aus der Reihe der Frauengestalten ragt die trojanische Königswitwe Hekuba hervor. Ihr Anteil an der Handlung ist zwar relativ gering, allerdings sorgt schon allein ihre häufige Bühnenpräsenz dafür, dass sie im Mittelpunkt des Dramas steht. Als einzige der Protagonistinnen ist sie nicht gewillt, ihr Leid teilnahmslos hinzunehmen. Im Gegenteil, Hekuba versucht immer wieder, im Rahmen des in der Gefangenschaft Möglichen aktiv zu werden und die übrigen Trojanerinnen zum Durchhalten anzuspornen. Zugleich wird an der Gestalt der Hekuba Schlegels Tendenz deutlich, die Charaktere ins „Edel- Erhabene“ 146 zu stilisieren. Gleich in der ersten Szene des Dramas stellt sie zung des Chores findet er sich in den wenigsten Dramen der Aufklärung, was wohl am Vorbild der französischen Klassik liegt. Ein halbwegs prominentes Beispiel für die Integration des Chores ist Cronegks Olint und Sophronia, mit dem - sehr zum Spott Lessings das Hamburger Schauspielhaus eröffnet wurde. Allerdings stehen die Chöre dieses Dramas in der Tradition der Reyen der Barocktragödie, sind also nur sehr vermittelte Zeugnisse einer Antikerezeption. Vgl. Johann Friedrich von Cronegk, Olint und Sophronia, in, Ders., Schriften. Die Ausgabe von Johann Peter Uz ergänzend neu hrsg. von Werner Gundel, Ansbach 2003, S. 137-182; Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 333-336. 145 Anders Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 36, der das abrupte Ende als ungriechisch verurteilt und eine Klageszene vermisst. 146 Georg-Michael Schulz, Die Überwindung der Barbarei. Johann Elias Schlegels Trauerspiele, Tübingen 1980, S. 33. <?page no="43"?> 43 ihre Gefasstheit unter Beweis, indem sie Andromacha auffordert, sich ihrem Leid zu stellen: „Komm, habe Muth genug, dein Elend anzusehen! “ (151) Indem sie den verwüsteten Schauplatz beschreibt, unterstreicht sie die Wandelbarkeit des Glücks. Sie kontrastiert die königliche Vergangenheit mit einer Gegenwart, in der Erinnerungen sowohl schmerzlich als auch tröstend sind. Dabei gilt Hekubas Klage in auffälliger Weise primär dem verlorenen Königtum: „Erkennst du hier im Schutt den prächtigen Pallast, / Wo ich verehret ward, den du geschmücket hast? “ (151) Die Symbole der verlorenen Herrschaft werden - ganz ähnlich wie in der Barocktragödie 147 - sinnfällig ausgestellt; der Schauplatz gewinnt höchste Symbolkraft. 148 So weist Hekubas Rede programmatisch auf die zum Gefängnis gewordene Königsburg, den vernichteten Palast und den entweihten und nahezu vollständig zerstörten Tempel. Lediglich vor Hektors Grabmal hat die Zerstörungswut der Griechen haltgemacht: Alles, was von Troja noch steht, ist das Grab seines größten Helden. Ihre Schwiegertochter Andromacha wirft Hekuba nicht ohne Berechtigung vor, sie beklage in einer Art von Realitätsverlust lediglich das Schicksal der Stadt und nicht ihr eigenes: „Als Sklavinn klagest du noch immer königlich! “ (152) Am schlimmsten sei die Sklaverei, schlimmer noch als der Tod, so dass es keinen Sinn mache, am Leben festzuhalten. Hekuba klagt um die toten Trojaner, insbesondere um Hektor, dessen Tod der Vorbote von Trojas Untergang war. Anders als Andromacha, die sich nicht vorstellen kann, das Leid könne noch zunehmen, hegt Hekuba große Befürchtungen. Ihre einzige Hoffnung setzt sie in Polyxena und Astynax. Diese sollen die Erinnerung an das untergegangene Troja und seinen Ruhm wach halten und - denkt man diese Vorstellung zu Ende - möglicherweise einmal Rache nehmen. Wäre sie nur liebende Mutter, würde sie ihren Nachkommen den Tod wünschen, um ihnen die Sklaverei zu ersparen. Als Königin aber werde sie alles daran setzen, dass so viele wie möglich überleben. Gerade dieser Gedanke ist verantwortlich für ihre Ängste: Sie befürchtet völlig zu Recht, dass die siegreichen Griechen genau das verhindern wollen. Hekuba befindet sich in einem existentiellen Zwiespalt: Zwar möchte sie ihre Nachkommen unbedingt am Leben erhalten; sie weiß allerdings genau, dass zumindest Polyxena dieses Leben nicht mehr als lebenswert ansieht. Das Schicksal ihrer Tochter und ihres Enkels geht ihr primär „um Trojens Wohl zu Herzen“ (154). Doch wenn auch ihre Handlungen auf den ersten Blick von politischen Ideen und erst nachrangig von familiären Bindungen bestimmt sind, lassen sich in den Trojanerinnen die beiden Sphären selten 147 Vgl. etwa den allegorischen Beginn von Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien (Erstdruck 1657): „Der Schauplatz lieget voll Leichen-Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc.“ (Andreas Gryphius, Catharina von Georgien, hrsg. von Alois M. Haas, Stuttgart 1995, S. 13) 148 Vgl. Schulz, Die Überwindung der Barbarei, S. 19. <?page no="44"?> 44 klar trennen. 149 Hekuba ist auch als Mutter immer Königin; anderseits hat die Königswürde nicht verhindert, dass sie starke Muttergefühle hegt, die eine reine Instrumentalisierung ihrer Nachkommen verhindert. Eine weitere Triebfeder, die Hekubas Existenz bestimmt, ist der Hass auf Helena. Er wiegt so schwer, dass sie die Nachricht, sie selbst sei Ulyß als Sklavin zugesprochen, beinahe übergeht und wissen will, was mit Helena geschehen solle: Doch alles hör ich gern, wenn mich nur eins vergnüget, / Wenn meine Vaterstadt nicht ungerächet lieget. / Vor allen sage mir von Helenens Geschick. (157) In Schlegels Drama wird der Hass auf Helena lediglich angerissen, während in Euripides’ Troerinnen der Ehebruch Helenas, der den Krieg auslöste, ständig präsent ist. 150 Zu diesem Zeitpunkt der Handlung nimmt Hekuba noch an, Helena sei als Opfer für Achill ausgewählt. Als sie erfährt, dass Helena wieder von Menelas aufgenommen wurde, verzweifelt Hekuba an der Gerechtigkeit. Das Handeln der Götter ist für sie undurchschaubar geworden: „Nun sage man nicht mehr, daß Götter, die nicht schlafen, / Auf unsre Wege sehn, und lohnen und bestrafen.“ (157) Die Verhältnisse in der Welt stehen der Vorstellung von gütigen und gerechten Göttern entgegen. Hekuba ahnt nun, dass Polyxena geopfert werden soll. Diese allerdings sieht dem Tod freudig entgegen, da ihr nun ein Ausweg aus einem würdelosen Leben aufscheint, das sie unmöglich in Tugend verbringen kann. Polyxena möchte lieber sterben, als - wie ihre Schwester Cassandra - entehrt zu leben. Noch im Sterben habe sich die schamvolle Polyxena, berichtet Pyrrhus, so bewegt, dass sie nicht unsittlich entblößt worden sei. Was auf den ersten Blick wie eine dämpfende Zutat des 18. Jahrhunderts wirken mag, findet sich tatsächlich in ähnlicher Weise bereits bei Seneca vorgezeichnet. 151 Hekuba allerdings zeigt kein Verständnis für den Todeswunsch ihrer Tochter. Wiederum gelten ihre Gedanken nur Troja: Man sieht, daß Troja nun von dir nichts hoffen kann. / Weil es im Staube liegt, geht es dich nichts mehr an. / Du könntest ihm dereinst von neuem Bürger geben; / Doch weil du zaghaft bist, so scheuest du das Leben. (161) Hekuba setzt ihre Tochter systematisch unter Druck, indem sie an ihr heroisches Durchhaltevermögen appelliert. Als Polyxena einwendet, der zweifellos griechische Vater ihrer Kinder werde sicherlich nicht zulassen, dass sie einen trojanischen Helden erziehe, beschwört Hekuba Polyxenas Ehrgefühl: Für Achill den Opfertod zu sterben, sei mindestens ebenso entehrend wie 149 Sibylle Plassmann, Die humane Gesellschaft und ihre Gegner in den Dramen von J.E. Schlegel, Münster 2000, S. 60. 150 So kommt es in den Troerinnen des Euripides zu einem Rededuell zwischen Hekuba und Helena in Anwesenheit Menelaos’. In dessen Verlauf wird implizit deutlich, dass Menelaos trotz anderslautender Beteuerungen seine Frau verschonen wird - eine weitere Niederlage für die rachsüchtige Hekabe. Vgl. Euripides, Die Troerinnen, V. 860- 1059 (3. Epeisodion). 151 Vgl. Seneca, Troades, V. 1158f.; Senecas Polyxena stirbt stolz und in Würde. <?page no="45"?> 45 ein Leben in Sklaverei. Als auch dieser Versuch folgenlos bleibt, bedient sich Hekuba schließlich einer religiösen, stark christlich getönten Argumentation und erinnert an das Selbstmordverbot (162). Angesichts ihrer harschen Götterkritik erscheint diese Mahnung allerdings als rein rhetorischer Schachzug, der ebenso wirkungslos bleibt wie die vorangegangenen Versuche, ihrer Tochter den Todeswunsch auszureden. 152 Hekuba behält mit ihren Befürchtungen recht: Als sie erfährt, dass Astynax gleichsam prophylaktisch getötet werden solle, bringt sie Andromacha dazu, ihn zu verstecken. Anders als Polyxena ist Andromacha empfänglich für Hekubas Appell, allerdings aus Mutterliebe. Für Hekuba hingegen gilt es in Astynax primär den Stammhalter zu verteidigen: „Dies Kind ist itzt sein [Trojas] Herr, sein Arm, sein letzter Mann, / Es ist das einzige, was man verlieren kann.“ (172) Sie nimmt ihn nicht als eigenständiges Individuum wahr, sondern sieht in ihm nur Hektors Eigenschaften. „Hektors Muth“, „Hektors Gang“ und „Hektors Angesicht“ (174) lassen Hekuba auf einen glücklichen Ausgang hoffen, während für Andromacha eben Hektors Ruhm für den möglichen Verlust ihres Sohnes verantwortlich ist: „Der ists nun, welchen mir des Hektors Ruhm entreißt! “ (174) Für Andromacha wirkt die heroische Vergangenheit lediglich unheilbringend, als ein Verhängnis, das weiteres Leid nach sich zieht, während Hekuba all ihre Hoffnung in ein Wiederaufleben eben dieser heroischen Vergangenheit setzt, die durch Hektor personifiziert wird. Hekubas Hoffnungen werden vollständig zerstört. Sie findet sich Ulyß und Agamemnon gegenüber in der Rolle der Bittstellerin. Nun weiß sie, dass sie die Hilfe Agamemnons benötigt. So sorgt sie dafür, dass er Polyxena unter seinen Schutz stellt, was ebenso folgenlos bleibt wie das Versteck Astynax’ wirkungslos war. Mittlerweile sieht sie deutlich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Den Gedanken an Rache - die Griechen könnten sich wegen Polyxena entzweien - schiebt sie beiseite: „Doch schweig, unedler Trieb! Stützt man nur meine Sache, / Lebt meine Tochter nur; ich fodre keine Rache.“ (200) Hekuba geht so weit, sich selbst zu erniedrigen, um für das Leben Astynax’ zu flehen (204). Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist ihre nach außen aufrechterhaltene Rolle als trojanische Königin in sich zusammengebrochen. Der Tod ihrer Tochter und ihres Enkels bedeutet für sie die völlige Niederlage: „Ich bin vor Schmerz betäubt, daß ich nicht fühlen kann.“ (208) Ihr heroisches Durchhaltevermögen, der Versuch, um der Zukunft willen zu dulden, ist zu einem Ende gekommen. Dass die Zeichnung der Hekuba nicht immer konsistent ist, liegt wohl an der Vielzahl der Prätexte, die Schlegel kontaminiert. In den Troerinnen des Euripides wird Hekabe als würdevolle Königin gezeichnet, während sie sich in der Hekabe desselben Autors angesichts ihres unermesslichen Leids zur 152 Dabei handelt es sich zudem um einen Fremdkörper in der Argumentation, ebenso wie später Agamemnons christlich getönte Aufforderung an Pyrrhus, man solle verantwortungsbewusst leben. <?page no="46"?> 46 rachsüchtigen Furie entwickelt. Seneca wiederum stilisiert Hecuba zum Muster stoischer Constantia. All diese disparaten Eigenschaften finden sich in Schlegels Hekuba wieder, so dass Johann Heinrich Schlegels Einschätzung in der Einleitung der Werkausgabe nachvollziehbar wird: „Der Stoff, den diese drey Plane aus dem griechischen und römischen Theater einem neuern Dichter an die Hand geben, ist gewiß sehr reich, und vielleicht allzureich.“ (140) Das hat zur Folge, dass die Sympathie und das Interesse des Rezipienten, die offenbar Hekuba gelten soll, sich den anderen Trojanerinnen, insbesondere Andromacha, zuwenden. 4.1.2. „Helden voller Furcht“: Ulyß und Agamemnon Die griechischen Gegenspieler der Trojanerinnen könnten unterschiedlicher kaum sein. Hekubas wahrer Gegenspieler ist Ulyß. Er ist verantwortlich für die Gewaltexzesse der griechischen Sieger. Schlegel zeichnet ihn als Urheber der menschenverachtenden Politik, die den Krieg erst dann für beendet erklären kann, wenn alle potentiell gefahrenbringenden Trojaner getötet worden sind: „Es drohn Ulyssens List und Pyrrhus wilder Geist.“ (170) 153 Agamemnon hingegen erscheint als Charakter mit durchaus positiven Zügen, der von Beginn an Mitleid mit Polyxena fühlt und ohnehin nicht an die Wirksamkeit des Menschenopfers glaubt: „Ob es ein Geist begehrt, ist mir noch ungewiß; / Doch Calchas fodert es, und Pyrrhus und Ulyß.“ (164) Die Allianz zwischen seinen Konkurrenten und dem Seher verhindert, dass er sich der Opferung entgegenzustellen wagt. Zu groß ist seine Angst vor dem Machtverlust, den eine Revolte des abergläubischen Heeres nach sich ziehen würde: „Nur Calchas zwinget mich, und wenn er uns betriegt, / So trauet ihm das Heer, und glaubt, auch wenn er lügt.“ (165) Diesen Priesterbetrug aufzudecken, riskiert Agamemnon nicht. Lieber stilisiert er sich zum unfreien Herrscher (165), 154 der „in verborgenen Ketten“ (165) seufze, entschul- 153 Vgl. auch die Zeichnung von Pyrrhus im zweiten Buch der Aeneis: „Kurz vor dem Eingang, hart am äußeren Portal, gebärdet sich prahlerisch Pyrrhus, funkelnd von Waffen und widerscheinender Bronze, gleichwie eine Natter ans Licht kommt, gemästet mit giftigen Kräutern, nachdem sie den Winter über prall in der kalten Erde ausgeharrt hat und nun nach der Häutung in jungem, frischem Glanz den Glatten Rücken ringelt, die Brust erhoben und zur Sonne aufgereckt und aus dem Maul die dreigespaltene Zunge hervorschnellen läßt.“ (Vergil, Aeneis, Prosaübersetzung von Volker Ebersbach, 3. Auflage, Leipzig 1993, S. 42) 154 Schlegel lehnt sich hier eng an die Gestaltung des Agamemnon in Racines Iphigénie an: „Heureux qui satisfait de son humble fortune, / Libre du joug superbe où je suis attaché, / Vit dans l’état obscur où les dieux l’ont caché! “ (Jean Racine, Iphigénie, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. I, Paris 1960, S.661-734, hier S. 675). Susanne Aretz, Die Opferung der Iphigeneia in Aulis. Die Rezeption des Mythos in antiken und modernen Dramen, Stuttgart/ Leipzig 1999 (= Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 131), S. 323-326, analysiert Racines Agamemnon vor dem Hintergrund der Stofftradition. <?page no="47"?> 47 digt aber somit letztlich nur seine Wankelmütigkeit und Unentschlossenheit. Dass Agamemnon seine Herrscherautorität nicht behaupten kann und will, wird im Gespräch mit Pyrrhus deutlich. Dieser verweist auf die Taten Achills, die allein für den Sieg der Griechen verantwortlich seien. Er ignoriert völlig Agamemnons christlich getönte Mahnung, Gott richte über das Leben jedes Menschen: „Der Richter fraget nicht, vor dem die Hölle bebt, / Ob wir gerochen sind; er fragt, wie wir gelebt.“ (177) Während für Ulyß der Tod Polyxenas und Astynax’ von politischer Notwendigkeit ist, sieht Agamemnon deutlich die korrumpierende Wirkung des Krieges. Er selbst erkennt sich nicht wieder: […] Was bin ich sonst gewesen, / Eh ich zum Kriege kam? - Ein Vater für mein Land. / Itzt bin ich ein Tyrann, durch tausend Wuth bekannt; / Das Werkzeug eines Volks, die nur nach Blute dürsten. (191) Der Krieg bewirkt letztlich den völligen Verlust von Humanität. Die charakterliche Deformation macht auch vor denjenigen nicht halt, die sie hellsichtig analysieren können, wie eben Agamemnon, der seine Einsichten nicht in konkretes Handeln umsetzt. Zwar vertritt er aufklärerische und christliche Standpunkte, ist aber nicht in der Lage, diese durchzusetzen. Auch daran liegt es, dass die Trojanerinnen so düster und hoffnungslos wirken. Die humane Alternative, die Agamemnon postuliert, wird dadurch entscheidend geschwächt, dass er selbst nicht mutig genug ist, sie konsequent in die Tat umzusetzen. So verzichtet er von vorneherein auf jeden Versuch, Astynax zu retten. Zweifellos ist das Griechenheer in unterschiedliche Fraktionen zerfallen. Dass allerdings der Druck auf Agamemnon so groß ist, wie er behauptet, wird durch die positive Zeichnung des ebenso mitleidigen griechischen Soldaten und des griechischen Boten Talthybius zumindest in Frage gestellt. Das unaufgeklärte griechische Heer glaubt an den göttlichen Ursprung von Calchas’ Orakelspruch. Dass es aber eigentlich um die völlige Ausrottung der trojanischen Königsfamilie und um die Erfüllung persönlicher Rachegelüste geht, wird an der Art deutlich, wie der grausame Pyrrhus sofort den Orakelspruch, die schönste Trojanerin solle geopfert werden, auf Polyxena bezieht. Dass die Orakel in der Tat nicht göttlichen Ursprungs sind, zeigt deutlich der zweite Seherspruch Calchas’, der offenbar auf den Wunsch von Ulyß erfolgt und diesem die Möglichkeit gibt, mit der Zerstörung von Hektors Grab zu drohen. Einerseits instrumentalisiert Ulyß die Orakel, andererseits gibt er gegenüber den Trojanerinnen Verantwortung ab, wenn er auf den Druck des abergläubischen Heeres verweist. In Schlegels Trojanerinnen spiegelt sich die Handlungskonstellation der aulischen Iphigenie, und zwar sowohl der Version von Euripides als auch deutlicher der von Racine. 155 Im französischen Drama gelingt es Aga- 155 Vgl. zu einigen besonders prägnanten Übernahmen Schlegels Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 104f. <?page no="48"?> 48 memnon nicht, seine eigene Tochter vor der Opferung zu bewahren. Einzig eine Umdeutung des Orakelspruchs bewirkt, dass Iphigénie im letzten Augenblick gerettet wird. 156 Auch in Schlegels Trojanerinnen kann Agamemnon eine junge Frau nicht vor dem Tod bewahren; sein Heldentum hat sich als Pose entpuppt. Bereits vor der entscheidenden Konfrontation mit Ulyß ist Agamemnon deutlich geschwächt, ja hat sich geradezu darauf vorbereitet, seine Position aufzugeben. Talthybius gegenüber gesteht er offen ein, Ulyß könne ihn zu allem überreden: „In meiner schönsten Tat läßt er mich Schande sehn, / Und was ich nie gewollt, das laß ich dann geschehn.“ (193) Und genau das ereignet sich: Den Argumenten des Ithakers hat Agamemnon wenig entgegenzusetzen. Ulyß betont, dass Agamemnon bereits dem Opfer zugestimmt habe, er verliere also seine Glaubwürdigkeit, wenn er jetzt seine Zustimmung verweigere. Auch werde Agamemnon seiner Verantwortung nicht gerecht. Schließlich sei die Sicherheit Griechenlands in Gefahr, wenn Astynax am Leben bleibe. Troja erwüchse ein Rächer, den man möglichst früh unschädlich machen müsse. Nicht zuletzt sei Agamemnon höchst unglaubwürdig, da er mit der Opferung Iphigenies, seiner eigenen Tochter, einen Präzedenzfall geschaffen habe. Doch die Opferung Polyxenas habe auch einen politischen Nutzen für die Zukunft: Schließlich könne auch sie einen Nachkommen gebären, der an den Griechen Rache nehmen würde. Unabhängig von all diesen Argumenten laste der Druck des Heeres, das endlich nach Griechenland zurückkehren wolle, auf dem Anführer, so dass es das Beste sei, die Opferung rasch zu vollziehen. Agamemnon gibt nach. Einzige Bedingung für sein Einlenken ist, dass Ulyß die Verantwortung übernimmt (180). Agamemnon hat nun seinen moralischen Tiefpunkt erreicht. Es wird deutlich, dass er die humanen Werte, die er nach außen vertritt, nicht verinnerlicht hat; einzig sein Nachruhm steht für ihn im Vordergrund. 157 Die Verweise auf Racines Drama dienen dazu, das Geschehen in den Trojanerinnen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Der Krieg hört auf, wie er begonnen hat, nämlich mit dem Tod unschuldiger junger Menschen, die sterben müssen, um den Blutdurst eines dumpfen, manipulierten Heeres zu stillen. 158 Wohl um diesen Kreislauf der Gewalt zu unterstreichen, hat Schlegel auch den Auftritt der Cassandra aus Euripides’ Troerinnen übernommen. Da er den Götterprolog gestrichen hat, erlaubt ihm erst die in die Handlung nicht integrierte und eher überflüssig wirkende Prophezei- 156 Für die Handlung von Schlegels Drama ist allerdings anzunehmen, dass die Opferung vollzogen wurde. 157 Auch die Ruhmsucht Agamemnons hat Schlegel von Racine übernommen. Wenn Agamemnon reflektiert, ob er seine Tochter verschonen solle, ist ihm sein Ruhm anscheinend ebenso wichtig wie das Leben seiner Tochter: „Qu’elle vive. Mais quoi! peu jaloux de ma gloire, / Dois-je au superb Achille accorder la victoire? “ (Racine, Iphigénie, S. 723) 158 Vgl. zur Opferthematik bei Euripides Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 140ff. <?page no="49"?> 49 ung, die Perspektive auf künftiges Geschehen zu öffnen und so vollends die Sinnlosigkeit des Geschehens zu demonstrieren. Die Heimfahrt, die sich die Griechen mit dem Blut Polyxenas erkaufen wollen, führt in den Untergang, das Morden wird sich in Griechenland fortsetzen. Der Tod Agamemnons hängt wiederum ursächlich mit dem Opfermotiv zusammen, da Klytämnestra die Opferung Iphigenies rächen wird. Eine göttliche Gerechtigkeit ist nicht zu erkennen; metaphysischer Trost irgendeiner Art bleibt aus, ähnlich wie in vielen späten Tragödien des Euripides, dessen negatives Weltbild Schlegel hier übernimmt. Die griechischen Protagonisten sind Getriebene, letztlich Opfer ihrer Furcht und damit alles andere als heroisch, wie Hekuba diagnostiziert, als Ulyß die Ermordung von Astynax mit seiner Sorge um die griechischen Mütter rechtfertigt, deren künftige Bedrohung er nun beseitigen müsse (205). 159 Andromachas Verachtung für diese „Helden voller Furcht“ (ebd.) schlägt in ohnmächtige Wut um, als sie mit ansehen muss, wie Ulyß ihren Sohn in den Tod führt. Die „mordgierige Feigheit der Griechen“ 160 setzt sich über alle Humanitätsvorstellungen hinweg. In den letzten Szenen des Dramas wird besonders deutlich, wie der Krieg zu sinnloser Grausamkeit pervertiert ist. Die Destruktion heroischer Vorstellungen wird auch daran sichtbar, dass der gescheiterte Agamemnon nicht mehr auftritt. Lediglich Pyrrhus erscheint, um von der Opferung Polyxenas zu berichten, deren Tod er als Muster heroischen Sterbens schildert. Beinahe habe er nicht zuschlagen können, so versichert er. Angesichts der Tatsache, dass er zuvor in Opferphantasien geschwelgt hatte, wirkt seine Beteuerung hohl. Ulyß’ rhetorisch geschliffene Argumentationsweise wird in der Auseinandersetzung mit Polyxena abermals deutlich, wobei die junge Frau ihm deutlich mehr entgegenzusetzen hat als der mykenische König. In einer sophistisch geschliffenen Trugrede postuliert er heuchlerisch, „Freundschaft und Vertraun“ (182) seien der Ruhm der Menschheit. Polyxena weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie als Opfer für Achill ausgewählt wurde. Ulyß argumentiert, indem er identifikatorisch die trojanische Rolle einnimmt. Was wäre, wenn Hektor ein Opfer gefordert hätte? Sicherlich würden die Trojaner in einer solchen Situation ähnlich handeln wie die Griechen. Dabei ignoriert er Polyxenas Einwand, Hektor hätte so etwas niemals verlangt. Nun stellt er es als eine Ehre hin, Achill geopfert zu werden: Alle Griechinnen wären begierig, solch einen Tod für den größten griechischen Helden zu sterben. Für Polyxena, eine Barbarin, bedeute es eine ungeheure Auszeichnung. Zwischenmenschliche Bindungen sind für Ulyß ohne Bedeutung. Dass ihm Hekuba einst das Leben rettete, als er in Troja spionierte, gesteht er gerne zu: 161 „Errettet pries ich dann im Lager, dir zur Ehre, / Wie viele 159 Dieses Argument ist von Seneca übernommen. Vgl. Seneca, Troades, V. 535ff. 160 Rentsch, Johann Elias Schlegel als Trauerspieldichter, S. 55. 161 Diese Episode stammt aus Euripides’ Hekabe (V. 239ff.). <?page no="50"?> 50 Großmuth auch in euch, Barbaren, wäre.“ (185) Er sieht allerdings keinen Anlass, deshalb für die Trojanerinnen einzutreten. Zwar hebt er den Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren im Gespräch auf; dennoch sind Dankbarkeit und Mitleid nicht opportun und widersprechen seinen pragmatischen, an Anforderungen der Realpolitik ausgerichteten Handlungsmaximen. Auch er sehe sich dem Druck des Heeres ausgesetzt. Bei dem ausgeprägten demagogischen Talent, das Ulyß besitzt, wird deutlich, dass es sich bei dieser Argumentation - ähnlich wie bei Agamemnons gleichlautender Erklärung - um eine Ausrede handelt. Schließlich wird immer wieder unterstrichen, dass der Wille der Masse steuerbar ist, sei es von Calchas oder von Ulyß. 162 Gipfelpunkt in der negativen Darstellung des Ulyß ist die Szene, in der er Astynax in den Tod führt, nachdem er gedroht hat, Hektors Grabhügel zu zerstören, um so die Herausgabe des Kindes zu erpressen. Dass er Astynax als Sohn bezeichnet, stellt die größtmögliche Verhöhnung der unterlegenen Feinde dar. Mit paternalistischer Geste beruhigt er den Jungen: „Komm, Sohn, der Tod schmerzt nicht, die Furcht nur macht ihn bitter. / Der längste Kampf ist nur ein kurzes Ungewitter.“ (206) In dieser banalen Sentenz enthüllt sich die ganze Abgestumpftheit des Griechen. Ulyß handelt allein nach den Maximen politischer Klugheit. Ethische Werte und Normen spielen für ihn dabei keine Rolle. Er instrumentalisiert sie allerdings, um seine Mitmenschen zu manipulieren. Dieser Manipulation unterliegen sowohl die siegreichen Griechen als auch die besiegten Trojanerinnen. Schlegel folgt in der negativen Darstellung des Ulyß der Tradition der Odysseus-Figur in der griechischen Tragödie. 163 Anders als im Epos wird Odysseus im Drama als unheroischer Ränkeschmied gezeichnet. Sein Werterelativismus und sein rhetorisches Geschick verweisen auf den Sophismus, der im Athen des späten fünften Jahrhunderts zunehmend Bedeutung gewann. 164 In Sophokles’ Philoktet (409 v. Chr.) etwa, dem Stück, das Schlegel als Musterbeispiel der griechischen Tragödie hervorhebt, 165 lügt und betrügt Odysseus, um Philoktet zu bewegen, wieder am Krieg teilzunehmen. Ähnliche Tendenzen finden sich in Euripides’ Hekabe, wo Odysseus gewissenlos und grausam handelt. Seneca treibt in den Troades diese Negativzeichnung auf die Spitze, was einigermaßen überrascht, gilt doch Odysseus in der stoischen Philosophie als „Archetyp des gottergebenen Dulders“. 166 Und gerade von Seneca übernimmt Schlegel die wesentlichen Züge seines Ulyß. Damit unterscheidet sich seine Charakterisierung der 162 Vgl. Schulz, Die Überwindung der Barbarei, S. 40. 163 Vgl. zu den vielen Facetten der Odysseus-Tradition Bernhard Zimmermann, Odysseus - ein Held mit vielen Gesichtern, in: Ders. (Hg.), Mythos Odysseus. Texte von Homer bis Günter Kunert, Leipzig 2004, S. 169-181. 164 Vgl. Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 162f. 165 Vgl. Schlegel, Auszug eines Briefs, S. 206f. 166 Maria-Christine Leitgeb, Odysseus/ Ulixes/ Ulysses, in: Lutz Walther (Hg.), Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Leipzig 2003, S. 166-173, hier S. 169. <?page no="51"?> 51 Odysseus-Figur von der Racines. In dessen Iphigénie erscheint Ulysse zwar als an Tatsachen orientierter, rational argumentierender Politiker, dem aber das Verschlagene und der latent durchschimmernden Sadismus der Odysseus-Figur Schlegels (und Senecas) abgeht: 167 Schlegels Ulyß übertrifft alle modernen literarischen Vorbilder an Verschlagenheit und Heuchelei. „Racine selbst hat die Größe der Griechen bewundert, aber sich nicht getrauet, sie ganz nachzuahmen.“ 168 In diesem Sinne greift Schlegel selbst programmatisch auf die antiken Tragödien zurück, deren großer Vorzug gerade in der überzeugenden Einrichtung der Fabel liege. Dämpfungstendenzen lehnt er entschieden ab. Während Racine in seinen Remarques sur l’Odyssée (1662) Odysseus als „esprit délicat et adroit“ 169 darstellt, ist in Schlegels Trauerspiel „List und Unglück schon gewiß“ (181), wo er nur erscheint. Diese negative Darstellung dient auch dazu, die Trojanerinnen angesichts dieses perfiden Gegners aufzuwerten. Das Schicksal Hekubas, die zur Sklavin des Ulyß bestimmt wurde, ist desto mitleiderregender, je finsterer dieser dargestellt wird. Bei allem Abstoßenden, das von Ulyß ausgeht, ist er doch die faszinierendste Figur in den Trojanerinnen Schlegels. 170 Anders als der tumbe Pyrrhus, der bedenkenlos Gewalt anwendet, benutzt Ulyß Gewalt als Druckmittel, um das von ihm gewünschte Verhalten zu bewirken. Die Figur des Ulyß erscheint auf den ersten Blick frappierend modern, und tatsächlich wirkt der skrupelloser Menschenmanipulator wie eine Vorwegnahme von Gestalten wie Franz Moor in Schillers Räubern. Allerdings finden sich diese aufklärerischen bzw. aufklärungskritischen Züge bereits in der Dramatik des Euripides, in dessen Gestalten der moralische Relativismus etwa eines Gorgias sein Äquivalent findet: 171 Redekunst ist zum bloßen Überreden geworden. Nicht das moralisch Richtige soll vermittelt werden, vielmehr 167 Senecas Ulixes zitiert - ebenso wie dessen Medea - seine eigene mythische Identität herbei. Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, dass es sich bereits bei den Tragödien Senecas um eine „Literatur auf zweiter Stufe“ (Genette) handelt, die sich ihrer intertextuellen Abhängigkeit bewusst ist und dieses Wissen künstlerisch produktiv einsetzt. Vgl. Seneca, Troades, V. 613f.: „nunc advoca astus, anime, nunc fraudes, dolos, / nunc totum Ulixen; veritas numquam perit.“ „Nun rufe herbei deine Schlauheit, mein Geist, nun Verstellung, List, nun den ganzen Odysseus; Wahrheit wurde nie zu Schanden.“ 168 Schlegel, Auszug eines Briefs, S. 206. 169 Jean Racine, Remarques sur l’Odyssée, in: Racine, Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1960, S. 725-804, hier S. 768. 170 Auch in Schlegels Canut lenkt der Intrigant Ulfo das Interesse auf sich lenkt; ihm gegenüber erscheint der Titelheld blass. 171 Vgl. zur Kontextualisierung von Euripides’ Werk Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, 3., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen 1972, S. 275- 280 und S. 512-522; J. D. Conacher, Euripidean Drama. Myth, Theme and Structure, Toronto 1967; Bernard Knox, Euripides: The Poet as Prophet, in: Peter Burian (Hg.), Directions in Euripidean Criticism. A Colllection of Essays, Durham 1985, S. 1-12; Erich Segal, Euripides: Poet of Paradox, in: Ders. (Hg.), Oxford Readings in Greek Tragedy, Oxford 1983, S. 244-253. <?page no="52"?