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Das Ricoeur-Experiment

Mimesis der Zeit in Literatur und Film

0304
2009
978-3-8233-7420-6
978-3-8233-6420-7
Gunter Narr Verlag 
Wolfram Aichinger
Jörg Türschmann

Paul Ricoeurs Schriften gewinnen zurzeit an Aktualität, weil selbst die Postmoderne mittlerweile auf ihre eigene Geschichte zurückschaut. Für die Literaturwissenschaft zählt vor allem sein Temps et récit. Dort behandelt Ricoeur die "Refiguration" der Zeit bei Marcel Proust und Thomas Mann. - Doch welchen Stellenwert besitzen Ricoeurs Zeittheoreme nachweislich gegenüber der historischen Breite und Tiefe der Literatur? Welche Rolle spielen sie gegenüber postmoderner Autoreflexivität, welche gegenüber einer offenen Werkstruktur? Wozu dienen sie angesichts des Anspruchs einer Erzählung auf historische Zeugenschaft und ethische Verantwortung? Diese und andere Fragen behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes anhand von Literatur, Photographie und Film aus Frankreich, Spanien und Lateinamerika. Das Ricoeur-Experiment bietet damit erstmalig einen Band, in dem seit dem Tod des Autors im Jahr 2005 aktuelle romanistische Studien zu seiner Zeittheorie versammelt sind.

<?page no="0"?> edition lendemains 6 Gunter Narr Verlag Tübingen Jörg Türschmann / Wolfram Aichinger (éd.) Das Ricœur-Experiment Mimesis der Zeit in Literatur und Film <?page no="1"?> Das Ricœur-Experiment <?page no="2"?> edition lendemains 6 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück) und Hans Manfred Bock (Kassel) <?page no="3"?> Jörg Türschmann / Wolfram Aichinger (éd.) Das Ricœur-Experiment Mimesis der Zeit in Literatur und Film Gunter Narr Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: © Stefan Grote Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6420-7 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................................................... 7 Jochen Mecke Die Mimesis der Zeit im Prozess ........................................................................ 13 Friedrich Frosch Panta Rhei? Transzendenz & Immanenz / Erstarren & Fluss. Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Paul Ricœur und Gilles Deleuze ........................................................................................................ 29 Anke Gladischefski Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen .............................. 47 Jutta Fortin Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie. Patrick Modianos Dora Bruder und Chien de printemps .................................... 61 Gesine Hindemith Die Filme von Alain Resnais. Audiovisuelle Zeitorganisation medialer Geschichtsschreibung .......................................................................... 75 Marina Ortrud M. Hertrampf Ricœur und die Theorie der Photographie. Literarische und photographische Zeitdarstellung in Christian Garcins J’ai grandi (2006)..................................................................................................... 87 Michael Solomon Narrative Excess. Time, Song, and the Paradox of Attention in Alfonso X’s Cantigas de Santa María .................................................................. 105 Jeremy Lawrance Lazarillo and time ................................................................................................. 119 <?page no="6"?> Martina Meidl Mimesis der Zeitlosigkeit. Ricœur und der instante intemporal bei Octavio Paz .......................................................................................................... 135 M. Fernando Varela La obsesión del tiempo en J.L. Borges .............................................................. 147 Christine Rath Unerbittliche Uhren und geheime Wunder. Überlegungen zur narrativen Darstellung von Zeit in Jorge Luis Borges’ El milagro secreto ................................................................................................... 163 Volker Roloff Surreale Spiele mit der Zeit. Prousts Recherche im Spiegel lateinamerikanischer Romane ........................................................................... 175 Walburga Hülk L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson ................... 187 Zu den Autorinnen und Autoren ..................................................................... 197 6 <?page no="7"?> Vorwort Der Tod von Paul Ricœur im Jahr 2005 ist Anlass, über die mögliche Präsenz seines Beitrages zur Literaturtheorie nachzudenken. Ricœurs Schriften gewinnen möglicherweise an Aktualität, weil selbst die Postmoderne mittlerweile auf eine eigene Geschichte zurückschauen kann. Wer seine Arbeiten zu Sprache, Erzählung und Zeit in die Hand nimmt, sieht sich mit einer Hermeneutik konfrontiert, die gleichermaßen abseits von Strukturalismus und Poststrukturalismus steht. In kritischer Wendung gegen den Strukturalismus plädiert Ricœur schon 1967 in dem Aufsatz La Structure, le mot, l‘événement für eine stärkere Beachtung der historischen Dimension von Sprache, des Sprechens als Sprechakt im Sinne der parole und der Referenz als der Transzendenz von Sprache. Ricœur geht es um die parole in ihrer Funktion, die Struktur bei ihrer sprachlichen Veräußerung, also im Sprechakt, zum Ereignis zu machen (vgl. Ricœur 1967). Die Sprache als Einheit von langue und parole zu verstehen, ist eine Absage an die systemimmanente Perspektive, die der Strukturalismus vor allem gegenüber selbstreflexiver Literatur einnimmt. Für Ricœur ist diese Perspektive nur von geringer Reichweite, da selbstreflexive Literatur seiner Meinung nach eine historisch begrenzte Erscheinung ist. Die Literatur, die Ricœur bei seiner Kritik vermutlich im Sinn hat, ist der Nouveau Roman. Und dieser ist bereits der reflexive Bezugspunkt für die Selbstvergewisserung von Literaturtheorie in der Postmoderne, welche die Rigidität des strukturalistischen Beschreibungsinstrumentariums zugunsten der Selbstbezüglichkeit ihres Metadiskurses aufgibt. Daher lautet Ricœurs Bewertung dieses Versuchs, Wissenschaft und Kunst in der Metasprache einander anzunähern und dabei das Subjekt des Autors als moralische Größe zu opfern, knapp: „Schaum des Denkens“ (zit. n. Assheuer 2005: 53). Für die Literaturwissenschaft der jüngeren Vergangenheit zählt vor allem sein dreibändiges Werk Temps et récit, das bis Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Die vier Teile sind auf drei Bände aufgeteilt: Der erste Band setzt sich zusammen aus „I. Le Cercle entre récit et temporalité“ und „II. L’Histoire et le récit historique“, der zweite Band besteht aus „III. La Configuration dans le récit de fiction“ und der letzte schließlich umfasst „IV. Le Temps raconté“. Die Spannbreite der beteiligten Disziplinen, die Ricœur im kurzen Vorwort zum zweiten Band nennt, erstreckt sich von der Phänomenologie über die Geschichtswissenschaft bis zur Fiktion (vgl. Ricœur 1984: 7). Auch Ricœur stellt also die Literatur und die Wissenschaft auf eine Ebene, sucht aber hinsichtlich ihres gemeinsamen Charakters, sich erzählend zu veräußern, nach Konvergenzen und Divergenzen (vgl. Ricœur 1984: 12). Die Fiktion weist gegenüber dem récit historique in der Geschichtswissenschaft in <?page no="8"?> Vorwort 8 besonderem Maße die Eigenart auf, „de pouvoir se dédoubler en énonciation et énoncé“ (Ricœur 1984: 92; Hervorhebungen wie im Original). Durch diese Spaltung kommt es zur Reflexion über die eigene Erzählung. Ricœur verweist darauf, dass Aussageakt und Aussage linguistische Begriffe seien, die er bei Günther Müller, Gérard Genette und Algirdas Julien Greimas entlehnt. Für Ricœur findet bei diesen Autoren eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der narrativen Aussage (énoncé) zum Aussageakt (énonciation) statt, wodurch die eigentlichen Fiktionsmerkmale der narrativen Zeit deutlich hervortreten (vgl. Ricœur 1984: 92). „A ce titre, le ‚prendre ensemble‘ narratif comporte la capacité de se distancier de sa propre production, et par là de se redoubler“ (Ricœur 1984: 92). Die Merkmale der Fiktion „sont en quelque sorte libérés par le jeu entre les divers niveaux temporels issus de la réflexivité de l’acte configurant lui-même“ (Ricœur 1984: 92f; Hervorhebung wie im Original). Auffällig ist also, dass auch Ricœur bei der Fiktion von Reflexivität spricht. Aber ist diese Spiegelung nur eine subjektive Selbstvergewisserung im Moment des Erzählaktes, der Rede, und nicht auch ein Aspekt totaler Immanenz, die Ricœur im Grunde kritisiert? Zunächst bleibt dieses Problem offen: En attendant le grand débat triangulaire entre vécu, temps historique et temps fictif, nous prendrons appui sur la propriété remarquable qu’a l’énonciation narrative de présenter, dans le discours lui-même, des marques spécifiques qui la distinguent de l’énoncé des choses racontées. Il en résulte, pour le temps, une aptitude parallèle à se dédoubler en temps de l’acte de raconter et temps des choses racontées. Les discordances entre ces deux modalités temporelles ne relèvent plus de l’alternative entre logique achronique et déroulement chronologique, entre les branches de laquelle la discussion précédente aura sans cesse risqué de se laisser enfermer. Ces discordances présentent en effet des aspects non chronométriques qui invitent à déchiffrer en elles une dimension originale, réflexive en quelque manière, de la distension du temps augustinien, que le dédoublement entre énonciation et énoncé a le privilège de mettre en relief dans le récit de fiction. (Ricœur 1984: 14; Hervorhebungen wie im Original) Diese Verlagerung auf die Rede, die Äußerung oder den Aussageakt, die Ricœur im Grunde schon in seinem früheren Artikel betont, kann allerdings nicht wie in der mündlichen Sprache Berücksichtigung finden. Denn die Fiktion, die Ricœur im Sinn hat, ist die schriftliterarische. Die Welt des Textes („monde du texte“) in Form der schriftlichen Literatur bindet diese Zeiterfahrung als neue - und für Ricœur entscheidende - Beziehung zwischen Zeit und Fiktion in sich ein (vgl. Ricœur 1984: 14). Nous n’hésitons pas à parler ici, en dépit du paradoxe évident de l’expression, d’expérience fictive du temps, pour dire les aspects proprement temporels du monde du texte et des manières d’habiter le monde projeté hors de lui-même par le texte. Le statut de cette notion d’expérience fictive est très précaire: d’un côté, en effet, les manières temporelles d’habiter le monde restent imaginaires, dans la mesure où elles n’existent que dans et par le texte; d’un autre côté, elles constituent une sorte de transcendance dans l’immanence, qui permet précisément la confrontation avec le monde du lecteur. (Ricœur 1984: 14f; Hervorhebungen wie im Original) <?page no="9"?> Vorwort 9 So ist es kein Zufall, dass Ricœur sich in diesem Band der Untersuchung literarischer Werke widmet, in denen der gestalterische Aufwand bei der Selbstbedeutung des Moments gegenwärtiger flüchtiger Zeiterfahrung in der Beziehung der Zeit zu ihrer Fassung in Erzählungen fundamental ist: Mrs Dalloway von Virginia Woolf, Der Zauberberg von Thomas Mann und A la recherche du temps perdu von Marcel Proust. Vielleicht lässt sich sogar mehr behaupten: Diese Literatur besteht nicht nur aus der Konfiguration der Zeit in einer Erzählung, die Ricœur für das Erzählen im Allgemeinen annimmt. Sie inszeniert selbst die Refiguration der Zeit, die laut Ricœur erst im Akt der Lektüre durch den realen Leser vollzogen wird. Die „transcendance dans l’immanence“ wäre auf diese Weise als eine textimmanente Fassung der Text-Leser-Beziehung zu verstehen. Diese Art der Reflexivität ist allerdings auch im Nouveau Roman anzutreffen. Das Ricœur-Experiment versammelt aktuelle literatur- und medienwissenschaftliche Studien aus der Romanistik zu Ricœurs Zeit- und Erzähltheorie. Die Artikel gehen zurück auf die Vorträge in der Sektion „Paul Ricœur und die Mimesis der Zeit in Literatur und Film“, die während des XXX. Deutschen Romanistentages an der Universität Wien im September 2007 stattgefunden hat. Die Sektion war schon deshalb ein Experiment, weil die Untersuchungsgegenstände sich nicht auf die Literatur beschränkten, sondern auch Fotographie und Film umfassten. Diese Auswahl ist zunächst Ausdruck des persönlichen Interesses der Beiträgerinnen und Beiträger. Dennoch zeichnen sich gemeinsame Fragestellungen ab, die im Umgang mit Ricœurs Theorie zur Herausforderung wurden: Welchen Stellenwert besitzen seine Zeittheoreme nachweislich gegenüber der historischen Breite und Tiefe von Literatur und Film? Welche Rolle spielen sie angesichts postmoderner Autoreflexivität, welche angesichts einer offenen Werkstruktur? Wozu dienen sie angesichts des Anspruchs einer Erzählung auf historische Zeugenschaft und ethische Verantwortung? In der Sektionsarbeit wurde deutlich, dass die meisten behandelten Texte und Filme vielschichtige selbstbezügliche narrative Strukturen aufweisen. Dies sagt auch etwas über die Kontinuität von Forschungsschwerpunkten in der Romanistik aus. Denn autoreflexive Erzählformen wurden durchgängig von allen ‚Generationen‘ der Beiträgerinnen und Beiträger untersucht. Ob nun sprachlich oder in Bilder gefasst, enthalten die Romane, Bildgeschichten und Filmessays in diesen Fällen eine spielerische oder auch experimentelle Anordnung. Das Spielerische der Textstruktur besteht darin, dass die unmittelbare Gegenwart als ein Erlebnisprozess, als eine augenblickliche Verknüpfung mit der Vergangenheit erscheint. Diese Art des Erlebnisses wird wiederum dem realen Leser oder Zuschauer als Modell der Rezeption ‚vorgeführt‘. Erzählen ist dann „transcendance dans l’immanence“, indem dieser Übertritt paradigmatisch durchgespielt wird mit einem Geltungsanspruch, der den Primärtexten den Charakter einer Theorie in der Praxis verleiht. <?page no="10"?> Vorwort 10 Ein weiteres Merkmal des Ricœur-Experiments besteht darin, dass die behandelten Beispiele aus Frankreich, Spanien und Lateinamerika stammen. Sie repräsentieren damit eine kulturelle Bandbreite literarischen Schaffens, die gegenüber den von Ricœur in Temps et récit untersuchten Romanen aus Frankreich, England und Deutschland nicht allein als Ausdruck romanischer Kulturen, sondern als Teile einer Weltliteratur oder besser Welterzählkultur verstanden werden müssen. Außerdem stammen die hier behandelten Texte und Filme nicht nur, wie im Fall von Ricœurs literarischem Korpus, aus den 1920er Jahren, sondern aus einem Zeitraum vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit bis zur jüngsten Gegenwart, allerdings mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert. Den Auftakt des Bandes machen zwei Beiträge, die sich mit Ricœur eingehend auf einer theoretischen Ebene auseinandersetzen. Beide Male geht es um eine Gegenüberstellung mit Texten, die Ricœurs Beschreibungsansatz entgehen und doch mit ihm kontrastiv in Beziehung gesetzt werden können. Ricœurs Zeittheoreme treffen hier einmal auf einen primärliterarischen Text, das andere Mal auf einen philosophischen Diskurs. Jochen Mecke (Regensburg) zeigt zwar die Grenzen von Ricœurs Zeittheorie im Umgang mit formal anspruchsvollen literarischen Texten der Moderne und Postmoderne auf, weist der Theorie aber einen nach wie vor gültigen Platz angesichts traditioneller Romane zu, deren sinnstiftende Funktion kontrastiv in Gustave Flauberts Madame Bovary vorgeführt wird. Friedrich Frosch (Wien) vergleicht die Zeittheorien von Ricœur und Gilles Deleuze, die in einigen Aspekten trotz ihrer unterschiedlichen Bezüge auf Literatur und Film überraschende Gemeinsamkeiten aufweisen. Die folgenden drei Studien stellen zu diesem Auftakt einen Kontrapunkt dar. Denn in allen Fällen wird eine besondere Herausforderung an die erzählende Erinnerung behandelt, welche die Notwendigkeit der referentiellen Funktion von sprachlichen und filmischen Texten evident und zugleich fragwürdig macht: der Nationalsozialismus und der Holocaust. Anke Gladischefski (Wien) fragt angesichts traumatischer Erfahrungen von Lagerinsassen in der Zeit des Nationalsozialismus, wie das ständige Durchleben des Erlebten durch das Erzählen auf historische Distanz gebracht werden kann, und welche Erklärungskraft Ricœurs Zeitvorstellung in diesem Zusammenhang besitzt. Jutta Fortin (Wien/ Saint-Etienne) nimmt in ihrer Studie über die Romane Patrick Modianos Spuren von ‚wirklichen‘ Menschen vor dem Hintergrund der Okkupation Frankreichs durch die Deutschen als Ausgangspunkt für Überlegungen zu den Ricœur’schen Konzepten trace und archive sowie deren Bedeutung für das Schreiben an der Mündung der Geschichte in die Literatur. Gesine Hindemith (München/ Paris) weist die Grenzen von Ricœurs Ansatz auf hinsichtlich der Authentifizierungsstrategien in Alain Resnais’ Filmen Nuit et brouillard und Muriel, in denen die Gleichzeitigkeit mehrerer Zeitebenen eine besondere Herausforderung für die Analyse darstellt. <?page no="11"?> Vorwort 11 Resnais’ Film wirft die Frage auf, welche Rolle jeweils die sprachliche Erinnerung und die Wiedergabe der Vergangenheit in filmischen Bildern spielen kann. Sprache und Bewegungsbild stellen in einem Film unterschiedliche Möglichkeiten der Annäherung an die Vergangheit dar, deren Zentrum zwischen ihnen angesiedelt ist. Die Offenheit von Nuit et brouillard ist das Ergebnis seiner viefältigen Ausdruckskomponenten. Die Kombination von photographischem Bild und literarischem Text macht hier keine Ausnahme. Der Kern der Vergangenheit ist ebenfalls der Zwischenraum ihrer mehrgleisigen medialen Veräußerung. Die Spaltung des Autobiographen in den Schriftsteller und Photographen der Gegenwart einerseits und das Subjekt vergangener Zeiten andererseits ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel. Marina Ortrud M. Hertrampf (Regensburg) untersucht in Christian Garcins autobiographischem Roman J’ai grandi aus dem Jahr 2006 die Beziehung zwischen Text und Fotographie und vergleicht Theoreme zur Temporalität von Fotographie mit Ricœurs Überlegungen zur Literatur. Bilder in Kombination mit Gesangstexten können dagegen ganz anders funktionieren. Sie zentrieren den Rezeptionsprozess nicht auf einen semantischen Fluchtpunkt, sondern koppeln ihn an den Ritus, dessen Bedeutung in seiner Ausführung besteht. Die Feier als Lobpreisung von Gott und Herrscher öffnet den Text auf das körperliche Erleben und die Ewigkeit immermöglicher Wiederholung. Michael Solomon (Philadelphia) verfolgt die Bedeutung des Immer-wieder-Erzählens und der übermäßig gedehnten, weil heiligen fiktiven Zeit und davor gelagerte politisch-soziale Absichten in den mittelalterlichen Cantigas, den alphonsinischen Marienmirakeln des spanischen 13. Jahrhunderts. In der frühen Neuzeit ist dem gegenüber die Parallelisierung von Lebensgeschichte und Reisebewegung mit dem Versuch verbunden, die Unendlichkeit des Zeitlaufs und die Einmaligkeit der individuellen Existenz einander anzunähern. Erfolgt diese Annäherung schließlich noch im Rückgriff auf den mündlichen Prozess ihrer Veräußerung durch eine Autorfiktion, dann ist der schriftsprachliche Ausdruck das Protokoll dieser komplexen Koinzidenz. Jeremy Lawrance (Nottingham) stellt bei seiner Reise in die neu figurierte Zeit des 16. Jahrhunderts die Frage, ob und wie es dem Schelmen Lazarillo de Tormes gelingt, seine Lebensgeschichte - seinen Fall - erzählend zur Gestalt mit Anfang, Mitte und Ende zu formen. Nicht nur die spanische, sondern auch die lateinamerikanische Literatur findet in diesem Band ihre Berücksichtigung. Sie ist besonders reich an Reflexionen über den Schreibprozess. Die folgenden drei Beiträge beschäftigen sich mit Octavio Paz und Jorge Luis Borges. Martina Meidl (Wien) setzt Ricœurs Erkenntnis vom Scheitern des reflexiven Denkens an den Aporien der Zeit in Bezug zur Dichtung von Octavio Paz und seinem Konzept von der schöpferischen Kraft des poetischen Diskurses. M. Fernando Varela (Wien) konfrontiert die zeitphilosophischen Kapriolen in den Erzählungen und Essays von Jorge Luis Borges mit der Poesie desselben Autors; sie ist <?page no="12"?> Vorwort 12 von einer „eingefleischten“ Zeitangst inspiriert und von der Erfahrung, dass die „Zeit der Stoff“ ist, aus „dem wir gemacht sind“. Christine Rath (Köln) widmet sich ebenfalls der Zeitvorstellung von Jorge Luis Borges und hält trotz Borges’ Absage an die Vorstellung einer linear-sukzessiven Zeit Ricœurs Ansatz für aufschlussreich bei der Erklärung des erkenntnistheoretischen Stellenwerts der Gegenwartsperspektive in den Texten beider Autoren. Die Brücke von der lateinamerikanischen zur französischen Literatur schlägt Volker Roloff (Siegen). Er knüpft an Ricœurs Untersuchung von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu an und hebt die Theatralität als Teil der Definition des Mimesisbegriffs durch Aristoteles hervor, die sich auch bei Proust und Alejo Carpentier, der sich auf Proust bezieht, als „surrealistische Spiele mit der Zeit“ in einem übertragenen Sinn nachweisen lassen. Der Kreis schließt sich mit dem letzten Beitrag dieses Bandes, denn hier geht es um denselben Autor, der auch zu Beginn im Mittelpunkt steht. Walburga Hülk (Siegen) fragt anhand von Gustave Flauberts L’Education sentimentale, warum Ricœurs Analysen der oben genannten Romane in Temps et récit hinter dem zuvor in großer Breite ausgefalteten theoretischen Anspruch zurückbleiben. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre prompte und zügige Mitarbeit an diesem Band. Ein ganz besonderer Dank gebührt Hanna Hatzmann und Veronika Thiel, ohne deren konzentrierte, genaue und bestens organisierte Mitarbeit dieser Band niemals so rasch hätte erscheinen können. Schließlich geht unser Dank an das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und die Österreichische Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Die Herausgeber Wien, im November 2008 Literaturverzeichnis Thomas Assheuer, Das Selbst als ein Anderer, in: Die Zeit 22/ 2005, 53 (http: / / www.zeit.de/ 2005/ 22/ nachruf_P_Ricoeur; 28.6.08). Paul Ricœur, La Structure, le mot, l’événement, in: Esprit 1967, 801-821. Paul Ricœur, Temps et récit II, Paris 1984. <?page no="13"?> Jochen Mecke Die Mimesis der Zeit im Prozess 1 Ricœurs Philosophie der Zeit Mit den drei Bänden von Temps et récits (1983, 1984, 1985) hat Paul Ricœur den bisher umfassendsten und vielleicht komplexesten Versuch einer hermeneutischen Theorie des Verhältnisses von Zeit und Erzählung vorgelegt. Dabei kommt der literarischen Gestaltung von Zeit eine zentrale Bedeutung für die Zeitphilosophie Ricœurs zu, denn Zeit wird allein durch Erzählung zur menschlichen Zeit schlechthin (Ricœur 1983: 85). Diese große Bedeutung narrativer Gestaltung von Zeit für Ricœurs Zeitphilosophie lässt erwarten, dass sie sowohl für die literarische Zeitgestaltung im Roman als auch für die ästhetische Zeiterfahrung des Lesers ein großes Erklärungspotenzial bietet. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wäre daher zu untersuchen, welchen Beitrag Ricœurs hermeneutische Theorie der Zeit für das Verständnis literarischer Zeitgestaltung leistet und umgekehrt, in welchem Licht seine Zeittheorie aus der literaturtheoretischen Perspektive einer narrativen Zeittheorie erscheint. Damit in engem Zusammenhang steht die literaturgeschichtliche Frage, was Ricœurs Zeittheorie für das Verständnis des modernen und postmodernen Romans leistet. Diese Problematik hat auch eine kulturgeschichtliche Dimension, denn Ricœurs Ansatz wirft die Frage auf, ob er tatsächlich für alle Epochen der Zeit-Geschichte Gültigkeit beanspruchen kann. Sowohl die alltägliche Erfahrung von Zeit als auch deren phänomenologische Beschreibung sind mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Der Versuch des Augustinus, Zeit rein psychologisch zu definieren und die Bewegung und Ausdehnung der Seele in Erinnerung (retentio), Aufmerksamkeit (attentio) und Erwartung (protentio), das heißt, die Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewusstsein zum Maß der Zeit zu machen und damit der physikalischen, aristotelischen Definition von Zeit als Maß der Bewegung im Raum ein psychologisches Pendant entgegenzusetzen, führt nach Ricœur in Aporien. Denn in dem Maße, wie sich der Geist durch Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung räumlich ausdehnt und auf diese Weise befähigt wird, von in der Zeit weit auseinander liegenden Gegenständen affiziert zu werden, wachsen Aktivität und Passivität des Geistes proportional zueinander: Si donc l'on approche, comme je crois que l'on peut, la passivité de l'affectio de la distentio animi, il faut dire que ces trois visées temporelles se dissocient dans la <?page no="14"?> Jochen Mecke 14 mesure où l'activité intentionnelle a pour contrepartie la passivité engendrée par cette activité même et que, faute de mieux, on désigne comme image empreinte ou image-signe. Ce ne sont pas seulement trois actes qui ne se recouvrent pas, mais c'est l'activité et la passivité qui se contrarient, pour ne rien dire de la discordance entre les deux passivités, attachées l'une à l'attente, l'autre à la mémoire. Plus donc l'esprit se fait intentio, plus il souffre de distentio. (Ricœur 1983: 40) Im Zentrum von Zeiterfahrung und ihrer phänomenologischen Betrachtung steht mithin die Paradoxie, dass gerade die Übereinstimmung der Akte der Erinnerung (Vergangenheit), der Aufmerksamkeit (Gegenwart) und der Erwartung (Zukunft) eine grundlegende Diskordanz hervorbringt (Ricœur 1983: 43). In Ricœurs Interpretation sieht Augustinus die Heterogenität aus der Aktivität der Erwartung, Aufmerksamkeit und Erinnerung, den Tätigkeiten der Konstitution von Zeit selbst, entstehen (Ricœur 1983: 41). Was ursprünglich die Homogenität und Harmonie der in der Wirklichkeit als disparat und heterogen erlebten Momente produzieren sollte, betreibt nun deren Auflösung und Zersetzung. Dieses Problem einer reinen Phänomenologie der Zeiterfahrung wird nach Ricœur durch die Praxis des Erzählens gelöst, deren entscheidende Rolle für die Verbindung einzelner isolierter Momente zu einer Zeitform er bereits in der Poetik des Aristoteles (Aristoteles 1961) theoretisch erfasst sieht. Durch die Komposition heterogener Elemente zu einem Mythos, einer Intrige, wird eine Einheit an sich dissonanter Momente erzeugt, die menschliche Zeit überhaupt erst konstituiert (Ricœur 1983: 66). Laut Ricœur ist die so erzeugte Einheit nun aber nicht das Ergebnis einer durch Verdrängung der realen Heterogenität erzeugten Fälschung, sondern schließt bereits ein gewisses Maß an ursprünglicher Heterogenität mit ein, denn der Mythos enthält Peripetien und Episoden, die nicht in die Haupthandlung integriert werden können. Überwiegt in der Zeiterfahrung und in der spekulativen und phänomenologischen Analyse der Zeit die Dissonanz heterogener Momente über deren Einklang, so verhält es sich in der Erzählung durch die Dominanz der Intrige genau umgekehrt: Die Übereinstimmung und Harmonie der heterogenen Augenblicke gewinnt die Oberhand. Der Erzählung kommt mithin eine zentrale Funktion zu. Denn sie vermag es, wie bereits Aristoteles in seiner Poetik dargelegt hat, die verschiedenen Momente der primären Zeiterfahrung in ein homogenes Ganzes zu überführen: Durch die Zusammenstellung heterogener Augenblicke zu einem Mythos, zu einer Intrige, wird eine Einheit von an sich dissonanten Zeitpunkten erzeugt, welche überhaupt erst in der Lage ist, die menschliche Zeit zu konstituieren (Ricœur 1983: 66). Damit werden menschliche Zeit und narrative Zeit miteinander kurzgeschlossen. Die zentrale These in Temps et récit lautet: [...] le temps devient temps humain dans la mesure où il est articulé sur un mode narratif, et [...] le récit atteint sa signification plénière quand il devient une condition de l'existence temporelle. (Ricœur 1983: 85) <?page no="15"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 15 Die Zeitgestaltung legt dabei den Weg von einem alltäglichen Vorverständnis von Zeit, so wie es etwa in der lebensweltlichen Erfahrung von Handlungen vorliegt (Mimesis I), über die Zeitgestaltung durch die Erzählung (Mimesis II) bis zur Neugestaltung der Zeit in der kulturellen Wirklichkeit (Mimesis III) zurück. Die Gestaltung narrativer Zeit durchläuft dabei einen Prozess, der von einem „temps préfiguré à un temps refiguré par la médiation d'un temps configuré“ führt (Ricœur 1983: 87). Die narrative Gestaltung von Zeit übernimmt dabei die Vermittlungsfunktion zwischen der Vorstrukturierung der Zeit durch die lebensweltliche Praxis und ihrer Neugestaltung durch die Rezeption des Werkes. Bemerkenswert an Ricœurs Ansatz ist nun, dass er dieses Verhältnis von menschlicher Zeit und Erzählung nicht als circulus vitiosus, sondern als produktiven Zirkel versteht, der drei verschiedene Stadien umfasst. Die mimesistheoretischen Grundlagen für den Begriff produktiver Mimesis entwickelt er in La métaphore vive (1975) und in verschiedenen Aufsätzen aus den späten 70er Jahren, The Metaphorical Processus as Cognition. Imagination and Feeling (1978) und The Function of Fiction in Shaping Reality (1979a), The Human Experience of Time and the Narrative (1979b) und Narrative Time (1980) in Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Mimesisbegriff. In Ricœurs Aristoteles-Interpretation erscheint das Kunstwerk weder als bloße Reproduktion von Wirklichkeit noch als von dieser völlig losgelöstes, reines Artefakt. Literatur befindet sich in einem Spannungsfeld, an dessen Polen sie entweder ihre Fähigkeit verliert, sich auf die Wirklichkeit zu beziehen oder aber ihr Vermögen, diese in ästhetisch produktiver, autonomer Weise umzuformen. Ricœur hält fest, dass die Sprache immer ihres Anderen, ihrer Differenz bedarf: Cette présupposition (sc. de la référence) implique que le langage ne constitue pas un monde pour lui-même. Il n'est même pas du tout un monde […]. Le langage est pour lui-même de l'ordre du même. Le monde est son Autre. (Ricœur 1983: 118f) Die Beziehung zwischen Sprache und ihrem Anderen, zwischen Literatur und Wirklichkeit, ist indessen nicht als bloße Nachahmung im traditionellen Sinn zu verstehen, sondern muss als produktive Referenz gedacht werden, deren Funktion darin besteht, der Wirklichkeit Form und Gestalt zu geben (Ricœur 1979a: 123). Fiktionen können nicht Dinge, die in absentia tatsächlich existieren, reproduzieren - wie dies etwa bei einem Portrait der Fall ist - denn ihr Referent ist nicht real, er existiert nicht außerhalb des fiktiven Bereichs (Ricœur 1979: 126). Da kein vorgegebenes Referenzobjekt der Fiktion existiert, hat diese die Möglichkeit, sich von der Wirklichkeit - qua Spontaneität der Einbildungskraft - abzusetzen und sich in produktiver, nicht allein reproduktiver Weise auf sie zu beziehen (Ricœur 1979a: 127). Die Bilder der Einbildungskraft, hervorgerufen durch semantische Innovationen, ordnen instabile Sinneseindrücke in virtuell abweichender Form an und stabilisieren sie durch den Schematismus der Einbildung (Ricœur 1979a: <?page no="16"?> Jochen Mecke 16 129). Auf diese Weise werden neue Modelle erzeugt, die unsere Wirklichkeitsvorstellung ikonisch erweitern (Ricœur 1979a: 136). Bezogen auf die Zeit geht diese Erweiterung des Weltbildes in drei verschiedenen Stufen vor sich, die einen hermeneutischen Zirkel von der alltagssprachlichen préfiguration (= Mimesis I), der literarischen configuration (= Mimesis II) bis zur refiguration (= Mimesis III) in der Zeiterfahrung des Lesers durchlaufen. Zwar hat die Gestaltung der Wirklichkeit durch die Literatur, wie sie in der Mimesis II verankert ist, einen relativ autonomen Status, sie gewinnt ihre volle Bedeutung aber nur insofern, als sie die Rolle der Vermittlung zwischen Vor- und Neugestaltung der Zeiterfahrung übernimmt. Sie unterscheidet sich mithin von der alltagssprachlichen Praxis, bleibt aber dennoch an deren Vorgaben gebunden. Die verschiedenen Stufen der Mimesis bauen dabei aufeinander auf, so dass sich der Zirkel für Ricœur schließen kann. „Ce qui est resignifié par le récit est déjà présignifié au niveau de l'agir humain“(Ricœur 1983: 122). Die grundlegendste Prämisse der Poesie ist es daher, dass sie die nicht-literarischen Gebrauchsweisen der Sprache nachahmt (Ricœur 1984: 39). Damit sind die Grundlagen für Ricœurs Versuch gelegt, das bekannte Dilemma jeder Mimesistheorie zu lösen: Ist die Nachahmung gelungen, das heißt, ist sie in der Lage, die vorgegebene, vorausdrückliche Wirklichkeit zu reproduzieren, so erscheint das literarische Werk als überflüssige, weil getreue Kopie. Zeigt sie jedoch Strukturen, die ordnen, was in Wirklichkeit ungeordnet vorliegt, so ist sie nicht länger getreue Wiedergabe, sondern bloße Verfälschung von Realität und als solche zu verurteilen (Ricœur 1983: 111ff). Auf diesem schmalen Theoriegrad zwischen Gewalt und Redundanz literarischer Darstellung, auf dem sich jede Mimesis-Theorie bewegen muss, versucht Ricœur sich nun dadurch abzusichern, dass er einerseits schon der Erfahrung der Wirklichkeit eine bestimmte protonarrative Ordnung zuweist, andererseits die literarische Gestaltung nicht als reine Konstruktion von Kohärenz bestimmt, sondern als Harmonie, die das Heterogene bereits in sich enthält (ebd.: 112ff). Unter solchen Voraussetzungen ist literarische Mimesis nur dann legitimiert, wenn sie, auf die bereits konstruktive, synthetisierende und Sinn gebende Leistung des alltäglichen Erzählens aufbauend, die Gestaltung „an sich“ disparater Wirklichkeitselemente fortführt. Im Großen und Ganzen gilt aber, dass die heterogene Erfahrung von Zeit, wie sie in der von Augustinus analysierten distentio animi vorlag, in ein homogenes Ganzes überführt wird. Für die Zeiterfahrung des Lesers bedeutet diese einen qualitativen Sprung, den Ricœur unter Rekurs auf heideggersche Kategorien analysiert. Die Neugestaltung der Zeit auf der Stufe der Mimesis III versetzt den Leser auf verschiedene Stufen der Zeitlichkeit, die jeweils nach ihrem unterschiedlichen Grad an Authentizität und Ursprünglichkeit hierarchisch gegliedert sind. Zunächst erreicht der Leser die Neugestaltung der Zeit auf einer Stufe, die Heidegger das In-der-Zeit-Sein oder die Innerzeitigkeit nennt. Diese Stufe setzt sich bereits von der linearen Repräsentation der Zeit dadurch ab, dass <?page no="17"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 17 sie aus der existentiellen Grundhaltung des Besorgens und des Rechnens mit Zeit abgeleitet wird. So rechnen die Helden von Erzählung mit Zeit, sie haben Zeit zum Handeln zu ihrer Verfügung, können mit ihr umgehen, sie einteilen etc. (Ricœur 1979b: 25f). Im Unterschied zur bloß vulgären, linearen Zeitkonzeption sind allerdings alle temporalen Aktivitäten auf diesem Niveau aus grundlegenden existentiellen Haltungen abgeleitet und nicht einfach als Verfallensein an die Objekte zu deuten. Zeitmessung ist dementsprechend eine Folge des Rechnens mit Zeit auf der existentiellen Stufe des In-der-Zeit-Seins und nicht dieses eine Folge des Messens (Ricœur 1980: 173). Die durch die Erzählung zunächst erreichte Stufe der Innerzeitigkeit hat folgende Eigenschaften: Sie ist berechnete Zeit, die im Besorgen verankert ist und darüber hinaus die verschiedenen Momente im Zusammenhang des In-der-Welt-Seins zu Tage fördert. Schließlich wird die Gegenwart durch das Vergegenwärtigen vor dem Zurückfallen in die abstrakte Darstellung linear aufeinanderfolgender Punkte bewahrt (ebd.: 176). Die narrative Zeitgestaltung bleibt allerdings nicht auf dieser Stufe stehen, sondern vertieft das Zeiterlebnis des In-der-Zeit-Seins, indem sie es auf die authentischere Stufe der Geschichtlichkeit transponiert, in der sich die grundlegende existentielle Haltung des Wiederholens verwirklicht. Sie wird von Ricœur als zeitliche Alternative zur atemporalen, strukturalistischen Überwindung der Innerzeitigkeit durch die Dechronologisierung (Barthes 1966: 12) in die Analyse der Erzählung eingeführt. Auf der Ebene des Wiederholens werden die Ereignisse vom Ende her auf einen Nenner gebracht, das Ende wird in der Erinnerung in den Anfang hineingelesen (Ricœur 1980: 180). Die Geschichtlichkeit ist gekennzeichnet durch die Wahrnehmung der Endlichkeit von Zeit als Erstreckung zwischen Geburt und Tod, durch die Dominanz der Vergangenheit in der Sorge und durch die absolute Endlichkeit (ebd.: 179ff). Schließlich leitet die Erzählung den Prozess ein, der zurück zur ursprünglichen Stufe der Zeitlichkeit selbst führt. Ricœurs Hermeneutik der Zeit weicht insofern in einem zentralen Punkt von der Existentialontologie Heideggers ab, als die ursprüngliche Erfahrung von Zeit nicht durch die Vergegenwärtigung des Seins-zum-Tode durch ein isoliertes Individuum, sondern auf der Ebene des Mit-den- Anderen-Seins erfahren wird. So wird auch die Zeitlichkeit als Stufe höchster Authentizität nicht aus der individuellen Erfahrung, sondern aus der Traditionalität des kollektiven Bewusstseins und des in ihm enthaltenen Wissens um den Tod abgeleitet. Abgesehen von dieser Abweichung reproduziert die narrative Analyse die gleiche Hierarchie wie die Phänomenologie der Zeiterfahrung, sie entdeckt die „true constitution of time which […] is divided into three levels“ (ebd.: 179). Die geschichtlichen und literarischen Erzählungen wiederholen also eine dreistufige, hierarchisch gegliederte Zeiterfahrung auf der Ebene der Neugestaltung oder besser erneuten Gestaltung der Zeit. Der von Ricœur als produktiv bezeichnete Zirkel ergibt sich vor allem deshalb, weil die verschiedenen Zeitstufen durch ihre hierarchische Ordnung einen unterschiedlichen Grad an Authentizität und <?page no="18"?> Jochen Mecke 18 Wahrhaftigkeit erreichen, an dessen unterster Schwelle eine Zeitform steht, der keine Wahrheit mehr zukommt: die lineare Abfolge ausdehnungsloser Zeitpunkte der verräumlichten Zeit, die in etwa Heideggers vulgärem Zeitbegriff entspricht. Diese Zeit ist von vornherein aus der Hierarchie vermittelbarer Formen ausgeschlossen, da sie aus dem Rahmen der Präformierung von Zeit durch das Vorverständnis menschlicher Handlungen der Mimesis I fällt. Die produktive Mimesis von Zeit vollzieht sich somit in einem anthropozentrischen Rahmen. Ricœurs humanistisch inspirierte Fragestellung in Verbindung mit einer hierarchischen Gliederung der drei Zeitformen Innerzeitigkeit, Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit liefert die Grundlage für die zentrale These, dass Zeit nur insofern zur menschlichen Zeit avanciert als sie in Erzählungen artikuliert wird. Erzählungen erreichen ihrerseits erst dann ihre volle Bedeutsamkeit, wenn sie die Bedingung der zeitlichen Existenz des Menschen formulieren (Ricœur 1983: 17, 85). Da nun die Intrige als Synthese des Heterogenen (Ricœur 1984: 229) aufgefasst wird und die spezifische Zeitform bzw. die eigentliche Zeit der Erzählung sich erst durch eine solche Synthese ergibt, kann die erzählend geformte Zeit nur eine in der alltäglichen Erfahrung bereits in den Grundzügen präfigurierte Zeit sein, in der alle Momente zur harmonischen Übereinstimmung, zum Gleichklang gelangen. Es ist dabei für die hermeneutische Position Ricœurs charakteristisch, dass alle Objektivierungen von Zeit aus dem lebensweltlichen, mit Sinn erfüllten Horizont des Subjektes abgeleitet werden, dass also Mimesis von Zeit nur aus dem durch das menschliche Handeln bedingten Vorverständnis entwickelt werden kann. Insbesondere für literarische Erzählungen stellt die durch den Handlungsbegriff präfigurierte Zeitlichkeit daher im Rahmen dieser Theorie ein unhintergehbares Apriori der Zeitkonfiguration dar. Betrachten wir Ricœurs Zeitbegriff genauer, so zeigt sich, dass dieser das Ergebnis einer Übertragung der Kategorien und vor allem der Struktur des Handelns auf das unstrukturierte Wandlungskontinuum ist, das wir als kleinsten gemeinsamen Nenner aller Zeittheorien bezeichnen können. Das Resultat dieser Übertragung des Verlaufsschemas menschlichen Handelns und seiner Kategorien wie Intention, Motiv, Hindernis, Ziel etc. auf das unstrukturierte Werden und Vergehen, ist die von Ricœur so bezeichnete „menschliche“ Zeit (Ricœur 1983: 88ff). Es handelt sich dabei um eine Zeitform, die linear und teleologisch ausgerichtet ist und die von den Motiven und Intentionen des Handelnden ihren Ausgang nimmt, und an deren Ende die Verwirklichung oder Nicht-Verwirklichung der Ziele stehen, wobei die Strecke zwischen Absicht und Realisierung, zwischen Anfang und Ende durch kontingente Ereignisse oder Hindernisse markiert werden kann. Zeittheorien lassen sich aber nicht nur daran messen, was sie zu erklären in der Lage sind, sondern auch daran, was sie ausschließen. Für Ricœur gehören nun all jene Formen der Zeitgestaltung nicht zur Literatur, die seinen teleologischen, von den Kategorien menschlichen Handelns geprägten Formen menschlicher Zeit nicht entsprechen. <?page no="19"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 19 Mais je suis d'accord avec Barbara Herstein-Smith, lorsqu'elle affirme que l'anticlôture rencontre un seuil au-delà duquel nous sommes mis dans l'alternative ou bien d'exclure l'œuvre du domaine de l'art, ou de renoncer à la présupposition la plus fondamentale de la poésie, à savoir qu'elle est une imitation des usages nonlittéraires du langage, parmi lesquelles l'usage ordinaire du récit comme arrangement systématique des incidents de la vie. A mon avis il faut choisir la première option. (Ricœur 1984: 39; Hervorhebung J.M.) Bevor diese Festlegung diskutiert werden kann, ist vorher eine vielleicht banal anmutende Frage zu klären: Was ist eigentlich der Grund dafür, dass Zeit die Form menschlichen Handelns annehmen kann, im Unterschied etwa zum Raum? Eine weitere Frage hängt damit zusammen: Wenn Zeit durch die Strukturen menschlichen Handelns gestaltet werden kann, ist es dann möglich, dass sie auch andere Formen annimmt? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, den ontologischen Status von Zeit, also deren spezifische Seinsweise in Erinnerung rufen. 2 Relationale Theorie der Zeit und Zeit der Erzählung Als kleinster gemeinsamer Nenner aller Zeittheorien kann die - auch von Ricœur in seinen Untersuchungen zu Augustinus’ Zeitphilosophie veranschlagte - ontologische Anomalie der Zeit gelten. Als permanentes Werden und Vergehen widerspricht Zeitlichkeit - so lautet etwa das Ergebnis der existentialontologischen Analysen Heideggers - den grundlegenden metaphysischen Annahmen einer Substanzontologie, die das Sein unter der Perspektive der Präsenz auf (An-)Wesen(heit) reduzieren (Heidegger 1976: 25ff; 1953: 72ff). Weil Zeit nicht ‚ist‘, weil eine gleichzeitige Präsenz zweier Zeitpunkte in der Wahrnehmung nicht möglich ist, kann Zeitlichkeit nicht als Präsenz, sondern lediglich in Form einer zeichenhaften Repräsentation gegeben sein. Auch Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft aus dem Status der Zeit als Form des inneren Sinnes bekanntlich die Notwendigkeit ihrer metaphorischen Verräumlichung abgeleitet. Aus dieser ontologischen Differenz der Zeit, aus ihrer Nicht-Gegenwart ergibt sich die Notwendigkeit ihrer zeichenhaften Vergegenwärtigung. Dieser Befund bestätigt sich aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive. Da der Mensch nicht mit einem spezifischen Sinnesorgan für die Wahrnehmung der Zeit ausgestattet ist, lässt sich von einer „Zeitwahrnehmung“ im strengen Sinne des Wortes eigentlich nicht sprechen. Bei Reizen, die in einem Abstand von mehr als drei Sekunden aufeinanderfolgen, ist der Mensch nicht mehr in der Lage, diese zu einer einheitlichen Gestalt zusammenzuschließen (Fraisse 1966: 661; Pöppel 1987: 61). Diese Repräsentation von Zeit ist allerdings das Ergebnis einer komplexen semiotischen Synthese, die verschiedene Wandlungskontinua miteinander in Beziehung setzt. Dies gilt nicht nur für komplexe Formen der Zeitgestaltung, wie sie etwa in Romanen vorliegen, sondern bereits für die minimale Basis jeglicher Gestaltung von Zeit, das heißt, für <?page no="20"?> Jochen Mecke 20 die einfache Feststellung des Aufeinanderfolgens zweier Ereignisse. Die Wahrnehmung einer bloßen Sukzession „B folgt auf A“ setzt nämlich die Existenz eines Bezugskontinuums voraus, das als Maßstab wirkt und die Festlegung einer zeitlichen Abfolge innerhalb des Wandlungskontinuums überhaupt erst ermöglicht. In der Terminologie von Charles Sanders Peirce fällt Zeit somit als „etwas, das so ist, wie es ist, indem es ein Zweites und ein Drittes zueinander in Beziehung setzt“ unter die Kategorie der Drittheit (Peirce 1985: 144). Zeit entsteht erst aus der Relation zweier Wandlungskontinua im Hinblick auf einen relativ unbeweglichen Standpunkt. Norbert Elias hat diesen relationalen Charakter der Zeit in seinen Betrachtungen Über die Zeit besonders hervor gehoben: Das Wort ‚Zeit‘, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehnisabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert. (Elias 1988: 11f) Da die beiden Wandlungskontinua verfließen, können sie nicht direkt, sondern nur durch eine zeichenhafte Synthese aufeinander bezogen werden. Eine feste Form erhält eine solche Relation erst im Laufe eines semiotischen Prozesses, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft als Analogiebildung beschrieben hat: [W]eil diese Anschauung [der Zeit; J.M.] keine Gestalt ergibt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist [...]. (Kant 1956: 77, A 33) So entsteht bspw. die physikalische Zeit aus der Übertragung einer kontinuierlichen Bewegung im segmentierbaren Raum auf den zeitlichen Wandel. Das Ergebnis dieses spezifischen Prozesses hat Aristoteles in der Physik beschrieben: „Weil die Ausdehnungsgröße ein Kontinuum bildet, bildet ein solches auch die Bewegung. Weil die Bewegung ein Kontinuum bildet, bildet auch die Zeit ein solches [...]“ (Aristoteles 1983: 112). Zeitformen können demnach als Ergebnisse eines metaphorischen Prozesses aufgefasst werden, in dessen Verlauf Merkmale eines Standardkontinuums auf ein Wandlungskontinuum übertragen werden. Der Fall der linear-verräumlichten Zeit macht deutlich, dass die Ergebnisse eines solchen Übertragungsprozesses wiederum selbst als Bezugskontinuum für die Entstehung weiterer Zeitformen dienen können. So entsteht unsere Wahrnehmung der erlebten Zeit oder des Zeiterlebens überhaupt aus der Relation zwischen dieser physikalischen, linear-verräumlichten Zeit der Uhren einerseits und der Intensität des Erlebens andererseits, wobei wir die Intensität unserer Erlebnisse im Erleben selbst durch eine rasch verlaufende Zeit und ihren Mangel an Intensität durch einen langsamen Verlauf ausdrücken. In der Erinnerung jedoch kehrt sich diese Relation um: Intensive Erlebnisse werden im Gedächtnis zeitlich gedehnt, Langeweile schrumpft zu einem bloßen Zeitpunkt - es sei denn sie <?page no="21"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 21 wurde als besonders quälend und damit auch in gewisser Weise intensiv erlebt. Im Licht einer relationalen, semiotischen Theorie der Zeit erweist sich die von Ricœur als menschliche Zeitform schlechthin bezeichnete Zeit der Erzählung als das Resultat einer solchen Zeitmetapher, bei der Strukturen und Charakteristika eines Wandlungskontinuums auf ein anderes übertragen werden. In diesem Fall wird das von Kategorien wie Intention, Ziel, Motiv, Hindernis etc. geprägte Verlaufsschema menschlichen Handelns auf die linear-verräumlichte Zeit übertragen. Die aus diesem Übertragungsprozess resultierende Zeitform ist die teleologisch gerichtete Zeit der Geschichte, die in der Erzähltheorie als diegetische Zeit oder Zeit der Handlung bezeichnet und der Makrostruktur zugeordnet wird. Damit zeigt sich, dass die bei Ricœur als einzige menschliche Zeitform fungierende narrative Zeit lediglich eine Zeitform unter anderen ist. Gerade im Erzählsystem des Romans steht die diegetische Zeit in einem produktiven Spannungsverhältnis zu einer zweiten Zeitform, deren Funktion vor allem von der Erzählforschung untersucht wurde. Im semiotischen System der Erzählung tritt neben die diegetische Zeit eine zweite Zeitform, die gleichfalls als Ergebnis eines Übertragungsprozesses aufgefasst werden kann. In diesem Fall wird das Wandlungskontinuum, das bloße Werden und Vergehen ‚reiner‘ Zeitlichkeit, durch die Form des narrativen Diskurses geprägt, so wie er etwa in der linearen Abfolge der Worte, Sätze und Seiten vorliegt. Es ist die von Bergson (1982: 72ff) immer als bête noire betrachtete, verräumlichte, homogene Zeit, welche die Grundlage für diese „diskursive“ Zeitform bildet (Genette 1972: 123). Im Unterschied zur diegetischen ist die diskursive Zeit nicht teleologisch bestimmt, sie ist zwar aufgrund der linearen Abfolge sprachlicher Äußerungen und - materiell und medientechnisch betrachtet - aufgrund der Abfolge der Seiten gerichtet, doch verfügt sie nicht notwendigerweise über einen Abschluss oder über ein Ende. Mit den beiden Zeitformen von diegetischer und dis-kursiver Zeit verfügt das narrative Darstellungssystem über zwei Wandlungskontinua mit deren Hilfe der Roman eigene Zeitformen entwerfen und gestalten kann. Halten wir die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen fest: Aufgrund der ontologischen Anomalie der Zeit, kann Zeit nur dank eines metaphorischen Prozesses dargestellt werden, in dessen Verlauf Merkmale eines Wandlungskontinuums auf ein anderes übertragen werden, wobei die so entstandene Zeitform dessen Merkmale und Strukturen übernimmt. Aus der Übertragung der Strukturen und Kategorien des menschlichen Handelns auf das Wandlungskontinuum entsteht die Zeit der Geschichte oder die diegetische Zeit, während die diskursive Zeit aus der Gestaltung der Zeit durch den narrativen Diskurs resultiert. Gerade diese Differenz zwischen zwei Zeitformen, deren erste vom menschlichen Handeln und deren zweite eher vom linearen Verlauf des narrativen Diskurses bestimmt wird, eröffnet dem Roman die Möglichkeit, sich <?page no="22"?> Jochen Mecke 22 von der Zeit der Geschichte - und damit auch von der von Ricœur so bezeichneten „menschlichen“ Zeit - zu lösen und neue Zeitformen zu modellieren. Während sich die Geschichte narrativer Zeitgestaltung lange in den von Paul Ricœur aufgezeigten Grenzen einer Mimesis der von der menschlichen Handlung geformten Zeit bewegte, beginnt sich der Roman bekanntlich etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, also mit dem Beginn der literarischen Moderne, von den Prämissen menschlichen Handelns zu trennen, die diskursive Zeit löst sich wie eine Folie von der Zeit der Geschichte ab und rückt mehr und mehr in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Dass die diskursive Zeit zunächst in den Romanen des Realismus in den Vordergrund der Aufmerksamkeit tritt, ist kein Zufall, geht es doch hier nicht um die bloße Erfassung menschlicher Handlungen, sondern um die Beschreibung derjenigen - zum Teil durchaus ‚unmenschlichen‘ - im Naturalismus dann später mit Taine als milieu, race und moment bezeichneten Rahmenbedingungen, welche diese überhaupt erst hervorbringen beziehungsweise verhindern. In den Beschreibungen Stendhals, Balzacs und Flauberts löst sich die Zeit wie eine bis dato transparente Folie von den Formen menschlichen Handelns ab. In Madame Bovary etwa rückt die abstrakte, diskursive Zeit, in der nichts geschieht, selbst in den Vordergrund: die quälend langsam verstreichende, von Emma als Qual empfundene Zeit der Provinz, die sich so stark unterscheidet von der erfüllten, intensiv gelebten Zeitform der Abenteuer- und Liebesromane, die Emma in ihrer Jugend verschlungen hat. So wird die den Roman durchziehende Auseinandersetzung zwischen ‚romantisch‘ erfüllter Zeit und realistischem ennui auch auf der Ebene der Zeitformen ausgefochten als ein Kampf zwischen Singulativ und Iterativ, zwischen diegetischer und diskursiver, zwischen erfüllter und leerer Zeit, ja Zeit selbst wird zum Agens und wichtigsten Aktanten des Romans, wenn Emmas vornehmlicher Antrieb, sich in die Abenteuer mit Rodolphe und Léon zu stürzen, darin besteht, die ereignislose, leere und quälend langsam verstreichende Zeit der Provinz zu füllen. 3 Kulturgeschichtliche Perspektiven Dass dies um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschieht, ist nun allerdings deshalb kein Zufall, weil sich in dieser Epoche ein entscheidender Wandel im Verhältnis zwischen Mensch und Zeitlichkeit vollzieht, der eine historische Einordnung und Relativierung des von Ricœur veranschlagten hermeneutischen Zirkels der menschlichen Zeit in Wahrnehmung, Erzählung und Gestaltung ermöglicht. Wie bereits gezeigt, wird Ricœurs Konzeption der Mimesis menschlicher Zeit von einer Prägung menschlicher Zeit durch die Strukturen und Kategorien der Handlung bestimmt. Dieser Zeitkonzeption liegt eine Auffassung zugrunde, die von einem bestimmten, klar definierten Verhältnis zwischen Mensch und Zeit ausgeht: Der Mensch gestaltet die Zeit durch sein Handeln, Zeit wird zu einem Epi- <?page no="23"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 23 phänomen, das nicht mehr Kants Apriori der Wahrnehmung entspricht, sondern wohl treffender als Aposteriori des Handelns bezeichnet werden kann (vgl. Mecke 2000) . Die zweite implizite Prämisse der hermeneutischen Zeittheorie Ricœurs lautet, dass dieses Verhältnis zwischen menschlicher Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung eine conditio qua non menschlicher Zeiterfahrung sei und sich daher auch nicht ändern könne. Die von Ricœur näher betrachtete Problematik ist diejenige der Augustin’schen distentio animi, der Diskordanz heterogener Momente, etwa eines Tages, Jahres oder ganzen Lebens, die es gilt in eine zusammenhängende Form zu bringen, eine Aufgabe zu der sich die Erzählung natürlich bestens eignet. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive lässt sich allerdings gegen eine solche Festlegung einwenden, dass sie selbst nur für eine gewisse Epoche Geltung beanspruchen kann, eine Epoche nämlich, in welcher Zeit tatsächlich allein durch menschliches Handeln gestaltet wurde. Zwar konnte Zeit bereits sehr früh in der Kulturgeschichte relativ genau mit Hilfe von Sand-, Wasser- oder Räderuhren gemessen werden, doch hatte diese Zeitmessung kaum Einfluss auf die konkrete Zeiterfahrung. Zeit ergab sich tatsächlich als Folge menschlichen Handelns. Zur Verabredung genügten etwa solch vage Angaben wie „ante meridiem“ oder „post meridiem“ (Jünger 1954: 113). Diese Situation ändert sich erst Mitte des 14. Jahrhunderts, als es durch eine technische Vorrichtung möglich wurde, die Glockenspiele der Kirchturmuhren mit der neuen technischen Errungenschaft des Räderwerkes zu verbinden (Attali 1983: 95). Diese kleine technische Neuerung hatte große Auswirkungen, wusste doch nunmehr ab sofort jeder, welche Stunde ihm geschlagen hatte. Erstmals löst sich die Zeit in einer für alle Menschen - und nicht, wie bisher, nur für die Eliten in den Klostern - spürbaren Art und Weise von den Formen menschlichen Handelns und wird unter dem Einfluss der frühen Geldrenaissance und später des Handels zu einer unabhängigen Größe. Wenn Zeit - um die berühmte Kant’sche Formel noch einmal aufzugreifen - zu einem Apriori der Anschauung werden konnte, so kann dies durchaus auch als wörtliche Beschreibung einer neuen diskursiven Formation verstanden werden, die mit den Räderuhren und ihrer Koppelung mit dem Glockenspiel von Turmuhren entstand: Das Resultat ist eine abstrakte, vom menschlichen Handeln gelöste Zeit, die nicht mehr bloßes Aposteriori des Handelns bleibt, sondern zum Apriori und in zunehmenden Maße auch zum Objekt der Wahrnehmung wird. Menschen beginnen auch im Alltag, die Zeit zu beobachten und ihre Tätigkeiten nicht mehr nach dem Takt der Handlungen, sondern entsprechend den abstrakten Vorgaben der Zeit zu organisieren bis hin zu jener temporalen Revolution, bei der Zeit schließlich durch die Koppelung präziser Uhren mit dem Takt von Maschinen zum Apriori menschlichen Handelns und - in den extremsten Ausprägungen - menschliches Handeln zum Aposteriori der abstrakten Zeit wird. Was Madame Bovary mit großer Präzision untersucht, ist die Ermöglichungsbedingung einer Literatur, deren vornehmste Aufgabe fortan <?page no="24"?> Jochen Mecke 24 im für eine hurried leisure class geschaffenen ‚Zeitvertreib‘ durch Unterhaltung besteht - und keinesfalls bloß in der Synthese heterogener Momente der distentio animi. Literatur - und vor allem die romantische Abenteuer- und Liebesliteratur, die Emma im Klosterinternat verschlungen hat - soll die nunmehr wie ein Gefäß konzipierte, abstrakte, d.h. vom menschlichen Handeln gelöste Zeit erfüllen und damit gleichzeitig vertreiben. 