> 52 kommt es darauf an, den anderen von der Richtigkeit der eigenen Sache zu überzeugen. Reflexe des Sophismus und der Sophismuskritik finden sich neben Euripides’ Spätwerk auch in Sophokles’ Philoktet. Dies dürfte ein Grund für die Rezeption der griechischen Tragiker und insbesondere des Euripides im 17. und 18. Jahrhundert sein. 172 Ähnliche Problemstellungen sind auch im Zeitalter der Aufklärung aktuell: So ist einerseits die Dominanz der Vernunft alternativlos, andererseits öffnet sie die Bahn für moralischen Relativismus, wie er in der Figur des Ulyß’ in Schlegels Drama deutlich wird. Die Gestaltung der Odysseusfigur demonstriert, dass Schlegel bei seiner Bearbeitung der griechischen Tragödie zwar auf zeitgenössische französische Bearbeitungen zurückgreift, aber aufgrund seiner genauen Kenntnis der Texte zu eigenen Entscheidungen und Urteilen fähig ist. Er verstärkt eben diejenigen antiken Elemente, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neue Aktualität gewinnen, und dazu gehört unweigerlich auch die Frage, ob vernunftgemäßes Handeln ethisch gutes Handeln ist. Schlegel postuliert im mythischen Gewand seine Rationalismuskritik; mit dem Insistieren auf ausweglosem Leid wirken Schlegels Trojanerinnen in mancherlei Hinsicht dennoch als Fremdkörper auf der Bühne der Aufklärung. Während etwa Orest und Pylades aktuelle Diskurse verhandelt und sich offensichtlich in das Zeitalter des Aufklärungsoptimismus einfügt, erscheinen Die Trojanerinnen in vielerlei Hinsicht heterogen. Gerade die teilweise inkonsistente Zeichnung der Hekuba wirkt sich negativ auf die Architektur der Tragödie aus. Allerdings ist die dramatische Wucht dieses Erstlingswerks nicht zu unterschätzen. Eben dass der Fokus auf dem unermesslichen Leid der Trojanerinnen liegt, macht sowohl das Faszinierende als auch das Befremdliche dieses Dramas aus. War die bisherige Rezeption dieses Stoffes stark von der stoischen Deutung Senecas beeinflusst, so gibt es bei Schlegel keinerlei Trost. Die menschliche Alternative, die Agamemnon formuliert, scheitert an dessen menschlicher Schwäche. Schlegel legt den Akzent bereits in dieser Mythosbearbeitung auf die historisch-politischen Elemente. Im Vordergrund steht politisches Handeln, das in all seiner Grausamkeit und Skrupellosigkeit vorgeführt wird. Die Destruktion heroischer Vorstellungen zeigt sich sowohl an der Darstellung der griechischen „Helden voller Furcht“ (205) als auch am Scheitern von Hekubas Beharrungswillen. Zudem unterwirft er die Orakel einer deutlichen Kritik aus aufklärerischer Perspektive: Die Instrumentalisierung von Religion aus machtpolitischen Gründen erscheint als Symptom einer verrohten und perspektivlosen Gesellschaft. Aufklärerisch ist sicherlich die Rolle des Agamemnon, auch Ulyß’ Verhalten weist solche Züge auf, doch konterkariert die fatalistische Grundstimmung diese Tendenzen nahezu vollständig. Schlegels Erstlingswerk ist am ehesten Darstellung eines gescheiterten Aufklärungsprozesses, gleich- 172 Vgl. Olga Franke, Euripides bei den deutschen Dramatikern des 18. Jahrhunderts, Berlin 1929 (= Das Erbe der Alten, Reihe 2, XVI). <?page no="53"?> 53 zeitig aber auch ein Kompendium nicht immer zusammenpassender Elemente, das hauptsächlich durch das „schwere Leid“ 173 zusammengehalten wird. Schlegels Bearbeitung der Troerinnen wurde auch als Versuch aufgefasst, Euripides regelgetreu zu verbessern. 174 Allerdings macht Schlegels Wertschätzung der antiken Autoren unwahrscheinlich, dass es sich um eine Bearbeitung aus einem wie auch immer gearteten Überlegenheitsgefühl handelt; vielmehr wird, ganz Gottsched folgend, das Wunderbare als Phänomen eines weniger aufgeklärten Zeitalters angesehen und dementsprechend weitgehend abgeschwächt, um das Wahrscheinlichkeitsgebot nicht zu verletzen. Die aufklärerischen Elemente sind gewiss Versuche, den antiken Mythos zu aktualisieren. Dabei dient die antike Tragödie allerdings niemals als minderwertige Vorlage, die es für ein Publikum erst interessant zu machen gilt. 4.2. Orest und Pylades, ein Trauerspiel 175 Auch die erste Fassung dieses Dramas entstand noch während Schlegels Schulzeit. Die Geschwister in Taurien - so der ursprüngliche Titel - wurden unter ähnlichen Umständen wie Die Trojanerinnen in den Fastnachtsferien des Jahres 1738 in Pforta erstmals aufgeführt; bereits im folgenden Jahr, noch bevor Schlegel die Schule verließ, brachte die Neubersche Truppe das Trauerspiel erfolgreich in Leipzig auf die Bühne. In den nächsten Jahren arbeitete Schlegel das Stück immer wieder sowohl inhaltlich als auch formal um. Zu einem Druck zu Lebzeiten kam es nie; erstmals erschien Orest und Pylades - diesen Titel trug das Drama seit 1742-1761 in der postumen Werkausgabe. 176 Die Wertschätzung, die Die Trojanerinnen genossen, erreichte es nie. 177 Das Stück steht in einer langen Reihe von dramatischen Bearbeitungen des Iphigenie-Stoffs: 178 Während im 17. Jahrhundert vielfach aulische Iphigenien auf die Bühne gebracht wurden, kam es im 18. Jahrhun- 173 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 37 (Kap. 11). 174 So Bünemann, Elias Schlegel und Wieland, S. 30ff. 175 Johann Elias Schlegel, Orest und Pylades, ein Trauerspiel, in: Ders., Werke, Bd. I, S.1-68. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 176 Die Textgestalt dieser Ausgabe ist nicht unproblematisch, da man davon ausgehen muss, dass Johann Heinrich Schlegel an etlichen Stellen korrigierend in den Text eingriff, ohne seine Änderungen zu kennzeichnen. Dies ist besonders im Fall jener Texte anzunehmen, die zu Lebzeiten Johann Elias Schlegels nicht gedruckt wurden. 177 Vgl. [Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, S. 215. 178 Vgl. Frick, Die Schlächterin und der Tyrann; Jean-Michel Gliksohn, Iphigénie de la Grèce antique à l’Europe des Lumières, Paris 1985; Robert R. Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme in Drama of the Eighteenth Century, in: Comparative Literature XVI/ 4 (1964), S. 289-307; Stefan Matuschek (Hg.), Mythos Iphigenie. Texte von Aischylos bis Volker Braun, Leipzig 2006. <?page no="54"?> 54 dert vermehrt zu Adaptionen der Iphigenie im Taurerlande (414 oder 413 v. Chr.) des Euripides, etwa von Joseph de La Grange-Chancel, John Dennis, La Touche und anderen. 179 Ein Grund für diese Akzentverlagerung dürfte darin zu suchen sein, dass mit Racines Iphigénie eine allgemein als definitiv und nicht zu überbietend anerkannte moderne Version der aulischen Iphigenie vorlag, 180 die im 18. Jahrhundert auch im deutschen Sprachraum als maßgeblich galt. 181 So folgt zwar die Handlungsführung von Schlegels Orest und Pylades im Wesentlichen dem euripideischen Drama, an der Gestaltung des Dramenschlusses aber wird deutlich, dass Schlegel auch mit zeitgenössischen Bearbeitungen des Iphigenie-Stoffs vertraut war bzw. im Laufe der Umarbeitungen des Dramas mit ihnen bekannt wurde: 182 Insbesondere Oreste et Pilade (erste Aufführung 1698) von Joseph de La Grange-Chancel ist wichtiges Vorbild für die Gestaltung des Tyrannenmords und des Tugendduells zwischen Orest und Pylades. 183 Dieses Drama, „the fountainhead of the new tradition“, 184 beeinflusste allerdings Derschaus Iphigenie-Drama wesentlich stärker als das Stück Schlegels. Schauplatz der Dramenhandlung ist ein Hain vor dem Tempel der Diana. Dort beklagt Iphigenia den Tod ihres Bruders Orest, von dem ihr - anders als bei Euripides, wo Iphigenie von Orests Tod träumt - ein Thraker berichtet hat. Sie selbst befindet sich in einer auswegslosen Situation: Als Oberpriesterin der Diana muss sie alle Griechen opfern, die taurischen Bo- 179 Vgl. die Übersicht bei Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme, S. 308f. 180 Racine projektierte zwar auch eine Iphigénie en Tauride; der Entwurf wurde allerdings erst 1747 veröffentlicht - zu spät, um für die in dieser Arbeit untersuchten Iphigenie- Dramen von Bedeutung zu sein. Vgl. Racine, Plan du premier acte d’Iphigénie en Tauride, in: Œuvres complètes, Bd. I, S. 947-951. 181 Zwar hatten im deutschen Sprachgebiet etwa Anton Ulrich von Braunschweig- Wolfenbüttel (1661) und Christian Heinrich Postel (1699) die aulische Iphigenie bearbeitet; diese Singspieltexte übten allerdings - anders als die französischen Dramen - kaum Einfluss auf Schlegels Generation aus. Vgl. Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Iphigenia, in: Ders., Bühnendichtungen, Bd. I, 2, hrsg. von Blake Lee Spahr, Stuttgart 1982, S. 259-324, sowie Christian Heinrich Postel, Die wunderbar-errettete Iphigenia / in einem Singe-Spiele, in: Willi Flemming (Hg.), Die Oper (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Barock, Barockdrama, Bd. 5), S. 255- 308. Postel kannte die euripideische Iphigenie in Aulis. Vgl. Eberhard Haufe, Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678-1738, Frankfurt a. M. u.a. 1994: „An literaturgeschichtlicher Bedeutung steht das Stück nicht nur ebenbürtig neben den eindeutig deutschen Originalwerken, sondern überragt sie sogar im unmittelbaren Rückgriff auf die antike Dichtung selbst.“ (Ebd., S. 81) 182 Johann Heinrich Schlegel unterschlägt diese Abhängigkeit, wenn er in der Einleitung schreibt, Schlegel habe nur Gottscheds Critische Dichtkunst und die griechischen Texte benutzt. Vgl. Orest und Pylades, S. 2 (Einleitung). 183 Joseph de La Grange-Chancel, Oreste et Pilade, ou Iphigénie en Tauride.Tragédie, in: Théâtre de Monsieur de La Grange-Chancel. Revu & corrigé par lui-même, Nouvelle Edition, Bd. I, Amsterdam 1746, S. 61-128. 184 Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme, S. 292. <?page no="55"?> 55 den betreten. Mittlerweile hat sie jede Hoffnung auf eine Heimkehr nach Griechenland verloren. Um den toten Bruder zu ehren, trägt sie ihrer Gefährtin Eutrophe auf, ihm ein Totenopfer zu spenden, dem eine Bleitafel mit Orests Namen beigegeben wird. Diese Nebenhandlung um die Opfergabe stammt aus Sophokles’ Elektra; auch Aischylos’ Weihgußträgerinnen kommen als Quelle in Betracht. Orest und Pylades, die gerade in Tauris eingetroffen sind und sich als Trojaner ausgeben, planen den Diebstahl des Diana-Standbilds, wodurch Orest von seinen Wahnvorstellungen geheilt werden soll, unter denen er seit dem Mord an seiner Mutter leidet. Während Orest in der griechischen Tragödie auf Befehl Apolls handelte, tötete er bei Schlegel die Mutter aus eigenem Antrieb. Iphigenia nimmt den vermeintlichen Trojaner Orest im Tempel auf, der in einem Anfall von Raserei einen Hirten schwer verletzt hat; bei Euripides richtete Orest im Wahnsinn ein Blutbad unter eine Viehherde an, ähnlich wie der Aias des Sophokles. Orest und Pylades werden festgenommen. Pylades führt Iphigenias Opfergabe mit sich. Wegen dieses Bleis hält sie der taurische König Thoas für Griechen. Iphigenia möchte die Unschuldigen retten und erklärt dem König, was es mit der Tafel auf sich habe. Dennoch verzichtet Thoas nicht auf die Opferung, allerdings verlangt er nur den Tod desjenigen, der den Hirten verwundet hat. Iphigenias Gespräch mit Pylades, den sie beauftragt, einen Brief nach Griechenland zu bringen, führt schließlich zur Wiedererkennung der Geschwister, wobei Schlegel die Anagnorisis-Szene beinahe stiefmütterlich behandelt. Iphigenia leitet nun die Intrige ein, die ermöglichen soll, das Diana- Standbild zu entführen. Der Betrug gelingt zunächst; wegen widriger Winde werden die Griechen aber gefangengenommen. Die deutlichste Differenz zum Drama des Euripides betrifft den Dramenschluss: Schlegel lässt Thoas sterben, alle Protagonisten treten noch einmal auf und erleben die taurische Aufklärung mit. Der von Orest tödlich verwundete Thoas will Rache. Im richtigen Moment erinnert sich der Priester Hierarchus (! ) an eine alte Prophezeiung, die aussagt, die Göttin dulde die Menschenopfer nicht länger. Folgerichtig schafft Hierarchus diese ab; er lässt die Griechen mit dem Götterbild ziehen. Mehr noch als in den Trojanerinnen folgt Schlegel in seinem zweiten Drama den Vorgaben von Gottscheds Critischer Dichtkunst. So vermeidet er Monologe, indem er die Protagonisten jeweils zu einer Dienerfigur sprechen lässt. Diese confidents übernehmen nach dem Vorbild der französischen Klassik teilweise die Rolle des antiken Chores, indem sie die Handlung kommentieren und reflektieren. Offensichtlich ist Schlegels Versuch, die übernatürlichen Elemente der Vorlage zu tilgen: So fallen Götterprolog und die Erscheinung von Athene als Dea ex machina weg. Während bei Euripides Iphigenie von der Göttin Diana nach Tauris entrückt wird, bringt sie bei Schlegel Achill auf die Insel; auch dass Schlegels Iphigenia die falsche Todesnachricht von einem Thraker erhält, gehört in diesen Kontext. Die Erweiterung der griechischen Tragödie zieht auch eine inhaltliche Umwertung <?page no="56"?> 56 nach sich. So versucht Schlegel, aktuelle Diskurse in sein Drama zu integrieren, wie etwa den Gegensatz von Vernunft und Unvernunft, der am Beispiel des Gottesdienstes diskutiert wird; daneben ist vor allem der Freundschaftskult von Bedeutung, der leitmotivisch das ganze Drama durchzieht. Wie in den Trojanerinnen ist Politik wesentlich: So geht es nicht nur um die Zusammenführung von Iphigenia und Orest, sondern auch um die Humanisierung und Aufklärung einer ganzen Gesellschaft und nicht zuletzt um die Überwindung der tyrannischen Herrschaft Thoas’. Die Figur der Iphigenia ist letztlich nur im Zusammenhang mit diesen Aspekten zu sehen. Anders als Goethes Iphigenie handelt Schlegels Heldin nicht selbstlos, 185 sondern lässt sich von ihren eigenen Interessen leiten und scheut auch die Intrige nicht, um ihre Ziele durchzusetzen. Den Wahnsinn und die Heilung Orests behandelt Schlegel eher beiläufig. 186 Am Ende scheint er geheilt zu sein, ohne dass der Grund ersichtlich würde: Direkte göttliche Einwirkung wirkt vor dem Horizont des Schlegelschen Rationalismus unwahrscheinlich; eher ist es Kennzeichen eines Jugendwerks, dass dieser Aspekt einfach fallengelassen wird. 4.2.1. Die Menschenopfer Wesentlicher Bestandteil des taurischen Dianakults sind Menschenopfer. Allerdings müssen anders als bei Euripides, wo alle Fremden dem Tod geweiht waren, in der Regel nur Griechen den Opfertod sterben, was neben religiösen auch politische Gründe hat: So sollen wohl die Opfer potentielle griechische Invasoren abschrecken. Zugleich verstärkt die Exklusivität griechischer Opfer den Gegensatz zwischen Taurern und Griechen: Es stehen nicht mehr nur Taurer gegen Fremde, sondern explizit Taurer gegen Griechen. Dies ermöglicht erst Orests List, der als vermeintlicher Trojaner Alcestes gastfreundlich aufgenommen wird. 187 Die Opfer dienen der Abschreckung nach außen, zugleich wirken sie nach innen systemstabilisierend, ohne dabei einer theologischen Bedeutung zu entbehren: Für die unaufgeklärten Taurer, allen voran den König Thoas, sind die Opfer notwendig, um den göttlichen Schutz Dianas nicht zu verlie- 185 Eine Ausnahme stellt Iphigenias Opferangebot am Ende dar. Vgl. Schlegel, Orest und Pylades, S. 67. 186 Die Schilderung seines Wahnsinnsanfalls hingegen kann als genaueste Abbildung der Krankheit auf der Bühne der Zeit gelten. Vgl. Plassmann, Die humane Gesellschaft, S. 85. 187 Seine Lügengeschichte erinnert auffällig an Vergils Aeneis, insbesondere an die Bücher II und III. Vgl. zu Seneca als Vorbild für Dramatiker des 17. und 18. Jahrhunderts Wolf Hartmut Friedrich, Ein Ödipus mit gutem Gewissen. Über Corneilles Oedipe, in: Ders., Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie, Göttingen 1967, S. 112-139, bes. S. 112. <?page no="57"?> 57 ren. So erklärt der Krieger Hippodamus zuversichtlich die Folgen der Opferung von Orest und Pylades: Diana sieht dies Blut mit holden Augen an. / Voll Gunst wird sie hinfort mit unzählbaren Siegen, / Mit Palmen voller Ruhm dein tapfres Herz vergnügen. (31) Thoas’ Tragik liegt nicht zuletzt darin, dass er selbst von tiefer Religiosität erfüllt ist und mit ansehen muss, wie sich sein Glaube als falsch erweist. Dies erklärt auch seine Ausfälle gegen die Göttin am Ende des Dramas, die seine tiefe Enttäuschung zum Ausdruck bringen. Diese drei Aspekte der Menschenopfer - Abschreckung, Systemstabilisierung und kultische Funktion zeigen deutlich, dass sie konstitutiv für den taurischen Staat sind. Bezeichnend ist das Tauschverhältnis, das scheinbar zwischen Göttern und Menschen besteht, und das auch von den aufgeklärten Griechen nicht in Frage gestellt wird. Lediglich die Art der Tauschware steht zur Debatte, nicht die Tatsache, dass göttliche Protektion eine Gegenleistung erfordert. 188 So argumentiert Pylades, dass Diana gerade wegen der sie beleidigenden Menschenopfer den Raub ihres Standbilds unterstütze: „Diana wünschts vielleicht; denn Grausamkeit und Wuth / Gefällt den Göttern nie. Sie labt kein Menschenblut.“ (19) Von aufgeklärter Warte ist das eine Selbstverständlichkeit, die nicht näher begründet werden muss. So erscheint die Opferpraxis als deutliches Indiz für die Rückständigkeit von Tauris. Iphigenia steht zwischen diesen Positionen. Einerseits ist sie es, die die Menschen tötet, während die Iphigenie im Drama des Euripides lediglich die Opfer weiht. 189 Somit ist sie als Priesterin der Diana ursächlich für den Tod der Opfer verantwortlich, obwohl sie selbst erkennt, wie unsinnig und grausam die Opfer sind. Sie glaubt, durch die Menschenopfer den Altar der Göttin zu entweihen (32), sieht allerdings keine Alternative zur Anpassung an die Umstände. Sie „will nicht dem Gebrauch der Länder widersprechen“ (32) und handelt nach Thoas Befehlen. Wegen des angeblichen Befehlsnotstandes fühlt sie sich frei von Schuld: „Wohl! Meine Brust bleibt rein von des Tyrannen Morden; / Ist meine Hand gleich oft mit Blut besudelt worden.“ (36) Angesichts äußerer Zwänge beruft sie sich auf eine innere Autonomie, die allerdings fragwürdig bleibt. Insgesamt zeigt sich, dass sich Iphigenia tatsächlich den taurischen Gebräuchen angepasst hat und in nicht geringem Maße von den Greueltaten abgestumpft ist. Ihr Versuch, Orest und Pylades zu retten, da sie ja unschuldig, nämlich keine Griechen seien, verdeutlicht, dass es hier mehr um einen Versuch geht, ihr Gesicht zu wahren. Wenn sie behauptet, ihre Pflicht fordere es, „Unschuldige zu retten“ (33), dann drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche Schuld die bisherigen Opfer auf sich 188 Vgl. Schulz, Die Überwindung der Barbarei, S. 47f. 189 „Doch weih ich nur das Opfer. Blutiger Vollzug / Liegt dem Gesinde dieses Tempelhauses ob.“ (Euripides, Iphigenie im Taurerlande, V. 40f.) <?page no="58"?> 58 geladen hatten. Iphigenia akzeptiert widerspruchslos die taurische Logik; dabei spielen allgemeingültige Humanitätsvorstellungen keine Rolle. Ihr Verhalten wirkt umso unverständlicher, als sie selbst davon überzeugt ist, ein Gott könne unmöglich Menschenopfer verlangen (54). Im Gebet zu Diana verspricht sie ihr, man werde ihr in Griechenland „vernünftig dienen“ (54), das heißt, Tiere anstelle von Menschen opfern. In ihrer Argumentation ist der vernünftige Gottesdienst ortsgebunden. Sie schließt von vornherein aus, dass sie humanisierend auf die taurische Gesellschaft einwirken könne. So erfolgt auch die taurische Aufklärung ohne direkten Einfluss Iphigenias: Das Beispiel der heroisch-tugendhaften Freundschaft ist es, das den Vorbildcharakter der Griechen ausmacht. Wie es um diese Vorbildhaftigkeit steht, lässt sich angesichts des Muttermords, den Orest begangen hat, immerhin in Frage stellen. Iphigenia jedenfalls rechtfertigt ihn bereitwillig: Antrieb für Orests Tat sei die Tugend gewesen, sein Ziel, den Vatermord zu rächen, sei groß und edel genug, das übertrieben scheinende Mittel zu entschuldigen. Des „Entzwecks Billigkeit“ (11) entschuldigt Orests Tat. Der Zweck heiligt also aus Iphigenias Sicht die Mittel - ein Grundsatz, der bei der von ihr eingeleiteten List wieder zum Vorschein treten wird. Der Dramenschluss scheint der griechischen Position rechtzugeben. Hierarchus legt den scheinbar göttlichen Willen offen, indem er die Opfer abschafft. Dies geschieht allerdings nicht aus ethischen Gründen, sondern allein deshalb, da sie sich als untaugliches Mittel erwiesen haben, um die Göttin auf taurischer Seite zu halten. Vernünftiger, aufgeklärter Gottesdienst hat also göttlichen Schutz zur Folge, während unvernünftige Menschenopfer dessen Verlust nach sich ziehen. 4.2.2. Der Freundschaftskult Die enge Bindung zwischen Orest und Pylades ist in Schlegels Drama weitaus wichtiger als das Verhältnis der Geschwister, die sich immerhin nach jahrelanger Trennung erstmals wieder begegnen. Während etwa die Anagnorisis, bei Euripides kunstvoll vorbereiteter Höhepunkt der Handlung, in wenigen Versen gleichsam abgehakt wird, preisen Orest und Pylades bereits bei ihrem ersten Auftreten hymnisch ihre Freundschaft. Schon an dieser Stelle kündigt Pylades an, er werde für Orest sterben, wenn es sein müsse: „Ich bin mir nicht so lieb, / Als du, dein Glück, Orest, und unser Freundschaftstrieb.“ (14) Der rhetorisch aufgeladene Freundschaftspreis durchzieht das ganze Drama. Allerdings hat es mit Pylades’ Todesbereitschaft eine tiefere Bewandtnis. Als tatsächlich die Festnahme bevorsteht, möchte sich Orest allein in Gefangenschaft begeben, um das Leben seines Freundes zu retten. Pylades lässt das nicht zu: <?page no="59"?> 59 […] Laß mich den Ruhm erwerben, / Daß ich unwandelbar in meiner Freundschaft treu, / Und meines Freundes Tod zugleich der meine sey. (25) Es ist also nicht zuletzt die Sorge um seinen Nachruhm, die Pylades zu seinem Handeln bewegt. Sein Antrieb ist zu einem guten Teil Egoismus: Er möchte Vorbild mustergültiger Freundschaft sein. Dieser Argumentationsstruktur ist auch Orest nicht fremd, der erklärt, Pylades’ Namen werde man „einst der Freundschaft Beispiel nennen“ (37). Überhaupt stilisieren sich Orest und Pylades permanent selbst zu moralischen Vorbildern. Ähnlich verhält es sich, als es darum geht, wer wegen des Angriffs auf den Hirten geopfert werden soll: Pylades möchte nicht überleben, da er Angst davor hat, in Griechenland als Mörder Orests verdächtigt zu werden. Die Furcht vor übler Nachrede ist so groß, dass er lieber sterben möchte, als allein in die Heimat zurückzukehren. 190 Ein ehrloses Leben würde er nicht ertragen: „Wo bleibt die Ehre dann? Mich schrecket der Verdacht, / Weil jeder sagen wird, daß ich ihn umgebracht.“ (39) Er fordert Iphigenia verzweifelt auf, seinen Ruhm zu retten (39). Wie für die Helden der französischen Tragödie ist das Streben nach Ruhm eine wesentliche Triebfeder für Pylades’ Handeln: 191 „Ist nicht mein Name mehr, als dies verhaßte Blut? “ (46) Ehre ist für Pylades etwas, das zunächst einmal nach außen manifestiert werden muss. Iphigenia setzt sich mit diesem veräußerlichten und zutiefst unvernünftigen Ehrbegriff auseinander. Sie entlarvt Pylades als einen Freund, der „darum redlich ist, damit er redlich scheint“ (46). Seinem Beharren auf das äußere Ansehen setzt sie innere Werte gegenüber. So überzeugt sie schließlich Pylades, sein Leben nicht sinnlos wegzuwerfen. Iphigenia wirkt gleichsam als Katalysator für Pylades’ Ehrbegriff: Nachdem sie ihm ins Gewissen geredet hat, ist er fähig, nach altruistischen Motiven zu handeln. Pylades’ Entwicklung ist weniger an seinem Handeln sichtbar, das nach wie vor heroischen Maßgaben folgt, als vielmehr an der veränderten Motivation, die diesem Handeln zugrunde liegt. Die Folgen von Iphigenias Einwirken zeigen sich am Dramenschluss. Angesichts des wütenden Thoas erklärt jeder der beiden Freunde absolut uneigennützig, er sei Orest, um so dem anderen das Leben zu retten. 192 Dieses Bewunderung heischende Tugendduell, das Schlegel wohl aus La Granges Drama übernahm, geht letztlich auf Ciceros Traktat De Amicitia (44 v. Chr.) zurück. Dort berichtet Laelius von der außergewöhnlichen Wirkung, 190 Vgl. Euripides, Iphigenie im Taurerlande, V. 674-686, wo Pylades seine Furcht artikuliert, man werde ihn, wenn er allein zurückkehrte, für den Mörder Orests halten. 191 Vgl. etwa die Zeichnung Achills in Racines Iphigénie: „Les Dieux sont de nos jours les maîtres souverains; / Mais, Seigneur, notre gloire est dans nos propres mains.“ (Racine, Iphigénie, S. 682) 192 Vgl. Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, Halle 1936, S. 137: „Dabei geht es aber hier, im Gegensatz zu der entsprechenden Szene des dritten Aktes, um ein im rationalen Sinne ‚zweckvolles’ Opfer, da Pylades hier an Stelle des Freundes sterben will, um ihn selbst dadurch zu retten.“ <?page no="60"?> 60 die ein nur in spärlichen Fragmenten erhaltenes Iphigenie-Drama des Marcus Pacuvius auf das Publikum ausgeübt hätte. 193 Großer Beifall kam auf „an der Stelle, wo der König nicht wußte, wer von beiden Orestes sei, und Pylades sich für Orestes ausgab, um für ihn den Tod zu erleiden; wo dann der wirkliche Orestes darauf bestand, Orestes zu sein“. 194 Der hohe Stellenwert der Freundschaft in Schlegels Drama wird auch daran deutlich, dass der Freundschaftskult die Anagnorisis der Geschwister herbeiführt: Als sich Pylades als Grieche zu erkennen gibt, führt dies letztlich zur Wiedererkennung von Iphigenia und Orest. Insgesamt wird deutlich, wie sich Schlegel bemüht, Statik in der Figurenkonstellation zu vermeiden: 195 Von Hierarchus einmal abgesehen, der allerdings nur die Funktion eines Deus ex machina erfüllt, macht Pylades von allen Figuren die größte Entwicklung durch. Sein Fehler, die übermäßige Ruhmsucht, wird korrigiert, so dass er nun zu originär selbstlosem Handeln fähig ist. Was zuvor selbstlos schien, war in Wirklichkeit in hohem Maße selbstsüchtig. Der Horizont des Aufklärungsdramas reicht allerdings noch nicht so weit, dass auch Thoas in den Kreis der Aufgeklärten integriert werden könnte. Anders als Dionys in Schillers Bürgschaft kann Thoas niemals als „dritter im Bunde“ 196 aufgenommen werden. Eine solche Wandlung stünde auch in größtem Gegensatz zu Gottscheds Ablehnung des sich verändernden Charakters; 197 eine Humanisierung zu erwarten, wie sie etwa Goethes Thoas durchmacht, wäre schlichtweg ahistorisch. Schlegels Thoas verurteilt kurzerhand alle zum Tode und kann sich dabei der Sympathie moderner Leser sicher sein, die der Tugendwettstreit ermüdet zurücklässt. Schlegel stellt die Freundschaftsthematik so stark in den Vordergrund, dass daneben der eigentliche Grundgehalt der Vorlage in den Hintergrund rückt. Dies dürfte an der Tradition der Iphigenie-Interpretation liegen: Bereits in der Antike galten Orest und Pylades als Beispiel mustergültiger uneigennütziger Freundschaft, wie das Beispiel Ciceros deutlich gemacht hat. In der Literatur seit der Aufklärung wurde der Name Pylades gleichsam zum Synonym für einen treuen Freund. So sehnt sich Wielands Agathon nach einem Pylades, dem er sich anvertrauen kann, 198 und Goethe bezeich- 193 Das nicht erhaltene Drama hatte wohl die Ereignisse nach Orests Muttermord zum Thema. Vgl. Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme, S. 291 (Fußnote). 194 Marcus Tullius Cicero, Cato der Ältere über das Alter. Laelius über die Freundschaft, lateinisch-deutsch, hrsg. von Max Faltner, München/ Zürich 1988, S. 138. 195 Anders Gaby Pailer, Männerfreundschaften, Frauenopfer und andere unerhörte Taten: Umschreibungen der ‚tauridischen’ [! ] Iphigenie in deutschsprachigen Dramen des 18. Jahrhunderts, in: The Germanic Review 78 (2003), S. 113-132. Pailer schreibt: „Iphigenia, Orest und Pylades bilden eine Figuren-Trias, die keine Entwicklung durchlebt und grundsätzlich gegenüber dem barbarischen Tyrannen im Recht ist.“ (Ebd., S. 118) 196 Friedrich Schiller, Die Bürgschaft, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. I, S. 352-356, hier S. 356. 197 Gottsched, CD, S. 619. 198 Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon. Erste Fassung, hrsg. von Fritz Martini, Stuttgart 1996, S. 230f. <?page no="61"?> 61 net im dritten Buch von Dichtung und Wahrheit seinen ersten Jugendfreund, der ihm die erste große Enttäuschung beibrachte, ironisch als seinen Pylades. 199 In diesen Traditionszusammenhang gehört auch Schlegels Drama. Wie zentral der Freundschaftskult mit dem Iphigenie-Stoff verbunden wurde, macht ein Totengespräch deutlich, das 1745 in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, den Bremer Beiträgen, erschien. 200 Dort erzählt der Geist des Pylades dem Menschenfeind Timon, für den Menschenliebe „Bösewichterliebe“ 201 ist, die Geschichte seiner Freundschaft zu Orest als heroisches Beispiel; dabei folgt der anonyme Autor genau der Handlungsführung von Schlegels Drama. Der mahnende Charakter dieses Totengesprächs weist zurück auf die eben auch pädagogische Intention des Stücks. 4.2.3. Maximen vernünftigen Handelns: Die List Als Iphigenia Thoas erzählt, das Standbild der Göttin habe sich bewegt, reagiert der taurische König entsetzt. Er fällt prompt auf die plumpe List herein und gestattet Iphigenia, alles zu veranlassen, was für die angeblich erforderliche rituelle Reinigung notwendig sei. Die komödiantischen Elemente dieser Intrigenhandlung sind überdeutlich. Sie treten bereits bei Euripides klar zu Tage, wo ein Bote berichtet, wie die Griechen das Standbild vor den Augen der in religiöser Ehrfurcht erstarrten Taurer auf ihr Schiff gebracht hätten. 202 Der genarrte Barbar, der sich die Augen zuhält während die Griechen das Götterbild rauben, ist ein eindeutig komisches Bild. 203 In Schlegels Drama nimmt die Intrige breiten Raum ein. Ungewöhnlich scheint dabei, 199 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1998, erste Erwähnung S. 48. 200 Todtengespräche. Timon. Pylades, in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bd. I, 6. Stück, Bremen 1745, S. 527-536. Ein Hinweis findet sich bei Rasch, Freundschaftskult, S. 137. Ausführlicher zur Gattung die Studie von John Rutledge, The Dialogue of the Dead in Eighteenth-Century Germany, Bern/ Frankfurt a. M. 1974. Auf S. 62 kurz zu dem Totengespräch zwischen Timon und Pylades. 201 Todtengespräche, S. 528. 202 Vgl. Euripides, Iphigenie im Taurerlande, V. 1327ff. 203 Vgl. Bernd Seidensticker, Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der griechischen Tragödie, Göttingen 1982, S.199-211, bes. S. 109; Bernard Knox, Euripidean Comedy, in: Ders., Word and Action. Essays on the Ancient Theater, Baltimore/ London 1979, S. 250-274. Eine ganz ähnliche Situation findet sich in Rossinis L’Italiana in Algeri, wo der tumbe Orientale glaubt, an einem ehrsteigernden Ritual teilzunehmen, während tatsächlich vor seinen Augen seine Haremsdame entführt wird. Der Einfluss von Euripides auf die griechische Komödie wurde vielfach untersucht, etwa im Hinblick der Wirkung der Anagnorisis-Struktur. Vgl. Bernhard Zimmermann, Die griechische Komödie, Düsseldorf/ Zürich 1998, S. 207f. <?page no="62"?> 62 dass Iphigenia als treibende Kraft auftritt, während bei Euripides Pylades die Intrige einleitet. Bei Schlegel muss Iphigenia ihr Handeln rechtfertigen: List ist zwar an für sich moralisch fragwürdig, als Mittel gegen Barbaren ist sie allerdings erlaubt: Ich hasse List und Trug, den man an Freunden übet. / Doch den gemeinen Feind, der Griechenland betrübet, / Und der durch Grausamkeit der Göttinn unwerth ist; / Wer diesen hintergeht; da lob ich Trug und List. (53) Diese pragmatische Sichtweise auf listiges Handeln erinnert nicht zufällig an Orests Worte im Prolog der Elektra des Sophokles, wo es - in Schlegels Übersetzung - heißt: „Ein Wort, das Nutzen schafft, kann niemals Uebels bringen.“ 204 Überhaupt sind die Parallelen zu Elektra nicht zu übersehen: So wird in beiden Dramen eine Tat von langer Hand vorbereitet; auch das Motiv der Totenspende dürfte dem Elektra-Stoff entnommen sein, wohl den Weihgußträgerinnen des Aischylos. So entsteht der Eindruck, Rachsucht sei ein wesentliches Motiv für Iphigenias Intrige. Schlegels Protagonistin erscheint als legitime Schwester Elektras mit durchaus ähnlichen Charakterzügen. Sie möchte Thoas demütigen und ihm seine Unterlegenheit deutlich machen. Ihre Ablehnung des Mordes erwächst somit nicht aus Humanitätsvorstellungen, sondern aus persönlichen und durchaus unedlen Motiven. Orests blutdürstige Rachephantasie muss zurückstehen hinter einem ausgeklügelten Plan, dem Tyrannen die Begrenztheit seiner Macht vorzuführen, ihm und allen zu demonstrieren, wie sein unaufgeklärter Aberglaube sein politisches Handeln negativ beeinflusst. Dass die List schließlich erfolglos bleibt und Orest tatsächlich „des Tyrannen Blut“ (51) vergießt, macht die Niederlage Thoas’ doppelt bitter. Iphigenia lässt sich von persönlichen Gefühlen leiten. Sie postuliert kein allgemeines Menschheitsethos, sondern folgt Regeln der praktischen Vernunft, um den Vorteil ihrer Partei zu wahren. 4.2.4. Der Dramenschluss: Tyrannenmord und Aufklärung In Euripides’ Iphigenie im Taurerlande treibt ein widriger Wind die geflohenen Griechen wieder zurück. Erst das Eingreifen von Athene bewirkt, dass Thoas die Verfolgung aufgibt. In diesem Dramenschluss ist das aitiologische Moment deutlich zu greifen: Die Göttin Athene erscheint und stiftet versöhnlich einen neuen Kult. In der ersten - nicht erhaltenen - Fassung seines Dramas folgte Schlegel dieser Konstellation: König Thoas bleibt am Leben und lässt voll Ehrfurcht vor der Gottheit die Griechen ziehen. 205 Die Diskrepanz zur endgültigen Fassung könnte größer kaum sein. Dort erklärt der 204 Des Sophokles Elektra, in: Schlegel, Werke, Bd. I, S. 385-484, hier S. 400. 205 Vgl. Schlegel Orest und Pylades, S. 4 (Vorrede von Johann Heinrich Schlegel). Es ist bezeichnend für den hohen Stellenwert der französischen Literatur, dass sich J. E. Schlegel unter französischem Einfluss von der Dramaturgie seiner Vorlage abwendet. <?page no="63"?> 63 Priester Hierarchus die bisherige Opferpraxis sei nichtig - und dies über den sterbenden Thoas hinweg: „Hier soll kein Grieche mehr durch uns geopfert werden; / Ihr selbst seyd Opfer werth, und Götter auf der Erden.“ (68) Diese Änderung Schlegels - wohl unter Einfluss des Dramas von La Grange, das er während der Umarbeitungen kennengelernt haben muss hat einen Grund darin, dass durch sie göttliches Eingreifen so weit wie möglich eliminiert wird. Allerdings ist die Ersetzung durch den Priester Hierarchus, der sich auf einmal an eine alte Prophezeiung erinnert und erkennt, dass Menschenopfer dem göttlichen Willen entgegenstehen, wenig befriedigend. Eine weitere Ursache für die Änderung Schlegels dürfte darin liegen, dass sie eine vor dem Horizont der Gottschedschen Poetik glaubwürdigere Personenzeichnung ermöglicht. Den barbarischen Thoas gewandelt darzustellen, hätte gegen das Gebot des einheitlichen Charakters verstoßen. Lediglich eine nicht näher vertiefte Nebenfigur wie Hierarchus, der ohnehin lediglich Sprachrohr für aufklärerisches Gedankengut ist und ansonsten über keinerlei Eigenleben verfügt, kann aufgrund rationaler Auslegung eines Orakels seine Ansichten fundamental verändern. Johann Heinrich Schlegel führt zudem an, dass die neue Schlussfassung weniger langweilig sei, da alle Protagonisten wieder auf der Bühne versammelt seien. 206 Und tatsächlich hat die Szene, in der sich die beiden Parteien in einer Konfliktsituation gegenüberstehen, beträchtliches dramatisches Potenzial. Thoas ist ähnlich aufklärungsresistent wie Osmin in Mozarts Entführung aus dem Serail (1782). 207 Er hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt, ja kann sie aufgrund seiner Persönlichkeit nicht erkennen. Im Sterben wird Thoas zu einem Zerrbild des Barbaren, der bereits ein Fremdkörper in einer rasch aufgeklärten Gesellschaft geworden ist. Aufklärung ist bei Schlegel kein langwieriger Prozess, sondern wird von großen Individuen stellvertretend für das Volk von oben herab dekretiert. Im Horizont von Schlegels Drama kann Thoas eben kein edler Wilder sein; er ist - ähnlich wie die untugendhaften Figuren im weinerlichen Lustspiel - nicht in eine aufgeklärte Gesellschaft integrierbar, deren Werte Freundschaft und Aufrichtigkeit sind. Anders als die Lustspielfiguren steht Thoas dem Aufklärungsprozess im Wege und muss deshalb beseitigt werden. Dieses tödliche Ende trennt Schlegels Drama klar von der Komödie. Allerdings lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten mit der Typenkomödie nicht leugnen: Thoas’ Laster wird der Lächerlichkeit preisgegeben. 208 Sein blinder Aberglaube offenbart sich als schwerwiegendes Defizit, das es unmöglich macht, ihn in eine humane aufgeklärte Gesellschaft einzugliedern. Die Intrige als Rache Iphigenias führt den tumben Barbaren vor und gibt ihn der Lächerlichkeit preis. 206 Vgl. Schlegel, Orest und Pylades, S. 4 (Vorrede von Johann Heinrich Schlegel). 207 Vgl. Christoph-Hellmut Mahling, Die Entführung aus dem Serail. Singspiel in drei Aufzügen, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 4, München/ Zürich 1991, S. 299-303. 208 Vgl. Horst Steinmetz, Die Komödie der Aufklärung, 3. Auflage, Stuttgart 1978, S. 19-48. <?page no="64"?> 64 Ein „blindes Volk in seines Wahnes Nacht“ (53) kann sich offenbar nicht selbst aufklären. Dazu bedarf es des aufgeklärten Priesters Hierarchus, 209 der auf dem Boden der alten Ordnung eine neue etabliert, indem er alte Überlieferungen zeitgemäß interpretiert. Die Einheit von Vernunftreligion und politischer Macht ist umso mehr zu begrüßen, als Hierarchus zuvor Thoas’ Autorität in religiösen Fragen als folgenschwere Verirrung gegeißelt hatte. Schlegel zeichnet Thoas mit einer ganzen Anzahl von Kennzeichen des ungerechten Herrschers aus: Der Tyrannenmord ist in dieser Konstellation der einzige Ausweg. Nach zeitgenössischer Vorstellung ist solch eine gewaltsame „Dethronisierung“ möglich, wenn der Herrscher nicht mehr das Wohl des Gemeinwesens im Auge hat. 210 Genau dies ist in Schlegels Drama der Fall. Allerdings handelt Thoas nicht wissentlich gegen die Interessen seines Volkes. Im Gegenteil, er zeigt sich zeitweise als gerechter Landesvater, dem das Wohl seiner Untertanen am Herzen liegt. 211 Im Rangstreit mit Hierarchus wird allerdings deutlich, dass er im Gegensatz zu überkommenen Bräuchen eine despotische Alleinherrschaft errichtet hat, die sich allein auf militärische Stärke beruft. Sein Ende dient somit dem Wohl des taurischen Volkes ebenso wie dem der Griechen. 212 Insgesamt lässt sich an Schlegels Drama beobachten, wie zeitgenössische Diskurse in die Bearbeitung der griechischen Tragödie mit einfließen. Diese Umwertung 213 betrifft vor allem die Akzentverschiebung von den Geschwistern hin zur heroisch konnotierten Freundschaft zwischen Orest und Pylades und die Abwertung Iphigenias, 214 aber auch den Aufklärungsprozess, der auf offener Bühne vollzogen wird. Wie im Fall von Schlegels Trojanerinnen rückt auch in Orest und Pylades die politische Sphäre in den Vordergrund, wobei das negative Geschichtsbild des früheren Dramas nun ins Positive gewendet erscheint. Dass so der griechischen Tragödie fremde Elemente integriert wurden, fällt erst aus gewisser Distanz auf, da die Handlung in wesentlichen Zügen dem Vorbild des Euripides folgt. Der ideengeschichtliche Hintergrund allerdings ist völlig verändert. 209 Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Religion Karlfried Gründer u. Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989. 210 Vgl. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon […], 4. Auflage, Leipzig 1775 (EA 1726), Sp. 700ff. Vgl. die Ausführungen im folgenden Kapitel. 211 So zeigt er sich etwa gegenüber den von Orest bedrängten Hirten als verantwortungsvoller Herrscher. Vgl. Schlegel, Orest und Pylades, S. 28f. 212 Allerdings repräsentiert Schlegels Orest und Pylades nur eine Seite der Tyrannenmordkontroverse. Einen allgemein akzeptierten Konsens gibt es in dieser Debatte nicht. So ist in Derschaus Drama der Regimewechsel dadurch legitimiert, dass Thoas als Usurpator an die Macht gekommen ist und nach seinem Tod die legitime Dynastie wieder eingesetzt wird. Auch in diesem Drama, das sich wie Schlegels Orest und Pylades auf französische Quellen beruft, geht es um Freundschaft und Tyrannenmord, auch dort wird eine neue Regierung installiert. 213 Vgl. zur Umwertung Genette, Palimpseste, S. 493-502. 214 Ebd., S. 472-477 zur Aufwertung, S. 477-482 zur Abwertung. <?page no="65"?> 65 5. Christoph Friedrich von Derschau: Pylades und Orestes oder Denckmaal der Freundschafft. Ein Trauerspiel Die große Beliebtheit des Iphigenie-Mythos im 18. Jahrhundert bezeugt ein weiteres Drama: 215 Pylades und Orestes oder Denckmaal der Freundschafft, eines von lediglich zwei Dramen des preußischen Beamten und späteren ostfriesischen Regierungspräsidenten Christoph Friedrich von Derschau, 216 entstand 1746 und erschien im folgenden Jahr anonym. 217 1756 wurde das Trauerspiel anlässlich des Geburtstags von Kaiserin Maria Theresia in Wien aufgeführt 218 und erneut 1758 im siebten Teil der Deutschen Schaubühne zu Wienn gedruckt, einer an Gottscheds Deutscher Schaubühne orientierten Dramensammlung. Letztmals erschien das Stück 1772 in einer von Derschau herausgegebenen Sammlung seiner Werke, dem Andenken für meine Freunde. Derschaus Drama spielt in Taurien, wo der Grieche Thoas als Usurpator herrscht. 219 Er ist der Bruder des von Orestes getöteten Ägisth. Seine Tochter Tomire wiederum verbindet ein zärtliches Verhältnis mit Pylades, der schon seit längerem als geachteter Heerführer am taurischen Hof lebt. Als Orestes erscheint, der sich im Tempel der Diana von seiner Schuld entsühnen - aber nicht wie bei Euripides das Götterbild rauben - will, kommt es zur ersten Anagnorisis des Dramas: Voll Freude erkennen sich die Freunde wieder. Der ehrliche Orestes gibt sich entgegen Pylades’ Ratschlägen gegenüber 215 [Christoph Friedrich von Derschau], Pylades und Orestes oder Denckmaal der Freundschafft, Liegnitz 1747. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 216 Vgl. zu Derschaus Leben und Werk August Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Marburg 1911; Marion Schmitz, Christoph Friedrich von Derschau, in: Walther Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 3, Gütersloh/ München 1989, S. 29; sowie zu Pylades und Orestes Olga Franke, Euripides bei den deutschen Dramatikern des 18. Jahrhunderts, S. 81-84; Robert Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme bzw. German Tragedy in the Age of Enlightenment; Frick, Die Schlächterin und der Tyrann. 217 Allerdings war die Anonymität nicht gewollt; so nennt die Ankündigung den Namen des Autors: Vgl. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste, IV. Bd., 2. Stück, Leipzig 1747, S. 191. 218 Damit gehört das Drama in die lange Reihe von bei staatstragenden Gelegenheiten aufgeführten Iphigenie-Bearbeitungen. Ob es sich um die Uraufführung handelt, konnte ich nicht ermitteln. 219 Der Erstdruck schreibt durchgehend Troas, die späteren Drucke ersetzen diesen offensichtlichen Druckfehler. Im Folgenden wird die Namensform Troas durchgehend durch Thoas ersetzt. Dies rechtfertigt die von Derschau selbst besorgte Ausgabe, das Andenken an meine Freunde, wo durchgehend die Form Thoas verwendet wird. Bereits Gottscheds Rezension erklärte den Fehler durch mangelnde Beteiligung des Autors am Erstdruck. <?page no="66"?> 66 Thoas sofort zu erkennen. Der Tyrann frohlockt und befiehlt Iphigenia, der Oberpriesterin der Diana, den Frevler zu opfern, da dieser das Götterbild habe rauben wollen. Sie ist zunächst von Mordlust erfüllt; erst als sie und Orestes sich in der zweiten Anagnorisis-Szene erkennen, herrscht Ratlosigkeit vor. Ein Orakelspruch erklärt, jemand von königlichem Blut müsse sterben. Pylades versucht alles, um den Freund zu retten. Im Konflikt zwischen der Liebe zu Tomire und der Freundschaft zu Orestes siegt die Freundschaft. So gibt sich Pylades für Orestes aus, um Thoas’ Zorn auf sich zu lenken. Doch Orestes will dieses Selbstopfer nicht zulassen. Angesichts eines „doppelte[n] Orestes“ (62) verurteilt Thoas die beiden Freunde und Iphigenia zum Tode. Inzwischen wird von der Ankunft des alten Hermes - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Gott - berichtet, der dem Volk offenbart, wie Thoas seinen Vorgänger ermordet habe. Tomire, so Hermes, sei in Wahrheit die Tochter des letzten rechtmäßigen Königs Unkam. Thoas tötet den Alten; im Gegenzug durchbohrt ihn Orestes mit dem Schwert. Tomire wird neue rechtmäßige Königin Tauriens. Auch wenn Derschau in den dem Drama nachgestellten Bemerkungen erklärt, die euripideische Iphigenie im Taurerlande habe ihm als Hauptquelle gedient, und er einen Einfluss von La Grange-Chancels Drama entschieden verneint, 220 so ist doch offenkundig, dass Derschau von La Granges Oreste et Pilade stark beeinflusst wurde. Überhaupt wurde Derschau nach eigenem Bekunden von Theaterbesuchen in Paris dazu angeregt, sich als Dramatiker zu versuchen; 221 während seiner Zeit in Frankreich, wo er sich zwischen 1736 und 1739 aufhielt, hätte er La Granges populäres Stück ohne weiteres zur Kenntnis nehmen können. Inhaltliche Parallelen unterstützen diese Vermutung: So kommen in La Granges Drama Oreste und Pilade wie bei Derschau getrennt in Tauris an; ihre Anagnorisis ist mindestens ebenso wichtig wie die der Geschwister. La Grange stellt die Freundschaftsthematik in den Vordergrund und marginalisiert zugleich die Figur der Iphigénie. Die eigentliche weibliche Protagonistin seines Dramas ist Thomiris, die rechtmäßige Thronerbin von Tauris. Diese Figur übernimmt Derschau ebenso wie die Beschreibung der taurischen Menschenopfer: In beiden Dramen herrscht kein institutionalisierter Opferkult, lediglich Orest soll geopfert werden. 222 Diese Entsprechungen sind zu prägnant, um zufällig zu sein. 220 „Wir haben auch im Frantzösischen ein Trauerspiel gleichen Nahmens von La Grange, welches mir anfänglich unbekannt gewesen, und dessen Einrichtung von der meinigen gäntzlich unterschieden ist.“ (Derschau, Orest und Pylades, S. 88) 221 Rückblickend schreibt Derschau: „Der Besuch der Pariser Schaubühne hatte bey dem Verfasser die Lust erwecket, zur Vorstellung in Privatgesellschaften diesen Versuch in seiner Muttersprache zu unternehmen.“ [Christoph Friedrich von Derschau], Andenken an meine Freunde, Aurich 1772, unpaginierte Vorrede. 222 Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 95ff., leugnet den Einfluss mit schwachen Argumenten gänzlich, Heitner, The Iphigenia in Tauris Theme, S. 297, hält ihn mit guten Gründen für unübersehbar. <?page no="67"?> 67 Dass Derschau hingegen Kenntnis von Schlegels Iphigenie-Drama besaß, ist eher unwahrscheinlich, da dieses zu dem Zeitpunkt der Entstehung von Pylades und Orestes noch nicht gedruckt war und sich Derschau zu den Hochzeiten der Popularität von Schlegels Drama nicht in Deutschland aufhielt. Dennoch weist Derschaus Drama etliche Ähnlichkeiten mit Schlegels Orest und Pylades auf, die wohl wiederum auf La Granges Iphigenie-Drama zurückzuführen sind, das beiden Autoren bekannt war. Allerdings ist Derschau in weit höherem Maß als Schlegel von dem französischen Drama abhängig. Deutlich ist, dass Derschau versucht, die Handlung der euripideischen Vorlage anzureichern. Lehnt sich Schlegel recht eng an die griechische Vorlage an, so entfernt sich das Drama Derschaus in vielfacher Hinsicht von der euripideischen Iphigenie im Taurerlande, auch wenn für den hohen Stellenwert, den die griechische Tragödie genoss, bezeichnend ist, dass Derschau sie dennoch als Hauptquelle anführt. Während Schlegel geradezu programmatisch auf eine Erweiterung durch Liebesintrigen verzichtet, kommt bei Derschau die Liebesgeschichte zwischen Pylades und Tomire hinzu. Sie dient dazu, Pylades in einer inneren Konfliktsituation darzustellen und zugleich seine Freundschaft zu Orestes aufzuwerten, da er sie über seine Liebe zu Tomire stellt. Wie bereits erwähnt, sind Menschenopfer in Derschaus Taurien nicht die Regel: Die geplante Opferung Orestes’ ist lediglich eine als religiöse Handlung getarnte Rachetat des Usurpators Thoas. Iphigenia hat keinerlei Hemmungen, das Opfer tatsächlich zu vollziehen. Von einem Gegensatz zwischen aufgeklärter und unaufgeklärter Religionsausübung, wie er in Schlegels Drama sinnfällig wird, kann keine Rede sein. So geht auch Derschau in der Marginalisierung Iphigenias viel weiter als Schlegel. Sie ist eindeutig unsympathisch und kaum mehr als eine Randfigur in dem „Denckmaal der Freundschafft“, dessen Hauptfigur der zwischen Freundschaft und Liebe hin- und hergerissene Pylades ist. Im Gegensatz zu dem heroischen Freundespaar steht Thoas. Dessen Negativzeichnung übertrifft sowohl Euripides’ als auch Schlegels Darstellung des taurischen Königs. Als Grieche steht er in Derschaus Drama nicht mehr für Barbarei, sondern für individuelles herrscherliches Versagen. Diese Aspekte sind wie bei Schlegel eng mit der politischen Thematik des Dramas verknüpft. So diskutiert Derschau die Problematik des Tyrannenmords ebenso wie die Frage nach legitimer Herrschaft und die Möglichkeiten politischer Umwälzung. Dies geschieht allerdings gerade nicht im Rahmen einer Dichotomie von Griechen und Barbaren. Neben den Iphigenie-Dramen von Euripides und La Grange griff Derschau auch auf Hygins Fabeln sowie auf Benjamin Hederichs Gründliches Lexicon Mythologicum zurück. 223 Von zentraler Bedeutung ist allerdings seine enge Bindung an Gottscheds Positionen: Bereits 1735 lernte Derschau Gottsched in Leipzig kennen; bis an sein Lebensende blieb er ein überzeugter 223 So Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 65. <?page no="68"?> 68 Anhänger von dessen Ansichten. 224 Es sollten aber mehr als zehn Jahre vergehen, bis sich Derschau - von Gottsched offenbar engagiert gefördert - selbst auf dem Gebiet des Dramas versuchte. Tatsächlich bewegt sich Derschaus Alexandrinertragödie formal auf dem Boden von Gottscheds Critischer Dichtkunst. In der Gestaltung der Tomire finden sich zudem deutliche inhaltliche Anklänge an die Figur der Portia aus Gottscheds Sterbendem Cato. 225 In einem Lobgedicht auf die deutsche Literatur, das Gottsched 1757 Friedrich II. überreichte, erschien Derschau als „der Tragöde“, 226 als sei er der tragische Dichter schlechthin. Zu einem Zeitpunkt, als viele von seinen Anhängern bereits in Distanz zu ihm gegangen waren, war Gottsched offenbar für jede Unterstützung aus der jüngeren Generation dankbar. Pylades und Orestes sollte auch in den für 1752 geplanten Folgeband der Deutschen Schaubühne aufgenommen werden, der allerdings niemals erschien. 227 Die Rezension in Gottscheds Neuem Büchersaal stellt Derschaus Drama als „eine abermalige Zierde der deutschen Schaubühne“ dar. 228 Im Nöthigen Vorrath, Gottscheds Übersicht über die deutsche Dramatik, erscheint es als Stück, das „große Schönheiten, neben einer völligen Regelmäßigkeit“ besitze. 229 Während Gottsched also das Drama für äußerst gelungen hielt, 230 fielen andere Reaktionen zurückhaltender aus. So bemängelte der Rezensent der Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen sowohl sprachliche Defizite als auch Unwahrscheinlichkeiten in der Handlungsführung. 231 Derschau habe „auch nicht genug sich erinnert, daß die Personen und nicht der Dichter“ in der Tragödie sprechen sollten; 232 die Gestalt der Tomire sei störend, da sie das Interesse des Lesers von Iphigenia und Orestes zu sehr ablenke. 233 Trotz dieser durchaus zutreffenden Diagnose genoss Derschaus Drama - wie die Aufführungsnachweise andeuten - zumindest für einige Jahre eine gewisse 224 Vgl. ebd., S. 10f. Laut Hottenrott handelte es sich dabei um die einzige Begegnung, Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, S. 493, nimmt einen regelmäßigen Umgang in den 1740ern an. 225 So Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 74ff. Sowohl Arsene bzw. Portia als auch Tomire sind untergeschobene Kinder. 226 Vgl. Gustav Waniek, Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897, S. 660. Gottscheds Gedicht lag mir nicht vor. 227 Ebd., S. 631. 228 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste, IV. Bd., 4. Stück, Leipzig 1747, S. 347-371, hier S. 368. 229 Johann Christoph Gottsched, Nöthige Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst […], Bd. I, Leipzig 1757, S. 326. 230 Ebd. 231 Vgl. Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1748, 25. Stück, S. 198. „Es ist auch völlig unwahrscheinlich, wann Pylades sich für den Orestes ausgiebt, und also dem Hof bereden will, Orestes hätte mit dem Bruder des Aegisthus Freundschaft gesucht, und für denselben Siege erfochten: und es ist also ganz natürlich, daß niemand durch diese Romanische Vorstellung sich wird betriegen lassen.“ 232 Ebd. 233 Ebd. <?page no="69"?> 69 Popularität, so dass Hottenrotts Vermutung, Goethe könnte das Drama gekannt haben, 234 nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist. 5.1. Die Figur der Iphigenia Bei ihrem ersten Auftritt im zweiten Akt des Dramas berichtet Iphigenia von einem Angsttraum, den sie als Vorzeichen des Untergangs von Thoas’ Herrschaft interpretiert. Ihr Verhältnis zu dem Tyrannen scheint gespalten: So begrüßt sie geradezu enthusiastisch die Opferung des fremden Tempelschänders. Ihr Hass auf alles Griechische - ein Zug, den Derschau von Euripides übernimmt 235 - lässt sie in der Opferung kein Unrecht erkennen. Erst als ihr bewusst wird, dass sie ihren eigenen Bruder töten muss, verändert sich ihre Einstellung zu dem Opfer, das sie von nun an ablehnt. Ihre Gewohnheit sei, so Pylades, „schon zur Mordsucht abgehärtt“ (33) - ein Hinweis darauf, dass zwar Opfer in Derschaus Taurien nicht institutionalisiert, allerdings auch nicht außergewöhnlich sind. Die Anagnorisis lässt Iphigenia konsterniert zurück. Sie fügt sich scheinbar fatalistisch in ihr Schicksal und zeigt zunächst keinerlei Initiative, einen Rettungsplan zu ersinnen. Lediglich ein Besuch beim Orakel soll Hilfe bringen. Der Orakelspruch, den sie erhält, ändert zunächst nichts an ihrer Verzweiflung: Nichts rettet ihn von der Gefahr, / Orestes muß noch heute sterben, / Es möchte denn den Brandaltar / Ein Opfer, das gekrönt, statt seiner, blutig färben. (39) Erst allmählich kommt sie auf den Gedanken, dass mit dem königlichen Opfer auch Thoas gemeint sein könnte. Diese Beobachtung verleitet sie zu der durchaus unpriesterlichen Feststellung: „Wer weiß? Diana zielt vielleicht auf den Tyrann. / Er führet auch ein Blut, das man vergiessen kann“ (69). Sprach bei Euripides noch Orest die Idee des Königsmordes erstmals an, 236 so bedeutet bei Derschau Iphigenias Hinweis nichts weniger als eine völlige Umakzentuierung der Figur hin zu einer männlich-heroischen Verhaltensmustern verpflichteten Kriegerin, die deutliche Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Elektra aufweist. Sie möchte das unruhig gewordene Volk instrumentalisieren, um Orestes und Pylades vor dem Tod zu bewahren. Dabei gebraucht sie das Ansehen, das sie wegen ihres Amtes genießt, als Mittel 234 Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 92-95, führt - wenig überzeugend - einige Verse Derschaus an, die einen Einfluss auf Goethe belegen sollen; auch das mehrdeutige Orakel Goethes scheint mir eher auf Racines Iphigénie als auf Derschaus Orest und Pylades zurückzugehen. 235 Vgl. Euripides, Iphigenie im Taurerlande, V. 344ff. 236 Ebd., V. 1020: „Erschlagen wir den König! Ist das nicht ein Weg? “ <?page no="70"?> 70 zum Zweck: „Es wird die Heiligkeit der Vorwand meiner Rache, / Aus eurer Rettung selbst, mach ich der Götter Sache“ (70). Priesterbetrug, den etwa Voltaire in dem programmatischen Gedicht Epître à Uranie 237 scharf kritisiert, wird hier von Iphigenia bedenkenlos ausgeübt. Ihr Priesteramt hat für sie anscheinend keine tiefere Bedeutung. 238 Wie Schlegels Iphigenia wird auch Derschaus Protagonistin von dem Wunsch nach Rache getrieben. Dabei instrumentalisiert sie die Religion ebenso wie Thoas, der die Opferung Orestes’ aus Rache für den Tod seines Bruders gleichsam theologisch verbrämt hatte. Während bei Schlegel die Frage nach der richtigen Art des Götterkultes einen hohen Stellenwert hat, fällt die religiöse Dimension bei Derschau nahezu völlig weg. Auch die Orakel unterliegen menschlicher Deutungshoheit. So interpretiert Iphigenia den Spruch erst dann anders, als sie ihren Bruder zu retten wünscht (69f.). Allerdings bleibt ihr Handeln letztlich wirkungslos, da der zurückgekehrte Hermes ungleich größere demagogische Qualitäten besitzt. Ihr Einfluss auf die Handlung bleibt marginal - anders als bei Euripides hat sie keinerlei Anteil am glücklichen Ausgang -, sie wirkt unsympathisch und in ihrem Handeln inkonsistent. Die Umwertung der Figur ist wenig geglückt; Derschau gelingt es noch weniger als Schlegel, die Figur der Iphigenia interessant zu machen: Letztlich hätte Derschau auf sie verzichten können, ohne damit die Substanz des Dramas wesentlich zu schwächen, da sie - anders als die Iphigenia Schlegels - zur puren Stichwortgeberin reduziert wird. Dazu passt, dass sie am Dramenschluss im allgemeinen Jubel nicht anwesend ist: Sie hat sich zuvor aus Derschaus Drama verabschiedet. Diese Abwertung der Iphigenie-Figur 239 ist symptomatisch für die heroische Tragödie der Gottsched-Zeit. Derschaus durchaus homoerotisch getönter Freundschaftspreis drängt die Frauenfiguren an den Rand, macht sie zu Zuschauerinnen der männlichen Tugenddemonstration. 237 Voltaire, Epître à Uranie, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. I B, Oxford 2002, S. 463-502. Das Gedicht entstand 1722 und erfuhr eine große handschriftliche Verbreitung; ein erster unautorisierter Druck erfolgte 1738. 238 Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 88, macht hier Einflüsse des Voltaireschen Priesterhasses aus. 239 Vgl. zur Abwertung Genette, Palimpseste, S. 477-482. <?page no="71"?> 71 5.2. Thoas’ Tyrannenherrschaft Im Unterschied zu den anderen Bearbeitungen des Iphigenie-Stoffs ist Derschaus Thoas Grieche. 240 Dies führt zu einer wesentlichen Umakzentuierung der gesamten Handlungskonstellation, da kein Gegensatz zwischen barbarischen Taurern und zivilisierten aufgeklärten Griechen dargestellt wird. 241 In der Zeichnung des Thoas finden sich sämtliche Merkmale eines Tyrannen, wie sie etwa in Johann Georg Walchs Philosophischem Lexicon aufgeführt sind. Walch unterscheidet zwischen einem Herrscher, der aufgrund des illegitimen Ursprungs seiner Herrschaft als Tyrann bezeichnet werden kann, dem „tyrannus titulo talis“, 242 und dem an für sich legitimen Herrscher, der aufgrund der Art seiner Herrschaftsausübung zum Tyrannen wird: Dieses ist eben ein Tyrann, welcher auf eine boshaftige ganz notorische Art Land und Leute aus Privatinteresse zu verderben suchet, und mithin alle Grenzen der bekommenen höchsten Gewalt überschreitet, welches man einen tyrannum in exercitio nennet[.] 243 Derschaus Thoas vereint beide Tyrannentypen. Er ist durch den Mord an seinem Vorgänger Unkam, eine „[b]eglückte Frevelthat“ (9), auf den Thron gekommen und herrscht als Usurpator. Seine Amtsführung ist lediglich am eigenen Wohl orientiert; Abschreckung dient als Instrument der Herrschaftssicherung. 244 Dies wird etwa im Umgang mit dem verdienten Feldherren Pylades deutlich, der Thoas’ Rachlust geopfert werden soll. Orestes, der sich ihm freimütig zu erkennen gibt, verurteilt er triumphierend zum Tod. In einer ironischen Volte befiehlt er auf Orestes’ Erklärung, er sei „zum Opfer der Dianen“ (15) gekommen, also in der Absicht, der Göttin ein Opfer zu bringen, diesen selbst zu opfern. In der Begründung des Urteils offenbart er sich gegenüber Pylades wiederum als gewissenloser Gewaltherrscher: Der Thron, um groß zu seyn, muß alles sich erkühnen / Und nicht dem Götzenbild gemeiner Regeln dienen, / Sie binden nur das Volck und sind der Fürsten Knecht, / Mir nützt Orestes Tod, und dis macht ihn gerecht. (17) 240 Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 76f., macht plausibel, dass Derschau diesen Zug aus Hederichs Nachschlagwerk übernommen hat. Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches Lexicon Mythologicum, […], Leipzig 1724, Sp. 1871, wo ein Grieche Thoas erwähnt wird, der von einem Sturm in Taurica angetrieben wurde. 241 Hottenrotts Bemerkung über Tomire, Derschau habe „mit Absicht als Vertreterin der wahren Liebe eine Barbarin gewählt“ (Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 87), hat keinerlei Bezug zum Drama, wo kein Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren aufgebaut wird. 242 Walch, Philosophisches Lexicon, Sp. 1226. 243 Ebd., Sp. 702. 244 So die Ausführungen des Pylades, der Orestes warnt (S. 9f.). <?page no="72"?> 72 Bei Walch heißt es entsprechend, die Tyrannei sei „diejenige Regierungsart, da ein Monarch vorsetzlich Land und Leute zu verderben suchet, damit er nur sein eigen Interesse befördere“. 245 Thoas fühlt sich nicht an die Gesetze gebunden, die in seiner Sicht lediglich für seine Untertanen gelten. Sein Handeln dient allein der Erfüllung seiner persönlichen Rachegelüste. Nach der theoretischen Diskussion, die Walch zusammenfasst, kommt dem Bürger ein Widerstandsrecht zu, wenn der Souverän durch seine Art der Herrschaft den Vertrag aufgekündigt hat. Die Gewaltanwendung gegen die eigenen Bürger erlaubt die Ersetzung des Herrschers. Somit sind die Bürger nicht mehr zum Gehorsam verpflichtet. Die „Dethronisierung“ 246 ist in diesem Ausnahmefall legitim. Allerdings warnt Walch, es sei schwer, einen Tyrannen eindeutig zu erkennen, da einzelne tyrannische Züge oder ein lasterhaftes Privatleben noch lange keinen vollständigen Tyrannen ausmachten. 247 In der Literatur liegt der Fall etwas anders: Derschaus Bemühen, Thoas als Tyrannen par excellence zu zeichnen, ist unverkennbar. Im Vergleich mit Euripides’ Drama bedeutet dies eine wesentliche Abwertung der Figur; sie übertrifft die Tendenzen Schlegels bei weitem. 248 Während Thoas in Schlegels Drama um das Wohl seiner Bürger besorgt ist, handelt Derschaus Thoas nur aus Eigeninteresse. Pylades’ Freundschaft zu Orestes ist für ihn kein Grund, sein Handeln zu ändern. Auf solch „eitlen Wahn“ (35) wie tugendhafte Freundschaft könne er als Herrscher keine Rücksicht nehmen. Ja, die Bitte des auf seinen kriegerischen Verdienst pochenden Pylades reizt den Tyrannen so sehr, dass er den Stolz des Griechen brechen möchte, indem er ihm den Freund nimmt. Hier entpuppt sich Thoas als Sadist, der zudem auf den militärisch erfolgreichen Pylades eifersüchtig ist: „Was sein unwürdig Blut noch vor der Rache deckt / Ist seine Kriegesmacht.“ (41) Nachdem Orestes aus dem Tempel entkommen ist, scheut Thoas kein Mittel, um den Flüchtigen wieder gefangenzunehmen. Er weist seine Gefolgsleute ausdrücklich an, mit äußerster Grausamkeit vorzugehen und weder Folter noch die Zerstörung des Tempels zu scheuen. Daran wird deutlich, dass die Religion für Thoas keine tiefere Bedeutung hat. Auch hierin unterscheidet sich die Figurenzeichnung Derschaus von derjenigen Schlegels. Thoas ist Opportunist und Usurpator, religiöse Rituale wie die Opferung Orestes’ dienen nur der Zurschaustellung seiner Macht und der Abschreckung. Auch seine Zuneigung zu Tomire scheint auf tönernen Füßen zu stehen, glaubt man den Warnungen, die Hermes überbringen lässt (79). 