4 Zeitkritik und ästhetische Zeitform Halten wir fest: Die Festlegung menschlicher Zeit auf die Zeit der Geschichte betrifft eine die abendländische Kulturgeschichte lange bestimmende, dominante Epoche, in der Zeit als Aposteriori menschlichen Handelns erscheinen konnte. Gerade das, was Ricœurs hermeneutischem Zirkel der Prä-, Kon- und Refiguration der Zeit als Grundlage dient, nämlich die durch das menschliche Handeln gestaltete Zeit, erweist sich aus technik- und kulturgeschichtlicher Perspektive keineswegs als universell gültige, sondern als besondere menschliche Zeitform, die von der gesellschaftlichen Entwicklung mehr und mehr aufgegeben wurde und die daher dem Roman im neukantianischen Sinne ‚aufgegeben‘ ist. Das heißt, dass Literatur etwas gestalten soll, was in der Alltagsrealität eben gerade nicht mehr als normale Erfahrung menschlicher Zeit gelten konnte, zu einem kulturgeschichtlichen Zeitpunkt mithin, als der hermeneutische Zirkel anthropomorpher Zeit längst durchbrochen war. Narrative Gattungen refigurieren hier nicht menschliche Zeit des Handelns, sondern erfüllen eine ‚unmenschliche‘, ‚leere‘ und abstrakte Zeit. Flauberts Roman zeigt gerade diese Ermöglichungsbedingung des traditionellen Romans auf, analysiert sie und verabschiedet sie gleichzeitig. Emma Bovary zerbricht an der leeren Zeit in der Provinz, die sie weder durch Lektüren noch durch Liebesabenteuer noch - in der Art des modernen Konsumenten - durch exzessiven Prestigekonsum zu füllen weiß. Und etwas Ähnliches gilt für den Leser: Wenn die Lektüre von Madame Bovary tatsächlich die Erfahrung erfüllter Zeit vermittelt, so geschieht dies sicherlich nicht mehr durch die Synthese heterogener Momente der Zeit des Handelns, sondern mittels eines intensiven ästhetischen Erlebnisses, das es erlaubt, die verschiedenen Augenblicke der Lektüre dank der Stimmigkeit der Flaubert’schen Romankomposition als Teil einer umfassenden Einheit zu empfinden. Die Synthese heterogener Zeitpunkte wird in diesem Fall mithin nicht mehr von der Geschichte selbst - auch wenn Flaubert seinem Leser eine solche natürlich trotz aller Träume vom „livre sur rien“ noch bietet - sondern von der Stimmigkeit der einzelnen Momente ästhetischer Lektüreerfahrung geleistet. Flauberts Verlagerung der Zeitkonstruktion von der Geschichte auf deren Rezeption hat durchaus System und Nachfolger gefunden: Bereits die spanische Generación del 98 wird nicht müde, die klassische Form der <?page no="25"?> Die Mimesis der Zeit im Prozess 25 Geschichte zu kritisieren, zu destruieren und diese Kritik in die konkrete Romanpraxis umzumünzen (Mecke 1996): Barojas Kritik am Geschichtsbegriff, Azoríns Idiosynkrasien gegen die Handlung, Unamunos Ablehnung der novela de argumento, des auf einer Geschichte beruhenden Romans, all dies mündet bereits um 1900 in Spanien in eine Romanpraxis, die den hermeneutischen Zirkel der Prä-, Kon- und Refiguration von Zeit durchbricht, um dann in den zwanziger Jahren in einer Erfahrung ästhetischer Zeit und gleichzeitig in einer ästhetischen Zeiterfahrung zu kulminieren, für welche die Autoren der Moderne, die von ihrem Gegner Wyndham Lewis so bezeichnete Time-school of modern literature (Lewis 1927: 102), Termini wie nunc stans (Thomas Mann), epiphany (James Joyce), moments of vision (Virginia Woolf) und moments du temps pur (Marcel Proust) gefunden haben (Mecke 1990b: 28). Die Modellierung ästhetischer Zeit eröffnet mithin eine Perspektive, die es dem Roman erlaubt, sich von bestimmten Festlegungen geschichtlicher Zeit zu befreien, deren Durchbrechung bei Ricœur zum Ausschluss aus dem Parnass der Künste führt. An dieser Stelle mag ein kurzer Hinweis genügen, welche Texte von diesem Kriterium betroffen wären: Butors Roman L’Emploi du temps (1956) endet mit einem willkürlich durch die Zeit der Uhren bestimmten Abbruch, Robbe-Grillets La Jalousie (1957) verknüpft Segmente der Handlung in immer neuen Schleifen miteinander, ohne dass es ein richtiges Ende gäbe, das Gleiche gilt für Robbe-Grillets Roman Les Gommes (1954); Nathalie Sarrautes Romane, wie zum Beispiel Le Planétarium (1958), müssen nicht zu einem Abschluss im Sinne Ricœurs kommen, da es ihnen nicht um die Erforschung menschlicher Handlungen, sondern jener minimalen Bewegungen oder tropismes geht, welche im Alltag gerade durch Handlungen verdeckt werden. Claude Simon hebt in seinen Romanen, wie zum Beispiel La Route des Flandres (1960) den transzendentalen Standort des Erzählers aus den Angeln und entzieht damit der Teleologie des Abschlusses jegliche Grundlage. Insgesamt kommen die Versuche des Nouveau roman, die Zeit im Roman neu zu gestalten einer romaninternen Kritik narrativer Vernunft gleich (Mecke 1990a). Die genannten Autoren können dies, weil die Synthese der Momente nunmehr eine ästhetische ist, die auf den sense of ending völlig verzichten kann. Was für den Nouveau Roman gilt, findet im Roman Nouveau seine Fortsetzung: Jean Echenoz’ Romane präsentieren zwar ein Ende, setzen dieses jedoch in die Anführungszeichen gezielter Ungeschicklichkeiten oder des „second degré“ wie dies zum Beispiel im willkürlichen Showdown am Schluss von Cherokee (1983) geschieht. Was bedeutet dies aber für den Ansatz von Paul Ricœur? Ist dieser damit völlig obsolet geworden? Dies wäre ein völliges Missverständnis der oben entwickelten Argumentation. Diese läuft vielmehr darauf hinaus, die Tragweite der hermeneutischen Theorie der Zeit zwar einerseits zu relativieren, doch auf der anderen Seite deren Tragfähigkeit für eine der Dimensionen des Romans nachdrücklich zu bestätigen: Für die Dimension der erzählten Geschichte oder der Makrostruktur gilt Ricœurs hermeneutischer Zirkel <?page no="26"?> Jochen Mecke 26 narrativer Zeitgestaltung unbestritten. Seine poetologische Fruchtbarkeit erweist dieser Zeitbegriff allerdings erst dann, wenn er in das für den Roman konstitutive und produktive Spannungsverhältnis zur diskursiven Zeit tritt, ein Spannungsverhältnis, welches der Roman konsequent zur Schaffung neuer Zeitformen nutzt, auch jener, die den hermeneutischen Zirkel menschlicher Zeit der Handlung durchbrechen. Literaturverzeichnis Aristoteles, Physikvorlesung, Darmstadt 1983. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1961. Jacques Attali, Histoires du temps, Paris 1983. 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Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Paul Ricœur und Gilles Deleuze Im Kielwasser von Heidegger und einer schon zur Entstehungszeit nostalgisch anmutenden existentialistischen Denk-Tradition situiert sich Ricœurs Studie Temps et récit, die Überlegungen philosophischer Natur mit den Konstruktionsprinzipien von Erzählprosa und Historiographie zu verbinden sucht. Hält man das Gelungene gegen weniger Vollkommenes, so fällt die Bilanz insgesamt doch klar positiv aus. Kritisch einwenden ließe sich gegen das Gesamtkonzept, dass es zu Langatmigkeit tendiert und dass der Autor in seinen Thesen (ausgehend von traditionellen, grosso modo linearen Modellen) zu wenig radikal verfuhr, um Schule machenden ästhetischen Innovationen seines Jahrhunderts 1 Während Ricœur in den 1980 ern seine Thesen um die Recherche gruppiert, nutzt Deleuze schon 1964 in Proust et les signes dasselbe Werk zur Beschreibung zentraler Aspekte im Zeichencharakter von Literatur, immer gerecht zu werden. Ein weiterer Einwand trifft ein jenseits der quantitativen Ökonomie agierendes, zitatenschwere Paraphrasen produzierendes Verständnis von Quelltext-Treue. Geboten werden ansonsten gründliche, das Thema durchquerende und rhizomatisch ausgreifende Analysen mit knappen abschließenden Wertungen, die nicht nach Originalität heischen. Für Erkenntniszuwächse im narratologisch-fiktionalen Bereich - vor allem durch exemplarische Interpretationen von Prousts Recherche, Woolfs Mrs. Dalloway und Manns Zauberberg - hätte es der umfänglichen Paraphernalia wohl ebenso wenig bedurft wie eines nicht schlüssig nachvollziehbaren Heidegger-Kults. 2 1 Neuere Beispiele wären, neben dem epochalen Finnegans Wake (1939) von Joyce, auch Julio Cortázars Rayuela (1963), José Camilo Celas Oficio de tinieblas 5, Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (beide 1973) oder Paulo Leminskis Catatau (1976). 2 Am Beginn jedes Denkaktes stehen ihm zufolge Zeichen, welche eine dreigliedrige Fähigkeit in Gang setzen: Intelligenz (wohl etymologisch als „Einsicht“ zu fassen), Erinnerung und Imagination. „Cette faculté, à son tour, met elle-même en mouvement la pensée, la force à penser l’essence“ - wobei dieser Akt unwillkürlich, oftmals gar gewalttätig ist (Deleuze 1964: 120, 122). um sich dann etwa zeitgleich mit Ricœur, der temporale Strukturen der Narration untersucht, den Funktionen von Bewegung, Stillstand und Außer-Zeitlichkeit in der Kinematographie zu widmen. Insbesondere die im Druck drei (der Binnengliederung nach vier) Bände von Temps et récit - vor allem der <?page no="30"?> Friedrich Frosch 30 Abschnitt zur Architektonik fiktionaler Erzähltexte („La configuration dans le récit de fiction“) - und Deleuzes medientheoretisches Diptychon L’Imagemouvement - L’Image-temps weisen thematische Kontaktzonen auf. Beiden Autoren geht es um Erfahrungen der Vergänglichkeit und ihrer (vermeintlichen) Stillstellung in Schrift und Bild (bzw. Ton). Dabei fingieren sie, trotz verschwisterter Anliegen, auf insgesamt zweitausend Seiten Text weitgehende Eigenständigkeit und Nicht-Kenntnis der Publikationen des jeweils anderen. Nur einmal streift Ricœur die ‚semiotische‘ Proust-Lektüre seines Kollegen (Ricœur 1984: 247f) und tut sie als unzulänglich ab. Er selbst hingegen baut auf drei Hauptkriterien: die Metapher - „[elle] enferme les différences dans des anneaux nécessaires d’un beau style“ (Hervorhebung F.F.), die reconnaissance - das Wiedererkennen als stereoskopische Sicht - und zuletzt den wieder gefundenen Eindruck, die impression retrouvée, als Versöhnung von Leben und Literatur (Ricœur 1984: 283). Wiederholt regt die der Malerei und Baukunst zugewandte Recherche (der Kathedralen-Topos ist Teil des gängigen Beschreibungs-Inventars) zum Brückenschlag zu Lessings wohl berühmtestem Aufsatz an, besonders dort, wo beim deutschen Aufklärer Poesie, und dabei denkt er zunächst an Homers Epos, als lineare Zeit-Kunst von der dreidimensionalen plastischen Raum-Kunst, der wir die Laokoon-Gruppe verdanken, geschieden wird. Von Belang ist vor allem die Idee, Ereignisabläufe seien in der Skulptur und der (damals denkbaren) bildenden Kunst nicht adäquat darstellbar, 3 vielmehr müsse es darum gehen, den prägnanten Moment (vgl. ebd.: 621) zu treffen. Dieser dürfe aber nicht im Extrem bestehen, da der Phantasie sonst nichts mehr auszumalen bleibe. 4 3 Lessing spricht von einer „sichtbare[n] stehende[n] Handlung, deren verschiedene Teile sich nebeneinander im Raume entwickeln“; Lessing 1953: 620. (Eine Online-Version des Textes findet sich im Projekt Gutenberg unter Gotthold Ephraim Lessing Laokoon: http: / / gutenberg.spiegel.de/ ? id=5&xid=1617&kapitel=1#gb_found; 27.3.08). 4 Hier deutet sich eine offen zukunftsgerichtete Zeitlichkeit an, der jeder neuerliche Rezeptionsakt ein Nullpunkt ist. Lessing konstatiert und fordert gleichzeitig, dass „der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt als hinzudenkt“ (591). Aus diesem besonderen Moment werde „das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten“ (621). Somit sei Visualisierung in der Kunst wesentlich punktuell (wenn auch über sich hinausweisend und eine Vor- und Nach-Geschichte insinuierend) und im Grunde Verdichtung eines repräsentativen Augenblicks. Aus der Perspektive der Nachgeborenen postauratischer Epochen wandelt diese Erkenntnis sich zur polarisierenden Antithese von „stehendem Kader“ (angehaltenem, mechanisch ident wiederholtem Zeit-Bild) und einer „flüchtigen“ Verwendung in einer Filmrolle, deren mechanische Wiedergabe die Illusion dreidimensional lebensechter Bewegung, ein image-mouvement, erzeugt. Und sie antizipiert auf verblüffende Weise die Vorstellung eines aktionsgesättigten, vertikalen Zeit-Bildes bei Deleuze. <?page no="31"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 31 Behaupten wir hier tentativ die letztendliche Sinnlosigkeit allen Bemühens, Essenz, Natur und Beschaffenheit von Zeit ergründen zu wollen. Der Tod ist groß, ausnahmslos ereilt er uns, und mit ihm endet unsere subjektive Zeit, die uns persönlich als existenzieller Erfahrungs- und Entfaltungskorridor als einzige interessieren kann (an die Nachwelt zu denken mag eitel sein, im Sinn des exegi monumentum, oder auch altruistisch: Selbstbeschränkung beim Hinterlassen ,ökologischer Fußabdrücke‘ zum Besten der noch Kommenden), „la temporalité la plus radicale porte l’empreinte de la mort“ 5 (Ricœur 1983: 160). Doch aller vanitas zum Trotz fasziniert uns Menschen seit jeher das Wissen um die unentrinnbare Allgegenwart der Zeit, sei es in der Gerichtetheit narrativer Abläufe, sei es auch noch in den Konventionen sprengenden Erzählweisen des 20. Jahrhunderts als dynamische Synthese des Heterogenen (vgl. Ricœur 1984: 75). Diese verlangen ebenso wie das Kino eines J.-L. Godard, mit seiner Entkopplung von visueller (Bild und Schrift/ Zwischentitel) und sonorer Sphäre (Musik, Sprache, Geräusch) nach neuartigen Dechiffrierungsstrategien. Gerade das Filmische verbindet, was Lessing unauflösbar getrennt scheinen musste: Es schafft die Synthese von Bild-Raum, Klang-Realisation, Handlung und den auf den Punkt gebrachten Mitvollzug oftmals komplexer Zeitlichkeit. 6 Um das in letzter Konsequenz a-chronische, zu zyklischen Konstellationen tendierende strukturalistische Modell zu demontieren, 7 geht Ricœur, gestützt auf Augustinus’ Zeit-Konzeption und Northrop Fryes Anatomy of Criticism (1957), der Tektonik des Erzählens nach. Er weist das angebliche „ensemble clos de relations internes entre un nombre fini d’unités“ und die „indifférence du système à la réalité extra-linguistique“ (Ricœur 1984: 61) zurück, kapriziert sich aber - aufgrund seiner Reibebäume, der Aktanten- Modelle à la Propp oder Greimas - auf den Faktor Ereignishaftigkeit. 8 5 Auf dem Wissen um die eigene Sterblichkeit, verhaftet dem temps mortel (Ricœur 1983: 161), beruht auch Ricœurs Heidegger-Lektüre, die hier aber nicht Thema ist. 6 In seiner durchdachten Unauflösbarkeit trägt es wesentlich zur „complexification (de nég-entropie)“ bei, von der Lyotard (1988: 75) spricht. 7 Dieses gründet wohl auf der Trans-Kulturalität des Mythos: „Depuis ses origines, l’humanité a mis en place un moyen spécifique propre à contrôler le temps, le récit mythique. Le mythe permet en effet de placer une séquence d’événements dans un cadre constant où le commencement et la fin d’une histoire forment une sorte de rythme ou de rime […] “ (Lyotard 1988: 79). 8 Vgl. das Kapitel „Les Contraintes sémiotiques de la narrativité“ (Ricœur 1984: 78-114). Die Bücher X und XI der Confessiones dienen als Werkzeuge zur Prüfung der Hypothese, Zeit sei per se inexistent, denn „le futur n’est pas encore, […] le passé n’est plus et […] le présent ne demeure pas“ (Ricœur 1983: 25, vgl. 31). Solches scheint diametral Erfahrungen zu widersprechen, wie Fiktion, Geschichtsschreibung und auch Kinematographie sie entwickeln, wird doch in diesen vielfach Zeit wenn nicht zur eigentlichen Substanz, so doch zumindest zum notwendigen ‚Medium‘, in dem Geschehen sich materialisiert, <?page no="32"?> Friedrich Frosch 32 um transportier- und kommunizierbar zu werden. 9 Naiv bis tendenziös erscheint, angesichts Deleuzes subtiler Ausführungen, Ricœurs verengendes Verdikt in eigener Sache, die Metapher erfülle ihre Funktion gerade da, wo eine zeitlich bestimmte filmische Sukzession scheitern müsse: Nur die aristotelische Trope par excellence akkordiere subjektive Gestimmtheit und Speicher, Empfinden und Erinnerung. 10 Die Genera der Fiktion - vor allem Roman und Historiographie - nutzen als Erkundungen der Natur von Zeit(lichkeit) anthropologische Grundkonstanten und eine beschränkte Palette kulturabhängiger Strategien zu sinnerfüllter, chronologischer Anordnung von Handlungsabläufen. 11 Legitim ist dabei der Rekurs auf Parallelen zwischen Fiktion und pseudo-faktischen Geschichts-Konstrukten, im konkreten Fall unter Patronanz des Annales-Historikers Braudel, wenn Ricœur der Zeit des Erzählens variable Anteile am temporal bestimmten Element der Episode und dem a-chronischen Element der Konfiguration zumisst (vgl. Ricœur 1983: 396). Andernorts setzt er die Zeit-Achse gleich mit der teleologisch-syntagmatischen - jener der „réseaux d’une configuration symbolisante“- und die zeitenthobene strukturalistische Erzähl‚grammatik‘ mit einer mechanistisch-logisch-paradigmatischen (Ricœur 1984: 63f, 71). 12 Der innovative Beitrag des Autors zu Temps et récit ist sein zentrales Konzept einer dreigestaltigen Mimesis, welche eine jeweils eigene Form von Zeitverständnis voraussetzt. Zeit in Mimesis I (genannt „Stromauf“, 13 „l’amont“) erscheint stets als ein temps préfiguré (Ricœur 1983: 108): durch eigene Erfahrungen und ein daraus abgeleitetes intuitives Vorverständnis auf der empirisch-praktischen Ebene strukturiert und geformt (Ricœur 1984: 119, 125); sie beruht auf anthropologisch-konzeptuellen Grundkonstanten der Welt-Wahrnehmung und -erschließung. 14 9 Auflösbar scheinen diese Widersprüche durch Alfred Gells Doppel-Modell der Zeit: Die A-Serie der vektoriellen physikalischen Zeitlichkeit entspricht der linearen Lektüre (jener des Buches als auch der des Films. Beide sind visuell und auf der Zeitachse fixierbar: Zeit der Lektüre und Dauer der Vorführung). Die B-Serie, jene der Bergson’schen durée oder Woolfs time in mind, ist imstande, Vergangenheit und bis zu einem gewissen Maß auch Zukunft in der Gegenwart zu sammeln und zu konzentrieren. Es ließe sich diesbezüglich auch vom momentanen Erfahrungs- und Wissenshorizont des Rezipienten sprechen (vgl. Gell 1996, bes. Kap. 16-18, 149-174). 10 „[La] vision cinématographique, purement successive, échoue, faute de mettre en rapport sensations et souvenirs“ (Ricœur 1984: 278). 11 Selbiges gilt auch für den Film, welchen Ricœur, angesichts der Breite seines Projekts verständlich, ausblendet. 12 Synchrone Konstellationen von Elementen, die im selben Kader unterschiedlichen Zeit- Ebenen zugeordnet sind, bewirken Deleuze zufolge (so der Tenor von L’Image-temps) eine Verdichtung der Zeit, während Ricœur diese Konstruktionsweise im Fall schriftlicher Narrativität tendenziell auszublenden sucht. 13 Übersetzungen, so nicht anders vermerkt, sind jene des Autors. 14 Isers Repertoire (vgl. Ricœur 1983: 125). Dieses Instrumentarium kann mit dem récit wahr- und aufgenommen und einer mit der Erfahrung <?page no="33"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 33 akkordierten Sinngebung zugeführt werden (vgl. Ricœur 1983: 107). Ricœur fasst Mimesis I als „capacité d’identifier l’action en général“ ebenso wie als „médiations symboliques de l’action“ allgemein identifizierbarer Zwecke, Motive und Ausführender (ebd.: 108f). 15 Den Angelpunkt der Studie Ricœurs bildet Mimesis II, „la médiation entre temps et récit“ (Ricœur 1983: 107), Basis der praktisch unübersetzbaren mise en intrigue (ebd.: 106). Sie ist die schöpferische mimésis-création, das „royaume du comme si“ (ebd.: 125; Hervorhebung wie im Original), eine dynamisch-symbolische composition (Ricœur 1983: 94 und 1984: 119). Diese wiederum gehorche den inneren Gesetzen des Kunstwerks (1983: 106), die ihrerseits kulturellen Zwängen von Akzeptabilität unterliegen, welche Ricœur, anders als Deleuze, als solche nicht prinzipiell in Frage stellt. Wenn Ricœur die „interaction“ den Formen „coopération“, „compétition“ und „lutte“ zuordnet (110), so entspricht dieses Konzept in etwa dem, was Deleuze im ersten Band seiner Studie unter die Kategorie von „action-réaction“ als Merkmal des handlungs- und inhaltsbetonten ‚klassischen‘ US-Kinos fasst. Vergleichbare Ansichten entwickeln beide Autoren auch zum angeblichen Widerstand des Kunstwerks gegen Normen und tradierte Überzeugungen und die Bedeutung von Ambiguität und Paradoxien (vgl. Ricœur 1983: 117) - doch handelt es sich hierbei kaum um mehr als um Binsenweisheiten der Narratologie. 16 Eine Relativierung von einsinniger Zeitlichkeit stellt auch das Konzept der als „Stromab“ („aval“) gedachten Mimesis III dar: die „refigurierte Zeit“ (temps refiguré, Ricœur 1983: 108). Zu verstehen ist darunter eine dem Werk nicht innewohnende Dimension, nämlich die fortgesetzte Wirkung des Artefakts über seine Grenzen hinaus, als „monde culturel [...] que le lecteur s’approprie“ (Ricœur 1983: 103). Lektüre ist dabei (notgedrungen mangelhafte) visuelle Vergegenwärtigung, Ersatz für rhapsodischen Vortrag und für das Schauspiel. Wenn der konventionelle Film gerade den szenischen Aspekt betont, so ist er doch an eine metaphorische Re-Lektüre gekoppelt, die Temps et récit in ausgedehnten Betrachtungen über Literatur und Ge- In diesem Bereich trennt sich den Wahrheitsansprüchen nach die Fiktion vom Dokumentarismus post festum, eine Forderung, die auch Deleuze thematisiert. Während Ricœur seinen Befund auf die Analogie der narrativen Verfahren bei Fiktion und Historie gründet, kehrt Deleuze seine Einschätzung gar um und behauptet über die angebliche Faktizität eines Pierre Perrault oder Jean Rouch (die er unter dem Signum des avantgardistischen L‘Imagetemps führt), dass diese Regisseure die ,wahren‘ Legendenbildner seien. 15 Action ist auf dieser Ebene ein Quasi-Text, insofern als die „symboles, compris comme des interprétants, fournissent les règles de signification en fonction desquelles telle conduite peut être interprétée“ (Ricœur 1983: 115). Gemeint ist, wenig präzise, auf dieser ersten Stufe ein Symbolisches, das sich von den Konzepten eines Leibniz oder Cassirer ebenso speist wie es von der kulturwissenschaftlichen Sicht eines Clifford Geertz zehrt. 16 Außer im Hinblick auf die ungebändigte menschliche Sprachgewalt, zu deren Huldigung er ein dionysisch-heidegger’sches „Comme si le langage n’était pas dès toujours jeté hors de lui-même par sa véhémence ontologique! “ (Ricœur 1983: 99) formuliert. <?page no="34"?> Friedrich Frosch 34 schichte als Schnittlinie zwischen der Figuren-Welt im Text und Lebens- Welt des Lesers fasst. 17 Sobald Ricœur, der hier wesentlich anders denkt als Deleuze, Fiktion beschreibt, setzt er Begriffe, die auch Guattaris Weggefährte verwenden könnte: „Wieder-Erinnerung“ („récollection“), „Ewigkeit in der Zeit“ („éternité dans le temps“) und das Außerzeitliche („hors du temps“; Ricœur 1984: 191). Im Fall von Mrs. Dalloway bestehe das Programm im Ausloten öffentlicher Zeit mit ihren untereinander nicht vereinbaren Aspekten 18 bzw. in der „mortelle discordance entre le temps intime et le temps monumental“ (Ricœur 1984: 204). So sieht Ricœur, im Unterschied zu Deleuze, die Zeit als „obstacle à la vision d’une unité cosmique“(ebd.: 207) und den „temps mortel de l’âme“ (210) als unausweichliche Schickung; ein „Rettungsanker“ sei lediglich das „Bedeuten“ (206). Die dem Zauberberg zugrunde liegende Zeit-Konzeption verlange hingegen eine kumulative Lektüre, welche die Gesamtheit des Werks in jeder Phase präsentisch hält (Ricœur 1984: 215) und damit Ähnliches wie es Deleuze vorschwebt. Während Ricœur aber in der ancienneté der légende um Hans Castorp eine Negation der Chronologie dahingehend sieht, dass sie zur zeitlosen Mär „sans âge“ wird (ebd.: 217), nennt Deleuze die inner-filmische Legendenbildung im Cinéma-vérité einen kreativ-produktiven, zukunftsgerichteten Selbstentwurf, eine Chance zur kulturellen Identität durch Schaffung des noch nicht Seienden. 19 Insgesamt strebt Ricœur nach abgerundeter Totalität von präzise eingerichteten und dabei gefühlshaft beseelten Organismen, der Eklektiker Deleuze hingegen fokussiert markante, neue Sphären erschließende Einzel- Phänomene. Gleichwohl gelangt auch er vom Detail zu durchgängigen Zügen und letztlich ebenso zum Ganzen, ohne es allerdings wie Ricœur in jeder Dimension durchmessen zu wollen. 20 Hinsichtlich der Rezeptionsakte sei auch an Derridas Differenz-Theorem 21 17 „[I]ntersection du monde du texte et du monde de l’auditeur ou du lecteur“ (Ricœur 1983: 136) bzw. die „transcendance immanente au texte“ (Ricœur 1984: 190). 18 „[E]xplorer et porter au langage ce divorce entre les visions du monde et leurs perspectives inconciliables sur le temps, que creuse le temps public“ (Ricœur 1984: 202; Hervorhebung wie im Original). 19 Vgl. Deleuze (1985: 197): Das Wahrheits-Kino als „Wahrheit des Kinos“ „détruit tout modèle du vrai pour devenir créateur, producteur de vérité“. Schon zuvor hatte Deleuze erklärt, es gebe keine andere Wahrheit als die „création du Nouveau: la créativité, l’émergence“ - Kunst könne sich nie auf bereits bestehende Wahrheit(en) berufen (Deleuze 1985: 191). 20 Wie er es etwa in Proust et les signes getan hatte. 21 Der Begriff différance wird eingeführt in Marges de la philosophie (1972), geht aber auf einen 1967 gehaltenen Vortrag zurück. erinnert: Es könne keine exakte Wiederholung geben, jede Re-‚Lektüre‘ (auch die desselben Werkes) erfolgt wie der hermeneutische Zirkel auf der Basis einer vorgängigen und erzeugt ein einmaliges ästhetisches Objekt, auch wenn das Artefakt unverändert scheint. Ricœur setzt sich das doppelte Ziel, sowohl der Zeitlichkeit ihren dimensionierten Raum zu geben, als auch, das Interpretationsbemühen in <?page no="35"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 35 die zirkuläre Abgeschlossenheit von Tiefenstrukturen des narrativen Feldes (champ narratif) überzuführen (Ricœur 1984: 292, 295): „En lisant la fin dans le commencement et le commencement dans la fin, nous apprenons aussi à lire le temps lui-même à rebours“ (Ricœur 1983: 131). Das dazwischen Liegende regeln nur singulär geltende „lois d’enchâssement“, die das Tempo der dargestellten Ereignisse rhythmisieren, indem sie Phasen von Dauer und Beschleunigung erzeugen (Ricœur 1984: 295). Deleuze versucht bei der Visualisierung auf der Leinwand ähnliche diachrone Narrations-Prinzipien im vordergründig synchron definierten Bereich gleichzeitig sichtbarer Elemente festzustellen. Die Eröffnungssequenz in L’Image-mouvement gilt der großen Tradition des erzählenden Films, doch sondiert der Band im Anschluss auch Terrains wie die russische Avantgarde (etwa Eisensteins Montage-Konzept), die Nouvelle Vague (vor allem Godard) oder den radikalen Dokumentarismus eines Jean Rouch. Der erste Band fokussiert, nach an Bergson inspirierten Vorüberlegungen, das ‚klassische‘ US-Kino. In diesem regieren, dem Autor zufolge, senso-motorische Abläufe und Reiz-Reaktions-Schemata, welche ihrerseits dem Kausalitätsprinzip und somit - trotz irrealisierender Kunstmittel wie Überblendung und flash back - der linearen Zeitlichkeit gehorchen, die auch Ricœurs schein-zirkuläres Modell regelt. Derartige Gedankengänge leuchten ein, beschwerlich wird die Sache erst im Folgeband (der ungleich mehr wohlwollenden Mitvollzug abverlangt). Darin soll gezeigt werden, worin seit Orson Welles das eigentlich Innovatorische des Genres liege: in der Emanzipation der Bewegungs-Repräsentation aus den Fesseln unerbittlich einsinniger Linearität (wie der Lauf der Kader sie vorzugeben scheint), um in transtemporalen Epiphanien reine Zeit zur Anschauung zu bringen. Vertikal diachrone Schnitte zwingen, so Deleuze, Disparates zur Koexistenz im Einzelkader, der wiederum bleibende Vergegenwärtigung schafft. 22 Ein Postulat, das den roten Faden von L‘Image-temps bildet, lautet: Leben die Zusehenden diese Empathie, dann ist ihnen über alle Zeit-Erfahrung hinaus mittels der ‚Lektüre‘ des filmischen Werks auch das Jenseits der Zeitlichkeit zuteil geworden. Wenig verwunderlich, rekurriert das Zeit-Bild hier auf Bergsons Darlegungen in Matière et mémoire, die Ricœur für sein Werk vor- Doch ob das Konstrukt tatsächlich - wie Deleuze das gerne hätte - dem Fluss der Zeit entzogen wird, scheint zweifelhaft. Eher stellt sich, so ein Welles-Biograph, distanziert-differenziertes „Bewusstsein für die eigene Zeitlichkeit“ ein - das Bild verliere seinen Determinismus und öffne einen „reflexiven Raum“ (Rebhandl 2005: 124). Der von Ricœur für das Schluss-Kapitel des Ulysses bildhaft postulierte „discours sans voix d’une pensée muette“ (Ricœur 1984: 291) sei schließlich - so Deleuze - immer schon das ganz reale Ziel des Kinos gewesen: in wortlosen Gesichtern auf der Leinwand Gedankenströme und Gefühle lesbar zu machen. 22 Dass es sich mit dem gesamten Werk ebenso verhalten könne, wagt der Autor wohlweislich nicht zu behaupten. <?page no="36"?> Friedrich Frosch 36 weg verwirft. 23 Nur einmal bezieht er sich auf Bergson (um ihn sogleich zu widerlegen), wobei er meint, Proust distanziere sich von der erstreckungslosen, stets präsentischen durée des Pariser Philosophen und entwerfe eine dimensionierte Zeit von massierter, „akkumulierter“ Dauer (vgl. Ricœur 1984: 284f). Dabei käme Bergsons Auffassung von der „Versinnlichung“ der Zeit an geänderten Objektkonstellationen und Ding-Beschaffenheiten im Raum Ricœur ja durchaus entgegen, doch stellt diesen die These nicht zufrieden, erlebte Zeit sei letztlich Produkt der Wahrnehmung von Bewegung, somit Bewusstheit der Abfolge räumlich-objektaler Neu- und Umordnungen. 24 Wenn Ricœur auch Bergsons Vitalismus als irrational zurückweist, Während diese Raum-Perzeption vorrangig punktuell-lineare Verstandessache ist, werde Zeit durch intuitive Unmittelbarkeit und die Grenzen des hic et nunc überschreitend erlebbar. Deleuze macht sich diese Ansicht Bergsons zueigen und leitet daraus zwei Prinzipien des Kinos ab: offene Totalität und das im Entstehen begriffene Ereignis als letztlich omni-präsentisches Geschehen (Deleuze 1983: 278). 25 so hält er doch an der Bipolarität von phänomenologischer vs. kosmischer Zeit fest (vgl. Ricœur 1985: 15). Letztere Erkenntnis findet ihren Niederschlag im Satz: „[L]e temps nous circonscrit, nous enveloppe et nous domine“(ebd.: 21). Doch hiermit endet die Akzeptanz bereits, und am Essai sur les données immédiates de la conscience 26 kritisiert Ricœur die angebliche „[é]trange et incompréhensible contamination du temps par l’espace“ (Ricœur 1985: 22), wodurch Bergson zufolge Zeit erst messbar werde. Ricœur selbst erweitert Augustinus’ Distentions-Theorem zur These, Zeit-Erfahrungen hätten sowohl psychologische („âme“, „esprit“, „conscience“) als auch kosmologische („nature“, „univers“, „monde“) Anteile (Ricœur 1985: 23). 27 Diese Sicht komplettiert er hinsichtlich der Erzähl-Genera durch den point de vue und eine ‚stumme‘, doch schon aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit unweigerlich wertende Erzählerstimme, voix narrative („Qui parle ici? “), vergleichbar der subjektiven Kamera (Ricœur 1984: 187f). Durch sie verwandle sich das epische Präteritum in die Konvention fiktiver Gegenwart. 28 23 Wenn er die durée erwähnt, so nennt er als Referenz-Autor lediglich Günther Müller und dessen Konzept von an-isochroner Raffung (vgl. Ricœur 1984: 158). 24 Bergson „vermenschlicht“ die Zeit zum subjektiven, von Beschleunigung oder Dehnung geprägten und letztlich linear-vektoriellen Werden und Vergehen: unumkehrbar, unwiederholbar, unteilbar. 25 Dies tut auch Gell in seiner klarsichtigen Untersuchung zur Anthropologie der Zeit, wobei er Bergson der so genannten B-Serie zuordnet, ihm unwissenschaftlichen Subjektivismus (die Betonung des „dynamic, subjective, stream-of-experience aspect of time“), verschwommene Konzepte, gleichzeitig aber auch beeindruckende Literarizität attestiert (vgl. Gell 1996: 151, 317-319). 26 Auf Deutsch erschienen unter dem Titel Zeit und Freiheit (Frankfurt/ Main 1989). 27 Letzterer inkludiere auch die Bewegung (vgl. Ricœur 1985: 42). 28 Das „passé fictif de la voix narrative“ (Ricœur 1984: 125, FN 1). Letztere ist Stimme einer communication externe, die den LeserInnen die erzählte Welt präsentiert, ersterer ist der Blickwinkel der composition <?page no="37"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 37 interne, unter dem die „sphère d’expérience à laquelle appartient le personnage“ erscheint (ebd.: 165). Doch in der Praxis würden, so der Autor, beide Phänomene bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren (187). Neben der Orientierung des Erzähler-Blicks (in der ersten oder dritten Person) präsentiert Fiktion auf der Handlungsebene Sichtweisen, wie sie die Gestalten von- und untereinander entwickeln (176) - Sichtweisen, für deren Beschreibung sich eine filmische Terminologie anbietet. 29 Punktuell trifft Ricœur hier Deleuze im virtuellen Raum, wenn er von der interconnexion der Perspektiven spricht, die, auch ohne völlige Kongruenz, die charakteristische Kompositionsweise (style de composition) eines Werks ergeben (Ricœur 1984: 181). Distanz schafft aber Ricœurs Umdeutung von Bachtins Polyphonie zu einer „pyramide des voix“(ebd.: 182), während Deleuze für die vielschichtigen Zeit-Bilder keine hierarchische Unter- und Zuordnung zu klar umrissenen Bewusstseinsinstanzen gelten lässt. 30 Ricœur entwickelt über den Erzählerfokus die Dyade fable du temps/ fable sur le temps (1984: 185), die mittels einer Stimme externe/ interne Fokalisierung erzeuge, andererseits aber auch durchaus Züge einer keineswegs notwendigerweise an die Stimme gebundenen Spaltung in image-temps und image-mouvement trage. Wo letztere Polarität die konnotative Instrumentierung von Zeitlichkeit in der Darstellung dominiere, werde eine den Erzählvorgang begleitende fortwährende Präsenz suggeriert. 31 Deleuze folgt Bergsons Auffassung, der Film wäre seit jeher angelegt auf die Imitation ‚natürlicher‘ Wahrnehmung im Dienst der Verräumlichung von Zeit. 32 29 Die räumliche „profondeur de champ“ erschließt sich dem „angle d’ouverture“, im Raum organisieren sich Bezüge der Handlungsträger in ihren „perspectives temporelles multiples“ und den jeweiligen Beschränkungen (Ricœur 1984: 179). Der Blickwinkel ist „lieu d’origine, orientation, angle d’ouverture d’une source de lumière“ (ebd.: 181). 30 Ihnen scheinen Ricœurs Dikta vom „narrateur qui converse avec ses personnages et devient lui-même une pluralité de centres de conscience irréductibles à un commun dénominateur“ und vom „contrepoint, qui rend simultanées toutes les voix“ (Ricœur 1984: 183f) zu entsprechen. Das kinematographisch-metonymische „Bewusstsein“ als solches, das diesen Aspekt entspricht, situiert Deleuze in der Kamera, die den plan erzeuge (vgl. Deleuze 1983: 34). 31 Dabei gilt eine evidente Einschränkung: „[L]e présent de la narration est compris par le lecteur comme postérieur à l’histoire racontée“ (Ricœur 1984: 186). 32 „[L]e plan cessera d’être une catégorie spatiale pour devenir temporel“ und orientiere sich hin auf den „point culminant (télos, acmè)“, den „moment essentiel“ (Deleuze 1983: 12f). Das Besondere entstehe aus dem Beliebigen, dem moment quelconque, und darin liege letztlich die Kunst des Kinos: Der Augenblick sei „offen“, ein „coupe immobile du mouvement“ und diese ihrerseits ein „coupe mobile de la durée“ (Deleuze 1983: 17f). Jedes abgeschlossene Ensemble bilde ein durch und durch künstliches Arrangement, mit der ambivalenten Bewegung des Zeitlichen als Trägermedium. Wesentlich daran sei nun gerade das, was zwischen den Gegenständen oder Teilen liege und sich im Intervall entwickle (vgl. Deleuze 1983: 22). Vom Aufbrechen einer trüge- <?page no="38"?> Friedrich Frosch 38 rischen Geschlossenheit kündet der Satz: Das Bild des Kaders habe eine „fonction lisible au-delà de sa fonction visible“ (Deleuze 1983: 28; Hervorhebung F.F.), es transzendiere das Sichtbare hin zum jenseits Liegenden („hors-champ“) - das Universum erscheint Deleuze somit als „plan de matière proprement illimité“ (ebd.: 29). Er sieht hier ein absolut Offenes, das viel stärker auf die Zeit und den sie wahrnehmenden Geist verweise als auf die Materie und den Raum. 33 Dieser situiere sich fast zur Gänze außerhalb der Leinwand und sei unbewältigbar heterogen (ebd.: 29, FN 10), ein „transspatial“- „spirituelles“ Unendliches (30), das die vierte Dimension, jene der Zeit, in mentale Bilder fasse (31). Während die natürliche Wahrnehmung diskontinuierlich verlaufe und das Unvorhersehbare, Unkontrollierbare zum angstbesetzten Unheimlichen ausgestalten könne, operiere die kinematographische - das Traveling - scheinbar gleichförmig oszillierend (37) - und sei imstande, das Gefühl von Sicherheit zu befördern. Nichtsdestoweniger falle der Gesamt-Effekt, kubistischer Ästhetik und dem Simultaneismus vergleichbar, doch völlig anders aus: Der „coupe mobile des mouvements“ lasse „les corps, les parties, les aspects, les dimensions, les distances, les positions respectives des corps qui composent un ensemble dans l’image“ (Deleuze 1983: 38) variieren. Die Kodifizierung des Bewegungs-Bildes durch optische Trompe-l’œils erweise sich demnach als wesentlich verschieden von der literarischer Handlungen. Am ehesten noch vergleichbar sei der Schnitt, bei dem Deleuze vier Tendenzen unterscheidet: die organisch aktionsbetonte (des amerikanischen Mainstreams - sie entspricht in etwa Ricœurs Narrativitäts-Konzeption), die dialektische (sowjetische), die quantitativ-metrisch-psychologische (das französische Pionierkino eines Abel Gance) und die intensiv-spirituelle - mit ihrer Symbolik von Licht und Dunkel - des deutschen Expressionismus. Eisensteins auf Antithese und Parallelismus gründende Montagetechnik zeige, wie Arrangements, etwa der jump cut („montage bondissant“; Deleuze 1983: 56), Bedeutung narrativisieren und dialektische Sprünge erzeugen können. Ähnlich argumentierend wie Roman Ingarden, 34 adaptiert Deleuze dessen Unbestimmtheitsstellen für die „lebenden Bilder ohne Zentrum oder Kadrage“ („images vivantes“, „acentrées et décadrées“). 35 33 Dieses substantivierte Ouvert „renvoie au temps ou même à l’esprit plutôt qu’à la matière et à l’espace“ (Deleuze 1983: 29). 34 In seinem Klassiker Das literarische Kunstwerk (1931), vgl. auch den weiterführenden späteren Aufsatz „Konkretisation und Rekonstruktion“ (in Warning 1975: bes. 44-46). 35 Auch er spricht von „centres d’indétermination, qui se forment dans l’univers acentré des images-mouvement“ (Deleuze 1983: 92, 94). Sein Modell enthält drei Stufen: die Raum schaffende subjektive/ objektive perception der Totalen (plan d’ensemble), die potenziell der Zeit entzogene affection der Nahaufnahme (gros plan) und schließlich die dazwischen liegende zeitdominierte Halbtotale der action (Deleuze 1983: 103). Das im zweiten Band entwickelte Zeit-Bild als unmittelbare Erinnerung (image-souvenir) entstehe, wo Vergangenheits-Fragmente in kondensierte Gegenwart trans- <?page no="39"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 39 formiert werden (ebd.: 101) und auch da, wo die Nahaufnahme von den spatio-temporalen Koordinaten abstrahiert und den reinen, nur im Ausdruck bestehenden Affekt erzeugt (137). Das Oszillieren der Linse zwischen der einer Person zugeordneten Subjektivität und einer Art Objektivität ohne immanentes Bewusstseinszentrum, habe, so Deleuze, Pier Paolo Pasolini richtig als erlebte Rede der filmischen Mimesis erkannt: 36 Im Kamera-Bewusstsein (conscience-caméra) verschmelzen zwei sujets d’énonciation (Deleuze 1983: 106, 108). Diese bei aller emotional empfundenen Intensität dennoch anti-subjektivistische Wahrnehmung treibe Vertov auf die Spitze 37 und erfülle ein durchaus Bergson’sches Programm (ebd.: 118). Der Platz des Menschen sei im Intervall: 38 „[E]ntre deux mouvements [se] dessine une place vide qui préfigure le sujet humain en tant qu’il s’approprie de la perception“ - und dies umso effizienter, je inkommensurabler die beiden durch ein Intervall getrennten Bilder sind (Deleuze 1983: 118). Einfacher und Ricœurs Auffassung von Narrativität näher stehend verfährt das den Kategorien des Realen und der Energetik (puissance) zugeordnete pseudo-dokumentarische Handlungs-Bild (image-action): Es enthält „espaces-temps déterminés, milieux géographiques et historiques, agents collectifs ou personnes individuelles“ (Deleuze 1983: 139). Der mittels Kamera definierte Bildausschnitt und die sinnunterlegende, Sequenzen schaffende Montage verklammern zwei Kompositionen: die interne (der zugleich sichtbaren Elemente) und die externe (der Aufeinanderfolge). Ein konzeptionell gefertigtes Bild ist also - und hier kehren wir zu Lessing zurück - seiner inneren Logik nach stärker mit Simultaneität verbunden als ein literarischer Text, der diese immer nur vom Leser als Zusatz-Leistung in der Re-Konstruktion einfordern kann. Deleuze entwickelt des Weiteren das Theorem des paradoxalen, beliebigeinzigartigen espace quelconque: eines singulären Raums, der seine Homogenität verloren habe und als virtuelles Konstrukt („conjonction virtuelle“) zum reinen Ort des Möglichen, zur energetisch aufgeladenen Ikone einer qualité-puissance mutiert sei (Deleuze 1983: 155). Als Beispiel nennt er die durch lyrische Abstraktion erzielte spatiale Konstruktion bei Theodor Dreyer, die dem Raum seine Bestimmtheit nehme, ihn zum „espace quelconque identique à la puissance de l’esprit“ (Deleuze 1983: 165) mache. In ihm entfalten sich sinntragende chromatische Veränderungen und Abläufe, und nur dem Kino sei als Ausdruck von Affekt die Bewegungs-Farbe (couleurmouvement) eigen (ebd.: 166). 39 36 Vgl. Empirismo eretico (Pasolini 1972). 37 Wenn die „pure vision d’un œil non-humain [...] qui serait dans les choses“, die „perception dans la matière“ eines „voir sans frontières ni distances“ (Deleuze 1983: 117) schaffe. 38 Deshalb wird in L‘Image-temps das Konzept der Brüche so bedeutsam. 39 Ricœurs Narrativitäts-Theorie räumt Farben und Farbwerten übrigens keine Bedeutung ein. Der espace quelconque ist, so der Autor, jedoch noch viel mehr - eine „collection de lieux ou de places qui coexistent <?page no="40"?> Friedrich Frosch 40 indépendamment de l’ordre temporel qui va d’une partie à l’autre“ (Deleuze 1983: 169). Während die für verbale Text-Fiktionen so bedeutsamen zeitlichen Manipulationen und Arrangements der fable zur intrigue im Film an sich einigermaßen unproblematisch erscheinen, versucht Ricœur die Anachronien in analoger Weise zu vereinfachen, indem er sie zwei Polen zuordnet: eine „pluridimensionelle“ und gebrochene Struktur entspreche dem „temps de dangers et d’aventures“, Linearität hingegen dem Entwicklungsroman mit seiner Betonung von Metamorphosen. 40 Zeitlich differenzierbare Prozessualität, gespannt zwischen zwei klar definierte Enden, erhält also den Vorzug gegenüber starren, weniger deutlich begrenzbaren Strukturen (vgl. Ricœur 1983: 69f), wobei die Vorstellung von der Zeit förmlich dazu zwingt, die Einheit aufzubrechen und gleichzeitig l’autre du temps - die Ewigkeit - mit zu denken (ebd.: 50). Als Näherungskonstruktion zur Erfassung dessen, was gleichzeitig ist und doch nicht ist, bietet Ricœur die Vorstellung von der Vergangenheit als einer sich verlängernden Erinnerung und der sich „verkürzenden“ Zukunft als einer näher rückenden Erwartung an (Ricœur 1983: 26). Das klingt eschatologisch und banal, denn jeder Roman in Buchform hat, sogleich identifizierbar, eine letzte Seite und jeder belichtete Zelluloidstreifen (auch found footage) eine gegebene Länge, einen Anfangs- und einen Schlusskader. 41 Dieses Andersartige, Unfassliche lässt sich durchaus humanisieren: Thomas Mann entwertet es, wie Ricœur vermerkt, im Zauberberg ironisch, wenn er ein Kapitel „Ewigkeitssuppe“ betitelt. Bei Deleuze verbindet sich der Begriff Ewigkeit mit einer destruktiven, naturalistischen, zu Entropie tendierenden imagepulsion und wird erläutert als sterile Reproduktion („reproduction d’un toujours déjà-fait“), doch sei die ewige Wiederkehr auch Chance eines Neubeginns. 42 Zum Teil noch statisch, öffnet sie sich bereits zur image-action, der binomischen, organisch-ereignishaften Sensomotorik des realistischen amerikanischen cinéma de comportement (vgl. Deleuze 1983: 191, 195, 214, 219) 43 40 „[R]oman d’apprentissage dominé par les thèmes du développement et de la métamorphose“ (Ricœur 1984: 150f). Erläuterungen zur Begrifflichkeit enthält die umfangreiche Fußnote auf ebd.: 153. 41 „ [L’]’éternité est aussi le négatif du temps, l’autre du temps“ (Ricœur 1983: 58, FN 2). Ein hybrides Konstrukt scheint hier Nietzsches éternel retour, der als „sempiternelle répétition du Même“ auftritt (Ricœur 1984: 236-237, 242, 245). 42 „[D]on du nouveau, du possible“: „répétition mauvaise“, „répétition qui sauve“ (Deleuze 1983: 185). 43 Die tatsächliche „große“ Form bringt Deleuze auf die Formel SAS (espace-ambiance, 1983: 254), die kleine, tendenziell der Komödie zuzuordnende, entspricht der Abfolge ASA (als lokal bezeichnet und mit dem „élément infinitésimal“ operierend; ebd.: 220 ff). kosmische Spirale und Kammerspiel in einem, ein Kino, das mit klischeehaften Manierismen in die Krise gerät, wenn etwa die Kamera unmotiviert innere Monologe eines beliebigen Dritten einfängt, die mit keiner dramatis persona identifizierbar sind (ebd.: 281). Revitalisierend wirken die <?page no="41"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 41 Ästhetik der Nouvelle Vague und von Hitchcock ins Kino eingeführte Gedankenfiguren der images mentales (289): ein Kino des Sehens und nicht mehr der Handlung (Deleuze 1985: 9) - somit das Gegenstück zu dem, was Ricœur vorschwebt. Der italienische Neo-Realismus der Nachkriegszeit ersetzt als erster senso-motorische Situationen durch optisch-sonore Bilder, in denen der personnage zum bloßen spectateur geworden ist (Deleuze 1985: 9) und das Bild, jenseits aller ,Handlungshaftigkeit‘, sich selbst trägt. Visconti verleiht dem Milieu eine autonome Materialität, welche es für sich und sonst nichts einstehen lässt (ebd.: 11): Der Rezipient bewegt sich im Universum der so bezeichneten opsignes und sonsignes, die auch andere Regisseure des Neo-realismo und seiner Erben einsetzen: objektiv konstatierend Antonioni, subjektiv-komplizenhaft Fellini (13). Grenzen und Unterscheidungskriterien lösen sich auf (Deleuze 1985: 14f), die Pole Imaginär, Subjektiv und Objektiv verfließen oder tauschen ihre Positionen. Das Zeit-Bild gibt dem Wechsel die „forme immuable dans laquelle se produit le changement“ (ebd.: 27), 44 die Zeit selbst verkörpert konstante, unveränderliche Fülle, „forme inaltérable“, in der Veränderung sich realisiert (28). Das Klischee-Bild wird in dieser Ästhetik von innen ausgehöhlt, gegen sich selbst gewendet. 45 Eine einzigartige originäre Qualität hat Deleuze zufolge das Laufbild: Bewegung werde als sinnliche Illusion, auf die verschriftete Fiktionen nicht rekurrieren können, zur „perspective du temps“; das image-temps mache sich die Zeit zu Diensten (Deleuze 1985: 34). Parallel dazu könne der Tonfilm „interactions visibles ou lisibles“ darstellen, die einer verbalen, stimmlichen „conversation sonore“ entsprechen (ebd.: 300). Der Aufeinanderbezug von Bild und Klang eröffne eine neue Dimension, die mit der Theatralik abgefilmter Dialoge nichts zu schaffen habe. Das sinnstiftende Zentrum tritt dabei aus dem Film heraus, es bildet rein mentale Relationen und nistet sich mittels der conscience-caméra als eigentlicher Brennpunkt im Kopf des Betrachters ein; wir haben es ab nun zu tun mit chronosignes, lectosignes, noosignes (Deleuze 1985: 35; Hervorhebung F.F.). Deleuze scheint hier dem intertextuellen Recycling mit gleichzeitiger parodistischer Umkehrung der überkommenen Formen, die sich quasi selbst zersetzen, das Wort zu reden, einer Dimension somit, die Ricœurs System - auch wenn dasselbe Phänomen die Literatur nachhaltig prägt - nicht vorsieht. 46 44 „La nature morte est le temps, car tout ce qui change est dans le temps, mais le temps ne change pas lui-même“ (Deleuze 1985: 27f). 45 Deleuze schlägt vor, „introduire des vides et des espaces blancs, raréfier l’image [...]; il faut diviser ou faire le vide pour retrouver l’entier“ (Deleuze 1985: 33). 46 Die hervorgehobenen Teile bezeichnen Gewichtungen: Zeitlichkeit, Lesbarkeit, gedankliche Verknüpfbarkeit. Der Einzel-Kader wird zum Medium der Dauer, er lädt sich auf mit „fonctions de pensée, noosignes exprimant les conjonctions logiques de suite, de conséquence“ (ebd.: 37; Hervorhebung F.F.). Anders als Ricœur, der seine Mimesis I auf apriorische chronologische Vorannahmen gründet, zeigt Deleuze sich überzeugt, dass kinematographischen Narrationen keine derartigen Strukturen zugrunde <?page no="42"?> Friedrich Frosch 42 liegen und Interpretation ein Produkt der sichtbaren Bilder selbst und nur dieser sei. 47 Zeitlichkeit ist ihm zufolge nicht notwendigerweise handlungsdeterminiert, denn sie ergibt sich aus Formen von indirekter Repräsentation, aus perzeptiv-mentalen Assemblagen und Montagen einzelner Bewegungs- Bilder. 48 Der Schnitt erweckt die Illusion eines zeiterfüllten Jetzt, das wiederum seine eigene Vergangenheit erzeugt, er formt aus der lebensweltlichen instabilen Gegenwart (dem présent instable) eine klare, stabile und verbalisierbare Vergangenheit. 49 Somit existiert, nach Deleuze (und so interpretiert er auch das Konventionen ironisierende Werk von Godard), die tröstliche Wunschvorstellung einer Gegenwart ohne Vergangenheit (Rezeption als Eintauchen in einen Lethe anästhesierender Glücksmomente) nur im schlechten Film: denn letztlich müsse es darum gehen, das Augenblickliche augustinisch zu entgrenzen. Das postuliert auch Ricœur, dessen auf der distentio animi beruhender Entwurf von Fiktion und Historiographie sich dahingehend umdeuten lässt. 50 In ihrem Kernstück scheinen Ricœurs Theorie der composition diégétique (1983: 76) oder mise en intrigue und seine Auffassung von der sinnstiftenden, kreativen Metapher trotz allem nicht gar zu weit von Deleuzes Synthesen entfernt zu sein. In einem späteren Interview attestiert Ricœur der „lebendigen Metapher“ die Fähigkeit, semantische Inkompatibilitäten zu überwinden und neuen Sinn zu produzieren. Dieser existiere nur an der Bruchlinie semantischer Felder, und selbiges Phänomen finde sich auch in der zeitlichen Konfiguration von Erzähltexten. Die Gegenwart ist im Vergangenheits-Zukunfts- Kontinuum nur ein Phantom, eine „limite extrême, jamais donnée“ (Deleuze 1985: 55). Während Ricœurs Vorstellung von der Zeit den Menschen im Erzähltext gleichsam von Nichts umgeben sein lässt (Ricœur 1983: 56), leisten Deleuze zufolge Regisseure wie Resnais oder Godard Widerstand gegen eine solche dem Nichts anheim fallende Vergänglichkeit. Aktuelle innovatorische Bestrebungen in der Kinematographie zielen darauf ab, lineare Repräsentationen zu unterlaufen, das Bewusstsein für Zeitlichkeit zu schärfen, sowie auch sie selbst zu vertiefen und mit ihrem kategorialen Gegenteil, dem Autre, zu kontrastieren, ohne das sie gar nicht bestehen könnte. 51 47 „[C]onséquence des images apparentes elles-mêmes“ (Deleuze 1985: 40). 48 „Le temps est nécessairement une représentation indirecte, parce qu’il découle du montage qui lie une image-mouvement à une autre“ (Deleuze 1985: 51). 49 Ein „passé clair, stable et descriptible“ (Deleuze 1985: 51). „La simple succession affecte les présents qui passent, mais chaque présent coexiste avec un passé et un futur sans lesquels il ne passerait pas lui-même. Il appartient au cinéma de saisir ce passé et ce futur qui coexistent avec l’image présente. Filmer ce qui est avant et ce qui est après“ (ebd.: 55). 50 „[F]aire passer dans le film la limite d’avant le film et d’après le film“ (Deleuze 1985: 55). Die synchrone Konfron- 51 „[L]a métaphore, c’est la capacité de produire un sens nouveau, au point de l’étincelle de sens où une incompatibilité sémantique s’effondre dans la confrontation de plusieurs niveaux de signification, pour produire une signification nouvelle qui n’existe que sur <?page no="43"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 43 tation mehrerer Bedeutungsebenen bestimmt nun aber das visuelle Zeit-Bild ebenso wie die Synthese des Heterogenen in der Konfiguration einer erzählten (oder zumindest erzählbaren) Zeitlichkeit. Während Ricœur - wie immer behutsam - in der Einschätzung des Kompositionellen eher Aristoteles’ Geringschätzung des Aleatorischen und der Nichtstringenz zu teilen scheint (Ricœur 1983: 87) und sich vom ambivalenten Mythos distanziert, der im Gegensatz zur auch für discontinuité stehe (ebd.: 96), deutet Deleuze gerade die Brüche, das Irrationale zwischen den Handlungsblöcken und den Einzelelementen filmischer Darstellung als höhere Einsichten ins Wesen des Zeit-Bildes einer modernistischen Kinoästhetik. Was ist nun der Dichter und auch der Regisseur? Für Ricœur ein „Handlungsschmied und -imitator“ („faiseur d’intrigue/ imitateur d’action“), der auftritt mit dem Versprechen einer Wahrheitsvorstellung („concept prospectif de vérité“) und dem Leitspruch vom Erfinden als Wieder-Finden („inventer, c’est retrouver“; Ricœur 1983: 86). Während die Problematik in der Prosafiktion bereits ausgiebig diskutiert scheint, bräuchte es im Bereich der Kinematographie, so daraufhin Deleuze, noch weitere grundlegende Reflexionen. Auf den traditionellen Film, in L’Image-mouvement auf der Basis von Bergsons Kinematographie-Verständnis skizziert, lässt sich auch ein traditionelles, von Aristoteles geborgtes Begriffsgemenge anwenden, das Ricœur so fasst: „tension et fusion du ‚paradoxal’ et de l’enchaînement ‚causal’, de la surprise et de la nécessité“ (Ricœur 1983: 89). Ähnlich urteilt er zum Disparaten und Stimmigen: die Inklusion des discordant im concordant garantiere gleichfalls die Koexistenz von émotionnalisme und intellectualisme (Ricœur 1983: 90). Zeit(erfahrung) als transkulturelles Phänomen ist - so Ricœur - für den Menschen nur aufgrund rationaler Bearbeitung, also narrativisiert, verfügbar: „dans la mesure où il est articulé sur un mode narratif“ (Ricœur 1983: 105), wobei sie an sich (und damit geht er d’accord mit Kants Transzendentalphilosophie und auch mit Deleuzens Ansichten zum image-mouvement) sinnlich nicht fassbar wird. Die Narrativität mit ihrer „Vielheit zeitlicher Niveaus“ (Ricœur 1983: 158) entspricht, so lese ich Temps et récit, der augustinischen distentio animi im Spannungsfeld zwischen Gelebtem, historischer und fiktionaler 52 la ligne de fracture des champs sémantiques. Dans le cas du narratif, je m’étais risqué à dire que ce que j’appelle la synthèse de l’hétérogène ne crée pas moins de nouveauté que la métaphore, mais cette fois dans la composition, dans la configuration d’une temporalité racontée, d’une temporalité narrative“ (Ricœur im Interview, http: / / www.philagora.net/ philo-fac/ ricoeur.htm; 27.3.08). 52 Da es sich um Aussagen zur Narrativitäts-Analyse handelt, ist dieser Ausdruck jenem des Fiktiven vorzuziehen. Zeit (vécu, temps historique und fictif; ebd.: 15). Modellbildend ist dabei nicht das Tröstlich-Stabilisierende des Mythos, sondern die finale Katharsis im Sinne der aristotelischen Poetik, gefasst als zyklisch wiederkehrende Apokalypse; diese „déplace les ressources de son imagerie <?page no="44"?> Friedrich Frosch 44 sur les Derniers temps - temps de Terreur, de Décadence et de Rénovation - pour devenir un mythe de la Crise“ (Ricœur 1984: 47). Als künstlerische entwirft die verschriftete (ebenso wie die filmische) Produktion außerhalb ihrer selbst eine Welt, die sich le monde de l‘œuvre nennen ließe (Ricœur 1984: 15). Deren Konfiguration ist, wie die Erfahrung zeigt, vorrangig zeitlich bestimmt (ebd.: 19), beispielhaft vorgeführt und ins Extrem vorangetrieben in der écriture labyrinthique Robbe-Grillets (vgl. Ricœur 1984: 51, FN1) 53 oder Woolfs stream of consciousness. In diesen verbinden sich unterschiedliche Ebenen des Psychischen und (un-)mögliche Erinnerung, Vor- und Unbewusstes und das poetisch in Worte gefasste „grouillement des désirs informulés“ (22), welche beim Rezipienten jenseits kognitiver Prozesse auch ein „jeu d’inférences, d’attentes et de réponses émotionnelles“ (23) hervorrufen. Im Grunde leitet den schöpferischen Akt (die Idee entlehnt Ricœur bei Frank Kermode) stets das Bedürfnis, dem Chaos das Siegel der Ordnung aufzudrücken, Un-Sinn in Sinn zu überführen, das Disparate zu akkordieren 54 53 Derselbe Autor wird als künstlerischer Partner des Regisseurs A. Resnais‘ auch von Deleuze wiederholt genannt. 54 „[I]mprimer le sceau d’ordre sur le chaos, du sens sur le non-sens, de la concordance sur la discordance“ (Ricœur 1984: 54). - eine These, die Deleuze, in seinen Philosophemen radikaler als Ricœur, wohl abgelehnt hätte. Auch wenn beide im nietzscheanischen Postulat der Lügenhaftigkeit des Erzählten wieder zusammenfinden: Dieses sei eine lebensnotwendige Fiktion, ein „mensonge vital“, zwischen Entstellung, Verklärung und Offenbarung („défiguration“, „transfiguration“, „révélation“; Ricœur 1984: 55). Deleuze schließlich weist im L‘Image-temps der vielschichtig-ambivalenten Wahrheit eines Konventionen sprengenden Kinos den positiven Term der esthétique du faux zu. Unechtes wird ihm, in Umkehrung gängiger Topik, zum einzig möglichen Ort von Epiphanie, diesseits des unzugänglichen réel Lacans: ein Bereich, in dem Kreativität gedeiht, wo das Sicht- und Hörbare in seinem von Ko-Präsenz durchwirkten Nacheinander prekären Sinn gewinnt - einen Sinn, der von den Erzeugnissen menschlichen Geistes noch am ehesten Bestand hat, nachvollziehbar zu argumentieren ist und sich als Erfahrung wiederholen, wenn auch nicht stereotyp reproduzieren lässt. Und neuerlich scheint Ricœur für eine solche ikonoklastische Position gewisse Sympathien aufzubringen: Für ihn meint der Sachverhalt die schöpferische Obsession, Geschichten hervorzubringen, deren Wahrheit sich nur in der Zeit entfalten kann und die im letzten subjektiv bleibt. <?page no="45"?