249 245 Walch, Philosophisches Lexicon, Sp. 1217. 246 Ebd., Sp. 700ff. 247 Ebd., Sp. 1217. 248 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 477-482. 249 „One wonders why Thoas should have gone to the trouble of raising Tomire so tenderly. “ (Heitner, German Tragedy in the Age of Enlightenment, S. 118) <?page no="73"?> 73 Thoas’ Ende ist symptomatisch: Hermes’ Ansprache an das versklavte Volk deckt auf, wie Thoas seinen Vorgänger im Tempel ermordete. Thoas verspritzt daraufhin „dieses Greisen Blut mit eigner Hand“ (84) und liefert so gleichsam den Beweis für Hermes’ Ausführungen, indem er sich öffentlich als Mörder zeigt. Er fordert Orestes’ Reaktion geradezu heraus; dieser durchbohrt ihn mit dem Schwert. Derschau rechtfertigt Orestes’ Handlung noch zusätzlich dadurch, dass sie als Reaktion auf Thoas’ Mordtat erfolgt. Sie ist allerdings keine reine Affekthandlung: Von Beginn an ist das Drama durchzogen von Hinweisen auf das gewaltsame Ende des taurischen Herrschers. So deutet Iphigenia ihren Traum als ein mögliches Anzeichen für göttlichen Zorn, der auf Thoas gerichtet sei: „Ihr Rachschwerdt ist vielleicht auf Thoas selbst gericht.“ (22) Später legt sie dementsprechend das Orakel aus: Es sei wohl Thoas, dessen Blut man vergießen solle (69). Das Ende wird also vielfach vorausgedeutet und auch ansatzweise dadurch legitimiert, dass göttlicher Wille hinter dem Tyrannenmord zu stehen scheint. Auch dass das Volk nicht an der Tötung des Tyrannen beteiligt ist, dient dazu, die Problematik gleichsam zu entschärfen. Das blutige Ende scheint also gleichsam übermotiviert - und ist damit das genaue Gegenteil von Schlegels Dramenschluss. 5.3. Pylades zwischen Liebe und Freundschaft In noch viel höherem Maße als Schlegel stellt Derschau die Freundschaft in den Mittelpunkt des Geschehens. Das wird besonders an dem beinahe emblematischen Doppeltitel deutlich; auch das lateinische Motto - ein Zitat aus dem zweiten Buch von Marcus Manilius’ Astronomica - unterstreicht diese Thematik: Dort wird darauf verwiesen, die Natur habe nie etwas Größeres als die Freundschaft geschaffen. 250 Die folgenden Verse mit dem mythischen Exempel von Pylades und Orestes, von denen jeder für den anderen sterben wollte, dienen Derschau als programmatisches Motto für sein Drama. 251 Wie bereits die Reihenfolge im Titel deutlich macht, ist Pylades die eigentliche Hauptfigur von Derschaus Drama. Seine Freundschaft zu Orestes ist auch in diesem Stück wesentlicher Charakterzug. Sie wird dadurch herausgefordert, dass er sich in einem scheinbar auswegslosen Kon- 250 Marcus Manilius, Astronomica. Astrologie, Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und hrsg. von Wolfgang Fels, Stuttgart 1990, S. 152f.: „Idcirco nihil ex semet natura creavit / foedere amicitiae maius nec rarius umquam.“ „Darum hat die Natur aus sich selber nichts Größres und nie was Selteneres geschaffen als Bande wirklicher Freundschaft.“ 251 Ebd.: „Unus erat Pylades, unus qui mallet Orestes / ipse mori; lis una fuit per secula mortis, / alter quod raperet fatum, non cederet alter“. „Einzig war Pylades, einzig Orestes, der viel lieber selber sterben wollte; ihr Streit um den Tod blieb lange Zeit einzig, weil der eine das Todeslos griff, das der andre nicht losließ.“ <?page no="74"?> 74 flikt zwischen Liebe und Freundschaft befindet und zudem noch in Thoas’ Tyrannenherrschaft verstrickt ist. Von seinen Vorlagen weicht Derschau insofern ab, als er Orestes und Pylades längere Zeit getrennt sein lässt. Das ermöglicht ihm zum einen, Pylades’ Liebe zu Tomire als dauerhafte Bindung darzustellen, zum anderen gibt diese Erfindung Gelegenheit für eine Anagnorisis zwischen den Freunden. Zunächst glaubt Pylades, zwischen Thoas und Orestes vermitteln zu können, auch weil er sich als künftiger Schwiegersohn und zudem militärischer Retter Thoas’ in einer guten Verhandlungsposition glaubt. Er hat allerdings nicht mit Thoas’ Skrupellosigkeit gerechnet, die eine gütliche Beilegung des Konflikts nicht erlaubt. So muss er zwischen Liebe und Freundschaft wählen, wobei zumindest der Leser keinerlei Zweifel über seine Präferenz hegt. Tomire liebt Pylades nicht nur wegen seines blendenden Äußeren und seines Kriegsruhmes, sondern noch mehr wegen seiner Charaktereigenschaften: Ein „erhabner Geist“, ein „gesetzt Gemüte“ ebenso wie „Verbindlichkeit und Güte“ (5) zeichnen ihn aus. Und es sind eben diese Tugenden, von denen auch seine Freundschaft lebt. Die Bedeutung, die Orestes für ihn hat, unterstreicht er bei ihrer unverhofften Begegnung. Er adressiert Orestes geradezu ekstatisch: „Mein Freund! ja mehr als Freund! mein ander Ich! mein Leben! “ (9) Vergeblich versucht Thoas, Pylades auf seine Seite zu ziehen, indem er Tomire als Mittel einsetzt. Orestes und Pylades sind „durch wahren Seelenleim“ (34) miteinander vereint, auch die Liebe zu Tomire kann daran nichts ändern. So ist es Pylades nicht einmal unrecht, als ihm Thoas die Hand Tomires entzieht und ihn so zeitweilig aus seinem Konflikt entlässt (41). Im Gespräch mit Tomire im dritten Akt erklärt Pylades folgerichtig, die Freundschaft sei seine erste Pflicht. Die Bindung zu Orestes sei älter als ihre Liebe; zudem sei die Notlage des Freundes so groß, dass ihm niemand außer Pylades helfen könne. Tomires Vorwurf, er kenne die Liebe nicht (45), ist für ihn unbedeutend. Da ja wegen Thoas eine Vereinigung zu Lebzeiten ohnehin nicht möglich sei (46), müsse sie sich mit der Situation abfinden. Es gebe ja viele heiratsfähige Männer, während Orestes nur einen Freund habe und sich auf diesen verlasse. Tomires Vorwürfe bringen Pylades kurzzeitig ins Wanken; allerdings ist er rasch bereit, zugunsten der Freundschaft auf seine Liebe zu verzichten. Sein Rettungsplan verrät den Rationalisten Wolffscher Prägung. Zunächst bringt er Orestes gegen dessen Willen durch eine „tugendhaffte List“ (54) in Sicherheit und gibt sich gegenüber Thoas als Orestes aus. Bisher habe er ihn über seine wahre Identität belogen. Sein Ziel ist es, den Tyrannen zu provozieren. Pylades’ Vorhaben scheitert allerdings daran, dass der wahre Orestes heldenmütig dazwischengeht. Die Freunde schwelgen nun in gegenseitiger Bewunderung und demonstrieren so zugleich eine wesentliche Wirkungskategorie der heroischen Tragödie. Diese Tugenddemonstration (68f.) bleibt allerdings ohne praktische Auswirkung und hat auf Thoas einen gegenteiligen Effekt. Nun müssen nicht mehr nur Orestes, sondern noch <?page no="75"?> 75 dazu Pylades und Iphigenia sterben. Man könnte fragen, ob dies denn das „Denckmaal der Freundschafft“ sei, das Derschau demonstrieren wollte. Die völlige Wirkungslosigkeit der vorgelebten Tugend ist tatsächlich eine große Schwachstelle des Dramas, da die Grundthematik des Stücks keine positiven Auswirkungen mit sich bringt. 252 Pylades muss nun von Tomire Abschied nehmen. Zwar tut sich für ihn abermals ein Ausweg auf, aber natürlich bleibt er unnachgiebig und erklärt, er könne unmöglich in einer Welt ohne Orestes leben. Der Opfergang der beiden Freunde wird als Demonstration der triumphierenden Freundschaft dargestellt (80). In ihren Augen sei ein „Selbstvergnügen“ sichtbar gewesen, das „gleichsam über Tod und Thoas triumphirte“ (80). Auch wenn sich Pylades nach erfolgter Rettung Tomire als ihr erster Untertan „an Lieb und Treu“ (85) zu erkennen gibt, bleibt doch die Frage offen, wie intakt das Verhältnis zwischen Tomire und Pylades noch ist. Derschau reduziert Pylades nicht auf die Rolle des Freundes: Er ist in Nachfolge der Figurenzeichnung bei Euripides der Rationalist, der die Geschehnisse so deutet, dass sie in den Rahmen seiner Interessen passen. Dies wird besonders im Gespräch mit dem von Gewissensqualen getriebenen Orestes deutlich, der ablehnt, aus Taurien zu fliehen, da ihm das Orakel gesagt habe, er werde am Altar der Göttin Frieden finden. Der „Wolffianer Pylades“ 253 verweist auf göttliche Instanzen im Menschen selbst, auf die man hören müsse. Deutlicher noch als „durch der Sybillen Mund“ werde der göttliche Wille „durch das Licht vernünfftger Schlüße kund“ (11). Pylades’ Postulat einer Vernunftreligion geht einher mit einer Sicht auf die Götter, die stark von christlicher Mitleidsethik geprägt ist: „Die Reu entwaffnet Sie, Sie sind voll Gütigkeit.“ (12) Deshalb seien Orestes’ Gewissensqualen auch rational zu bekämpfen. Die Vernunft werde schließlich über die „schwarzen Bildungskräfte“ (13) siegen, denen Orestes noch ungemindert ausgesetzt ist. So steht für ihn das Menschenopfer in denkbar größtem Kontrast zum göttlichen Willen - anders als für Iphigenia, die zunächst begierig ist, den vermeintlichen Tempelfrevel blutig zu rächen. Verglichen mit diesem „hardened butcher“ 254 vertritt Pylades die Menschlichkeit. Er appelliert an Iphigenia: „Such nicht die Blutbegier in Frömmigkeit zu kleiden, / Wie kan dergleichen Greul das höchste Wesen leiden? “ (32) Erst auf sein Insistieren holt die dumpf-fatalistische Iphigenia ein neues Orakel ein, das zunächst die Situation nicht verändert. Doch Pylades besteht beinahe trotzig darauf, der Tod Orestes’ könne nicht im Interesse der Götter liegen. An Stelle des Orakels stellt er seine Freundschaft, die nun sein Handeln bestimmen soll: „Die Freundschafft soll mein Gott und mein Orackel seyn: / Sie rufft dem Herzen zu, ihr Wort kan jenes deuten.“ (40) 252 So bereits Hottenrott, Christoph Friedrich von Derschau, S. 191. 253 Frick, Die Schlächterin und der Tyrann, S. 140. 254 Heitner, German Tragedy in the Age of Enlightenment, S. 116. <?page no="76"?> 76 Da für Pylades die Freundschaft göttlichen Ursprungs ist, hat das Orakel für ihn an Bedeutung verloren bzw. muss menschlicher Interpretation unterworfen werden, damit es entsprechend seiner als ebenfalls göttlich empfundenen Gefühle verständlich wird. Pylades säkularisiert also das Orakel, indem er es durch die Freundschaft ersetzt, die an die Stelle transzendenter Entitäten tritt. Zugleich wird deutlich, dass die Freundschaft in Derschaus Drama noch wichtiger als die Religion ist, die als beliebiges Instrument verschiedener Interessen dient. Die Protagonisten des Dramas, allen voran Pylades, projizieren ihre Vorstellungen von Tugend und ethischem Handeln auf kaum greifbare göttliche Instanzen, die letztlich metaphorisch auf menschliche Tugenden verweisen. Am Ende des Dramas ist Orestes von seinem Wahnsinn geheilt, ohne dass der Grund dafür deutlich würde. Man darf annehmen, dass dies als Sieg der Vernunft aufzufassen ist, wie ihn Pylades bereits in der Wiedererkennungsszene vorhergesagt hatte. Dieser Sieg der Vernunft geht einher mit der Ablösung eines Tyrannen und mit der Restaurierung der legitimen Herrscherdynastie. So korrespondiert Orestes’ Heilung mit der Heilung einer ganzen Gesellschaft, mit der Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung. <?page no="77"?> 77 6. Johann Heinrich Steffens: Oedipus, ein Trauerspiel Ein Jahr vor Derschaus Denckmaal der Freundschafft war das erste deutsche Drama des 18. Jahrhunderts erschienen, das den aus der Dramentheorie bekanntesten antiken Tragödienstoff behandelte, nämlich Oedipus, ein Trauerspiel in Versen (1746) nach Sophokles von Johann Heinrich Steffens, 255 zum Zeitpunkt des Erscheinens Konrektor des Celler Gymnasiums. 256 Der heute weithin unbekannte Steffens hatte während seines Studiums in Jena fundierte Kenntnisse in den alten Sprachen erworben. 1739 wurde er Lehrer am Gymnasium in Celle, von 1756 bis 1784 war er dort Rektor. 257 Neben historischen Arbeiten, die vor allem regionalgeschichtlich fokussiert waren, verfasste er auch etliche Dramen für den Schulgebrauch, die auf die unterschiedlichsten Quellen zurückgehen: Neben antiken Prätexten, wie etwa Plautus’ Aulularia, bearbeitete Steffens Shakespeares Othello, aber auch englische Romane wie Henry Fieldings Tom Jones und Samuel Richardsons empfindsamen Briefroman Clarissa. Den hohen Stellenwert, den die alten Sprachen im Schulunterricht genossen, bezeugt eine lateinische Übersetzung von Lessings Emilia Galotti, die 1778 aufgeführt wurde. 258 Sein Oidipus-Drama entstand in recht kurzer Zeit, wohl 1745 oder 1746. Ein Hinweis auf die hastige Entstehung ist Steffens’ Bemerkung in der Vorrede, er hätte gerne den Schluss nach Corneilles Vorbild gestaltet, wenn er denn Zeit dafür gehabt hätte. Auch sei es ihm nicht gelungen, Voltaires Œdipe zu besorgen, den er ebenfalls gerne verwendet hätte. 259 Die Drucklegung muss ebenfalls in großer Eile erfolgt sein, wie sich aus den zahlreichen Druckfehlern schließen lässt. Vom 7. bis zum 9. Februar 1746 kam es im Celler Rathaus zu drei Vorstellungen, wohl zugleich den letzten, die das 255 Johann Heinrich Steffens, Oedipus, ein Trauerspiel in Versen nach den [! ] Sophocles eingerichtet, Celle 1746. Seitenangaben in diesem Kapitel im Text. 256 Die Literatur zu Steffens ist äußerst spärlich. Vgl. Friedrich Brandes, Johann Heinrich Steffens, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. durch die historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 35, Leipzig 1893, S. 558f.; Uta Schäfer-Richter, Johann Heinrich Steffens, in Walther Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache Bd. 11, Gütersloh/ München 1991, S. 148; Paul Alpers, Geschichte des Celler Gymnasiums, Celle 1928 (S. 64-72 zu Steffens). Zu Steffens’ Oedipus gibt es offenbar keine Literatur. Das Drama erscheint auch nicht bei Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur. Heitner, German Tragedy, S. 179, erwähnt lediglich seine Existenz. 257 Vgl. zu Steffens’ pädagogischer Tätigkeit Alpers, Geschichte des Celler Gymnasiums, S. 64ff. 258 Eine Probe daraus gibt Alpers, Geschichte des Celler Gymnasiums, S. 66, der betont, die Übersetzung sei von Schülern angefertigt worden. 259 Vgl. Steffens, Oedipus, unpaginierte Vorrede. Dies weist auf die Randständigkeit von Steffens’ Drama hin, auf die große Distanz zu literarischen Zentren wie etwa Leipzig. <?page no="78"?> 78 Drama erleben sollte. Sie scheinen regional eine große Resonanz gefunden zu haben und stellten einen wesentlichen Beitrag zum kulturellen Leben in Celle dar. 260 Zu Aufführungen außerhalb Celles kam es wahrscheinlich nicht, wohl weil das Stück in Konkurrenz zu den Dramen Voltaires und Corneilles stand, 261 die Steffens’ Drama in allen Belangen überlegen waren - außer in Bezug auf die Nähe zum antiken Prätext. Zu Beginn von Steffens’ Bearbeitung wird Oedipus mit den Klagen des thebanischen Volkes konfrontiert. Er zeigt sich als mitfühlender Herrscher und möchte alles ihm Mögliche tun, um das Leid des von der Pest geplagten Volkes zu lindern. Creon kehrt aus Delphi zurück, wo er auf Oedipus’ Geheiß das Orakel befragt hat: Die Stadt werde erst von der Pest befreit, wenn der Mord an Oedipus’ Vorgänger Lajus gesühnt sei. Oedipus verflucht den Mörder und alle, die ihn schützen. Zusätzlich möchte Oedipus den Rat des Sehers Tiresias einholen. Dieser weicht zunächst seinen Fragen aus, um dann unter Druck zu erklären, Oedipus selbst sei es, der die göttliche Strafe herbeigeführt habe. Der König schickt den Seher wütend weg. Oedipus wittert eine Verschwörung: Er verurteilt seinen Schwager zum Tode; erst unter dem mildernden Einfluss Jocastes wandelt er die Strafe in Verbannung um. Sie erklärt alle Orakel für unglaubwürdig. Als Beispiel führt sie die Aussetzung ihres Sohnes an, die verhindert habe, dass der Orakelspruch eingetreten sei. Oedipus beginnt zu ahnen, dass er der Sohn der Königin und der Mörder des Lajus sein könnte. Er erwartet den Hirten, den einzigen Überlebenden, der ihm Gewissheit über die Anzahl der Mörder geben kann. Jocaste gerät in Konflikt mit dem alten Priester: Sie stellt aufgeklärte Skepsis gegen unbedingte Frömmigkeit. Obwohl von der Beschwörung des Geistes des Lajus berichtet wird, zweifelt Jocaste immer noch. Scheinbar bestätigt sich ihre Position, als ein Bote die Nachricht vom Tod des korinthischen Königs Polybus bringt. Es scheint, als habe Oedipus seinen Vater nicht getötet, wie es ihm das Orakel geweissagt hatte. Allerdings erfährt Oedipus sogleich, dass er in Wirklichkeit als ein Findelkind vom kinderlosen korinthischen Königspaar adoptiert wurde. Schließlich erscheint der alte Hirte Phorbas: Er hat das ausgesetzte Kind dem Korinther übergeben und ist zudem der einzige überlebende Zeuge des Mordes an Lajus. So kann er die Verbindung herstellen und Oedipus als Mörder identifizieren. Jocaste begeht Selbstmord, Oedipus blendet sich. Er versöhnt sich mit Creon, tritt Tiresias demütig gegenüber und verlässt freiwillig zusammen mit Antigone die Stadt. Auch wenn Steffens’ Drama zum Teil eher wie eine Übersetzung denn als eigenständige Bearbeitung erscheint, so ist es jedoch - legt man den Maßstab von Gottscheds Sterbendem Cato an - ohne weiteres zu rechtferti- 260 Vgl. Alpers, Geschichte des Celler Gymnasiums, S. 66. 261 Voltaires Œdipe lag zudem seit 1748 in verschiedenen deutschen Übersetzungen vor. Vgl. die Angaben bei Meyer, Das deutsche Trauerspiel, S. 76. <?page no="79"?> 79 gen, den Oedipus als Originaltrauerspiel zu behandeln. 262 Steffens erweitert den König Oidipus des Sophokles (wohl 433 v. Chr.), 263 um dankbare Sprechrollen zu schaffen. Bei dieser Amplifikation aus pragmatischen Gründen, die den Anforderungen des Schultheaters geschuldet ist, greift er vor allem auf die Oidipus-Dramen Senecas, über den er den Stoff zuerst kennen gelernt hatte, und Pierre Corneilles zurück; 264 zudem verwendete er die Phönikierinnen des Euripides. Von Seneca übernimmt Steffens die Figur der Manto, von Corneille die Namen der Nebenfiguren und die Idee, Oidipus’ Kinder auf die Bühne zu bringen. Die Zeichnung der streitsüchtigen Söhne ist stark von den Phönikierinnen des Euripides beeinflusst. Dabei bildet der Text des Sophokles die Vorlage für die Handlung, so dass es übertrieben wäre, von einer Kontamination der Prätexte zu sprechen. Eine Dämpfung, wie sie etwa in Corneilles Œdipe durch die Einführung einer zusätzlichen Liebeshandlung erfolgt, gibt es bei Steffens nicht. Corneille sei ihm zu verliebt, Seneca zu schwülstig - so Steffens klischeehafte Wertung in der Vorrede. 265 Ähnlich wie Schlegel lehnt Steffens programmatisch die Dämpfung durch eine Liebeshandlung ab, was aber in seinem Fall durchaus an dem streng protestantischen Klima in der eher theaterfernen Kleinstadt Celle liegen kann. 266 Neben diesen theaterpraktischen Konsequenzen hat der Kontext des Schultheaters auch eine bedeutsame inhaltliche Umakzentuierung zur Folge: Steffens’ Drama ist letztlich eine Pädagogisierung des sophokleischen König Oidipus, mit der ein Verzicht auf wesentliche Elemente der Vorlage einhergeht, insbesondere wesentlicher Bestandteile der Wahrheitssuche des Protagonisten. Zentral ist die Frage nach der Autorität der Götter. Menschliche Hybris, die in jedem Orakelspruch nur Priesterbetrug wittert, steht einer naiven Frömmigkeit gegenüber, die sich schlussendlich als richtig erweist. So tritt 262 Für die Literatur einer Epoche, die gerade erst den Originalbegriff ausbildet, wäre es kleinlich, einen hohen Grad von Intertextualität mit mangelnder Schöpfungskraft gleichzusetzen. 263 Sophokles, König Oidipus, in: Ders., Dramen. Griechisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Karl Bayer, Anmerkungen und Nachwort von Bernhard Zimmermann, 2. Auflage, München/ Zürich 1985, S. 278-377. 264 Vgl. Pierre Corneille, Œdipe, in: Ders., Théâtre Complet. Texte établi sur l'édition de 1682, avec les principales variantes, une introduction, des notes, des notices et un glossaire par Maurice Rat, Bd. III, Paris 1964, S. 1-77. 265 Vgl. Steffens, Oedipus, unpaginierte Vorrede. 266 So zumindest der Grundtenor in Steffens’ Abhandlung von der Moralität der Schauspiele, die dem den Theaterzettel beigegeben wurde. Schon allein, dass überhaupt eine Einladung zu einer Schultheateraufführung mit einer Rechtfertigung verbunden werden musste, belegt die nicht eben aufgeschlossene Atmosphäre im Celle des 18. Jahrhunderts. Vgl. den Theaterzettel: Nach einer vorangesetzten kurtzen Abhandlung von der Moralität der Schauspiele wolte hierdurch alle hiesigen hohe und vornehme Gönner und geneigte Freunde unserer studierenden Jugend zur gnädigen, hochgeneigten und gütigen Anhörung eines Trauerspieles Oedipus genannt, welches den 7., 8. u. 9. Febr.dieses 1746. Jahr auf dem Cellischen Rahthause nachm. 4 Uhr aufgefüret wird, untertänigst, gehorsamst und ergebenst einladen. J. H. St., Celle 1746. <?page no="80"?> 80 insbesondere im Mittelteil des Dramas Oedipus völlig hinter Jocaste zurück, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Oedipus selbst wird als Melancholiker dargestellt, dessen Jähzorn mit grüblerischer Versenkung abwechselt. Insofern steht Steffens Drama sowohl in der Tradition des barocken Trauerspiels als auch der aufgeklärten Tragödie Gottschedscher Prägung. Steffens’ Verhältnis zu Gottsched ist ambivalent: Einerseits trauert er den alten Haupt- und Staatsaktionen nach, wohl auch, weil diese für die Praxis des Schultheaters angemessener waren. Andererseits akzeptiert er die Regeln Gottscheds, da er in ihnen die Autorität der Alten anerkennt und sich nicht in der Lage sieht, sein deutliches Unbehagen am Regelzwang poetologisch zu begründen. 267 So entspricht sein Oedipus formal den Vorgaben von Gottscheds Critischer Dichtkunst. Inhaltlich verhält es sich ähnlich: Zwar steht der Bericht von der Beschwörung des toten Lajus, den Steffens aus Senecas Drama übernommen hat, in gewissem Widerspruch zum Wahrscheinlichkeitspostulat, er ist aber immerhin soweit sanktioniert, als es sich um einen Stoff aus alter wundergläubiger Zeit handelt. In großer Nähe zu Gottsched steht ferner der eher banale moralische Satz, den Creon als Botschaft des Dramas formuliert: Man solle den Tag nicht vor dem Abend loben. Dennoch ist für Steffens’ Dramatik ein pragmatischer und undogmatischer Zugang zur poetischen Theorie seiner Zeit kennzeichnend. So finden sich neben diesen Elementen der Gottschedschen Theaterreform in Steffens’ Drama auch deutliche Einflüsse des protestantischen Schuldramas. 268 Dieser Theaterpraxis verdankt das Stück sowohl seine Existenz als auch seine spezifische Form. So musste Steffens notwendigerweise die Anzahl der handelnden Personen vergrößern, wollte er der Absicht des Schultheaters nachkommen, die vor allem auf den pädagogischen Nutzen beim schauspielenden Schüler setzt. 269 Aus den acht Sprechrollen (ohne Chorführer) bei Sophokles macht Steffens 13, zu denen noch das Gefolge von Oedipus und Jocaste kommt. Verglichen mit Steffens’ lateinischem Catilina-Dramas (1744), das 28 Rollen umfasst und aus zehn Akten (! ) besteht, 270 erscheint der Oedipus allerdings geradezu klassizistisch gebändigt. 271 267 Vgl. Steffens, Oedipus, unpaginierte Vorrede. 268 Es gibt keine Gesamtdarstellung. Man kann aus Bibliographien lediglich schließen, dass noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Schulaufführungen vielerorts die Theaterszene bestimmten. Das Verbot des protestantischen Schuldramas in Preußen 1718 trug sicherlich wesentlich zum Ansehensverlust der Gattung bei. Vgl. Meyer, Bibliographia, Bd. IV (1994), S. 113. 269 Vgl. zu wirkungsästhetischen Ähnlichkeiten zu Brechts Konzeption des Lehrstücks Günter Saße, Die Theatralisierung des Körpers. Zu einer Wirkungsästhetik für Schauspieler bei Christian Weise und Bertolt Brecht, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 3-4 (1987), S. 55-73. 270 Nach Alpers Geschichte des Celler Gymnasiums, S. 64. 271 Die Schülerzahl betrug 1748 mindestens 211 (Vgl. Alpers, Geschichte des Celler Gymnasiums, S. 62), so dass man für das Jahr der Oedipus-Aufführungen von einer Schülerzahl von etwa 200 ausgehen kann; an jedem der drei Aufführungstage waren die Rollen <?page no="81"?> 81 Dazu passt auch, dass Steffens zwar auf den Chor verzichtet, aber handlungstrennende Elemente zwischen den Akten beibehält. So schließt die erste Abhandlung mit einem Gebet der Manto, das dem ersten Chorlied aus Senecas Oedipus folgt, die zweite mit dem Streitgespräch zwischen Eteocles und Polynices. Am Ende der dritten Abhandlung steht Cleantes Klage über den achtlosen Umgang mit den Göttern und die menschliche Hybris, während zu Beginn der fünften Abhandlung der Hirte Phorbas in topischer Rede das Landleben über das Leben unter den Menschen stellt. In diesen Passagen, die reflexive Elemente von der eigentlichen Handlung trennen, wirken sowohl die Reyen des barocken Trauerspiels als auch der Chor der antiken Tragödie nach. Trotz mancher Gottscheds Theorie widersprechender Züge und des provinziellen Hintergrunds wurde das Drama in Gottscheds Neuem Büchersaal wohlwollend besprochen: Allein, Kenner werden hieraus [den Textproben] schon sehen, wie stark der Herr Conrector Steffens in der Poesie sey, wie genau er den Alten gefolget, und wie behutsam er auch für sich den Charakter derselben nachahmen kann, wenn er gleich von ihnen abweicht. 272 Besonders hebt der Rezensent hervor, dass Steffens dem Muster der bewunderten Griechen gefolgt sei und gerade deshalb seine pädagogischen Aufgaben in ausgezeichneter Weise erfülle. 273 Man darf bei dem vielleicht übertrieben scheinenden Lob eines Dramas, das in großen Teilen eine Übersetzung ist, nicht vergessen, dass der Oedipus das erste gedruckte deutsche Drama des 18. Jahrhunderts ist, das einer griechischen Vorlage folgt. 6.1. Die analytische Struktur und ihre Umsetzung bei Steffens Der König Oidipus des Sophokles gilt als das analytische Drama schlechthin, als eine „tragische Analysis“, 274 die - so Schiller - eine umso größere Wirkung auf den Zuschauer ausübe, da die Furcht, etwas könne geschehen sein, die Furcht, etwas könnte geschehen, bei weitem übertreffe. Besondere Wiranders besetzt, so dass etwa dreißig Prozent der Schüler am Schultheater beteiligt waren. Zum Vergleich: Christian Weises Masaniello hat 78 Sprechrollen, nicht zu reden von den stummen Narren, Gefolgsleuten oder Bauern. 272 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Bd. II, 5. Stück, Leipzig 1746, S. 438-450, hier S. 446f. 273 Ebd, S. 449f.: „Die Fabeln der Alten sind einmal ein Theil der Gelehrsamkeit, dessen Kenntnis kein Gelehrter ganz entbehren kann: auf was für eine angenehmere Art aber kann ein geschickter Schullehrer sie seinen Untergebenen beybringen, als wenn er sie selbst durch die Schaubühne erneuert, und ihren Gemüthern einpräget? “ 274 Friedrich Schiller, Brief an Johann Wolfgang Goethe, 2. Oktober 1797, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. I, S. 430. <?page no="82"?> 82 kung entfaltet die sophokleische Tragödie dadurch, dass der Wahrheitssuchende zugleich unwissentlich der Schuldige ist. 275 Das Drama des Sophokles stellt die Selbstentlarvung des forschenden Oidipus dar. Obwohl Teiresias schon früh im Drama die Wahrheit ausspricht, verdrängt sie Oidipus bis kurz vor der Katastrophe. Erst als ihn der korinthische Hirte einwandfrei identifiziert hat, stellt er sich seiner Verantwortung. Psychologisch plausibel gestaltet Sophokles den Prozess der Selbsterkenntnis, wobei es ihm weniger um die Frage nach Oidipus’ Schuld geht, 276 als vielmehr um die ausgefeilte psychologische Charakterstudie. Oidipus verdrängt auch dann noch, als er unterbewusst bereits die Wahrheit kennt. Dies wird etwa daran deutlich, wie er im Verhör vom Singular in den Plural wechselt: Wenn mehrere Räuber Laios erschlagen haben, kommt er als Mörder nicht in Frage. 277 Steffens folgt bewusst der Struktur der griechischen Tragödie. Während der Oedipus Senecas bereits zu Beginn der Handlung ahnt, die Pest sei auf sein wie auch immer geartetes Fehlverhalten zurückzuführen, 278 und in Corneilles Œdipe die Entdeckung der Schuld hinter dämpfende Liebesintrigen zurücktritt, steht in Steffens’ Bearbeitung zunächst die Suche nach dem Mörder des Lajus im Vordergrund. Oedipus ist begierig, den Mörder seines Vorgängers zu entlarven. Er verflucht all diejenigen, die ihm Schutz gewähren - und damit in tragischer Verblendung sich selbst: Ja bin ich mir bewust, daß dieser mein Pallast / Ein solches Ungeheuer verborgen in sich faßt, / So treffe mich der Fluch, und alle die drum wissen, / Und du, getreues Volk, wirst ihn volziehen müssen. (13) Auch in der Gestaltung des Gesprächs mit Tiresias folgt Steffens Sophokles. So erklärt der Seher offen: „Du bist es, Oedipus, für den das Land jetzt büsset.“ (19) Drastisch hält er ihm seine Situation vor Augen: 275 In der Literatur wurde dieses Muster vielfach produktiv nachgeahmt, etwa von Heinrich von Kleist im Zerbrochnen Krug. 276 Die Diskussion hat die Forschung lange beschäftigt: An der objektiven Schuld kann kein Zweifel bestehen. Entscheidend ist die Bewertung von Oidipus’ Verhalten. Ist er der schuldlos Schuldige, oder ist er doch subjektiv schuldig? Vgl. Eckart Lefèvre, Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Sophokles’ Tragödien, Leiden u.a. 2001, S. 119-147. Für Lefèvre ist Oidipus subjektiv schuldig: „Es ist deutlich geworden, dass Oidipus während der Bühnenhandlung blind ist. Das legt folgenden Schluß nahe: Wer während einer so wichtigen Phase seines Lebens blind ist, dürfte es sein ganzes Leben hindurch sein. Nach Sophokles’ Meinung muß Oidipus auch während der Vorgeschichte wichtige Zeichen mißachtet und in entscheidenden Punkten einfach dahingelebt haben.“ (Ebd., S. 140) Vgl. auch die Polemik von Michael Lurje, Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit, München/ Leipzig 2004, S. 255-262. 277 Vgl. Bernhard Zimmermann, Sein und Schein im König Oidipus des Sophokles, in: Freiburger Universitätsblätter 48 (2000), S. 21-33, bes. S. 23: „Die Tragödie des Sophokles zeichnet durchgängig den Weg des Oidipus zur Erkenntnis nach und ist gleichzeitig eine dramatische Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt.“ 278 Vgl. Seneca, Oedipus, V. 28-36. <?page no="83"?> 83 Du schändest die Natur, und ohne es zu wissen, / Hast du die Menschlichkeit zerlästert und zerrissen. / Der Leib, der dich erzeugt, räumt dir die Freiheit ein, / Zugleich ein Man und Sohn in einem Schooß zu seyn. (20) Doch diese Offenheit führt lediglich dazu, dass Oedipus Verrat von Seiten Creons wittert. Die eingestreute Frage im Streitgespräch mit seinem Schwager, wie lange denn Lajus tot sei (28), erfolgt unmotiviert, und die Antwort darauf bleibt folgenlos, so dass an dieser Stelle der Eindruck entsteht, Steffens sei mit der subtilen Anspielungsstruktur der Vorlage überfordert. Auch die Frage an Creon, wie viele Mörder es denn gewesen seien, wird lediglich gestellt, damit der Zuschauer über diese Tatsache informiert ist; sie hat an dieser Stelle des Dramas keinerlei Relevanz. Jocastes Orakelkritik fällt bei Oedipus auf fruchtbaren Boden, eben weil er das Entsetzliche nicht glauben will. Als sie allerdings von der Aussetzung ihres Kindes berichtet, gelangt Oedipus zur Erkenntnis der Wahrheit. Selbst in seinem Erkenntnisdrang betrachtet er sich als fremdbestimmt: „Gott! was beklemmt mein Herz? was ahndet sich in mir? “ (40) Konfrontiert mit Jocastes Erinnerungen sieht er sich einer wahren machine infernale ausgesetzt, 279 der er nicht entrinnen kann. Ihm bleibt nur, auf den einzigen Überlebenden zu warten, der ihm sagen kann, wie vielen Mördern Lajus zum Opfer fiel. Jocaste wehrt sich vergebens dagegen, dass ihn Oedipus herbeiholen lässt. Sie verdrängt deutlich stärker als Oedipus, der ihr von seinem Mord am Dreiweg erzählt hat (45f.). Als die Nachricht vom Tod des Polybus kommt, kann Oedipus kurzzeitig aufatmen. Doch bald erfährt er, dass er ein Findelkind ist. Wie bei Sophokles glaubt er zunächst bzw. will zunächst glauben, dass Jocastes heftige Reaktion darauf zurückzuführen ist, dass sie fürchtet, eine unstandesgemäße Verbindung eingegangen zu sein. 280 Schließlich erkennt Phorbas Oedipus als den Mörder des Lajus. Damit ist der Erkenntnisprozess abgeschlossen. In den Stationen der Anagnorisis folgt Steffens also eng dem griechischen Vorbild. Allerdings weicht er die straffe Struktur der Tragödie des Sophokles in mehrfacher Hinsicht auf: Während in der griechischen Tragödie eindeutig Oidipus im Mittelpunkt des Geschehens steht, verschiebt sich der Fokus in Steffens’ Drama zu Jocaste. In der vierten Abhandlung gehört die erste Hälfte dem Zank zwischen Jocaste und den Priestern sowie der ausführlich geschilderten Geisterbeschwörung. Hier verselbständigt sich die Lust am grauenvollen Detail zu Lasten einer stringenten Handlungsführung. Ebenso bedeutet die Einführung neuer Sprechrollen eine Vergröberung der analytischen Struktur, ohne dass dadurch etwas Gleichwertiges gewonnen würde. Steffens’ Amplifikation der sophokleischen Vorlage bedeutet zugleich eine Aufweichung der straffen Struktur des Prätextes, ja bringt teilweise eine inhaltliche Umwertung mit sich. 281 Die tragische Ironie 279 So der Titel von Jean Cocteaus Oidipus-Bearbeitung (entstanden 1932, UA 1934). 280 Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 1078f. 281 Vgl. zur Umwertung Genette, Palimpseste, S. 493-502. <?page no="84"?> 84 des Sophokles wird dadurch untergraben, dass Oedipus bereits früh sehr deutlich von seiner Mordtat berichtet. Steffens gibt den Anspielungsreichtum der Vorlage auf, so dass der Prozess der Wahrheitssuche kaum noch zu interessieren vermag. 6.2. Oedipus zwischen Jähzorn und Melancholie Zu Beginn der vierten Abhandlung schildert Jocaste das Verhalten des Oedipus. Nervöse Anspannung wechselt mit tiefsinnigem Schweigen: Bald ist er hier, bald dort, bald sinnet er zurück / Auf das vergangene, bald wirft er seinen Blick / Auf das zukünftige, bald setzet er sich nieder, / Bald springt er hitzig auf, bald ächzt, bald schweigt er wieder. (51) Für Jocaste ist klar, woher die Ruhelosigkeit und die Sorgen ihres Mannes rühren: Die „Quackelei des alten Pfaffen“ (51) ist verantwortlich für seine unruhige Gemütsverfassung. Die Diagnose liegt auf der Hand: „So melancholisch ist nicht leicht ein furchtsam Weib“ (51). Oedipus’ Verhalten resultiert also einerseits aus der spezifischen Situation, aus dem quälenden Warten auf den Hirten, der ihm endlich Gewissheit bringen soll. Andererseits ist es in seinem Charakter angelegt. 282 Nach der Humoralpathologie ist ein Übermaß an schwarzer Galle verantwortlich für den melancholischen Zustand, dessen Symptome auf Steffens’ Oedipus größtenteils zutreffen: So schwankt der Melancholiker zwischen Zuständen dumpfen Brütens und großer Unrast. In der antiken Tradition gilt die Melancholie speziell als die Eigenschaft großer Männer. Der Autor der Aristoteles zugeschriebenen Problemata wirft die Frage auf, wieso sich „alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker“ erwiesen. 283 Melancholie ist bei allen negativen Begleiterscheinungen also auch eine Auszeichnung für herausragende Individuen. Somit kann sie im Drama geradezu zum Kennzeichen des tragischen Helden werden; Walter Benjamin etwa hat in Rückbindung an die lutherische Lehre demonstriert, dass Melancholie ein Grundzug in der Zeichnung barocker Herrscherfiguren ist. 284 282 Vgl. Hellmut Flashar u. Hans-Ulrich Lessing, Melancholie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. V, Basel 1980, Sp. 1038-1043; Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1978 u. ö.; Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. 283 Aristoteles, Problemata Physica XXX, 1, in: Aristoteles, Problemata Physica, übersetzt von H. Flashar, Darmstadt 1962 (= Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von E. Grumach, Bd. 19), S. 250. 284 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 119. <?page no="85"?> 85 Steffens’ Oedipus erweist sich in mehrerlei Hinsicht als Melancholiker. Bereits die Auseinandersetzungen mit Tiresias und Creon verdeutlichen, dass bei ihm die schwarze Galle vorherrscht. Zeigte er sich dem Volk gegenüber als besorgter, ja geradezu väterlicher Herrscher, so verhindert in dem Streitgespräch mit Creon sein Jähzorn ein sachliches Abwägen von dessen Argumenten. 285 Die „Raserei“ (27), die er Creon unterstellt, ist in Wahrheit sein Charakterzug. Zwar lässt er sich von Jocaste dazu bewegen, das Todesurteil in Verbannung umzuwandeln; eine Änderung seiner Einstellung gegenüber Creon bedeutet das jedoch nicht: „Nein, Nein! ich werde dich, so lang ich lebe, hassen“ (35), verkündet er seinem versöhnlichen Schwager in Gegenwart von Cleantes und Jocaste. Auch diese Maßlosigkeit ist Merkmal des Melancholikers. Rückblickend erkennt Oedipus, dass er bereits am Hofe seiner vermeintlichen Eltern die „Schwermuht“ (44) quälte, die ihn angesichts von Jocastes Bericht über die Ermordung ihres ersten Mannes wieder befällt. Er selbst konstatiert: „Die Schwermuht häuffet sich“ (40). So verstärkt sich Oedipus’ bereits in ihm angelegte Unausgeglichenheit im Laufe des Dramas. Den Höhepunkt bildet Jocastes oben zitierte Schilderung, die eindeutig abwertend gefärbt ist. Diese Negativzeichnung der Melancholie und des Melancholikers unterscheidet die barocke von der aufklärerischen Perspektive. Während etwa in Kaspar Stielers Mischspiel Ernelinde postuliert wird, die „traurige Melankoley“ wohne „mehrentheiles in Pallästen“, 286 so wertet Steffens Oedipus-Drama die Melancholie bereits zur Eigenschaft ängstlicher Frauen ab. Ein melancholischer Herrscher ist somit ein Unding, eine Bedrohung für sich selbst und den Staat. Gerade weil Oedipus Melancholiker ist, ist er zur Herrschaft letztlich ungeeignet und kann als abschreckendes Negativbeispiel gelten. Damit nimmt Steffens eine Gegenposition zur Barockdramatik ein; dennoch weist sein Drama einige deutliche Affinitäten zur Tradition des 17. Jahrhunderts auf, was etwa an der Behandlung der Prätexte deutlich wird. Zwar denunziert Steffens den Oedipus Senecas als Schwulst, 287 übernimmt aber die ausführliche Schilderung der Beschwörung des Lajus, ganz ähnlich wie Andreas Gryphius, der in seinen Leo Armenius eine an Senecas Medea orientierte Geisterbeschwörung einfügt. Man kann vermuten, dass die Abwertung Senecas eher den Konventionen geschuldet ist als einer wirklichen programmatischen Abwendung. Schließlich übernimmt Steffens ja eben diejenigen Elemente, die in besonderem Maße gegen die aufklärerische Literaturdoktrin verstoßen. Gerade sein dichterisch eher bescheidenes Werk er- 285 Bereits in Sophokles’ Drama ist das Motiv des Jähzorns angelegt, etwa in der Darstellung der Ermordung des Laios, in der Zeichnung von Ödipus’ Verhalten im Gespräch mit Teiresias und Kreon. 286 Ernelinde Oder Die Viermahl Braut. Mischspiel, in: Filidors Trauer- Lust- und Misch- Spiele, Erster Theil, Jena 1665, S. 138. Angabe nach Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 124. 287 Vgl. Steffens, Oedipus, unpaginierte Vorrede. <?page no="86"?> 86 möglicht es, das subkutane Fortleben barocker Elemente zu verfolgen, ohne dass dadurch Steffens’ Oedipus als eine Fortsetzung des Barockdramas gelten kann. Einerseits zitiert Steffens barocke Deutungsmuster und verwendet Elemente des Barockdramas, die nach Gottsched überwunden werden sollten, andererseits aber bricht die moralische Schlusspointe mit ihrem pädagogischen Impetus die barocke Vanitaslehre. 6.3. Religionskritik und Orthodoxie Zeitweise erscheint Jocaste als eigentliche Hauptfigur; ihre Auseinandersetzung mit den Priestern um die Glaubwürdigkeit der Orakel wird zumindest im Mittelteil des Dramas zum bestimmenden Thema. Anders als Oedipus setzt sie sich gegen das Schicksal zur Wehr: So tritt neben die Wahrheitssuche des Oedipus als zentraler Konflikt der Gegensatz zwischen Skepsis und naiver Religiosität, die nicht durch Rationalismus und Skeptizismus geschwächt ist. Selbst das delphische Orakel hat für Jocaste keinerlei Bedeutung: Was hilft, was schadet uns sein dunkler Unterricht? / Wer ist denn wol so klug, gewis voraus zu sagen: / Dis oder jenes wird sich dann und so zu tragen? / Ein Lügner und Prophet ist bei mir einerlei [.] (38) In tragischer Ironie erwähnt sie - gerade um die Orakel zu entkräften - die Umstände der Aussetzung ihres Sohnes, die Oedipus die Wahrheit ahnen lassen. In der Auseinandersetzung mit dem alten Priester zu Beginn der vierten Abhandlung quittiert sie dessen Vorwurf, sie wolle nach ihrer „Phantasie das Schicksal“ (52) uminterpretieren, mit höhnischem Gelächter: Blasphemisch leugnet Jocaste göttlichen Einfluss auf das Leben des Menschen. Als sie von der Beschwörung des toten Lajus unterrichtet wird, hält sie den Bericht für übertrieben und unglaubwürdig: „Die Mücke soll durch aus ein Elephante seyn.“ (60) Für die Königin steht fest, dass die Toten keine Macht über die Lebenden haben (61). Ihr Sohn Eteocles hingegen sieht sich einem blinden Schicksal ausgeliefert, so dass letztlich das Individuum nicht für seine Taten verantwortlich sei: Ein höheres Gesetz raubt uns den freien Willen, / Was gut, was böse heißt, das müssen wir erfüllen. […] / So sind wir lasterhaft; so sind wir tugendsam, / Obgleich dis beides nicht von unsern Kräften kam. (64) Für ihn sind sämtliche Bezugsgrößen relativ geworden. Er hält Priesterbetrug ebenso für denkbar wie die göttliche Wahrheit von Orakelsprüchen. Im Gegensatz dazu betont Jocaste gegenüber Oedipus noch einmal ihre Auffassung von Willensfreiheit: <?page no="87"?> 87 Dein Schicksal stehet ja in deinem freien Willen. […] / Wie oft kan uns ein Traum nicht zu der Mutter füren? / Wie oft schlaf ich im Traum bei einem andern Man? (69) Als sich die Schlinge um Oedipus immer weiter zuzieht, versucht Jocaste ihn von weiteren Nachforschungen abzuhalten (74). Daran zeigt sich deutlich, dass ihre Ausfälle gegen Religion und Orakel eher Verdrängungsleistungen als tatsächliche Religionskritik waren. Ihre Hybris übertrifft diejenige des Oedipus bei weitem. Jocaste verdrängt die Wahrheit mit allen Mitteln und schreckt dabei auch vor Blasphemie nicht zurück. So erfolgt ihr Selbstmord eher als Bestrafung ihrer überzogenen Götterkritik als wegen ihres Entsetzens über den Inzest mit ihrem Sohn. Wenn am Ende die Orthodoxie auf ganzer Linie siegt und der Vorwurf des Priesterbetrugs deutlich entkräftet wird, dann zeigen sich in diesen anti-aufklärerischen Zügen deutliche Merkmale des lutherischen Schuldramas. In diesen Kontext gehört auch Steffens’ Verteidigung der Tragödie, 288 in der er versucht, christliche Einwände gegen heidnische Stoffe zu entkräften, indem er die pädagogische Wirkung des Theaters und insbesondere des Schultheaters unterstreicht und so versucht, antike heidnische Stoffe in einem lutherisch-orthodoxen Kontext zu etablieren. 289 Dabei muss er zunächst Vorwürfe entkräften, es sei „Christen unanständig[,] sich auf der Schaubüne in frembde Kleider [zu] stecken“: 290 Pagane Stoffe können offensichtlich nur auf die Bühne gebracht werden, wenn sie mit christlicher Moral unterfüttert werden und keinerlei Verdacht bestehen kann, sie würden den christlichen Glauben der Celler Jugend untergraben. 6.4. Ein pädagogischer Oedipus: Die Botschaft des Dramenschlusses Am Ende des Dramas ist Oedipus psychisch und körperlich zugrunde gerichtet. Der Geblendete inszeniert seinen Auftritt vor den Thebanern als Ecce-Homo-Szene, die von Selbsthass und Selbstverachtung geprägt ist. Dabei entsteht der Eindruck, als würde sich der Geblendete gleichsam in Selbstmitleid verlieren. So weist er das Mitleid der Thebaner zurück (88) und bittet darum, als Sühneopfer für die Stadt entweder getötet oder doch wenigstens verbannt zu werden. Als „Ungeheur der Menschlichkeit“ (89) verflucht er sich selbst und ersinnt grausame Todesarten: 288 Vgl. Steffens, Abhandlung von der Moralität der Schauspiele. 289 Ganz ähnlich ist die Stoßrichtung von Gottscheds Rede Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. Vgl. zum theaterfeindlichen Diskurs, dem Steffens ebenso wie Gottsched entgegentritt, Wild, Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit. 290 Steffens, Abhandlung von der Moralität der Schauspiele, S. 9. <?page no="88"?> 88 Vertreibt, versteckt, durchbohrt, erhenkt, ersäuffet mich, / Ich bin nichts bessers wehrt! der Abgrund öfne sich! / Ihr Furien heraus! versenkt mich in die Hölle! / Stürzt Berge über mich! zerreist mich auf der Stelle! (89) Diese barocken Wortkaskaden, die ihre sinngemäße Entsprechung in Sophokles’ Drama haben, 291 erregen das Mitleid, aber auch den Unwillen der Umstehenden. So unterstellt ihm Cleantes, Oedipus treibe sein „Herzeleid“ und seine „Verzweifelung vielleicht auch gar zu weit“ (89). Creon gegenüber erscheint er als Bittsteller, der nur noch um Verbannung bittet. Doch sein Schwager verweist auf Tiresias als höchste Instanz. 292 Der Seher tritt - anders als in den Dramen von Sophokles und Seneca - noch einmal auf. Triumphierend und geradezu schulmeisterlich kostet er seinen Sieg über Oedipus aus: „Wie nun, mein Oedipus! ei, ei, woher nun das? / Heißt meine Warnung noch ein hemisches Betrügen? “ (91) Schließlich verkündigt er dem gedemütigten König den Willen der Götter: Da er echte Reue empfinde, werde ihm das Leben geschenkt, er müsse allerdings in die Verbannung gehen. Dieser christliche Reuegedanke steht in krassem Gegensatz zum hämischen Verhalten des Tiresias. Oedipus akzeptiert freudig den Seherspruch und plant ein Leben in bußfertiger Reue: Wolan! ich bin bereit, mein Elend anzutreten. / Vielleicht erhört Gott da mein Tränen-reiches Beten, / Vielleicht ruft er den Geist bald, bald von hinnen ab, / Vielleicht bedeckt mich noch dereinst ein ehrlich Grab. (93) Diese Passagen nehmen die Handlung des Oidipus auf Kolonos vorweg und bringen eine versöhnliche, christliche, auf Erlösung zielende Komponente in die düstere Dramenhandlung ein. Beim Abschied von seinen Kindern stellt Oedipus sein Schicksal als Beispiel für menschlichen Hochmut dar: Seine Kinder sollten stets daran denken, wie „leicht ein Sterblicher die Rache reitzen kan“ (94), wie hilflos also der Mensch der wankelmütigen Fortuna ausgesetzt sei. Dem Menschen bleibe nichts anderes übrig, als auf die göttliche Gnade zu hoffen. Diese christliche Weltdeutung unterstreicht auch Creon: In seinen sowohl an die Thebaner als auch an das Publikum gesprochenen Schlussworten erklärt er, wie unzuverlässig es sei, auf menschliche Fertigkeiten zu bauen. Oedipus, der durch seine Klugheit zum Sieger über die Sphinx und zum Herrscher von Theben geworden sei, dient als Exempel für die Vergeblichkeit menschlichen Handelns: Seht! seht die Trübsal an, die er sich auferlegt! / Und wenn ihr sie nun so, wie sich’s gehört, erwegt; / So lernt, es sei kein Mensch der glücklichste zu nennen, / Bevor wir seinen Tod nicht selig preisen können. (96) Diese Schlusssentenz fasst noch einmal die pädagogische Intention von Steffens’ Oedipus zusammen. Demonstrativ werden in der Schlussszene 291 Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 1409ff. 292 Diesen Zug übernimmt Steffens von Sophokles, wo Kreon auf den Götterspruch verweist, der endgültig über Oidipus’ Schicksal entscheiden solle. Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 1438f. <?page no="89"?> 89 sämtliche Fehler des Oedipus in Erinnerung gerufen und gesühnt. Hier klingt christliches Erlösungs- und Märtyrerdrama an, wie es besonders im 17. Jahrhundert auf dem Schultheater gepflegt wurde, allerdings vermengt mit Gottscheds Lehre vom moralischen Lehrsatz, der einer Tragödie zugrunde liegen müsse. Von Bedeutung ist Steffens’ Hinweis in der Vorrede, er wäre in der Gestaltung des Schlusses dem Œdipe Pierre Corneilles gefolgt, wenn er denn Zeit gehabt hätte, eine solche Variante auszuarbeiten. Allerdings vermag man sich kaum vorzustellen, wie Corneilles Schluss mit den Grundtendenzen von Steffens’ Drama zusammengebracht werden könnte. Schließlich zeigt Corneille einen völlig anderen Weg der Oidipus-Interpretation auf: In seinem Drama ist sich Œdipe keiner subjektiven Schuld bewusst: „Mon souvenir n’est plein que d’exploits généreux“. 293 Seine Selbstblendung ist heroisches Opfer und zugleich metaphysischer Protest gegen grausame Götter. Der Geblendete tritt nicht mehr auf, ein deutliches Zeichen einer klassischen Dämpfung. Durch einen Botenbericht erfahren die Zuschauer von seiner Tat, deren positive Folgen für die Stadt unmittelbar evident sind. In einem geradezu messianischen Akt hat Œdipe durch sein Opfer den Thebanern neues Leben geschenkt. Gerade die letzten Szenen von Corneilles Œdipe zeigen deutlich, dass in seiner Dramaturgie die admiration eine zentrale Wirkungskategorie ist. Im Vergleich dazu erscheint Steffens Oedipus jämmerlich, die Begegnung mit Tiresias wirkt angesichts des geschehenen Leids kleinlich. Diese Variante des Schlusses ist deutlich durch Gottscheds Oidipus-Interpretation geprägt, der zufolge man an dieser griechischen Tragödie sehen könne, „daß Gott auch die Laster, die unwissend begangen werden, nicht ungestraft lasse.“ 294 Eben dieser Fatalismus findet sich auch in Creons Schlussworten. Allerdings ist Steffens in vielen Punkten nicht Gottscheds Deutung gefolgt. So übernimmt er gerade die Züge der Vorlage, die Gottsched als unwahrscheinlich kritisiert hatte; zudem ignoriert er den von Gottsched empfohlenen Voltaire. Steffens’ Oedipus ist ein interessanter Versuch, die Anforderungen des Schultheaters mit den Vorgaben von Gottscheds Tragödientheorie zu vereinbaren. Dessen Theaterreform macht selbst vor dem Schultheater nicht halt, auch wenn „das Schulspiel ein Extrem der im 18. Jahrhundert durchgehend zu beobachtenden Gattungsliberalität“ 295 darstellt und Steffens teilweise Schwierigkeiten hat, sich zwischen regelmäßiger Tragödie und Schulspiel zu entscheiden. Dass aber der Versuch einer Verbindung beider Sphären letztlich als gescheitert anzusehen ist, liegt zu einem großen Teil am dichterischen Unvermögen des Autors. Auch ist gerade die Wahl des sophokleischen König Oidipus als Vorlage mitverantwortlich für viele Mängel des Stückes. Wie an Gottscheds Interpretation der griechischen Muster- 293 Corneille, Œdipe, S. 71. Vgl. Friedrich, Ein Ödipus mit gutem Gewissen. 294 Gottsched, CD, 611. Dazu George, Deutsche Tragödientheorien, S. 157. 295 Meyer, Das deutsche Trauerspiel, S. 11. <?page no="90"?> 90 tragödie überdeutlich wurde, lässt sich dieses Drama eben nicht auf einen simplen moralischen Lehrsatz reduzieren - und genau dies versucht Steffens in seinem Oedipus. Die Schaubühne habe „die Einprägung gewisser moralischer Wahrheiten zu ihrer Hauptabsicht“. 296 In dieser Position liegt zunächst einmal eine grundsätzliche Affinität zu Gottscheds poetologischen Vorstellungen wie überhaupt zu Grundannahmen der aufklärerischen Dichtungstheorie. Allerdings soll nach Steffens eine Dramenaufführung eben nicht nur „die Herzen der Zuschauer zur Ausübung der Tugend“ 297 anfeuern, sondern ebenso die Herzen der darstellenden Schüler, die zudem in Sprache, Auftreten und rhetorischen Fähigkeiten unterrichtet werden sollen. Für die Theaterpraxis hat diese Auffassung ganz andere Konsequenzen, wie sich etwa beispielhaft an der Erweiterung der Vorlage aus theaterpraktischen Erwägungen zeigt - Erweiterungen, die auf Kosten der Handlungsstringenz und des Wahrscheinlichkeitsgebots gehen und letztlich Steffens’ Experiment scheitern lassen. 296 Steffens, Abhandlung von der Moralität der Schauspiele, S. 7. 297 Ebd. <?page no="91"?> 91 7. Griechische Tragödie und bürgerliches Trauerspiel: Gotthold Ephraim Lessings Miß Sara Sampson Gotthold Ephraim Lessings Drama Miß Sara Sampson, 298 1755 erschienen und im selben Jahr in Frankfurt an der Oder vor einem tränenseligen Publikum uraufgeführt, 299 gilt als erstes bürgerliches Trauerspiel in deutscher Sprache. 300 „Lessing war, so scheint es auf den ersten Blick, von der griechischen Tragödie nie so weit entfernt wie mit diesem Stück.“ 301 Der Grundkonflikt des Dramas weist in die bürgerliche Sphäre: 302 Sara Sampson hat zusammen mit ihrem Geliebten, dem Libertin Mellefont, ihren Vater verlassen. Das Paar wartet nun in einem Gasthof auf die ersehnte Abreise nach Frankreich, wobei Mellefonts Bindungsangst Saras Lage noch unangenehmer macht. Marwood, die ehemalige Geliebte Mellefonts und Mutter seiner Tochter Arabella, hat Saras Vater, Sir William Sampson, vom Aufenthaltsort seiner Tochter unterrichtet; sie hofft, auf diese Weise den untreuen Geliebten zur Rückkehr bewegen zu können. Doch ihr Plan schlägt fehl: Sir William ist bereit, seiner Tochter und ihrem Verführer zu verzeihen. Marwood sieht keinen anderen Ausweg mehr, als Sara zu vergiften. Mellefont ersticht sich; zurück bleibt der weinende Vater. Sowohl in der Handlungskonstellation als auch im sprachlichen Duktus zeigt sich deutlich, dass Lessing stark von den empfindsamen Briefromanen Richardsons beeinflusst wurde. Während das Schlusstableau zumindest äußerlich Ähnlichkeiten mit dem Märtyrerdrama aufweist - Sara stirbt auf 298 Gotthold Ephraim Lessing, Miß Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. I, S. 311-398. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. Daten zu Entstehung und Rezeption bei Veronica Richel, Erläuterungen und Dokumente. Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson, Stuttgart 2003. 299 Karl Wilhelm Ramler schreibt am 25. Juli 1755 an Johann Ludwig Gleim über die Uraufführung: „Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille gesessen wie Statüen, und geweint.“ (Zitiert nach Richel, Erläuterungen und Dokumente, S. 44) 300 Dafür kommt auch Christian Leberecht Martinis Rhynsolt und Sapphira in Frage, erschienen ebenfalls 1755, Handschrift schon von 1753. Die größere Wirkung geht aber in jedem Fall von Lessing aus. Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 6. Auflage, Stuttgart/ Weimar 2006, S. 27, hält Martinis Drama für „eine (zwar nach klassizistischen Regeln überformte) Haupt- und Staatsaktion“. 301 Wilfried Barner, Lessing und die griechische Tragödie, in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Colloquium Rauricum Bd. 5, Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 161- 198, hier S. 171. 302 Das Adjektiv „bürgerlich“ wird hier im Sinn von „rein oder allgemein ‚menschlich’ und privat, häuslich, familiär im Gegensatz zum Geschichtlich-Poltischen, Öffentlichen und Heroischen“ gebraucht (Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, S. 11). <?page no="92"?> 92 offener Bühne, was nach klassizistischer Poetik einen denkbar großen Regelverstoß darstellt; Gottscheds Cato etwa zieht sich dazu diskret hinter einen Vorhang zurück -, so ist eben diese Szene inhaltlich stark von der lutherischen Vergebungstheologie beeinflusst. 303 In diesem von christlichen Werten, Familienkult und Tränenseligkeit geprägtem Kontext wirkt die Figur der Marwood wie ein Fremdkörper, wie ein „mythisches Fossil“. 304 Diese mythische Dimension gewinnt Marwood durch ihre Drohung, selbst zu einer neuen Medea zu werden. In der Auseinandersetzung mit Mellefont im zweiten Akt droht Marwood ihrem ehemaligen Geliebten damit, ihre gemeinsame Tochter zu töten, um ihn leiden zu lassen: Zittre für deine Bella! Ihr Leben soll das Andenken meiner verachteten Liebe auf die Nachwelt nicht bringen; meine Grausamkeit soll es tun. Sieh in mir eine neue Medea! (341) 305 Diese Äußerung bezieht sich offensichtlich auf die Medea des Seneca, 306 wo die Protagonistin ihre mythische Rolle gleichsam herbeiredet: Zu Beginn der Tragödie verabschiedet Medea ihre magische Vergangenheit („Medea fiam“, V. 171), an deren Ende, als es an die Planung der Rachetat geht, zitiert sie eben diese mit ihrem Namen verbundenen Eigenschaften wieder herbei („Medea nunc sum“, V. 910). Die Parallelen gehen tiefer, als diese eine wörtliche Anspielung zunächst vermuten lässt. So konstatiert Marwood bei ihrem ersten Auftreten zwar einerseits, ihr blieben keine anderen Mittel als Bitten (20), andererseits kündigt sie zugleich an, welche Folgen Mellefonts Unnachgiebigkeit haben würde: Wenn er sich dagegen verhärten sollte? So werde ich nicht zürnen - ich werde rasen. Ich fühle es, Hannah, und wollte es lieber schon itzt. (327) Das „Rasen“ verweist auf den Furor der Protagonistin Senecas; die mangelnde Affektbeherrschung ist ein Zug, den Marwood mit Senecas Medea gemein hat. Sie zieht sich motivisch durch das ganze Drama und konterkariert oftmals ihre Verstellung. So gelingt es ihr zunächst, Mellefont zur Rückkehr zu bewegen. Nachdem dieser den Raum verlassen hat, bricht ihre 303 Vgl. Heinrich Bornkamm, Die innere Handlung in Lessings Miß Sara Sampson, in: Euphorion 51 (1957), S. 385-396. 304 Winfried Woesler, Lessings Miss Sara Sampson und Senecas Medea, in: Lessing Yearbook 10 (1978), S. 75-93, hier S. 82. 305 Interpunktion korrigiert; in der zitierten Ausgabe steht das Semikolon nach „meine“. 306 Vgl. grundlegend Barner, Produktive Rezeption, sowie F. Andrew Brown, Seneca and Sara. Parallels and Problems, in: Edward P. Harris/ Richard E. Schade (Hrsg.), Lessing in heutiger Sicht. Beiträge zur internationalen Lessing-Konferenz 1976, Bremen/ Wolfenbüttel 1977, S. 143-155, Simonetta Sanna, Von Miss Sara Sampson zu Emilia Galotti: Die Formen des Medea-Mythos im Lessingschen Theater, in: Dies., Von der ratio zur Weisheit. Drei Studien zu Lessing, Bielefeld 1999, S. 19-50, Winfried Woesler, Lessings Miss Sara Sampson und Senecas Medea. <?page no="93"?> 93 Fassade zusammen: Hätte das Gespräch länger gedauert, so hätte sie ihm „eine ganz andre Marwood gezeigt“ (338). Und eben diese andere Marwood bekommt Mellefont zu sehen, als er nach kürzester Zeit zurückkehrt, um seinen Entschluss zu revidieren. An dieser Stelle bezeichnet sich Marwood als „neue Medea“ und verliert sich in ekstatischen Rachephantasien: Oder wenn du eine noch grausamere Mutter weißt, so sieh sie gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will ich es sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das Kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. Ich - ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei! (341f.) Der erstaunlich gelassene Mellefont quittiert diese Gewaltvorstellungen mit der lapidaren Feststellung: „Sie rasen, Marwood - -“ (342). Diese Raserei gipfelt in einem Mordversuch, der allerdings folgenlos bleibt. Spätestens hier wird deutlich, wie fremd die Medea-Figur im bürgerlichen Trauerspiel wirkt. Das „Übermaß an Verworfenheit“, 307 das Marwood kennzeichnet, wirkt im Kontext von Lessings Drama eher störend. Schließlich hat sie noch keine Verbrechen begangen, die mit denen Medeas in irgendeiner Weise vergleichbar wären. Erst am Ende des Dramas wird Marwood zur Mörderin, und dies in tragischer Ironie auf das Stichwort Saras hin. Bereits im ersten Akt schildert Sara einen Traum, der sie beunruhigt hat: Sie sieht sich in einer gefährlichen Felslandschaft; vor ihr geht Mellefont, der sie mit Blicken ermuntert, ihm zu folgen. Plötzlich hört sie „ein freundliches Rufen“ (321); es ist die Stimme ihres Vaters. Als sie sich nach ihm umwendet, gleitet sie aus. Im letzten Moment wird sie von einer ihr „ähnlichen Person zurückgehalten“ (321) Diese zieht einen Dolch hervor und ersticht Sara: „Ich rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben! “ (321) Alle Protagonisten des Dramas treten in diesem Traum auf. Er ist offensichtlich Reflex von Saras bedrängter Lage, von ihrer ungesicherten Stellung zwischen dem Vater und dem Verführer Mellefont. Und dieser Traum wird schließlich zum Motor der Handlung: Nachdem sich die vermeintliche Lady Solmes ihrer Konkurrentin als Marwood zu erkennen gegeben hat, interpretiert Sara den Traum als eine Warnung: Ha! Nun erkenn ich sie, - nun erkenn ich sie, die mördrische Retterin, deren Dolche mich ein warnender Traum preisgab. Sie ist es! Flieh, unglückliche Sara! […] Itzt dringt sie mit tötender Faust auf mich ein! Hülfe! (382) Erst Saras Anspielung auf den Traum und ihre Identifikation Marwoods mit der Mörderin bringt diese darauf, nicht sich selbst, sondern Sara zu vergif- 307 Woesler, Lessings Miss Sara Sampson, S. 82. <?page no="94"?> 94 ten: „Ich sehe, ich werde gefürchtet. Warum folge ich ihr also nicht? Warum versuche ich nicht noch das letzte, das ich wider sie brauchen kann? “ (382) Hierin liegt eine deutliche Differenz zu den Medea-Dramen von Euripides und Seneca, wo die Tat von langer Hand geplant oder doch zumindest erwogen wurde und nicht - wie bei Lessing - letztlich aus einem Zufall resultiert. Einerseits liegt gerade in dieser Konstruktion eine Schwäche des Dramas: Alle Glückshindernisse sind beseitigt, einer Wiederherstellung der Familie stünde nicht mehr im Weg, da provoziert Saras unbedachte Äußerung den Mord. Andererseits verstärkt die Kontingenz des Geschehens auch die Wirkung des Schlusstableaus: Sara stirbt umsonst, das Mitleid des Zuschauers gilt einer geläuterten Sünderin. Die aufgezeigten Parallelen zu Medea beziehen sich auf die Tragödie Senecas. Dies ist zunächst verwunderlich, galten doch die Tragödien des römischen Dichters den Autoren der Aufklärung als schwülstiger Abklatsch der griechischen Originale, als „versifizierte Rhetorik“. 308 Lessing hingegen verteidigt in programmatischer Abkehr von Gottsched die Tragödien Senecas. In der unvollendet gebliebenen Abhandlung Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind 309 aus dem Jahr 1754 analysiert und kommentiert er zwei Stücke des römischen Autors, den Hercules Furens und den Thyest; eine Untersuchung der übrigen Tragödien war geplant. Diese Beobachtung zeigt wieder einmal, dass Seneca zwar von Gottsched theoretisch diskreditiert war, in der Praxis aber weiterhin benutzt und transformiert wurde - und das bezeichnenderweise neben Lessing auch von Autoren der Gottsched-Schule. Lessings Versuch einer Rettung Senecas setzt Tendenzen der Aufklärungsdramatik fort und korrigiert zugleich eine aufklärerische Verdrängungsleistung. Ob Lessing hingegen die euripideische Medea kannte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dagegen spricht, dass sich seine Beschäftigung mit der griechischen Tragödie zur Entstehungszeit von Miß Sara Sampson noch in den Anfängen befand. 