> Literarisch-filmische Zeit-Erfahrungen bei Ricœur und Deleuze 45 Literaturverzeichnis Jean-Marie Brohm/ Magali Uhl, Arts , langage et herméneutique esthétique. Entretien avec Paul Ricœur (http: / / www.philagora.net/ philo-fac/ ricoeur.htm; 28.3.2008). Gilles Deleuze, Proust et les signes, Paris 1964. Gilles Deleuze, L’Image-mouvement. Cinéma, Paris 1983. Gilles Deleuze, L’Image-temps. Cinéma 2, Paris 1985. Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972. Alfred Gell, The Anthropology of Time. Cultural Constructions of Temporal Maps and Images, Oxford, Washington DC 1996. Roman Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. 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Paul Ricœur 1 Diese Besonderheit traumatischer Erlebnisse ist wesentlich dafür verantwortlich, dass die Umsetzung der Erinnerung in Erzählungen nicht gelingt bzw. einer besonderen Anstrengung bedarf. „C’est cela, la différence; c’est que sur moi, sur nous, le temps ne passe pas“, schreibt Charlotte Delbo im dritten Band ihrer Trilogie Auschwitz et après (Delbo 1971: 66), in dem sie von der Zeit nach ihrer Rückkehr aus dem Konzentrationslager erzählt. Mit dieser Bemerkung beschreibt sie das zentrale Merkmal der Zeiterfahrung traumatischer Erlebnisse, die Dauer. In der systematischen Aufarbeitung im Rahmen kulturwissenschaftlicher und psychologischer Untersuchungen wird das Phänomen der Unvergänglichkeit extrem belastender Erfahrungen durch folgende Formulierungen charakterisiert: „andauernde Gegenwärtigkeit“ (Assmann, A. 2002: 36), „stets präsente Vergangenheit“ (Langer 1995: 56) bzw. es wird vom „Anhalten der Zeit“ (Gutwinski-Jeggle 1992: 176) gesprochen. 2 1 Ricœur 1983: 115. 2 Auf die Debatte um die Legitimität der Darstellbarkeit, wie sie ausführlich in bezug auf die Shoah unter dem Eindruck des Fiktionalisierungsverbotes von Adorno geführt wurde, möchte ich an dieser Stelle nicht genauer eingehen, da sich die Diskussion auf dem Hintergrund des Generationenwechsels und einer Neubewertung der Textsorte „Zeugnis“ mittlerweile vom grundsätzlichen Verbot und den zahlreichen Verweisen auf die Unmöglichkeit der Darstellung zu einer freien Diskussion der möglichen Repräsentationsformen verschoben hat (vgl. Segler-Messner 2006). Die Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen fällt aber auch auf theoretischer Ebene schwer, da das derzeit in den Kulturwissenschaften favorisierte Gedächtnismodell, das mit Maurice Halbwachs Erinnerung als Rekonstruktion einer Erfahrung aus der Gegenwart heraus begreift (Assmann, J. 1999: 34ff) in diesem Fall nicht anwendbar ist. Setzt die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung die Dominanz der Gegenwart über die Vergangenheit voraus, die nicht zuletzt auch zur Veränderlichkeit von Erinnerungen in Abhängigkeit von später gemachten Erfahrungen beiträgt, bleibt die traumatische Vergangenheit resistent gegenüber Einflüssen späterer Erlebnisse und zentraler Referenzpunkt für alle Erinnerungen: „C’est là que tout avait commencé. Que tout recommençait toujours“ (Semprún 1994: 285). Ein Freiraum für eine <?page no="48"?> Anke Gladischefski 48 (re)konstruierende Aneignung der Erfahrungen existiert angesichts der Übermacht der traumatischen Eindrücke nicht (Assmann, A. 2002: 36f). Die nicht vorhandene Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bildet zudem ein zentrales Hindernis für das Erzählen, da die für die sprachliche Wiedergabe notwendige Distanz zu den Ereignissen nicht gegeben ist. Für Paul Ricœur sind - bezogen auf die Zeugnisse der Shoah - die Nähe zum Dargestellten und die Qualität der Erfahrung 3 Dennoch möchte ich im Folgenden versuchen, Zeugnisse traumatischer Erfahrungen mit Hilfe der Ricœur’schen Erzähltheorie im Hinblick auf die Gestaltung der Zeitstruktur zu analysieren. Dies soll der Beobachtung gerecht werden, dass die mir bekannten (literarischen) Zeugnisse allen formulierten theoretischen Vorbehalten zum Trotz eine differenziert gestaltete Zeitstruktur bzw. -strukturen aufweisen, die zur erzählerischen Darstellung der spezifischen Dauer traumatischer Erlebnisse durchaus geeignet sind. Ich beziehe meine Überlegungen auf ein Corpus von literarischen Zeugnissen von Überlebenden der Shoah, , die sich jeder „compréhension ordinaire“ (Ricœur 2000: 208) entzieht, die entscheidenden Gründe dafür, von einer „crise du témoignage“ zu sprechen (Ricœur 2000: 222) und diese Texte allenfalls als Ausnahmeerscheinung in seine Untersuchungen einzubeziehen (vgl. Ricœur 2000: 201f). 4 Um Antworten auf die Frage zu finden, wie die erzählerische Darstellung der spezifisch traumatischen Zeiterfahrung gelingen kann, möchte ich im Folgenden zunächst genauer auf die Besonderheiten traumatischer Erfahrungen eingehen, wie sie in der Pyschotraumatologie, in der Gedächtnisforschung und in der modernen Psychoanalyse beschrieben werden, da diese Zugänge das eingangs dargestellte kulturwissenschaftliche Desiderat einer adäquaten Erfassung von Traumata in wesentlichen Aspekten kompensieren. Im zweiten Schritt werde ich diese Erkenntnisse in Beziehung zum Ricœur’schen Modell einer Mimesis der Zeit setzen, um seine pluralistische Zeitkonzeption für die Darstellung unvergänglicher Zeit fruchtbar zu machen. Abschließend möchte ich an ausgewählten Textbeispielen zeigen, welche erzähltechnischen Möglichkeiten die ausgewählten Autorinnen und also auf die Erzählungen direkt Betroffener der ersten Generation, wobei die grundsätzlichen Überlegungen auch auf zeitlich und inhaltlich ‚abweichende’ traumatische Erfahrungen übertragbar sein dürften. 3 „Or l’expérience à transmettre est celle d’une inhumanité sans commune mesure avec l’expérience de l’homme ordinaire. C’est en ce sens qu’il s’agit d’expériences à la limite. […] Une raison supplémentaire de la difficulté à communiquer tient au fait que le témoin a été lui-même sans distance aux événements“ (Ricœur 2000: 223). 4 Zum Status des Zeugnisses als Gattung zwischen Dokument und Fiktion vgl. folgende Aussage von Aurélia Kalisky: „Die Besonderheit der ‚Geste des Bezeugens‘ fordert dazu auf, die Trennung von Fiktion und Zeugnis, von ‚Erfindung‘ - als imaginativer Arbeit - und ‚wahrheitsgetreuer Wiedergabe der erlebten Fakten‘ zu überwinden und stattdessen den Begriff der ‚Wahrheit‚ des Zeugen in den Mittelpunkt zu stellen.“ (Kalisky 2006: 50). <?page no="49"?> Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen 49 Autoren, es handelt sich um Charlotte Delbo, Imre Kertész und Jorge Semprún, entwickelt haben. Meine These ist, dass die Gestaltung der Zeiterfahrung der Dauer grundsätzlich auf der Engführung von historischer und fiktiver Zeit beruht, da erst die sichere Basis einer chronologischen Grundstruktur variable erzählerische Gestaltungen der Dauer traumatischer Erfahrungen erlaubt. Hier lassen sich wiederum zwei typische Erzählmuster unterscheiden: die im permanenten Spannungsverhältnis zur Gegenwart fortdauernde Zeit (Langer 2000: 56) und die vom Jetzt isolierte gestaute Zeit (Diner 1995: 127). 1 Trauma Die Psychotraumatologie definiert ein Trauma als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten der betroffenen Person, das mit Gefühlen der Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt” (Fischer/ Riedesser 1999: 79). Werner Bohleber formuliert diesen Sachverhalt aus psychoanalytischer Sicht etwas weniger klinisch, indem er von einem „Zuviel” für das seelische Erleben spricht, das den Schutzmantel der seelischen Bedeutungsstruktur des Menschen durchbricht (Bohleber 2000: 798). Aufgrund der seelischen Überforderung bricht die Symbolisierungsfähigkeit des Menschen zusammen, so dass das Erlebte nicht bewusst aufgenommen, geschweige denn verarbeitet werden kann. Dementsprechend wird das Traumatische als „das seelisch Nichtaufgezeichnete” (Bohleber 2003: 19) bzw. als Leerstelle im Bewusstsein - Maurice Blanchot spricht von einer „non-expérience” (Blanchot 1980: 85) - bezeichnet. Dies bedeutet aber nicht, dass das traumatische Ereignis nicht registriert wäre, im Gegenteil: Es zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Präsenz und genaue Speicherung aus; diese wird deutlich in den intrusiven Erinnerungen, die in die Phasen psychogener Amnesie ‚einbrechen’. Diese Erinnerungen treten unwillkürlich, d.h. situationsgebunden auf, in flash-backs und Träumen oder Phantasien wird das Erlebnis mit großer Genauigkeit 5 5 „Der rätselhafte Kern des Traumas liegt gerade in dieser absoluten Genauigkeit und dem beharrlichen Wiederauftreten: im verspäteten oder unvollkommenen Verstehen oder sogar Sehen eines überwältigenden Geschehens, welches in seiner hartnäckigen Wiederholung der Wahrheit und nicht der von Person zu Person verschiedenen Bedeutung des ursprünglichen Ereignisses exakt entspricht” (Caruth 2000: 86). Zur Unveränderlichkeit traumatischer Erinnerungen vgl. auch Fischer/ Riedesser (1999: 89). Mittlerweile hat sich eine Kontroverse um die ‚Wahrheit‘ traumatischer Eindrücke entwickelt, die eine spätere Beeinflussung der Erlebnisinhalte nicht mehr ausschließt, dennoch den direkten Realitätsbezug nicht in Frage stellt (vgl. Bohleber 2003). reproduziert, als solches wiedererlebt. Das traumatische Ereignis ist also auf einer nicht bewussten Ebene des Gedächtnisses gespeichert, die nur eine zustandsabhängige Wiederholung, <?page no="50"?> Anke Gladischefski 50 aber keine bewusste Erinnerung erlaubt. In der Terminologie der neurobiologischen Gedächtnisforschung formuliert: Diese Eindrücke sind getrennt vom expliziten/ deklarativen Gedächtnis im impliziten/ nicht deklarativen Gedächtnis gespeichert (von Hinckeldey/ Fischer 2002: 106, 111). Um eine wirkliche, d.h. willkürliche Erinnerung zu gewährleisten, ist es notwendig, die zunächst unbewusst gespeicherten Eindrücke durch ihre (sprachliche) Symbolisierung in das explizite autobiographische Gedächtnis zu übertragen (von Hinckeldey/ Fischer 2002: 113). Die psychoanalytische Forschung teilt diese Auffassung, sie bezeichnet den Speicherort der traumatischen Eindrücke als „emotionales Unbewusstes”, das das „Nicht-Gewahr- Gewordene” bewahrt (De Masi 2003: 16f). 6 2 Die Zeitkonzeption Paul Ricœurs Diese Gedächtnisinhalte sind - wie alle Inhalte des Unbewussten - zeitlos, in qualitativer Hinsicht zeichnen sie sich durch ihre „latente Präsenz” (Assmann, A. 1999: 259) bzw. durch „ihren Zwitterstatus zwischen unvergänglich und lebendig” (Gutwinski- Jeggle 1992: 176) aus. Das Ziel jeder Verbalisierung traumatischer Erlebnisse ist demnach ein doppeltes: Zum einen müssen die auf sensorischer Ebene gespeicherten Eindrücke in eine bewusste Erfahrung überführt werden, um den Bann der übermächtigen zeitunabhängigen Präsenz zu brechen, und zum anderen soll diese Erfahrung in eine allgemein verständliche Mitteilung/ Erzählung umgewandelt werden. D.h. die Sprache dient nicht nur dazu, eine außergewöhnliche Erfahrung mit Hilfe kollektiver Bedeutungsmuster auszudrücken - eine Problemstellung, die unter Verweis auf den Unsagbarkeitstopos nur allzu oft vorschnell stillgegestellt wurde -, sondern sie hat auch bzw. zuerst die Aufgabe, diese Erfahrung als einen dem Bewusstsein zugänglichen Gedächtnisinhalt aus der ungeordneten und bedrohlich amorphen Masse der traumatischen Eindrücke herzustellen. Um mit Ricœur zu sprechen, sie muss neben/ vor der configuration der Inhalte auch deren préfiguration leisten (Ricœur 1983: 86f). Ein wesentlicher Teil dieser psychischen Arbeit bezieht sich auf die Strukturierung der Zeiterfahrung, wie ich mit Hilfe des Ricœur’schen Modells verdeutlichen möchte. Paul Ricœurs pluralistische Zeitkonzeption umfasst drei wesentliche Aspekte der Zeit: le temps vécu (phénoménologique, psychique, psychologique), le temps universel (du monde, objectif, cosmique, physique) und le temps raconté. Das heißt, er unterscheidet zwischen unseren zeitlichen Erfahrungen, die im subjektiven Erleben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft differenzieren, der physikalisch naturwissenschaftlichen Zeit, die linear verläuft, 6 Diese Form den Unbewussten unterscheidet sich von der Freudschen Konzeption des dynamischen Unbewussten hinsichtlich der Inhalte (Gefühle anstelle von Trieben) und hinsichtlich der Entstehung (Dissoziation statt Verdrängung) (vgl. de Masi 2003 und von Hinckeldey/ Fischer 2002). <?page no="51"?> Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen 51 jedoch keine innere Gliederung aufweist und einer erzählerisch gestalteten Zeit. Letzterer kommt die Funktion zu, zwischen der erlebten/ erfahrenen Zeit und der neutralen physikalischen Zeit zu vermitteln, da beide Formen in einem Verhältnis der Unvereinbarkeit stehen (l’aporie du temps). Diese Vermittlung bzw. Aneignung, Ricœur bezeichnet sie auch als „Humanisierung” (le temps humain), erfolgt über Erzählungen im Rahmen der Geschichte und der literarischen Fiktion (Ricœur 1985: 147ff). Wenn beide Arten der Erzählung auch vielfältige Überschneidungen - er spricht von „échanges intimes” und „l’entrecroisement” (Ricœur 1985: 150, 264) - aufweisen, so unterscheiden sie sich doch hinsichtlich der Qualität der Zeit, die sie als tiers temps produzieren. Im Rahmen der Geschichte entsteht die historische Zeit (le temps historique), die dazu dient, den Ereignissen der erlebten Zeit einen festen Platz im Rahmen der physikalischen Zeit zuzuweisen (Ricœur 1985: 147). Die Zeit wird messbar durch Kalender oder in der Generationenabfolge, Ereignisse können mit Hilfe der Datierung in der Zeit situiert und lebendige Erinnerung kann als Voraussetzung historischer Erkenntnisgewinnung objektiviert werden (Ricœur 2000: 191). Demgegenüber stehen die fiktionalen Zeiterfahrungen, les expériences fictives du temps, die in den variations fictives sur le temps zum Ausdruck kommen (Ricœur 1985: 184). Diese Form des tiers temps ist im Unterschied zum temps historique pluralistisch, da sie von der Bindung an die natürliche/ physikalische Zeit befreit ist und dementsprechend unterschiedliche irreale Welten des Zeiterlebens erschaffen kann. Deren wichtigste Funktion besteht wiederum darin, die von der historischen Zeit noch nicht erschlossenen Ressourcen des temps vécu zu erforschen. 7 3 Traumatische Erinnerung Das Verhältnis von temps historique und fiction bezeichnet Ricœur als „kontrapunktisch” (Ricœur 1985: 184): Die variations imaginatives du temps variieren die historische Zeit; sie stehen daher in einem indirekten Verhältnis zur objektivierten Zeit. Versucht man nun dieses Modell auf die Erzählung traumatischer Erinnerungen anzuwenden, so fällt zunächst eine deutliche Inkongruenz im Bereich der erlebten Zeit auf: Der temps vécu im Sinne Ricœurs entspricht nicht dem im Rahmen der Traumatheorie als zeitlos bzw. als jenseits der Zeit charakterisierten traumatischen Erleben. Ganz im Gegenteil: Ricœur betont die structure pré-narrative de l’expérience temporelle (Ricœur 1983: 95), die auf einer „articulation pratique du temps“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruht (Ricœur 1983: 96). 8 7 „La levée des contraintes du temps cosmologique a pour contrepartie positive l’indépendance de la fiction dans l’exploration de ressources du temps phénoménologique qui restent inexploitées, inhibées, par le récit historique“ (Ricœur 1985: 185). Nach Ricœur „ruft” diese pränarrative 8 Diese ist nicht mit der linearen Zeit identisch, da wir uns „in“ der Zeit befinden: „[…] l’intra-temporalité, ou être-‚dans’-le-temps, déploie des traits irréductibles à la repré- <?page no="52"?> Anke Gladischefski 52 Struktur, ihre préfiguration temporelle, geradezu nach einer Erzählung (Ricœur 1983: 95). Somit scheint bezogen auf meine Überlegungen zunächst nicht mehr gewonnen zu sein, als dass es gelungen ist, den ‚ neuralgischen Punkt’ der Übersetzung traumatischer Erlebnisse in Erzählungen, ihre Zeitlosigkeit, über die psychologische Darstellung hinaus auch innerhalb einer Erzähltheorie, wenn auch negativ, verortet zu haben. Einen Ansatz zur Überwindung dieser unbefriedigenden Situation sehe ich im therapeutischen Ansatz der Psychoanalyse. Diese betont die Notwendigkeit, traumatische Erlebnisse vor der Bearbeitung ihrer psychischen Bedeutung zunächst als historische Fakten zu sichern: Die seelische Aktivität läuft [in den Wiederholungen der intrusiven Erinnerungsinhalte] gewissermaßen heiß und erzeugt immer wieder aufs Neue Ohnmachtserfahrungen. Wenn nun in der Therapie […] dafür Narrative formuliert werden, ohne eine Rekonstruktion der verursachenden traumatischen Realität, so laufen diese Gefahr, diesen Circulus vitiosus nur zu perpetuieren. Die Aufdeckung der Realität des Traumas, d.h. seine Historisierung, ist die Voraussetzung, um seine sekundäre Bearbeitung und Überformung mit unbewußten Phantasien und Bedeutungen, die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und verstehbar zu machen. Damit wird Phantasie und Realität abgegrenzt. Das Ich wird entlastet und erhält einen Verstehensrahmen für die bis dahin unbegreiflichen Einbrüche traumatischer Realität, die nun als ein Ereignis der eigenen Geschichte anerkannt werden kann. (Bohleber 2003: 29; Hervorhebung A.G.) In der therapeutischen Situation werden so die jenseits des Zeitverlaufs gespeicherten Ereignisse zunächst in die Chronologie historischer Zeit eingeordnet, die Betroffenen gewinnen ihre zeitliche Orientierung durch die Bezugnahme auf die „Zeit des Anderen” (Green 2003: 803) zurück (vgl. Gutwinski-Jeggle 1992: 184). Mit Ricœur formuliert: „[…] les événements de notre propre vie reçoivent une situation par rapport aux événements datés, […] ils acquièrent une position dans le temps” (Ricœur 1985: 159). Diese Verankerung in der sozialen Ordnung der historischen Zeit, die aus dem ungeordneten traumatischen Erleben eine strukturierte Erfahrung pränarrativer Ordnung macht, ermöglicht es, in einem zweiten Schritt die Ereignisse in die subjektive Ordnung der eigenen Lebensgeschichte einzuordnen. Im Rahmen einer Therapie handelt es sich hierbei im Regelfall um zwei getrennte, zeitlich aufeinander folgende Schritte der (narrativen) Klärung der Erlebnisse, während die beiden Zeitformen im Rahmen literarischer Zeugnisse - so meine These - parallel angeordnet sind. Ein weiterer Unterschied zwischen der therapeutischen und der literarischen Form autobiographischer Erzählung liegt in der Zielsetzung der „narrativen Erforschung der Erlebnisse“ (Ricœur 1985: 185) und damit in der Art der erzählerischen sentation du temps linéaire. […]c’est déjà autre chose que mésurer des intervalles entre des instants-limites. Etre dans le temps, c’est avant tout compter avec le temps et en conséquence calculer“ (Ricœur 1983: 98). <?page no="53"?> Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen 53 Gestaltung: Die Thematisierung traumatischer Erlebnisse im Rahmen einer Therapie zielt in erster Linie auf die ‚Normalisierung‘ des Traumas ab, d.h. es wird angestrebt, das Erlebnis über die Einordnung in die Bedeutungsstruktur der eigenen Lebensgeschichte im Rahmen eines ‚normalen‘ Trauerprozesses vergänglich zu machen, ihm seine andauernde Präsenz zu nehmen. Die historischen und literarischen Zeugnisse hingegen haben zum Ziel, das Trauma im öffentlichen Bewusstsein präsent zu halten. Im Sinne des von Reinhart Kosellek beschriebenen „negativen Gedächtnisses“ (Kosellek 2002) dürfen traumatische Erfahrungen nicht dem kollektiven Vergessen zugeführt werden, sondern müssen als Ausdruck des Protests gegen „das, was niemals hätte geschehen dürfen“ (Liebsch/ Rüsen 2001: 8) im Bewusstsein bewahrt werden. 9 D.h. die narrative Gestaltung soll hier keine lebensgeschichtliche ‚Harmonisierung‘ leisten, sondern die traumatische Erfahrung als solche in ihrer Unvergänglichkeit, ihrer Dauer verstehbar machen. Trotz der abweichenden Zielsetzung bleibt die chronologische Zeitebene als Kontrapunkt zur erzählerischen Freiheit bei der Gestaltung der expériences fictives du temps jedoch auch in diesen Texten immer deutlich spürbar. 10 4 Textanalysen Wie die Parallelführung der chronologischen Zeitebene mit der Ebene der erzählerischen Erforschung der traumatischen Erfahrung aussehen kann und welche Formen einer literarischen Stilisierung der traumatischen Zeit einzelne AutorInnen entwickelt haben, möchte ich am Beispiel von drei Texten zeigen. Es handelt sich dabei um L’Ecriture ou la vie von Jorge Semprún (Semprún 1994), die Trilogie Auschwitz et après von Charlotte Delbo (Delbo 1970/ 71) und Etre sans destin von Imre Kertész (Kertész 1975). 11 4.1 Jorge Semprún: L’écriture ou la vie Die chronologisch historische Zeitebene ist in L’écriture ou la vie, einem relativ spät entstandenen Buch Semprúns über die Ereignisse seiner Zeit im Konzentrationslager Buchenwald, als Grundgerüst vorhanden. Sie zeigt sich 9 „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d.h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf“ (Arendt 2002: 7). 10 Als Formen jenseits einer solchen Bindung ließen sich z.B. Wiederholungen, Fragmentierungen auf der Text- oder Sprachebene oder direkte Klagen (vgl. Ricœur 1985: 390) denken, diese brächten jedoch die Gefahr einer Retraumatisierung mit sich. 11 Ich habe diese Texte gewählt, da sie aufgrund der persönlichen Betroffenheit der Autorinnen und Autoren autobiographischen Zeugnischarakter haben und gleichzeitig eine deutliche literarische Stilisierung aufweisen. <?page no="54"?> Anke Gladischefski 54 sowohl in der konkreten Datierung der erzählten Ereignisse 12 als auch durch die chronologische Anordnung der Erzählzeitpunkte, die der explizit angegebenen Zeitachse folgen. Der Bericht beginnt mit der Schilderung des 11.4.1945, der Befreiung von Buchenwald, es folgen Ereignisse des Sommers 1945, der Suizid Primo Levis im April 1987 und anschließend die Rückkehr nach Buchenwald 1992. Darüber spannt sich ein Geflecht aus zahlreichen Rück- und Vorblenden, das aber die lineare Abfolge der zeitlichen Erzählperspektiven nicht grundsätzlich aufhebt, da die Assoziationen an den jeweils gültigen Erzählzeitpunkt, wenn auch z.T. gebrochen durch die übergeordnete Perspektive des gegenwartsorientierten allwissenden Erzählers, gebunden bleiben. 13 Die häufige Verwendung von Rück- und Vorblenden ist allerdings bereits als ein Gestaltungsmittel der narrativ-fiktionalen Ebene zu werten, das (auch) zur Herstellung des Eindrucks der Dauer beiträgt. Stärker wird die expérience fictive der Nicht-Vergänglichkeit aber durch die Betonung des symbolischen Gehalts eines konkreten Datums und besonders durch die erzähltechnisch zyklisch geschlossene Struktur des Buches hervorgehoben. Bei dem über seine kalendarische Funktion hinaus symbolisierten Datum handelt es sich um den 11. April, der durch die Überlagerung des 11.4.1945, der Befreiung Buchenwalds, mit dem 11.4.1987, dem Tag, an dem Primo Levi sich das Leben genommen hat, außerhalb der Zeit zu stehen scheint. Die trotz der eingangs beschriebenen chronologischen Abfolge der Erzählzeitpunkte vorhandene zyklische Struktur des Romans wird zunächst über den Ort hergestellt: Buchenwald steht als Schauplatz der Befreiung am Beginn des Buches und als Ort der Rückkehr im Rahmen einer Besichtigung des Lagers an dessen Ende. Der damit hervorgerufene Eindruck der Unvergänglichkeit wird gestützt durch den Einsatz der verbalen Zeiten. 14 12 Als Beispiel sei die Datierung im ersten Kapitel genannt: „Nous sommes le 12 avril 1945, le lendemain de la libération de Buchenwald“ (Semprún 1994: 25). 13 So berichtet Semprún z.B. von einer am 11.4.1945 erfolgten Erinnerung an Ereignisse des Jahres 1940: „Je me souviens des derniers soldats français que j’ai vus, en juin 1940“ (Semprún 1994: 15). 14 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Benveniste 1966. Am Beginn steht das Präsens : „Ils sont en fac e de moi, l’œil rond, et je me vois soudain dans ce regard d’effroi: leur épouvante” (Semprún 1994: 13). Auch in der weiteren Folge werden zur Beschreibung der Ereignisse des Jahres 1945 die Zeiten des an den Erzählzeitpunkt gebundenen discours (Benveniste 1966: 241f), in der Hauptsache passé composé und imparfait, verwendet; der 11.4.1987 hingegen wird durch Verwendung des passé simple auf die Ebene des historischen récit verlagert (Benveniste 1966: 238f), um am Ende bei der Schilderung des Jahres 1992 zu den Zeiten des discours zurückzukehren. Damit verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart und der Bericht endet mit der Schilderung einer zustandsabhängigen Erinnerung, die den Erzähler direkt in die Vergangenheit/ Gegenwärtigkeit des Lagers zurückführt: <?page no="55"?> Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen 55 Des coups de sifflet stridents avaient soudainement interrompu notre conversation [1992], poursuivie dans la pénombre de la baraque des contagieux. L’heure avait tourné, ces sifflets annonçaient le couvre-feu. Il fallait que je regagne mon block en vitesse. […] J’ai marché d’un pas vif sur la neige […]. J’ai levé les yeux. Sur la crête de l’Ettersberg, des flammes orangées dépassaient le sommet de la cheminée trapue du crématoire. (Semprún 1994: 396) 4.2 Charlotte Delbo: Auschwitz et après Auf den ersten Blick erscheinen die Texte von Charlotte Delbo eher impressionistisch als einer strikten zeitlichen Abfolge verpflichtet. Sie erzählt einzelne Episoden, die von stark stilisierten Betrachtungen in Gedichtform abgelöst werden. Betrachtet man jedoch die Trilogie als Ganze, so wird deutlich, dass der Textabfolge eine lineare Zeitstruktur zugrunde liegt. Diese beginnt mit der Darstellung der Ankunft in Auschwitz, im ersten Band werden darüber hinaus ‚typische‘ Situationen wie die des Appells im Wechsel mit konkreten Ereignissen, die ebenfalls exemplarischen Charakter haben, geschildert. 15 15 So erzählt sie z.B. in Un jour vom gescheiterten Fluchtversuch einer inhaftierten Frau, in Jusqu’à cinquante von der Auspeitschung eines Häftlings (Delbo 1970a: 40, 95). Der zweite Band setzt damit fort, folgt aber gleichzeitig der Chronologie der Lebensgeschichte der Autorin und bezieht sich auf den Zeitraum von der Verlegung von Auschwitz nach Ravensbrück bis zur Befreiung aus dem Konzentrationslager. Im dritten Band wird die Zeit nach der Rückkehr behandelt, indem die Autorin die Schicksale anderer Überlebender schildert und sich gleichzeitig mit ihren eigenen psychischen Verletzungen, Schuldgefühlen und Phantasien auseinandersetzt. Die expérience fictive du temps der Unvergänglichkeit dieser Ereigniss e wird in diesen Texten vor allem durch zwei Mittel hergestellt: zum einen durch die Wahl der verbalen Zeiten und zum anderen durch die Kontrastierung der Zeit des Lagers mit der Zeit der ‚Normalität‘ vorher und nachher. Bei der Wahl der temps verbaux fällt die häufige Verwendung des Präsens auf; diese dient entweder zur Markierung von Zeitlosigkeit wie in der Schilderung der Ankunft: Mais il est une gare où ceux-là qui arrivent sont justement ceux-là qui partent. Une gare où ceux qui arrivent ne sont jamais arrivés, où ceux qui sont partis ne sont jamais revenus. C’est la plus grande gare du monde. (Delbo 1970a: 9) Oder sie ruft zusammen mit dem Wechsel der Zeitformen und der Wahl der Adverbien den Eindruck der Präsenz der geschilderten Ereignisse hervor: Elle était accrochée au revers du talus, accrochée des mains et des pieds au revers du talus couvert de neige. Tout son corps était tendu, tendues ses mâchoires, tendu son cou désarticulé en cartilages, tendu ce qui restait de muscle à ses os. <?page no="56"?> Anke Gladischefski 56 Et ses efforts étaient vains - les efforts de quelqu’un qui tirerait une corde idéale. […] Maintenant ses mains étaient accrochées à une croûte de neige durcie, ses pieds […] battaient dans le vide. […] Elle tourne la tête comme pour mesurer le chemin, regarde vers le haut. (Delbo 1970a: 40f; Hervorhebungen A.G.) Besonders bedrückende ‚fiktive Erfahrungen‘ müssen die Leser an den Stellen machen, an denen Charlotte Delbo die Inhalte der mémoire profonde der Zeit im Lager mit der mémoire ordinaire der Zeit außerhalb kontrastiert (Delbo 1995: 14): J’avais soif depuis des jours et des jours, soif à en perdre la raison, soif à ne plus pouvoir manger, parce que je n’avais pas de salive dans la bouche, soif à ne plus pouvoir parler, parce qu’on ne peut pas parler quand on n’a pas de salive dans la bouche. Mes lèvres étaient déchirées, mes gencives gonflées, ma langue un bout de bois. […] Tous mes sens étaient abolis par la soif. […] Il y a des gens qui disent: „J’ai soif“. Ils entrent dans un café et ils commandent une bière. (Delbo 1970b: 42f, 49) Die dadurch aufgezeigte Dissonanz, die im folgenden Beispiel durch den Rückgriff auf die Normalität der Zeit vor dem Lager innerhalb der traumatischen Erinnerung noch verschärft wird, widersetzt sich jeder Assimilation an die Gegenwart und damit dem Vergessen: Son dos [de la femme] s’arrondit, avec des omoplates qui ressortent sous l’étoffe mince du manteau. C’est un manteau jaune, du jaune de notre chien Flac qui était devenu tellement maigre après sa maladie et dont tout le corps s’arrondissait en squelette d’oiseau du muséum au moment qu’il allait mourir. La femme va mourir. […] Et maintenant je suis dans un café à écrire ceci. (Delbo 1970a: 47, 49) 16 4.3 Imre Kertész: Etre sans destin Im Unterschied zur Trilogie von Charlotte Delbo ist die chronologische Zeitachse im Roman von Imre Kertész dominant. Geschildert werden die Ereignisse vom Tag des Abschieds des Vaters, der als erster von der Familie ins KZ gebracht wird, über die Verhaftung des Autors, dessen Zeit im KZ bis zu seiner Befreiung. Die Erzählzeitpunkte sind entsprechend angeordnet: der Tag des Abschieds vom Vater, die Situation der Familie zwei Monate später, der Beginn des Aufenthaltes des Autors/ Erzählers in Auschwitz, seine Zeit im KZ Zeitz, die Tage unmittelbar nach seiner Befreiung. Rückblenden in die Zeit vor der Verhaftung sind selten, 17 16 Die unauflösliche Spannung zwischen der Lagerrealität und den Inhalten der mémoire ordinaire wird ebenfalls deutlich im Bild des Hundes, das sowohl für das betrauerte Haustier Flac als auch für den SS-Hund, der die entflohene Frau tötet, steht. Vorgriffe auf die Zukunft nach 17 Im fünften Kapitel erinnert sich der Autor/ Erzähler an seine Aufnahme ins Gymnasium. Diese Zeit wird aber nicht in Kontrast zum Lager gesetzt, sondern durch den Verweis auf die zeitliche Koexistenz von Schule und Lager in eine quasi logische <?page no="57"?> Die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen 57 dem Lager, Schilderungen aus der Perspektive der Gegenwart, d.h. der Situation zur Zeit der Entstehung des Buches, finden sich nicht. Auffällig ist dabei, dass es im Unterschied zum Text von Semprún keine kalendarischen Datierungen gibt, die zeitliche Orientierung erfolgt ausschließlich entlang der inneren Zeitachse der Erzählung. So heißt es z.B. zu Beginn des zweiten Kapitels: „Voilà déjà deux mois que nous avons fait nos adieux à mon père” (Kertész 1998: 40), und Kapitel drei beginnt mit den Worten: „Le lendemain, il m’est arrivé quelque chose d’un peu étrange” (Kertész 1998: 57). Dies kann als ein erstes Merkmal der erzählerischen Gestaltung der linearen Grundstruktur gewertet werden: Die geschilderten Ereignisse erhalten durch die relative Einordnung einen zeitlosen Charakter, der zusammen mit der nichtvorhandenen Gegenwartsperspektive ihre Qualifizierung als ‚vergangene Vergangenheit‘ unmöglich macht. Diese Loslösung von der Orientierung an der Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart wird bereits im ersten Satz deutlich, der über die Wahl der an den discours gebundenen Verbalform und des Adverbs direkt in die Gegenwart der Vergangenheit hineinführt: „Je ne suis pas allé au lycée ce matin“ (Kertész 1998: 7). Damit wird der/ die Leser/ in gezwungen, sich ganz auf den Zeithorizont des Erzählten einzulassen und der Entwicklung der Ereignisse schrittweise zu folgen. Diese ‚Entwicklung‘ führt schließlich zum Stillstand der Zeit und damit auch zum Verlust jeglicher Veränderungsperspektive: „Le train 18 Abfolge mit der Inhaftierung gebracht: „Une autre chose encore m’a rendu quelque peu songeur ce jour-là, à savoir le fait que - comme je l’ai appris - cet endroit, cette institution existait depuis des années […] - elle m’attendait, moi“ (Kertész 1998: 156). „Nous étudions non pour l’école, mais pour la vie. Et dans ce cas, c’était mon avis, j’aurais dû jusqu’au bout étudier exclusivement Auschwitz. [...] Sauf qu’en quatre ans d’école je n’avais pas entendu un traître mot à ce sujet“ (Kertész 1998: 157). 18 „Le train“ ist hier metaphorisch gemeint. Vgl. die dieser Aussage vorausgehenden Bemerkungen: „À Zeitz […] je sentais bien que le train s’était arrêté. D’un autre côté pourtant - et c’est également vrai - il continuait à filer à une telle vitesse que j’étais incapable de suivre tous les changements, devant moi, autour de moi, et aussi en moimême“ (Kertész 1998: 187). „Le train roulait encore: quand je regardais vers l’avant, je devinais un but“ (Kertész 1998: 200). commença à ralentir et finit par s’arrêter complètement. J’essayais de regarder vers l’avant, mais l’horizon se limitait au lendemain, et le lendemain était le même jour“ (Kertész 1998: 205). Intensiviert wird diese Perspektivlosigkeit, deren Bezugsgröße auch nach der Befreiung ausschließlich das Lager bleibt, durch die auf der erzählerischen Ebene zyklisch gestaltete Zeitstruktur. Die Schilderung der Befreiung wird zeitlich situiert durch: „Je suis rentré chez moi à peu près à l’heure où j’étais parti“ (Kertész 1998: 326). Diese Koinzidenz eröffnet jedoch nicht den Anschluss an das Leben vor dem Konzentrationslager, sondern führt wie bei Semprún wieder in die Ausweglosigkeit des Lagers zurück, nach dem der Erzähler sogar Sehnsucht verspürt: „C’était cette fameuse heure caractéristique […], mon heure préférée au camp, et j’ai été saisi par un sentiment aigu, douloureux et vain: le mal du pays“ (Kertész 1998: 360). <?page no="58"?> Anke Gladischefski 58 5 Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Darstellung der Zeit in traumatischen Erinnerungen - um mit den Worten Ricœurs zu sprechen - zweifach konfiguriert ist, um die fehlende Präfiguration der traumatischen Erlebnisse zu kompensieren. In allen Textbeispielen lässt sich als Kontrapunkt zur erzählerisch kreativen Gestaltung der subjektiven Zeiterfahrung der Dauer eine Grundlinie - um im musikalischen Bild zu bleiben: ein Cantus firmus - der chronologischen Abfolge der Ereignisse ausmachen. Die Gestaltung der expériences fictives du temps variiert hingegen. In den behandelten Texten lassen sich zwei Muster der Darstellung von Dauer erkennen, die fortdauernde Zeit (Langer 2000: 56) und die gestaute Zeit (Diner 1995: 127). Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal beider Erzählformen liegt im Umgang mit der posttraumatischen Gegenwart: Darstellungen fortdauernder Zeit lassen sowohl die traumatische Vergangenheit als auch die posttraumatische Gegenwart und die prätraumatischen Erfahrungen als Bezugsgrößen der Erzählung zu und nutzen den unaufhebbaren Kontrast zwischen den Zeitebenen - wie die Texte von Jorge Semprún und Charlotte Delbo gezeigt haben -, um die Unvergänglichkeit des Traumas auszudrücken. Der Darstellungsmodus der gestauten Zeit, wie er von Imre Kertész verwendet wird, verzichtet hingegen auf den - wenn auch nur für Momente möglichen - Ausweg einer Orientierung an der ‚beruhigenden Normalität‘ der Gegenwart bzw. der prätraumatischen Vergangenheit und zwingt uns als RezipientInnen, unseren eigenen Ängsten nicht auszuweichen, sondern direkt „beim Grauen zu verweilen“ (Arendt 1986: 913). Literaturverzeichnis Primärwerke Charlotte Delbo, Aucun de nous ne reviendra (Auschwitz et après I), Paris 1970a. Charlotte Delbo, Une Connaissance inutile (Auschwitz et après II), Paris 1970b. Charlotte Delbo, Mesure de nos jours (Auschwitz et après III), Paris 1971. Imre Kertész, Sorstalanság, Budapest 1975. Frz: Etre sans destin. Paris 1998, übersetzt von Natalia und Charles Zaremba. Jorge Semprún, L’Ecriture ou la vie, Paris 1994. Sekundärwerke Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 1986. Hannah Arendt, Denktagebuch, 1950-1973. München, Zürich 2002. 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Nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht ab 1945 eine „littérature lazaréenne“, eine Literatur, die vor allem mit Zeugenaussagen und Schriftstellern wie Robert Antelme, David Rousset, Jorge Semprún, Primo Levi und Jean Améry verbunden wird. Es ist, als wären diese Autoren wie Lazarus aus dem Totenreich zurückgekehrt (vgl. Evangelium nach Johannes 11: 1-44); gleichzeitig bringen sie den Tod mit ins Leben, mitten ins Leben. Wenn man diese Schriftsteller einer „littérature lazaréenne“ erster Generation zuordnen kann, so kann man in Frankreich im Anschluss daran ab 1968-1970 von einer zweiten Generation Schriftsteller einer solchen Literatur sprechen, die mit der Veröffentlichung von Patrick Modianos La Place de l’Etoile (1968) , Georges Perecs La Disparition (1969) und Michel Tourniers Le Roi des Aulnes (1970) beginnt. Diese Autoren kennen die Konzentrationslager nicht persönlich; ihre Texte sind weder Zeugenaussagen noch Geschichtsschreibung; vielmehr handelt es sich um eine narrative Fiktion, die auf verschiedene Weisen auf die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts Bezug nimmt, und besonders häufig darauf, was Primo Levi als das „schwarze Loch von Auschwitz“ (Levi 1987) bezeichnete. Im Werk von Patrick Modiano, 1945 in Paris geboren, kehrt die deutsche Besatzungszeit ständig wieder; Modianos Texte artikulieren sich um das zentrale Motiv des Todes, des Verlusts und des Verschwindens. Die Romane dieses Autors, die immer in der ersten Person geschrieben sind, inszenieren Ermittlungen, Untersuchungen und Nachforschungen, die sich Vergessen, Auslöschung und Amnesie entgegen setzen. Allein die Berufe, denen Modianos Erzähler und Protagonisten nachgehen, weisen auf das Bestreben hin, die Spuren derjenigen Toten und Verschwundenen, deren Leben es nachzuzeichnen <?page no="62"?> Jutta Fortin 62 gilt, zu bewahren. So ist beispielsweise der Erzähler des Romans Rue des boutiques obscures Detektiv, der Erzähler von Dimanches d’août Fotograf, und der Erzähler von Voyage de noces Dokumentar. Im Roman Chien de printemps katalogisiert der Erzähler-Schriftsteller die Bilder des Fotografen Francis Jansen, und in Dora Bruder sammelt und präsentiert der Erzähler alle möglichen Spuren und Zeugnisse von Dora Bruder, einem jüdischen Mädchen österreich-ungarischer Herkunft, das 1942 von Paris nach Auschwitz deportiert wurde. Paul Ricœur untersucht die Begriffe Archiv (archive), Dokument (document) und Spur (trace) im dritten Band von Temps et récit, Le Temps raconté. In La Mémoire, l’histoire, l’oubli kommt er im Rahmen seiner Überlegungen zu Zeugenaussage (témoignage) und materiellem Beweis (preuve matérielle) des Dokuments auf die Bedeutung von Archiv und Spur zurück. In Temps et récit III interessiert Ricœur die Verflechtung von Geschichte und Fiktion. Bei Ricœur steht die Geschichtsschreibung im Zentrum des Bestrebens, über die Zusammenhänge zwischen Temporalität und Narration nachzudenken. Bei Modiano steht das Aufeinandertreffen der Gegenwart eines bestimmten Individuums, nämlich des Erzählers, und der Vergangenheit eines anderen, vor langer Zeit verschwundenen Individuums, dessen unbekanntes Schicksal dem Erzähler keine Ruhe lässt, im Mittelpunkt. Die Existenz der wenigen Spuren des oder de Verschwundenen ermutigt den Erzähler, unaufhaltsam nach immer mehr Spuren zu suchen, und sich, von diesen ausgehend, die Umstände des wiederherzustellenden Lebens auszumalen. Der Erzähler verfolgt eine Spur, und immer trifft er dabei auch auf seinen Vater. Ein bestimmtes Dokument ermöglicht dem Erzähler auf diese Weise, dem oder der zu folgen, auf den oder die das Dokument hinweist, und stellt gleichzeitig den Ausgangspunkt einer Reflektion über seine eigene Person dar. Im Folgenden werde ich mich besonders auf zwei von Modianos Romanen beziehen, nämlich auf Dora Bruder (1997) und Chien de printemps (1993). Ich gehe davon aus, dass diese literarischen Texte ein bestimmtes Dokument, eine Zeugenaussage oder auch ein Kunstwerk niemals umsonst erwähnen oder beschreiben. Vielmehr zeugen diese Dokumente immer von einem punctum, um jenen Begriff zu verwenden, den Roland Barthes in La Chambre claire mit Bezug auf das fotografische Bild einführt; an genau diesen Stellen zeigt sich das, was in besonderem Maße entweder erfreut oder schmerzt, was den spectator des Bildes oder hier den Leser des Texts „sticht“, anhält und aufhält (vgl. Barthes 1980: 49-51). Ein bestimmtes Relikt aus der Vergangenheit taucht in Dora Bruder drei Mal auf. Es handelt sich um ein Schild, das an der Mauer angebracht ist, die die Pariser Kaserne der Tourelles umschließt. Als der Erzähler dieses Schild gegen Ende des Romans zum ersten Mal erwähnt, wissen wir bereits, dass Dora Bruder acht Monate im Lager Tourelles verbracht hatte, bevor sie im August 1942 gemeinsam mit dreihundert anderen Jüdinnen nach Drancy verlagert wurde. An dieser Textstelle berichtet der Erzähler, wie er selbst im Jahr 1996 jene Mauer ab- <?page no="63"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 63 schreitet, die die Gebäude der ehemaligen Kaserne versteckt, diese „Zone der Leere und des Vergessens“ (Modiano 1997: 131). Und dennoch schreibt er: „Et pourtant sous cette couche épaisse d’amnésie, on sentait bien quelque chose, de temps en temps, un écho lointain, étouffé, mais on aurait été incapable de dire quoi, précisément. C’était comme de se trouver au bord d’un champ magnétique, sans pendule pour en capter les ondes. Dans le doute et la mauvaise conscience, on avait affiché l’écriteau ‘Zone militaire. Défense de filmer ou de photographier’“ (ebd.: 131). Ich will hier einerseits untersuchen, wie Modianos Romane Dora Bruder und Chien de printemps insofern an das Medium der Fotografie erinnern, als sie versuchen, die Spuren der Verschwundenen zu fixieren; und insofern an das Kino erinnern, als diese Texte, wie der Erzähler von Dora Bruder erwähnt, wie ein Film kurze Szenen ablaufen lassen, die die Schicksale verschiedener Protagonisten miteinander verflechten (vgl. ebd.: 93). Andererseits werde ich mich mit der bei Modiano ambivalenten Rolle des Fotografen, des Archivars und des Schriftstellers beschäftigen, die es sich zur Aufgabe machen, Spuren zu sammeln und Geschichte festzuhalten. 1 Die Spur Paul Ricœur unterscheidet zwischen drei Arten von Spuren: erstens, der geschriebenen Spur (trace écrite), die im Rahmen der Geschichtsschreibung als Dokument betrachtet und verwendet wird (trace documentaire); zweitens, der psychischen Spur (trace psychique), das heißt, des Eindrucks, den ein bestimmtes Ereignis aufgrund seiner besonders bedeutsamen oder auffälligen Natur anhaltend bei einer bestimmten Person hinterlässt; und drittens, der Gehirnspur (trace cérébrale, corticale), die zum Interessensbereich der Neurologie gehört (vgl. Ricœur 2000: 539). Erstere, nämlich die geschriebene Spur, steht im Mittelpunkt der Disziplin der Geschichte; diese Art von Spur interessiert uns ebenfalls hier. Modianos Dora Bruder handelt von den Nachforschungen um ein Schicksal, das sich während der deutschen Besatzungszeit in Paris abspielt. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass der Erzähler 1988 in der Ausgabe des Paris-Soir vom 31. Dezember 1941 auf folgende Suchanzeige stößt, die auf der ersten Seite des Buches zitiert wird: „Paris. On recherche une jeune fille, Dora Bruder, 15 ans, 1,55m, visage ovale, yeux gris-marron, manteau sport gris, pull-over bordeaux, jupe et chapeau bleu marine, chaussures sport marron. Adresser toutes indications à M. et Mme Bruder, 42 boulevard Ornano, Paris“ (Modiano 1997: 7). Acht Jahre, nachdem er diese Anzeige erstmals gelesen hat, begibt sich der Erzähler auf die Suche nach Dora Bruder. Seine minutiösen Nachforschungen dauern weitere sechs Jahre; der Text berichtet von dieser mühevollen und oft erfolglosen Arbeit. Das Buch beinhaltet verschiedenste Dokumente, die von Dora Bruders Leben zeugen; darunter Doras Geburtsurkunde und Personenstandsurkunde; die Familienkartei ihres Vaters; die Heiratsurkunde ihrer Eltern; das <?page no="64"?> Jutta Fortin 64 Schüler- und Schülerinnenverzeichnis des konfessionellen Internats, das Dora im Alter von vierzehn Jahren besuchte; die Dora betreffenden Aufzeichnungen einer Ordensschwester; die polizeilichen Protokolle über Doras zweimaliges Ausreißen; das Personenregister des Pariser Lagers der Tourelles; Briefe, die an den Polizeipräfekt adressiert sind und schließlich die Briefe eines Schriftstellers, eines nach Auschwitz transportierten Mannes und eines Offiziers der Gestapo. Die Vielfalt dieser Spuren und die scheinbare Unwichtigkeit einiger dieser Dokumente für das Leben Doras zeigen deutlich, dass das Nachzeichnen eines Lebens bei Modiano mit dem Sammeln von kleinsten Details gleichzusetzen ist, von „lambeaux, […] bribes de quelques chose“ (Modiano 1982: 238). Wie der Autor in seinem letzten Roman, Dans le café de la jeunesse perdue, schreibt: „Chaque détail, le plus futile en apparence, est révélateur“ (Modiano 2007: 45-46). Wenn auch die Wirklichkeit undurchsichtig scheinen mag, erklärt Carlo Ginzburg, so existieren bestimmte privilegierte Zonen (zones privilégiées) - Spuren und Hinweise (indices) - die das Lesen dieser Wirklichkeit dennoch ermöglichen (vgl. Ginzburg 2000: 178). Doch bei Modiano erweckt erst das Verschwinden das Bedürfnis nach der Spur; immer ist die Geschichte eines Lebens auf Leere und Abwesenheit gebaut, und dem entspricht der lückenhafte Charakter von Modianos Erzählungen. Genau hier lokalisiert auch Paul Ricœur das Paradoxon der Spur: „D’une part, la trace est visible ici et maintenant, comme vestige, comme marque. D’autre part, il y a trace parce que auparavant un homme, un animal est passé par là; une chose a agi“ (Ricœur 1985: 175). Die Spur zeigt nicht hier und jetzt das, was hier vorbei gekommen ist, sondern weist vielmehr auf die Vergangenheit und Abgeschlossenheit dieses Vorbeikommens hin. Darin besteht das Paradoxon der Spur: das, was vorbei gekommen ist, ist nicht mehr, doch seine Spur bleibt bestehen. Ricœur unterstreicht den paradoxen Charakter der Spur; für ihn zählt die Spur zu den rätselhaftesten Mitteln, mit denen der historische Erzähltext (récit historique) die Zeit „refiguriert“ (Ricœur 1985: 183). In der Trauerarbeit sind die Spuren des oder der Verstorbenen für die Überlebenden von immenser Wichtigkeit, doch die Spur behält auch hier ihre Eigenart oder Besonderheit, denn während sie dazu dient, die Erinnerung an den oder die Toten aufrecht zu erhalten, markiert und bestätigt sie gleichzeitig die Abwesenheit, das schmerzhafte Fehlen eben der Menschen, auf die die Spur verweist (vgl. Bacqué 1992: 47). Doras Spuren interessieren den Erzähler nicht nur in Form der Dokumente, die er in den diversen Archiven aushebt, sondern er hält auch unermüdlich in den Straßen der Stadt Paris nach Spuren des Mädchens in Gestalt von „Abdrücken“ (empreintes) Ausschau: „On se dit qu’au moins les lieux gardent une légère empreinte des personnes qui les ont habités. Empreinte: marque en creux ou en relief. Pour Ernest et Cécile Bruder, pour Dora, je dirai: en creux. J’ai ressenti une impression d’absence et de vide, chaque fois que je me suis trouvé dans un endroit où ils avaient vécu“ (Modiano 1997: 28-29). Auch in Chien de printemps ist der Ort, als eine Art Spur verstanden, von Bedeutung, und auch hier ist der Schau- <?page no="65"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 65 platz Paris. Während er zwei Fotografien betrachtet, erinnert sich der Erzähler in diesem Text daran, dass es sich bei dem Bildinhalt um das Haus eines ehemaligen Kameraden, des Fotografen Francis Jansen handelt, den letzterer im Lager von Drancy kennen gelernt hatte. Noch während der Okkupationszeit hätte Jansen die Eltern und die Freundin seines Kameraden aufsuchen sollen. Doch da er diese zu diesem Zeitpunkt nicht hatte finden können, begibt er sich nach der Befreiung Frankreichs noch einmal dorthin, aber wieder vergebens. Der Erzähler kommentiert: „Alors, désemparé, il avait pris ces photos pour que soit au moins fixé sur une pellicule le lieu où avaient habité son camarade et ses proches. Mais la cour, le square et les immeubles déserts sous le soleil rendaient encore plus irrémédiable leur absence“ (Modiano 1993: 110). Genau wie Jansen, hat der „scribe“, der Schreiber, wie Jansen den Erzähler liebevoll nennt, das Bedürfnis, als er sich an Jansens Abschiedsumtrunk erinnert, die an jenem Abend Anwesenden „wie auf einer Fotografie“ festzuhalten: „Au souvenir de cette soirée, j’éprouve le besoin de retenir des silhouettes qui m’échappent et de les fixer comme sur une photographie. Mais, après un si grand nombre d’années, les contours s’estompent, un doute de plus en plus insidieux corrode les visages. Trente ans suffisent pour que disparaissent les preuves et les témoins“ (Modiano 1993: 70). Dass Modianos Protagonisten derart verschwommen erscheinen, liegt nicht am Mangel ihrer Spuren, die der Text beschreibt. Vielmehr liegt dies, wie Christine Jérusalem argumentiert, daran, dass diese Menschen selbst ein Gefühl von Leere in sich tragen, als ob ihr späteres Schicksal seine Spur, ein „schwarzes Loch“, noch vor seiner Zeit hinterlassen hätte (vgl. Jérusalem 2004: 110). In Dora Bruder erfahren wir, dass die zerstörten Häuser des Pariser Stadtviertels Clignancourt, jenes Viertels also, in dem sich auch Doras Eltern, Ernest und Cécile Bruder, niedergelassen hatten, beim Erzähler, bereits als er vierzehn Jahre alt war, einen Eindruck einer nie gekannten Leere hinterließen. Er behauptet: „Je me souviens que pour la première fois, j’avais ressenti le vide que l’on éprouve devant ce qui a été détruit, rasé net. Je ne connaissais pas encore Dora Bruder. Peut-être - mais j’en suis sûr - s’est-elle promenée là, dans cette zone qui m’évoque les rendez-vous d’amour secrets, les pauvres bonheurs perdu“ (Modiano 1997: 35). Der Erzähler versichert außerdem: „A vingt ans, dans un autre quartier de Paris, je me souviens d’avoir éprouvé cette même sensation de vide que devant le mur des Tourelles, sans savoir quelle en était la vraie raison“ (ebd.: 132). Im Nachhinein erst bringt der Erzähler seine eigenen Gefühle und Erfahrungen mit Doras Leben in Verbindung; er projiziert sein eigenes Unbehagen auf das Schicksal des Mädchens. Modianos am 2. November 1994 in der Zeitung Libération erschienener Artikel mit dem Titel „Avec Klarsfeld contre l’oubli“ ist diesbezüglich aufschlussreich. Patrick Modiano bezieht sich auf einige aus der Besatzungszeit stammende Fotografien um klarzumachen, dass die Tatsache, dass das Leben jener Menschen, die darauf abgebildet sind, ausgelöscht wurde, dazu führen kann, dass sich die Überlebenden leer und <?page no="66"?> Jutta Fortin 66 abwesend fühlen: „Des photos de famille, le dimanche à la campagne, avec le grand frère, la petite sœur, le chien. Des photos de jeunes filles. Les photos de copains dans la rue. Des sourires et des visages confiants dont l’anéantissement nous fera éprouver jusqu’à la fin de nos vies une terrible sensation de vide. Voilà pourquoi il nous arrive, par moments, de ne plus se sentir tout à fait présents dans ce monde qui a tué l’innocence“ (Modiano 1994). Während Modiano sich demnach zuweilen abwesend fühlt, ist Dora Bruder von nun an gewissermaßen fantomatisch anwesend. Ich verwende hier den von Pierre Bayard in seinem Aufsatz „Les éléphants sont-ils allégoriques? A propos des Racines du ciel de Romain Gary“ geprägten Begriff, „fantomatisch“. Pierre Bayard untersucht in dieser Studie den Zusammenhang zwischen dem Elefantenmassaker in Afrika, das Romain Garys Roman, Racines du ciel, zum Thema hat, und Auschwitz, wovon der Text nicht, oder zumindest nicht hauptsächlich, handelt. Bayard bezeichnet jene Art von literarischer Einschreibung der Shoah als fantomatisch (fantomatique), die weder thematisch (Modus der Präsenz) noch allegorisch (Modus der Äquivalenz) ist. Das Fantomatische ordnet Bayard dem Modus der Zwangsvorstellung, des Grauens (hantise) zu (vgl. Bayard 2006). Tatsächlich ist Dora weder körperlich anwesend noch unbedingt auf jenen Fotografien zu sehen, die Modiano oder seine Erzähler betrachten mögen. Das Fantomatische hat damit zu tun, dass diese Dora Bruder auf allen Fotos sehen, die während der Besatzungszeit gemacht wurden, in jeder Zeit also, in der Dora theoretisch hätte fotografiert werden können. Genau diese Macht des Blicks, die das Bild selbst verändert, wird im Text Dora Bruder inszeniert, nicht in Bezug auf das fotografische Bild, sondern in Bezug auf den Film Premier rendez-vous. Auch Dora hätte diesen im Jahr 1941 erschienenen Film, der von der Flucht eines jungen Mädchens handelt, sehen können. Dies mag der Grund dafür sein, dass der Film, wie der Erzähler sagt, bei ihm einen sehr eigenartigen Eindruck hinterließ, eine Art Unbehagen, das weder die Handlung noch die Gestaltung des Films selbst rechtfertigen oder erklären kann. Tatsächlich ist dieser Film in gewisser Weise von den Blicken der Zuschauer von 1941 „imprägniert“: „Leurs regards, par une sorte de processus chimique, avaient modifié la substance même de la pellicule, la lumière, la voix des comédiens“ (Modiano 1997: 80). Genauso, wie die Analyse des spectrums der Fotografie bei Barthes vom spectator selbst abhängt, und bei Barthes vor allem die Interpretation des Bildes „La photographie du jardin d’hiver“ von den Umständen des Betrachtens, nämlich dem Tod der Mutter, beeinflusst ist (vgl. Barthes 1980: 99-184), liegt die Besonderheit des Films Premier rendez-vous bei Modiano größtenteils daran, dass der Zuschauer, der spectator dadurch zum operator wird, dass sein Blick die Substanz des Films selbst verändert und mitbestimmt. Dora drückt dem Film einen fantomatischen Stempel auf; sie hinterlässt in diesem Film ihre Spur (eine Art von Spur, von der Ricœur nicht spricht, die kein geschriebenes Dokument darstellt), ungeachtet dessen, ob sie ihn tatsächlich gesehen hat oder nicht. <?page no="67"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 67 Im Lauf der Erzählung werden eine Reihe von Schriftstellern erwähnt - Friedo Lampe, Felix Hartlaub und Roger Gilbert-Lecomte - , die insofern mit Dora Bruder assoziiert werden, als sie zur selben Zeit und unter denselben Umständen starben wie Dora. Der Erzähler verwendet mehrmals den Ausdruck, der Blitz hätte sie getroffen. Das Bild des Blitzes evoziert neben der mächtigen Gewalt dieses Naturelements auch den Zufall, der wollte, dass genau diese Menschen als „Blitzableiter“ (Modiano 1997: 95) dienten, damit andere verschont blieben. Chien de printemps endet mit dem daran gekoppelten Schuldbewusstsein; der Erzähler zitiert folgende Worte von Jansen: „Un frère, un double est mort à notre place à une date et dans un lieu inconnus et son ombre finit par se confondre avec nous“ (Modiano 1993: 121). Doch der Blitz erinnert auch an das Blitzlicht, an die Beleuchtung - an jenes Licht, das es ermöglicht, zu sehen und gesehen zu werden. Erkannt werden bedeutet während der Okkupationszeit erscheinen, um endgültig zu verschwinden. Auch Modianos Text verhält sich in gewisser Weise wie das Blitzlicht; er beleuchtet und macht einige Schriftsteller sichtbar, als ob er sie fotografieren oder filmen würde. Die kurzen Textfragmente in Dora Bruder, die von diesen Autoren handeln, erinnern an fotographische Bilder, oder an eine statische Bildeinstellung im Kino. Tatsächlich nähert sich der Erzähler- Autor nicht nur durch diese Art zu schreiben einem der Schriftsteller, von dem sein eigener Text handelt, an, sondern er zitiert auch eine Textstelle von ihm. Es handelt sich um eine Stelle aus einem von Friedo Lampe geschriebenen Brief; Friedo Lampe teilt hier einem uns unbekannten Empfänger mit, worin sein einziger Wunsch oder seine einzige Ambition besteht, nämlich „[…] rendre sensibles quelques heures, le soir, entre huit heures et minuit, aux abords d’un port; je pense ici au quartier de Brême où j’ai passé ma jeunesse. De brèves scènes défilant comme dans un film, entrelaçant des vies. Le tout léger et fluide, lié de façon très lâche, picturale, lyrique, avec beaucoup d’atmosphère“ (Modiano 1997: 93). Dieses Bestreben deckt sich natürlich mit dem des Autors, wie auch mit dem seiner Erzähler. Von Jean-Louis de Rambures für seine Studie mit dem Titel Comment travaillent les écrivains befragt, antwortet Modiano: „Il se trouve que j’ai une imagination essentiellement visuelle, je suis d’une génération qui a été intoxiquée par le cinéma“ (Modiano in: Rambures 1978: 127). Tatsächlich lehnt sich der Text Dora Bruder an die Technik der Parallelmontage an, an jenen Bildschnitt also, der im Film dazu dient, zwei oder mehrere Leben nebeneinander zu zeigen und miteinander zu verflechten. In Dora Bruder stehen sich laufend Handlungssequenzen gegenüber, die zeitlich voneinander getrennt sind und keine direkte Kausalitätsbeziehung zueinander aufweisen. Der Text erzählt einerseits die Geschichte von Dora Bruder, ihrer Familie und all jenen, die sie hätte kennen oder treffen können; zu dieser Gruppe gehört auch Modianos Vater. Diese Geschichte spielt zur Zeit der Okkupation in Paris. Es handelt sich um eine rückblickende Erzählung in der dritten Person. Die Geschichte beginnt mit Doras Geburt am 26. Februar 1926 und endet damit, dass sie am 18. September 1942 nach Auschwitz gebracht wird. <?page no="68"?> Jutta Fortin 68 Andererseits handelt der Text auch von der Geschichte des mit dem Autor selbst verschmelzenden Erzählers, die in der ersten Person erzählt wird und in der Gegenwart (Dora Bruder erscheint 1997) spielt. Die Erzählung beginnt in medias res; der Erzähler berichtet, wie er vor acht Jahren in der Zeitung Paris-Soir zufällig die Suchanzeige von Doras Eltern fand. Es folgen Kommentare, Beschreibungen, Vermutungen und Fragen, die in der grammatischen Zeit des Praesens gehalten sind; sowie Beschreibungen, vor allem Ortsbeschreibungen und die Erzählung der Suche nach Dora in der Vergangenheit. Diese zwei Geschichten und ihre Erzählstränge auf der Diskursebene sind genauso miteinander verflochten wie es im Rahmen der Parallelmontage die Aufnahmen der verschiedenen, von einander unabhängigen Handlungen sind. In Dora Bruder dienen vor allem die in den Text eingefügten Dokumente und die Orte, die im Text erwähnt oder beschrieben werden, als Knotenpunkte, die diese zwei Geschichten miteinander in Zusammenhang bringen. Diese Spuren werden, um einen von Ricœur geprägten Ausdruck zu verwenden, zu connecteurs (Ricœur 1985: 177), zu Bindegliedern zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und auch zwischen Dora und dem Erzähler-Autor. Modiano scheint ganz bewusst mit der Technik der Parallelmontage zu spielen, wenn er je ein Bild aus den verschiedenen Geschichten übereinander lagert. Durch diese Art von Superposition im literarischen Text entsteht der Eindruck der Verschwommenheit, der wieder in den Bereichen des Kinos und der Fotografie besonders bedeutsam ist. Folgendes Beispiel zeigt dies deutlich: „D’hier à aujourd’hui. Avec le recul des années, les perspectives se brouillent pour moi, les hivers se mêlent l’un à l’autre. Celui de 1965 et celui de 1942“ (Modiano 1997: 10). Modiano selbst bedient sich in Chien de printemps eines Begriffs aus der Fachsprache der Fotografie, nämlich dem der Doppelbelichtung (surimpression), um die Verschwommenheit von Zeit und Erinnerung zu benennen: „Le mois d’avril 1992 se fondait par un phénomène de surimpression avec celui d’avril 1964, et avec d’autres mois d’avril dans le futur“ (Modiano 1993: 18). Die abwechselnde Einstellung der Kamera dient im Film typischerweise dazu, Vergleiche anzustellen oder Gegensätze zu verdeutlichen. Dagegen dient die Überlagerung von zwei Einstellungen, wie sie hier im literarischen Text vorkommt, dazu, Identifikation zu schaffen. Die zeitliche Annäherung der zwei verschiedenen Kameraeinstellungen bringt gleichzeitig auch ihre Protagonisten einander näher. 2 Geschichtsschreibung In L’Ecriture de l’histoire erinnert Michel de Certeau daran, dass die westliche Geschichtsschreibung einen besonderen Bezug zur Vergangenheit herstellt und insofern eine besondere Art von Erinnerung darstellt, als sie, wie es dem Okzident eigen ist, die Vergangenheit klar von der Gegenwart trennt <?page no="69"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 69 (Certeau 1975: 10). Certeau unterscheidet zwischen einerseits der Zeit der Recherche ausgehend von Archiven, Zeugenaussagen und Dokument und andererseits der Zeit des tatsächlichen Schreibens von Geschichte. Die Zeit der Recherche geht gemäß Certeau ins Unendliche; die Forschungsarbeit ist niemals abgeschlossen und weist zwangsläufig Mängel und Unzulänglichkeiten auf. Der Akt des Schreibens hingegen dient dem Abschluss dieser Arbeit. Im Anschluss an Certeau teilt Paul Ricœur den Prozess der Geschichtsschreibung seinerseits in drei Phasen ein, nämlich erstens die Archivarbeit, zweitens die Phase des Erklärens und der Interpretation, und drittens die Schreibe- oder Redaktionsphase (Ricœur 2000: 181). Die Tatsache, dass das Unternehmen der Geschichtsschreibung immer in das Niederschreiben eines bestimmten Ergebnisses mündet, wirft folgende Überlegungen auf. Die Geschichtsschreibung unterscheidet sich nicht dadurch von der Fiktion, dass sie keine Erzählung (kein récit im Sinne von Gérard Genette) wäre, während der fiktionale Roman eine Erzählung wäre. Die Geschichte als Disziplin bezieht ihre Wissenschaftlichkeit aus einem Wissen, das sich auf die kritische Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen und Dokumenten gründet. Diese Dimension, das heißt, die konsequente Bezugnahme der Geschichte auf ein bestimmtes und erstzunehmendes Referenzmaterial, unterscheidet den historiografischen (Erzähl)text vom fiktionalen oder literarischen Erzähltext, einschließlich des historischen Romans (vgl. Beaude 2004). Gemäß Ricœur muss seriöse, historische Arbeit daran gekoppelt sein, dass eine bestimmt Person oder Institution, die diese Arbeit in Angriff nimmt, die Spuren derselben dokumentiert (Ricœur 2000: 212). In diesem Sinne könnte man die Veröffentlichung des Texts Dora Bruder durch seinen Autor Modiano als einen Akt der Geschichtsschreibung ansehen. Jacques Derrida stellt die Stabilität des Archivs, seinen Status als objektiven „Behälter“ der Spuren der Vergangenheit in Mal d’archive in Frage; er argumentiert, dass der Akt oder der Prozess des Archivierens (archivation) ein bestimmtes Ereignis genauso sehr produziert wie registriert (vgl. Derrida 1995: 34). Insofern, als Dora Bruder erstens eine große Anzahl von Dokumenten versammelt und beinhaltet und dieses Buch zweitens, wie ein Archivmaterial, jedermann, der lesen kann, zugänglich ist, könnte man das Schreiben und die Publikation dieses Texts als eine Art Archivierungsakt ansehen. Mehr noch als auf die Zeit des Schreibens von Geschichte verweist Dora Bruder aber paradoxerweise auf die Zeit der Recherche; dadurch, dass der Erzähler-Autor die Forschungsarbeiten, die für die Vorbereitung des Buches notwendig waren, ausführlich und mit größter Genauigkeit innerhalb des Texts kommentiert, wird letzterer zu seiner eigenen Erzählung. Dora Bruder stellt sich gegen jenen Abschluss, der bei Certeau und Ricœur ein Charakteristikum der Geschichtsschreibung darstellt. Doch während der Erzähler über die Unzulänglichkeit der Dokumentation von Doras Schicksal lamentiert, betont er gleichzeitig, dass es seine eigene Entscheidung ist, seine Recherchen über Dora nicht zu Ende zu führen. Zum Beispiel geht er davon aus, dass Dora vor Kriegsbeginn eine der Gemeindeschulen <?page no="70"?> Jutta Fortin 70 ihres Stadtviertels besuchte. Er berichtet, dass er an die Direktoren all dieser Schulen einen Brief schreibt, in dem er die Bitte formuliert, Doras Namen in den entsprechenden Namensregistern zu suchen. Doch als der Direktor genau jener Schule, die sich am nächsten an Doras damaliger Wohnadresse befindet, dem Erzähler vorschlägt, das Schüler- und Schülerinnenregister selbst einzusehen, nimmt der Erzähler dieses Angebot nicht wahr. Vielmehr behauptet er: „Un jour j’irai. Je veux encore espérer que son nom figure làbas“ (Modiano 1997: 14). Ähnlich rechtfertigt er seine Entscheidung, Doras Spuren, die eindeutig nach Sevran führen, dort nicht weiter zu verfolgen: „Un jour, j’irai à Sevran, mais je crains que là-bas les maisons et les rues aient changé d’aspect, comme dans toutes les banlieues“ (Modiano 1997: 19). In beiden soeben zitierten Textstellen ist der Gebrauch der grammatischen Zeit der Zukunft von besonderer Bedeutung; das Futurum signalisiert, dass die Zeit der Recherche in der Zukunft andauert. Ein Funke Hoffnung bleibt dadurch bestehen; zumindest wird nicht bestätigt, dass weder in der Schule noch in Sevran Spuren von Dora existieren. Doch gerade deshalb bleibt auch die daran gekoppelte Befürchtung, dass es eben keine Spuren geben könnte, bestehen. Diese Angst artet in Panik aus, als der Erzähler im Pariser Justizpalast eine bestimmt Stiege bezeichnenderweise am anderen Ende eines Raumes zu finden hofft: „J’avais beau arpenter cette salle, je ne trouvais pas l’escalier 5. J’étais pris de cette panique et de ce vertige que l’on ressent dans les mauvais rêves, lorsqu’on ne parvient pas à rejoindre une gare et que l’heure avance et que l’on va manquer le train“ (Modiano 1977: 17). Die Angst des Erzählers hat damit zu tun, dass es so gut wie sicher ist, dass er die Spur von Dora niemals bis zu ihr selbst zurückverfolgen kann. Seine Angst erinnert auch an die Bedeutung der Zeit, die zwischen dem Zeitpunkt, als Dora „vorbei kommt“ und eine Spur hinterlässt, und dem Zeitpunkt, als der Erzähler ihre Spur wahrnimmt, verstreicht. „D’abord, suivre la trace est une manière de compter avec le temps“ (Ricœur 1995: 181), stellt Ricœur fest. Der Historiker ist dem Druck der Zeit ausgesetzt; er folgt der Spur, wie Ricœur schreibt, mit der Uhr in der Hand und mit dem Kalender in der Tasche. Wenn man bei Modiano von Geschichtsschreibung sprechen kann, so passiert dieses Schreiben von Geschichte unter einem gewissen Zwang. Im Dezember 1988 stößt der Autor auf die Suchanzeige von Dora Bruder. Später findet er die Namen von Dora und ihren Eltern, Ernest und Cécile, in Serge Klarsfelds Mémorial de la déportation des juifs de France (1978) wieder. Doras Schicksal lässt ihn nicht mehr los. Der Briefwechsel zwischen Modiano und Klarsfeld zwischen 1995 und 1996 zeugt nicht nur von Modianos Bewunderung für Klarsfelds Arbeit sowie der Hilfe, die letzterer Modiano auf der Suche nach weiteren Spuren von Dora Bruder gewährt, sondern zeugt auch von der tiefen Erschütterung des Schriftstellers vor dem Schicksal des jüdischen Mädchens. In Dora Bruder kommt der Erzähler mehrmals auf Doras Suchanzeige zurück, und er kommentiert: „Je n’ai cessé d’y penser durant des mois et des mois“ (Modiano 1997: 53). In Modianos <?page no="71"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 71 1990 erschienenem Roman, Voyage de noces, wird der Name „Dora Bruder“ nie genannt. Ihre Präsenz in diesem Text ist nicht thematischer Natur, sondern, um auf Pierre Bayards Kategorisierung zurückzukommen, fantomatischer Natur. Der Erzähler-Autor selbst impliziert dies in Dora Bruder, in jenem Text, der sieben Jahre später diesem Mädchen gewidmet ist, als er bemerkt: „Le manque que j’éprouvais m’a poussé à l’écriture d’un roman, Voyage de noces, un moyen comme un autre pour continuer à concentrer mon attention sur Dora Bruder, et peut-être, me disais-je, pour élucider ou deviner quelque chose d’elle, un lieu où elle était passée, un détail de sa vie“ (Modiano 1997: 53). Tatsächlich weisen bestimmte Textfragmente in Voyage de noces deutlich auf Dora Bruder hin; so zum Beispiel die Suchanzeige, die in diesem Text nicht Dora, sondern Ingrid Teyrsen betrifft: „On recherche une jeune fille, Ingrid Teyrsen, seize ans, 1,60m, visage ovale, yeux gris, manteau sport brun, pull-over clair, jupe et chapeau beiges, chaussures sport noires. Adresser toutes indications à M. Teyrsen, 39 bis, boulevard Ornano. Paris“ (Modiano 1990: 153). In Dora Bruder behauptet der Erzähler-Autor, er hätte Voyage de noces geschrieben, damit die Gedanken an Dora weiterhin seinen Geist beschäftigen könnten (vgl. Modiano 1997: 74). Seine Erinnerung an Doras Schicksal wurde, um einen Ausdruck zu verwenden, den Modiano in Chien de printemps gebraucht, in „Ruhezustand“ (hibernation) versetzt: „Il faut croire que parfois notre mémoire connaît un processus analogue à celui des photos Polaroïd“ (Modiano 1993: 17). In Chien de printemps lesen wir: „Si ces pages le sortent de l’oubli, j’en serai très heureux“ (ebd.: 18). Der Erzähler spricht hier von seinem eigenen Buch, das dazu beitragen soll, dass der Fotograf Francis Jansen nicht völlig in Vergessenheit gerät. Es geht darum, das Leben von Jansen aufzuzeichnen und durch ein öffentlich zugängiges Dokument eine Spur davon zu erhalten. Das Anliegen von Dora Bruder ist das gleiche, nämlich zumindest die Spur eines Schicksals vor der Vergessenheit zu bewahren. So schreibt der Erzähler in Bezug auf eine unbekannte Jüdin: „Si je n’étais pas là pour l’écrire, il n’y aurait plus aucune trac e de la présence de cette inconnue“ (Modiano 1997: 65). Laut Erzähler kommen das Schreiben und die Veröffentlichung von Dora Bruder der „Aussendung eines Hilferufes“ (Modiano 1997: 42) gleich. Es wird hier impliziert, dass jegliche Hinweise Doras Leben betreffend, die wir Leser geben könnten, verfolgt werden. Doch in Wirklichkeit ist Modianos Einstellung zu Doras Geschichte, und zum Schreiben von Geschichte, ambivalent, denn dem Wunsch, die Spuren der Toten, Verschwundenen und Vergessenen zu sammeln und zu bewahren, steht sein Gegenteil gegenüber, nämlich das Bedürfnis, bestimmte Momente in Schweigen zu hüllen. Folgendes Beispiel zeigt dies deutlich. Was der Fotograf Francis Jansen sucht, ist, wie der Erzähler berichtet, Schweigen. Jansen besäße sowohl im Rahmen seiner Kunst als auch im Leben jene Eigenschaft, „die so wertvoll ist und die man sich doch so schwer aneignen kann, nämlich die Fähigkeit zu schweigen“ (Modiano 1993: 20). Dagegen wäre das Schreiben für ihn „die Quadratur des Kreises“ (ebd.: 21). Im <?page no="72"?> Jutta Fortin 72 scheinbaren Gegensatz zum Erzähler, dem Schreiber (scribe), sorgt Francis Jansen dafür, seine eigenen Spuren zu löschen, bevor er verschwindet; seine Flucht ist eine absichtliche. Was das Thema der Flucht betrifft, das Modiano in vielen seiner Texten beschäftigt, so mutmaßt der Erzähler in Dora Bruder, dass der Tag ihrer Flucht für Dora ein Moment des Glücks sein musste, „einer von diesen milden und sonnigen Wintersonntagen, an denen man ein Gefühl von Ferien und Ewigkeit verspürt“ (Modiano 1997: 58). Die Flucht des Mädchens stellt einen Moment der Identifikation des Erzählers, der ausführlich auch von seiner eigenen Flucht im Jänner 1960 erzählt, mit Dora dar; er bezeichnet sie als „brutalen und absichtlichen Bruch mit der Disziplin, die man uns auferlegt“, und als „wahrscheinlich einen der wenigen Momente meines Lebens, in denen ich wirklich ich selbst war“ (ebd.: 77-78). Der Assoziation von Flucht und Ausreißen einerseits und dem Gefühl von Glück und Sich-selbst-Sein andererseits begegnen wir auch in Modianos Dans le café de la jeunesse perdue (vgl. Modiano 2007: 95). Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der Erzähler in Dora Bruder wiederholt den rebellischen Charakter und das Unabhängigkeitsstreben des Mädchens unterstreicht (vgl. Modiano 1997: 34, 38, 63); er betont außerdem, dass keinerlei Hinweis besteht, der ein Licht auf die vier Monate ihrer ersten Flucht werfen könnte, während derer sie spurlos verschwunden war (ebd.: 89). Wie Dora ist auch Modiano selbst ein Rebell. Wie der Schreiber in Chien de printemps, der sich Jansens „Tais-toi“ (Modiano 1993: 20) widersetzt, bricht auch Modiano das Schweigen, um zu schreiben. Das Buch Dora Bruder zeigt keine Fotografie des Mädchens; eine Vorgangsweise, die an Roland Barthes erinnert, der das für ihn wichtigste Foto, das Foto seiner Mutter, in seinem Buch über die Fotografie genauso wenig zeigt: „Je ne puis montrer la photo du Jardin d’Hiver, elle n’existe que pour moi“ (Barthes 1980: 139). In Dans le café de la jeunesse perdue hilft der Erzähler Jacqueline, ihre Spuren auf der Flucht vor ihrem Ehemann zu verwischen: „Quand j’aurais le sentiment de l’avoir entraîné sur de fausses pistes, je ne répondrais plus à ses appels. Jacqueline pouvait compter sur moi“ (Modiano 2007: 66). Mit Dora hütet Modiano das Geheimnis ihrer ersten Flucht, mit der der Text schließt: „C’est là son secret. Un pauvre et précieux secret que les bourreaux, les ordonnances, les autorités dites d’occupation, le Dépôt, les casernes, les camps, l’Histoire, le temps - tout ce qui vous souille et vous détruit - n’auront pas pu lui voler“ (Modiano 1997: 145). 3 Fazit Patrick Modiano geht es in seinen Texten nicht vorwiegend darum, ein historisch korrektes Bild der deutschen Besatzungszeit in Frankreich zu malen. Vielmehr beschäftigen ihn die Gefühle und Ansichten seiner Charaktere, die von der düsteren Atmosphäre dieser Jahre gezeichnet sind. Das Verständnis einer Epoche gründet sich auf die Begegnung mit einem Zeit- <?page no="73"?> Spur und Geschichtsschreibung nach dem Modell der Fotografie 73 zeugen: mit einem Menschen, einem Ding oder einem Ort, die unwiderruflich an diese Zeit gekoppelt sind. Paul Ricœur insistiert in Temps et récit III darauf, dass bestimmte Verbrechen niemals in Vergessenheit geraten dürfen; er stellt gleichzeitig klar, dass das Leid der Opfer weniger danach schreit, vergolten zu werden, als vielmehr danach schreit, kohärent erzählt zu werden (vgl. Ricœur 1985: 275). Die Literatur hat mit der Disziplin der Geschichte das Erzählen von Vergangenheit gemein. Auf die jeweils ihr eigene Art reagieren sowohl Literatur als auch Geschichte auf jene historischen Ereignisse, die nach „Erzählung schreien“. Im Anschluss an Paul Ricœur sprechen wir vom zweifachen Prozess der Vergeschichtlichung der Fiktion und Fiktionalisierung der Geschichte, um die Tatsache zu benennen, dass die Grenzen zwischen Literatur und Geschichte nicht immer eindeutig sind. Literaturverzeichnis Marie-Frédérique Bacqué, Le Deuil à vivre, Paris 1992. Roland Barthes, La Chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. Pierre Bayard, Les éléphants sont-ils allégoriques? A propos des Racines du ciel de Romain Gary, in: Ecrire l’extrême. La littérature et l’art face aux crimes de masse, Europe 926/ 2006, 34-47. Pierre-Marie Beaude, L’historien et les traces du passé, in: Pierre-Marie Beaude, Jacques Fantino und Marie-Anne Vannier (Hrsg.), La Trace. Entre absence et présence, Paris 2004, 303-320. Jean Cayrol, D’un romanesque concentrationnaire, in: Esprit 159/ 1949, 340-357. Jean Cayrol, Lazare parmi nous, in: Œuvre lazaréenne, Paris 1997, 757-823. Jean Cayrol, Pour un romanesque lazaréen, in: Lazare parmi nous, Neuchâtel, Paris 1950, 69-106. Michel de Certeau, L’Ecriture de l’histoire, Paris 1975. Jacques Derrida, Mal d’archive, Paris 1995. Carlo Ginzburg, Mythes, emblèmes, traces. Morphologie et histoire, Paris 1993. Christine Jérusalem, A fleur de ruine. Etude de la trace dans l’œuvre de Patrick Modiano, in: Pierre-Marie Beaude, Jacques Fantino und Marie-Anne Vannier (Hrsg.), La Trace. Entre absence et présence, Paris 2004, 101-120. Primo Levi, Le Trou noir d’Auschwitz, in: La Stampa 22.01.1987. Patrick Modiano, Avec Klarsfeld contre l’oubli, in: Libération 02.11.1994. Patrick Modiano, Chien de printemps, Paris 1993. Patrick Modiano, Dora Bruder, Paris 1997. Patrick Modiano, La Place de l’Etoile, Paris 1968. Patrick Modiano, Dans le café de la jeunesse perdue, Paris 2007. Patrick Modiano, Rue des boutiques obscures, Paris 1982. Patrick Modiano, Voyage de noces, Paris 1990. Georges Perec, La Disparition, Paris 1969. Jean-Louis de Rambures, Comment travaillent les écrivains, Paris 1978. Paul Ricœur, La Mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000. Paul Ricœur, Temps et récit III, Paris 1985. Michel Tournier, Le Roi des Aulnes, Paris 1970. <?page no="75"?> Gesine Hindemith Die Filme von Alain Resnais. Audiovisuelle Zeitorganisation medialer Geschichtsschreibung Si on faisait une cartographie de l’imaginaire on s’apercevrait peut-être que tous les auteurs, occidentaux en tout cas, marchaient sur les mêmes terres. (Alain Resnais nach Rudolph 2007: 72) Dieses Zitat von Alain Resnais führt direkt in das Zentrum seines filmischen Schaffens, das sich bis heute um die Erforschung des kollektiven Imaginären, der Erinnerung und letztlich, wie der Beitrag versuchen wird zu zeigen, um das Phänomen Geschichtlichkeit dreht. Im Zentrum meiner Überlegungen steht dabei die Frage, inwiefern die Werke von Alain Resnais als Formen filmischer Geschichtsschreibung betrachtet werden können und in welcher Weise das Medium Film durch sein audiovisuelles Potential zu neuen Formen narrativer Zeitkonfigurationen gelangt. Paul Ricœurs Theorie zur Differenz von Historiographie und Fiktionserzählung soll hier als Ausgangspunkt einiger Reflexionen dienen, die sich mit der Situierung des Films in dieser Differenz beschäftigen. Ob sich die von Ricœur beschriebenen narrativen Kategorien von Geschichtsschreibung und Fiktion ohne Weiteres auf filmische Zeitkonfigurationen übertragen lassen, scheint fraglich; vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Film durch seine spezifische Medialität zwingend andere Formen der Zeitorganisation entwickelt, die in seiner audiovisuellen Beschaffenheit begründet liegen. Im Mittelpunkt der Betrachtungen soll der sehr spezifisch filmische Erzählstil Alain Resnais’ stehen, der äußerst variantenreich Montagemethoden zur Behandlung der von ihm gewählten narrativen Materie entwickelt (Ropars/ Bailblé/ Marie 1974: 13). 1 Hierzu sollen zwei - in ihrer narrativen Anlage sehr unterschiedliche Filme - untersucht werden, die sich im Schaffen von Alain Resnais im Umbruch von seiner Arbeit als ‚Dokumentarfilmer‘ zum Filmautor abend- 1 Vgl. zum Begriff der matière narrative die Analyse von Marie-Claire Ropars (Ropars/ Bailblé/ Marie 1974: 11-32). Die narrative Materie bildet hier den Ausgangspunkt der Filmanalyse auf einem ersten Niveau, das sich mit den vom Film direkt wahrnehmbar kommunizierten Informationen beschäftigt, die zur Ausbildung eines narrativen Schemas beitragen. „[...] l’étude de la matière narrative engage deux types de questions. Le premier est de l’ordre du recensement: que se passe-t-il dans le film? Que nous apprennent les chaînes visuelles et verbales sur l’existence éventuelle d’une histoire et sur son déroulement? L’autre s’attache à la distribution: si cette histoire met en œuvre des épisodes repérables, des personnages et des lieux identifiables, y a-t-il des relations remarquables entre ces différents réseaux? Quel est alors le sens de cette configuration? “ (ebd.: 13). <?page no="76"?> Gesine Hindemith 76 füllender Spielfilme ansiedelt. Nuit et brouillard von 1955 wird vor allem im Hinblick auf seine hybride Struktur analysiert, die auf einer virtuosen Montage von Archivmaterial, Zeitdokumenten und neuen Filmaufnahmen basiert und die sich letztlich in keinem Filmgenre verorten lässt. Muriel ou Le Temps d’un retour (1963) ist der letzte Film einer Trilogie, zu der auch die beiden Vorgängerfilme Hiroshima mon amour (1959) und L’Année dernière à Marienbad (1961) gehören. Sie alle kreisen um das thematische Spektrum einer Suche nach einer unnennbaren Vergangenheit. Muriel soll als Beispiel einer fiktiven Filmerzählung behandelt werden, in deren Kern die Phänomene Geschichtlichkeit, Erinnerung und Erzählung von Geschichte zum Ausgangspunkt der narrativen Struktur werden. 1 Nuit et brouillard Truffaut kommentiert im Jahr 1955 Resnais’ Kurzfilm Nuit et brouillard (1955) folgendermaßen: „Es ist nahezu unmöglich, über diesen Film in der Sprache der Filmkritik zu reden. Er ist weder Dokumentation noch eine Anklage, auch kein Gedicht, sondern eine Meditation über das wichtigste Phänomen des 20. Jahrhunderts“ (Truffaut 1997: 407). Diese kurze Charakterisierung Truffauts verweist bereits auf den hybriden Status des Films, der sich in keinem Genre verorten lässt und sich gerade durch seine komplexe Form auszeichnet. Am ehesten kann seine Struktur als formale Untersuchung bezeichnet werden. Der Ton, den Resnais in Nuit et brouillard anschlägt, hatte 1955 den Nerv der Zeit getroffen und zog eine öffentliche Diskussion um seine Teilnahme am Wettbewerb in Cannes nach sich, die damit endete, dass der Film nicht, wie zunächst von der deutschen Botschaft gewünscht, ganz vom Festivalprogramm verschwand, aber am Ende doch „hors compétition“ lief. Nuit et brouillard ist vor allem eine Annäherung an die Problematik der Nicht-Darstellbarkeit der Geschichte. Was die Film-Form betrifft, so könnte man sagen, dass es sich unter mehreren Aspekten um einen Film-Essay handelt, der mit dem Mittel der Ausstellung seiner Konstruiertheit in der Montage neue Formen der Narration ermöglicht. Nuit et brouillard bezieht seinen offensichtlich hybriden Status aus der Kombination dokumentarischer Elemente, einem Kommentar aus dem Off, der eine Art Erzählung über die Bilder legt, und der Gegenüberstellung von aktuellen Bildern und solchen, die aus Archiven stammen. Der Film erhält seine Wirkung aus einer schwierigen Konstellation, die durchaus Anleihen aus der Historiographie übernimmt, jedoch keine Rekonstruktion der Vergangenheit zum Ziel hat. Neben den tiefen Zweifel an der Rechtschaffenheit der filmischen Bilder tritt dennoch unfehlbar auch der Verweis auf ihre Geschichtlichkeit, die ihnen inhärent zu sein scheint. Nuit et brouillard ist trotz seiner essayhaften Konstruiertheit ein Versuch, eine ‚Wahrheit’ in den Spuren der so genannten Geschichte zu finden. Worin diese Wahrheit besteht und ob sie sich in den <?page no="77"?> Die Filme von Alain Resnais 77 Kategorien wahr und falsch messen lassen kann, steht hier im Zentrum der Fragestellung. Es ist aber vor allem auch der Versuch, diese Wahrheit mit anderen Zeitschichten zu konfrontieren, um sichtbar zu machen, wie sich das Substrat des Begriffs „Geschichte“ im kollektiven Gedächtnis verschieben und entemotionalisieren kann. Wie dies in der formalen Anlage des Films umgesetzt wird, soll im Folgenden gezeigt werden. Nuit et brouillard ist eine Auftragsarbeit, die Resnais für das Comité d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale anfertigte und die auf einer quasi historischen Vorlage einer Veröffentlichung von Zeugenberichten basiert. Struktur und Aufbau des Films folgen dieser Veröffentlichung in ihrer chronologischen Struktur, von den Konvois bis zur Befreiung und auch in den Beschreibungen des Lebens in den Konzentrationslagern. Der Film enthält also durchaus einen Plot, der gerahmt und durchzogen ist von den geschichtlichen Daten und Ereignissen. Dennoch erhält er durch seine kontrapunktische formale Anlage zusätzliche Zeitdimensionen, die die Grundlage seiner sehr spezifischen Wirkung ausmachen. Auffällig ist vor allem die durchgehende Konfrontation von Gegensätzen in der Montage. Resnais setzt das schwarz-weiß gefilmte Archivmaterial gegen neue Farbaufnahmen der Lagerstätten, stellt also die Vergangenheit in einen Bezug zur Gegenwart und umgekehrt. Die Bilder werden auf der auditiven Ebene mit der Musik von Hanns Eisler neu dimensioniert. Erreicht wird durch diese Ästhetik der Differenz jene von Truffaut festgestellte „ruhige Strenge im Ton der grausamen Sanftheit“, die diesen Film seiner Ansicht nach zu einem undiskutier- und unkritisierbaren Werk macht. Resnais nimmt dem Filmmaterial die makabre Theatralik und das schrecklich Pittoreske, um den Zuschauer zu zwingen, nicht mit den Nerven, sondern mit dem Kopf zu reagieren. Schlüsselpunkt dieser Ästhetik ist vor allem der Kommentar zu den Bildern aus dem Off von Jean Cayrol. Resnais hatte Michel Bouquet, den Sprecher des Kommentars, dazu angehalten, möglichst neutral und nicht deklamatorisch zu sprechen. Dieser bruchstückhafte Kommentar, der durchaus keinen dokumentarischen, sondern vielmehr einen poetischen Charakter hat, oszilliert zwischen dem Sprechen, der Erzählung der Geschichte und der Sprachlosigkeit, die diesem Versuch immer inhärent ist. Das Versagen der Sprache gegenüber den Fakten der Geschichte ist das zentrale Thema des Kommentars, und trotzdem ist Nuit et brouillard als Filmessay ein Versuch, die „Geschichte“ zu erzählen. Indem Resnais zeigt, wie das Gras über die Konzentrationslager wächst und die Schrecken unter hellem Sonnenlicht scheinbar verschwinden, zeigt er auch, wie Bilder unter anderen Bildern zerfallen und sich die Erzählung von Geschichte in diesen Eindrücken immer wieder verändert. Der Kunstgriff von Nuit et brouillard besteht gerade darin, das Misstrauen gegen die Möglichkeit der Repräsentation im Filmbild und dem im Kommentar beständigen Hinweis darauf, dass über das Gezeigte nicht gesprochen werden kann, dem dokumentarischen Zeugnischarakter der Bilder zugrunde zu legen. Resnais’ Film verdankt seine eindrucksvolle Wirkung vor allem der <?page no="78"?> Gesine Hindemith 78 Präsenz, die die Bilder der Vergangenheit erhalten, indem die historischen Ereignisse mit der Gegenwart des filmischen Bildes - das sich wiederum aus den Differenzkategorien herauskristallisiert - konfrontiert werden. Nuit et brouillard ist kein hermetischer Film mit einer Erzählung im konventionellen Sinn. Seine ausgestellte Codegebundenheit, die in der auf Kontrasten und Differenz beruhenden Montagetechnik gründet, impliziert, dass das auf der Leinwand wahrgenommene niemals das „wirkliche“ Objekt ist, sondern eben nur sein Schatten in einer neuen Art von Spiegel, wie es Christian Metz formuliert (Metz 1993: 9f). Die Frage, ob eine Repräsentation der historischen Realität überhaupt möglich ist, wird in Nuit et brouillard zum Motor des Films. Seine formale Struktur verweist beständig darauf, dass dieser Film weder die historische Realität des deutschen Nationalsozialismus noch seine Repräsentation ist, sondern eben ein Diskurs über diese Realität, der allein durch sein mediales Erscheinen seine Differenz zur Präsenz und damit zur Realität ausdrückt und dessen Gegenstand der erinnerte, d.h. der imaginäre Faschismus ist (vgl. Jutz 1991: 79). Genau an dieser Stelle greift Ricœurs Theorie der Differenz von historischer Erzählung und fiktiver Erzählung nicht mehr, wenn sie auch für den Film gelten soll. Denn in Nuit et brouillard wird deutlich, dass dem Begriff der Geschichte nicht die Kategorien ‚wahr’ und ‚falsch’ zugrunde liegen, sondern dass sich dieser Begriff vielmehr jenen Kategorien entziehen muss. Denn, wie Hayden White es formuliert: „Die Erzählung ist gleichzeitig eine Diskursmodalität, eine Sprechweise und das durch den Einsatz dieser Diskursmodalität erzeugte Produkt. [...] Die Tatsache, dass die Erzählung eine ‚historischen‘ wie ‚nichthistorischen‘ Kulturen gemeinsame Diskursform ist und im mythischen wie im fiktionalen Diskurs überwiegt, macht sie als Form des Sprechens über ‚reale‘ Ereignisse verdächtig“ (White 1987: 96). Die Vorstellung von dem, was ein ‚reales‘ Ereignis ist, ist nicht von der Unterscheidung ‚wahr‘ und ‚falsch‘ abhängig, denn diese Unterscheidung gehört zur Ordnung der Diskurse und nicht zur Ordnung der Ereignisse. Resnais führt in seinen Filmen vor, dass es vielmehr die Unterscheidung von ‚real‘ und ‚imaginär‘ ist, die die Einordnung von Ereignissen bestimmt. So steht für Resnais immer die Frage nach dem kollektiven Imaginären im Mittelpunkt seiner Erkundung der Geschichtlichkeit innerhalb der Erzählung. Denn wie sonst ließe sich die Vergangenheit, die per definitionem aus nicht mehr als wahrnehmbar geltenden Ereignissen, Prozessen und Strukturen besteht, im Bewusstsein oder auch im Diskurs darstellen, wenn nicht durch die Imagination? So stellt Resnais letztlich die gleiche Frage wie White: „Impliziert nicht das Problem der Erzählung immer auch die Frage nach der Funktion der Imagination für die Hervorbringung einer spezifischen menschlichen Wahrheit? “ (White 1987: 96). Inwieweit sich Nuit et brouillard thematisch und ästhetisch als Schlüssel zu den nachfolgenden fiktiven Filmerzählungen erweist, soll im Folgenden am Beispiel von Muriel ou Le Temps d’un retour gezeigt werden. <?page no="79"?> Die Filme von Alain Resnais 79 2 Muriel ou Le Temps d’un retour Der Film Muriel ou Le Temps d’un retour (1963) führt das für Resnais immer im Mittelpunkt stehende Thema der Suche nach einer unnennbaren Vergangenheit im Spielfilmgenre fort. Schon die beiden vorherigen Filme Hiroshima mon amour (1959) und L’Année dernière à Marienbad (1961) verarbeiten diese Thematik als narrativ-ästhetische Formenexperimente. Muriel ist der Versuch, den konkret politischen Aspekt von Hiroshima mon amour und das Abstrakte von Marienbad zu einer Synthese zu führen. Geht es im ersten Film um die Gegenüberstellung zweier Vergangenheiten - Hiroshima und Nevers -, die nicht miteinander verbunden sind, und um den scheiternden Versuch, die Gefühlssubstanz der beiden Protagonisten aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberzuholen, so handelt es sich in Marienbad um eine andere Version des gleichen Themas. Hier ist der Hintergrund jedoch kein konkreter, sondern ein bewusst theatralisch statischer, vor dem sich abstrakte Personen abzeichnen, denen ein sicheres Bewusstsein, eine Erinnerung oder Vergangenheit, verweigert ist. So kann Marienbad im Grunde als eine formale Umkehrung der Idee von Hiroshima betrachtet werden, dennoch ist in beiden Filmen die Vergangenheit eine Phantasievariante der Gegenwart. In Muriel wird nun beides vereint: Es ist eine Auseinandersetzung mit konkreten politischen Problemen - dem Algerienkrieg, der OAS und dem Rassismus der Colons - und zugleich der Versuch, ein abstraktes Drama zu entwerfen. Auch in Muriel geht es um eine Konstellation von Menschen, die von ihrer Erinnerung verfolgt werden. Hélène Aughain (Delphine Seyrig), eine Witwe um die vierzig, die in der Provinzstadt Boulogne lebt, fordert einen ehemaligen Liebhaber auf, sie zu besuchen. Ihre letzte Begegnung liegt zwanzig Jahre zurück. Das Motiv dieser Kontaktaufnahme bleibt, wie so viele Handlungsmotive im Film, ungenannt; es entsteht der Eindruck eines vollkommen willkürlichen Aktes. Hélène betreibt von ihrer Wohnung aus ein unsicheres Geschäft mit antiken Möbeln und ist dem Glückspiel verfallen, sie ist hochverschuldet. Bei ihr wohnt ihr verschlossener Stiefsohn Bernard. Dieser Bernard, ebenfalls ein Erinnerungsbesessener, ist vor kurzem vom Militärdienst in Algerien zurückgekehrt. Es ist ihm unmöglich, seine Teilnahme an einem Verbrechen zu vergessen: an der Folterung einer algerischen politischen Gefangenen namens Muriel. Unfähig zu arbeiten, ist er von einer quälenden Unruhe beherrscht und sucht dokumentarische Beweise für den Fall Muriel. Unter dem Vorwand, eine - nicht existierende - Verlobte in der Stadt besuchen zu wollen (der er den Namen Muriel gegeben hat), flieht er häufig aus der Wohnung seiner Stiefmutter, in der jedes Möbelstück ein Zeitfragment einer schönen und verkäuflichen Vergangenheit zu sein scheint, und zieht sich in ein Zimmer in den Ruinen der alten, während des Zweiten Weltkriegs zerbombten Familienwohnung zurück. <?page no="80"?> Gesine Hindemith 80 Der Film beginnt mit der Ankunft von Hélènes ehemaligem Liebhaber Alphonse, der mit seiner Geliebten Françoise, die er als seine Nichte ausgibt, aus Paris angereist ist. Er schließt einige Monate später, nachdem die glücklose Wiedervereinigung von Hélène und Alphonse zu ihrem Ende gekommen ist. Alphonse und Françoise, deren Verhältnis untereinander durch eine wachsende Verbitterung untergraben wird, fahren nach Paris zurück. Bernard nimmt Abschied von seiner Stiefmutter, nachdem er den Jugendfreund erschossen hat, der für die Folterung Muriels verantwortlich war und später zum zivilen Mitglied der OAS-Untergrundbewegung in Frankreich wurde. Soweit das Handlungsgerüst von Muriel. Es zeugt im Gegensatz zu Hiroshima und Marienbad von einer stringenten Handlungsentwicklung mit komplexen Wechselbeziehungen. Trotz der Komplexität der Konstellationen hinterlässt der Film einen markanten Eindruck von Banalität. Resnais vermeidet geradezu die direkte Darstellung des Inhalts. Er zeigt beispielsweise Ketten von kurzen Szenen, die von einem gleichbleibenden emotionalen Akzent auf bestimmte undramatische Augenblicke im Leben der vier Protagonisten geprägt sind. Einen thematischen Schwerpunkt nehmen dabei die Filmsequenzen ein, die sich mit den gemeinsamen Mahlzeiten beschäftigen. Diese zeigen zum einen den Austausch purer Banalitäten, und erhalten zum anderen durch ihre Konzentration auf eine bestimmte lexikalische Kategorie, wie z.B. die Nahrung, verschiedene symbolische Ebenen. Die Überpräsenz des Sujets ‚Nahrung‘ in Muriel wirkt vor allem in seiner Verbindung mit anderen semantischen Ebenen wie der Vergangenheit und dem Vergessen. So erinnern sich Hélène und Alphonse anhand ihrer Essgewohnheiten an die gemeinsam verbrachte Ferienzeit im Folkestone Hôtel, diese Erinnerungsschicht wird erst durch die Verbindung Nahrung - Erinnerung hergestellt (Ropars/ Marie/ Bailblé 1974). 2 Die Metaphern aus dem Nahrungsbereich figurieren so auf einer Metaebene, die sich mit den so eindrücklichen Gefühlskomplexen des Films wie Angst, Zerstörung, Vergessen und Gewalt kurzschließt. Dieser so banale Zugriff auf die emotional existentiellen Kategorien durch den Metadiskurs der Nahrung führt zu einer regelrechten Degradation der Figuren. Resnais zeichnet hier ein ganzes Universum von psychologischen Banalitäten und purer Mittelmäßigkeit. 3 Der Kunstgriff Resnais’ liegt nun vor allem in der Komplexität der Konfiguration seines filmischen Erzählstils. Diese im Normalfall leicht direkt darstellbare Geschichte wird von ihm mit verschiedenen filmischen Verfremdungseffekten belegt. Er schneidet sie sozusagen „gegen den Strich“ (Sontag 2003: 258). Eine komplexe Geschichte dient als Grundlage ihrer bewussten Verunklärung. Es scheint sich im Verlauf des Films eine Art 2 Vgl. die detaillierte Analyse von Michel Marie in ebd.: 101-105. 3 In den Cahiers du Cinéma (1963: 20-34) diskutiert eine Gruppe von Filmkritikern eingehend über die Bedeutung dieser offensichtlichen Banalität. <?page no="81"?> Die Filme von Alain Resnais 81 abstrakter Text herauszubilden und über den Film zu legen. Wichtigstes Element dieser Textur ist, wie später noch gezeigt werden soll, die Musik. Betrachtet man die Narration in Muriel mit Ricœurs Definition der Erzählung, so wird der Angelpunkt für die Virtuosität der zeitlichen Struktur deutlich. Jede Erzählung kombiniert nach Ricœur zwei Dimensionen in unterschiedlichen Proportionen, die eine ist chronologisch, die andere nichtchronologisch. Erstere kann als die episodische Dimension bezeichnet werden; sie charakterisiert die aus Ereignissen zusammengesetzte Geschichte. Die zweite ist die Dimension der Konfiguration, aufgrund derer dem Plot aus versprengten Ereignissen nun die Funktion zukommen müsste, das signifikante Ganze zu konstruieren (White 1987: 87). Ob sich dies auf Muriel übertragen lässt, soll im Weiteren untersucht werden. Wie auch in Nuit et brouillard konfrontiert Resnais mit markanten Mitteln unterschiedliche Zeitschichten in seinen Bildern. So werden gleich zu Beginn des Films, nachdem Hélène ihre Gäste vom Bahnhof abgeholt hat, auf dem nächtlichen Heimweg immer wieder Tagaufnahmen von Boulogne eingeblendet, die eine zerstörte und unzusammenhängend wieder aufgebaute Stadt zeigen. Bilder, die sich im weiteren Verlauf des Films auch als symptomatisch für die handelnden Personen erweisen. Interessant für die Analyse von Muriel ist an dieser Stelle die zweite Dimension, eben die der Konfiguration, die in Muriel einen konkret an Zeitlichkeit gebundenen Aspekt ausmacht. Denn neben der durchaus linearen Handlung, dem chronologischen Verlauf der Ereignisse, erhält der Film durch eine sehr spezifische Konfiguration der Erinnerungsebenen eine mentale Kartographie. Resnais entwirft in Muriel durch die Entwicklung koexistenter Vergangenheitsschichten eine äußerst komplexe Architektur des Gedächtnisses. Zugrunde liegen, wie in Hiroshima, zwei Gedächtnisse - Boulogne und Algerien. Jedes Gedächtnis umfasst jedoch mehrere Vergangenheitsschichten oder Regionen, die auf verschiedene Personen verweisen: Drei Ebenen betreffen beispielsweise den Brief aus Boulogne, zwei beziehen sich auf den Algerienkrieg. Diese komplexe Verschränkung lässt, wie Deleuze es formuliert, ein Welt-Gedächtnis entstehen, das auf mehrere Ebenen aufgeteilt ist. Diese Ebenen widersprechen sich, denunzieren und bekämpfen einander gegenseitig (vgl. Deleuze 1997: 157). Die besondere Leistung des von Resnais entworfenen Gedächtnisses liegt vor allem darin, dass es die Voraussetzungen der Psychologie überschreitet und so erst zum Welt-Gedächtnis wird. Dieser Leistung liegen verschiedene filmische Montageverfahren zugrunde, die im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen sollen. Konstitutiv für die Muriel eigenen Verfremdungseffekte ist eine Verknüpfung der Kategorien Gefühl und Erinnerung. Die Methode Resnais’ vollzieht sich in zwei Schritten: Aus der realistischen Handlung eines Spielfilms wird in Muriel eine Analyse der Gefühlsformationen (vgl. Sontag 2003: 259). Diese formalen Konstellationen des Gefühls bleiben wiederum an die <?page no="82"?> Gesine Hindemith 82 verschiedenen Erinnerungsebenen gebunden und ergeben somit letztlich eine mentale Kartographie innerer Zeitlichkeit. Dem linearen Verlauf der Ereignisse, der besonders zu Beginn sehr stringent zu sein scheint, ist eine konträre Entwicklung in der Schnitttechnik entgegengesetzt. Resnais sorgt für eine zunehmende visuelle Desorientierung, die Handlung lässt sich weiterhin ohne große Mühe verfolgen, der Betrachter wird durch eine sehr eigene Erzähltechnik jedoch immer weiter in Distanz gebracht. Die Bildwechsel folgen einem schnellen Rhythmus, die Szenen sind bewusst fragmentarisch und dezentral angelegt (vgl. Sontag 2003: 259). Daraus entsteht eine Bewegung, die sich zu verstärken und zu beschleunigen scheint. Die Erzählung schreitet linear voran, die Szenen jedoch werden zunehmend diskontinuierlich und mit Ellipsen versehen aneinandergereiht. Im Gegensatz zu Marienbad, wo dem labyrinthischen Ganzen immer ein Zentrum implizit war, geht die Bewegung in Muriel genau umgekehrt vor. Räumlich gesehen bewegen sich die Protagonisten vom Zentrum der Wohnung Hélènes weg. Dieses instabile Universum, durch den ständigen Verkauf der provisorischen Inneneinrichtung geprägt, bricht am Ende des Films als Zentrum zusammen. Resnais arbeitet auf den Ebenen Sprache und Bild mit einer metonymischen Struktur der Verschiebung, einem Entzug des Sinns, die weitreichende Konsequenzen für das Verstehen des eigentlich so einfachen Plots hat. Über den Bildwechseln liegt die Sprache als verbindendes Element der Erzählung. Das Gesprochene scheint nicht der Handlung zu entwachsen, vielmehr findet sich in der Sprache die Tendenz, zur Handlung zu werden. Das, was gesagt wird, ist jedoch von einer evidenten Aussagelosigkeit geprägt. Die Worte der Filmfiguren evozieren keine Gefühle beim Betrachter, alles verharrt in einer deprimierenden Banalität und Mittelmäßigkeit. Das Gesprochene in Muriel verweist auf das, was dahinter liegt: das Unsagbare, dessen Zwillingsbegriff, wie Susan Sontag (2003: 261) anmerkt, die Banalität ist. So sagt Hélène an einer Stelle zu Alphonse: „Unsere Geschichte ist im Grunde eine banale Geschichte.“ Und Bernard, der seine quälenden Erinnerungen einem Fremden anvertrauen will, bemerkt dazu: „Die Geschichte von Muriel lässt sich nicht erzählen.“ Und dennoch versucht gerade Bernard eine Dokumentation der Geschichte Muriels. Er ist Filmemacher und immerzu auf der Suche nach „Beweisen“ für den Fall Muriel. So steht als mise en abyme im Film die Konstruktion einer quasi ‚historischen‘ Erzählung, das Aufrollen eines politischen Verbrechens. Die Spuren, nach denen Bernard sucht, finden sich in Tonband- und Filmaufnahmen, deren poröser Charakter als durchgängiges Thema im gesamten Film präsent ist. Diese Dokumentationstechniken und ihre Verwendung durch Bernard verweisen immer wieder auf das Problem filmischer Geschichtserzählung auch im Medium Fernsehen. So wird der filmende Bernard von einem beobachtenden Passanten auf der Straße denn auch gefragt, ob er dieses Material für eine Fernsehdokumentation drehe. Bernards dokumentarische Sammelleidenschaft wendet sich indessen gegen <?page no="83"?> Die Filme von Alain Resnais 83 die Praktiken konventioneller Kino- oder Fernsehdokumentation, die durch ihre spezifischen Kodierungen zu einer Verkennung der Realität führen, die sie vielmehr falsifizieren als repräsentieren und eben nicht mit den Mitteln der Transparenz reflektieren. Es ist die Figur Bernards, wie Marie-Claire Ropars anmerkt, durch die hindurch der Filmautor Resnais operiert und sein Geschichtsverständnis in den Film transferiert (Ropars/ Bailblé/ Marie 1974: 314). Die Wahrheit zeigt sich nicht, sie wird demontiert. Resnais’ Montagemethode in Muriel weist deutliche Referenzen zu seinem ‚Dokumentarfilm‘ Nuit et brouillard und dessen Geschichtsverständnis auf. Die für den Filmdiskurs konstitutiven Materialien werden zunächst ausgestellt und in ihrem Rohzustand präsentiert, bevor sie bearbeitet und zusammengestellt werden. Immer verbunden mit den einzelnen Materialvorführungen Bernards, die meist unfreiwillig verlaufen - Françoise spielt z.B. ein Tonband ab, ohne zu fragen; Hélène dringt in seine Werkstatt ein und möchte eine Filmaufnahme sehen - ist eine anschließende Zerstörung: die Tonbandaufnahme wird gelöscht und das Diapositiv scheint zu verbrennen als Hélène den Projektor berührt. Zum Schlüsselpunkt des Films werden letztendlich aber weder die visuelle Bilderfolge noch Sprache oder Dialoge. Es ist die Filmmusik von Hans-Werner Henze für Stimme und Orchester, der die zentrale strukturelle Bedeutung in der Narration von Muriel zukommt. Die Musik wird von Resnais immer in der Tendenz eingesetzt, die Sprache zu verdrängen oder auch auszulöschen. Sie führt die in den Dialogen begonnenen thematischen Ebenen der Vergangenheitsreflexion fort und abstrahiert sie, indem sie die Sprache verschwinden lässt. Die Musik bildet ein Netz aus thematischen Korrespondenzen zwischen jeder Intervention in einem Dialog. Die Verbindungen weisen eine doppelte Zeitkodierung auf: Sie betreffen einmal die Vergangenheit Hélènes, und damit die Zeitspanne von 1939 bis 1945, sowie die Zerstörung Boulognes und die Figur Muriel, die mit der algerischen Vergangenheitserfahrung Bernards verbunden ist. Diese Überblendung der Dialoge durch die hoch emotional gestaltete Musik versetzt den Rezipienten, neben der visuelle Fragmentierung, auch auf der emotional direkt zugänglichen Ebene der Musik in den filmerzählerischen Prozess einer fortwährenden Irritation. So weicht die Banalität der Sprache, die sich als unzulänglich erweist, die Emotionen der Protagonisten zu transportieren, dem Abstraktum der Musik. Genau an dieser Stelle findet die Überschreitung des individuellen Gedächtnisses zum Welt- und Epochengedächtnis statt. In der musikalischen Abstraktion der Gefühle werden die Zeitebenen zu einer mentalen und zeitlichen Kartographie vernetzt. So lässt sich mit Ricœur durchaus auch in Muriel der Plot als die Schnittstelle von Zeitlichkeit und Narrativität betrachten. Resnais geht aber im audiovisuellen Medium Film noch einen Schritt weiter und stellt die Zeitlichkeit in den von mir aufgezeigten Schritten von der realistischen Handlung über die Analyse der Formen des Gefühls bis zu deren Abstraktion in der Musik her. Auch Resnais geht wie Ricœur davon aus, dass <?page no="84"?> Gesine Hindemith 84 ‚Geschichtlichkeit‘ ein strukturaler Modus oder eine strukturale Ebene der Zeitlichkeit selbst ist, und er verwendet in seinem Bildmaterial häufig eine Art historischer Spurensuche. Da sind die Straßenschilder, die auf den Krieg verweisen, die Möbel in Hélènes Wohnung - die verkäufliche Geschichte - und schließlich der Versuch Bernards, ein Kriegsereignis zu erzählen. Dieser Versuch der Rekonstruktion eines Kriegsverbrechens muss jedoch scheitern, er scheitert wie in Nuit et brouillard am Sprechen über die Geschichte und am Filmmaterial, das sich seiner historisch-rekonstruierenden Funktion widersetzt, indem es porös und lichtempfindlich ist und sich selbst zerstört, oder wie die Tonbandaufnahmen einfach gelöscht werden kann. In Muriel werden die Geschichten immer wieder neu erzählt, die Wahrheit zerfällt unter den unzähligen Versuchen sie zu rekonstruieren. Es ist der ganze Komplex audiovisueller Narrativität, die thematisch wie strukturell von der Innerzeitigkeit zur Geschichtlichkeit zurückführt, vom ‚Rechnen der Zeit’ zur ‚Erinnerung’. Dennoch fehlt dieser Filmerzählung die Möglichkeit für den Rezipienten im Akt des Lesens, ausgehend vom Plot, ein Verstehen der Handlung zu erlangen. Denn in Muriel ist nicht mehr der Plot die Grundlage, auf der ein Verstehen der menschlichen Handlung basiert. Kausalität und Wahrheit werden aufgehoben, zurück bleibt, wie in Nuit et brouillard, die Erinnerung als Gegenstand der Imagination. Schon mit dem Namen Muriel wird im Filmtitel die Leerstelle vorweggenommen, um die der Film unaufhörlich kreist. Muriel ist das Zentrum der Problematik, aber Muriel ist abwesend, sie existiert nur in verschiedenen Erinnerungsebenen und der Vorstellung Hélènes. So ist das Werk Alain Resnais’ letztlich gekennzeichnet von der inneren Problematik des ‚Nicht-über-Geschichte-sprechen-Könnens‘ - weder über die individuelle noch über die historische - und dennoch ist es ein permanentes Sprechen über die Geschichte, nicht als Versuch einer Rekonstruktion, sondern als Versuch, eine imaginäre Kartographie herzustellen, bestehend aus veränderlichen Erinnerungsschichten, die sich in immer neuen Konstellationen zusammenschließen. Literaturverzeichnis Cahiers du cinéma 149/ 1963, 20-34. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1997. Gabriele Jutz, Geschichte im Kino. Eine Semio-Historie des französischen Films: Rohmer, Resnais, Godard, Allio, Münster 1991. Christian Metz, Le Signifiant imaginaire, Paris 1993. Paul Ricœur, Temps et récit I, Paris 1983. Marie-Claire Ropars/ Claude Bailblé/ Michel Marie (Hrsg.), Muriel. Histoire d’une recherche, Paris 1974. Sophie Rudolph, Kartographie des Imaginären. Zur Wahrnehmungswelt der Filme von Alain Resnais, in: medien - zeit - zeichen. Dokumentation des 19. Film- und Fernsehkolloquiums 2006, Marburg 2007, 70-76. <?page no="85"?> Die Filme von Alain Resnais 85 Susan Sontag, Muriel, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a. M. 2003. François Truffaut, Die Filme meines Lebens, Frankfurt a.M. 1997. Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie, in: Pietro Rossi (Hrsg.),Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987, 57- 106. Marcel Oms, Alain Resnais, Paris 1988. <?page no="87"?> Marina Ortrud M. Hertrampf Ricœur und die Theorie der Photographie. Literarische und photographische Zeitdarstellung in Christian Garcins J’ai grandi (2006) Literarische wie wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Themen Zeit und Erinnerung erlebten in den letzten Jahren einen beispiellosen Aufschwung. Auch Paul Ricœur widmet sich nach seiner einflussreichen Schrift Temps et récit in seinem letzten Großwerk dem Gedächtnis und Vergessen, den beiden Zeit-Kategorien zwischen der präfigurierten Erfahrungswelt und der durch den Erzählakt refigurierten Zeit der Literatur als Möglichkeit der sinnstiftenden Neubeschreibung von Wirklichkeit. 1 Im Rahmen seiner Hermeneutik menschlicher Zeiterfahrung ist die narrative Zeit immer an die Anpassung menschlicher Handlungen festgelegt, denn durch die erzählerische Komposition heterogener Momente zu einer Handlung wird eine Einheit an sich dissonanter Momente erzeugt, die die menschliche Zeit überhaupt erst konstituiert. Wie Jochen Mecke (1990) überzeugend dargelegt hat, ist dieser anthropozentrisch konzipierte Zeitbegriff in Bezug auf die literarische Zeitdarstellung kaum dazu in der Lage, alle Formen narrativer Zeitgestaltung befriedigend zu beschreiben. Allein für die Untersuchung der Zeitformung hinsichtlich der Dimension Handlungsstruktur scheint Ricœurs Konzept tatsächlich zu greifen. Nun manifestiert sich die narrative Zeitmodellierung allerdings nicht allein auf der Ebene der textuellen Makrostruktur, Ricœurs Konzept narrativer Zeit ist somit in gewisser Weise eindimensional. Denn die Zeit des Romans konzipiert sich aus der Vielheit narrativer Zeitdarstellungen, die meist dadurch in ein Spannungsverhältnis zueinander treten, dass die auf den einzelnen Textdimensionen erfolgten Zeitformungen nicht zwangsläufig aufeinander übertragbar sind. Dies wiederum bedeutet, dass es weder die narrative Zeit gibt, noch dass diese untrennbar mit der menschlichen Zeit verknüpft ist. Ein weiteres grundlegendes Problem von Ricœurs Zeitkonzept, in der im Dabei stehen Zeit und Erzählung für ihn in einem untrennbaren Zusammenhang: Der gemeinsame Charakter der menschlichen Erfahrung, der im Akt des Erzählens in allen seinen Formen offenbart, artikuliert, verdeutlicht wird, ist ihr zeitlicher Charakter. Alles, was man erzählt, geschieht in der Zeit, kostet Zeit, spielt sich in der Zeit ab; und das, was sich in der Zeit abspielt, kann erzählt werden. Vielleicht wird sogar jeder zeitliche Prozeß als solcher nur erkannt, insofern er auf die eine oder andere Weise erzählbar ist. (Ricœur 1987: 233) 1 Zur Einführung in Ricœurs Werk siehe Mattern 1996 und Meyer 1991. <?page no="88"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 88 Grunde unhaltbaren „Annahme einer Unveränderlichkeit des Menschen und seines Verhältnisses zur Welt“ (Mecke 1990: 24). Ricœurs Ausführungen zum Roman beruhen folglich auf einer schematisierenden Reduktion narrativer Darstellungsformen und fordern letztlich eine geschlossene Form. Diese geradezu ungeschichtliche Verankerung des Romans in einem transhistorischen Kräftefeld übersieht jedoch die literaturgeschichtlichen Umbrüche insbesondere bei Vertretern der Postavantgarde. Nun sind es allerdings gerade diese Autoren und Literaturtheoretiker, die das Thema Zeit auffällig häufig in Zusammenhang mit der Zeitstruktur visueller Medien problematisieren. 2 Angesichts der Fülle an autobiographischen Texten, die photographische Abbildungen mitunter zur Authentifizierung in ihren literarischen Erinnerungsdiskurs eingliedern und für die Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit nutzbar machen, erscheint es interessant, nach der Übertragbarkeit von Ricœurs Denkgebäude auf die Photographie zu fragen. Ricœur selbst spricht nur selten explizit von der Photographie, wohl aber vom historischen Dokument und vom Bild ganz allgemein. Es wird daher der Frage nachgegangen, wie sich die Aporien namhafter Phototheoretiker zur Zeit der Photographie in Ricœurs Denkgerüst einfügen bzw. inwiefern sie einander entsprechen oder widersprechen. Abschließend wird ausgelotet, inwiefern sich die präsentierten Konzepte von Zeit bei der Betrachtung von Christian Garcins Autobiographie J’ai grandi als erhellend erweisen. 