310 Direkte Einflüsse scheinen mir nicht vorzuliegen, auch wenn Ter-Nedden behauptet, dass Lessing „die Medea des Euripides als Tragödie der moralischen Blindheit gelesen und nachgeahmt“ habe. 311 Dass Lessing von Euripides die Technik der die Personen geradezu psychologisch sezierenden Dialoge gelernt haben soll, lässt sich kaum belegen. Somit hat Ter-Neddens Argumentation ein großes Problem: Sie geht von der nicht beweisbaren, ja eher unwahr- 308 Barner, Produktive Rezeption, S. 13. 309 Abgedruckt bei Barner, Produktive Rezeption, S. 101-166. 310 Vgl. Barner, Lessing und die griechische Tragödie, S. 165. Lessing lernte durchaus zeitüblich die griechischen Tragiker zunächst durch französische und lateinische Übersetzungen kennen. Uta Korziniewski, „Sophokles! Die Alten! Philoktet! “ Lessing und die antiken Dramatiker, Konstanz 2003, S. 139, erwägt eine Lektüre der euripideischen Medea um 1755, führt allerdings keine Gründe für ihre Vermutung an. 311 Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986, S. 88. <?page no="95"?> 95 scheinlichen Prämisse aus, Lessing habe sich eingehend mit der Medea des Euripides auseinandergesetzt. Abgesehen davon, dass es doch verwundert, dass diese intensive Beschäftigung nirgends in den theoretischen Schriften eine Spur hinterlassen haben soll, negiert diese Lesart völlig den prägenden Einfluss Senecas, der von der Forschung deutlich herausgearbeitet wurde. So stellt sich unweigerlich die Frage, wieso denn Lessing den Bezug zu Seneca so stark, den zu Euripides aber überhaupt nicht markiert habe. Dass einige Passagen von Miß Sara Sampson unter Zuhilfenahme der euripideischen Medea in anderem Licht erscheinen, sei hier nicht bestritten. Allerdings muss dieses Vorgehen Gedankenspiel bleiben, da die Voraussetzungen für ein solches Verfahren nicht gegeben sind und es aufgrund der Materialbasis philologisch zumindest fragwürdig ist, die Interpretation eines ganzen Werks auf die Basis eines Vorurteils zu gründen. Man kann die Perspektive ausweiten und die Figurenkonstellation von Lessings bürgerlichem Trauerspiel vor dem Hintergrund der römischen Tragödie lesen; die Ergebnisse sind aber eher banal und zeichnen sich hauptsächlich durch das Aufzeigen von Gegensätzen aus. 312 Schließlich ist der Medea-Bezug lediglich einer in einer ganzen Reihe von intertextuellen Verweisen, so dass die Interpretation von Miß Sara Sampson als Medea- Drama erst nach etlichen ausschließenden Vorentscheidungen möglich ist. Wenn man etwa ignoriert, dass sich die Handlungskonstellation - und zwar einschließlich der Kindsmorddrohung - in Thomas Shadwells Komödie The Squire of Alsatia (1688) vorgezeichnet findet, 313 dann lässt sich in der Tat Lessings bürgerliches Trauerspiel nur vor der Folie des antiken Dramas interpretieren. Interessanter scheint hingegen die Frage, was insgesamt der Rückbezug auf den Mythos - sei es in Gestalt der griechischen oder der römischen Tragödie - im Rahmen der neuen Gattung des bürgerlichen Trauerspiels leistet. Lessing befindet sich in permanentem Wettstreit mit Gottsched. Er tritt mit dem Gestus des Neuerers auf und vertritt seinen Anspruch nicht selten polemisch, 314 so etwa in der Selbstrezension zu Miß Sara Sampson, in der Lessing dezidiert auf die Gattung seines Dramas hinweist: „Ein bürgerliches Trauerspiel! Mein Gott! Findet man in Gottscheds critischer Dichtkunst ein Wort von so einem Dinge? “ 315 Diese Polemik richtet sich gerade gegen den normierenden Anspruch von Gottscheds starrer Regelpoetik. Zwar ist sie in diesem konkreten Fall zumindest was die Terminologie betrifft unbegründet - in der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst aus dem Jahr 1751 erwähnt Gottsched „bürgerliche, oder adeliche 312 Vgl. die detaillierte Analyse bei Woesler, Lessings Miss Sara Sampson. 313 Vgl. Thomas Shadwell, The Squire of Alsatia. A Comedy, in: The Complete Works of Thomas Shadwell, hrsg. von Montague Summers, Bd. IV, London 1927, S. 191-283. Vgl. Richel, Erläuterungen und Dokumente, S. 21f. 314 Man denke an die maßlosen Gottsched-Verleumdungen in den Literaturbriefen. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. II, S. 11-302, bes. S. 52ff. (17. Brief). 315 Zitiert nach Richel, Erläuterungen und Dokumente, S. 42. <?page no="96"?> 96 Trauerspiele“ 316 als mögliche Bezeichnung für die französische comédie larmoyante -, dennoch ist sie aufschlussreich, was das Selbstverständnis Lessings angeht. Gottsched beruft sich auf die antiken Autoren als überzeitliche Muster in der Dichtkunst. In zunächst ganz ähnlicher Weise betont auch Lessing den Vorbildcharakter besonders der griechischen Literatur. Sind für Gottsched die Alten aber eben deshalb nachahmungswürdig, weil in ihren Werken überzeitlich gültige Regeln sichtbar werden, so liegt für Lessing ihre Vorbildhaftigkeit in der spezifischen Art der Charakterdarstellung. Im Brief an Moses Mendelssohn vom 28. November 1756, also etwa ein Jahr nach der Uraufführung von Miß Sara Sampson, schreibt Lessing: Lassen Sie uns hier bei den Alten in die Schule gehen. Was können wir nach der Natur für bessere Lehrer wählen? Um das Mitleid desto gewisser zu erwecken, war Oedipus und Alceste von allem Heroismus entkleidet. Jener klagt weibisch, und diese jammert mehr als weibisch; sie wollten sie lieber zu empfindlich als unempfindlich machen; sie ließen sie lieber zu viele Klagen ausschütten, zu viel Tränen vergießen, als gar keine. 317 Lessing instrumentalisiert also die griechische Tragödie als Legitimationshilfe für sein eigenes Theaterkonzepts. Das Beispiel der weinenden Griechen dient als Argument gegen die heroische Tragödie, die Bewunderung hervorrufen will, und zugleich als Legitimation von Lessings Mitleidsdramaturgie. Die Autorität der Alten wird hier gegen Gottsched gewendet, der eben diese Autorität für sein Dichtungskonzept in Anspruch nimmt. Lessing, so die implizite Aussage, kommt den Intentionen der Griechen wesentlich näher als Gottsched. Bei diesem Wettstreit um die Nähe zu den Alten geht es nicht zuletzt um die richtige Interpretation der griechischen Tragödie. Dass es sich hierbei um ein immer wiederkehrendes Grundmuster handelt, muss nicht besonders herausgestrichen werden: Ganz ähnlich verfährt auch Bodmer, der die griechische Tragödie als Muster für seine Konzeption des auf Bewunderung gegründeten politischen Trauerspiels heranzieht. Im Kontext von Lessings Drama hat der Medea-Verweis mehrere Funktionen. Zunächst verleiht das mythische Zitat der neuen Gattung tragische Dignität. Dazu setzt Lessing ein nicht zu übersehendes Signal: Nicht als Nachfolger der comédie larmoyante ist das bürgerliche Trauerspiel zu sehen, sondern als legitimer Erbe der antiken Tragödie. Das heroische Trauerspiel französischer Prägung, wie es Gottsched propagiert, ist nach Lessing hingegen eine Fehlentwicklung, die nur scheinbar in der Tradition der attischen Tragödie steht, dieser in Wahrheit aber diametral entgegengesetzt ist. Eine Interpretation, die Miß Sara Sampson als Medea-Drama auffasst, geht zu weit, da sie fälschlicherweise unterstellt, unter der Vielzahl von Prätexten sei die Medea der strukturprägende. Zudem wird eine solche Lesart dem emp- 316 Gottsched, CD, S. 644. 317 Gotthold Ephraim Lessing, Brief an Moses Mendelssohn, 28. November 1756, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. II, S. 1058. <?page no="97"?> 97 findsamen Charakter des Stücks nicht gerecht: In bürgerlich-empfindsamem Kontext wird zwar antiker Heroismus anzitiert, werden dramatische Grundkonstellationen mythologisch aufgeladen, 318 der Mythos aber wird nicht völlig befriedigend in das neue Dramenkonzept integriert. Er wird in Lessings Drama zum Zitat, zu einem Mittel, dramaturgische Neuerungen zu legitimieren und zugleich zu nobilitieren. 318 Vgl. Karl Eibl (Hg.), Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel (= Commentatio. Analysen und Kommentare zur deutschen Literatur, hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bd. II), Frankfurt a. M. 1971, S. 126. <?page no="98"?> 98 8. Johann Jacob Bodmers Bearbeitungen griechischer Tragödien Während Johann Jacob Bodmer als einer der bedeutendsten Theoretiker der Aufklärung gilt, ist sein Ruf als Dichter denkbar schlecht. Besonders die Dramen des Schweizers wurden bereits von seinen Zeitgenossen verspottet oder bestenfalls ignoriert. 319 Auch in der Literaturwissenschaft gelten seine vierzig gedruckten Stücke als Kuriositäten, denen jeglicher literarischer Wert fehle. 320 Sogar Robert H. Heitner, dessen Studie über die deutsche Aufklärungstragödie keine Niederungen scheut, weigert sich, die Tragödien Bodmers zu behandeln, da sie „either clumsy parodies of other dramas or else mere hapless historical dialogues totally unrelated to the demands of the real theater“ seien. 321 Auch wenn an der Wirkungslosigkeit von Bodmers theatralischem Schaffen kein Zweifel besteht und verkannte Meisterwerke sicher nicht aufzufinden sind, handelt es sich zumindest bei den hier interpretierten Dramen um ernsthafte Auseinandersetzungen mit einer großen Tradition. Ihr Reflexionsgrad ist außergewöhnlich hoch, allein die dichterische Umsetzung hält diesem Anspruch nicht stand. Dass sie offensichtlich als Lesedramen konzipiert wurden, 322 mag die fehlende dramatische Zuspitzung und die auffällige Geschwätzigkeit der Figuren an etlichen Stellen erklären. Im theaterfeindlichen Zürich wurde zu Bodmers Lebzeiten gerade einmal drei (! ) Theatertruppen die Spielerlaubnis erteilt, 323 so dass er Aspekten der Theaterpraxis denkbar fern stehen musste und an eine Aufführung eigener Dramen nicht einmal zu denken war. Zudem dienten Bodmers Dramen primär als Träger seiner politischen Ideen, als Illustration seiner Ideale: Dem Republikaner und Patrioten, dem Gründer einer ‚Historisch-politischen Gesellschaft’ boten sich die Verteidiger politisch-religiöser Freiheiten oder die Repräsentanten moralisch integerer Gesinnung, große Seelen aus der antiken, biblischen oder nationalen Überlieferung oder deren negative Gegenbilder als einzig würdige ‚Handlungsträger’ an [.] 324 319 Repräsentativ dürften die Bemerkungen in der Chronologie des deutschen Theaters sein, wo es etwa heißt: „Herr Bodmer ließ sich auf seiner tragischen Laufbahn nicht irre machen, und überhäufte das Publikum mit drey neuen angeblichen Trauerspielen“ ([Schmid], Chronologie des deutschen Theaters, S. 216f.); Bodmers Dramen werden zudem als Parodien bezeichnet (ebd., S. 293, S. 208). 320 Eine Übersicht über Bodmers Dramen gibt Wolfgang Bender, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, Stuttgart 1973, S. 63f. 321 Heitner, German Tragedy, S. XII. 322 Bender, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, S. 58. 323 Johann Jacob Bodmer, Schweizerische Schauspiele, hrsg. von Albert M. Debrunner, St. Ingbert 1998, S. 51-65, hier S. 56f. (Nachwort von Albert M. Debrunner). 324 Bender, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, S. 57. <?page no="99"?> 99 In der Tragödientheorie orientiert sich Bodmer an Pierre Corneilles Bewunderungsästhetik: Der vorbildliche Charakter des Helden ist für ihn wichtiger als die kathartische Wirkung der Tragödie, 325 die intellektuelle Anregung ist bedeutsamer als die Triebaffizierung. 326 Allerdings entwickelt Bodmer gleichsam mehrere Tragödientheorien, die einander zum Teil widersprechen. So lassen sich etwa die Positionen, die Bodmer insbesondere im Briefwechsel mit dem italienischen Dichtungstheoretiker Pietro di Calepio formuliert, nicht unmittelbar auf seine Dramenproduktion übertragen, da diese - mit einer fragmentarischen Ausnahme - erst zu Beginn der fünfziger Jahre einsetzt 327 und der Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes bereits 1736 veröffentlicht wird. Ist für Bodmer im Brief-Wechsel der Grund für das Vergnügen an der Tragödie die Tatsache, dass der Rezipient zwischen Hingabe an die Illusion und Erkennen der Illusion schwankt, so soll laut den Critischen Betrachtungen von 1741 die Tragödie dazu dienen, „den Leuten keine gewisse einzele Lehre, sondern an deren Statt alleine irgend eine moralische, tugendhafte und nützliche Empfindung von einem grossen Umfange beyzubringen“. 328 In entschiedener Wendung gegen Gottscheds Lehre vom moralischen Satz fordert Bodmer, das Trauerspiel solle vielmehr Empfindungen wecken, die „ihren Einfluß auf das Leben und die Aufführung in politischen Landes-Angelegenheiten haben“. 329 Die politische Wirkungsintention der Tragödie ist zentral für Bodmers Theorie. Sie steht zugleich in engem Zusammenhang mit seinem Bild der griechischen Tragödie. Bei den Griechen sei das Theater Instrument staatsbürgerlicher Belehrung gewesen. Dort, insbesondere in Athen, habe es ein Publikum gegeben, das offen für moralisierende Dialoge gewesen sei, da seine republikanische Erziehung es dafür aufgeschlossen gemacht habe. 330 325 Dazu Bender, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, S. 57, George, Deutsche Tragödientheorien, S. 189, sowie Meier, Dramaturgie der Bewunderung, S. 186-192. 326 Vgl. Johann Jacob Bodmer, Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes, Zürich 1736, Reprint mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966, S. 80- 90, bes. S. 89. Dort erklärt Bodmer, „daß die Tragödie den Menschen nicht unmittelbar durch eine sinnliche Empfindung rühret und beweget, sondern hier nicht minder als in den andern Theilen der Wohlredenheit, die Betrachtung und Uberlegung des Verstands vor der Empfindung hergehet“. Vgl. grundlegend zum Briefwechsel Enrico Straub, Der Briefwechsel Calepio-Bodmer. Ein Beitrag zu Erhellung der Beziehungen zwischen italienischer und deutscher Literatur im 18. Jahrhundert, Berlin 1965. 327 „Bodmers Dramen sind sein eigentliches Alterswerk.“ (Bodmer, Schweizerische Schauspiele, Nachwort von Albert M. Debrunner, S. 57) 328 Johann Jacob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger, Zürich/ Leipzig 1741, S. 432. 329 Ebd. 330 Politisches Trauerspiel, in: Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste […], Teil III, 2. Auflage, Leipzig 1793, S. 710-716, hier S. 715. Der Artikel besteht aus einer kurzen Einleitung von Sulzer und einem umfangreicheren Essay von Bodmer, auf den sich die Ausführungen in dieser Arbeit beziehen. <?page no="100"?> 100 Moderne Kunstrichter verurteilten hingegen gerade dieses politisch reflektierende Element: Es „ist das Anstössigste, was man im Euripides und im Sophokles findet“. 331 Die Theorie des politischen Trauerspiels kann sich also auf die Autorität der Alten berufen. Nach Bodmer ist das politische Trauerspiel legitimer Nachfolger der griechischen Tragödie; da aber eine freie republikanische Staatsform die Grundvoraussetzung für ein adäquates Verständnis dieser Gattung ist, muss der Wirkungsradius notwendigerweise beschränkt bleiben. 332 In einem eigentümlichen Paradoxon konstatiert Bodmer zugleich, dass die politischen Umstände sich gewandelt hätten, dass aber zugleich die Schauspiele, „die in dem Haupttone der griechischen für freye Staaten verfasset sind“, 333 auch in ihrer Wirkungsintention vorbildhaft seien. Beide Positionen Bodmers - die Darstellung der Ursache des Vergnügens an der Tragödie, das in der Erkenntnis des schönen Scheins begründet liegt, und die intendierte Wirkung stehen in einem Gegensatz, der Bodmers Tragödientheorie, wenn es diese denn als ausgefeiltes System gäbe, zu einer paradoxen Angelegenheit werden ließe. 334 Bodmers Beschäftigung mit der griechischen Antike schlägt sich in der politischen Ausrichtung seiner Theorie und auch seinen dichterischen Werken nieder. Dabei stehen freie Bearbeitungen antiker Prätexte neben Übersetzungen, etwa von Teilen der Ilias. 335 Drei von Bodmers Dramen haben griechische Tragödien als Prätexte: Electra, oder die gerechte Uebelthat (1760), Oedipus (1761) und Karl von Burgund (1771), eine Transposition der Perser des Aischylos ins ausgehende Mittelalter. 336 Bodmer schätzt die griechische Tragödie primär wegen ihres politischen Elements, ästhetische Erwägungen spielen für sein Urteil zwar eine Rolle, sind aber keineswegs zentral. So schwanken seine Bearbeitungen zwischen tiefgreifenden Umgestaltungen 331 Ebd. 332 Ebd., S. 714. 333 Ebd., S. 713. 334 Vgl. George, Deutsche Tragödientheorien, S. 183: „In der Tat hatten beide Theorien nichts miteinander zu tun; und offensichtlich hat Bodmer nie den Widerspruch erkannt, der zwischen der Absicht besteht, politisches Engagement mittels emotionaler Einfühlung zu lehren, und der Voraussetzung für das Entstehen des ästhetischen Vergnügens: der Aufhebung eben dieser Einfühlung.“ 335 Vgl. die Liste von Bodmers Übersetzungen aus alten Sprachen bei Anthony Scenna, The Treatment of Ancient Legend and History in Bodmer, New York 1937, S. 157f. Anders als für Gottsched und dessen Anhänger sind die antiken Autoren und diejenigen modernen Dichter, die sich an der Antike orientieren, nicht mehr alleiniges literarisches Vorbild. So ediert Bodmer mittelalterliche und moderne Autoren und erklärt, auch die deutsche Literatur der Stauferzeit sei ein geeignetes Vorbild für zeitgenössische Dichter. Vgl. Bender, J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, S. 35 sowie Felix Leibrock, Aufklärung und Mittelalter. Bodmer, Gottsched und die mittelalterliche deutsche Literatur, Frankfurt a. M. 1988. 336 Dieses Verfahren der zeitlichen Transposition hatte im 20. Jahrhundert besonders im angelsächsischen Kulturraum Konjunktur: Man denke etwa an Eugene O’Neills Trilogie Mourning Becomes Electra oder die Dramen T. S. Eliots. Im 18. Jahrhundert hingegen ist dieses Verfahren durchaus ungewöhnlich. <?page no="101"?> 101 und enger Anlehnung an die Prätexte, je nachdem, was Bodmers politische Wirkungsintention erfordert. Bodmers intensive Beschäftigung mit Pseudo- Longin und der Theorie des Erhabenen 337 findet in seinen Dramen keinen Niederschlag. 8.1. Electra, oder die gerechte Uebelthat. Ein Trauerspiel 338 Bodmers Electra entstand 1759 und wurde im folgenden Jahr zum ersten und einzigen Mal gedruckt. 339 Schon 1746 war Bodmer von Johann Elias Schlegel auf den Elektra-Stoff aufmerksam gemacht worden, als dieser ihm von der Auseinandersetzung mit Gottsched berichtete, der die Rücksendung des Manuskripts von Schlegels Sophokles-Übersetzung verzögerte. Schlegel erwähnte auch seine kommentierende Tätigkeit, die alle drei griechischen Elektra-Dramen mit einbezog. Ob diese Anregung allerdings für Bodmers eigene Bearbeitung von Bedeutung war, darf sehr bezweifelt werden. 340 Bodmers Drama wurde von den Zeitgenossen weitgehend ignoriert. 341 Offensichtlich langweilte es sogar seine Freunde so sehr, dass sie bei einer Lesung des Stückes nach und nach die Flucht ergriffen, bis nur noch Salomon Gessner übrig blieb. 342 Wieland hingegen schätzte das Drama hoch ein, 337 Vgl. dazu Manfred Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike, S. 162-184, sowie Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, 3. verbesserte Auflage, Heidelberg 2004, Bd. I, S. 47-60, bes. 54f. 338 Johann Jacob Bodmer, Electra, oder die gerechte Uebelthat. Ein Trauerspiel. Nach einem neuen Grundrisse, Zürich 1760. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 339 Die folgenden Angaben nach Scenna, The Treatment. Kristin Haas-Heichen, Die Gestalt der Elektra in der französischen und deutschen Dramatik des 18. Jahrhunderts, Mainz 1993, ist Scennas Studie unbekannt: „Ebensowenig hat sich die Forschungsliteratur bislang mit diesem Stück intensiver auseinandergesetzt.“ (Ebd., S. 133, Fußnote) Sie gibt das Entstehungsdatum fälschlicherweise und grundlos mit 1760 an (ebd., S. 133). 340 Einen Einfluss Schlegels auf Bodmer nimmt Scenna an, der offenbar Schlegels Brief an Bodmer nicht richtig versteht. In dem Brief vom 19. 4. 1746 heißt es: „Einer poetischen Uebersezung, der ‚Elektra des Sophokles, mit Anmerkungen über das Theater, und besonders mit Parallelen zwischen dem Euripides, Aeschylus und Sophokles,’ gehet es eben so, als welche schon vier Jahre gefangen liegt.“ (Gotthold Friedrich Stäudlin, [Hg.], Briefe berühmter und edler Deutschen an Bodmer, Stuttgart 1794, S. 37). Scenna schreibt: „J. E. Schlegel wrote him that he had been working for four years [! ] on a project which was to include parallels from the versions of Electra by Euripides, Aeschylus, and Sophocles, and later announced the publication of the work as imminent.“ (Scenna, The Treatment, S. 29f.) 341 Auch von der germanistischen Forschung wurde es kaum zur Kenntnis genommen. So erklärt etwa Olga Franke in ihrer ansonsten äußerst gründlichen Darstellung der deutschsprachigen dramatischen Euripidesrezeption im 18. Jahrhundert: „Keine Nachwirkung war ferner der Elektra beschieden“. (Franke, Euripides bei den deutschen Dramatikern, S. 65.) 342 Vgl. Scenna, The Treatment, S. 30. <?page no="102"?> 102 gerade weil es sich substantiell von den antiken Vorlagen unterschied, wie er am 7. August 1759 dem Zürcher Theologen Johann Jakob Heß schrieb: Der Plan von der Elektra unsers ehrwürdigen Freundes, Herrn Professor Bodmers, hat mir ungemein gefallen. […] Anstatt ein Werk von dieser Art nach seinem eignen Werth zu beurtheilen, mißt man es nach den Verhältnissen ab, die es gegen die Meisterstücke hat, die das gleiche Sujet behandeln, und denen man schon zum Voraus den Preis zuerkennt. 343 Bodmers Bearbeitung des antiken Stoffes stoße auf negative Resonanz, „weil sie nicht die Elektra des Sophokles ist“. 344 Wieland vertritt hier die Position eines moderne, der den Eigenwert moderner Dichtung gegen die Übermacht der Alten verteidigt. Die Handlung setzt am Grab Agamemnons ein: Dort erhält Electra einen Brief, der ihr in dunkler Sprache die baldige Heimkehr Orestes’ ankündigt. Sie erwartet voll Ungeduld die bevorstehende Rache an Aegisthus und Clytemnestra, die ihr gleichermaßen verhasst sind. Als sich Orestes am Hof als sein eigener Mörder ausgibt, sieht sich Electra aller Hoffnung beraubt. Zunächst versucht sie den trojanischen Sklaven Deiphobides dazu zu bewegen, den vermeintlichen Mörder ihres Bruders zu töten. Als dieser ablehnt, entschließt sie sich selbst zur Tat. Doch ihr Wurfpfeil verfehlt Orestes, der sich nun zu erkennen gibt. Nach einer tränenseligen Anagnorisis planen die Geschwister zusammen mit Pylades die Tat. Orestes will zunächst versuchen, das Gute in Clytemnestra zu wecken, um so den Muttermord zu verhindern. Das Vorhaben gelingt nicht, da sich die Mutter uneinsichtig zeigt. Angespornt von der Stimme Apollos, tötet Orestes schließlich Aegisthus und seine Mutter. Bodmer verwendet eine Vielzahl von Quellen, denen er zum Teil zumindest in Aspekten der Handlungsführung eng folgt. So orientiert er sich an den Elektra-Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. In der Handlung schließt sich Bodmer am ehesten der Elektra des Sophokles an, auf die wohl die aktive Rolle zurückgeht, die die Protagonistin einnimmt. Allerdings eliminiert Bodmer die Rolle der Chrysothemis; einige ihrer Charakterzüge werden auf den in der Stofftradition nicht erscheinenden Sklaven Deiphobides übertragen. Aus Euripides’ Elektra stammt das Heiratsmotiv, aus Aischylos Weihgußträgerinnen der Racheschwur. 345 Bereits der Hinweis auf dem Titelblatt, es handle sich um ein Drama „nach einem neuen Grundriß“, macht den agonalen Anspruch Bodmers deutlich: Es geht ihm darum, die Stofftradition um einen neuen Aspekt zu bereichern. Bodmer nimmt also den Wettstreit mit niemand geringerem als 343 Christoph Martin Wieland, Brief an Johann Jakob Heß, 7. August 1759, in: Ausgewählte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde in den Jahren 1751. bis 1810. geschrieben, und nach der Zeitfolge geordnet, Bd. II, Zürich 1815, S. 68-73, hier 69f. 344 Ebd., S. 70. 345 Vgl. Aischylos, Weihgußträgerinnen, in: Ders., Tragödien und Fragmente, hrsg. und übersetzt von Oskar Werner, München 1959, S. 110-183, V. 497f. <?page no="103"?> 103 gleich allen drei überlieferten griechischen Tragikern auf; daneben setzt er sich intensiv mit der französischen Tradition auseinander, so mit der Électre Crébillons (1708) 346 und besonders Voltaires Oreste (1750). 347 Bodmer nimmt ebenso wie Schlegel, Derschau und Steffens neben den antiken Prätexten auch die modernen französischen Mythosbearbeitungen zur Kenntnis, grenzt sich allerdings programmatisch von ihnen ab, so dass man Bodmers Kontamination verschiedener Elektra-Dramen auch als dezidierten Gegenentwurf zu Voltaires Oreste lesen kann. Diesem Stück ist das Motiv entnommen, dass sich Orestes als sein eigener Mörder ausgibt. Die neue Anlage von Bodmers Version besteht darin, dass Orestes seine Mutter wissentlich und willentlich tötet, ohne dass ihn deshalb Gewissensbisse quälen. In den Dramen Voltaires und Crébillons erfolgt der Mord versehentlich. Das Programm von Bodmers Drama liegt in der Umsetzung des scheinbar widersprüchlichen Untertitels „gerechte Uebelthat“, also in nichts weniger als in der Rechtfertigung des Muttermords. Deshalb legt Bodmer die Figuren auf bestimmte unwandelbare Eigenschaften fest: Clytemnestra ist grausam und lieblos, Orestes tugendhaft und aufrecht. Die antinomische Figurenkonstellation - Tugend steht gegen Untugend, zärtliche Geschwisterliebe gegen wollüstige Begierde 348 hat auch politische Bedeutung: Der Despotismus der moralisch korrumpierten Clytemnestra und des blassen Aegisthus wird durch den Tyrannenmord beendet. Bodmers Electra ist ebenso ein politisches Stück wie seine übrigen Dramen, was sich insbesondere an der Figur des Deiphobides zeigen lässt, an der die deformierende Wirkung der Tyrannei sinnfällig wird. Diese Zutat Bodmers beeinflusst eine Gesamtinterpretation wesentlich. Die plakative Aufwertung bzw. Abwertung der Protagonisten 349 bedeutet allerdings im Vergleich mit den Prätexten eine deutliche Verflachung: Die komplexen Charaktere der griechischen Tragödie werden zu schablonenhaften Trägern bestimmter unwandelbarer Eigenschaften. Das bringt auch eine gewisse Statik der Handlung mit sich, da Überraschungen von vorneherein ausgeschlossen sind. Der eindeutig positive Ausgang des Dramas resultiert aus der hier skizzierten Grundanlage. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass mit dem Mord alle Glückshindernisse beseitigt sind: Der Vatermord ist gerächt, zugleich wurde ein verbrecherisches Regime gestürzt. Und gerade hierin liegt der wesentliche Unterschied zu den übrigen Elektra-Dramen: Bei Sophokles ist die Sühnethematik weitgehend ausgeklammert, da der Fokus eindeutig auf Elektra gerichtet ist, während in den Dramen von Aischylos und Euripi- 346 Prosper Jolyot de Crébillon, Electre, Edition critique par John Dunkley, Exeter 1980. 347 Voltaire, Oreste, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 31 A, Oxford 1992, S. 293- 531. 348 In der streng antinomischen Figurenkonstellation dürfte auch der Grund für die Eliminierung der Rolle der Chrysothemis liegen. Diese ambivalente Figur hat in Bodmers dualistischem Tugendsystem keinen Platz. 349 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 472-482. <?page no="104"?> 104 des ebenso wie in Voltaires Oreste der Protagonist nach dem Mord von schrecklichen Gewissensbissen gequält wird. Formal nimmt Bodmers Electra im Kontext der bisher behandelten Dramen eine Sonderstellung ein. Das Stück ist in (teilweise von Shakespeares Stil beeinflusster) Prosa abgefasst, ausführliche Monologe sind eher die Regel als die Ausnahme. Auch wenn Bodmer die drei (pseudo-)aristotelischen Einheiten einhält, so zeigt doch der Sprechgestus, ja allein die Textmasse, dass es sich um ein nicht bühnentaugliches Lesedrama handelt. 350 Ein antikisierender Zug ist die versifizierte Inhaltsangabe, die an die vorangestellten Erläuterungen in antiken Editionen denken lässt. 8.1.1. Empfindsame Geschwisterliebe und asiatischer Despotismus Electra lebt am Hof unter ständiger Bespitzelung. So klagt sie im Auftrittsmonolog des ersten Akts, sie sei „von Fremden umschlossen und bewachet“ und könne niemanden an ihrem Schmerz teilhaben lassen (6). Ihre Isolation wird augenfällig, als ihr Aegisthus das Schreiben abnimmt, das ihr am Grab Agamemnons übergeben wurde. Diese Isolation führt letztlich dazu, dass Electra selbst zum äußersten Mittel greifen muss und versucht, den vermeintlichen Brudermörder zu töten. Orestes erscheint als besorgter Bruder, der Zweifel hat, ob er der leidenden Schwester die Lügengeschichte von seiner Ermordung zumuten könne. Sie werde unweigerlich „diese liebende Schwester auf Dornen und Stacheln sezen“ (46). Für Pylades, den auch Bodmer als Rationalisten zeichnet, ist es hingegen von essentieller Bedeutung, dass Electra nichts von dem Betrug ahnt, da nur ihr Abscheu vor den Freunden bewirken könne, dass Aegisthus ihnen vertraue. So instrumentalisiert Orestes seine Schwester, allerdings nicht ohne erhebliche Gewissensbisse. Nach dem gescheiterten Mordanschlag entladen sich die aufgestauten Schuldgefühle in einer tränenreichen Anagnorisis. „Ein Thränenbach fließt“ (116), und Orestes fängt Electras Tränen in eben dem Tuch auf, das sie ihm mitgab, als sie ihn in Sicherheit brachte. Dieses Tuch, das Electra mit einem Bild der Opferung Iphigenies durch Agamemnon bestickt hat, räumt die letzten Zweifel an der wahren Identität Orestes’ aus. Zugleich sind in diesem Augenblick - zumindest im Medium der Kunst - alle Kinder Agamemnons mit ihrem Vater versöhnt. Bodmer spielt hier einerseits mit der epischen Tradition der Ekphrasis, andererseits mit den Anagnorisis-Strukturen der griechischen Elektra-Dramen und überbietet sie zugleich durch Emotionalisierung. Nicht mehr das Erkennungszeichen ist entscheidend, es dient nur noch als Dreingabe, zumal ja 350 „Ein Drama, das keinen Anspruch auf die Schaubühne macht, hat den wichtigen Vortheil, daß es sich um den guten Ton und die Laune der Logen und des Parterre nicht bekümmern darf.“ (Politisches Trauerspiel, S. 713) <?page no="105"?> 105 auch die Lügengeschichte von der Ermordung Orestes’ gezeigt hat, wie diese Zeichen manipuliert werden können, sondern einzig die Anagnorisis durch Empathie ist gültig. Hier zeigt sich deutlich, wie stark Bodmer vom Tränenkult der Empfindsamkeit beeinflusst ist. Im Gegensatz aber etwa zu Lessing wird die Tränenseligkeit nie zur Wirkungsintention erhoben, sondern bleibt lediglich eine kurze Episode. 