1 Photo-Zeit oder das Paradoxon der aufgehobenen Zeit Die Dimension Zeit zählt nicht nur zu den wesentlichsten, sondern auch zu den spannendsten und zugleich schwierigsten Kategorien der Photographie. Betrachtet man nur den materiellen Abzug eines Photos, so ist eine Aussage wie „[d]ie einzige Zeit, die eine Photographie enthält, ist der isolierte Augenblick dessen, was sie zeigt“ (Berger 1984: 95) zwar prinzipiell richtig, greift aber in Bezug auf das Photographische viel zu kurz. Dies liegt vor allem daran, dass das photographische Dispositiv eine äußerst komplizierte und vielschichtige Zeitlichkeit aufweist, denn ein Photo ist nie das Resultat allein eines einzigen Zeitvektors: Es enthält neben dem historischen Zeitpunkt, zu dem es entstanden ist, die Mikro- und Makrobewegungen des dargestellten Anblicks, den Abdruck der Geschwindigkeit des zur Belichtung dienenden Lichtes, die in der Emulsion des Negativs vor sich gehenden chemischen Veränderungen, die Dauer der Entwicklung 2 Neu ist dies jedoch nicht: Spätestens mit der Erfindung der Daguerrotypie wurde der Diskurs um die Zeit, man möchte fast sagen säkularisiert: diskutiert wird seither die Erfassung medialer Zeiträume, die mediale Verzeitlichung bzw. die Sichtbarmachung der Zeitlichkeit im Bild (Verbildlichung der Zeit) damit verließ die Zeit aber zugleich auch endgültig das Augustinische occultum, das „Versteck der Seele“ (Großklaus 1995: 15). <?page no="89"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 89 des vom Negativ angefertigten Positivs sowie die Zeit des jeweiligen Betrachters, wobei neben der Retina-, Nerven- und Bewußtseinsfunktion auch die zur Abtastung benötigten Mikrobewegungen der Augen einkalkuliert werden müssen (von der Alterung des Materials des Photos erst gar nicht zu reden). (Beke 1992: 23) In Bezug auf die Dimension Zeit bei dem photographischen Bildgenerationsprozess erscheint die Betrachtung von Ricœurs Mimesis-Begriff brauchbar: Setzt man statt der Erzählung das photographische Bild, ergibt sich folgender Dreiklang der Mimesis: Die präfigurative Nachahmung der Natur erfolgt im Akt des Photographierens, die Mimesis II anhand einer vorliegenden Photographie, also der bildlichen Repräsentanz des Vorgefundenen, die refigurative Nachahmung vollzieht sich schließlich beim Akt des Betrachtens. Dabei fällt auf, dass der der photographischen Aufnahmesituation zeitlich nachgeordnete photochemische Bildentwicklungsprozess wesentlich zum Schaffen photographischer Bilder gehört und bereits in der Aufnahmesituation selbst angelegt ist. Somit ist die (prä-)figurative Nachahmung in der Photographie ein komplexerer Prozess als im literarischen Text. Das bedeutet, dass sich der für Ricœur entscheidende schöpferische Akt der Refiguration der Wirklichkeit und der ihr inhärenten Zeitlichkeit in der Photographie redupliziert. Auch wenn der analoge Entwicklungsprozess des belichteten Trägermaterials freilich auf einem chemischen Prozess beruht, bei dem die kreative Einflussnahme der das Bild entwickelnden Person erheblich eingeschränkt ist. Für Roland Barthes (1980) liegt die mediale Besonderheit, das Noema der Photographie, in dem „Ça-a-été“(Barthes 1980: 120), d.h. darin, dass das Abgebildete zum Zeitpunkt der Entstehung der Photographie präsent gewesen sein muss. Die Photographie sagt demzufolge nichts über die Gegenwart aus, d.h. sie sagt nichts darüber, ob das Abgebildete noch existiert oder nicht. Der Anblick einer Photographie weckt daher auch nicht zwangsläufig nostalgische Erinnerungen. Da das sicher Gewesene dem Betrachter aber nicht real greifbar vorliegt, sondern lediglich als fixierter Lichtreflex des Referenten, versteht Barthes die Photographie als „Emanation des Referenten“ (vgl. Barthes 1980: 126). Die photographierte oder anders ausgedrückt immortalisierte Gegenwart ist in der photographischen Re- Präsentation abwesend. Es ist gerade jenes Fehlen der unmittelbaren Präsenz, welche die Differenz zwischen dem allein im Zeitkontinuum Seienden und dessen photographischer Reproduktion bildet und diese unweigerlich voneinander trennt. Die magische Bezeugung des Dagewesenen bringt die Photographie für Barthes in die ontologische Nähe zum Tod. Jede Photographie ist, wie Sontag es formulierte, „eine Art memento mori“ (Sontag 2006: 22). Das wechselvolle Zeit-Spiel photographischer Paradoxa fasst Joachim Paech folgendermaßen zusammen: Die Fotografie ist eine Zeitmaschine, deren apparative Verschlußdauer das Paradox der (ontologisch) unmöglichen Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit im fotografischen Moment verzeitlicht (entparadoxiert) und die in der Re- <?page no="90"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 90 Präsentation des fotografischen Abbilds als unmögliche Vergegenwärtigung des Vergangenen wiederholbar wird. (Paech 1998: 19f) Der Aspekt der Wiederholbarkeit des Widerspruchs der Vergegenwärtigung des Vergangenen macht deutlich, was Barthes mit der medialen Besonderheit des Todes - oder wie er es nennt des eidos der Photographie - meint, die ihm zufolge immer auch etwas mit Auferstehung zu tun hat (vgl. Barthes 1985: 24). In seiner Ontologie de l’image photographique bezeichnet André Bazin die photographische Ewigkeitsillusionierung als eines der herausragendsten Potenziale des Mediums, denn für ihn vermag allein die Photographie, das Leben für einen Moment lang anzuhalten. Allerdings steht diesem sehr positiven, ja aufgrund der großen Medienbegeisterung auch sicher nicht ganz unvoreingenommenen Medienverständnis die bereits früh in der Geschichte der Photographie verbreitete Auffassung entgegen, nach der die Fragmentarisierung des Zeitflusses und die Herauslösung eines beliebigen Momentes aus dem Vorher und Nachher dem Gedanken zeitlicher Ewigkeit gerade entgegengesetzt ist. Wie Christian Metz hervorhebt, treffen jedoch paradoxerweise beide Positionen zu, denn die Photographie ist ohne Zeitlichkeit. In ihr zeigt sich die Stilllegung der Zeit und damit jeder Bewegung im Raum, denn alles Dynamische des ursprünglichen Momentes existiert auf dem Bild lediglich als punktuelles Fragment, wodurch das Konstrukt Zeit erst in seiner Existenz des Unsichtbaren und Nicht-Seienden erfasst werden kann. Man glaubt einen Moment arretiert und bewahrt zu sehen, doch was man sieht ist nicht Zeit, sondern gerade deren Fehlen. Das Photo steht folglich für eine Leerstelle, eine Synkope und wird so gleichsam zum Inbegriff eines achronen Mediums (vgl. Metz 2000). Die Ränder der Photographie betonen dies nur, indem sie unterstreichen, dass es ein Außerhalb des photographisch stillgelegten Momentes gibt: „Die Schnittstellen sind Passagen zu einem Vorher und Nachher, die sich nicht in eine Kontinuität einbinden lassen und die Frage nach der Unsichtbarkeit der Zeit eröffnen“ (Schade 1993: 288). Diese temporale Janusköpfigkeit der Photographie bringt Hubertus von Amelunxen in seiner ambigen Titelformulierung Die aufgehobene Zeit treffend auf den Punkt: einen Augenblick immortalisierend, extrahiert die Photographie einen Moment aus dem Zeitkontinuum und hebt damit die Zeitlichkeit auf, denn ohne die Referenzpunkte des Vorhers und Nachhers gibt es keine Zeit. Allerdings eröffnet die Doppelgesichtigkeit des Mediums ein weiteres Paradoxon, denn jede Photographie ‚zeigt‘ auch Zeit und zwar unabhängig vom Zeitstil des Abgebildeten. Schließlich betonen die traces photographiques, wie Philippe Dubois (1983) und Jean-Marie Schaeffer (1987) darstellen, die Bewegungsspuren, welche die Schrift mit dem Sonnenlicht auf dem photochemischen Trägermaterial hinterlässt. Diese medieninhärente Indexikalität verweist auf den Schriftcharakter des Mediums und damit auf einen fundamental wichtigen Aspekt der Photo- Zeit, nämlich die materialisierte, untrennbare Verschmelzung von Raum <?page no="91"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 91 und Zeit. Denn Zeit ohne Raum bzw. Raum ohne Zeit zu denken ist im Grunde unmöglich, stellen sie doch zwei aufs Engste miteinander verwobene Ordnungsmuster dar, die einander letztlich bedingen. Wie die Uhr die Spatialisierung des Konstrukts Zeit darstellt und auf diese Weise überhaupt erst sichtbar macht, so findet auch in der Photographie eine Verräumlichung der Zeit statt, indem ein räumliches Fragment für die Dauer einer bestimmten Belichtungszeit in seinem linear-chronologischen Wandel festgehalten wird. Somit ist die Zeit der Photographie eine räumliche Form der Zeit. Bei längerer Belichtungszeit ist es tatsächlich möglich, eine begrenzte Zeitspanne, eine gewisse Dauer zu fixieren. Diese manifestiert sich auf dem Photo dann in Form unscharfer und verzerrter Konturen, welche die Bewegungsspuren sichtbar machen. Geringe Schärfentiefe kann so mitunter also eine Komprimierung verschiedener Einzelmomente bedeuten. Allerdings bilden die meisten Photos tatsächlich nur einen kurzen Moment indexikalisch ab. 3 In seiner Auseinandersetzung mit der historischen Erzählung rekurriert Ricœur im dritten Band von Temps et Récit immer wieder auf das Dokument als Zeitzeugen. Er verwendet dabei u.a. den Begriff der „Spur“, über deren zeitliche Verfasstheit er im Zuge seiner Diskussion des Zeitkonzeptes Heideggers nachdenkt. Es erscheint durchaus legitim, für die trace du réel passé die photographische Spur zu setzen. Für Ricœur trägt die Spur vor allem eine entscheidende Funktion bei der Verknüpfung unterschiedlicher Auffassungen von Zeit, denn ihre Zeitstruktur stellt die an sich paradoxe Verbindung zweier Zeitdimensionen her: Die Zeitspur selbst ist im Photo jedoch „das Unsichtbare, Diaphane, das zu sehen gibt, ohne sich zu zeigen, das schlechthin Immateriale ohne Träger und Gegenständlichkeit, das dennoch wirklich ist und sich schreibt auf der Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren“ (Wetzel 1988: 25). 4 C’est bien là le nœud du paradoxe. D’une part, la trace est visible ici et maintenant, comme vestige, comme marque. D’autre part, il y a trace parce que auparavant un homme, un animal est passé par là; une chose a agi. Dans l’usage même de la langue, le vestige, la marque indiquent le passé du passage, l'antériorité de la rayure, de l'entaille, sans montrer, sans faire apparaître, ce qui est passé par là. On remarquera l’heureuse homonymie entre «être passé», au sens d’être passé à un certain endroit, et «être passé», au sens d’être révolu. (Ricœur 1985: 175-176; Hervorhebung wie im Original) 5 3 Angemerkt sei, dass die Neurophysiologie davon ausgeht, dass das Gehirn den Verlauf von drei Sekunden als Einheit komprimiert als Zeitpunkt wahrnimmt (Großklaus 1995: 15). 4 Da es über die Spur zur Entwicklung einer die Dialektik von kosmischer Weltzeit und erlebter subjektiver Zeit des Menschen verbindenden kalendarischen Drittzeit kommt, stellt sie für die historische Erzählung laut Ricœur eines der wichtigsten wie rätselhaftesten Instrumente dar (Ricœur 1985: 154-160). 5 Vgl. auch: „Ainsi la trace indique ici, donc dans l’espace, et maintenant, donc dans le présent, le passage passé des vivants» (Ricœur 1985: 176). <?page no="92"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 92 Die Erkenntnis, dass der Spur immer etwas Fremdartiges eignet, sie insofern ein Zeichen wie kein anderes darstellt, dass „sie immer ein Vorübergehen und nicht eine mögliche Präsenz anzeigt“ (ebd.: 199) sowie die These, dass „la trace signifie sans faire apparaître“, übernimmt Ricœur von Emmanuel Lévinas (1972: 60; vgl. Ricœur 1985: 183), um darauf aufbauend seine Aporie der Zeit der Spur zu entwickeln, bei der er erstaunlicher Weise jedoch ohne das Wandlungskontinuum Raum auskommt. Dies verwundert umso mehr, als es ohne räumliche Ausdehnung ebenso wenig Spuren gäbe wie ohne Zeit, denn Spuren bestimmen ihre positionale Relation innerhalb beider Wandlungskontinua. Phototheoretiker wie Barthes beschreiben das Photo als etwas, das als physikalische Entität der Gegenwart angehört, zugleich aber als etwas verstanden wird, das aus der Vergangenheit übrig geblieben ist und als materiell präsenter photographischer Abzug folglich für etwas Abwesendes steht, das bezeichnet wird, ohne zu erscheinen. Einen ganz ähnlichen Gedankengang finden wir bei Ricœur: „[Die] Gegenwart lässt sich nicht auf einem Punkt auf der Zeitgeraden, auf einen einfachen Einschnitt zwischen einem Vorher und Nachher, reduzieren. Was sich so definieren ließe, wäre nur ein bloßer Moment, nicht aber die lebendige Gegenwart“ (Ricœur 1997: 434). Allerdings manifestiert sich hierin nicht nur ein gewisser Gegensatz zu Barthes, sondern auch innerhalb von Ricœurs Denkgebäude selbst. Während nämlich das Photo bei Barthes den Betrachter nur bedingt affiziert, inhäriert der Spur bei Ricœur stets eine den Rezipienten beeinflussende Kraft. Ihm zufolge gehört die Spur als eigenständige Schöpfung in zwei Bezugssysteme und stellt damit ein Bindeglied zwischen zwei Denkrichtungen sowie zwischen zwei Zeitperspektiven dar: [D]ans la mesure même où la trace marque dans l’espace le passage de l’objet de la quête, c’est dans le temps du calendrier et, par-delà celui-ci, dans le temps astral que la trace marque le passage. C’est sous cette condition que la trace, conservée et non plus laissée, devient document daté. (Ricœur 1985: 177; Hervorhebung wie im Original) Übertragen könnte man mit Ricœur also sagen, dass die Zeit der Photographie mit der kalendarischen Zeit, der sozio-kulturell verankerten Zeit, kurz der hybriden Drittzeit, homogen ist und folglich eine fundamentale Rolle bei der Ausbildung der menschlichen Zeit spielt. Mit Betätigen des Auslösers legt der Photograph aber immer auch eine unsichtbare Spur in die Zukunft, denn anhand einer Photographie kann der Betrachter die Erinnerung zu Augenblicken der Vergangenheit wiederfinden. Bei diesem Prozess vollzieht sich dann mithilfe des den Moment überliefernden Mediums Photographie schließlich doch das, was Ricœur als die Dialektik zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont beschreibt und das die Dynamik des historischen Bewusstseins gewährleistet. Im Verhältnis von Gedächtnis und geschriebener Geschichte von den vergangenen Dingen stellt die Geschichte eine kritische Instanz des Gedächtnisses dar. Unterstützend kommt <?page no="93"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 93 dabei die Erzählung als sprachliches Medium hinzu, das dem Bild Bedeutung für die eigene (Familien-)Geschichte vermitteln kann und so die Spuren zur individuellen Geschichte aufnimmt, oder im Fall eines aus fremden Zusammenhang stammenden Bildes, den Dialog mit dem erinnerungsauslösenden Photo beginnt. 2 Die Photographie im Spannungsfeld von erinnerter Zeit und erzählter Erinnerung Die paradoxe Zeitstruktur des Photos stellt eine der Facetten des Mediums dar, die literarische Werke vielfach aufgreifen, durch die Inbezugsetzung zur literarischen Darstellung und Problematisierung von Zeit(lichkeit) verstärken und in einen produktiven Wirkungszusammenhang setzen. Die Verwendung der Photographie als Motiv bzw. als materiell mitgelieferter integraler Textbestandteil gehört spätestens seit Barthes’ Heller Kammer zu einem wesentlichen Bestandteil zahlreicher autobiographischer bzw. autofiktionaler Texte. Insbesondere in der Literatur der Gegenwart werden photographische Merkmale oft auch auf textstruktureller Ebene thematisiert oder mit sprachlichen Mitteln nachzuahmen versucht. In der literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre hat vor allem das Thema Photographie und Autobiographie verstärkt Beachtung gefunden. 6 Die Besonderheiten der Photographie-Zeit ließen das Medium zum Erinnerungsmedium par excellence werden und so tragen Familienphotos als indexikalische Spuren des Gewesenen bis heute dazu bei, die Geschichte einer Familie in Form eines ikonischen Archivs zu belegen. Nun liegt die Hauptaufgabe der Familienbilder zwar vor allem darin, private Erinnerungen zu archivieren. Doch paradoxerweise ist es - wie auch Barthes bei der Suche nach seiner schmerzlich vermissten Mutter erkennen muss - gerade das Private, das Individuelle und Intime, das mit verstreichender Zeit schwindet. Umso deutlicher ist dies bei Photographien von unbekannten Personen. Denn anders als bei Bildern bekannter Menschen, bei denen sich das mediale Bild mit subjektiven Erinnerungsbildern verbindet, ist das, was an ihnen vor allen individuellen Zügen der abgebildeten Person auffällt, zunächst einmal der Zeitstil, d.h. die repräsentierte zeitliche Situierung des Abgebildeten im Verhältnis zum Zeitpunkt des Betrachtens. Erstaunlicherweise wird die Thematisierung und Umsetzung der Dimension Zeit in den wenigsten Studien eingehend bearbeitet und das, obwohl gerade diese Kategorie die wohl engste Verbindung autobiographischen und im weitesten Sinne photographischen Schreibens darstellt. 7 6 Exemplarisch genannt sei Blazejwski 2002. 7 Dies betrifft zum einen die phototechnischen Gegebenheiten (z.B. Schwarzweißphoto) bzw. die Art und Weise photographischer Abbildung (z.B. Haltung und Pose) und zum anderen zeitlich gebundene kulturelle Aspekte wie Kleidung oder Frisuren. Letzten Endes vermag die Photographie also gar nicht so sehr subjektive Erinnerungen zu <?page no="94"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 94 evozieren, sondern ist „vielmehr eine Erfindung oder ein Ersatz [der] Erinnerung“ (Sontag 2006: 157). Barthes und Berger betonen, dass Photographien insofern Ähnlichkeit mit Erinnerungsbildern aufweisen, als sie etwas Abwesendes anwesend sein lassen. Allerdings, so betont Berger, unterscheiden sie sich in ihrer jeweiligen Zeitverfasstheit so fundamental voneinander, dass er für die Diskrepanz real erlebter dynamischer und photographisch stillgelegter Zeit die Metapher des Abgrundes verwendet (Berger 1984: 89). Bei ihm, aber auch Barthes, führt dies wie auch schon bei Walter Benjamin zu einer Schockwirkung beim Bildrezeptionsprozess (Benjamin 1982: 576 ff). Die beiden erstgenannten betonen damit, dass die photographische Präsenz das vermeintlich Vergessene nicht wirklich vergegenwärtigen, sondern allein bezeugen kann, dass das Abgebildete wirklich existiert hat. Es handelt sich folglich um eine Präsenz, der nichts Proust‘sches eignet, die das Vergessene weder wieder hervorrufen will, noch synästhetisch vergegenwärtigen kann (Barthes 1980: 129f). Letzteres resultiert maßgeblich aus dem permanenten Spannungsverhältnis zwischen dem subjektiv mit allen Sinnen erlebten, vergangenen Zeitkontinuum und dem aus diesem isolierten, photographierten Moment. Bei der Dekodierung photographierter Einzelmomente eröffnen sich durch die zur Sinnstiftung unerlässliche, nachträgliche Rekontextualisierung und imaginäre Retemporalisierung weitere Bedeutungsebenen der Photographie, die sie von der ihr inhärenten Bezeugungsfunktion entheben. Anders ausgedrückt braucht Bedeutung narrative Kontinuität, um sich zu konstituieren. Wie Barthes mit dem Oxymoron photographischer „immobilité vive“ (Barthes 1980: 81) ausdrückt, wird der medial bedingte statische und unvollständige Charakter des Photos in der Imagination des Rezipienten kompensiert, wodurch das Photo zu ‚leben‘ beginnt und eine imaginativ generierte Zeitlichkeit erhält, die es aus dem Statischen in einen dynamischen Zustand visueller Narrativität zu versetzen vermag. 8 8 Da die Photographie das Vorher und Nachher ausklammert, ist die narrative ‚Entwicklung‘, die fiktive Verzeitlichung durch den Akt der Versprachlichung im Photo quasi angelegt (vgl. Schaeffer 1987: 54). Dieser Prozess verstärkt sich in dem Moment, in dem Photo und Text aufeinander stoßen: Das resultierende photographische Schreiben meint beides zugleich, die wechselseitige Erhellung der Schwestermedien im Sinne der Medienkombination und die Transposition des Photographischen in das sprachliche Medium. So wie chronometrische und erlebte Zeit in der Photographie verschwinden, so verschwindet die Photographie bei der intermedialen Transposition - die Photographie reduziert sich zur Graphie. Das Bild der Spur lässt sich auch an dieser Stelle wieder sinnvoll einsetzten: So wie sich die chronologische Zeit in Form von Bewegungslinien auf dem Photo zeigt, ohne dabei als solche wirklich zu erscheinen, so hinterlässt das einem literarischen Text als Matrix zugrunde gelegte Medium Photographie in der <?page no="95"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 95 Gestaltung der Form Spuren, ohne dabei materiell zutage zu treten. 9 Pour conclure, l’entrecroisement entre l’histoire et la fiction dans la refiguration du temps repose, en dernière analyse, sur cet empiétement réciproque, le moment quasi historique de la fiction changeant de place avec le moment quasi fictif de l’histoire. De cet entrecroisement, de cet empiétement réciproque, de cet échange de places, procède ce qu’il est convenu d’appeler le temps humain, où se conjugent la représentance du passé par l’histoire et les variations imaginatives de la Die Mediendifferenz bedingt also Veränderungen beider Medien. So transferiert jede Deskription einer medial abwesenden Photographie den effet de réel in einen effet de fiction, da jede Versprachlichung zwangsläufig einer nachträglichen Verzeitlichung, einer imaginären Wiederbelebung entspricht, denn - wie Saussure zeigte - weist Sprache eine dynamische und linearchronologische Zeitlichkeit auf. Folglich kommt es zu einer real unmöglichen und daher fiktionalen Verschränkung der Zeitebenen: Der in seinem präsentischen Verlauf fixierte Moment der Vergangenheit wird in der Erzählgegenwart ‚reanimiert‘, in linear-chronologisch voranschreitende Zeitlichkeit gebracht. Durch dieses Hineinreichen der angehaltenen vergangenen Gegenwart in die augenblicklich gelebte Gegenwart erfährt das Augenblicksbild wiederum eine eigenartige Dehnung (vgl. Großklaus 1995: 17). Einen ganz ähnlichen Gedanken finden wir in Ricœurs Temps et récit, wo er die Fiktionalisierung der Geschichte hervorhebt und diese maßgeblich in der imaginären Eigenschaft der Spur begründet: Cette structure mixte exprime en raccourci une activité synthétique complexe, où entrent en composition des inférences de type causal appliquées à la trace en tant que marque laissée et des activités d’interprétation liées au caractère de signifiance de la trace, en tant que chose présente valant pour une chose passée. (Ricœur 1985: 268) Da die Spur Vertretungsfunktion für die abwesende Vergangenheit erfüllt, dem Referenzpunkt der historischen Erzählung, ist Geschichtsschreibung für Ricœur folglich immer auch mit fiktionaler und imaginativer Rekonstruktion verbunden. Der fiktionalen Erzählung spricht er demgegenüber den Charakter einer ‚Quasi-Vergangenheit‘ zu. Im Zuge seines erweiterten rezeptionstheoretischen Ansatzes verschränkt Ricœur faktuales und fiktionales Erzählen miteinander (ebd.: 264f). Das verbindende Element sieht er in der Ausbildung der bereits erwähnten Drittzeit, die sich seiner Meinung nach im Akt des Rezipierens vollzieht und worin sich seine Leitthese widerspiegelt, nämlich, „que le temps devient temps humain dans la mesure où il est articulé sur un mode narratif, et que le récit atteint sa signification plénière quand il devient une condition de l’éxistence temporelle“ (Ricœur 1983: 85) und so schlussfolgert er: 9 Es ist interessant, dass bei der Simulation der Photographie im literarischen Text gerade die Dimension Zeit eine wichtige Rolle spielt, sei es hinsichtlich von systemreferentiellen Thematisierungen oder sei es bezüglich tiefenstruktureller Nachahmungsverfahren (z.B. durch Fragmentarisierung des Erzählflusses). <?page no="96"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 96 fiction, sur l’arrière-plan des apories de la phénoménologie du temps. (Ricœur 1985: 279; Hervorhebung wie im Original) Vor diesem Hintergrund erscheint die medienkombinatorische Autobiographie geradezu als Paradebeispiel eines bewusst konzipierten Ineinandergreifens faktualer und fiktionaler Elemente. Untersucht man die innere Zeitstruktur der Photographie aus dieser Perspektive, so stellt man fest, dass sich die Rezeption der integrierten Photos insbesondere über die Kategorie der so genannten fiktiven Zeiterfahrung vollzieht. Gerade diese lässt die Photographie zu einem ‚erzählenden‘ Medium werden. Denn nur dadurch, dass das Photo nicht nur einen mit Uhren messbaren kurzen Augenblick objektiv, also ohne die Filterung und ästhetische Gestaltung der subjektiven Zeitwahrnehmung eines vermittelnden Autors wiedergibt, sondern sich mit der subjektiven Zeiterfahrung des Betrachters koppelt, vermag die Photographie für den Betrachter zu einem Erinnerungen bewahrenden und evozierenden Medium zu werden. Dies gilt freilich auch für fremde Photographien, denn auch sie können den Betrachter erschüttern und dies liegt nicht zwangsläufig am Sujet oder dem darin herauslesbaren Zeitstil. Das, was Barthes als die Wirkung des punctum einer Photographie bezeichnet, ließe sich in Ricœurs Terminologie mit der Erfahrung rekonfiguierender Inter-Zeit beschreiben. Also mit der Erfahrung eines Momentes der Aufhebung jeder linear-chronologischen Zeit in der (unmöglichen) Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dass die Wirkung des punctum der Verbindung von Weltzeit und eigener Zeiterfahrung in einer dritten Zeitdimension entspricht, zeigt sich z.B. auch darin, dass Barthes seine Mutter paradoxerweise auf einem Photo ‚wiederfindet‘, das sie als Kind zusammen mit ihrem Bruder im heimischen Wintergarten zeigt. In Anlehnung an Ricœurs Formulierung in Temps et Récit III lässt sich abschließend sagen: Die Integration photographischer Spuren ist ein Verfahren, durch das die Autobiographie die Zeit refiguriert. Berücksichtigt man nun allerdings, dass die beiden beteiligten Einzelmedien jedes für sich zwischen der präfiguierten Erfahrungswelt und der durch den Akt des Erzählens respektive Photographierens refigurierten Zeit der Literatur bzw. Photographie bereits Möglichkeiten sinnstiftender Neubeschreibung von Wirklichkeit ausbilden, so greifen bei bimedial konzipierten Autobiographien die beiden beteiligten Refigurationsweisen sinnverdichtend ineinander. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass sich Zeit - um in Ricœurs Terminologie zu bleiben - insofern in doppelter Weise refiguriert, als sich die photographische Spur wie die sprachliche in der dritten Zeitkategorie fiktiver Zeiterfahrung konstruieren. Liegt das entscheidende Moment dieser dritten Kategorie in ihrem Wiederholungscharakter, so verdoppelt sich dieser vor allem im Falle von Beschreibungen mitgelieferter Photographien. Die narrative Zeiterfahrung bimedialer Autobiographien wird somit in einer Art Spiralbewegung zu einer Inter-Zeit, die eine Einheit aus objektiv messbarer und subjektiver Zeiterfahrung sowie eine Verbindung der linearzeitlichen <?page no="97"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 97 Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt, einen Bezug zwischen Photographie, Erzählung und Erzähler sowie zwischen integrierter und eventuell transponierter Photographie, Erzähler und Rezipient herstellt und deren gestaltende Kraft schließlich vor allem darin liegt, dass der Rezipient mit verschiedenen Zeitmodellierungen konfrontiert wird. Hierin zeigt sich jedoch auch, dass Ricœurs Zeitkonzept der Einheit der Zeit in diesem Fall allein nicht mehr greift. Die Zeit der bimedialen Autobiographie ist von der Vervielfältigung der Zeitdarstellung gekennzeichnet. Photographische und narrative Zeitmodellierungen sind in den unterschiedlichen Textdimensionsebenen miteinander verknüpft und ineinander verschachtelt. 3 Garcin und die literarische Photoautobiographie Christian Garcin gehört einer Gruppe jüngerer französischer Schriftsteller an, die die Pariser Literaturszene von der Provinz - genauer der Provence - aus erobert hat und mittlerweile über ein gewisses Renommee verfügt. Das hier behandelte Werk J’ai grandi wurde 2006 im Jahr seines Erscheinens mit dem Prix Symboles de France ausgezeichnet. Mit seinen 152 Seiten ist J’ai grandi ein relativ schmales Büchlein, das weder klassische Autobiographie, noch Erinnerungsroman im Sinne Prousts ist. Vielmehr bewegt sich Garcins Text wie so viele Arbeiten postavantgardistischer Autoren zwischen den verschiedensten Gattungen. 10 10 Titel und Textstruktur erinnern in gewisser Weise an Perecs Je me souviens (vgl. Guichard 2006). Der implizite Bezug zu Perec ist signifikant, denn auch dieser funktionalisiert das Medium Photographie in seinen Erinnerungstexten. Garcin verwendet die kombinatorische photographische Schreibweise, so dass J’ai grandi als literarische Photoautobiographie bezeichnet werden kann. Das Buch enthält neben sechs graphischen Reproduktionen - es handelt sich um Illustrationen aus Büchern seiner Kindheit und Jugend - insgesamt 22 photographische Zeit-Spuren. Die Größe der mitgelieferten Bilder variiert stark: Abgesehen von einer ganzseitigen Familienphotographie, welche die Großmutter des Ich-Erzählers zeigt, sind die Photographien - teilweise sind es nur Teilausschnitte - kleinformatig und jeweils in den Fließtext integriert. Bei den Photos handelt es sich größtenteils um persönliche Photographien wie man sie in Photoalben findet, daneben finden sich Photographien des öffentlichen Lebens wie z.B. die Abbildungen von Kafka oder von Sartre. Hinsichtlich der Sujets und Genres fällt auf, dass es sich meist um Personenphotographien bzw. um Stadt- oder Landschaftsansichten handelt, die vor allem dokumentierende und deskriptorische Funktion erfüllen und bereits zum Zeitpunkt des Photographierens relativ statische Szenerien darstellten, wodurch der Zustandscharakter des Abgebildeten in den Vordergrund tritt. Dies wiederum steht in Einklang mit der Tatsache, dass der Ich-Erzähler Alltägliches der erlebten <?page no="98"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 98 und erfahrenen Zeitphasen in den verschiedenen Kindheits- und Jugend- Räumen beschreibt. 11 4 Erinnerungs-Photos und Photo-Erinnerungen in Garcins J’ai grandi Das markanteste Merkmal von Garcins Erzählweise ist zweifelsohne die ungewöhnliche und an den Bewusstseinsstrom erinnernde Satzstruktur, in der auf sinnfällige Weise formale und inhaltliche Gestaltung konkurrieren. Der Ich-Erzähler berichtet von seinem Leben, indem er es in einzelne Zeit- Räume untergliedert. Dies ist ganz wörtlich gemeint, denn Garcin bringt die Verbindung von Zeit und Raum dadurch zum Ausdruck, dass er sein Leben anhand der Räume erzählt, in denen er bestimmte Lebensphasen durchlebte. Garcins raumgebundene Zeitauffassung spiegelt sich jedoch nicht nur in der Kapiteleinteilung nach Erfahrungsräumen wider, sondern auch auf der Satzebene. Bereits der erste Blick verdeutlicht die Spatialisierung der ungewöhnlich langen Sätze, die sich jeweils aus einer Art Gerüst und davon ausgehenden Digressionen zusammensetzten, die mittels Einrückung und Absätzen typographisch voneinander abgehoben sind. Die eingerückten Abschnitte enthalten neben Kommentaren aus der Erzählgegenwart, Konkretisierungen, Ergänzungen oder assoziativ verknüpfte Anmerkungen, in denen zuweilen auch die Zeitebene gewechselt wird. Obwohl die fast interpunktionslosen Abschnitte also eine Art Erzählkontinuum bilden, die den Eindruck rasch verrinnender Zeit vermitteln, ist die Erzählweise von unzähligen Digressionen, zeitlichen Ellipsen und raum-zeitlichen Sprüngen gekennzeichnet. Diese entstehen einerseits durch die Verschränkung von diversen Ebenen der Vergangenheit mit der Erzählgegenwart und andererseits durch die blancs zwischen einzelnen Satzgefügen und Kapiteln, die dem Gesamttext etwas Diskontinuierliches verleihen. Eine weitere Fragmentarisierung des Erzählkontinuums resultiert aus der Eincollagierung von Photos, die allein dadurch eine weitere Zeitdimension in das Textganze einführen, dass sie als Zeit-Spuren ihrerseits auf einer Fragmentarisierung der Echtzeit beruhen: „Durch Fotografien wird die Welt zu einer Aneinanderreihung beziehungsloser, frei schwebender Partikel, und Geschichte, vergangene und gegenwärtige, zu einem Bündel von Anekdoten und faits divers“ (Sontag 2006: 28). Ferner differieren Photographie und literarischer Text bezüglich der Rezeptionszeit beträchtlich. Während die syntaktische Gestaltung eine regelrechte Sogwirkung evoziert, d.h zu einer rasch voranschreitenden Lektüre anregt, und das Erzähltempo durch die 11 Dies erklärt übrigens auch die Dominanz des imparfait als Erzähltempus. Neben dem imparfait überwiegen Präsens und passé composé und damit Tempora der besprochenen Welt (vgl. Weinrich 1964). Dies ruft zum einen den Eindruck unmittelbaren Erzählens hervor und verdeutlicht zum anderen, dass die erzählten Episoden den Ich-Erzähler noch zum Zeitpunkt seines Erzählens nachhaltig prägen. <?page no="99"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 99 Abb. 1: Garcin 2006: 58 stark geraffte Modellierung der Erzählzeit recht hoch ist, vollzieht sich an den Stellen, an denen das Erzählkontinuum durch eincollagierte Abbildungen quasi arretiert wird, eine erhebliche Verlangsamung bzw. Stilllegung des Erzähltempos. Dies folgt zum einen aus der Tatsache der Unterbrechung eines Satzgefüges, was den Eindruck der Zeitarretierung im Sinne einer Erzählpause hervorruft. Zum anderen ist dies die Konsequenz des nicht-linearen Lesemodus der Photographie. Denn anders als bei der Sprache, deren Schriftzeichen in linear-sukzessiver und gleichförmiger Abfolge von links nach rechts zeitlich nacheinander dekodiert werden, präsentieren sich die Bildzeichen des Photos „als geordnete Menge simultan gegebener Elemente“ (Titzmann 1990: 379). <?page no="100"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 100 Abb.2: Garcin 2006: 18 Zwar erfolgt nach dem ersten Gesamteindruck - je nach Zeichenfülle des Sujets und individueller Dispositionen des Rezipienten - eine Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungslenkung, so dass auch Bilder in einem linearchronologisch gerichteten Dekodierungsprozess gelesen werden, allerdings werden Leserichtung wie Verweildauer dabei individuell von jedem Betrachter selbst gewählt. Zudem vollzieht sich beim Betrachten der Photographien die bereits ausgeführte sonderbare Verschmelzung der Zeitebenen. Meist sind die Bilder an den Stellen in den Fließtext integriert, an denen sie die erzählten Erinnerungen visuell unterstützen bzw. konkretisieren wie beispielsweise bei der Personenbeschreibung seiner Tante Eugénie (siehe Abb.1). Wie hier tragen die textillustierenden Bilder meist emphatisch-hervorhebende Funktion. Die Abbildung verdeutlicht auch die ungewöhnliche typographische Anordnung der Satzstruktur, in der das Photo die Funktion eines kommentierenden Einschubs übernimmt. Ganz ähnlich ist auch die Stelle, gleich zu Beginn von J’ai grandi, als der Ich-Erzähler auf das Auto der Familie, einem graufarbenen Simca, zu sprechen kommt. Dass es sich auf dem Bild tatsächlich um das im Text erläuterte Auto des Vaters handelt, wird in der Satzfolge klar, die hier einer Bilduntertitelung gleicht: „immatriculée 26CH13“ (Garcin 2006: 18) heißt es dort, was man auch auf dem abgebildeten Nummernschild lesen kann. In der vorliegenden Passage wird eine der bewusst evozierten Wirkungen des Einsatzes des Photos deutlich, der Affekt-Faktor. Dieser geht insofern in die Rezeption der Bilder ein, als die Konfrontation mit der vergangenen Welt eine Art nostalgische Wehmut heraufbeschwört, was hier freilich auch durch die wiederholte Betonung des grauen Charakters dieser Zeit hervorgehoben wird: „Des photos viennent aussi retenir le regard du lecteur: monde perdu, recouvert aujourd'hui par les bruits tapageurs des villes. Garcin porte un deuil parfois amer de ces temps révolus“(Guichard 2006). Nicht immer wiederholen die integrierten Photos bereits Berichtetes allerdings so deutlich, zuweilen ersetzen die - im doppelten Sinne des Wortes - stillen photographischen Zeitspuren auch sprachlich nur angedeutete Erinnerungen, kompensieren quasi als Platzhalter eine erzählerische Leerstelle und ergänzen diese zugleich über den visuellen Kode. Mit diesem Verfahren deutet Garcin implizit darauf hin, dass er sprachlicher und photographischer Repräsentation von Erinnerungsspuren den gleichen Wert beimisst. Im vorletzten Kapitel, das den Titel J’ai traversé trägt, setzt sich der Ich- Erzähler explizit mit dem Problem Zeit, Bild und Erinnerung auseinander. Es fällt auf, dass das ganze Kapitel aus nur drei Sätzen besteht, wobei die <?page no="101"?> Zeitdarstellungen in Christian Garcins J’ai grandi 101 ersten beiden Sätze als eine Art Einleitung des Kapitels dienen, in denen er den Mechanismus visueller Erinnerung thematisiert. Ganz im Gegensatz zu Ricœur, der in La Mémoire, l’histoire, l‘oubli (2000) aufzuzeigen versucht, dass das Gedächtnis gerade nicht als Bildarchiv zu denken ist, und dass zwischen Erinnern und Imaginieren als narrativer ‚Veräußerlichung‘ von Gedächtnisspuren strikt zu scheiden ist, betont Garcin explizit die Photohaftigkeit seiner narrativierten, subjektiven Erinnerungsbilder. Von all den Orten, Landschaften und Ländern, die er in seinen 45 Lebensjahren durchfahren hat (vgl. Garcin 2006: 144), ist ihm letztlich nicht sehr viel mehr geblieben als „ un patchwork d’images intimes et figés“ (ebd.: 133). Es sind, wie er schreibt: „quelques fragments d’images en suspension / fragments immobiles de lieux en mouvement“, die in seiner Erinnerung, wie in einem „kaléidoscope d’instantanés“ (ebd.: 134) vergegenwärtigt, wieder vor seinem inneren Auge erscheinen. Das Bild zeigt eine Straßenszene in China und scheint einen Teilausschnitt des unmittelbar folgenden Abschnitts zu sein, wo es heißt: un éclair soudain celui du soleil couchant se reflétant sur un rétroviseur de mobylette dans une petite rue populeuse de Luoyang, où au même moment un groupe d’écolières, robes rouges socquettes blanches, traversait sous la protection d’un agent très sérieux dans son rôle protecteur. (140) Und dennoch sind es gerade diese wie in einem Familienphotoalbum auf wenige markante Einzelmomente komprimierte Lebenszeit-Spuren, die ihn mit der Welt verbinden: „[…] qui tracent en ligne mouvante la frontière poreuse entre le monde et moi“ (134). Dass der Erzähler nicht nur über sich selbst berichtet, wird besonders im letzten Kapitel ersichtlich, wo er feststellt: „L’histoire personnelle n’est souvent qu’un miroir de l’histoire collective […] et il arrive que certaines constantes, ou lignes de force plus ou moins hasardeuses subsistent à travers des siècles […]“ (151-152). Wenn der Abb.3: Garcin 2006: 140 <?page no="102"?> Marina Ortrud M. Hertrampf 102 Erzähler verdeutlicht, dass ihm die Suche, Interpretation und Mimese seiner Lebens-Spuren zu einem tieferen Verständnis seines Ichs geführt hat 12 Literaturverzeichnis , dann mag man sich in gewisser Weise an Ricœurs Vorstellung der refigurierten Drittzeit erinnert fühlen. Ziel der in J’ai grandi in Wort und Bild präsentierten Lebensbilanz ist letztlich die Suche nach dem, was bleibt, nach dem, was inmitten der Fülle des Erlebten tatsächlich wichtig für sein Subjekt war, ihn nachhaltig beeinflusste und Spuren hinterließ. Wie das Motto des Buches - „Quand tu ne sais plus où tu vas, retourne-toi et regarde d’où tu viens“ - nahelegt, geht es um die Verankerung des Subjektes in der Vergangenheit, um sich in der Gegenwart positionieren zu können und Wege in die Zukunft zu finden. Hubertus von Amelunxen, Die aufgehobene Zeit, Berlin 1988. Pascale Arguedas, Entretien avec Christian Garcin réalisé par Pascale Arguedas, 2006, unter: http: / / perso.orange.fr/ calounet/ interview/ garcinexclusivite.htm (4.6.08) Roland Barthes, Sade, Fourier, Loyola, Paris 1971. Roland Barthes, La Chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. André Bazin, Ontologie de l’image photographique, in: André Bazin, Qu’est-ce que le cinéma, Paris 1981, 9-17. 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Von der Ordnung der Buchstaben zur Schrift des Lichts, in: Charles Grivel (Hrsg.), Appareils et machines à représentation, Mannheim 1988, 19-33. <?page no="105"?> Michael Solomon Narrative Excess. Time, Song, and the Paradox of Attention in Alfonso X’s Cantigas de Santa María Fezo cantares e sões, saborosos de cantar, todos de sennas razões, com y podedes achar. (Cantigas de Santa María, Prólogo A 25-28) 1 Although over six hundred years separate Paul Ricœur from the learned Castilian monarch, Alfonso X, El Sabio (1221-1284), both men shared a passionate interest in the nature of narrative and its problematic relation to time. Alfonso, whom we could call the ‘inventor’ of the Castilian language by virtue of identifying it as such and by incorporating it so profusely into his political affairs, held a longstanding interest in the effects of narrative on human behavior and efficient kingship. While still in his youth and long before he completed the production of his massive literary, judicial, historical, and scientific works that have provided ample evidence for his status as a learned king, Alfonso ordered that the Arabic collections of wisdom stories, Calila e Dimna, be translated into Castilian for use as a “mirror of princes” and a “political catechism”. Se purgameo foss’ o ceo estrelado e o mar todo tinta, que grand’ é provado, e vivesse por sempr’ un ome enssinado de scriver, ficar-ll-ía a mayor partida (Cantiga 110, 14-17) 2 1 All citations and references to the Cantigas are taken from Walter Mettmann’s 1981 edition. I have identified the citation or reference using Mettmann’s Cantiga numeration and corresponding line numbers. 2 See Salvador Martínez (Martínez 2003: 85-86) for a discussion on the use of fables in Alfonso’s education: “En ellas se enseñan ciertas normas de conducta que representan una sabiduría práctica, muy útil para ayudar al futuro rey a resolver los problemas presentados por las realidades con las que tenía que enfrentarse [...] En estos ‚catecismos políticos‘ se aconsejaba el uso de la prudencia, la astucia, los conocimientos prácticos, la mesura, el tacto y la agudeza para prevenir las trampas” (Martínez 2003: 85). In his later days, when his ambitions to obtain the title of Holy Roman Emperor had been frustrated, he continued work on an immense project to recast the miracle narratives of the Virgin Mary into Galician-Portuguese troubadour songs. In the Cantigas de Santa María we find extraordinary tales of common human beings who, when trapped, imprisoned, laden with illnesses, severely wounded and in <?page no="106"?> Michael Solomon 106 all kinds of uncomfortable predicaments, find relief through the Virgin Mary. Codified in opulent compendia such as the Códice Rico (Escorial T.I.1) and the Florentine manuscript (Banco Rari 20), Alfonso’s Cantigas have come down through the centuries accompanied by stunning full-folio image panels and complete musical notation for many of four hundred-odd miracle tales and lyrical praises to Mary. 3 Alfonso’s Cantigas project represents one of the largest collections of discrete narratives from the Spanish Middle Ages, rivaled in number in Spain and Europe only by anthologies of exempla for preachers such as Jacques de Vitry’s Sermones vulgares, or El libro de los exemplos por a. b. c. There is nothing hyperbolic about the comparisons critics have made between the Cantigas and gothic cathedrals and other great cultural monuments from the late Middle Ages. 4 The extraordinary number of miracle narratives is significant and would seem to suggest that something more was at stake for Alfonso than merely ostentatious devotion to the Virgin. From a didactic standpoint, the enormous collection of stories is somewhat redundant and saturating. Unlike the large compendia of preachers’ exempla, whose narratives were organized and collected for preparing sermons on diverse topics from greed and avarice to lust and pride, each Cantiga story funnels readers toward a tightly woven devotional regimen that ultimately takes the form of one single imperative: Devémo’la muit’ amar e seruir [We should devoutly love and serve Her] (Cantiga 10, 14). Although such a message when repeatedly articulated verbatim or enunciated time and again in variation could prove pedagogically effective, the massive quantity of stories would seem to exceed any didactic purpose. Indeed, many of Alfonso’s predecessors and contemporaries created Marian anthologies with far fewer stories; the celebrated Riojan cleric, Gonzalo de Berceo, who flourished roughly a half century before Alfonso, only produced twenty-five well-crafted accounts of the Virgin’s miraculous deeds and one lengthy poem praising her virtues; Gautier de Coinci, from whom Alfonso drew inspiration and material, produced fifty-eight miracle stories set to song; and Gil de Zamora, Alfonso’s teacher and secretary, produced his Liber Mariae with only fifty miracles. 5 3 The Cantigas de Santa María has come down to the present day in four manuscripts. In addition to the before-mentioned Escorial T.I.1 and the Florentine Banco Rari 20, we have a third manuscript known as the Códice de Toledo, and Escorial j.b.2, the largest of the four with over 427 songs. For a description of these manuscripts see Keller and Cash 1998: 1-2. 4 By way of comparison, El libro de exemplos de a.b.c whose preachers’ exempla were collected and translated by Clemente Sánchez de Vercial (c. 1370-1426), contains 547 compositions. 5 The number of Berceo’s miracles could be expanded to twenty-six if we count, as Julián Weiss suggests, the frame story as one of the miracles (Weiss 2006: 65). For an overview of these authors and the Marian representation of miracle tales in Spain and France, see Flory 2000. For Alfonso, however, fifty, one hundred, even four hundred stories do not seem to be sufficient. His particular form of Marian devotion <?page no="107"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 107 appears to be bound to narrative excess. Thus, we may ask ourselves what motivated such narrative prolificity, and how did this excess function not only within Alfonso’s concept of Marian dedication but also within his more extended ideas about kingship and empire. An initial answer to these questions may be found in Alfonso’s peculiar inclination towards excess and abundance. He believed that his success as a monarch depended on his ability to exceed, expand, and grow. He was what we might call a “counting king” who reigned during the rise of a new urban mercantile culture that valued itemization and promoted an accelerated drive towards identifying, tallying, and documenting spatial property and material goods in inventories and cuadernos de contabilidad (Ruiz 2004: 67-86). Alfonso’s father, Fernando III, who had commissioned a team of quadrilleros (surveyors) to erect mojones (stone markers) around towns and in the countryside so as to more precisely identify property boundaries, warned Alfonso that his status as king would hinge on his ability to acquire and expand: I leave you the whole realm from the sea hither that the Moors won from Rodrigo. If you know how to preserve in this state what I leave you, you will be as good a king as I; and if you win more for yourself, you will be better than I; but if you diminish it, you will not be as good as I. [6 Thus, Alfonso spent his life collecting and accumulating, with dreams of attaining more territories, enlarging his kingdom, increasing his holdings, and extending his influence. He accumulated titles and proudly itemized them at the beginning of most of his works: Don Alfonso, “Lord of Castile, Toledo, León, Córdoba, Jaén, Sevilla, and the Algarve” ] (O'Callaghan 1990: 14-15) 7 6 “Et dixol mas ssennor te dexo de toda la tierra dela mar aca que los moros del Rey Rodrigo de espanna ganado ouieron. Et en tu sennorio finca toda la conquerida. La otra tributada sy la en este estado en q<ue> tela yo dexo la sopieres guardar eres tan bue<n> Rey com<m>o yo Et sy ganares por ti mas eres meior q<ue> yo et si desto me<n>guas no<n> eres tan bu<en>o com<m>o yo” (Estoria de España fol. 358v). O’Callaghan argues that "by speaking in this manner, Fernando III, unconsciously or not, placed a burden on his son's shoulders, as he implied that his worth as a king would depend on his pursuing an expansionist policy. This should be understood in the light of Fernando's expressed desire, reported in Alfonso's Setenario, to assume the imperial title of the old Hispanic Empire, which had lapsed upon the death of Alfonso VII in 1157” (O’Callaghan: 1990: 15). 7 “Rey don alfonso fijo del muy noble Rey don fernando & dela reyna donna beatriz & Sennor de castiella de Toledo de Leon de Galizia de Seuilla de cordoua de Murcia de Jahen. & del Algarbe” (El lapidario 1v: 3). Emphasis added. . He also amassed huge compendia of songs, stories, laws, events, and technical information from which he produced historical, legal, poetic, and scientific works of immense proportions. From the compiling of literary, scientific, and historical works to the expansion of an imagined empire, Alfonso clearly believed that more was better. <?page no="108"?> Michael Solomon 108 A second explanation for the abundance of miracle stories in the Cantigas concerns the praxis of thirteenth-century Marian devotion which encouraged a recursive and self-generating act of ongoing and endless narration. Marian devotees learn that when the Virgin intervenes on their behalf, this intervention must be retold, broadcasted, and extensively disseminated. In fact, the great majority of miracle stories in the Cantigas culminate when the protagonist of the story, for whom the Virgin has intervened, offers a highly public retelling of the event, often accompanied with bell ringing, songs, prayers, and praises. This act of retelling increases the number of devotees and thus, as Mary Jane Kelley points out, those who listen to these stories “acquire the potential for participation in miracles and for becoming characters in stories themselves. The circle is closed when they too have a miraculous experience and tell their story” (Kelley 1991: 814). This ongoing production of miracle stories also gives way to two narrative levels: an intradiegetic level when characters recount their experiences to other characters and a secondary, extradiegetic level in which a compiler such as Gonzalo de Berceo or Alfonso recast and retell the story to an implied audience (Kelley 1991: 814). For Alfonso, the extension of the second level is limited only by the narrative content of the first, and since Marian narrative on this level is self replicating, Alfonso’s responsibility to record these miracles is ongoing and effectively endless. When combined with his considerable resources and the frequently articulated imperative to serve the Virgin by retelling her good deeds, it is not difficult to understand Alfonso’s pious enthusiasm for providing a self-perpetuating clearing house of Marian tales. Although the narrative nature of Marian devotion coupled with Alfonso’s penchant for accumulative excess account in part for the extensive number of the Cantigas miracles, I believe that an additional explanation may be found in Alfonso’s attempts to establish and promote an imagined community of Marian devotees whose dedication could be extended to Alfonso himself as prime mediator between the Holy Mother and the Castilian monarch (or the would-be Holy Roman Emperor). In effect, the abundant narratives and corresponding images were used to establish what Alfonso hoped would be a new regimen of attention to the Virgin and thereby allow Alfonso to refashion himself as what we could call a “Marian Monarch.” 1 Marian Monarchy It has often been assumed that Alfonso’s turn to Marian devotion was an act of personal piety that gained momentum in his later life as his political ambitions began to falter and as he began to detach himself from his dream of acquiring the Holy Roman Empire. Such a view would seem to be supported by the notion, long held by historians, that the Castilian Monarchs, unlike their European counterparts, were more secular in nature <?page no="109"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 109 and less inclined to mix theology with politics. 8 Recent studies, however, point to Alfonso’s use of Marian devotion as a means of extending royal control. Amy Remensnyder, who coined the term “Marian monarchy,” argues that devotion to the Virgin Mary “was certainly not the only strand in his conception of kingship, yet it was a constant possibility. A ruler who believed that his power came from Mary, a ruler who performed the royal functions of the conquest and Christianization of new lands in her name, a ruler who found in Mary a symbol of his land - this was the kind of king Alfonso was” (Remensnyder 2005: 268). Ostentatious manifestations of Marian devotion permeate Alfonso’s political, civil, and social endeavors. In addition to the Cantigas project, Alfonso took it upon himself to convert the mosques in Jerez, Niebla and Puerto into churches of Our Lady; he created a new religious order, La Orden de Santa María de España under her holy patronage; and he constructed royal chapels in her honor, such as the one in the Cathedral of Seville. For Alfonso, this highly visible and public devotion to Mary was part of a larger project that was designed to promote and perpetuate what Benedict Anderson has called an “imagined community” whose members cohered around the concept of Mary. 9 Nowhere is Alfonso’s imagined community of Marian devotees better represented than in the image sequences that accompany the Cantigas in the Escorial and Florentine manuscripts. Although the majority of Cantigas relate the stories of a single individual who in times of great need enjoyed the benefit of Mary’s intervention, the image panels in the Códice Rico are replete with crowds and multitudes. These masses of people do not function as a backdrop against which more significant events take place, nor do they carry out the life-as-usual role of the extras in modern cinema, whose feigned indifference provide a realistic context for the significant dramatic event in play. The crowds depicted in the Cantigas, unruly or submissive, yielding or disruptive, are almost always fully engaged with the pressing matter at hand. Whatever takes place in private, in the solitude of a bedroom, in an empty chapel, or a secluded forest, will become eventually the object of collective concern. In fact, one of the most frequent schemas in the Códice Rico is the image of a tightly layered mass of people that often extends beyond the image frame. The individuals in these groups carry out diverse 8 See Remensnyder’s summary and corresponding bibliography of this tendency among historians to see the Castilian Monarchs as “resolutely secular” (Remensnyder 2005 : 256). 9 Although Anderson developed his concept of an “imagined community” based on the conditions following the rise of "print-capitalism," Alfonso’s desire to use the Cantigas to broadcast Mary’s extensive interventions in human affairs can be seen as an attempt to encourage followers of Mary to envision themselves as part of a larger (imagined) group of devotees. Indeed, further work needs to be done along these lines, but there appears to be in Alfonso’s Cantigas the beginnings or at least a theoretical outline for a Marian Nation, whose imagined community extended beyond and perhaps in opposition to the Holy Roman Empire. <?page no="110"?> Michael Solomon 110 activities, but they inevitably appear in the culminating moments of the story, when all eyes and undivided attention are focused on the Virgin Mary (plate 1). Clearly, Alfonso promotes the idea that Marian devotion in its most exemplary form is a collective act, carried out in public by hundreds of unified individuals whose dedication to the Virgin is steadfast and unwavering. The visual representations of Alfonso’s imagined community of Marian devotees often positions Alfonso in the center of this collection devotion. Alfonso himself figures prominently throughout the Cantigas, notably in significant codicological moments. In the opulent Escorial codex, for example, it is the image of Alfonso, not that of the Virgin, that initiates the manuscript, appearing prominently before the prologue (fol. 4v) and at the beginning of the first Cantiga (fol. 5r) along with his list of titles: “Don affonsso de Castela, de Toledo, de Leon, Rey y ben des Compostela o Teyno de Aragon e Cordoua, de Ihen, de Seuilla…” At various moments in the Códice Rico he is depicted pointing towards the Virgin, hailing the masses, and drawing attention to Her and by extension drawing attention to himself as the prime mediator between Mary and his public. For example, in panel c of Cantiga 70 he stands between the Virgin and the multitude, speaking to people while firmly pointing towards the Holy Mother (plate 2). Such a schema appears even more nuanced in the first illustration of the second Florentine manuscript where again we find a large, attentive group fixated on Alfonso, who points to a door leading to paradise where the Virgin is seen awaiting her disciples (plate 3). Alfonso not only presents a collection of devotional stories set to song in praise of the Virgin Mary, but he also presents himself as the prime mediator between the people and Mary. If the Pope stands between Christians and God, Alfonso clearly desired that he be positioned as the earthly power that stood between Mary and the extensive community of Marian devotees. Alfonso, who had been denied the role of Holy Roman Emperor, created a place for himself in a more expansive empire, one that transcended all kingdoms and was limited only by ignorance of or waning attention and devotion to Mary. 2 Narrative and the Paradox of Attention As a political project, Alfonso’s desire to construct his monarchy around an imagined community of Marian devotees depended on his ability to call attention to Mary and establish what Jonathon Crary calls a “disciplinary regimen of attentiveness” (Crary 1999: 13). This regimen, which requires that devotees sever themselves from earthly matters and give their undivided attention to the Virgin, is exemplified throughout the Cantigas. We see this clearly in the verses and corresponding final image panel for Cantiga 10. Here, Alfonso kneels with a slight inclination towards the Virgin. With one had he points to Her and with the other he pushes the worldly women <?page no="111"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 111 towards a devil who ushers them out the door (plate 4). He has severed himself from the distractions of female company, knowing that attention to Mary must be undivided and that all earthly and celestial conflicts will become resolved when humans steadfastly attend to the Virgin. The Cantigas are replete with examples of devotees whose devotion is hygienically regimented, consisting of daily singing of “Gaude Virgo María” or other repetitive acts of pious (and often public) devotion. Well known is the miracle of the pious thief in Cantiga 13 whom Mary saves with a timely intercession - she puts Her hands beneath his feet to keep him from dying on the gallows. The Cantiga makes it clear that Mary’s miraculous intervention was contingent on the thief’s long-established practice of always offering prayers to Her: “sempr’ en ssa oraçon/ a ela s’ acomendava” (Cantiga 13, 7). Attending to the Virgin requires daily and repetitive manifestations of devotion that over time fosters changes in behavior, disposition, and even ontology. An excellent example of regimental attentiveness appears in Cantiga 16 in which an abbot instructs an enamored knight suffering profoundly from an unrequited love to recite two hundred avemarías for the period of one year in hopes that the Virgin would give the beloved to the knight. After a year of diligent daily recitation, the Virgin appears to the knight and demands that the knight cast his eyes upon Her. Immediately, the knight falls in love with the Virgin and asks to become one of her beloved servants. The Virgin then instructs him to pray for Her as he had done for his earthly beloved, two hundred times a day for an entire year. At the end of the year, the “Grorïosa” “took him to be with Her” 10 The regimen of attention that we find exemplified in the Cantigas doubles back on Alfonso’s readers and spectators, who are encouraged to follow suit and become equally motivated and loyal devotees. The abundant images and narratives set to song can best be seen as devices designed to lead the reader towards this state of Marian attentiveness. They provide an ongoing theater of evidence and a flood of sensations that initiate a conditioning process leading to regimented Marian devotion. Like the enamored knight who falls in love with the Virgin upon seeing Her, the Cantigas’ images and corresponding narratives produce a response in the reader/ spectator based on an affective lure. This initial act of attraction will need to be maintained by an ongoing succession of images and stories. The problem with attention is not in merely hailing the public with spectacular images, beautiful songs, (Cantiga 16, 82-83). It is highly significant for the Marian concept of attentiveness that following an entire year of repeating two hundred avemarías a day, the knight dies. Time, as we shall see, is one of the great foes of enduring attention, and in this case Mary takes her knight before the distractions of daily life can turn the knight’s attention away from her once again. He dies in a perfect moment of Marian devotion, undistracted and fully attentive to Her. 10 “e, com’ oý eu,/ na cima do ano foy-o consigo levar”. <?page no="112"?> Michael Solomon 112 and compelling stories, but in keeping the public attentive. As Crary reminds us, “Attention always contained within itself the condition for its own disintegration, it was haunted by the possibility of its own excess - which we all know so well whenever we try to look at or listen to any one thing for too long” (Crary 1999: 46). This is even more relevant in an age in which the public had developed a taste for novelty, as historians have depicted thirteenth-century Castile. 11 Certainly, one of the great attractions of the Cantiga manuscripts for medieval and modern readers is the abundant stories that bear copious details about daily life. These narratives with their corresponding images reveal the contingencies of the quotidian from the mundane events of cooking, sewing, and struggling with shortages of food to the more troubling experiences of unexpected pregnancies, destructive wars, debilitating illnesses and inopportune mishaps. In an effort to draw his public to Mary, Alfonso has created a panorama of daily life in unprecedented specificity. John Keller and Annette Cash’s index of “Daily Life Categories in the Cantigas de Santa María: T.I.1 and F” provides thousands of entries organized in broad categories such clothing, flora, food and drink, health, diseases, places, musical instruments, pets, pilgrims and pilgrimages, punishments, recreation, religion, tool, weapons, violent acts, women, love, lust, accidents, death, and disasters, to name but a few (Keller/ Cash 1998 63-86). Paradoxically, however, these details gleaned from the events of daily (and not so daily life) can potentially serve as a distraction, leading the public away from focused attention on the Virgin. When attention wanes, one must fight inattentiveness with innovation, renewing old imperatives with new affective stimuli. Thus in the Cantigas, the ongoing succession of stories about the Virgin can be seen as Alfonso’s attempt to keep the masses focused on Mary, and by extension to strengthen his central position as Mary’s primary ambassador on earth. 12 The problem with Alfonso’s narrative excess is that by dipping so profoundly into daily life, the king runs the risk of distracting his subjects and losing his public in a visual and narrative flood of detail. 13 11 Ruiz, for example, argues that in "architecture and literature, and in a broad range of other social and cultural developments, a ‘taste for novelty’ (gusto de novedades), in González’s felicitous phrase, captured the sense of newness sweeping Castile in this period" (Ruiz 2004: 13); see González 1980: 15-37. 12 In fact, many of the miracle stories of the Cantigas are little more than illustrations of the way the Virgin recuperates the attention of Her devotees who have been distracted by life’s misfortunes or by submitting to their own vices. 13 With a nod towards Lukács, Mary Ann Doane writes in her recent book on time, contingency and indexicality in modern cinema that contingency “introduces the element of life and the concrete, but too much contingency threatens the crucial representational concept of totality, wholeness” (Doane: 2002: 12). What can attract can also distract, and although the structure of Alfonso’s narratives and images are designed to corral these elements in a way that will lead the <?page no="113"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 113 public beyond the historicity of the tales and images toward an acceptance and adherence to the culminating Marian imperative, the danger of distraction is always present. Cast in Roland Barthes’ theory of myth, the Cantigas narratives can be seen as an attempt to exploit history, drawing the events of daily life into a “second level of signification” in which the details of the story become impoverished and conflated in broad mythical inflections. 14 Baby born with its head on backwards (Cantiga 108). Man amputates his foot to get into a church (127). Crucifix slashes nun’s face (59). Man claims devils appeared to him in the form of a pig (82). Image of Mary excretes virgin milk (46). Woman gives birth at the bottom of the sea (86). Man castrates himself on the road to Santiago de Compostela (26). But these details can be so surprising, astonishing, and even titillating, that a projected mythical response never evolves beyond the compelling historicity. The Cantigas sought to grab the medieval reader the way the headlines and photos on the covers of tabloids attract modern readers: 15 The Cantigas would seem to provoke a form of illicit curiositas that was forcefully denounced by medieval moralists for its ability to divert people from true objects of knowledge. 16 Alfonso plays a dangerous game when he attempts to attract his subjects to the Virgin with detailed visual and verbal narratives. These stories, many sensational, can prove as productive in drawing attention away from Mary as in drawing attention to Her. Herein lies the paradox and problem for Alfonso: how does one provide the ongoing stimuli necessary to protect a Cantiga 7, the story of a pregnant abbess, provides a stunning illustration of just this in the final image that accompanies the narrative (plate 5). The final panel is most often reserved for representations of high devotion usually in the form of a group of Marian devotees kneeling, praying and singing praises at an altar of the Holy Mother. But here we find an abbess, naked from her waist up, standing before a group of gawking clergymen and gossiping nuns. The Virgin is nowhere in sight. Although the lack of visible signs of childbirth - the abbess had been accused of becoming pregnant following an illicit affair - was intended to provide evidence of the Virgin’s intervention, it also provides a titillating and distractive view of the woman’s body and the scandalous circumstances surrounding her misdeeds. 14 Barthes’s theory of myth is outlined in the final essay, “Myth Today” in Mythologies (Barthes 1972). 15 See Suárez for a more detailed discussion on the titillating aspects of the Cantigas. 16 According to G. R. Evans, two broad shadings reflect the idea of curiosity in antiquity: “a credible desire for knowledge and something more unworthy, even culpable, in which the desire for knowledge is distorted, even defeated by the very qualities of curiosity itself” (Evans 1998: 111-12). It is this second kind of illicit curiosity that moralists denounced: “Curiosity rushes to see a mangled corpse, and things similarly shocking” (Evans 1998: 114). Zacher, writing of fourteenth-century England, adds, “moralists thought curiositas signified a wandering, errant, and unstable frame of mind” (Zacher 1976: 21). <?page no="114"?> Michael Solomon 114 regimen of attention without simultaneously creating opportunities for distraction? And perhaps more problematic, at which point does the weight of novelty (sensational or quotidian) and excess become unbearable or unsustainable? How many stories of the Virgin can be retold before attention begins to waiver and to dissipate? 3 The Sweet Sounds of Song Alfonso’s partial solution to the problem of holding attention can be found in his attempts to conflate the contingencies of narrative with the regimented, collective, and almost hypnotic nature of song. For Alfonso, music and song were clearly linked to affect and often stood in opposition to the (troubling) moments of daily life. It was music and song that humans should turn to in moments of worry and anxiety for consolation. Singers, Alfonso tells us in the Siete partidas, were not made except to provide humans with happiness and pleasure through which all cares dissipate. 17 Moreover, Alfonso would have agreed with Augustine’s understanding of the power of music and its ability to drive listeners towards “a flame of devotion” that transcends the distractions of worldly affairs and directs humans towards a regimen of proper behavior. 18 One of the most revealing compositions in this regard is Cantiga 103, which appears, significantly, at the heart of the Códice Rico. Alfonso relates how the Virgin directs a monk into a beautiful garden in which he finds a refreshing fountain. Moved by the splendor of his surroundings, the monk asks the Virgin to reveal to him something of the rewards of paradise that await him for having lived a good life. Suddenly, a little bird begins to sing and the monk instantly diverts all his attention to it song. So taken was the monk with the “tan bon son” of the song that three hundred years passed in a single moment. Finally the bird departed, saddening the monk who returns to his monastery only to be confused by a new gate which he has never seen. Upon entering the adjacent church, the monks receive him as a stranger and a madman, but upon hearing the monk’s story they cry, “Quen öyrá/ Nunca tan gran maravilla” (Cantiga 103, 48, 50) And as the final image Thus for Alfonso, the compelling emotional impact of song combined with its power to instill focused devotional behavior served as an antidote to the distracting contingencies of daily life, including those represented in the Cantiga narratives. 17 In the Siete partidas we find, “Ca los cantores non fueron fechos sinon por alegria de manera que resçiban dellos plazer & pierdan los cuydados “ (fol. 81v). 18 For excerpts on Augustine’s concept of music and the pleasure of hearing, see Strunk 1965: 73-75. Alfonso writes: “E otrosy en musica que es saber de los sones que es menester para los cantos de santa yglesia. E por estas razones sobre dichas touieron por bien los santos padres que las sopiessen porque son muy prouechosas alos que las saben. Ca los mueuen a fazer obra de piedad alo que ellos son tenudos” (Siete partidas fol. 19r). <?page no="115"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 115 panel illustrates, the community of monks kneel at Her altar, completely attentive to the Virgin, singing: “E por aquesto a loemos; mais quena non loará [...] Ca, par Deus, gran dereit’ é pois quanto nós lle pedimos nos dá seu Fill’ a la ffe,/ por ela, e aquí nos mostra o que nos depois dará” (Cantiga 103, 52-56). Plates Plate 3 Florentine manuscript (Banco rari 20). Plate 2 Alfonso stands as mediator between the Virgin and the masses (Cantiga 70, fol. 104r, panel C). Plate 1 A crowd in a culminating moment of devotion, one of the most frequent scenes in the Cantigas (Cantiga 12, fol. 20v, panel B). <?page no="116"?> Michael Solomon 116 Plate 6 „Como o monge oyu cantar hüa passarya e esteue xxx ano al fon dela“ (Cantiga 103, fol. 147v, panel C). Plate 5 An abbess presents herself to inquisitorial clergymen (Cantiga 7, fol. 14v, panel F). Plate 4 Alfonso sends earthly women to the devil: „ao demo os outros amores“ (Cantiga 10, fol. 18r, panel F). © Images reproduced with kind permission of Edilán. <?page no="117"?> Narrative Excess in Alfonso X’s Cantigas de Santa María 117 Works cited Alfonso X., Cantigas de Santa María. Acta Universitatis Conimbrigensis. Walter Mettmann (ed.) , V igo 1981. Alfonso X., El Codice rico de las Cantigas de Alfonso X el Sabio: ms. T.I.1 de la Biblioteca de El Escorial (Facsimile), Madrid 1979. Alfonso X., Estoria de España (Escorial MS X-I-4). Electronic Paleographic Transcription, John Nitti/ Lloyd A. 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Lázaro retells the story of his life for a mysterious interlocutor, Vuestra Merced, who has demanded an explanation of an unspecified caso Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, parescióme no tomalle . To this inquisition Lázaro gives his paradoxical reply: por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona. (Anonymous 1987: 10f) 1 His vida or life-story thus incorporates Aristotle’s definition of mimesis as the putting together of incidents in a mythos or plot logically complete, whole, and of appropriate magnitude, “having a beginning, a middle, and an end” (Poetics: 1450b26). 2 To employ Ricœur’s terminology: the hero sets out to take the meaningless contingencies and dissonance of his life and emplot them as a narrative in which the caso shall take on the guise of necessity. He invents “a new congruence in the organization of the events” (Ricœur 1984: ix). Lázaro’s life-story further fulfils the Aristotelian exigencies of plot by configuring its narrative in a pattern of pathos (suffering) and metabole (change): “fortunas, peligros, y adversidades” (9). His justification for taking it “del principio” lies in that special element of surprise that arises when the causal sequence of one action leading to another develops “unexpectedly” to produce peripeteia or reversal (Poetics 1 All citations are by page from this edition; emphases are always mine. The role of Vuestra Merced and the nature of el caso are not revealed at this opening juncture in the novella, but become apparent in its last lines (Rico 1984: 1-29); for the moment I elide this vital point, but see below. For “inquisition” see Gitlitz 2000. 2 I do not mean that the author necessarily knew Aristotle (it is not impossible; Robortello’s commentary appeared in 1548: “imitationem esse actionis perfectae, totiusque, magnitudinem quidem aliquam habentis, [...] quod principium, medium, atque finem habet”, Robortellus 1548: 72). The beginning-middle-end principle was known from more accessible works; indeed, if there is intertextual play in medio/ principio, the author is probably ironizing Lázaro by alluding to Horace’s mockery of the incompetent “cyclical” poet who starts his narrative of the Trojan war ab ovo, from Leda’s egg, instead of in medias res (Ars poetica ll. 136-52); see also Lázaro Carreter 1972: 69-75. 1452a4), in this case from bad fortune to good. So the quoted passage goes straight on: <?page no="120"?> Jeremy Lawrance 120 y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando salieron a buen puerto. (11) “Porque consideren”: despite its circumstantial genesis as the reply to a question from the single interlocutor Vuestra Merced, the narrative is constructed or reconstructed as a morality addressed to all of Lázaro’s social betters. “To make up a plot”, asserts Ricœur (Ricœur 1984: 41), “is already to make the intelligible spring from the accidental, the universal from the singular, the necessary or the probable from the episodic”. The caso, however, turns out to be a commonplace crime of clerical concubinage and prostitution, Lázaro a complaisant husband. 3 Yet he wants - or pretends to want - to broadcast his story as an edifying example. Lázaro’s claim to teach a moral lesson corresponds to the third of Aristotle’s necessary elements of the literary work after plot and character: that is, dianoia or thought, “required wherever a statement is proved or, it may be, a general truth enunciated” (Poetics 1449b36-1450a6; Robortellus 1548: 68, “sententia in his versatur quae [...] universè enunciant”). But when the moment comes in the last lines of the book to link Lázaro’s general truth about triumph over adversity to the particulars of his biography, it brings a paradoxical reminder of the need to maintain public silence about the criminal caso, thereby undermining both the constructed “congruence” of his life-story and its ostensible moral: Hasta el día de hoy nunca nadie nos oyó sobre el caso Esto fue el mesmo año que nuestro victorioso Emperador en esta insigne ciudad de Toledo entró y tuvo en ella Cortes, y se hicieron grandes regocijos, como ; antes, cuando alguno siento que quiere decir algo della, le atajo [...]. Desta manera no me dicen nada, y yo tengo paz en mi casa. 3 The cornudo or cabrón was a figure of utmost contempt (Covarrubias 2006, s.v. CABRA “Llamar a uno cabrón, en todo tiempo y entre todas naciones, es afrentarle”; s.v. CORNUDO “decir a uno cornudo es una de las cinco palabras injuriosas que obligan a desdecirse dellas”). Worse than a simple cuckold, however, was the marido paciente or married pimp (ibid., s.v. CORNUDO “Hay otros bellacos que más parecen rufianes que maridos; dan lugar a la maldad huyendo el rostro, y [...] en fin se apaciguan pagándoselo”). The former was innocent, the latter criminal (ibid. “El cornudo que no es sabidor ni consiente en que le ponga su mujer los cuernos, como no tiene culpa no se le da pena. [...] El marido que es rufián de su mujer tiene pena de muerte por la ley de Partida [ VII . 22. 2], aunque hoy día viene a ser arbitraria”). This distinction reflected an acute social ill, the widespread use of marriages of convenience as a legal cover for prostitution due to growing criminalization of brothels (see Asensio 1959). In view of Lázaro’s eventual perversion of the meaning of bueno in expressions like “determiné de arrimarme a los buenos”, “tan buena mujer como vive dentro de las puertas de Toledo” (133, 134-35; see Wardropper 1961), a further entry by Covarrubias is relevant: “Esta palabra buen hombre algunas veces vale tanto como cornudo, y buena mujer, puta; sólo consiste en decirse con el sonsonete, en ocasión y a persona que le cuadre” (ibid., s.v. BUENO ). Some (e.g. García de la Concha 1981: 15-91) propose different interpretations of el caso, but not such as to affect my overall argument. <?page no="121"?> Lazarillo and time 121 Vuestra Merced habrá oído. Pues en este tiempo estaba en mi prosperidad y en la cumbre de toda buena fortuna. (134-35) To the multiple ironies and contradictions of this closure I return below. For the moment, let us note only the references to el día de hoy (the fictional time of writing), the historical date of Charles V’s cortes in Toledo (1525 or 1539, see n 4 below), and the peculiar syntagm - present and past - of en este tiempo estaba (the fictional date of the narrated events, a while before the fictional date of writing). It is no casual matter that the contradiction between Lázaro’s boastful moral (“los que, siéndoles contraria [la Fortuna], salieron a buen puerto”) and his inverted notion of the “cumbre de toda buena fortuna” (as cabrón - the abyss of degradation) should be hedged about by such explicit expressions of temporality. This “grammatical network of verb tenses and ramified network of temporal adverbs, [...] the fine differentiations oriented toward the datable and public character of time” (Ricœur 1984: 62-63), bring us face to face with the hypothesis of Temps et récit, which sets out to complete Aristotle’s account of emplotment by reinserting the element of temporality, which the Greek philosopher “not only did not consider, but explicitly excluded” (Ricœur 1984: 39). The dynamic missing from Aristotle’s account of plot, Ricœur argues, is the dialectic between dissonance, the aporia engendered by the heterogeneous episodic nature of temporal events, and consonance, an aesthetic or teleological configuration of these events in a plot that can be “followed”, that “finds its fulfilment in a conclusion” (Ricœur 1984: 64-65). Of this dialectic Lázaro’s vida is also an instance, though my purpos e here is to argue that it is an anomalous one. Let us remind ourselves of the remarkable extent to which Lazarillo de Tormes displays dissonance. The story can be seen, as we were already warned by Lázaro’s decision to tell it “from the beginning”, as a mighty exercise in narrative excess. The caso exists in the novel’s imagined present, and is of rather recent origin: Y con favor que tuve de amigos y señores, todos mis trabajos y fatigas hasta entonces pasados fueron pagados con alcanzar lo que procuré, que fue un oficio real [...]; en el cual el día de hoy vivo y resido a servicio de Dios y de Vuestra Merced. [...] En este tiempo, [...] el señor arcipreste de Sant Salvador, [...] procuró casarme con una criada suya. [...] Y así me casé con ella, y hasta agora In order to answer Vuestra Merced’s demand (“escribe se le escriba y relate el caso”) all that is required, therefore, are the novella’s final fifty lines - two folios in the earliest edition (Anonymus 1554a: fols F 5 no estoy arrepentido. (128-29, 130-31) v -F 7 v ), or 807 of the text’s 18,508 words. At their core lies nested the serpent-like phrase, “mi señor me ha prometido lo que pienso cumplirá” (132), the confession of all we need to know about Lázaro’s criminal complicity in the prostitution of his wife. The rest of the novella prefaces this brief account - which, to be sure, contains the entire story of the caso but has none of the contours of a <?page no="122"?> Jeremy Lawrance 122 plot - with an autobiography composed of seemingly random episodes spread unevenly over fifteen, sixteen, or perhaps twenty-eight years. 4 But what can the number of grapes that Lázaro steals from the ciego (36-37), the obsessive counting of the crumbs and shavings of bread in the curate of Maqueda’s arcaz (58-64), or the agonizingly slow ticking of the hungry hours in the escudero’s empty lodging (87) have to do with the caso? From Vuestra Merced’s point of view, nothing. What do the 1,900 words on the tricks of the buldero, in which Lázaro himself plays no part, contribute to the articulation, the consonance, of his life’s plot? Less than nothing. Lázaro, it is true, often attempts to forestall such objections. In the following aside, for example, he makes an apology based on the supposed moral of his tale: Huelgo de contar a Vuestra Merced estas niñerías, para mostrar cuánta virtud sea saber los hombres subir siendo bajos, y dejarse bajar siendo altos, cuánto vicio. (24) Nevertheless, such an apostrophe is in itself a tacit admission of the digressive irrelevance and dissonance of the episodes (niñerías). Formally it belongs to the ambit of praeteritio or paralipsis, but its topical modesty is doubly false, for in fact nothing could be further from the mind of Lázaro than any kind of preterition. He goes on immediately, Pues, tornando al bueno de mi ciego y contando sus cosas, Vuestra Merced sepa que... (25) On the face of it, then, the real criterion of exclusion or inclusion in Lázaro’s plot is not dianoia or congruence, but simply the constraint of narrative space and the requirement for donaire 4 The time-span of Lazarillo is framed by two datable events: the disaster of Djerba in which his father supposedly died (“la de los Gelves”, 21) and Charles V’s Cortes in Toledo (“el mesmo año que nuestro victorioso Emperador [...] tuvo en ella Cortes”, 135). Both events, however, “pecan contra la esencia misma de un hecho histórico” (in the apposite phrase of Pérez Vénzalá 2004), since each - surely no coincidence - happened twice (battles of Djerba, 1510 and 1522; Toledo cortes, 1525 and 1538-39). As Rico notes (Anon. 1987: 15*-20*), the datings are a transparent device for harmonizing Lázaro’s lived time with cosmic time, “making a noteworthy present coincide with an anonymous instant in the calendar” (Ricœur 1985: 263; see also 1984: 52-87). Subjective human time is rendered intelligible by integrating it with archival traces “having to do with the mention of dates, places, proper names” (Ricœur 2004: 178); or, as Guillén put it, drawing on classic passages on Erzählzeit/ erzählte Zeit in Thomas Mann’s Zauberberg (Mann 1960: 183, 541-48), by conjoining the two levels of narrative time, “cronológico, o astronómico, o público” and “personal, o psicológico - él de los hechos de conciencia, de una temporalidad que [...] sólo su propia sensibilidad puede captar” (Guillén 1957: 272). I call this device “transparent” because, within the named dates - whichever we select, and however we combine them - there is no way to make the narrated events (singularly asymmetrical in temporal duration and length of treatment; see n 6 below) fit the required spread of years. , entertainment: the need to keep to the writer’s allotted time, and to pass the reader’s time: <?page no="123"?> Lazarillo and time 123 Y porque vea Vuestra Merced a cuánto se estendía el ingenio de este astuto ciego, contaré un caso de muchos que con él me acaescieron. (35) Mas, por no ser prolijo Even when Lázaro makes this last excuse there are still 1,400 words to go before the promised , dejo de contar muchas cosas, así graciosas como de notar, que con este mi primer amo me acaescieron, y quiero decir el despidiente, y con él acabar. (37) despidiente or farewell - that is, murder - of the ciego (44-46). 5 Nonetheless, despite the transparent insincerity of these brevity formulae, Lázaro cannot let them go: “Y, por evitar prolijidad, desta manera estuvimos ocho o diez días” (91); “y porque todos los [artificios] que le veía hacer sería largo de contar The narrative rhythm of , diré uno” (115). Lazarillo de Tormes could be said to consist in a systaltic contraction and dilation between these alternating impulses of praeteritio and amplificatio, reticence and declaration: objective time is squeezed and stretched like kneaded dough. 6 On the surface such a rhythm belongs to, or expresses, dissonance. It seems - or is made to seem - that Lázaro’s narrative excess is driven by a misplaced urge to blurt out everything in an unpremeditated rush (“Pues sepa Vuestra Merced ante todas cosas que a mí llaman Lázaro de Tormes”, “Mas también quiero que sepa Vuestra Merced…”, 12, 27, etc.), uninhibited by any struggle to emplot, or even by a regard for prudent silence (“le hacía burlas endiabladas, de las cuales contaré algunas, aunque no todas a mi salvo”, 27). Such uncontrollable impetus in telling seems to embody the antithesis of a consonant “congruence in the organization of the events”. 7 5 Rico punctuates “y, con él, acabar” (“finish with it [the despidiente]”), but the syntactic ambiguity of Lázaro’s expression (“finish it/ him [the amo] off”) is typical of his evasive circumlocution, like the sly confession forty lines after the episode’s end: “no podía cegarle como hacía al que Dios perdone, si de aquella calabazada feneció” (51). 6 A failure to recognize this rhythm as subjective (see n 4, above) formerly led to criticism of the novella’s asymmetrical structure - ninety pages on the first three masters (21- 110), seventeen on the next six (110-28, of which ten are a digression on the buldero’s trick, 115-25); one master dismissed in a sentence of nineteen words (maestro de pintar panderos, 125), and the longest defined stretch of time in the story, four years working for the capellán as water-seller, in eighteen lines (125-27). All this was seen as décousu, illogical, episodic, a judgment first rebutted by Tarr (who noted correctly that the novella’ s division into tratados was the work of an incompetent copy-editor, Tarr 1927: 414-15), and then by Guillén (“el principal propósito del autor no consiste [...] en contar sucesos dignos de ser contados [...], sino en incorporar estos sucesos a su propia persona”, Guillén 1957: 270). For refinements on the notion of narrative rhythm see Frenk Alatorre 1975. 7 “Seems” to embody - Tarr and Guillén (n6, above) convincingly trace a tight underlying structure woven around strands such as hunger, hypocrisy, and honour, while Willis 1959 persuasively explains the major asymmetry, the buldero episode, as a technique of alienation for effecting a transition in the reader’s attitude, from sympathy for the child (Lazarillo) to detachment for the man (Lázaro). But all this is to move from the question of the fictional Lázaro’s emplotment of his autobiography to the quite <?page no="124"?> Jeremy Lawrance 124 To be sure, we are warned in the opening sentence of Lázaro’s impulse to tell his story not as a closed plot, but as an overflow of unselfconscious vanity. The announcement is of astounding incongruity, though we shall not appreciate the extent to which this is so until the very end: Yo por bien tengo que cosas tan señaladas, y por ventura nunca oídas ni vistas, vengan a noticia de muchos y no se entierren en la sepultura del olvido. (3) In the lines that follow, ominous signs of contradiction in Lázaro’s desire for glory soon crowd thick (“no hay libro, por malo que sea, que no tenga alguna cosa buena”, 4; “ninguna cosa se debería romper ni echar a mal, si muy detestable no fuese”, 5; “confesando yo no ser más sancto que mis vecinos”, 8; “desta nonada, que en este grosero estilo escribo”, 8-9). Within a few pages we are forced to confront the boast, “cosas tan señaladas”, with the aside, “estas niñerías”; by the end of the novella the contrast occupies centre-stage. The story’s whole sense comes to rest, in fact, on the incompatibility between the proud opening vainglory (“vengan a noticia de muchos”, “que a todos se comunicase”, “no me pesara que hayan parte y se huelguen con ello todos”, 3, 5, 9) and the closing inglorious praise of hypocritical silence, already mentioned: Cuando alguno siento que quiere decir algo della [his wife], le atajo y le digo: —Mirá, si sois amigo, no me digáis cosa con que me pese, que no tengo por mi amigo al que me hace pesar. Mayormente, si me quieren meter mal con mi mujer, que es la cosa del mundo que yo más quiero y la amo más que a mí [...]. Desta manera no me dicen nada. (134-35) It is a conclusion for which we have been secretly prepared by many hints: “No supe más lo que Dios dél hizo ni curé de lo saber” (46, of the murder of the blind man); “yo le satisfice de mi persona lo mejor que mentir supe, diciendo mis bienes y callando lo demás” (75, to the squire); “por esto, y por otras cosillas que no digo, salí dél” (111, of his treatment - perhaps obscene - by the Mercedarian friar). What we witness, behind Lázaro’s ostentatious claim to recount the plenitude of his experience for the edification of his fellows, is this clandestine design to configure his vida distinct matter of the real author’s manipulation of the pseudo-autobiographical fiction, on which see below. by a strategy not so much of telling as of tactical hypocrisy. And again, such a contradiction belongs to the realm of dissonance. Far from revealing a congruence in his life-story, Lázaro’s narrative act itself becomes, as Stephen Gilman perceptively notes, its most demeaning episode: When the Lázaro of the prologue, writing to someone who already knows the facts of his present existence, describes that existence as a “buen puerto”, we can only conclude that he is no longer wholly a man. (Gilman 1966: 153) By thus recounting his shameful life “not just with candor, but with ironical satisfaction”, he commits “a form of spiritual suicide” (Gilman 1966: 154). <?page no="125"?> Lazarillo and time 125 The dissonant soup of unmediated temporality that is Lázaro’s account of his nine masters before his encounter with the archpriest may be thought of as the medio of his story (21-128). But it is framed by a principio and fin (12-21, 128-35) so consonantly plotted as to smack of overdetermination. This distinction between the head-and-tail pieces and the middle is marked by a peculiarity that has not failed to attract notice, though its significance has been overlooked: whereas in the dissonant medio characters remain resolutely anonymous, in the principio and fin Lázaro takes care to name and particularize - his parents Tomé González and Antona Pérez “naturales de Tejares” (12), “el señor arcipreste de Sant Salvador mi señor, y servidor y amigo de Vuestra Merced” (130, identifying not just the archpriest but Vuestra Merced, in whose service “el día de hoy vivo y resido”, 129), even his mother’s black lover, the slave Zayd, stable-boy of the Comendador de la Magdalena (15-20), the address where she later plied her age-old trade (“el mesón de la Solana”, 20), the Emperor Charles V - by indubitably sardonic contrast - at his sumptuous festivities in Toledo (135), and, of course, last but not least, himself (“Lázaro de Tormes”, 12, 130, 132). 8 The most striking device that marks off the trimly congruent plotting of principio and fin, however, is their constant repetitions of phrase, motif, and situation. 9 Thus we find the same biblical beatitude that was ironically applied to the father, “padesció persecución por justicia” (14), picked up in a phrase about the son: “acompañar los que padecen persecuciones por justicia” (129). This also makes us think of his mother’s fate, “pusieron pena por justicia” (20). Similarly, the platitude applied to his mother, “determinó arrimarse a los buenos por ser uno de ellos” (15), is echoed by the son, “determiné de arrimarme a los buenos” (133; for a pejorative connotation - only heightened by Lázaro’s noteworthy omission of the second half of the proverb - see n3, above). Among repeated motifs, the most striking are (a) the renting of a casa for clandestine prostitution: Mi viuda madre [...] alquiló una casilla, y metióse a guisar de comer 8 The particulars are all real (Anon. 1987: 13n4, Tejares; 15n12, 21n39, Salamanca’s encomienda of La Magdalena and Solana mesón; 130n16, Toledo’s parish - though not archpresbytery; but see Vaquero Serrano 2001 - of San Salvador). 9 There are, to be sure, similar devices in what I call the book’s messy medio (e.g. “después de Dios, éste me dio la vida, y, siendo ciego, me alumbró y adestró en la carrera de vivir”/ “quiso Dios alumbrarme y ponerme en camino y manera provechosa”, 24/ 128; the blind man’s prophecy about wine, 43; the squire’s notions about “la negra que llaman honra” leading to Lázaro’s decision to dress as hombre de bien, 127; etc.), but these belong to the category of overdetermination - the essence of the plot’s circularity is contained in the repetitions quoted below from principio and fin. A full treatment of the structural devices used to give congruence to the plot in these framing sections would require also an analysis of Lázaro’s asides; I discuss one notable example below. a ciertos estudiantes. (15) <?page no="126"?> Jeremy Lawrance 126 hízonos alquilar una casilla par de la suya; [...] veen a mi mujer irle a hacer la cama y guisarle de comer (131-32); (b) daily goings in and out as a synecdoche for illicit sex: algunas veces se venía [Zaide] a nuestra casa y se iba a la mañana; otras veces, de día llegaba a la puerta en achaque de comprar huevos, y entrábase en casa. (16) yo holgaba y había por bien de que ella entrase y saliese, de noche y de día, (134) which in each case lead to an improvement in domestic economy: vi que su venida mejoraba el comer, [...] porque siempre traía pan, pedazos de carne, y en el invierno leños (17) Y siempre en el año le da, en veces, al pie de una carga de trigo; por las Pascuas, su carne; y cuando el par de los bodigos, las calzas viejas que deja; [...] los domingos y fiestas, casi todas las comíamos en su casa. (131-32) (c) the professional hazard of bastards conceived in sin: continuando la posada y conversación, mi madre vino a darme un negrito muy bonito. (17) me han certificado que antes que conmigo casase había parido tres veces (133); and (d) the ever-present danger of wagging tongues: por evitar peligro y quitarse de malas lenguas, se fue a servir [...] en el mesón de la Solana. (20) Mas malas lenguas, que nunca faltaron ni faltarán, no nos dejan vivir, diciendo no sé qué y sí sé qué de que veen a mi mujer irle a hacer la cama [...]. —Lázaro de Tormes, quien ha de mirar a dichos de malas lenguas nunca medrará. [...] Por tanto, no mires a lo que pueden decir, sino a lo que te toca, digo a tu provecho. (132-33) And last, repetition of situation: besides the obvious link between “buen puerto” (11) and “cumbre de toda buena fortuna” (135), and the patent analogy between the prostitutions of Lázaro’s mother and wife, Gilman notes a further parallel with his parents: “after years of victimization, [he] has joined hands with his persecutors, or, it might be more exact to say, has surrendered himself into their hands” (Gilman 1966: 154; see also Guillén 1957: 269-70 n14, on persecución). That is, despite his efforts to become a tool of justice (as hombre de justicia with an alguacil, 127-28, or with an oficio real as pregonero At first sight, all such repetitive tropes of tautology and climax look like classic ploys for organizing events in a congruent or consonant plot. Formally, they might be expected to point up connexions denoting progress or development between start and finish, thereby producing a plot that, in , 128-29), he remains as ineludibly at the mercy of its vile persecutions as ever his mother and father were. <?page no="127"?> Lazarillo and time 127 Ricœur’s words, could be “followed” to its “fulfilment in a conclusion” 10 Paradoxically, however, their actual effect is to suggest instead a mirror image, thereby creating stasis - a story that is circular, with its tail in its mouth. Lázaro’s life - despite the vanity of his claim to justify it by teaching “cuánta virtud sea saber los hombres subir siendo bajos” - ends where it began, with an amancebamiento. Boy and man, he lives off the immoral earnings of fallen women. In fact, we can go further, though to my knowledge only Gilman has done so, grasping the essence of the book. For though the external plot of his life is circular, inside himself Lázaro does not end up where he began; he is somewhere far worse. Indeed, it is precisely his use of the same words in both situations, principio and fin, that allows us to measure the extent of his degradation. When Lázaro’s mother tells the son whom she has raised despite the “mil importunidades” (20) of her abject and dangerous profession, “Hijo, ya sé que no te veré más. Procura de ser bueno, y Dios te guíe. Criado te he y con buen amo te he puesto” (22), even though her last statement is untrue, and even though the narrator seems to sneer at her simplicity, we know she means what she says. We sense her value as a person. (Gilman 1966: 155-56&n29) However, when Lázaro uses “identical commonplaces to allude to his parents’ tribulations and his present dishonorable comfort” (“padecer persecución por justicia”, “arrimarse a los buenos”), we sense the opposite - a “deep sentimental rupture” indicative of inhumanity (Gilman 1966: 154). The precise gauge of this debasement is given by a key phrase at the end: mi mujer [...] es la cosa del mundo que yo más quiero y la amo más que a mí What is this “love” that can prostitute its object, and even venture a sarcastic joke on the subject at her expense? , y me hace Dios con ella mil mercedes y más bien que yo merezco. Que yo juraré sobre la hostia consagrada que es tan buena mujer como vive dentro de las puertas de Toledo. (134-35) 11 10 Or, in simpler terms, repetitions create that sense of closure that furnishes the unity of the story, the point of view from which it can be perceived as an intelligible thought: “It is as though recollection inverted the so-called ‘natural’ order of time. In reading the ending in the beginning and the beginning in the ending, we also learn to read time itself backwards, as the recapitulation of the initial conditions of a course of action in its terminal consequences” - and this in turn is “to understand how and why the successive episodes led to this conclusion” (Ricœur 1984: 67-68). In its formal structure Lazarillo de Tormes is a well-nigh perfect instance of this principle (e.g. Lázaro Carreter 1972: 84-97); in its content and meaning (Wahrheitsgehalt), as I shall argue, it annihilates and negates it. 11 The female population of Toledo was notorious for its barraganas; besides, Lázaro’s wife has three bastards (“me han certificado [...] había parido tres veces”, 133), no doubt recalling the proverb, “En Toledo no te cases, [...] darte han mujer preñada o parida” (Anon. 1989: xxiv, xxvi; Rico 1988: 74&n3). The comparative “tan buena como” is therefore ironic (tan buena = mala), and “buena mujer” perhaps connotes puta (n3). Lázaro makes it clear: <?page no="128"?> Jeremy Lawrance 128 me casé con ella, y hasta agora no estoy arrepentido, porque, allende de ser buena hija y diligente servicial, tengo en mi señor acipreste todo favor (131). “Hasta agora”: no undying passion, but a chauvinist’s paltry satisfaction - “so far with no regrets” for having tied himself to so “dutiful” a helpmate - at a “thing” indifferent in itself, but valuable because it secures the favours of a rich man. “La cosa que yo más quiero y la amo”: the phrase ought to remind us of the only other use of the word love [Zaide] con todo esto acudía a mi madre para criar a mi hermanico. No nos maravillemos de un clérigo ni fraile porque el uno hurta de los pobres y el otro de casa para sus devotas y para ayuda de otro tanto, cuando a un pobre esclavo in the entire novella - a prophetic aside at the beginning that must now strike us, with awful clarity, as the sentence for which all the rest was written: el amor le animaba a esto. (19) 12 More than anything else it is the nature of this inversion, this reversal of the normal relation of end to beginning (a trajectory that goes backward, not forward) that makes clear the error of treating Zayd’s love is real, and costly to himself; Lázaro’s, by comparison, is nothing more than a hideous and empty grimac e. Lazarillo de Tormes as some kind of prefigurement of nineteenth-century naturalism. Despite superficial appearances to the contrary, the book’s closure displays no leaning towards determinism. What goes wrong with Lázaro is not, in the end, an outcome of birth, nature, or social background, but a moral mutilation that happens at an undefined but definite juncture between his childhood and manhood: a loss of charity. 13 12 The fact that Zayd is black is a vital element (Lawrance 2005: 91-93). One had better admit that this is not quite the “only” other occurrence of love, though the verb amar appears nowhere else (cf. desamar, 92). The other place is the story of the squire: “Con todo, le quería bien, [...] y antes le había lástima que enemistad” (91), and “por amor de Dios”, of the mujercillas - whores, no doubt - who, against the law, take Lázaro in (109, cf. 93; see Rey Hazas’s note, Anon. 1989: 113). The tenderness - may we not use this word? - of certain moments in Lázaro’s time with this master cannot fail to surprise us, or even catch at our throats; nevertheless, its function presents no mystery (Tarr 1927: 410-12; Willis 1959: 272-73; Lázaro Carreter 1972: 133-53, 187-92). Furthermore, it is to be contrasted, in the same episode, with the book’s other notable description of hollow commercial sex (the riverside “rebozadas mujeres”, 85-86). In the light of my analysis below of the fin, these features of the central episode can be seen for what they are: a mid-stage along the way towards the final idea on loving charity. 13 Lázaro himself identifies the moment - it was when the blind man decided to amuse himself by smashing the child’s head against a stone bull (“Parescióme que en aquel instante desperté de la simpleza en que, como niño, dormido estaba”, 23). But the reader knows it was not then, nor even in the lovingly detailed scene when Lázaro took revenge on his tormentor by killing him (44-46), for in neither case was hypocrisy yet involved. His corruption is more complex; loss of innocence is not the same as loss of humanity. The novella is about lovelessness, a universe slowly emptied of loving-kindness. Is it necessary - when we have to do with a text that makes a slave thief and a prostitute the only examples of true love in the <?page no="129"?> Lazarillo and time 129 world - to point out that, far from being determinist, this ending reflects a profoundly religious, and indeed specifically Christian, outlook? The outcome of this analysis of Lázaro’s emplotment of his life indicates a dialectic in which narrative consonance (the rules of atemporal causal unity trac ed out by Aristotle) is defeated at every level by temporal dissonance. Indeed, if to talk of a “dialectic” is to imply that emplotment always involves a resolving of discord in concord (Ricœur 1984: 42-45), the various levels of tension and ultimate lack of closure in Lázaro’s life-story must mean that the very term “dialectic” is empirically irrelevant. 14 It is in this sense that Lázaro’s Ricœur himself confronts the objection that “the narrative consonance imposed on temporal dissonance” may involve “a violence of interpretation”, though for him this does not invalidate the dialectical relationship because it is “at the heart of our most authentic experience” (Ricœur 1984: 72). In extreme cases, nevertheless, such hermeneutic violence must lead to a deliberate rejection of concordance by the reader: It is no longer “concordance” that is imposed by force on the “discordance” of our experience of time. Now it is the “discordance” engendered in discourse by the ironic distance in regard to any paradigm that undermines from within the view of “concordance” sustaining our temporal experience [...]. We can then legitimately suspect the alleged [congruence]. (Ricœur 1984: 73) vida (as I have suggested in passing) is anomalous: it does not so much fail to convince us of congruence as force us to reject it. “Reflection on the limits of concordance”, Ricœur goes on to say, “never loses its legitimacy”; I cannot concur, nevertheless, in laying the burden of the anomaly on the reader’s reception of the text. 15 In Lazarillo de Tormes 14 The past tense in the book’s last sentence, “Pues en este tiempo estaba en prosperidad y en la cumbre de toda buena fortuna” (135) has long been read as denying closure; already Anon. 1554b added the interpolation, “de lo que aquí adelante me sucediere avisaré a Vuestra Merced” (fol. xlvi), an invitation taken up within a year by a Segunda parte (Anon. 1555). Closure is also resisted by the contradiction between Lázaro’s two implicit audiences, the public (todos) and Vuestra Merced; at the start Lázaro refuses to recognize a conflict of interest (“Porque si así no fuese [que a todos se comunicase], muy pocos escribirían para uno solo, pues [...] quieren [...] que vean y lean sus obras”, 5-6), but by the end, as we have seen, even he seems aware at some level of the incompatibility. 15 Ricœur (Ricœur 1984: 46, 53) distinguishes three “sides” or stages of mimesis: “first or prior” (mimesis I, apprehension of practical reality), pivotal (mimesis II, the act of emplotting such an apprehension in a poetic creation), and “outside” (mimesis III), reception of the apprehension by the reader). It is clear that he locates “suspicion” in the last stage. there are, in particular, two factors that suggest different loci for violence and suspicion. The first is the narrator’s humour, the second the question - unanswerable, but which every reader nevertheless senses to be the hub, the source of the text’s inexhaustible richness - of the degree to which Lázaro’s voice is to be differentiated from that of the real author. To the extent that both factors concern the question of sympathy - that is, <?page no="130"?> Jeremy Lawrance 130 compassion, or lack of it, for Lázaro as boy and/ or man -, they pose the same problem. As for humour: there is nothing remotely funny about Lázaro’s sufferings; his desire constantly to make a joke of them - and, by the way, to force from us involuntary but irresistible laughter - is, on one hand, a defence mechanism designed to elicit sympathy, but on the other a device of alienation. Nowhere do we see this better than in the moments - usually of maximum horror and pain - when the gusto of his humour makes Lázaro refer to himself in the third person, as in this notable example of anacoluthon from the episode of the blind man’s jarrazo: con toda su fuerza, alzando con dos manos aquel dulce y amargo jarro, le dejó caer sobre mi boca, [...] de manera que el pobre Lázaro, que de nada de esto se guardaba [...], verdaderamente me pareció que el cielo, con todo lo que en él hay, me había caído encima. Fue tal el golpecillo, que [...] me quebró los dientes, sin los cuales hasta hoy día me quedé. (32-33) “Hasta hoy día”: the deprecatory diminutive golpecillo and witty joke “dulce y amargo Much has been written on the latter question, but, as I have already suggested, it remains unanswerable, or rather - since readers no doubt, and in this case perhaps legitimately, formulate various answers - insoluble. But for criticism the answers are unimportant; only the question matters. The point is not whether the fictional narrator Lázaro understands the plot of his life, but whether he ever could understand it, whether it can be understood; the text’s failure to establish a consonant “congruence in the organization of the events”, together with the black humour of the narrative voice and the different perspective implicit in the authorial voice, signify that he could not, and that it cannot. Evidently, then, we have to do with a plot - or attempt at jarro” cannot conceal the pain of memory. Lázaro continues immediately, “Desde aquella hora quise mal al mal ciego”; later he will kill him, also with a merry quip (“¿Cómo, y olistes la longaniza y no el poste? ¡Olé, olé! ”, 45). At this last moment, are we to sympathize with Lázaro? It is to be hoped no one would dare offer a snap judgment upon such a case of conscience. In one sense the aporia is moral, but in another and more profound sense it is aesthetic: sympathy and alienation are held in equilibrium, so that we are forced to ask what the text means us to feel and think. Hence our second problem, the point of view, and the intimate and necessary connexion between this technical aspect and the question of sympathy. When Lázaro tells us, for instance, that he “loves” the wife (or “thing”) that he prostitutes, there is no moral aporia; we may condemn such inhumanity without hesitation. The aesthetic dilemma, however, remains; we are still forced to ask to what extent, in the light of the preceding story, Lázaro, in treating his marital arrangement with insouciance and even jokiness, is supposed to be aware of his own degradation, and hence - since guilt cannot exist in ignorance - whether or not he is a figure of compassion. <?page no="131"?> Lazarillo and time 131 plotting - that is ironic, not just in Northrop Frye’s formal sense, as that lowest mode of mimesis in which the protagonists are portrayed as inferior to us “so that we have the sense of looking down on a scene of bondage, frustration, or absurdity” (Frye 1957: 33-34), but also, more significantly, in the sense described by Baudelaire, where the protagonist experiences the vertigo of seeing his life detach, come apart from his sense of self (“se dédoubler [...] comme spectateur désintéressé aux phénomènes de son moi”, “être à la fois soi et un autre”, Baudelaire 1961: 982, 993). 16 In this ironic mode, Lázaro’s narrative enacts his inability to mask the dissonance of his life in a consonant myth, regardless of whether or not he is conscious of the fact. That is to say, suspicion at the violence of interpretation springs, in the first instance, not from the reader but from “the heart of Lázaro’s most authentic experience”. And likewise, the anonymous author’s reticent refusal to provide an answer to the question, “is this hero worthy of compassion? ”, seems intended to imbue the text with the same suspicious sense that life is not a plot, is not played by the same rules as a myth. Indeed, this very point is hinted at by an authorial irony mentioned in passing on the first page of this paper. By inserting, as it were between the lines of Lázaro’s pompous claim to have found a principio and medio to his case, a fleeting reminder of the mockery to be accorded to the “cyclical” style of plot (n2, above), our anonymous genius seems surreptitiously to warn against expecting any aesthetic fin; and, thereby, tragically ironizes Lázaro’s whole succeeding story. 17 Anonymus, La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades, Burgos 1554a. Anonymus, La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades. Nuevamente impressa, corregida, y de nuevo añadida enesta segunda impression, Alcalá de Henares 1554b. Works cited 16 For a discussion of this form of transcendental irony in relation to temporality see de Man 1983, 208-228. Its subject is the alienated man who has become the object of his own reflection, and, as de Man insists, “the dialectic of the self-destruction and selfinvention which for [Schlegel], as for Baudelaire, characterizes the ironic mind is an endless process that leads to no synthesis” (de Man 1983: 220, my italics, where happens to be Aristotle’s precise word for the “putting together of incidents” in a mythos). For Gilman too, though from a different standpoint, the novella is about profound alienation and estrangement (Gilman 1966: 152&n18, with the quotation from Lukács). Of course, Lazarillo de Tormes is also ubiquitously ironic in style, as we have seen, but that is not the issue here. 17 I am grateful to Wolfram Aichinger, among other things, for sage conversations on Ricœur and for suggesting the topic of this essay; to Jörg Türschmann, Michael Solomon, and our colleagues at the Wiener Romanistentag for their warm academic fellowship; and to Oliver Noble Wood for casting a wise and ruthless eye on the draft of this essay. <?page no="132"?> Jeremy Lawrance 132 Anonymus, La segunda parte de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades, Anvers 1555. Anonymus, La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades, R. O. Jones (ed.), Manchester 1963. Anonymus, Lazarillo de Tormes, Francisco Rico (ed.), 2 nd ed. con apéndice bibliográfico por Bienvenido C. Morros, Madrid 1987. Anonymus, La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades, Antonio Rey Hazas (ed.), Madrid 1989. 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Für Ricœur kommt durch die narrative Vermittlung von Zeit eine Überwindung dieser Zweigleisigkeit des Zeitdenkens zustande, vor der das Zeitdenken im Lauf der Geschichte immer wieder kapitulieren musste. Ohne erzählte Zeit kann es für das Denken keinen Zugang zum menschlichen Zeiterleben geben, und in ontologischer Rückführung gestaltet sich laut Ricœur die menschliche Zeit nach dem Modus des Narrativen: „[L]e temps devient temps humain dans la mesure où il est articulé sur un mode narratif, et […] le récit atteint sa signification plénière quand il devient une condition de l’existence temporelle“ (Ricœur 1983: 85). Im konfigurativen Akt (acte configurant) der Erzählung bringt die imagination productrice, die produktive Einbildungskraft nach Kant, die Ricœur dem Dichter sowie dem Leser zuspricht, die lineare und die nicht-lineare Zeitdimension in Verbindung (vgl. Ricœur 1983: 103-106). Denn das Erzählen bezieht Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in unterschiedlicher Weise aufeinander und kann so immer wieder neue Sichtweisen auf die zeitliche Existenz des Menschen eröffnen. Anders gesagt, spiegelt die narrative Fiktion nach Ansicht Ricœurs die eben genannte Zweigleisigkeit des Zeitdenkens wider und löst sie zugleich auf. Nicht auf theoretischer Ebene, denn dem reflexiven Denken bleibt nach Ricœur ein widerspruchsloser Zugang zum Phänomen Zeit verwehrt, sondern auf poetische Art. Ricœur unterstreicht immer wieder die schöpferische und gestaltende Kraft des poetischen Diskurses: Dichtung verändert unseren Horizont, kann uns dazu verhelfen, die Welt neu zu sehen. Sie übt eine heuristische Funktion in Bezug auf die Wirklichkeit aus, oder mit Aristoteles’ vielzitierten <?page no="136"?