351 Electra und Orestes verbindet nicht nur Geschwisterliebe, sondern auch ein gemeinsames Tugend- und Wertesystem. Electra erkennt in ihrem Bruder die „vortrefflichste unter den grossen Seelen, die die Natur gebildet hat, die Ehre der Menschlichkeit zu seyn“ (120). Allein die Anwesenheit des Bruders genügt, um eine Aufklärung im wörtlichen Sinne geschehen zu lassen: „Wie hell ist alles um mich her geworden, aus welcher Finsterniß bin ich in das liebliche Licht des Tages gekomen! “ (120f.) Das emphatische Lob des Bruders als Heilsbringer deutet auf die christliche, ja geradezu messianische Ebene des Dramas. So bemüht Electra im Streit mit ihrer Mutter immer wieder christliche Deutungsmuster und appelliert an sie, den Mord an Agamemnon zu bereuen (12). Clytemnestras Einwände, die auf die Opferung Iphigenies verweist, tut sie ab; Rachelogik sei verderblich. Wenn Clytemnestra nicht bereue, werde sie immer unter Gewissensqualen zu leiden haben. Für Electra selbst ist Religion ein Ausweg aus ihrer bedrängten Lage: Sie vertraut auf die „Güte Jovis“ (39), hinter dem unschwer der christliche Gott zu erkennen ist, und hofft auf Erlösung im Jenseits: Wenn „wir auf der irdischen Kugel zu einem Leben von Noth und Thränen verurtheilt sind, so vertraue ich ihm, daß er uns hellere Tage im Elysium aufbehalten habe, eine Ruhe, die kein Tyrann, von der Mutter bewaffnet, ermorden kann“ (39). Die Tugendhaftigkeit der Geschwister wird überdeutlich, wenn es an die Planung der Rachetat geht: Hier überwiegen die Hemmungen, ganz ähnlich wie in der Elektra des Euripides, wo Orest die Tat bereits unter heftigen Gewissensbissen begeht. 352 Zunächst hatte Orestes Electra lediglich berichtet, er werde Aegisthus töten. Dieser solle „dem Dolchen nicht entrinnen, der lange nach seinem Blute gewezet ist“ (125). Was mit Clytemnestra geschehen soll, weiß Orestes angeblich nicht: „Dort wollen wir mit unserer Mutter vornehmen, was Apollo mir in den Sinn geben wird.“ (125) Obwohl er den Mordauftrag kennt, scheut sich Orestes noch, seiner Schwester die Wahrheit zu sagen. Indem er die Verantwortung an Apoll abgibt, zeigt sich, dass Orestes zweifelt, ob der Mordauftrag wirklich gerecht ist. Diese Zweifel artikuliert er 351 Vgl. zum Tränenkult der Aufklärung den Sammelband Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Heidelberg 1983. 352 Bei Euripides macht zudem das Auftreten der Dioskuren deutlich, dass der Muttermord zwar auf göttlichen Befehl erfolgt ist, er dadurch aber nicht gerecht wird: „Ihr geschah nur ihr Recht und du trägst keine Schuld, / Nur Apollon, Apollon - doch ist er mein Herr, / Ich schweige. Der Weise gab unweisen Spruch.“ (Euripides, Elektra, V. 1244-1246) <?page no="106"?> 106 in der folgenden Szene: Zwar rechtfertige Clytemnestras Verhalten den Mord - genannt werden der Mord an Agamemnon, ihr wollüstiges Verhältnis zu Aegisthus, Electras bevorstehende Zwangsheirat mit dem Sklaven Deiphobides, ihre despotische Herrschaftsausübung , allerdings sei es undenkbar, die eigene Mutter zu ermorden, da Orestes entsetzliche Gewissensqualen fürchtet. Electra empfindet ebenfalls die „verzweifelte Klemme“ (130), in der sich die Geschwister befinden. Zwischen der verfluchten Existenz eines Muttermörders und den Drohungen eines wütenden Gottes sieht sie keinen Ausweg. Orestes allerdings vertraut Apoll unbeirrt: Die „Götter denken nicht, wie wir sterblichen Menschen, sie wollen unsern Gehorsam, nicht unsere Einreden. Wir sollen ihnen vertrauen, daß sie ihre starken Ursachen für ihre Befehle haben, wiewol wir diese nicht ergründen können“ (132f.). Electra sieht hingegen den Mordauftrag als göttliche Prüfung, vergleichbar der Opferung Isaaks im Alten Testament. Apoll habe prüfen wollen, ob Orestes stark genug sei, die Gesetze der Natur gegen einen widernatürlichen göttlichen Befehl zu behaupten. Mit den vielfältigsten Zweifeln konfrontiert, geht Orestes ins Gespräch mit Clytemnestra, das somit eher den Charakter eines Verhörs aufweist. Bereits zuvor zeichnete Bodmer Clytemnestra so negativ wie möglich. Über den Mord an Agamemnon sagt sie: „Es war Justiz und nicht Verbrechen.“ (13) Ihr Unrechtsbewusstsein ist stark verkümmert. Sie geht soweit, ihre Beteiligung an der Tat zu leugnen, indem sie höhere Instanzen als eigentliche Triebkräfte der Handlung einführt: „Es war die Hand der Gerechtigkeit, nicht meine Hand.“ (15) Bodmer steigert ihr Verhältnis zu Aegisthus zu einem negativen Exempel der Wollust. Clytemnestra ist von ihrem Geliebten abhängig und stellt ihn über die Tochter: „Glaubtest du, daß ich zwischen Mann und Tochter unschlüßig flattern könnte? Oh ich habe längst gewählt, längst verworfen.“ (36) Mit ihm sei sie „ein Fleisch, eine Seele.“ (36) Die Liebe zu Aegisthus ist ausschließlich und führt dazu, dass sie ihre Tochter in Gegenwart ihres Geliebten demütigt: Ich verwerfe, ich verleugne die Tochter, die sich gegen den Mann auflehnt, dem ich mich gegeben, den ich in meine Kammer aufgenommen habe. […] Aegisthus soll mir in seiner einzigen Person Agamemnon, Oresten, und alle Welt ersezen. (36f.) Dabei handelt es sich bei ihrer Bindung zu Aegisthus eben nicht um eine Beziehung, die „für sich isoliert betrachtet durchaus als positiv erachtet werden könnte“, 353 sondern um eine bereits in ihrer Natur destruktive Verbindung, die jedes Maß überschreitet und dadurch sonstige ethische Verhaltensnormen marginalisiert, da sie antisoziale und naturwidrige Züge aufweist. Folge eben dieses unmoralischen Privatlebens ist Despotie: Die 353 Haas-Heichen, Die Gestalt der Elektra, S. 139. <?page no="107"?> 107 Verabsolutierung privaten Glücks und die Aufgabe menschlicher und familiärer Bindungen ziehen schlechte Herrschaft nach sich. In der Verhörszene zeigt sich Clytemnestra uneinsichtig und hartherzig, so dass sie in der Logik des Dramas selbst ihr Todesurteil spricht. Noch einmal wiederholt sie sämtliche Argumente, die aus der Ermordung Agamemnons einen Akt der Gerechtigkeit machen sollen. In einer geradezu ekstatischen Gewaltphantasie berichtet sie triumphierend von dem Mord: Von ihnen [den Geisterstimmen] gestärkt, gieng ich unter den Leichen hoch daher, die zwischen den Pocalen, Schüsseln und Tischen, in dem Saale lagen; der Boden, der von Blut röthete, dünkete mich mit Rosen bestreuet; wie ein erhabenes Siegeslied floß mir die Stimme der sterbenden Cassandra in die Ohren. (140f.) Dem sterbenden Agamemnon verweigerte sie dessen letzte Bitte: Anstatt ihm die Augen zu schließen, ging sie „kaltsinnig von ihm weg“ (141) und verstümmelte später die Leiche, um die Rache des Geistes abzuwenden. Auf Orestes’ Insistieren, ob sie denn keine Reue wegen der Tat empfinde, prahlt sie mit der Liebe der Götter, die ihr und Aegisthus’ gewogen seien. Als letztes Argument führt Orestes das Schicksal Electras an: Es könne nicht sein, dass Clytemnestra nichts für ihre Kinder empfinde (146). Doch Clytemnestra winkt ungeduldig ab und wiederholt: „Aegisthus ist mir in seiner einzigen Person Vater, Mutter, Gemahl, und Kinder. Ich fühle in seinem Umgange, in seinen liebenden Armen eine Wollust, die mir kein Sohn, keine Tochter […] in solchem feinen Grade gewährt hätten.“ (147) Damit hat sich Clytemnestra selbst zum Tod verurteilt. Zwar bemüht sie die „Allmacht der Natur“ (150), die einen Muttermord nicht zulasse: Da sie aber selbst die Natur verleugnet hat, erscheint Orestes’ Mord als gerecht. 354 Das göttliche Eingreifen schließlich bewirkt, dass an der Legitimation kein Zweifel entsteht; der Verweis auf moralische Defizite ist für den Vollzug des Mordes ausschlaggebend. 8.1.2. Der Muttermord als politische Befreiungstat Der Mord an Clytemnestra ist mehr als nur familiär bedingte Rache für den ermordeten Vater. Er dient zugleich als Akt einer politischen Restaurierung alter legitimer Verhältnisse. So betont Orestes, Clytemnestra sei „eine Mörderinn nicht nur ihrer Familie, sondern eines blühenden Staates“ (149). Sie habe deshalb „nicht mehr Recht auf das Herz dessen, den sie zufällig gebohren hat, als auf jedes anderen Menschen Herz“ (149). Immer wieder wird die asiatische Prachtentfaltung der Hofhaltung betont: Dies ist im Horizont des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Hinweis auf Despotie, auf moralisch korrumpierte und korrumpierende Willkürherrschaft. 354 Vgl. ebd., S. 145. <?page no="108"?> 108 Die korrumpierende Wirkung der orientalischen Despotie wird an der Figur des Sklaven Deiphobides deutlich, einer Erfindung Bodmers. Der Sohn des Deiphobus, des Überwinders des Achill, wurde nach eigenem Bekunden „in der Pracht der asiatischen Höfe erzogen“ (70); nach der Eroberung Trojas gehörte er zu der Kriegsbeute Agamemnons. Electra appelliert an seine stolze Herkunft, um ihn dazu zu bewegen, für sie einen Anschlag auf Orestes und Pylades zu unternehmen. Doch der Sklave wehrt ab: Lange schon sei er nicht mehr mit Waffen umgegangen, zudem fürchte er die Eumeniden, da er keine persönliche Motivation für die Tat habe. Dass er so Rache an den Griechen nehmen könnte, gilt Deiphobides nichts: Die Götter haben den Griechen den Sieg gegeben, und wir sind nach dem Rechte des Kriegs ihre Sclaven. Seinem Herrn getreu zu seyn, ist die Bestimmung des Sclaven. (76) Diese Untertanenenlogik kann Electra nicht durchbrechen, auch nicht, indem sie Deiphobides Aussichten auf die Freiheit macht. Dieser zieht ein Leben in Sklaverei einem eventuellen Tod im Kampf um seine Freiheit vor. Der gesunkene Heldensohn Deiphobides ist als Kontrastfigur zu Electra angelegt, die nun selbst die Tat vollbringen will: „Die Sehnen der zärtlichen Hand sind nicht zu schlaff den Spieß zu schwingen, daß er die Pore der männlichsten Haut durchsteche.“ (79) Electras Heroismus hebt sich vor der kriecherischen Bequemlichkeit des Trojaners umso deutlicher ab. In der Gestaltung seiner Protagonistin folgt Bodmer dem Vorbild sowohl des Sophokles als auch dem des Euripides. Die sophokleische Elektra steht wie ein Solitär in ihrer unheroischen Umgebung, ihr heroic temper isoliert sie. 355 Euripides’ Medea ist in ähnlicher Weise - und in deutlicher Anlehnung an die Protagonisten der sophokleischen Tragödie - als Figur gezeichnet, die oftmals ins heroische Register überwechselt. 356 Im Gegensatz dazu ist Bodmers Electra zwar zur Tat entschlossen, dabei aber kein grausamer Mensch, wie ihr Verhalten bei der Planung des Mordes an Clytemnestra deutlich macht. 355 Vgl. Bernard Knox, The Heroic Temper. Studies in Sophoclean Tragedy, Berkeley/ Los Angeles 1966, bes. Kap. II: „To those who face him, friends and and enemies alike, the hero seems unreasonable almost to the point of madness, suicidally bold, impervious to argument, intransigent, angry; an impossible person whom only time can cure. But to the hero himself the opinion of others is irrelevant. His loyalty to his conception of himself, and the necessity to perform the action that conception imposes, prevail over all other considerations.“ (Ebd., S. 28) 356 Vgl. Ders., The Medea of Euripides, in: Ders., Word and Action. Essays on the Ancient Theater, Baltimore/ London 1979, S. 295-322. „Medea, in fact, is presented to us, from the start, in heroic terms. Her language and action, as well as the familiar frame in which they operate, mark her as a heroic character, one of those great individuals whose intractable firmness of purpose, whose defiance of threats and advice, whose refusal to betray their ideal vision of their own nature, were the central preoccupation of Sophoclean tragedy.“ (Ebd., S. 297) <?page no="109"?> 109 Nach vollbrachter Tat wird Orestes von keinerlei Gewissensbissen gequält; diese Phase verlegt Bodmer in die Zeit der Planung des Mordes. Immer wieder betont Orestes, die Flüche der Mutter seien ungültig. Nun ist die alte Ordnung restauriert, die Tugendhaften haben über das Laster gesiegt; Orestes’ Gottvertrauen hat sich letztlich als begründet erwiesen. Bodmers Drama zeigt in scharfer Kontrastierung Träger moralischer Eigenschaften, wobei die starre Antithetik bewirkt, dass Entwicklungen des Charakters ausgeschlossen sind: Clytemnestra bleibt ebenso wollüstig und lasterhaft wie Orestes empfindsam und tugendhaft und Deiphobides sklavisch und feige. Die positiven Gestalten sind durch ein hohes Maß von Reflexion und nicht zuletzt durch die Fähigkeit ausgezeichnet, Schuldgefühle zu empfinden. Eben dies geht Clytemnestra völlig ab. Da sie unfähig und unwillig ist zu bereuen, erfolgt ihr Tod als gerechte Bestrafung. Bodmers Tugenddualismus hängt eng mit seinen Vorstellungen von der politischen Aufgabe der Tragödie zusammen. Dass er sich des Elektra- Mythos bedient, liegt durchaus nahe - schließlich endet Aischylos’ Orestie mit einem politischen Gerichtsverfahren. Den letzten Teil dieser Trilogie integriert Bodmer gleichsam in sein Drama: Immer wieder sprechen die Protagonisten von der Furcht vor den Erinnyen; diese aber werden im Verlauf der Dramenhandlung gebannt. Dabei erscheint Apoll in einem weitaus freundlicheren Licht als in der antiken Vorlage. Bodmers Version demonstriert, dass gerade kein Gegensatz zwischen göttlichem Befehl und Naturrecht besteht, da Clytemnestra dieses Band selbst zerschnitten hat. Die Gewissensreinigung erfolgt vor dem Mord, nicht danach. Bodmers Technik der Überbietung liegt eben darin, dass er die Sühne bereits in die Rachehandlung integriert. Orestes ringt sich zur Tat erst nach einem langen Reflexionsprozess durch, so dass an der Legitimität des Muttermords kein Zweifel besteht. Dies unterscheidet Bodmers Drama substantiell vom Oreste Voltaires, der Clitemnestre als versöhnliche Mutter zeichnet, die ihre Taten längst bereut hat. Auch im Streitgespräch mit Electre betont sie: „[J]e suis mère, […] / J’aime encore mes enfants“. 357 Allein die Liebe zu Ägisth bringt die Clitemnestre Voltaires dazu, ihren Geliebten vor den Hieben Orests zu beschützen. Ihr Tod ist somit eher ein Unfall als eine geplante Rachetat. Noch dazu bestehen an seiner Gerechtigkeit substantielle Zweifel, so dass Oreste schließlich nach Tauris aufbrechen muss, um sich zu entsühnen. Solche Zweifel sind im Kontext von Bodmers Theorie des politischen Trauerspiels undenkbar, da wesentliches Merkmal des Protagonisten seine Vorbildhaftigkeit sein muss. So wird auch der in anderen Fassungen des Stoffes oftmals als labil gezeichnete Orestes zu einem Tugendhelden, dessen Handeln einem eindeutigen antithetischen Schema von Gut und Böse folgt. 357 Voltaire, Oreste, S. 494. <?page no="110"?> 110 8.2. Oedipus, ein Trauerspiel Im Anschluss an den Elektra-Stoff bearbeitete Bodmer ein weiteres griechisches Drama, den König Oidipus des Sophokles. Oedipus, ein Trauerspiel 358 entstand zwischen März und November 1760 und erschien im folgenden Jahr. 359 Das Echo war - wie auf alle Dramen Bodmers - überwiegend negativ. In einer polemischen, stark vom aufkommenden Geniekult geprägten Rezension sprach Gerstenberg Bodmer jegliche poetische Begabung ab. 360 Dies werde gerade im Vergleich mit den griechischen Vorbildern deutlich: „Aber gegen den Sophokles dieser Zürcher? Was will der kleine Mann? “ 361 Das Drama sei ein Versuch, „das Talent durch ein moralisches Blendwerk zu ersetzen“. 362 Gerstenbergs Rezension gipfelt in einer Stilblütensammlung: „Um unsere Leser zu belustigen, wollen wir ihnen eine kleine Blumenlese aus unserm Oedip vorlegen, die ihnen für eine Tragödie sehr artig scheinen wird.“ 363 Im Folgenden führt der Rezensent Beispiele an, um Bodmers Stück der Lächerlichkeit preiszugeben, so etwa den Ausspruch des Tiresias: „Rede, mein gütiger König, daß ich den Ritter und Wohlthäter Thebens durchs Ohr erblicke.“ 364 Abschließend qualifiziert Gerstenberg Bodmers Oedipus schlechterdings als „Unsinn“ 365 ab. Der Angegriffene verteidigte sich vehement und ebenso beleidigend: „Er [Gerstenberg] gleichet einem Trunkenbolde, der dem Pöbel eine Lust zu machen, nach den Vorübergehenden mit Steinen wirft.“ 366 Diese Erwiderung war weitaus wirkungsloser als Gerstenbergs Verriss. Zu einer Aufführung des Lesedramas kam es nie. Auch in Bodmers Freundeskreis wurde es gering geschätzt. 367 Zu Beginn des Dramas berichtet Jocasta ihrem Bruder Creon von einer entsetzlichen Geistererscheinung, die Oedipus seit mehreren Nächten davon abhalte, mit ihr das Bett zu teilen. Der Geist, den allein Oedipus sehen könne, sehe ihm selbst ähnlich. Creons Ratschlag, den Seher Tiresias zu befragen, stößt bei Jocasta auf wenig Gegenliebe, da sie einen Orakelspruch für den Verlust ihres Kindes verantwortlich macht. Oedipus tritt auf und erzählt selbst von den immer schlimmeren Erscheinungen: Nun sei der Geist noch 358 [Johann Jacob Bodmer], Oedipus, ein Trauerspiel. Nach einem neuen Plane, in: Drey neue Trauerspiele. Nämlich: Johanna Gray. Friederich von Tokenburg. Oedipus, Zürich 1761, S. 205-320. Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 359 Diese Angaben nach Scenna, The Treatment, S. 34. 360 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Leipzig 1762, Bd. VII, 2. Stück, S. 318-333. 361 Ebd., S. 321. 362 Ebd., S. 325. 363 Ebd., S. 332. 364 Ebd. 365 Ebd., S. 333. 366 Freymüthige Nachrichten Von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen, Jg. 19 (1762), XXX. Stück, S. 236-240, hier S. 236. 367 Vgl. Scenna, The Treatment, S. 34. <?page no="111"?> 111 von einer zweiten Gestalt, in der er sich selbst erkannt habe, begleitet worden. Oedipus vermutet, er habe sich etwas zuschulden kommen lassen. Sein Gewissen aber ist absolut rein. Auch er hält wenig von Sehersprüchen, da er wegen eines Orakels sein Elternhaus verlassen musste. Dennoch befragt er den Seher, der zunächst keine Antwort geben will. Schließlich erklärt er, es sei der Geist des Lajus, den Oedipus ermordet habe. Der König reagiert ungläubig. Doch als Oedipus die Eingeweide eines Opfertiers beschaut, bekräftigt die Deutung die Worte des Tiresias. Oedipus erinnert sich an eine lebensbedrohliche Situation: Einst wurde er von einem alten Mann an einem Dreiweg geschlagen. Er habe sich mit einem Steinwurf gewehrt und den verwundeten Mann liegen gelassen. Jocasta erkennt sofort, dass es sich um Lajus handelt. Nessus, der einzige überlebende Begleiter des Lajus, identifiziert Oedipus als Mörder. Oedipus möchte nun Theben verlassen, um die Stadt von der Befleckung zu befreien. Das Volk versucht, ihn zum Bleiben zu bewegen, während Tiresias dunkle Andeutungen über eine noch größere Schuld macht, die Oedipus auf sich geladen habe. Lycas, ein Bote aus Korinth, bringt die Nachricht vom Tod des Königs Polibus; Oedipus solle nun dessen Nachfolge antreten. Als dieser Bedenken äußert, da seine Mutter noch am Leben sei und sich somit zumindest ein Teil des Orakels noch erfüllen könne, beruhigt ihn Lycas: Oedipus sei ja in Wahrheit ein Findelkind aus Theben, das er selbst dem Königspaar übergeben habe. Lycas erkennt Nessus als denjenigen, von dem er das Kind erhalten hat. Nun sind für Oedipus die Zusammenhänge klar. Ein Fischer berichtet vom Selbstmord Jocastas, Creon bringt dem Volk die Nachricht von der Selbstblendung des Oedipus, der sich das Augenlicht genommen hat, indem er lange in die Sonne schaute. 368 Oedipus will nun endgültig die Stadt verlassen, Antigone schließt sich ihm an. Ein letztes Gespräch mit Tiresias klärt Oedipus darüber auf, dass es einen gütigen Gott gebe, der ihn letztendlich ins Elysium aufnehmen werde. „Oedip kann nicht begreifen, warum er bey aller Reinigkeit seines Herzens so unglücklich geworden, und Tiresias erklärt ihm in zwölf Seiten das christliche System der Weisen von dem Schicksale und der Ewigkeit, womit sich das Trauerspiel endigt.“ 369 Neben der Tragödie des Sophokles verwendete Bodmer die Oidipus- Dramen Senecas, Corneilles, Voltaires und Drydens. 370 In Beziehung zu Bodmers Drama steht möglicherweise Calepios Verteidigung der sophokleischen Tragödie gegen die Vorwürfe Voltaires. Bodmer hatte Calepios 368 Diese unblutige Art der Selbstblendung bedeutet im Vergleich mit den übrigen Fassungen des Stoffes eine Dämpfung. 369 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, S. 324. 370 Vgl. zu den französischen Bearbeitungen des Oidipus-Stoffs Mitsutaka Odagiri, Écritures palimpsestes ou Les théâtralisations françaises du mythe d’Œdipe, Paris u. a. 2001. <?page no="112"?> 112 Schrift 1742 im italienischen Original abgedruckt. 371 Die Wendung gegen Voltaires Bearbeitung des Stoffes ist auch für Bodmers Oedipus charakteristisch. Wie im Fall der Electra nimmt Bodmer den Wettstreit mit dem französischen Dramatiker auf. Das Figureninventar von Bodmers Drama stimmt im Wesentlichen mit dem der sophokleischen Tragödie überein, deren Handlung er ansonsten recht frei variiert; lediglich Antigone kommt hinzu. 372 Wie Bodmers Electra ist auch der Oedipus in Prosa verfasst. Die Gestaltung als Lesedrama erlaubt ausgedehnte Dialoge, die auf der Bühne kaum vorstellbar wären. Von Bedeutung ist die Einführung des Chores, der allerdings nicht in antiker Tradition steht, sondern einzig dazu dient, die Tugendhaftigkeit des Oedipus herauszustellen. Die Chorfunktion ist also im Kontext von Bodmers Bewunderungsdramaturgie zu sehen, für die der Oedipus ein prägnantes Beispiel ist. So ist das ganze Drama darauf angelegt, den Protagonisten als tugendhaften und gütigen Helden zu verherrlichen, der schuldlos schuldig geworden ist. Dies wird auch daran deutlich, dass anders als in den übrigen Fassungen des Stoffes Theben nicht unter der Pest leidet. Oedipus stellt also keine Befleckung für die Stadt dar, über die er herrscht, keine göttliche Instanz bestraft die Thebaner für die unwissentlich begangenen Verfehlungen ihres Herrschers. Bemerkenswert ist die Zweiteilung der Wahrheitserkenntnis. Zunächst erfährt Oedipus, dass er der Mörder des Lajus ist, erst etliche Zeit später, dass er seine Mutter geheiratet hat. Diese Retardation gibt ebenfalls Gelegenheit, die Tugenden des Protagonisten herauszustellen. Die Geistererscheinungen sind wohl durch Seneca inspiriert, auch der Einfluss von Shakespeares Hamlet scheint mir durchaus denkbar. 373 Mit dieser Konzentration auf den positiven Tugendhelden Oedipus geht eine Christianisierung des antiken Mythos einher: Wenn am Ende Tiresias das Bild eines gütigen und allmächtigen Gottes entwirft, wenn Erlösung im Jenseits irdische Schuld aufwiegt, dann ist von antiken religiösen Vorstellungen kaum etwas zu spüren. Das Erlösungspathos nimmt den Oidipus auf Kolonos vorweg, so dass Bodmers Bearbeitung des Stoffes ganz bewusst den Bruch übertüncht, der zwischen dem König Oidipus und dem Alterswerk des Sophokles besteht. 371 [Pietro di Calepio], Apologia del Edippo di Sofocle contra le censure del Signor di Voltaire, in: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie, Drittes Stück, Zürich 1742, S. 37-74. Vgl Straub, Der Briefwechsel Calepio-Bodmer, S. 244-247. 372 Hier ist zu vernachlässigen, dass Bodmer den Nebenfiguren Namen gibt. 373 In der ersten Szene von Shakespeares Drama erscheint der Geist des toten Claudius in „the same figure, like the King that’s dead“. (William Shakespeare, Hamlet, London 2001, S. 26) Auch Jean Cocteau vermengt in den Anfangsszenen seiner Machine infernale Hamlet- und Oidipus-Einflüsse. <?page no="113"?> 113 8.2.1. Ein tugendhafter Oedipus: Bodmers Bewunderungsdramaturgie In der Vorrede erklärt Bodmer die Exklusivität seiner Tragödienkonzeption: Nur seinen Tugendhelden bereits ähnliche Personen seien überhaupt in der Lage, den „Seelen von vortrefflicher Tugend nachzudenken und nachzuempfinden“. 374 In die Reihe dieser übermäßig positiv gezeichneten Helden gehört auch Bodmers Oedipus. Im Stück des Sophokles handelt der Protagonist von Emotionen geleitet und oftmals unüberlegt; 375 auch im scheinbar so versöhnlichen Oidipus auf Kolonos finden sich Zornesausbrüche. 376 Um sein Darstellungsziel zu erreichen, musste Bodmer also gleichsam die Tradition korrigieren, denn in keinem der wirkungsmächtigen Oidipus-Dramen der Weltliteratur ist der Protagonist ein fehlerfreier Mensch. Dies führt auch Bodmer an, um zugleich stolz zu verkünden: „Von allen Oedipen, die noch auf die Schaubühne gekommen sind, ist dieser der Gerechteste.“ 377 Das Leid kommt völlig unverdient über den Protagonisten. Oedipus wird zum Sinnbild für die scheinbar undurchschaubaren Zusammenhängen ausgesetzte Menschheit. 378 Diesen Maßgaben der Vorrede folgt die Darstellung des Oedipus konsequent. Bereits vor seinem ersten Auftreten charakterisiert ihn Jocasta als schuldlos (211). Für Creon ist er ein mustergültiger Herrscher, der Theben zum Rechtsstaat gemacht hat. 379 Schuldlos und unschuldig sind die Schlüsselbegriffe, die das Drama durchziehen. Auch Oedipus selbst insistiert immer wieder auf der Makellosigkeit seines Handelns. Das Gespenst könne ihn zwar erschrecken: „Aber es kann mich nicht schuldig machen.“ (221) Die unglücklichen Vorzeichen - Tiresias’ Seherspruch, die unheimlichen Begleitumstände des Opfers für Lajus - ändern nichts an Oedipus’ Selbstgewissheit: „Das Schicksal, so sagt er, kann mich unglücklich machen, aber ich will dafür sorgen, daß es mich nicht schuldig mache.“ (235) Das Bewusstsein seiner Unschuld ist nahezu der Kern von Oedipus’ Existenz und zugleich ein Schutz vor Anfeindungen von außen: „Indessen will ich mich in meine Unschuld einwickeln.“ (236) Ein weiteres Merkmal von Oedipus’ Tugendhaftigkeit ist sein Verhalten gegenüber Creon und Tiresias. Er hegt anders als Jocasta keinen Argwohn 374 [Bodmer], Drey neue Trauerspiele, S. 9 (Vorrede). Ähnlich elitär ist das ideale Publikum, das Bodmer im Artikel über das Politische Trauerspiel entwirft. 375 Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 512-677 (Auseinandersetzung Oidipus’ mit Kreon im zweiten Epeisodion). 376 Vgl. Sophokles, Oidipus auf Kolonos, V. 1249-1446 (4. Epeisodion, Auseinandersetzung Oidipus’ mit Polyneikes). 377 [Bodmer], Drey neue Trauerspiele, S. 14 (Vorrede). 378 Ebd. 379 „Du bist der, der die Verfassungen und Gesetze nach Theben gebracht hat, die du von der Weisheit Jovis und deiner Liebe zu den Menschen gelehrt worden.“ ([Bodmer], Oedipus, S. 217) <?page no="114"?> 114 gegen seinen Schwager, dem Seher bringt er höchsten Respekt entgegen, auch nachdem ihn dieser des Mordes bezichtigt hat. 380 Anders als die als jähzornig gezeichneten Charaktere der Oidipus-Tradition ist Bodmers Protagonist bereit, andere Meinungen ernstzunehmen. Er handelt bedächtig, ist friedliebend, sanftmütig, tierlieb 381 und gerecht. Eben diese Tugenden bewegen die Bürger Thebens dazu, ihn zum Verbleib in der Stadt überreden zu wollen - und das zu einem Zeitpunkt, als Oedipus’ objektive Schuld offensichtlich geworden ist. An diesem freiwilligen Gang ins Exil wird wiederum Oedipus’ Tugend deutlich: Seine Handlungsweise ist geprägt von schonungsloser Offenheit und von hohem Verantwortungsbewusstsein. Er verlässt die Stadt, um sie nicht mit seiner Schuld zu beflecken. Zu jedem Zeitpunkt ist für alle Handelnden des Dramas völlig klar, dass Oedipus subjektiv unschuldig ist und deshalb - und darin unterscheidet sich Bodmers Bearbeitung wesentlich von anderen Fassungen des Mythos - keine Bestrafung verdient hat: Der Mord an Lajus war Notwehr, die Ehe mit der Mutter ein unglücklicher Zufall. 8.2.2. Die christliche Umdeutung des Dramenschlusses Ähnlich wie in Steffens’ Oedipus, mit dem Bodmers Drama sonst denkbar wenig zu tun hat, tritt der Seher Tiresias am Ende noch einmal auf. Während er in Steffens’ Schuldrama dem gebrochenen Oedipus dessen Fehlverhalten vorwirft, erscheint er in Bodmers Trauerspiel als Ratgeber, der den geblendeten und verzweifelten Oedipus über das wahre Wesen des Göttlichen aufklärt und ihm Hoffnung gibt. Bereits zu Beginn des Dramas charakterisiert ihn Creon als Weltweisen: „Tiresias kann mehr, als weissagen, er hat eine tiefe Erkenntniß der göttlichen und der weltlichen Dinge.“ (217) Auch darin unterscheidet sich Bodmer von anderen Bearbeitern des Stoffes: Bei ihm gewinnt die Gestalt des Sehers religiös-weltanschaulichen Gehalt, während er in anderen Oidipus-Dramen lediglich Sprachrohr eines wie auch immer gearteten göttlichen Willens ist. In der Schlussszene macht Oedipus eine Art von Initiation durch, die sich grundlegend von trügerischem Mysterienzauber unterscheidet, wie er etwa in Wielands Agathon dargestellt wird. Dort gaukeln betrügerische Priester im Zuge einer langwierigen Initiation dem formbaren Agathon die 380 „Ich werde mich immer hüten, diesen göttlichen Mann mit dem geringsten Flecken von Argwohn zu besprützen.“ (Ebd., S. 237) 381 „Allezeit habe ich mein Herz zu weich gefunden, das Blut der Menschen zu vergiessen, ich habe ungern das Blut der Uebelthäter vergossen. Und es hat mit Mühe gemacht, das Blut der Hirschen im Walde, und das Blut der Böcke auf dem Altare fliessen zu sehen. Die Natur hat zuviel Milch in mein Naturell gemischet.“ (Ebd., S. 236) <?page no="115"?> 115 Gegenwart des Gottes Apoll vor, 382 hier macht der aufgeklärte Seher dem ohnehin schon für den Empfang der Wahrheit prädestinierten abgedankten König klar, wie der griechische Götterglaube lediglich als Einkleidung und Versinnlichung wenig fasslicher Wahrheiten dient: Du bist es werth, Oedipus, daß ich dir verborgene Tiefen offenbare. Die Götter des Olympus und des Orcus sind nichts anders als Kräfte und Gaben, die in der Natur der himmlischen, der irdischen, und der menschlichen Wesen liegen. (312) Diese Kräfte gingen auf einen einzigen Gott zurück, sie seien „Werkzeuge des Allmächtigen, des Urhebers aller Dinge“ (312). Das Schicksal, das dem Menschen oft blind erscheine, sei in Wirklichkeit göttliche Vorsehung, die der Mensch nicht durchschauen könne, da sein Blick beschränkt sei. Gott sei gütig: Keine „gute That, kein tugendhafter Trieb gehet unbemerket vor ihm vorüber, oder hat seinen Lohn verlohren“ (312). Nach dem Tode finde die Seele Erlösung im Elysium. Dieser Gedanke widerspricht der traditionellen griechischen Vorstellung so sehr, dass Tiresias betonen muss, Oedipus solle auf seine rationalen Kräfte vertrauen: „Höre nicht die Priester, höre die Vernunft selbst.“ (315) Grundlegende Prinzipien von Tiresias’ Argumentation sind Hoffnung und Gottvertrauen. Solchermaßen gestärkt kann Oedipus in sicherem Wissen um seine bevorstehende Erlösung nach Kolonos ziehen: Ich bin in meinem Gemüthe gestärket. Warum sollte es mich kränken, daß ich des Gesichtes beraubet, krank und flüchtig, hier leben soll, wenn ich ohne Schuld bin; und der, der die Nieren der Menschen erforschet, sieht mich so und kennt mich. (317) Schließlich werde er ihn eines Tages erlösen. So erhebt sich Oedipus aus der Kraft seines Glaubens über seine Leiden und kann mit einem „Samen von Hoffnungen“ (320) in seinem Herzen gemeinsam mit seiner Tochter Antigone Theben verlassen. Im König Oidipus des Sophokles erscheint der Protagonist verzweifelt und ohne Hoffnung, bei Seneca wird er zum stoischen Dulder, in den französischen Dramen Corneilles und Voltaires lehnt er sich gegen das Schicksal auf. Verglichen mit diesen Oidipus-Fassungen erscheint Bodmers Variante am optimistischsten. Gerade Voltaires harsche Religions- und Priesterkritik findet ihren absoluten Gegensatz in Bodmers Postulat einer christlichen Vernunftreligion. Voltaires Protagonist sieht sich als Instrument dunkler böswilliger Mächte: Un dieu plus fort que moi m’entraînait vers le crime, / Sous mes pas fugitifs il creusait un abîme, / Et j’étais malgré moi dans mon aveuglement, / D’un pouvoir inconnu l’esclave et l’instrument. 383 382 Wieland, Geschichte des Agathon, S. 226f. 383 Voltaire, Œdipe, S. 249. <?page no="116"?> 116 Seine Verbrechen seien in Wirklichkeit die der Götter: „Impitoyables dieux, mes crimes sont les vôtres, / Et vous m’en punissez“. 384 Als in der Schlussszene von Voltaires Drama der Hohepriester erklärt, der Geist des Lajus sei nun besänftigt, da sich Œdipe selbst geblendet habe, weist Jocaste die Vergebung des Priesters zurück. Dessen Beteuerungen, die Menschen seien dem göttlichen Willen blind ausgeliefert, setzt sie ihre Selbstbestrafung entgegen, die zugleich und vor allem stummer Protest gegen undurchschaubare und grausame göttliche Instanzen ist. Sie macht die Götter direkt für ihre Vergehen verantwortlich. Ehe sie sich selbst tötet, klagt sie diese in aller Schärfe an: Par un pouvoir affreux réservée à l’inceste. / La mort est le seul bien, le seul dieu qui me reste. […] / J’ai vécu vertueuse, et je meurs sans remords. 385 Die Betonung der Tugendhaftigkeit findet sich auch bei Bodmer. In dessen Drama allerdings hat eben diese Tugendhaftigkeit des Protagonisten zur Folge, dass dieser sein Leid überwindet und in neue Sinnzusammenhänge eingeweiht wird, während Voltaires Jocaste an einer kontingenten und grausamen Weltordnung verzweifelt. Ihr Schicksal, so die Schlussworte des Dramas, habe die an ihren und Œdipes Vergehen schuldigen Götter erröten lassen: „J’ai fait rougir les dieux qui m’ont forcé au crime.“ 386 Bodmers Version des Dramenschlusses ist deutlich gegen Voltaire gerichtet. Aus christlicher Perspektive setzt er dessen Skepsis und Verzweiflung die Hoffnung, ja die Gewissheit einer gerechten Weltordnung entgegen. Allerdings wirkt das „Licht voller tröstenden Aussichten“, 387 das seine Schlussvariante bietet, mehr als aufgesetzt. Es entfaltet keine Wirkung, da die Figur des Oedipus lediglich als Träger bestimmter Tugenden konzipiert wurde. Seine „seltsame kalte Gemüthsbeschaffenheit“ 388 markiert deutlich die Probleme der Bewunderungsdramaturgie; Bodmers dichterisches Unvermögen rückt die Schwächen dieser Dramentradition in ein deutliches Licht: Gerade die ins Extrem übersteigerte Aufwertung des Protagonisten 389 lässt Bodmers Oidipus-Figur in hohem Maße konstruiert und unrealistisch erscheinen. 384 Ebd., S. 250. 385 Ebd., S. 254. 386 Ebd. 387 [Bodmer], Drey neue Trauerspieles, S. 15 (Vorrede). 388 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, S. 328. 389 Vgl. zur Aufwertung Genette, Palimpseste, S. 472-477. <?page no="117"?> 117 8.3. Karl von Burgund. Ein Trauerspiel - Bodmers Transposition der Perser des Aischylos Auch im Kontext der nicht eben breit rezipierten Dramen Bodmers steht das Trauerspiel Karl von Burgund am Rande: 390 Es wurde zu Lebzeiten Bodmers nur 1771 in der letzten Ausgabe des Schweizer Journals gedruckt, einem eher obskuren Publikationsorgan; die literarische Öffentlichkeit nahm keine Notiz. Hatte Bodmer mit Electra und Oedipus auf vielbearbeitete griechische Tragödien zurückgegriffen und den Bezug zu den antiken Vorbildern bereits durch die Titelgebung deutlich markiert, auch wenn Zusätze wie „nach einem neuen Plane“ etwa im Fall des Oedipus auf deutliche inhaltliche Umakzentuierungen hinweisen sollten, so liegt im Falle des Trauerspiels Karl von Burgund eine zwar ähnliche, aber doch in wichtigen Aspekten unterschiedliche Konstellation vor. Bodmer transponiert die Perser des Aischylos (472 v. Chr.) 391 ins ausgehende Mittelalter, behält allerdings Struktur und Aussage der griechischen Tragödie nahezu sklavisch bei, so dass diejenigen Tragödienbearbeitungen Bodmers, die auf den ersten Blick, insbesondere wegen ihrer Titelgebung, den griechischen Vorbildern näher stehen, tatsächlich die freieren Auseinandersetzungen mit den Prätexten darstellen. Den Bezug zu Aischylos macht Bodmer bereits durch den Titelzusatz explizit; auch in der Vorrede verweist er auf den prägenden Einfluss des griechischen Tragikers: „Die Oekonomie in diesem Trauerspiele ist ganz des Aeschylus; selbst die Gedanken und ihre Ausbildung.“ (3) Lediglich die Verbindung zum Schicksal des burgundischen Herzogs Karl dem Kühnen, der 1475 vergeblich versuchte, die Schweiz zu erobern und bei Murten eine schwere Niederlage erlitt, reklamiert Bodmer für sich (3). Eben dieser patriotische Stoff nimmt in der Schweizer Literatur eine durchaus prominente Stellung ein: Vor Bodmer hatte ihn bereits 1663 Josua Wetter bearbeitet, 392 1793 sollte Johann Jakob Hottinger folgen. 393 Wenn also Bodmer die aischyleische Tragödie mit dem historischen Stoff verbindet, so schreibt er sich zugleich in zwei Traditionen ein und führt diese zusammen: Einerseits beruft er sich auf die Autorität der griechischen Tragödie und stellt sich implizit in die Nachfolge des Aischylos, andererseits schreibt er ein Drama, das seinen Vorstellungen eines politischen Trauer- 390 J. J. Bodmer, Karl von Burgund. Ein Trauerspiel (Nach Aeschylus), Stuttgart 1883 (=Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts in Neudrucken hrsg. von Bernhard Seuffert, Bd. 9), Seitenangaben in diesem Kapitel in Klammern im Text. 391 Aischylos, Perser, in: Ders., Tragödien und Fragmente, hrsg. und übersetzt von Oskar Werner, München 1959, S. 257-327. 392 Josua Wetter, Karl von Burgund. Denkwürdiges Gefecht der Horatier und Curiatier, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hellmut Thomke, Bern/ Stuttgart 1980 (Schweizer Texte, 4). 393 [Johann Jakob Hottinger], Carl von Burgund. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, Zürich 1793. <?page no="118"?> 118 spiels in nahezu idealtypischer Weise entspricht. Dafür ist durchaus bezeichnend, dass Bodmer auf die einzige überlieferte Tragödie zurückgreift, die einen historischen und zugleich patriotischen Stoff mit hohem identifikatorischen Potential für das Publikum behandelt. 394 Die Distanz zwischen Antike und Moderne ist für Bodmer problemlos überbrückbar. So betont er in der Vorrede, Aischylos habe mit seinem Drama „den Staat und die Freyheit jedem Herzen näher geleget“ (4). Und eben diese Wirkung möchte Bodmer auch mit seinem Lesedrama erreichen, ja er erachtet die ästhetische Komponente als nebensächlich, sofern denn die politische Botschaft verstanden werde: Dann wird es ihn [den Verfasser] wenig kränken, wenn Leute, denen die griechische Sinnesart fremd ist, keine Empfindung von der Einfalt haben, die in dem Plan, den Situationen, der Gradation herrschet, und wenn die natürlichen Regungen und andere Schönheiten, aus dem griechischen übergetragen, nicht nach ihrem Geschmak sind. (4) Wie generell bei Bodmers Dramatik besteht bei solch einer Vorgehensweise die Gefahr, das jeweilige Stück auf die Manifestation einer politischen Idee zu reduzieren. Und tatsächlich ist Bodmers Drama geheimnislos, sobald man die Technik der Transposition nachvollzogen hat. Bodmer verlegt die Handlung in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. 395 Auffällig ist, wie gering die Spannung zwischen Ausgangstext und Hypertext tatsächlich ist. Bodmers diegetische Transposition 396 legt es gerade auf eine möglichst große Übereinstimmung zwischen den Persern des Aischylos und der Bearbeitung an, so dass durchaus die Gefahr besteht, die große Nähe zwischen Prätext und Bearbeitung könne Bodmers „Vorsatz überflüssig und belanglos werden lassen“. 397 Er behält in wesentlichen Zügen die Personenkonstellation der Perser bei: Xerxes, der bei Salamis eine vernichtende Niederlage erleidet, entspricht Karl von Burgund, dessen Heer bei Murten aufgerieben wird. Anstelle des Geistes des Dareios erscheint der Geist von Karls Vorgänger Philipp dem Guten (20); aus Atossa, der Mutter des Xerxes, wird Maria, die Tochter Karls des Kühnen. So gelingt es Bodmer, Vergangenheit und Zukunft Burgunds gleichermaßen in sein Drama zu integrieren: Während Philippus’ Erscheinung für eine glückliche Vergangenheit steht, verweist die Figur der Maria auf das bevorstehende Ende der burgundischen Herrschaft, auf das Aufgehen Burgunds im Habsburgerreich. Die gravierendsten Veränderungen Bodmers betreffen den Chor, der bei Aischylos eine prominente Rolle einnimmt. Ihn löst Bodmer in mehrere Figuren auf, in die alten Adeligen Imbercurt, Hugonet und Ravestein, die nicht an Karls Kriegszug teilnehmen; der namenlose Bote Aischylos’ 394 Vgl. Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie, S. 125-129. 395 Vgl. auch Bernhard Seufferts gründliche Auflistung der Äquivalenzen im Vorwort seiner Ausgabe des Dramas (Karl von Burgund, S. III-XII). 396 Vgl. Genette, Palimpseste, S. 406. 397 Ebd. <?page no="119"?> 119 erscheint in Gestalt des Chaligni. Wenn Bodmer insbesondere die in Figurenrede aufgelösten Chorpassagen beträchtlich kürzt, so bleibt er dennoch sprachlich oftmals so nahe an seiner Vorlage, dass Karl von Burgund „weniger eine Nachahmung als eine Übersetzung der Perser“ 398 zu sein scheint. Diese große Nähe zu Aischylos hat nicht zu unterschätzende positive Effekte für Bodmers Drama, das wesentlich weniger Stilblüten enthält als etwa sein Oedipus. Auch inhaltlich und in der Architektur der Handlung folgt Bodmer der Vorlage äußerst eng. Die Transposition ins Mittelalter bewirkt aber etliche kleinere Umakzentuierungen, die vor allem mit der Religion zusammenhängen. So ersetzt Bodmer die Vorstellung von Xerxes’ Frevel gegen Poseidon durch Karls Blutschuld bei Granson; andere Umakzentuierungen betreffen etwa die Traumschilderung zu Beginn, 399 bleiben aber für Architektur und Aussage des Stückes bedeutungslos. Bodmer setzt durchgängig die Athener mit den Schweizern gleich; beide sind eben wegen ihrer politischen Freiheit stark: 400 „Sie sind keinem Herrn unterworfen; sie werden von einem Senat regiert, und in vielen von diesen Staaten regiert das Volk den Senat.“ (10) Bern erscheint als „eine unbezwingbare Stadt; denn sie hat freye Männer in ihren Mauren, die ein Bollwerk um sie sind“ (14). Karls eigentlicher Frevel liegt darin, dass er nicht in der Lage ist, die Warnsignale zu deuten; er „verstand die Zeichen nicht, mit welchen der Himmel ihn warnete“ (14). Auf der anderen Seite haben die Berner „die Zuneigung der Vorsehung für sich“ (14), da sie einerseits eine Blutschuld rächen und andererseits ihre Freiheit verteidigen. 401 Bodmer stilisiert Karl zum Feind der Freiheit, der die stolzen Schweizer unterjochen und erniedrigen möchte: Die „Freyheit, für die sie an dem Morgarten und vor Sempach starben, soll sich zu euren Füssen niederlegen, und mit Todesfurcht eure Bande küssen“ (15). Diese stolze Verblendung ist für den Untergang des burgundischen Heeres bei Murten verantwortlich. Der Geist von Karls Vater Philippus deutet das Verhalten seines Sohnes als Hybris: „Seine Schäze und seine Uebermacht haben ihm die Sinnen verwirret.“ (22) Philippus’ Botschaft ist folgerichtig, „daß ein Irdischgebohrner nicht übermüthig denken soll“ (23). 402 Karl selbst erscheint erst in der Schlussszene auf der Bühne. Ähnlich 398 Bodmer, Karl von Burgund, S. VIII (Vorwort von Bernhard Seuffert). 399 Ebd. 400 Vgl. Scenna, The Treatment, S. 119. 401 „Sie haben kein Verlangen Provinzen unter ihre Herrschaft zu bringen; sie ergriffen die Waffen nur sich vor Beherrschung zu verwahren.“ (Bodmer, Karl von Burgund, S. 18) 402 In den Persern formuliert der Geist des Dareios: „Und Haufen Leichen werden noch im dritten Glied / Lautlos kundtun den Augen aller Sterblichen, / Daß übers Maß ein Mensch nicht heben soll den Sinn. / Denn Hochmut, aufgeblüht, bringt Frucht im Ährenkorn / Der Schuld, draus tränenreiche Ernte mäht der Herbst.“ (Aischylos, Perser, V. 818-822) <?page no="120"?> 120 wie Bodmers aufbruchbereiter Oedipus, der „alle seine Macht, alle seine Hoheit“ in einer Reisetasche mit sich führt, 403 erklärt Karl den fassungslosen Burgundern: „Siehe in diese Tasche, in derselben liegt alles, was ich gerettet habe, Gut und Männer! “ (26) Das Schicksal habe bestimmt, dass Karls Niederlage „das Lob der Waffen dieser Alpiner durch alle Länder verbreiten sollten“ (26). Mit Karls Auftritt endet Bodmers Trauerspiel etwas abrupt; der Klagegesang der aischyleischen Tragödie fällt weg. Sowohl Aischylos’ Perser als auch Bodmers Karl von Burgund dienen der Identitätskonstruktion. Während aber Aischylos ein für sein Publikum nur wenige Jahre zurückliegendes Ereignis auf die Bühne bringt, wendet sich Bodmer in eine mehrere Jahrhunderte zurückliegende Vergangenheit. Beide Dramen lassen sich als Appell zur Einigkeit lesen, als Versuch, nationale Identität zu stabilisieren. Inhaltlich gewinnt Bodmers Transposition der aischyleischen Tragödie keinerlei wesentlich neue Facetten ab. Seine Bearbeitung wird so zu einer bloßen Wiederholung, die zwar die Überzeitlichkeit politischer Ideale demonstrieren soll, dabei allerdings in plakativen Setzungen verharrt und somit letztlich überflüssig ist, zumal durch die allzu enge Abhängigkeit von Aischylos’ Persern kein ästhetischer Mehrwert entsteht, den man Bodmers Electra und Oedipus nicht gänzlich absprechen kann. 403 „Es ist kein König Oedipus mehr, er ist wie ein Schatten untergegangen, alle seine Macht, alle seine Hoheit ist in dieser Reisetasche beschlossen.“ ([Bodmer], Oedipus, S. 279) <?page no="121"?> 121 9. Resümee: Aufklärung und griechische Tragödie Bodmers späte Antikendramen bilden in mehrfacher Hinsicht den Endpunkt der aufklärerischen Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie. Zwar entfernt sich Bodmer von den strikten formalen Vorgaben Gottscheds, die für die heroische Alexandrinertragödie maßgeblich waren, doch steigert er gerade die Bewunderungsdramaturgie ins Maßlose und führt so dramaturgische Modelle der Aufklärung zu einem vorläufigen Ende. Die Autoren der nachfolgenden Generation schlagen andere Wege ein, um den immer als prägend empfundenen griechischen Vorbildern nahezukommen. Wielands erprobt in seinem Singspiel Alceste neue Herangehensweisen, auch Goethe grenzt sich in seiner Iphigenie in Tauris von den Stofffassungen der ersten Jahrhunderthälfte ab. Dennoch kommt den in dieser Arbeit analysierten Dramen nicht nur eine Bedeutung als überwundene Frühformen der Annäherung an die griechische Tragödie zu; vielmehr handelt es sich trotz mancher unaufgelöster Widersprüche doch um reflektierte Zeugnisse eines produktiven Rezeptionsvorgangs, der im Einzelnen zu durchaus originellen Resultaten führt. Bei aller Unterschiedlichkeit in den Herangehensweisen der verschiedenen Autoren lassen sich doch etliche gemeinsame Grundzüge des Umgangs mit den antiken Prätexten feststellen: Durchgängig erscheint erstmals die griechische Antike als Paradigma, an dem sich die literarischen Tragödienversuche zu orientieren hätten. Die Nähe zu den Alten wird zum Indikator literarischer Qualität. So lässt sich erklären, dass ein offensichtlich defizitäres Trauerspiel wie Steffens’ Oedipus von der Kritik freudig begrüßt wird, dass Selbstpositionierungen der Autoren die Orientierung an der griechischen Tragödie behaupten, auch wo tatsächlich andere Einflüsse vorliegen. Produktive Nachahmung der griechischen Tragödie erscheint somit als das einzige probate Mittel, um eine moderne Tragödie von hoher Qualität zu etablieren. Dass dabei die griechische Tragödie vielfach Zielobjekt unterschiedlichster konkurrierender Projektionen wird, ist offensichtlich: So erscheint die attische Tragödie in der Sichtweise Gottscheds als Organ von Vernunftregeln, bei Lessing müssen die weinenden Griechen als Legitimationshilfe für die neu zu etablierende Gattung des bürgerlichen Trauerspiels herhalten, Bodmer wiederum sieht in der griechischen Tragödie die Urform seines politischen Trauerspiels. Diese Projektionen schwanken unentschieden zwischen ästhetischen, politischen und wirkungsästhetischen Urteilen - ein Indiz für eine gewisse Beliebigkeit im Umgang mit der griechischen Tragödie. Diese theoretische Wertschätzung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Praxis tatsächlich oftmals weniger die griechische Tragödie als vielmehr ihre Bearbeitungen transformiert werden. Gerade Lessing, der sich <?page no="122"?> 122 so programmatisch auf die griechischen Tragiker beruft, widmet sich gründlich den Tragödien Senecas. Auch so unterschiedliche Autoren wie Schlegel und Steffens nutzen die Tragödien des Römers als Quellen für ihre Tragödienbearbeitungen: Schlegel etwa verwendet in seinen Trojanerinnen Episoden aus den Troades des Seneca, Steffens übernimmt chorische Reflexionen sowie die Beschwörung des Lajus in seinen Oedipus. Man kann in diesen Rückgriffen durchaus auch einen unwillkürlichen Protest gegen den streng reglementierten Geschmackskanon der Epoche sehen. Jedenfalls bricht der starke Einfluss des römischen Dichters und Philosophen nicht mit dem Ende der Barockzeit ab, sondern wirkt fruchtbar weiter bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wenn sich Derschau in seinen theoretischen Äußerungen programmatisch auf Euripides bezieht und entschieden den offenkundigen Einfluss von La Granges Iphigenie-Drama auf sein Stück abstreitet, so zeigt dies, dass der prägende französische Einfluss zunehmend negiert bzw. problematisiert wird, ohne dass in der Praxis die theoretisch postulierte Hinwendung zu den griechischen Originalen tatsächlich in aller Konsequenz vollzogen würde. Die Dominanz der französischen Literatur wird zunächst an der Form der heroischen Alexandrinertragödie deutlich, die relativ wenig mit der attischen Tragödie gemein hat. Auch die weitgehende Eliminierung des Chores dürfte am Einfluss der französischen Klassiker liegen; seine Funktion übernehmen confidents, die als Spiegel der Hauptfiguren dienen. Auch Bodmers Chorgebrauch hat mit der antiken Tragödie wenig zu tun und ist nur im Kontext seiner Theorie des politischen Trauerspiels zu sehen. Gerade die Dramentheorie Gottscheds ist in hohem Maße von Positionen der französischen Literatur geprägt; doch auch Autoren wie Schlegel, der etwa in seinen theoretischen Äußerungen postuliert, es sei notwendig, zu den Originalen zurückzugehen, gebraucht vielfach französische Bearbeitungen. Allerdings lässt sich eine gewisse Eigenständigkeit darin sehen, dass Schlegel und Steffens bei ihren an der klassizistischen Poetik orientierten Erweiterungen programmatisch auf Liebeshandlungen verzichten; die polemische Wendung gegen diese Dämpfungstendenz der französischen Klassik verdeutlicht die Vorstellung, es sei möglich, den antiken Vorbildern wesentlich näher zu kommen, als dies den französischen Autoren gelungen sei. Hier deutet sich bereits die Vorstellung einer Sonderbeziehung zwischen griechischem und deutschem Geist an, die ihre deutlichste Ausformung in der Literatur um 1800 erfährt. 404 Bodmer schließlich wendet sich in seinen Dramen explizit gegen die französischen Fassungen des Mythos; insbeson- 404 Vgl. Manfred Fuhrmann, Die ‚Querelle des Anciens et des Modernes’, der Nationalismus und die Deutsche Klassik, in: Bernhard Fabian u.a. (Hrsg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 2/ 3), S. 49-67, sowie Manfred Landfester, Griechen und Deutsche: Der Mythos einer ‚Wahlverwandtschaft’, in: Helmut Berding (Hg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 198-219. <?page no="123"?> 123 dere Voltaire steht im Zentrum seiner Kritik. An den unterschiedlichen Antikenbearbeitungen lässt sich zumindest andeutungsweise ein zaghafter Emanzipationsprozess von oftmals als drückend empfundenen Vorbildern beobachten, der zudem im Falle Bodmers mit der beginnenden Shakespeare- Rezeption in Verbindung stehen dürfte. Diese unterschiedlichen Einflüsse und theoretischen Vorgaben führen dazu, dass es sich bei den Bearbeitungen der Aufklärung um durchaus hybride Gebilde handelt, die sich nur schwer mit den Maßstäben ästhetischer Geschlossenheit messen lassen. Gerade aber die nicht zu übersehenden Brüche zeigen die Schwierigkeit, sich den Vorbildern anzunähern und die große Fremdheit zu überbrücken. Dies geschieht vor allem durch die Integration zeitgenössischer Diskurse, die offensichtlich mit den Dramen von Sophokles und Euripides besser zu vereinbaren sind. Aischylos nimmt eine untergeordnete Rolle ein; lediglich Bodmer bearbeitet ein Drama des ältesten überlieferten Tragikers und integriert zudem den Racheschwur aus den Weihgußträgerinnen in seine Electra; Johann Elias Schlegel übernimmt das Motiv der Totenspende aus der Orestie in sein Iphigenie-Drama. In Anlehnung an Aristoteles gilt König Oidipus des Sophokles als das Musterdrama schlechthin. Allerdings wird gerade an den Transformationen dieser griechischen Tragödie deutlich, wie weit antike und moderne Weltsicht auseinander liegen. Die Tragödien des Euripides werden im 18. Jahrhundert am bereitwilligsten bearbeitet, was wohl an dem aufklärerischen Potential und der intellektuellen Schärfe des jüngsten der drei großen attischen Tragiker liegt. 405 Dabei stellt besonders Euripides’ Verwendung des Deus ex machina die Dramatiker des 18. Jahrhunderts vor große Probleme. Schlegel und Derschau erproben politische Lösungen; erst Goethe wird zu einer befriedigenden modernen Variante des Iphigenie-Schlusses finden. Hinter den meisten Bearbeitungen antiker Tragödien steht ein von vorneherein eng mit der Gattung verbundener agonaler Anspruch. Dieser Agon gipfelt im 18. Jahrhundert nicht selten in der Vorstellung, man müsse die griechischen Prätexte verbessern, um sie so für ein modernes Publikum kommensurabel zu machen. Auch wenn diese Grundabsicht nicht immer offen ausgesprochen wird, ist sie doch oft im Hintergrund wirksam. Dies lässt sich auf die Querelle des Anciens et des Modernes zurückführen, die zumindest in Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis zu Schiller und Friedrich Schlegel, weiterwirkte. 406 So kommt es aus einem Überlegenheitsgefühl heraus zu inhaltlichen Modifikationen, die vermeintliche Un- 405 Vgl. Franke, Euripides bei den deutschen Dramatikern, S. 2-9; Joachim Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S. 250-255. 406 Vgl. Hans Robert Jauß, Schlegels und Schillers Replik auf die „Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Ders., Literaturwissenschaft als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 67- 106. <?page no="124"?> 124 wahrscheinlichkeiten tilgen sollen, wobei diese Veränderungen in aller Regel neue Unwahrscheinlichkeiten mit sich bringen. Den Autoren, die von Gottscheds Dramentheorie geprägt sind, stellen sich zudem beträchtliche Probleme im Umgang mit wesentlichen Elementen der griechischen Tragödie, insbesondere mit den deterministischen Schicksalszusammenhängen, die durch Orakel versinnbildlicht werden. Paradoxerweise verzichten die Autoren des 18. Jahrhunderts nicht auf die Orakel, sondern behalten diese in der Regel bei, wohl um durch ihre Art des Umgangs mit den deterministischen Elementen der griechischen Tragödie ihren spezifisch modernen Standpunkt zu markieren. Idealerweise soll sich in der erfolgreichen Umdeutung der Orakel die Autonomie des Menschen manifestieren, die Selbstermächtigung, die Göttersprüche umzudeuten, somit die Ersetzung undurchschaubarer, aus menschlicher Sicht kontingenter Zusammenhänge durch aufgeklärten Vernunftoptimismus. Schlegel bringt in Orest und Pylades die Überzeitlichkeit aufklärerischen Denkens dadurch zum Ausdruck, dass er das Orakel durch einen alten Spruch ersetzt, durch immer schon existentes Wissen, das allerdings erst abgerufen werden muss. 407 Derschau geht noch einen Schritt weiter, anthropologisiert die Schicksalszusammenhänge und vergöttlicht zugleich die heroische Freundschaft. So kann Pylades unbesorgt betonen: „Die Freundschafft soll mein Gott und mein Orackel seyn.“ 408 Dieser aufklärerische Optimismus ist der griechischen Tragödie denkbar fremd. So sieht sich Iphigenie in der euripideischen Tragödie undurchschaubaren Zusammenhängen ausgesetzt: „Immer, was der Gott verhängt, / Verharrt im Dunkel, keiner kennt sein Los, / Denn schwer zu deuten bleibt des Schicksals Pfad.“ 409 Solch eine Sichtweise gilt gerade nicht für die Dramen der Aufklärung, in denen ein unerschütterlicher Optimismus an die Stelle kontingenter Schicksalszusammenhänge tritt. Dies wird in Racines Iphigénie deutlich, wo zum ersten Mal ein Orakel umgedeutet und korrigiert wird. Bezeichnenderweise verdeutlicht Gottsched in seiner Übersetzung den Umstand der Rettung Iphigenies, indem er die Protagonistin „von dem Achilles […] gleichsam im Triumphe ihrer Mutter wiederbringen“ 410 lässt und so auch den letzten eventuell vorhandenen Zweifel am glücklichen Ende ausräumt. An der Praxis der Orakelumdeutung wird nicht zuletzt eine große kulturelle und historische Distanz deutlich. Schicksalszusammenhänge der grie- 407 Allerdings erfolgen die Schlussauflösungen der untersuchten Iphigenie-Dramen nicht aus der Handlung motiviert, sondern durch wie auch immer geartetes Eingreifen von außen, das mit menschlicher Autonomie zunächst einmal wenig zu tun hat. So wird in Schlegels Orest und Pylades das Orakel lediglich durch ein anderes, zeitgemäßeres ersetzt und nicht etwa suspendiert. Das Drama proklamiert zwar menschliche Autonomie; diese wird auf der Handlungsebene aber lediglich ansatzweise verdeutlicht. 408 Derschau, Pylades und Orestes, S. 40. 409 Euripides, Iphigenie im Taurerlande, V. 476-478. 410 Gottsched, Vorrede zur `Deutschen Schaubühne´, S. 270. <?page no="125"?> 125 chischen Tragödie können anzitiert und von aufgeklärter Warte verworfen werden. Diese Art der Interpretation hakt wesentliche Elemente der Tradition gleichsam ab und verabschiedet sie zugleich; so zielen die wesentlichen Bearbeitungstendenzen der Aufklärungstragödie auf Vereinheitlichung und Vereindeutigung. Ein weiteres Beispiel für die Umwertung der antiken Vorbilder ist die starke Betonung des Freundschaftskults. 411 Damit geht eine Aufwertung der heroischen Sphäre und implizit eine Abwertung des Weiblichen einher, wie sie etwa an der negativen Zeichnung der Iphigenia in Derschaus Drama und der Jocaste in Steffens’ Oedipus deutlich wurde. Der Kult der Tat ist eindeutig männlich konnotiert. 412 Die Protagonisten erscheinen oft als Verkünder aufklärerischer Tugendsysteme, als Verkörperungen abstrakter Ideale, die oftmals wie bloße Sprachrohre des Autors wirken. Dies ist ein Problem, das der stark pädagogisch geprägten Aufklärungsbühne inhärent ist; in den behandelten Dramen trägt es durchaus zu einer gewissen Trockenheit bei. Diese Pädagogisierung zieht zudem in mancherlei Hinsicht eine Verflachung der Vorbilder nach sich. Wenn etwa Steffens’ Oedipus als Illustration eines moralischen Satzes dient, dann setzt dies voraus, dass die Vieldeutigkeit der Vorlage als unbefriedigend empfunden wird. Die bewusste Vereinfachung und Vereinheitlichung im Dienst eines erzieherischen Ziels betrifft nicht nur Steffens’ Schuldrama, sondern ist ein grundlegendes Prinzip der Aufklärungstragödie. Schlegel, Derschau und vor allem Bodmer präsentieren tugendhafte Helden, die mit den oftmals gebrochenen Charakteren der griechischen Tragödie recht wenig gemein haben. Zudem nehmen gerade bei Bodmer - in geringerem Maße auch bei den anderen untersuchten Autoren - christliche Vorstellungen breiten Raum ein. Wenn von göttlichen Instanzen die Rede ist, so verbirgt sich hinter diesen immer der christliche Gott. Wesentlicher Grundzug der untersuchten Bearbeitungen ist die Politisierung der Tragödie. So thematisieren Schlegels Trojanerinnen das Verhältnis von Politik und Moral; in den Iphigenie-Dramen Schlegels und Derschaus rückt die Frage nach legitimer Herrschaftsausübung in den Vordergrund. In antikem Gewand diskutieren die Protagonisten aktuelle Probleme wie beispielsweise die Legitimität des Tyrannenmords. Dabei lassen sich deutliche Reflexe des philosophisch-staatstheoretischen Diskurses in den Dramen finden. Diese Politisierung der antiken Vorbilder gipfelt in den Lesedramen Bodmers, dessen Tugendhelden eher Träger politischer Ideale als Protagonisten einer Tragödie sind. Betrachtet man die Dramen im Zusammenhang, so entsteht der Eindruck, bei den Bearbeitungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts handele es sich um auf halbem Wege stehen gebliebene Versuche, sich den Griechen anzunähern. Dabei ist der Blick zunächst nach Frankreich gerichtet, was sich 411 Vgl. Rasch, Freundschaftskult. 412 Vgl. Pailer, Männerfreundschaften, Frauenopfer und andere unerhörte Taten. <?page no="126"?> 126 erst nach dem Erscheinen von Winckelmanns Schrift langsam ändern wird. Dennoch sind diese oft tastenden Bearbeitungen ein bedeutender erster Schritt, und es ist bezeichnend, dass in unmittelbarem Zusammenhang mit Gottscheds Literaturreform Schlegels Trojanerinnen entstanden, zur Zeit seiner Entstehung das wohl beste deutsche Drama seit Ende der Barockzeit. Goethes Iphigenie auf Tauris lässt sich in ihrer Kühnheit nur vor dem Hintergrund der Traditionslinien dieses Stoffes im 18. Jahrhundert würdigen. 413 Auch die Versuche Schillers, 414 in den produktiven Wettkampf mit den Alten zu treten, haben in der Literatur der Aufklärung ihre Vorbilder. Der Anspruch der Dramatiker der Aufklärung ist ähnlich - allein es fehlen überzeugende dramatische Mittel, ihm gerecht zu werden. Wenn etwa Johann Elias Schlegel die griechischen Autoren weit über die französischen stellt, 415 dann ist das eine Position, die für die deutsche Literatur der nächsten Jahrhunderte prägend wird. Der Blick auf eine Umbruchszeit macht deutlich, wie in vielfältiger Wechselwirkung allmählich eine Tradition des Antikendramas entsteht, die zunächst hybride Texte hervorbringt, die aber gerade in dieser Hybridität reizvoll sein können. Jedenfalls beginnt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine bis in die Literatur der Gegenwart wirksame Tendenz: Sowohl die Autoren der Weimarer Klassik als auch der Literatur um 1900 „griechenzen […] ärger, als die griechenzensten Griechen gegriechenzet haben“. 416 413 Vgl. Frick, Die Schlächterin und der Tyrann. 414 Neben der Braut von Messina wären hier seine interpretierenden Übersetzungen wie etwa der euripideischen Iphigenie in Aulis zu nennen, die unter Zuhilfenahme französischer Übersetzungen erfolgten. 415 Vgl. Schlegel, Auszug eines Briefs. 416 Schönaich, Die ganze Ästhetik in einer Nuss, S. 288. <?page no="127"?> 127 10. Literaturverzeichnis 10.1. Quellen Aischylos: Tragödien und Fragmente. Hrsg. und übersetzt von Oskar Werner. München 1959. Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Iphigenia. In: Ders.: Bühnendichtungen. Bd. I, 2. Hrsg. von Blake Lee Spahr. Stuttgart 1982. S. 259-324. Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994. Ders.: Problemata Physica XXX, 1. In: Aristoteles: Problemata Physica. Übersetzt von H. Flashar. Darmstadt 1962 (= Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von E. Grumach. Bd. XIX). Bodmer, Johann Jacob: Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Zürich 1736. Reprint mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. Ders.: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger. Zürich/ Leipzig 1741. 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