> Martina Meidl 136 Worten über die Vorzüge der Dichtung im neunten Kapitel der Poetik: Die Dichtung vermag, das Allgemeine mitzuteilen, das, „was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (eikos) oder Notwendigkeit (anankaion) Mögliche“ (Aristoteles 2005: 29). Schließlich sieht Ricœur in der Dichtung auch die Funktion, sich an der Grenze des Erzählbaren zu bewegen und expériences-limites (1985: 388) zu bearbeiten, wie die Erfahrung des Todes oder die Ewigkeitserfahrung. „Nulle part ne se vérifie mieux la fonction de la fiction, qui est de servir de laboratoire pour des expériences de pensée en nombre illimité“, erklärt Ricœur im Schlusskapitel von Temps et récit III und unterstreicht mit der Metapher des Laboratoriums das kreative und innovative Moment der narrativen Fiktion (Ricœur 1985: 388). Allerdings sind die Kapazitäten dieses „Laboratoriums“ nicht unbegrenzt. Die narrative Fiktion scheitert an einem weiteren aporetischen Aspekt des Zeitdenkens, auf den Ricœur im Schlusskapitel von Temps et récit III aufmerksam macht: Beim Versuch, die Zeit im Ganzen und als Einheit zu erfassen, stößt die Erzählung an ihre Grenzen. Ricœur spricht von der generellen Unmöglichkeit, Zeit auf eine Vorstellung zu reduzieren. Demnach ist Zeit letztendlich unerforschlich und bleibt ein Mysterium. Doch als Ausblick erwägt Ricœur an dieser Stelle noch die Rolle anderer diskursiver Modi der literarischen Fiktion in der Erforschung der Zeit. Er kommt zu dem Schluss, es sei am ehesten die Gedankendichtung, le lyrisme de la pensée méditante, die sich dem Phänomen Zeit auf nichtnarrative Weise ohne den "Umweg über die Kunst des Erzählens" zu nehmen nähern kann: "va droit au fondamental sans passer par l’art de raconter" (Ricœur 1985: 391). Durch solche "Lyrik des meditierenden Denkens" zeichnen sich nach Ricœur beispielsweise die reflexiven Passagen in den Monologen und Dialogen der antiken Tragödie oder in Shakespeares Hamlet aus. Die folgenden Überlegungen knüpfen an diesen Ausblick an und schlagen zugleich die Brücke von Temps et récit zu einem anderen, früheren Werk Paul Ricœurs: La Métaphore vive (1975). Als Ausgangspunkt dient dabei das lyrische Werk von Octavio Paz, dessen Reflexionen über Zeit und Zeitlosigkeit im Sinne des Ricœur’schen Konzepts des lyrisme de la pensée méditante eine diskursive Annäherung an und Erforschung von Zeit darstellen. 2 Lyrik des meditierenden Denkens: Octavio Paz Das Ausloten der Grenzen der Zeit ist ein thematischer Schwerpunkt im Werk von Octavio Paz, dem er sich in besonderem Maße in seiner Lyrik widmet. Trotz reflexiver Sprachstrukturen in seiner Gedankenlyrik, ist für Paz die Poesie ein Ort besonderer Zeiterfahrung - nicht in einem reflexiven Sinn, sondern im Sinne einer Mimesis wie sie Ricœur formuliert, oder, wie es Paz selbst im poetologischen Essay El arco y la lira (1979) in seiner charakteristischen, metaphernreichen Prosa ausdrückt: „A la inversa de lo que <?page no="137"?> Mimesis der Zeitlosigkeit 137 ocurre con los axiomas de los matemáticos, las verdades de los físicos o las ideas de los filósofos, el poema no abstrae la experiencia: el tiempo está vivo, es un instante henchido de toda su particularidad irreductible y es perpetuamente susceptible de repetirse en otro instante, de re-engendrarse e iluminar con su luz nuevos instantes, nuevas experiencias“ (Paz 1979: 187). Die Grenzerfahrung der Zeit, um die es hier geht, ist die Erfahrung des instante intemporal: Augenblick und Zeitlosigkeit zählen zu den Schlüsselbegriffen der Poetik von Octavio Paz. Für Paz eröffnet sich jenseits von Zeit, in einer absoluten, augenblicklichen Gegenwart, eine ‚wirklichere‘ Zeit und ‚wirklichere‘ Wirklichkeit. Kunst und Poesie, wie auch die Liebe oder der Tod, sind Orte der Grenzerfahrung der Zeit. Sie können den Augenblick festhalten und den aus dem ‚Jetzt‘ vertriebenen und in der irreversiblen Zeit lebenden Menschen versöhnen mit seiner otredad, seinem verlorenen Ursprung, seinem Zentrum, auf dessen Suche er sich zeitlebens befindet, wie der Dichter bereits 1950 in El laberinto de la soledad darstellt. Mit Heidegger , der von „Seinsverlassenheit” und „Seinsvergessenheit“ (1989: II) spricht , sieht Paz die Gespaltenheit und dadurch bedingte Einsamkeit als ontologische Voraussetzung des Menschseins in der Zeit an. Ricœur spricht in Zusammenhang mit Heidegger in Temps et récit III von der „fonction de la fiction d'arracher les conditions de la totalisation à la dissimulation“ (Ricœur 1985: 200) und lässt hier das aus Soi-même comme un autre (1990) bekannte Konzept der narrativen Identität anklingen. Auch Octavio Paz versteht die Dichtung als Weg zur Ganzheitserfahrung. Allerdings zu einer Ganzheitserfahrung, die er in einer augenblicklichen, zugleich zeitlosen und ewigen Gegenwart ansiedelt und damit eine Auffassung von Zeit als Kollektivsingular, als Ganzheit vertritt: „El presente es el sitio de encuentro de los tres tiempos. […] Es hoy y es la antigüedad más antigua, es mañana y es el comienzo del mundo, tiene mil años y acaba de nac er“(Paz 1991: 21). Die Bandbreite der philosophischen, religiösen und anthropologischen Reminiszenzen ist hier groß und reicht von Platon über Augustinus bis Bergson, Husserl und Heidegger, vom griechischen und biblischen Kairos über den zen-buddhistischen Augenblick der plötzlichen Erleuchtung (eka-ksana) bis zur mythischen Zeit bei Lévi-Strauss und bis zu Mircea Eliade, der von einer heiligen im Gegensatz zur profanen Zeit spricht als einer ewigen Gegenwart, die für den Menschen in der rituellen Praxis jederzeit zugänglich ist (Eliade 1957: Kap. II). Ähnlich wie Eliade meint Octavio Paz, dass der Mensch über eine a priori vorhandene Kenntnis der ewigen bzw. zeitlosen Gegenwart verfügt und jederzeit zu deren Aktualisierung im Prozess des Dichtens oder der Rezeption gelangen kann: „El poema es mediación entre una experiencia original y un conjunto de actos y experiencias posteriores, que sólo adquieren coherencia y sentido con referencia a esa primera experiencia que el poema consagra. […] el tiempo cronológico […] sufre una transformación decisiva: cesa de fluir, deja de ser sucesión, instante que viene después y antes de otros idénticos, y se convierte en comienzo de otra cosa. El poema <?page no="138"?> Martina Meidl 138 traza una raya que separa al instante privilegiado de la corriente temporal“ (Paz 1979: 186). Thesen wie diese aus den poetologischen Schriften von Octavio Paz (v.a. El arco y la lira) scheinen außerdem Ricœurs Modell der dreifachen Mimesis aus Temps et récit I zu bestätigen: Ricœur geht mit seinem Konzept der Mimesis I davon aus, dass dem Dichter und dem Leser ein Vorverständnis (pré-compréhension) von der Welt des Handelns und der Zeitstrukturen gemeinsam ist, Octavio Paz geht von einer gemeinsamen Ur- Erfahrung des instante eterno aus. Zweifellos reicht die Bedeutung der dreifachen Mimesis über die Thematik von Temps et récit hinaus. Ricœur hat das Modell nur für die Erzählung ausgearbeitet, doch er macht wiederholt auf die Entsprechungen zwischen Erzählung und Lyrik aufmerksam und betont im Vorwort zu Temps et récit I, dass die „redescription métaphorique et mimèsis narrative sont étroitement enchevêtrées, au point que l'on peut échanger les deux vocabulaires et parler de la valeur mimétique du discours poétique et de la puissance de redescription de la fiction narrative“ (Ricœur 1983: 14). Interessant wäre, im Sinne der dreifachen Mimesis, systematisch Überlegungen über die Vermittlungsfunktion poetischer Sprache anzustellen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich darauf, die spezifische Funktion zu erläutern, die Octavio Paz der poetischen Sprache zuschreibt und bringen diese mit dem Konzept der rezeptiven Aneignung in Ricœurs Mimesis III, dem Konzept der Synthese des Heterogenen in Mimesis II und der Theorie der lebendigen Metapher in Verbindung. 3 Mimesismodell und Pragmatik poetischer Sprache Die poetische Sprache wird als Ort der Erfahrung aufgefasst, das Dichten als Erlebnis. In Dichtung und Wahrheit äußert sich Goethe wie folgt über eine bestimmte Etappe seines Werdegangs als Dichter: „Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen“ (Goethe 1991: 303/ 2.Teil/ 7.Buch). Ausgehend von Diltheys Erlebnisbegriff und Gustavo Adolfo Bécquers Aussagen über das Schreiben aus der Erinnerung heraus 1 Avantgardistischen Poetiken wie dem französischen Surrealismus, dem chilenischen Creacionismo oder dem mexikanischen Grupo Taller verpflichtet, , hat Jorge Guillén den Begriff der memoria poética geprägt: „El escritor recuerda, y si la memoria es la cuna de la poesía, los materiales vividos reaparecerán serenados por el recuerdo“ (Guillén 1972: 124 f). 1 „Entonces no siento ya con los nervios que se agitan […]; siento, sí, pero de una manera que puede llamarse artificial“ (Cartas literarias a una mujer, Bécquer 1972: 271). <?page no="139"?> Mimesis der Zeitlosigkeit 139 geht Paz darüber hinaus und sieht die lyrische Sprache als Ort gänzlich neuer Erfahrung, als Erleben von rein sprachlich konstruierten Welten. Eine Sichtweise, die sich in folgenden Versen aus Pasado en claro widerspiegelt: „El sonido, bastón de ciego del sentido: / escribo muerte y vivo en ella/ por un instante. Habito su sonido: / es un cubo neumático de vidrio,/ vibra sobre esta página,/ desaparece entre sus ecos“ (Paz 1980: 147). Die Vermittlung des Erlebnisses durch die poetische Sprache kommt nicht nur im schöpferischen Prozess zum Tragen. In seinem Konzept der Mimesis III setzt sich Ricœur mit der rezeptiven Aneignung auseinander. Sowohl hier als auch in seiner Metapherntheorie ist Ricœur unter anderem der Hermeneutik Diltheys und dessen Begriff des „Erlebnisses“ als „jede[m] der unzähligen Lebenszustände, durch die der Dichter hindurchgeht“ (Dilthey 2005: 128) verpflichtet. Das jeweilige Erlebnis, das in der Dichtung zum Ausdruck kommt, wird vom Leser nachvollzogen und neu erlebt. Octavio Paz bringt den Erlebnis- und Vermittlungscharakter des Gedichts auf folgenden Nenner: Lesen bedeutet, das Gedicht neu zu erleben, „[…] al recrear sus palabras nosotros también revivimos su aventura ” (Paz 1979: 191). So wird das Gedicht für den Leser auch zu einer Quelle der Gegenwartserfahrung: „[E]l poema da de beber el agua de un perpetuo presente que es, asimismo, el más remoto pasado y el futuro más inmediato. […] También nosotros nos fundimos con el instante para traspasarlo mejor, también, para ser nosotros mismos, somos otros“ (ebd.: 188; 191). Über die Charakteristik des poetischen Erlebnisses bei Ricœur gibt La Métaphore vive Aufschluss. Mit Aristoteles und Wittgenstein hebt Ricœur die Rolle der Unmittelbarkeit sowie der Bildlichkeit der metaphorischen Erfahrung hervor. Die lebendige Metapher hat die Fähigkeit, die Bilderwelt, wie er mit Aristoteles sagt, „vor Augen“ zu führen (Ricœur 1975: 253). Um die Ansicht zu betonen, dass die Bedeutungsvermittlung durch die Metapher eine primär nichtsprachliche ist, greift Ricœur auch auf den Wittgenstein’schen Begriff des „Sehen als“ bzw. „Etwas-als-etwas-anderes- Sehen“ (ebd.: 271), zurück: Die Metapher vermittelt zwischen dem Begrifflichen und dem Sinnlichen, daher sieht Ricœur, im Grunde dem traditionellen Begriff des literarischen Bildes verpflichtet, das Ikon als ‚Matrix‘ der neuen semantischen Pertinenz an, die durch die Metapher geschaffen wird (Ricœur 1975: 253). Als Produkt der Vorstellung, nicht der Wahrnehmung (nach Gaston Bachelard), und dank der bereits erwähnten Kant’schen produktiven Einbildungskraft vermittelt die Metapher bei Ricœur das Imaginäre „au sens de quasi visuel, quasi auditif, quasi tactile, quasi olfactif“ (Ricœur 1975: 253) . Octavio Paz sieht darüber hinaus in der imagen poética, der er in El arco y la lira ein Kapitel widmet, die Fähigkeit, das nicht Wahrnehmbare zu erfahren: „Aquello que nos muestra el poema no lo vemos con nuestros ojos de carne sino con los del espíritu. […] los sentidos, sin perder sus poderes, se convierten en servidores de la imaginación y nos hacen oír lo inaudito y ver lo imperceptible“ (Paz 1995: 9). <?page no="140"?> Martina Meidl 140 In diesem Sinne geht die Poetik von Octavio Paz über den phänomenologischen Konstruktivismus Ricœurs hinaus und stellt sich in einen magischmystischen Kontext. In El arco y la lira setzt Octavio Paz Poesie mit einem Akt der Kommunion im Sinne einer Teilhabe an der zeitlosen Gegenwart gleich: „La recitación poética es una fiesta: una comunión. […] El poema se realiza en la participación, que no es sino recreación del instante original“ (Paz 1979: 117). Aber auch über die fundamentalen Unterschiede zwischen Poesie und religiöser Erfahrung äußert sich Paz in El arco y la lira: „Poesía y religión son revelación. Pero la palabra poética se pasa de la autoridad divina. […] es la revelación de sí mismo que el hombre hace a sí mismo“ (Paz 1979: 137). Das enthüllende und erhöhende Anliegen der Poetik von Octavio Paz lässt bereits annehmen, dass es an manchen Stellen seiner Lyrik zu einer Herausforderung wird, die Frage nach dem Referenzcharakter zu stellen. Interessant, wenn auch nur teilweise aufschlussreich, ist diesbezüglich die Lektüre Ricœurs, der ja den prinzipiellen Referenzcharakter poetischer Sprache postuliert und damit Roman Jakobsons Konzept von der Autoreferentialität, demzufolge die poetische Sprache das Augenmerk vom Gegenstandsbezug auf die Mitteilung selbst verlagert, relativiert. Für Ricœur scheint die Aktualisierung von Dichtung den Leser immer zu einem Referenten zu führen: Was der Leser in der Lektüre erhält, ist nicht nur der Sinn des Werkes, sondern über diesen seine Referenz, d.h. die spezifische Erfahrung, die durch das Werk zur Sprache kommt. Aufgrund dieses Referenzcharakters „aux œuvres de fiction […] nous devons pour une grande part l'élargissement de notre horizon d'existence“, meint er in Temps et récit I (1983: 121). In Gedichten zum Thema Zeitlosigkeit scheint Octavio Paz eine spezifische Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, doch es fehlt für die große Unbekannte des instante eterno ein konkreter außersprachlicher Referent. Hier lassen sowohl das Mimesismodell als auch die Metapherntheorie Ricœurs manches offen, wie das folgende Kapitel anhand eines Textbeispiels illustrieren soll. 4 Synthese des Heterogenen Ein zentraler Begriff in der Mimesis II ist die synthèse de l’hétérogène, die sowohl in der Metapher als auch in der Erzählung zustande kommt. In Ricœurs Worten: „Dans les deux cas, du nouveau - du non encore dit, de l'inédit - surgit dans le langage: ici la métaphore vive, c'est-à-dire une nouvelle pertinence dans la prédication, là une intrigue feinte, c'est-à-dire une nouvelle congruence dans l'agencement des incidents“ (Ricœur 1983: 11). Für die Lyrik von Octavio Paz sind die Instrumente dieser Synthese des Heterogenen das Paradoxon und die Metapher bzw. allgemeiner das <?page no="141"?> Mimesis der Zeitlosigkeit 141 poetische Bild. Über das sprachliche Festhalten der Augenblickserfahrung schreibt Paz in La llama doble (1993): „[E]n algunos momentos el tiempo se entreabre y nos deja ver el otro lado. Estos instantes son experiencias de la conjunción del sujeto y del objeto, del yo soy y el tú eres, del ahora y el siempre, el allá y el aquí. No son reducibles a conceptos y sólo podemos aludir a ellas con paradojas y con las imágenes de la poesía“ (Paz 1995: 143). Ricœur spricht vom paradoxen Spannungscharakter der metaphorischen Aussage, die ja zugleich ein ‚Sein‘ und ein ‚Nicht-Sein‘ impliziert (Ricœur 1975: 388). Ähnlich äußert sich auch Octavio Paz über das paradoxe Wesen des poetischen Bildes, der imagen poética: „El poema es unidad que sólo logra constituirse por la plena fusión de los contarios. […] Nunca la imagen quiere decir esto o aquello. Más bien sucede lo contrario, según se ha visto: la imagen dice esto y aquello al mismo tiempo. Y aun: esto es aquello“ (Paz 1979: 189 f). In der Poetik von Octavio Paz kommt dem Paradoxon in der Annäherung an das Unbekannte, Unsagbare eine besondere Rolle zu. Die betont kontrastive und paradoxe Sprache seiner Lyrik erinnert an die zen-buddhistische Meditationstechnik der koan, widersprüchliche Aphorismen, die den Geist für das Irrationale öffnen sollen. Im Zusammenhang mit dem Thema der Zeitlosigkeit gebraucht Octavio Paz neben anderen Formen der Negation besonders häufig die coincidentia oppositorum, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Intervalo Arquitecturas instantáneas sobre una pausa suspendidas, apariciones no llamadas ni pensadas, formas de viento, insubstanciales como tiempo y como tiempo disipadas. Hechas de tiempo, no son tiempo; son la hendedura, el intersticio, el breve vértigo del entre donde se abre la flor diáfana: alta en el tallo de un reflejo se desvanece mientras gira. Nunca tocadas, claridades con los ojos cerrados vistas: el nacimiento transparente y la caída cristalina en este instante de este instante, interminable todavía. Tras la ventana: desoladas azoteas y nubes rápidas. <?page no="142"?> Martina Meidl 142 El día se apaga, se enciende la ciudad, próxima y remota. Hora sin peso. Yo respiro el instante vacío, eterno. (Paz 1990: 49) Die hier beschriebene innere Erfahrung („con los ojos cerrados“) des instante intemporal bleibt sehr abstrakt, sogar die Subjektebene wird ausgespart bis zur Rückführung in die lineare Zeit mit dem Blick aus dem Fenster: Erst am Schluss erscheint explizit das erlebende Subjekt, fast als würde es erst geboren: „Yo respiro/ el instante vacío, eterno“. Die Augenblickserfahrung wird als substanzlos, irreal, flüchtig dargestellt („instantáneas“, „breve vértigo“, „reflejo“, „desvanece“), als ein „Dazwischen“ („intervalo“, „pausa“, „hendedura“, „intersticio“, „el entre“), in Form von Negationen („no llamadas ni pensadas“, „insubstanciales“, „no son tiempo“, „nunca tocadas“, „interminable“) und Paradoxa, die sich in der coincidentia oppositorum selbst aufzuheben scheinen („instante interminable“, „instante eterno“). Die Zeitlosigkeit wird als das Negativum dargestellt, das sie ist. Die synästhetische Konstruktion des instante vacío im Schlussvers, in der Raum- und Zeitwahrnehmung verschmelzen, ist charakteristisch für das Zeitverständnis bei Octavio Paz und evoziert die buddhistische Lehre von Sunyata: die eigentliche Leere, die hinter den Erscheinungen unserer Welt steht. Laut Rudolf Otto beruht die Vorstellung von sunyata auf dem Versuch, das „Ganz andere“, völlig Unvorstellbare auszudrücken und wird somit vom Negativum zu einem Positivum stärkster Form (Otto 1917: 29). Vor allem der Mahayana-Buddhismus, mit dem sich Octavio Paz seit seinem diplomatischen Dienst in Japan und Indien (1952-1968) auseinandersetzte und von dem er sich inspirieren ließ, propagiert die meditative Einsicht in das Sunyata als Weg zur Weisheit. Das Bild von der Zeitlosigkeit entsteht über den Raum als Träger der Zeit, über räumlich-visuelle Metaphern, die, abgesehen von der Blumenallegorie in der zweiten Strophe, selbst abstrakt bleiben . So kann man im Fall von „arquitecturas“, „apariciones“, „formas“ , „ reflejo“ oder „claridades“ kaum von „konkreten Ähnlichkeiten“ sprechen, wie sie die Metapher laut Ricœur für abstrakte Begriffe liefert (Ricœur 1975: 263). Trotz ihrer Abstraktheit sind die Metaphern im zitierten Textbeispiel aber informativ, wie zum Beispiel das Bild von den „arquitecturas“, das auf den konstruktivistischen Charakter der poetischen Augenblickserfahrung verweist. Die Metaphern erfüllen also das Ricœur’sche Kriterium der Intensivierung des Sinns. Eine Diskrepanz zum Spannungskonzept der Ricœur’schen Metapherntheorie zeichnet sich ab: Nach Ricœur entsteht die Metapher aufgrund der Spannung, die aus der Inkompatibilität eines Wortes mit dem Bedeutungskontext der Aussage hervorgeht. Er spricht von einer semantischen Entkategorisierung und Neukategorisierung, einem Entstehen neuer Ähnlichkeiten durch metaphorisches In-Bezug-Bringen: Die lebendige Metapher <?page no="143"?> Mimesis der Zeitlosigkeit 143 erzeugt das Ähnliche, indem sie es sichtbar macht: „faire voir le semblable, c'est produir le genre dans la différence, et non pas encore au-dessus des différences, dans la transcendance du concept“ (Ricœur 1975: 252). Schwierig scheint es, in unserem Textbeispiel diesen Spannungscharakter nachzuvollziehen, den Ricœur für die Metapher postuliert, sowie die damit zusammenhängende ‚dekonstruktive‘ und ‚rekonstruktive‘ Kraft der Metapher. Es bleibt offen, ob bei der Metaphorisierung einer großen Unbekannten wie der Zeitlosigkeit eine semantische Kategorienverschiebung nach Ricœur überhaupt stattfinden kann. 5 Umweg über die Kunst des Erzählens Wo die Paz’sche Lyrik gegenständlicher wird, steigert sich die semantische Intension. Wie zum Beispiel in Un despertar (orig. in: Arbol adentro, Paz 1987), ein weiterer Text mit buddhistischem Hintergrund, in dem Octavio Paz die Erfahrung der Zeitlosigkeit stärker auf gegenständlich-referentielle Weise zum Ausdruck bringt und dabei sogar den Umweg über die Kunst des Erzählens nimmt. Es entstehen mehrschichtige Bedeutungsstrukturen, aus denen sich ein komplexes Bild vom Paz’schen Zeitverständnis ableiten lässt: Un despertar Dentro de un sueño estaba emparedado. Sus muros no tenían consistencia ni peso: su vacío era su peso. Los muros eran horas y las horas fija y acumulada pesadumbre. El tiempo de esas horas no era tiempo. Salté por una brecha: eran las cuatro en este mundo. El cuarto era mi cuarto y en cada cosa estaba mi fantasma. Yo no estaba. Miré por la ventana: bajo la luz eléctrica ni un alma. Reverberos en vela, nieve sucia, casas y autos dormidos, el insomnio de una lámpara, el roble que habla solo, el viento y sus navajas, la escritura de las constelaciones, ilegible. En sí mismas las cosas se abismaban y mis ojos de carne las veían abrumadas de estar, realidades desnudas de sus nombres. Mis dos ojos eran almas en pena por el mundo. En la calle sin nadie la presencia pasaba sin pasar, desvanecida en sus hechuras, fija en sus mudanzas, <?page no="144"?> Martina Meidl 144 ya vuelta casas, robles, nieve, tiempo. Vida y muerte fluían confundidas. Mirar deshabitado, la presencia con los ojos de nadie me miraba: haz de reflejos sobre precipicios. Miré hacia adentro: el cuarto era mi cuarto y yo no estaba. Al ser nada le falta siempre lleno de sí, jamás el mismo aunque nosotros ya no estemos... Fuera, todavía indecisas, claridades: el alba entre confusas azoteas. Ya las constelaciones se borraban. (Paz 1990: 49) Ein ähnlicher existentieller Rahmen wie in der letzten Strophe von Intervalo wird skizziert. Der lyrische Sprecher erwacht aus einem nächtlichen Traum und nimmt seine Umgebung auf veränderte Weise wahr. Zimmer und Traum sind zu verstehen als Allegorie der inneren Erfahrung der Zeitlosigkeit und des Sunyata. Das Erwachen versinnbildlicht mit buddhistischem Interpretationsschlüssel gelesen die mystische Erfahrung der zeitlosen Gegenwart (Buddha - der Erwachte): Die Meditation des Mahayana-Buddhismus zielt darauf ab, den Kreislauf des Werdens und Vergehens zu überwinden, im vedischen Hinduismus ist das Ziel der Meditation eine mentale Befreiung aus dem Kreislauf von Leben und Tod im Erleben einer „starren Gegenwart“ und somit der Unsterblichkeit. In Un despertar spiegelt sich die Zeitlosigkeitserfahrung am Gegenständlichen wider, sie manifestiert sich im Raum der Alltagswelt. Über Zeit und ewige Gegenwart stellt Octavio Paz in El laberinto de la soledad folgende Überlegung an: „La medición espacial del tiempo separa al hombre de la realidad, que es un continuo presente, y hace fantasmas a todas las presencias en que la realidad se manifiesta, como enseña Bergson“(Paz 1998: 255). Das Motiv des Trugbildes findet sich häufig in der Paz’schen Lyrik, wie hier in der zweiten Strophe: „El cuarto era mi cuarto/ y en cada cosa estaba mi fantasma”. In einem paradoxen, sich leerenden Raum („En sí mismas las cosas s e abismaban/ y mis ojos der carne las veían/ abrumadas de estar, realidades/ desnudas de sus nombres”) nimmt die Erfahrung des instante intemporal Erscheinung an in Form einer personifizierten Gegenwart, einer „Anwesenheit” (presencia) als Positivum: „En la calle sin nadie la presencia/ pasaba sin pasar, desvanecida/ en sus hechuras, fija en sus mudanzas,/ ya vuelta casas, robles, nieve, tiempo”. Die Gegenwart ist die Quelle der zeitlichen Erscheinungen. Ihr Schreiten ist eine lineare Bewegung wie die der irreversiblen Zeit, und dennoch vergeht sie nicht wie Zeit („pasaba sin pasar“) - ein Bild, das die Zenon’sche Vorstellung von Zeit als Summe von Augenblicken illustriert und auch den Simultanbewegungsbildern Marcel <?page no="145"?> Mimesis der Zeitlosigkeit 145 Duchamps (1887-1968) zugrunde liegt, mit dessen Werk sich Octavio Paz in Apariencia desnuda (1978) auseinandersetzt. Die Darstellung des instante intemporal als Grenzerfahrung der Zeit bewegt sich in der Lyrik von Octavio Paz zwischen Gegenwart und Abwesenheit, Positivum und Negation. In der assoziativ-metaphorischen Annäherung an die Zeitlosigkeit als Unbekannte erfolgt die Synthese des Heterogenen im Sinne Ricœurs über Paradoxa und die Auflösung des Sinns; oder sie nimmt, wie in Un despertar, den Umweg über die „Kunst des Erzählens“ und die narrative Einbettung in die irreversible Zeit, um diese alsdann zu verneinen. Literaturverzeichnis Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch, Stuttgart 2005. Aristoteles, Rhetorik, München 1995 5 . Gustavo Adolfo Bécquer, Leyendas. Narraciones. Cartas literarias a una mujer. Cartas desde mi celda. Rimas, Barcelona 1972. Henri Bergson, Durée et simultanéité, Paris 1922. Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Göttingen 2005. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957. Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, Stuttgart 1998. Jorge Guillén, Lenguaje y poesía, Madrid 1972 2 . Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/ M. 1968. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, Hrsg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/ M. 1989. Klaus-Josef Notz (Hrsg.), Das Lexikon des Buddhismus. Grundbegriffe, Traditionen, Praxis. 2 Bde., Freiburg, Basel, Wien 1998. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1947. Octavio Paz, Convergencias, Barcelona 1991. Octavio Paz, El laberinto de la soledad. Postdata. Vuelta a El laberinto de la soledad, Madrid 1998 2 . Octavio Paz, El arco y la lira, México D.F. 1979 5 . Octavio Paz, La llama doble. Amor y erotismo, Barcelona 1995 5 . Octavio Paz, In mir der Baum. Gedichte. Spanisch und Deutsch, Frankfurt/ M. 1990. Octavio Paz, Apariencia desnuda. La obra de Marcel Duchamp, México D.F. 1978. Octavio Paz, Suche nach einer Mitte. Die großen Gedichte. Spanisch und Deutsch, Frankfurt/ M. 1980. Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990. Paul Ricœur, La Métaphore vive, Paris 1975. Paul Ricœur, Temps et récit, Paris 1983 (I), 1984 (II), 1985 (III). <?page no="147"?> M. Fernando Varela La obsesión del tiempo en J.L. Borges En el detallado análisis del concepto agustiniano del tiempo, Paul Ricœur lamenta la intromisión de elementos provenientes de la intuición del espacio. A pesar del indudable hallazgo filosófico de Agustín (la reducción de la extensión del tiempo a la distensión del alma), es siempre posible detectar en su exposición, según Ricœur, unos principios explicativos en que el espacio mismo y los objetos que se mueven en el espacio sirven para explicar una realidad de todo punto diferente, como es la del tiempo. “Comment mesurer l’attente ou le souvenir sans prendre appui sur les ‘marques’ délimitant l’espace parcouru par un mobile, donc sans prendre en considération le changement physique qui engendre le parcours du mobile dans l’espac e? ” (Ricœur 1983: 40). Se trata del viejo problema filosófico del tiempo como medida del movimiento, en que una “imagerie quasi spatiale” (Ibid.: 38) dificulta la intuición directa del tiempo mismo, haciéndolo, en cierta manera, depender de la naturaleza del espacio. En la obra literaria de Borges encontramos un esfuerzo por separar radicalmente las dos dimensiones, la del espacio y la del tiempo, hasta el punto de llegar a concebir una especie de anterioridad metafísica del tiempo sobre el espacio y, consecuentemente, abrir la posibilidad a una experiencia directa del tiempo mismo. La inspiración de esta cosmovisión procede del idealismo de Schopenhauer, del que Borges se consideró siempre gran admirador, pero obedece igualmente a planteamientos existencialistas presentes, sobre todo, en su poesía. El presente estudio incluye, en su primera parte, las investigaciones que recoge mi artículo Borges: el espacio como episodio del tiempo, aparecido en el libro Literatura y pensamiento (Varela 2004: 149-155). 1 Tiempo y espacio En el relato El otro, perteneciente a la obra titualada El libro de arena, podemos encontrar una de las características más peculiares del estilo de Borges: la pobreza extremada de las imágenes visuales, que sugieren un trasfondo ambiental gris, incoloro, carente de encantos para los sentidos: Serían las diez de la mañana. Yo estaba recostado en un banco, frente al río Charles. A unos quinientos metros a mi derecha había un alto edificio, cuyo nombre no supe nunca. El agua gris acarreaba largos trozos de hielo. Inevitablemente, el río hizo que yo pensara en el tiempo. La milenaria imagen de <?page no="148"?> M. Fernando Varela 148 Heráclito. Yo había dormido bien; mi clase de la tarde anterior había logrado, creo, interesar a los alumnos. No había un alma a la vista. (Borges 1977: 7) No puede darse mayor pobreza de imágenes visuales ni mayor grado de abstracción descriptiva: soledad humana y desolación del paisaje, ambiente gris, escasez de objetos, extrema parquedad descriptiva. El alto edificio, el río, el banco, los trozos de hielo, etc., constituyen una parca decoración destinada a cumplir solamente una función práctica: aislar el pensamiento de los sentidos, invitar a la reflexión, sustituir las sensaciones o las imágenes por los conceptos, la experiencia de vida por su pálida representación intelectual. La intencionada pobreza expresiva es función de una riqueza conceptual que pone entre paréntesis la realidad de los objetos en el espacio. Otro ejemplo que confirma esta impresión, procedente del cuento Ulrica, perteneciente al mismo libro: Fue entonces cuando la miré. Una línea de William Blake habla de muchachas de suave plata o de furioso oro, pero en Ulrica estaban el oro y la suavidad. Era ligera y alta, de rasgos afilados y de ojos grises. Menos que su rostro me impresionó su aire de tranquilo misterio. Sonreía fácilmente y la sonrisa parecía alejarla. Vestía de negro, lo cual es raro en tierras del Norte, que tratan de alegrar con colores lo apagado del ámbito. Hablaba un inglés nítido y preciso y acentuaba leve-mente las erres. No soy observador; esas cosas las descubrí poco a poco. (Borges 1977: 16) La advertencia sobre sus escasas dotes de observación (“no soy observador”) resulta superflua. Además de la exagerada abstracción de los rasgos que caracterizan a Ulrica (abstracción poco probable en labios de un enamorado y que limita su caracterización a unos “rasgos afilados”, a ser “ligera” y “alta”, a tener los “ojos grises”), llama la atención el hecho de que Borges pueda sustituir la presencia real, física y concreta de la mujer amada, por una simple evocación literaria de Blake (evocación que igualmente peca de abstracción e intelectualismo). Por lo demás, los colores empleados, a excepción del oro, son los que se encuentran en la paleta de un hipotético pintor aquejado de incipiente ceguera: “gris”, “negro”, “plata”, “apagado”... Borges sustituye la descripción por la comprensión, la cálida presencia de los objetos en el espacio por su pálido reflejo en el intelecto, el brillo de la percepción sensorial por la imagen desvaída del recuerdo y, en fin, la realidad por el pensamiento. En terminología filosófica: Borges sustituye la realidad aparente de los sentidos por la realidad más profunda que descubre el intelecto. Apenas hay descripción porque, en rigor, según Borges, no es posible ver una cosa sin comprenderla previamente, como nos asegura en el relato There are more things: No trataré de describirlos, porque no estoy seguro de haberlos visto, pese a la despiadada luz blanca. Me explicaré. Para ver una cosa hay que comprenderla. El sillón presupone el cuerpo humano, sus articulaciones y partes; las tijeras, el acto de cortar... (Borges 1977: 44) <?page no="149"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 149 Borges propone invertir radicalmente la perspectiva natural, que exige que para comprender una cosa sea preciso verla previamente. No es necesario insistir en el concepto que tiene Borges de la palabra “comprensión”: comprender es aquí ver la realidad que se oculta bajo las apariencias. Comprender es trascender. Borges se sitúa, pues, en una perspectiva filosófica, y la representación de los objetos en el espacio constituye justamente la dimensión apariencial de la que hay que prescindir. Por lo demás, Borges desconfía del valor de las descripciones. El escritor debe sugerir y no describir, pues el objeto se impone al lector de manera simultánea, mientras que la descripción es sucesiva y puede colisionar con la previa imagen de conjunto (ver Charbonnier 1967: 91). En el famoso relato El Aleph hay una interesante muestra del conflicto existente entre los procesos sincrónicos del espíritu y los diacrónicos de su expresión lingüística o literaria: Lo que vieron mis ojos fue simultáneo: lo que transcribiré, sucesivo, porque el lenguaje lo es. (Borges 1982: 169) Sería interesante averiguar en qué medida la ceguera de Borges ha contribuido a reforzar esta pobreza de las imágenes visuales. Según Ibarra (1969: 43), Borges tuvo siempre mala vista, fue operado a finales de los años veinte con relativo éxito y gozó de una visión normal durante más de treinta años. Pero las conversaciones de Borges con Rita Guibert (1976: 321) ponen de ma-nifiesto un panorama bastante más sombrío: el mismo Borges manifiesta que él pertenece a la quinta o sexta generación de su familia que heredó la ceguera, y que después de varias operaciones perdió definitivamente la vista. A partir de 1955, en que fue nombrado director de la Biblioteca Nacional, ya no podía leer (recordemos el hermoso Poema de los dones; Borges 1989: 117-119). Esta ceguera fue aceptada con serenidad estoica por haberse producido lentamente, como manifiesta Borges en otra ocasión (Carrizo 1983: 20 y ss). Y acaso lo paulatino de este proceso puede explicar el progresivo apagamiento de las imágenes visuales y la correspondiente interiorización e intelectualización que domina en sus creaciones literarias. En conversación con Victoria Ocampo, Borges reconoce la influencia de la ceguera en la elaboración de su mundo abstracto: Yo no puedo decir, como Theophile Gautier, que ‘je suis quelqu’un pour qui le monde visible existe‘. Yo pienso más bien de un modo abstracto o afectivo [1 No creo tener mucha imaginación visual, sobre todo en la actualidad, que no veo. En este mismo momento en que hablo con usted, no veo los rasgos de su figura, ] , pero no en formas o en colores como mi hermana. Yo no sé muy bien si las personas a quienes trato son rubias o morochas, es verdad también que mi creciente ceguera ha colaborado en ese mundo abstracto en que estoy. (Ocampo 1969: 46) En conversación con G. Charbonnier, Borges confiesa tener una sensibilidad que se acerca a la del mundo de los ciegos: 1 La cursiva, salvo indicación en contrario, es siempre mía. <?page no="150"?> M. Fernando Varela 150 ni el color de su corbata, ni el color de sus ojos, ni el de sus cabellos. Todo ello se me escapa. Para mí, todo ello existe de una manera descolorida y como si fuera a través de una bruma. (Charbonnier 1967: 91-92) Cuando Borges no abandona el nivel de la percepción sensible, cuando decide dotar a sus creaciones de verdadera sensualidad, como ocurre en el poema dedicado a la Alhambra, se produce una sustitución de los datos espaciales por los que aportan todos los demás sentidos. El escritor Francisco Ayala, comentando este singular poema, asegura que “la deslumbradora luminosidad de la Alhambra está ‘vista’ por el ciego mediante los sentidos restantes” (Ayala 2001: 494). ¿Destino o vocación el de la ceguera de Borges? Acaso ambas cosas, pues es un destino aceptado, o un destino que coincide con la vocación íntima del poeta. El pálido adolescente que creció en una inmensa biblioteca (“en una biblioteca de ilimitados libros ingleses”, dice en el prólogo de su Evaristo Carriego), sintió poca curiosidad por el medio que le rodeaba, creció ya ciego para el entorno. La ceguera física no fue más que una coincidencia del destino con sus aptitudes, que fueron siempre la inteligencia y la pasión. Porque esta sensibilidad de ciego no lleva consigo un empobrecimiento del mundo del escritor. Borges compensa con creces la escasez de los datos espaciales con la intensidad de los datos de la sensibilidad interior que, como veremos a continuación, pertenecen exclusivamente a las coordenadas temporales. Borges sustituye la percepción del espacio por la pasión del tiempo, que considera esencial para expresar lo humano. En el ensayo El escritor argentino y la tradición llega a considerar más argentinos los sonetos de La urna, de Banchs, que el poema épico Martín Fierro: La idea de que la poesía argentina debe abundar en rasgos diferenciales argentinos y en color local argentino me parece una equivocación. Si nos pregunta qué libro es más argentino, el Martín Fierro o los sonetos de La urna de Enrique Banchs, no hay ninguna razón para decir que es más argentino el primero. Se dirá que en La urna de Banchs no está el paisaje argentino, la topografía argentina, la botánica argentina, la zoología argentina; sin embargo, hay otras condiciones argentinas en La urna. Recuerdo ahora unos versos de La urna que parecen escritos para que no pueda decirse que es un libro argentino; son los que dicen: ‘El sol en los tejados / y en las ventanas brilla. Ruiseñores / quieren decir que están enamorados’. Aquí parece inevitable condenar: ‘el sol en los tejados y en las ventanas brilla’. Enrique Banchs escribió estos versos en un suburbio de Buenos Aires, y en los suburbios de Buenos Aires no hay tejados, sino azoteas; ‘ruiseñores quieren decir que están enamorados’; el ruiseñor es menos un pájaro de la realidad que de la literatura, de la tradición griega y germánica. Sin embargo, yo diría que en el manejo de estas imágenes convencionales, en esos tejados y en esos rui-señores anómalos, no estarán desde luego la arquitectura ni la ornitología argen-tinas, pero están el pudor argentino, la reticencia argentina; la circunstancia de que Banchs al hablar de ese gran dolor que lo abrumaba, al hablar de esa mujer que lo había dejado y había dejado vacío el mundo para él, recurra a imágenes extranjeras y convencionales como los tejados y los ruiseñores, es significativa: <?page no="151"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 151 significativa del pudor, de la desconfianza, de las reticencias argentinas; de la dificultad que tenemos para las confidencias, para la intimidad. (Borges 2005: 269-270) Paradójicamente, para Borges es más representativo de un pueblo su psicología, su sentir colectivo, que las circunstancias - espaciales, ciertamente - en que se enmarca ese sentir, de manera que toda la cargada simbología del Martín Fierro, verdadero emblema del tradicionalismo argentino, no representa mejor al pueblo que la delicada psicología de unos sonetos de escaso colorido local. Paralelamente a este desdibujarse de los contornos espaciales va surgiendo en Borges una mayor profundización en las percepciones temporales. Para emplear la terminología kantiana: al esquematismo de la percepción externa (el a priori de la sensibilidad espacial) sucede el esquematismo de la percepción interna (el a priori de la sensibilidad temporal). La ceguera de Borges refuerza la creación o recreación de un mundo en que todas las vivencias se pueden articular en torno a coordenadas temporales. A veces incluso, según el texto que vamos a ver, puede producirse una paradójica experiencia del tiempo sin objetos situados en el tiempo, es decir, una experiencia del tiempo como sustancia, como había imaginado Newton en sus Princípios matemáticos de la Filosofía Natural (publicados en 1687): El tiempo fluye de un modo distinto cuando uno ha perdido la vista. Antes, en un viaje en tren de treinta minutos, por ejemplo, yo tenía que estar leyendo o haciendo algo, pues si no me parecía un viaje interminable. En cambio ahora, ya que inevitablemente hay horas de soledad en mi vida, me he acostumbrado a estar solo y pienso en cualquier cosa; o simplemente no pienso, me dejo vivir no más. Dejo que el tiempo fluya, y me parece que fluye de una manera distinta. No sé si con más rapidez, pero sí con una especie de dulzura, con mucha más concentración. (Guibert 1976: 321) En El Hacedor hay una hermosa narración simbólica que alude a esta paulatina interiorización de la conciencia, a este progresivo abandono de los datos de los sentidos externos para ir ahondando en los datos de la sensibilidad interna. El protagonista es Homero - prototipo del poeta, del “hacedor” o creador - que recupera la riqueza de su mundo interior al precio de perder la vista: Las impresiones resbalaban sobre él, momentáneas y vívidas; el bermellón de alfarero, la bóveda cargada de estrellas que también eran dioses, la luna, de la que había caído un león, la lisura del mármol bajo las lentas yemas sensibles [...]. Gradualmente, el hermoso universo fue abandonándolo; una terca neblina le borró las líneas de la mano, la noche se despobló de estrellas, la tierra era insegura bajo sus pies. Todo se alejaba y confundía. Cuando supo que se estaba quedando cie-go, gritó. [...] Entonces descendió a su memoria, que le pareció interminable, y logró sacar de aquel vértigo el recuerdo perdido que relució como una moneda bajo la lluvia, acaso porque nunca lo había mirado, salvo, quizá, en un sueño. (Borges 1981: 13-14) <?page no="152"?> M. Fernando Varela 152 La mención del sueño, deslizada como al descuido, refuerza la idea de la autonomía del mundo interior del poeta - aquí creador en el sentido más propio de la palabra - , que no necesita del mundo exterior de los sentidos para sacar a la luz sus creaciones. Naturalmente, a un nivel más profundo, es también un exponente del idealismo a lo Berkeley, que establece que el mundo no tiene más consistencia que la que confiere su naturaleza fenoménica, expresable a través de la célebre ecuación esse = percipi. Volveremos sobre este punto. El descenso a la memoria que experimenta Homero para poder realizar sus creaciones supone un verdadero giro copernicano (empleamos la conocida expresión de Kant) que convierte en más real el brillo imaginado que el brillo percibido. Pero, a diferencia de Kant, este giro copernicano hace del espacio un subordinado del tiempo, un “incidente” en el tiempo, como prefiere denominarlo Borges, y no una forma universal de la percepción. El espacio nace o se desarrolla a impulsos del tiempo, es creación del tiempo, y no un a priori autónomo, como expone Borges en La penúltima versión de la realidad: El espacio es un incidente en el tiempo y no una forma universal de intuición, como impuso Kant. Hay enteras provincias del Ser que no lo requieren; las de la olfacción y audición. Spencer, en su punitivo examen de los razonamientos de los metafísicos (Principios de psicología, parte séptima, capítulo cuarto), ha razonado bien esa independencia y la fortifica así, a los muchos renglones, con esta reducción a lo absurdo: ‘Quien pensare que el olor y el sonido tienen por forma de in-tuición el espacio, fácilmente se convencerá de su error con sólo buscar el costado izquierdo o derecho de un sonido o con tratar de imaginarse un olor al revés. (Borges 2005: 200) La cita de Spencer sirve para ilustrar con un ejemplo jocoso lo que es la base teórica más seria de la filosofía de Schopenhauer, el filósofo preferido de Borges. Ya en un texto temprano, en el Evaristo Carriego, proclama Borges su admiración incondicional por el idealismo voluntarista de este filósofo, para el cual el espacio no es más que una exteriorización de la voluntad y de la pasión. La existencia de un mundo más allá del espacio, ajeno incluso a la noción de espacio, se hace patente en el lenguaje musical, que es directa expresión de la voluntad. Sorprende encontrar en Borges - que nunca manifestó especial predilección por la música - una confesión tan radical de la superioridad de la música sobre la literatura: Schopenhauer ha escrito que la música no es menos inmediata que el mundo mismo; sin mundo, sin un caudal común de memorias evocables por el lenguaje, no habría, ciertamente, literatura, pero la música prescinde del mundo, podría haber música y no mundo. La música es la voluntad, la pasión; el tango antiguo, como música, suele directamente transmitir esa belicosa alegría cuya expresión verbal ensayaron, en edades remotas, rapsodas griegos y germánicos. (Borges 2005: 161) De acuerdo con los principios de la metafísica de Schopenhauer, Borges llega a imaginarse una hipotética humanidad liberada de la tiranía de la percepción espacial, olvidada de la presencia de los cuerpos en el espacio y entregada únicamente a lo que está más allá de toda representación, a la <?page no="153"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 153 vivencia de su voluntad. De nuevo un texto de La penúltima versión de la realidad: Imaginemos que el entero género humano sólo se abasteciera de realidades mediante la audición y el olfato. Imaginemos anuladas así las percepciones oculares, táctiles y gustativas y el espacio que éstas definen. Imaginemos también - crecimiento lógico - una más afinada percepción de lo que registran los sentidos res-tantes. La humanidad - tan afantasmada a nuestro parecer por esta catástrofe - seguiría urdiendo su historia. La humanidad se olvidaría de que hubo espacio. La vida, dentro de su no gravosa ceguera y su incorporeidad, sería tan apasionada y precisa como la nuestra. De esa humanidad hipotética (no menos abundosa de voluntades, de ternuras, de imprevisiones) no diré que entraría en la cáscara de nuez proverbial: afirmo que estaría fuera y ausente de todo espacio. (Borges 2005: 201) 2 Tiempo e idealismo La preeminencia del tiempo sobre el espacio es el factor determinante del idealismo de Borges. Las realidades espaciales, el mundo de los objetos que se inscriben en las coordenadas espaciales y que la ingenua cosmovisión que impone el sentido común dota de realidad objetiva - materialismo ingenuo - son ahora contempladas como simples creaciones o proyecciones de la vivencia psíquica que se manifiesta en el tiempo. Para Borges, la única realidad es la que impone la evidencia de nuestro psiquismo, cuya más íntima naturaleza es, justamente, la de ser tiempo. Pienso que para un buen idealismo, el espacio no es sino una de las formas que integran la cargada fluencia del tiempo. Es uno de los episodios del tiempo y, contrariamente al consenso natural de los metafísicos, está situado en él, y no viceversa. (Borges 2005: 200) El espacio en el pensamiento de Borges, contrariamente a lo que establece la filosofía moderna a partir de Descartes, se reduce a ser simple criatura del tiempo, esto es, creación del sentimiento, de la voluntad, como muy bien pone de manifiesto este texto (La penúltima versión de la realidad) sobre la condensación de vivencias que realizaron los colonizadores ingleses en la India: Acumular espacio no es lo contrario de acumular tiempo: es uno de los modos de realizar esa para nosotros única operación. Los ingleses, que por impulsión ocasional o genial del escribiente Clive o de Warren Hastings conquistaron la India, no acumularon solamente espacio, sino tiempo: es decir, experiencias, experiencias de noches, días, descampados, montes, ciudades, astucias, heroísmos, traiciones, dolores, destinos, muertes, pestes, fieras, felicidades, ritos, cosmogonías, dialectos, dioses, veneraciones. (Borges 2005: 200) Algunos críticos, demasiado confiados en la implicación mutua que las nociones de espacio y tiempo presentan con frecuencia en la obra en prosa de Borges (cf., por ejemplo, Barrenechea, 1967: 35-36), cometen el error de ponerlos a la misma altura. Borges mismo califica esta equiparación como <?page no="154"?> M. Fernando Varela 154 “equivocación”, y explica que su origen se encuentra en la filosofía de Spinoza: Me consta que la genealogía de esa equivocación es ilustre y que entre sus mayores está el nombre magistral de Spinoza, que dio a su indiferente divinidad - Deus sive Natura- los atributos de pensamiento (vale decir, de tiempo sentido) y de extensión (vale decir, de espacio). (Borges 2005: 200) Sin la subordinación de la percepción externa a la percepción interna que antes hemos apuntado, difícilmente podría explicarse el idealismo de Borges, idealismo presidido por el símbolo casi omnipresente de los espejos, una de sus más frecuentes y profundas obsesiones. En efecto, el espejo es representación espacial por antonomasia, es simple superficie, proyección, reflejo, multiplicación o prolongación de otra cosa, pero sin sustancia propia. Frente a las múltiples manifestaciones espaciales del espejo está la cargada emoción de la fluencia temporal del sujeto que las contempla, la única realidad verdaderamente sustancial, aunque su sustancia se reduzca a ser solamente pensamiento. Ya en un temprano texto de 1923 parecía Borges obsesionado por el fantasma de irrealidad que generan los espejos: En lo atañente a negar la existencia autónoma de las cosas visibles y palpables, fácil es avenirse a ello pensando: la Realidad es como esa imagen nuestra que surge en todos los espejos, simulacro que por nosotros existe. (Citado por Ferrer 1971: 51) Muchos años después, en el libro El Hacedor (1960), profundizando en el símil del espejo, llegará a poner en verso la obsesión de este idealismo, de esta convicción en la naturaleza vicaria de todo lo que ocurre en el espacio: Infinitos los veo, elementales Ejecutores de un antiguo pacto, Multiplicar el mundo como el acto Generativo, insomnes y fatales. Prolongan este vano mundo incierto En su vertiginosa telaraña. A veces en la tarde los empaña El hálito de un hombre que no ha muerto. [...] Dios ha creado las noches que se arman De sueños y las formas del espejo Para que el hombre sienta que es reflejo Y vanidad. Por eso nos alarman. (Borges 1981: 84-85) El poema no expone una idea, sino más bien una obsesión recurrente en Borges: la idealidad del mundo que dibuja sus contornos en el espacio y frente al que se encuentra la cargada fluencia temporal del contemplador. Suponemos detrás de esta idealidad del mundo la huella de Schopenhauer, filósofo que Borges cita con tanta frecuencia y que, pese a su radical <?page no="155"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 155 escepticismo, parece el único que de verdad ofrece a Borges una explicación plausible del mundo, como dice en su brindis del Otro poema de los dones: por Schopenhauer, que acaso descifró el universo (Borges 1979: 936) 3 Tiempo y existencialismo Pero el idealismo que sugiere la experiencia del tiempo es solamente el aspecto externo de una dimensión más profunda de la temporalidad. El tiempo en Borges puede expresar también la angustia existencial, el dolor de la experiencia, ese recóndito sentimiento, apenas reductible a expresión racional, que el escritor no logra acallar recurriendo a digresiones teóricas. La realidad misma del yo es tiempo, pero no un tiempo pensado, sino un tiempo sentido, el tiempo de la carne. El yo del idealismo, simple actividad pensante impersonal que pone al no-yo, que objetiva el mundo concretizado en la realidad espacial, deja paso al yo como conciencia personal, al yo unamuniano enraizado en la realidad de carne y hueso que es el hombre. Este yo no es menos temporal que el anterior, pero su temporalidad no se presta a digresiones racionales: es el tiempo de los existencialistas, que asalta la conciencia en una especie de intuición fulgurante (recordemos que Heidegger, discípulo de Husserl, la entiende como intuición fenomenológica), que se presenta como en oblicuo a través de la experiencia cotidiana, que se sustrae a todo control racional y volitivo y que, en suma, es resultado de la espontánea rebeldía de la conciencia vigilante. Generalmente suele entenderse el trasfondo filosófico de la obra de Borges como un simple recurso literario sin mayor trascendencia que su mera función estética. La filosofía, en Borges, quedaría reducida, según muchos comentaristas, a ser simple fuente de inspiración para la literatura fantástica. Según Jaime Alazraki, “[Borges] nos confiesa que en su ‘Antología de la literatura fantástica’ [...] hay una culpable omisión: faltan ‘los insospechados y mayores maestros del género: Parménides, Platón, Juan Escoto Erígena, Alberto Magno, Spinoza, Leibnitz, Kant, Francis Bradley’” (Alazraki 1968: 16). Las consecuencias que saca este comentarista, amparadas por una cita literal del mismo Borges, dominan el panorama crítico actual: “Estos ‘maestros del cuento fantástico’ serán también los maestros del Borges narrador. Los temas de sus cuentos están inspirados en esas hipótesis metafísicas acumuladas a lo largo de muchos siglos de historia de la filosofía y en sistemas teológicos que son el andamiaje de muchas religiones” (Alazraki 1968: 16). Bioy Casares, su íntimo y colaborador literario, ha repetido palabras textuales de Borges para insistir en el concepto de simples “fantasías metafísicas” (Alazraki 1968: 24). Y Manuel Ferrer, también citando literalmente a nuestro autor, saca consecuencias todavía más radicales: “Para quien ‘tiende <?page no="156"?> M. Fernando Varela 156 a estimar las ideas religiosas o filosóficas por su valor estético y aún por lo que encierran de singular o maravilloso’, como afirma en el epílogo a Otras Inquisiciones, el desplazamiento de lo metafísico a lo estético ha debido resultar fácil” (Ferrer 1971: 70; la cursiva es del autor). Ernesto Sábato nos asegura que Borges todo lo ha visto “bajo especie metafísica”, pero las palabras de Sábato hay que inscribirlas en un contexto en que la palabra “metafísica” puede entenderse como juego de la imaginación, como simple recurso literario: “Los juegos metafísicos abundan en su libro. En rigor, creo que todo lo ve Borges bajo especie metafísica. Ha hecho la ontología del truco y la teología del crimen orillero; las hipóstasis de su realidad suelen ser una Biblioteca, un Laberinto, una Lotería, un Sueño, una Novela Policial; la historia y la geografía son meras degradaciones espaciotemporales de algún topos uranos, de alguna eternidad regida por algún Gran Bibliotecario” (Sábato 1945: 73; la cursiva es del autor). Es innecesario multiplicar los ejemplos de esta dirección, que en nuestros días están reforzados por interpretaciones en las que se subraya el carácter semiótico-estructural de los relatos borgianos: la literatura de Borges se reduce a ser un conjunto de signos bien trabados que se limitan a remitir a otros signos sin llegar nunca a un mundo objetivo captable a través de la mimesis o manifestación artística de la realidad objetiva (cf. la obra de Hedrich, Reiner, 2000). Al hermetismo de esta especie de inalcanzable noumeno kantiano correspondería - según estas interpretaciones - el hermetismo de los signos que el hombre vanamente establece en la loca empresa de organizar el caos. Reconocer este doble hermetismo sería reconocer el valor fantástico, puramente creativo y gratuito de la metafísica, cuyo valor consistiría únicamente en entretener el ocioso e inútil espíritu creativo del hombre. De manera secundaria, y como ocurrió en la historia de la filosofía después de Kant, reconocer este doble hermetismo sería abrirle las puertas a la duda y sospechar que esa hipotética realidad siempre fugitiva es una pura creación del pensamiento humano, que el sujeto pone el objeto y que, dadas las coordenadas empiristas de que parte la filosofía moderna, ese sujeto se agota en un flujo de ideas o sensaciones. Esta línea interpretativa tiene a su favor no solamente los relatos de la literatura fantástica borgiana, sino, sobre todo, la insistencia de nuestro autor en la importancia del idealismo fenoménico inspirado por Berkeley al que antes nos hemos referido. Pero ¿es posible aplicar estos supuestos a todos los textos de Borges partiendo solamente de los relatos fantásticos, los únicos, en nuestra opinión, que muestran claramente un idealismo fenoménico? ¿Es posible creer que la noción de tiempo, que hasta aquí hemos considerado el centro de la actividad psíquica, sea solamente una simple categoría sensible, un tiempo como medida, una categoría perfectamente matematizable, una abstracción más, semejante a la abstracción del espacio? ¿No hay en Borges, además de este tiempo como simple fluencia, un tiempo más profundo en el que la inteligencia y la pasión se reconozcan como tiempo existencial, como tiempo de la carne? <?page no="157"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 157 En nuestra opinión, conviene tener en cuenta también la otra serie de textos, la que nos muestra un Borges angustiado por los problemas que plantea la metafísica y, de manera muy especial, los problemas del tiempo. El mismo Ernesto Sábato, que tan bien supo caracterizar al Borges de las frivolidades metaf ísicas, reconoce también la existencia de un Borges angustiado por los planteamientos filosóficos. Leemos en El escritor y sus fantasmas: “El juego posterga, pero no aniquila sus angustias, sus nostalgias, sus tristezas más hondas, sus resentimientos más humanos. Es que las encantadoras supercherías teológicas y la magia puramente verbal no le satisfacen en definitiva. Y sus más entrañables angustias, sus pasiones, reaparecen entonces en algún poema o en algún fragmento de prosa en que de verdad se manifiestan esos sentimientos demasiado humanos” (Ferrer 1971: 72). Respaldados por la autoridad de Sábato, emprenderemos brevemente la tarea de reconstruir ese otro Borges para quien la metaf ísica constituía una verdadera obsesión existencial, no sin antes plantear la sospecha de si entre el Borges lúdico y el Borges más humano no hay algo más que un simple hiato. Según Anderson Imbert, el esteticismo no logra nunca ocultar la latente angustia y hasta obsesión por los problemas de la metafísica, que son los eternos problemas del hombre: “En su fruición estética se perciben [...] sobretonos de angustia, una angustia que dimana de saberse único, solitario, delirante, perdido y perplejo en un Ser ciego” (Anderson Imbert 1970/ 2: 285). Téngase en cuenta, además, que en caso de citar al propio Borges en sus manifestaciones de descrédito de la metafísica, habría que citarlo completo. Porque la metafísica no puede ser dogma para quien se considera escéptico, pero Borges sabe que no tenemos otra cosa que la metafísica, que las metáforas del universo pueden ser todo para todos. Leemos en Otras inquisiciones: Dos tendencias he descubierto, al corregir las pruebas, en los misceláneos trabajos de este volumen. Una, a estimar las ideas religiosas o filosóficas por su valor estético y aun por lo que encierran de singular y de maravilloso. Esto es, quizá, indicio de un escepticismo esencial. Otra, a presuponer (y a verificar) que el número de fábulas o de metáforas de que es capaz la imaginación de los hombres es limitado, pero que esas contadas invenciones pueden ser todo para todos, como el Apóstol. (Borges 2005: 775) El contraste entre la temporalidad experimentada como vivencia existencial y la temporalidad contemplada como simple substrato de la conciencia, del pensamiento, no puede ser mayor. Como sabemos, son numerosos los ensayos de Borges sobre las coordenadas espacio-temporales, y muy especialmente sobre el tiempo. Todo lector de Borges recuerda, por ejemplo, sus disquisiciones sobre el problema de Aquiles y la tortuga, (problema que pretende solucionar recurriendo a la idealidad del espacio y el tiempo, esto es, recurriendo a una explicación de orden matemático-racional), o el tema de su supuesta experiencia personal de la eternidad (en que la simple vivencia de la identidad de la percepción puede abolir la idea de la sucesión temporal). Pero hay en todos estos textos algo de artificioso y superficial que <?page no="158"?> M. Fernando Varela 158 hace pensar en un coqueteo de Borges con el problema, acaso para soslayar sus aspectos más angustiosos. A veces incluso acompaña Borges sus digresiones con comentarios irónicos sobre su validez, como ocurre en La nueva refutación del tiempo (Borges 2005: 757-791), donde se burla de la posibilidad de emplear un concepto temporal (la palabra nuevo del título del ensayo) para negar justamente la dimensión temporal. Digamos también que el ba-gage filosófico y científico que constituye la base argumental de estos textos es de dudosa calidad, pues Borges se limitó con frecuencia a exponer el contenido de simples artículos divulgatorios de la Enciclopedia Británica. Pero en los textos en que Borges habla del tiempo de manera directa y sin recurrir a explicaciones especializadas, el problema del tiempo se muestra angustiante, irreductible a todo escapismo cientifista o estetizante. El tema de estos textos es el tiempo que teme nuestra carne, el tiempo que no admite otra explicación que su inexorable facticidad. Leemos en la Historia de la Eternidad: En aquel pasaje de las Enéadas que quiere interrogar y definir la naturaleza del tiempo, se afirma que es indispensable conocer previamente la eternidad, que - según todos saben- es el modelo y arquetipo de aquél. Esa advertencia liminar, tanto más grave si la creemos sincera, parece aniquilar toda esperanza de entendernos con el hombre que la escribió. El tiempo es un problema para nosotros, un tembloroso y exigente problema, acaso el más vital de la metafísica; la eternidad, un juego o una fatigada esperanza. Leemos en el Timeo de Platón que el tiempo es una imagen móvil de la eternidad, y ello es apenas un acorde que a ninguno distrae de la convicción de que la eternidad es una imagen hecha con sustancia de tiempo. Esa imagen, esa burda palabra enriquecida por los desacuerdos humanos, es lo que me propongo historiar. (Borges 2005: 353) He aquí el tiempo de los existencialistas, el tiempo que trasciende todo enfoque matemático, el tiempo-sustancia, del que la idea de la eternidad no es más que una de sus formas espúreas destinadas a convertirla en inocua. Se trata del tiempo como protagonista del pensamiento, y no como simple objeto del mismo. En un enfoque humano y no meramente científico, pseudo-científico o filosófico, este tiempo-sustancia hace que las otras formas de ver la temporalidad pierdan su eficacia. De esta manera, en una discusión aparentemente científica o pseudo-científica, como es la de la posibilidad del eterno retorno, comienza Borges por exponer la teoría de S. Agustín, con la que - salvadas las enormes distancias que le separan de este pensador - parece simpatizar: Esos capítulos (que tengo a la vista) son harto enmarañados para el resumen, pero la furia episcopal de su autor parece preferir dos motivos: uno, la aparatosa inutilidad de esa rueda; otro, la irrisión de que el Logos muera como un pruebista en la cruz, en funciones interminables. Las despedidas y el suicidio pierden su dignidad si los menudean; San Agustín debió pensar lo mismo de la Crucifixión. (Borges 2005: 388) La simpatía de Borges por la refutación agustiniana del tema del eterno retorno carece de la armazón filosófica o pseudo-filosófica a que nos tiene <?page no="159"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 159 acostumbrados: un argumento puramente humano, existencial (lo absurdo, lo ridículo de las despedidas o los suicidios eternamente repetidos) logra el milagro del acercamiento a las tesis de Agustín. Y la propia refutación de Borges de la teoría del eterno retorno, aunque apoyada en la teoría científica del principio de entropía, delata igualmente su trasfondo existencialhumano: el tiempo se agotará un día, como se agotará la vida sobre el planeta, porque la realidad del tiempo es más profunda que su dimensión matemática, impersonal e indiferenciada: La primera ley de la termodinámica declara que la energía del universo es constante; la segunda, que esa energía propende a la incomunicación, al desorden, aunque la cantidad total no decrece. Esa gradual desintegración de las fuerzas que componen el universo, es la entropía. Una vez igualadas las diversas temperaturas, una vez excluida (o compensada) toda acción de un cuerpo sobre otro, el mundo será un fortuito concurso de átomos. En el centro profundo de las estrellas, ese difícil y mortal equilibrio ha sido logrado. A fuerza de intercambios el universo entero lo alcanzará, y estará tibio y muerto. La luz se va perdiendo en calor; el universo minuto por minuto, se hace invisible. Se hace más liviano, también. Alguna vez, ya no será más que calor: calor equilibrado, inmóvil, igual. Entonces habrá muerto. (Borges 2005: 391) En Borges, en definitiva, la refutación del tiempo, realizada acudiendo a los principios de la razón matemática, no produce convicción ninguna, aunque haya constituido la obsesión de su espíritu durante toda una vida: En el decurso de una vida consagrada a las letras y (alguna vez) a la perplejidad metafísica, he divisado o presentido una refutación del tiempo, de la que yo mismo descreo, pero que suele visitarme en las noches y en el fatigado crepúsculo, con ilusoria fuerza de axioma. Esa refutación está de algún modo en todos mis libros. (Borges 2005: 759) Suponemos que la aparente paradoja se puede eliminar si tenemos en cuenta que la obsesiva ocupación con el tiempo obedecía a la angustiante necesidad de refutarlo, de hacerlo inocuo, de arrojarlo a la categoría de lo representable, de convertirlo acaso en una idealidad de la misma naturaleza que la del espacio (recordemos que en el ejemplo de Aquiles y la tortuga, ambas nociones de espacio y tiempo tienen el mismo grado de idealidad matemática). Evidentemente, detrás de todos estos coqueteos con la noción del tiempo se esconde la obsesión por la realidad que los inspiran. No se puede decir con mayor claridad que en el texto que transcribimos a continuación que la noción de tiempo que verdaderamente preside nuestras digresiones es el tiempo como manifestación de la existencia. Es algo así como su dimensión originaria, como el tiempo auténtico de Heidegger, del que se derivan los demás: Negar la sucesión temporal, negar el yo, negar el universo astronómico, son desesperaciones aparentes y consuelos secretos. Nuestro destino (a diferencia del infierno de Swedenborg y del infierno de la mitología tibetana) no es espantoso por irreal; es espantoso porque es irreversible y de hierro. El tiempo es la sustancia de que estoy hecho. El tiempo es un río que me arrebata, pero yo soy el río; es un <?page no="160"?> M. Fernando Varela 160 tigre que me destroza, pero yo soy el tigre; es un fuego que me consume, pero yo soy el fuego. El mundo, desgraciadamente, es real; yo, desgraciadamente, soy Borges. (Borges 2005: 770-771) En el fondo, - y con esto tocamos la base del problema - el tiempo no posee una dimensión puramente idealista porque el idealismo mismo es una doctrina tan irrefutable en lo racional como poco convincente en lo vital. Borges nos confiesa que, al revés que en el mundo fantástico de los habitantes de Tlön, el idealismo en el fondo nos deja fríos, está muy lejos de nuestra secreta convicción existencial. Leemos en Ficciones: Hume notó para siempre que los argumentos de Berkeley no admiten la menor réplica y no causan la menor convicción. Ese dictamen es del todo verídico en su aplicación a la tierra; del todo falso en Tlön. Las naciones de ese planeta son - congénitamente- idealistas. Su lenguaje y las derivaciones de su lenguaje - la religión, las letras, la metafísica- presuponen el idealismo. (Borges 2005: 435) El idealismo no causa la menor convicción en la tierra, pero sí en el mundo ficticio de Tlön, que constituye una excepción... ¿No habrá exagerado la moderna crítica borgiana (especializada en subrayar de modo casi exclusivo el carácter puramente lúdico-estetizante de su obra) la importancia del Borges de la literatura fantástica a expensas del Borges de carne y hueso que se manifiesta entre renglones - y a veces muy directamente, como hemos tenido ocasión de ver - en el resto de su prosa y, de manera muy especial, en su poesía? En la poesía el sentimiento, si el poema es auténtico, no deja mentir al poeta. Y buena parte de la poesía de Borges está presidida precisamente por la obsesión del tiempo existencial, hasta el punto de que en el poema Arte poética - verdadera preceptiva poética borgiana - se nos asegura que el sentido de la poesía y del arte en general reside en una provisional huida de la inexorable realidad del tiempo: [...] Sentir que la vigilia es otro sueño Que sueña no soñar y que la muerte Que teme nuestra carne es esa muerte De cada noche, que se llama sueño. Ver en los días y los años un símbolo De los días del hombre y de sus años. Convertir el ultraje de los años En una música, un rumor, un símbolo. [...] (Borges 1979: 161) El sentido de la poesía es entretener o disimular el ultraje de los años, alejar la obsesión de la muerte que teme nuestra carne. Tiempo existencial, pues, tiempo que se impone por encima de toda teorización, de toda tematización (a veces incluso contra toda evidencia del discurso racional). El tiempo no es <?page no="161"?> La obsesión del tiempo en J.L. Borges 161 objeto del pensamiento, es la realidad misma del pensamiento - del sentimiento -, es la carne misma del poeta convertida en pensamiento. Con este mismo espíritu deben leerse los versos del poema El reloj de arena, donde no hay ni sombra de las “supercherías metaf ísicas” de que hablaba Sábato a propósito de la literatura fantástica de Borges. El poema presenta un contraste muy marcado entre el tiempo-medida a que alude el símbolo del reloj (medida universal y abstracta, indiferenciada, eterna), y el tiempo de la existencia, el tiempo encarnado en la experiencia individual y del que apenas puede haber expresión racional: La arena de los ciclos es la misma E infinita es la historia de la arena; Así, bajo tus dichas o tu pena, La invulnerable eternidad se abisma. No se detiene nunca la caída. Yo me desangro, no el cristal. El rito De decantar la arena es infinito. Y con la arena se nos va la vida. [...] Todo lo arrastra y pierde este incansable Hilo sutil de arena numerosa. No he de salvarme yo, fortuita cosa De tiempo, que es materia deleznable. (Borges 2005: 812) Obras citadas Jaime Alazraki, La prosa narrativa de Jorge Luis Borges, Madrid 1968. Jaime Alazraki (ed.), Jorge Luis Borges, Madrid 1976. Enrique Anderson Imbert, Historia de la literatura hispanoamericana, México 1970. Francisco Ayala, Recuerdos y olvidos, Madrid 2001. Ana María Barrenechea, La expresión de la irrealidad en la obra de Borges, Buenos Aires 1967. Jorge Luis Borges, El libro de arena, Madrid, Buenos Aires 1977. Jorge Luis Borges, Obra Poética 1923-1976, Madrid 1979. Jorge Luis Borges El Hacedor, Madrid, Buenos Aires 1981 [1972]. Jorge Luis Borges, El Aleph, Madrid, Buenos Aires 1982. Jorge Luis Borges, Obra poética 1923-1985, Buenos Aires 1989. Jorge Luis Borges, Obra Completa, I, Barcelona 2005. Antonio Carrizo, Borges el memorioso. Conversaciones de Jorge Luis Borges con Antonio Carrizo, México 1982. Georges Charbonnier, El escritor y su obra. Entrevistas de Georges Charbonnier con Jorge Luis Borges, México 1967. Manuel Ferrer, Borges y la nada, Londres 1971. <?page no="162"?> M. Fernando Varela 162 Rita Guibert, Borges habla de Borges, en: Jaime Alazraki (ed.), Jorge Luis Borges, Madrid 1976, 318-355. Reiner Hedrich, Geträumte Metaphysik. Ariadnefaden für das Textlabyrinth des Jorge Luis Borges, Wien 2000. Néstor Ibarra, Borges et Borges, Paris 1969. Victoria Ocampo, Diálogo con Borges, Buenos Aires 1969. Paul Ricœur, Temps et récit I, Paris 1983. Ernesto Sábato, Los relatos de Jorge Luis Borges, en: Sur, 125/ marzo de 1945, 69-75. Fernando Varela, Literatura y pensamiento, Viena 2004. <?page no="163"?> Christine Rath Unerbittliche Uhren und geheime Wunder. Überlegungen zur narrativen Darstellung von Zeit in Jorge Luis Borges´ El milagro secreto In dir also, mein Geist, messe ich die Zeiträume. (Augustinus 2003: 328) Augustinus präsentiert die mentale Ausdehnung der Zeit als dreifache Gegenwart, als distentio animi, als Zerspanntheit der Seele. Es verbleibt jedoch ein Riss zwischen der Gegenwart der Vergangenheit, der Gegenwart der Zukunft und der Gegenwart der Gegenwart; ein Vorherrschen der Dissonanz über die Konsonanz, das Augustinus seufzen lässt. Umgekehrt verhält es sich, so Paul Ricœur, bei der Komposition des tragischen Gedichtes. In der Fabelkomposition nach Aristoteles erkennt er den Triumph der Konsonanz über die Dissonanz, da es die Fabel vermöge, heterogene Elemente zu einem nachvollziehbaren Ganzen zusammen zu fügen (Ricœur 1988: 105ff). Ricœur prägt den Begriff der „concordance discordante“ (Ricœur 1983: 113) zur Erklärung der Dialektik zwischen Zeitlichkeit und Narration, welche er anhand der Konfrontation der Augustinischen Chronosophie und der Aristotelischen Poetik herausarbeitet. Es gebe keine reine Phänomenologie der Zeit ohne Aporien, so Ricœur, aber die Poetik der Narration ermögliche es, auf diese Aporien zu antworten und diese produktiv werden zu lassen. Die beiden großen narrativen Modi der Geschichtsschreibung und der Fiktion verfügten diesbezüglich über unterschiedliche Herangehensweisen. In der Geschichtsschreibung bediene man sich diverser Bindeglieder wie beispielsweise des Kalenders, um die Wiedereinschreibung persönlicher Zeiterfahrung in einen kosmischen Zeitrahmen zu gewährleisten und somit zu objektivieren. Die daraus resultierende Zeit bezeichnet Ricœur als „le temps historique“ (Ricœur 1985: 153ff). Da die Historiographie an den dokumentarischen Beleg ihrer Darstellung gebunden sei, sei sie nicht so frei darin, Spielarten der subjektiven Zeit zum Ausdruck zu bringen wie es die Fiktion vermöge. Zwar sei auch die fiktionale Darstellung als Inszenierung des Möglichen - ähnlich wie die Historiographie (als Inszenierung des Wahrscheinlichen) - bemüht, dem Leser eine glaubwürdige Plotkonstruktion anzubieten. Jedoch sei es in der Fiktion möglich, die scheinbare Inkommensurabilität von ewiger Ausdehnung der kosmischen Zeit und dem von Heidegger beschriebenen Sein-zum-Tode weitaus produktiver auszugestalten (Ricœur 1985). <?page no="164"?> Christine Rath 164 Im literarischen wie essayistischen Schaffen von Jorge Luis Borges sind Fragestellungen, die das Wesen der Zeit betreffen, allgegenwärtig. So bezeichnet er die Zeit als das wesentliche Problem der Metaphysik: „[E]l tiempo […] sigue siendo para mí el problema esencial de la metafísica“ (Borges 2003b: 163). In dem Text El tiempo (Borges 2003b) diskutiert Borges zwei generelle Thesen, über welche gemeinhin Einigkeit in Bezug auf den Charakter der Zeit herrsche. Zum einen sei dies der fließende Charakter der Zeit - wobei es zunächst einmal zu vernachlässigen sei, ob man die Quelle des Zeitflusses in der Vergangenheit oder in der Zukunft annehme - und zum anderen die Annahme einer einzigen, mathematischen Zeit, wie sie Newton beschrieben habe. Die antike Parabel Heraklits von der Zeit als Fluss sei, so Borges, nur schwer zu widerlegen. Zu hinterfragen sei dagegen sehr wohl die Annahme Newtons einer einzigen existierenden Zeit. Es gebe keinen Grund, nicht die Koexistenz verschiedener Zeitreihen anzunehmen: La idea es que cada uno de nosotros vive una serie de hechos, y esa serie de hechos puede ser paralela o no a otras. ¿Por qué aceptar esa idea? Esa idea es posible; nos daría un mundo más vasto, un mundo mucho más extraño que el actual. La idea de que no hay un tiempo. Creo que esa idea ha sido en cierto modo cobijada por la física actual, que no comprendo y que no conozco. La idea de varios tiempos. ¿Por qué suponer la idea de un solo tiempo, un tiempo absoluto, como lo suponía Newton? (Borges 2003b: 204) So lotet Borges dann auch in verschiedenen Erzählungen fiktional die Konsequenzen parallel existierender Zeitreihen aus. In der Geschichte El otro (Borges 2003a) trifft der Erzähler auf sein jüngeres Alter Ego. Die Inkongruenzen resultieren aus der Tatsache, dass sich der jüngere und der ältere Erzähler „Borges“ in verschiedenen raum-zeitlichen Referenzrahmen bewegen. Die Unlesbarkeit des labyrinthischen Buches in El jardín de senderos que se bifurcan (Borges 2002a) beruht auf der Tatsache, dass sich der Protagonist nicht für eine Möglichkeit entscheidet, sondern jeweils für alle Möglichkeiten, wodurch verschiedene parallel verlaufende Zeitstränge entstehen. 1 In der Kurzgeschichte La otra muerte (Borges 2002a) wird sogar die Frage aufgeworfen, ob es möglich sei, die Vergangenheit zu beeinflussen, woraus verschiedene miteinander in Disharmonie stehende Vergangenheiten resultieren. Mark Mosher weist auf Parallelen dieser Erzählung und Ergebnissen der Neuen Physik 2 1 Valeriano Bellosta von Colbe arbeitet heraus, dass in dieser Erzählung insgesamt drei verschiedene Zeitebenen vorhanden sind, welche jeweils mit einer diegetischen Ebene zusammenfallen. So finden sich neben der verzweigenden Zeit auch noch Darstellungen linearer und zyklischer Zeit (Bellosta von Colbe 2004: 352-353). 2 Mosher sieht in La otra muerte insbesondere Überschneidungen mit den von Richard Feynman und John A. Wheeler durchgeführten Versuchen zur isotropen Zeit, welche zu bestätigen scheinen, dass vergangene Photonenbewegungen durch gegenwärtige Dispositionen beeinflusst werden können. hin, welche Borges in oben genanntem Zitat erwähnt, wohl aber abstreitet, diese zu kennen, geschweige denn zu verstehen. Die hier nur exemplarisch skizzierten Erzählungen aus dem Werke Borges´ lie- <?page no="165"?> Unerbittliche Uhren und geheime Wunder 165 ßen sich als fiktionale Äquivalente der sogenannten „Viele-Welten-Interpretation“ der Quantenmechanik lesen, welche in Weiterführung der zunächst 1957 von Hugh Everett III. vorgeschlagenen alternativen Deutung der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik von Bryan de Witt entwickelt wurde. 3 Ebenso wie alle von Ricœur in Temps et récit vorgestellten Phänomenologien von Augustinus bis Heidegger Varianten der Ausdehnung der Gegenwart sind, so steht auch in Borges’ Texten zum Wesen der Zeit die Gegenwart im Zentrum seiner Überlegungen. Diese stelle, so auch Borges, keine unmittelbare Gegebenheit unseres Bewusstseins dar: „¿Qué es el momento presente? El momento presente es el momento que consta un poco de pasado y un poco de porvenir. El presente en sí es como el punto finito de la geometría. El presente en sí no existe. No es un dato inmediato de nuestra conciencia“ (Borges 2003b: 202). Stephen Kern merkt an, dass sich die Chronosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsächlich auf die Gegenwart bezogen habe, da durch die neuen Kommunikationsmedien und schnelleren Transportmittel Simultanität erfahrbar gemacht wurde (Kern 2003: 314). Des Weiteren beschreibt er die Aufspaltung von Zeit in eine persönliche und eine öffentliche Dimension als kulturelles Phänomen in Europa und den USA auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Auch in der Kurzgeschichte El milagro secreto (Borges 2002a) wird Zeit auf verschiedenen diegetischen Ebenen thematisiert. Dem Protagonisten der Erzählung, Jaromir Hladík, offenbart sich ein Zeiterlebnis, welches zunächst nach Ricœur als ein phänomenologisches beschrieben werden könnte. 4 In dem 1936 erschienenen Essay Historia de la eternidad (Borges 2002) stellt Borges eben diese Frage nach der Synchronisierung der kosmischen Zeit und der menschlichen Zeitspanne eines Lebens: 5 Otras dificultades propone el tiempo. Una, acaso la mayor, la de sincronizar el tiempo individual de cada persona con el tiempo general de las matemáticas, ha sido harto voceada por la reciente alarma relativista [...]. Si el tiempo es un pro- 3 De Witts Interpretation der Quantenmechanik, welche verschiedene, parallel existierende Realitäten beschreibt, veröffentlichte er 1973 in dem Werk The Many-Worlds Interpretation of Quantum Physics. Im Epilog verweist de Witt auf die von Borges in El jardín de senderos que se bifurcan beschriebene, sich verzweigende Zeit. 4 Als herausragende Entwicklung sieht Kern die Einführung einer uniformen und universalen Zeit Ende des 19. Jahrhunderts. Die Erfindung der elektrischen Uhr mit einem Sekundenzeiger habe ab 1916 zeitliche Präzision ermöglicht und die dahin fließende Vergänglichkeit der Zeit sichtbzw. hörbar gemacht. Die damit einher gehende Infragestellung der Zeit als Inbegriff von Dauer und Sukze ssion zeigt sich bei Schriftstellern wie Marcel Proust, Virginia Woolf oder James Joyce, welche in ihren Werken den konfligierenden Charakter von privater und öffentlicher Zeit verhandeln. In der Philosophie war es insbesondere Henri Bergson, dessen Zeitbegriff großen Einfluss ausübte, indem er die wesentliche Unterscheidung zwischen Dauer (durée) und Zeit traf. 5 Siehe hierzu auch Ricœur 1985: 134ff. <?page no="166"?> Christine Rath 166 ceso mental, ¿cómo lo pueden compartir miles de hombres, o aun dos hombres distintos? (Borges 2002: 354) Borges bezieht sich hier also explizit auf die Vereinbarkeit der messbaren, linearen Zeit Newtons und einer subjektiven Zeit, einer, wie er sagt, mentalen Zeit. Er rekonstruiert im Folgenden historisch die unterschiedlichen Versuche, die unternommen wurden, um diesen Zusammenhang zu klären. Ebenso wie Augustinus seine Überlegungen zum Zeitbegriff im elften Buch der Konfessionen in eine Diskussion über die Ewigkeit einbettet, so setzt jenes Unterfangen auch laut Borges ein Nachdenken über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit voraus. Zunächst stellt er das platonische Modell vor, demzufolge die Anschauung der Ewigkeit in den universalen Formen der platonischen Archetypen möglich sei. Die Gattung stelle die fortdauernde Wirklichkeit der Individuen und Dinge dar - die Ewigkeit wäre demnach der Archetyp der Zeit. Im Anschluss daran stellt er das Dogma der Trinität als christliche Ausformung einer Ewigkeitsvorstellung vor. Hier - so erläutert Borges - wird die Ewigkeit als göttliches Attribut gesehen. Gott als Verwalter der Zeit ist somit befähigt, das ewige Leben zu schenken. Diese Versuche, Ewigkeit zu beschreiben, kontrastiert er mit einer Textstelle von Lukrez, in welcher dieser die Vergänglichkeit alles menschlichen Strebens anhand des Trugs des Beischlafs vor Augen führt. Im Folgenden präsentiert Borges seine eigene Auffassung von Ewigkeit. Er schildert darin ein Erlebnis, welches er bereits in einem früheren Text erzählt hat und welches auch Bestandteil seiner Argumentation in dem Essay Nueva refutación del tiempo (Borges 2002b) ist. Es scheint mir also essentiell für das Verständnis seines Zeitbegriffes zu sein. Borges beschreibt ein epiphanieartiges Erleben von Ewigkeit. Beim ziellosen Streifen durch die südliche Vorstadt von Buenos Aires ergreift ihn an einer Häuserecke plötzlich das Gefühl, diesen Moment schon einmal erlebt zu haben. Er schließt die Möglichkeit aus, dass er die Wasser der Zeit hinauf geschwommen sei, und es handele sich auch nicht um eine bloße Wiederholung ähnlicher Situationen. Beide erlebten Momente seien absolut identisch: Pensé, con seguridad en voz alta: Esto es lo mismo de hace treinta años… […] El fácil pensamiento Estoy en mil ochocientos y tantos dejó de ser unas cuantas aproximativas palabras y se profundizó a realidad. Me sentí muerto, me sentí percibidor abstracto del mundo: indefinido temor imbuido de ciencia que es la mejor claridad de la metafísica. No creí, no, haber remontado las presuntivas aguas del Tiempo; más bien me sospeché poseedor del sentido reticente o ausente de la inconcebible palabra eternidad. […] Esa pura representación de hechos homogéneos […] no es meramente idéntica a la que hubo en esa esquina hace tantos años; es, sin parecidos ni repeticiones, la misma. (Borges 2002: 366; Hervorhebung im Original) Diese Ununterscheidbarkeit und Unauftrennbarkeit zweier erlebter Augenblicke in einen Vergangenen und einen Gegenwärtigen reichten aus, die <?page no="167"?> Unerbittliche Uhren und geheime Wunder 167 Zeit aufzulösen und als Täuschung zu enttarnen: „El tiempo, si podemos intuir esa identidad, es una delusión: la indiferencia e inseparabilidad de un momento de su aparente ayer y otro de su aparente hoy, bastan para desintegrarlo“ (Borges 2002: 366). Das von Borges beschriebene Erlebnis ließe sich auch als Erfahrung einer Jetztzeit im Sinne Walter Benjamins beschreiben. Diese Denkfigur der jederzeit möglichen Vorwegnahme der Utopie impliziert, dass die Zeit nicht mehr als eine Achse gedacht wird, wo jedes Nachher unvermeidlich auf ein Vorher folgt, sondern als eine Nebeneinanderstellung von jeweils einmaligen, koexistenten Momenten. Die Kritik Benjamins am Geschichtsbild des Historismus, welche sich vor allem in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte manifestiert, basiert auf einer Forderung, den Begriff der Gegenwart neu zu fassen: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten“ (Benjamin 2003: 259). Seine Kritik richtet sich vor allem gegen den Fortschrittsglauben des Historismus und die diesem zugrunde liegende Annahme einer gleichförmig voranschreitenden, leeren Zeit: Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden. (Benjamin 2003: 258) Es gelte vielmehr, das „Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“ (Benjamin 2003: 259) und einen „Begriff der Gegenwart als […] ‚Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind“ zu begründen (Benjamin 2003: 261). Wie Jeanne Marie Gagnebin herausstellt, lassen sich in dieser Forderung Benjamins an den historischen Materialisten Ähnlichkeiten zum Proustschen Erinnerungsbild, wie es sich in der Madeleine-Episode darstellt, aufzeigen (Gagnebin 2006: 291ff). 6 6 Gagnebin sieht in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ den Versuch, „die Erkenntnisse Prousts und Freuds über die individuelle und unbewusste Geschichte des Subjekts in kollektive und politische Begriffe zu übersetzen“. In eben jener Übertragung vom „Individuellen zum Kollektiven und vom Unbewußten zur bewussten politischen Handlung“ sieht sie auch eines der Hauptprobleme der Thesen (Gagnebin 2006: 291). Während in der klassischen Philosophie zwischen mnêmê und anamnêsis, zwischen dem unwillkürlichen Erinnerungsbild und der bewusst evozierten Erinnerung unterschieden wurde (vgl. Ricœur 2004: 22), zeige sich bei Freud und bei Proust im Anschluss an Bergson und Nietzsche eine Verlagerung des Gewichtes auf die unfreiwilligen Gedächtnisbilder, die plötzlich und überraschend auflodern (Gagnebin 2006: 291). Die Proust’sche mémoire involontaire ist laut Benjamin Quelle der <?page no="168"?> Christine Rath 168 Erfahrung, welche mittels der Erzählung 7 Die Handlung der Erzählung ist eingebettet in den historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und schildert das Schicksal des jüdischen Autors Jaromir Hladík, welcher von den Nationalsozialisten in Prag festgenommen und zum Tode verurteilt wird. Bereits der einleitende Satz der Geschichte liefert wichtige räumliche und zeitliche Koordinaten in Bezug auf den Protagonisten und das, was ihm bevorsteht: In der Nacht des 14. März 1939 hat Hladík in der Zeltnergasse in Prag einen prophetischen Albtraum, in welchem die kosmische Zeit eine bedrohliche Rolle spielt. Hladík träumt von einer seit Jahrhunderten andauernden Schachpartie, welche von zwei verfeindeten Familien ausgetragen wird. An ihm als Erstgeborenem einer der beiden Familien liegt es, die unaufschiebbare Partie zu beenden. Gehetzt läuft er durch Sanddünen einer regnerischen Einöde und kann sich weder an die Figuren noch an die Regeln des Spiels erinnern. Über den vergesin die sowohl individuelle als auch die kollektive Tradition eingehe: In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewussten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen. (Benjamin 2003: 186) Kennzeichen der mémoire involontaire ist es, so Benjamin, dass sich ihr Erscheinen nicht willentlich beeinflussen lässt, sondern scheinbar dem Zufall entspringt, während es jedoch tatsächlich auch von besonderen Entstehungsbedingungen abhängt. Eine davon scheint die Einsamkeit der erinnernden Person zu sein, welche bedingt, dass im Gedächtnis Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Verbindung treten (Benjamin 2003: 189). Es stellt sich nun die Frage, inwiefern sich Parallelen zwischen dem Erlebnis des Erzählers „Borges“ der oben genannten Essays sowie dem des Protagonisten von „El milagro secreto“ aufzeigen lassen und inwiefern dieses Erleben einer anderen Zeit innerhalb der chronometrischen Weltzeit narrativ dargestellt wird. Es sei daran erinnert, dass Borges die obige Episode, in welcher er das Einbrechen einer alternierenden Zeitlichkeit in die chronometrische Weltzeit beschreibt, zum ersten Mal in einem kurzen Text in dem Essayband El idioma de los argentinos von 1928 schildert und zwar unter dem Titel Sentirse en muerte, also etwa Im Angesicht des Todes. Auch dem Protagonisten von El milagro secreto offenbart sich dieser messianische Riss im Gewebe der historischen Zeit im Angesicht des Todes. 7 Benjamin grenzt den Begriff der Erzählung von anderen Formen der Mitteilung ab. So sieht er in der „Relation“, der „Information“ und der „Sensation“ Mitteilungsformen, welche durch ihre scheinbare Beschränkung auf das „pure An-Sich des Geschehenen“ (Benjamin 2003: 189) und ihre tatsächlich doch die Vorstellungskraft des Lesers lähmende Tendenz zu erklären (Benjamin 2003: 314-315), die Möglichkeit der Erfahrung verhinderten. <?page no="169"?> Unerbittliche Uhren und geheime Wunder 169 senen Einsatz des Schachspiels wird gemunkelt er sei „enorme y quizá infinito“ (Borges 2002: 508). Es findet sich also bereits im ersten Absatz ein Hinweis auf eine der zwei unterschiedlichen Zeiten, welche in dieser Geschichte eine Rolle spielen werden, nämlich der kalendarischen, chronometrischen Zeit und einer anderen Zeit des Traumes, über deren Unendlichkeit und Bedeutung bis dato nur gemunkelt wird. Diese positiv konnotierte Zeitlichkeit wird mit der als bedrohlich empfundenen chronometrischen Zeit kontrastiert. Unerbittlich verkünden die Türme die Uhrzeit der unaufschiebbaren Partie. Der Träumer Hladík kämpft sich durch Sanddünen, welche ebenfalls als Sinnbild für die sprichwörtlich verrinnende Zeit interpretiert werden können. Dann erwacht er: „Cesaron los estruendos de la lluvia y de los terribles relojes” (Borges 2002: 508). Während der schreckliche Klang der geträumten Uhren verstummt, kann das Fortschreiten der Realität hingegen nicht aufgehalten werden. Begleitet von einem rhythmischen und eintönigen Lärm - „[u]n ruido acompasado y unánime“ - marschieren die Nationalsozialisten in Prag ein (Borges 2002: 508). Weitere konkrete Zeit- und Datumsangaben protokollieren das Fatum Hladíks. Am 19. März geht eine Denunziation bei den Behörden ein, noch am Abend desselben Tages wird er verhaftet. Seine Hinrichtung wird für den 29. März um neun Uhr morgens festgesetzt. Der Erzähler kommentiert diesen Aufschub von zehn Tagen wie folgt: „Esa demora [...] se debía al deseo administrativo de obrar impersonal y pausadamente, como los vegetales y los planetas” (Borges 2002: 509). Der Vergleich mit dem gleichmäßigen Verlauf der Planeten beinhaltet hier also einen eindeutigen Verweis auf die kosmische Zeit. Dem entgegen stehen die Versuche Hladiks, auf seine scheinbar unabwendbare Zukunft Einfluss zu nehmen. Während er in der Zelle auf seine Hinrichtung wartet, malt er sich die Einzelheiten seiner Hinrichtung aus, um die Zukunft dahingehend zu manipulieren. Denn, so seine Überlegung, die Zukunft pflege eben nicht mit dem Vorausgesehenen überein zu stimmen, daher seine Hoffnung, dass er bereits imaginierte Grausamkeiten nicht mehr zu erdulden haben werde. Darauf überkommt ihn die Befürchtung, dass seine Gedankenspiele vielleicht doch gerade prophetischen Charakter annehmen könnten. Kurzum - er versucht, so der Erzähler, in diesen elenden Nächten des Wartens in der flüchtigen Substanz der Zeit Halt zu finden: „[…] procuraba afirmarse de algún modo en la sustancia fugitiva del tiempo“ (Borges 2002: 509). Die einzige Gewissheit in Bezug auf seinen Tod liefert ihm jedoch erneut lediglich der Kalender. Er weiß, dass noch genau sieben Nächte verbleiben. Es ist der 22. März 1939, seine Hinrichtung ist geplant für den 29. des selbigen Monats. Hladík beschäftigt der Gedanke, dass es ihm nicht gelungen sei, sein Drama Los enemigos fertig zu stellen, welches ihn - im Gegensatz zu seinen bisherigen Publikationen - als Schriftsteller rechtfertigen würde. Hierunter befinden sich zahlreiche Schriften zur jüdischen Mystik und eine Refutación de la eternidad, ein Titel der selbstverständlich an Borges‘ oben <?page no="170"?> Christine Rath 170 erwähnte Texte über die Ewigkeit erinnert. Er bittet Gott, den er als Verwalter der Zeit apostrophiert, ihm noch ein Jahr zu gewähren, auf dass es ihm gelinge, das Drama zu vollenden. Wie um die Absurdität dieses Wunsches zu unterstreichen, erfolgt sofort ein Verweis auf den gleichmäßig fließenden Strom der Zeit: „[…] diez minutos después el sueño lo anegó como un agua oscura“ (Borges 2002: 511). Erneut träumt Hladík. In seinem Traum findet er Gott in einem Buchstaben auf einer Landkarte, eine Stimme versichert ihm, die erbetene Zeit für sein Unterfangen werde ihm gewährt. Am Morgen der Hinrichtung jedoch scheint der zeitliche Ablauf unumstößlich: Die Zeitangaben werden jetzt minutengenau präzisiert. Es ist 8 Uhr 44. Es gilt noch die Zeit bis neun Uhr zu überbrücken. Selbst im Angesicht seiner unmittelbar bevorstehenden Erschießung reflektiert Hladík noch einmal über das Verhältnis von Vergänglichkeit und der Möglichkeit, Zeit (medial) zu konservieren. Die Vorkehrungen, welche die Soldaten für seine Hinrichtung treffen, erinnern ihn an die eines Fotografen. Als das Erschießungskommando ertönt, zeigt sich jedoch, dass auch sein letzter Traum prophetischen Charakter hatte. Denn nun tritt ein, was der Titel der Kurzgeschichte als das geheime Wunder bezeichnet: Die Zeit scheint zunächst stehen zu bleiben. „El universo físico se detuvo“ (Borges 2002: 512). Die Wahrnehmung von Zeit wird gemeinhin eng mit der Notion von Bewegung und Veränderung in Verbindung gebracht und so scheint es, als sei die Realität in dem Augenblick der Hinrichtung Hladíks wie bei einem Standbild gefroren: Las armas convergían sobre Hladík, pero los hombres que iban a matarlo estaban inmóviles. El brazo del sargento eternizaba un ademán inconcluso. En una baldosa del patio una abeja proyectaba una sombra fija. El viento había cesado, como en un cuadro. […] Pensó el tiempo se ha detenido. (Borges 2002: 512; Hervorhebung im Original) Dann jedoch wird Hladík klar, dass Gott ihm zwar ein Jahr Aufschub gewährt hat, um sein Werk fertig zu stellen, dass dies jedoch nicht den Ablauf der offiziellen Weltzeit beeinträchtigen wird, sondern nur für ihn erfahrbar ist: Otro “día“ pasó, antes que Hladík entendiera. Un año entero había solicitado de Dios para terminar su labor: un año le otorgaba su omnipotencia. Dios operaba para él un milagro secreto: lo mataría el plomo alemán, en la hora determinada, pero en su mente un año transcurriría entre la orden y la ejecución de la orden. De la perplejidad pasó al estupor, del estupor a la resignación, de la resignación a la súbita gratitud. (Borges 2002: 512) Hladík gelingt es, in diesem Einbruch der religiösen Zeit in die profane Zeitspanne seiner Hinrichtung einen würdigen Abschluss für sein Drama zu finden, und als ihm dies gelungen ist, wird im selben Moment auch sein Leben vom Hinrichtungskommando beendet. Der Erzähler verzeichnet in <?page no="171"?> Unerbittliche Uhren und geheime Wunder 171 historiographisch anmutendem 8 Zahlreiche der von Paul Ricœur in seinem Werk Temps et récit angesprochenen Fragen, das Verhältnis von menschlicher Zeit und der narrativen oder historiographischen Darstellung jener betreffend, werden in der Kurzgeschichte El milagro secreto problematisiert. So führt diese Kurzgeschichte zunächst sehr anschaulich die Ricœur’sche Frage nach der Synchronisierung der kosmischen Zeit und der menschlichen Zeitspanne eines Lebens vor Augen. Durch die oben gezeigte, ständige Parallelführung der kalendarischen Zeit und der mentalen Zeit des Protagonisten wird auf die Aufspaltung des Zeitbegriffes in eine öffentliche und eine private Dimension verwiesen. Duktus: „Jaromir Hladík murió el 29 de marzo, a las nueve y dos minutos de la mañana” (Borges 2002: 513). 9 8 Stéphane Mosès bemerkt in Bezug auf die Erzählperspektive von El milagro secreto: „Dieser Eindruck [der Eindruck des Lesers, dass der von Hladík beobachtete Stillstand des Universums zu lange dauert, um eine bloße Sinnestäuschung zu sein, Anmerkung C.R.] wird zusätzlich durch die angewandte literarische Erzählperspektive verstärkt: die Szene ist ‚von außen‘ beschrieben, als ob es sich um eine objektive Wirklichkeit handelte, bevor der Erzähler eingreift und die Erscheinung als eine psychische Erfahrung der Romanfigur enthüllt. Das physische Universum ist also nicht in Wirklichkeit zum Stillstand gekommen, sondern nur in der Vorstellung des Verurteilten“ (Mosès 1994: 15). 9 Eine ähnlich konstante Kontrastierung von innerer Zeit und offizieller Zeit, in diesem Fall symbolisiert durch das Glockenspiel des Big Ben, findet sich in dem von Ricœur analysierten Roman Mrs. Dalloway (Ricœur 1984: 152ff). Wie bereits herausgestellt, verfügt die Fiktion über die Möglichkeit mittels der Erzählung innere Zeiterfahrung darzustellen. Ricœur nennt die Befreiung des Autors fiktiver Erzählungen von der Pflicht, durch Verwendung bestimmter Bindeglieder wie beispielsweise des Kalenders oder der Spur eine Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die kosmische Zeit zu regulieren, welcher der Historiograph unterliegt, als wichtigstes Distinktionsmerkmal zwischen fiktiven und historiographischen Texten. „Des personnages irréels, dirons-nous, font une expérience irréelle du temps. Irréelle, en ce sens que les marques temporelles de cette expérience n´exigent pas d´être raccordées à l´unique réseau spatio-temporel constitutif du temps chronologique“ (Ricœur 1985 : 185). Jedoch gibt es Ricœur zufolge keine reine Phänomenologie der Zeit ohne Aporie. Eine der Schwierigkeiten bestehe darin, Ewigkeit mit dem Tode in Einklang zu bringen (Ricœur 1988: 130-135). So kann es nicht verwundern, dass auch die Figuren der von Ricœur analysierten Romane sterblich sind. Die Figur des Septimus in Mrs. Dalloway begeht Selbstmord, weil sie „de ne pas supporter la rigueur du temps des horloges“ (Ricœur 1985: 189); der todgeweihte Jaromir Hladík empfindet die geträumten Uhren als schrecklich und bedrohlich. In El milagro secreto scheint die kosmische Zeit der Sukzession zu siegen, oder wie Borges an anderer Stelle formuliert: „[L]a eternidad, […] es un artificio espléndido que nos libra, siquiera de manera fugaz, de la intolerable opresión de lo sucesivo” (Borges 2002: 351). Ebenso wie die Titel der Essays Historia de la eternidad und Nueva refutación del tiempo die in diesen vorgeblich <?page no="172"?> Christine Rath 172 angestrebte Darlegung der Ewigkeit bzw. Widerlegung der Zeit ironisiert und damit die Argumentation dieser vorwegnimmt, so scheint es sich auch bei dem von Hladík erfahrenen „Wunder“ lediglich um ein geheim bleibendes Wunder zu handeln, welches keine Implikationen für die letztendlich dominierende kosmologische Zeit Newtons hat. Es bleibt jedoch die Frage, ob aus der Verwebung von historiographischem und fiktionalem Erzählen in dieser Kurzgeschichte eine dritte, historische Zeit entspringt als „point d´articulation du temps vécu, du temps phénoménologique, si l´on peut dire, et du temps cosmologique“ (Ricœur 2000: 122). Die Spanne mentaler, innerer Zeit, die dem Protagonisten Hladík gewährt wird, nutzt dieser ausgerechnet zur Fertigstellung eines Dramas, das sich strikt an den aristotelischen Vorgaben zur Fabelbildung hinsichtlich der Wahrung von Zeit und Raum orientiert. „Este drama observaba las unidades de tiempo, de lugar y de acción” (Borges 2002: 510). Jedoch scheitert der Konfigurationsakt offensichtlich, häufen sich doch im dritten Akt die Widersinnigkeiten. Schauspieler, die bereits aus der Handlung geschieden waren, kehren zurück, Szenen wiederholen sich, die Uhr zeigt immer noch dieselbe Uhrzeit an wie im ersten Akt. Die Wiedereinschreibung der phänomenologischen Zeit in eine kosmologische Zeit muss zwangsläufig misslingen, entspringt das Drama doch gänzlich der Wahnvorstellung des Protagonisten desselben: „El drama no ha ocurrido: es el delirio circular que interminablemente vive y revive Kubin“ (Borges 2002: 510). Im Angesicht Hladíks baldiger Ermordung fällt dem Drama Los enemigo s die Bedeutung zu, seine irdische Existenz zu rechtfertigen: „[…] la posibilidad de rescatar (de manera simbólica) lo fundamental de su vida“ (Borges 2002: 510-511). Die identitätsstiftende Funktion des Dramas verbleibt jedoch auf rein individueller Ebene, verfügt Hladík doch über keine Möglichkeit der medialen Konservierung seines Werkes außerhalb seines Gedächtnisses: „No disponía de otro documento que la memoria; […] No trabajó para la posteridad ni aun para Dios, de cuyas preferencias literarias poco sabía“ (Borges 2002: 512). Hladík hinterlässt also kein Zeugnis, welches, so Ricœur, als Mittler zwischen Gedächtnis und Geschichte fungiert (Ricœur 2004: 48). Auf diegetischer Ebene ist El milagro secreto, wie viele Borges´sche Kurzgeschichten, durch eine tief greifende Verwebung von fiktionalem und historiographischem Erzählen gekennzeichnet. Die Wahl des historischen Rahmens des Zweiten Weltkriegs, die Verwendung zahlreicher historischer Daten, Personen und Lokalitäten als auch die starke Einbindung der chronologischen Angaben erwirken eine Erzählform, welche oftmals historiographischen Charakter annimmt. Gleich der (re)konstruktiven Arbeit des Historikers anhand einer historischen Spur, sucht sich hier auch der fiktionale Erzähler der Glaubwürdigkeit der Leser zu vergewissern. 10 10 „La question de ‚reliability’ est au récit de fiction ce que la preuve documentaire est à l´histriographie“ (Ricœur 1985: 235). Zugleich <?page no="173"?> Unerbittliche Uhren und geheime Wunder 173 jedoch implementiert die narrative Instanz in die strenge Chronologie eines während des Zweiten Weltkriegs auf seine Hinrichtung Wartenden ein geheimes Wunder, den Einbruch einer von Alterität gekennzeichneten Zeitlichkeit. Stéphane Mosès beschreibt die Kurzgeschichte El milagro secreto als exemplarisch für die messianische Zeitauffassung wie sie von Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershom Scholem beschrieben wurde (Mosès 1994: 12ff). Der Messianismus Benjamins und Rosenzweigs untergräbt das Paradigma der historischen Vernunft durch das jederzeit mögliche Eintreten der Erlösung und wendet sich damit bewusst vom Geschichtsbild des Historismus ab. Borges beschreibt in Historia de la eternidad die Schwierigkeit, sein messianisches Zeiterlebnis zu verbalisieren, sei es doch „[…] demasiado irrazonable y sentimental para el pensamiento“ (Borges 2002a: 365). An anderer Stelle meldet Borges Zweifel an, ob die menschliche Sprache, die immer schon von Zeit durchdrungen sei, überhaupt geeignet sei, Vorstellungen von Ewigkeit zum Ausdruck zu bringen: „Todo lenguaje es de índole sucesiva; no es hábil para razonar lo eterno, lo intemporal“ (Borges 2002b: 142). Die folgende Ankündigung, das Erlebte dennoch zu erzählen, lässt sich als Parodie des Objektivitätsanspruches des Historismus lesen: „Paso a historiarla, con los accidentes de tiempo y de lugar que la declararon“ (Borges 2002: 365). Sowohl in der Schilderung seines Erlebnisses in Historia de la eternidad als auch in El milagro secreto verzichtet Borges auf eine Erklärung dieses „momento verdadero de éxtasis“ (Borges 2002: 366), ein Verzicht, welcher laut Walter Benjamin Voraussetzung für Erfahrung ist. Borges verleiht also in dieser Erzählung - ebenso wie in dem Werk Historia universal de la infamia (1935) - erneut einer ex-zentrischen Figur der Geschichte eine Stimme. Stéphane Mosès zufolge ließe sich das dem Individuum Hladík Widerfahrene auf eine kollektive Ebene transponieren: Die Erfahrung, die der Prager Schriftsteller Jaromir Hladík in Borges´ Erzählung als eine rein individuelle macht, entspricht auf der Ebene der kollektiven Erfahrung jener in der jüdischen Mystik […] auf den gesamten geschichtlichen Prozeß bezogenen Wahrnehmung der historischen Zeit als eine ständig erneuerte Aktivierung der messianischen Utopie. (Mosès 1994: 16-17) In El milagro secreto werden zwei unterschiedliche Zeiten miteinander kontrastiert, und es wird auf die von Paul Ricœur beschriebene, überkreuzte Referenz zwischen Geschichtsschreibung und Fiktionserzählung, aus welcher die menschliche Zeit hervorgeht, verwiesen. Ricœur situiert sich mit diesem Entwurf zwischen „une spéculation sur l’histoire universelle, à la manière hégélienne, et une épistémologie de l’écriture de l’histoire, à la manière de l’historiographie française ou de la philosophie analytique de l’histoire de langue anglaise“ (Ricœur 1985 : 153). Ricœurs Begriff der historischen Zeit ermöglicht eine Borgeslektüre, welche sich weder darauf beschränken muss, einseitig die historiographischen Momente seiner Erzäh- <?page no="174"?> Christine Rath 174 lungen zu betonen noch der Ebene des Fiktionalen jeglichen Bezug zur Faktizität abzusprechen. Estamos continuamente naciendo y muriendo. Por eso el problema del tiempo nos toca más que los otros problemas metafísicos. Porque los otros son abstractos. El del tiempo es nuestro problema. ¿Quién soy yo? ¿Quién es cada uno de nosotros? ¿Quiénes somos? Quizá lo sepamos alguna vez. Quizá no. Pero mientras tanto, como dijo San Agustín, mi alma arde porque quiero saberlo. (Borges 2003b: 205) Literaturverzeichnis Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, Stuttgart 2003. Valeriano Bellosta von Colbe, Bifurcaciones y confluencias: Jorge Luis Borges en lingüística, in: Susanne Grunwald et al. (Hrsg.), Passagen. Festschrift für Christian Wentzlaff-Eggebert, Sevilla 2004, 351-363. Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften/ 1, Frankfurt am Main 2003. Jorge Luis Borges, Niedertracht und Ewigkeit. Erzählungen und Essays, Frankfurt am Main 1991. Jorge Luis Borges, Inquisitionen. Essays, Frankfurt am Main 1992. Jorge Luis Borges, Spiegel und Maske. Erzählungen, Frankfurt am Main 1997. Jorge Luis Borges, Das Aleph, Frankfurt am Main 2001a. Jorge Luis Borges, Die letzte Reise des Odysseus. Vorträge und Essays 1978-1982, Frankfurt am Main 2001b. Jorge Luis, Borges, Fiktionen, Frankfurt am Main 2001c. Jorge Luis Borges, Obras completas/ 1, Buenos Aires 2002a. Jorge Luis Borges, Obras completas/ 2, Buenos Aires 2002b. 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Prousts Recherche im Spiegel lateinamerikanischer Romane 1 Ricœur und Proust Paul Ricœur spricht im zweiten Band von Temps et récit von den „jeux avec le temps“ und konzentriert sich dabei vor allem auf narrative Verfahrensweisen, das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit und die voix narratives (Ricœur 1984: 115ff). Es geht insbesondere in dem Kapitel über Prousts Recherche um Probleme der configuration narrative, um die Zeiterfahrung, die bei diesen Spielen den Einsatz bildet (Ricœur 1984: 189). Das Spiel mit der Zeit erscheint, wie auch Harald Weinrich betont, als eine Domäne der Epik und des Romans, die, so wird vorausgesetzt, seit langem die größten Freiheiten im Spiel mit der Zeit und den Zeiträumen virtuos ausspielen. Dem Drama wird, so Weinrich, „diese Freiheit anfänglich nicht zugestanden. Nach den (missverstandenen) ‚Regeln’ der aristotelischen Poetik steht die ‚Einheit der Zeit‘ im Dienste einer höher eingestuften Handlungseinheit und wird im strengsten Sinne nur dann verwirklicht, wenn das Spiel auf der Bühne (als ‚Mimesis‘) gerade so lange dauert wie die dargestellte Handlung in der Wirklichkeit“ (Weinrich 2004: 1254). In der langen Diskussion des aristotelischen Begriffs der Einheit der Zeit wird aber bald vergessen, dass Aristoteles Mimesis als Schauspielkunst versteht, als szenische Darstellung handelnder Personen, als ein Spiel der Mimen, die Stimmen und Gebärden nachahmen - ein Schauspiel, das Musik und Tanz, Körperbewegung und Bühnenbild miteinander verbindet, also möglichst viele Sinne und Künste synästhetisch miteinander vereint (Aristoteles 2006: 21ff). Im Vergleich zwischen dramatischer und erzählender Dichtung wird bei Aristoteles die Dramatik bevorzugt, die vielseitiger sei, um das Ziel der Mimesis zu erreichen. Mit der Mimetik verbinden sich Assoziationen wie Maskerade, Ekstase, „außer sich“ sein (Lenk 1983: 300). Ich werde im Folgenden mit dem Begriff der surrealistischen Spiele und Schlüsselszenen u.a. diesen Aspekt der Mimesis hervorheben, da er, wie ich glaube, sowohl bei Proust wie auch in vielen Romanen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt, bisher aber weniger beachtet wurde, nicht zuletzt durch die Konzentration auf erzähltheoretische Fragen, d.h. die oft einseitige Interpretation der Mimesis als Darstellung von Wirklichkeit oder Nachahmung der Natur. Erst wenn man die Zeiterfahrung nicht nur im Hinblick auf narrative Strukturen untersucht, sondern die besonders auch im Roman <?page no="176"?> Volker Roloff 176 wichtigen Spielformen der szenischen Darstellung, und damit auch die intermedialen Korrespondenzen und Synästhesien mitberücksichtigt, ergeben sich möglicherweise neue Perspektiven, insbesondere im Hinblick auf die Aktualisierung der zentralen Thematik der Mimesis der Zeit. Ich möchte zunächst prüfen, wie weit Ricœur - in seiner Analyse der Konfiguration der Zeit bei Proust - auf das Verhältnis von narrativer und dramatischer Darstellung eingeht. Anzumerken bleibt, dass Prousts Recherche, oft als erzählte Philosophie bezeichnet, schon seit ihrem Erscheinen nicht nur das Interesse der Literaturwissenschaft gewonnen hat, sondern vor allem auch im Kontext philosophischer Fragestellungen, in einem Grenzbereich von Philosophie und Ästhetik interpretiert wird. Die Reihe führt, um nur einige Namen zu nennen, von Bergson, Benjamin, Sartre, Merleau-Ponty, Adorno bis hin zu Poulet, Ricœur, Deleuze, Kristeva, Waldenfels (vgl. zuletzt Felten/ Roloff 2008). Ricœurs Proustinterpretation wird, so weit ich sehe, in der neuen Proust-Forschung zwar beachtet, aber meist nur kurz kommentiert, auch bei Julia Kristeva, Anne Simon oder Rainer Warning, die sich speziell mit dem Problem der Zeit und Zeitlichkeit bei Proust beschäftigen. Dies liegt möglicherweise daran, dass Ricœurs Proustinterpretation mit dem Titel „Le Temps traversé“ zwar sehr anschaulich, mit Rückgriffen auf Jauss, Poulet, Genette und Shattuck, die narrative Komposition der Recherche, die Struktur des Zeitromans und der zentralen Ereignisse, die von der ‚verlorenen’ zur ‚wiedergefundenen Zeit’ führen, erläutert, dabei aber, im Unterschied zur neueren Proust-Forschung, die explizite Ästhetik der Recherche, die im Roman selbst formulierte so genannte ars poetica zu Grunde legt (Ricœur 1984: 244ff). Ricœur analysiert die „extase de la madeleine“ als „Vorzeichen der abschließenden Offenbarung“, als Vermögen, das Tor der Erinnerung zu öffnen (Ricœur 1984: 257). Und der Schluss des Romans erscheint als Vorzeichen und Verheißung des Glücks nach einer Serie der Desillusionen und der Zeichen des Todes, d.h. als quasi-religiöse Offenbarung (Ricœur 1984: 265ff). Die Erinnerungserlebnisse in Le Temps retrouvé bedeuten nicht, so Ricœur, dass die zeitliche Distanz zufällig und gleichsam magisch „in der Identität ein und desselben Augenblicks“ aufgelöst werden kann, sondern: „l’énigme à resoudre est celle du rapport entre les moments bienheureux offerts par le hasard et la mémoire involontaire, et l’histoire invisible d’une vocation“ (Ricœur 1984: 269f). Ricœur spricht mit den Zitaten aus Le Temps retrouvé vom „sens du temps retrouvé“: „Le temps retrouvé […] c’est enfin l’impression retrouvée, qui reconcilie la vie et la littérature“ (Ricœur 1984: 283; Hervorhebung wie im Original). Die Recherche führe aber nicht, so Ricœur, zur Bergson‘schen Anschauung und einer ausdehnungslosen Dauer, sondern bestätige „le caractère dimensionnel du temps“. „L’itinéraire de la Recherche va de l’idée d’une distance qui sépare à celle d’une distance qui relie“ (Ricœur 1984: 284). Mit Jauss resümiert Ricœur, dass die wiedergefundene Zeit auch der wiedergefundene Tod sei, eine Interimszeit eines noch zu schaffenden Werkes (vgl. Ricœur 1984: 285). Es wäre, im Hinblick auf solche Differenzierungen, zu einfach, Ricœurs Proustinterpretation <?page no="177"?> Surreale Spiele mit der Zeit 177 pauschal als harmonisierend und idealistisch zu werten; aber es ist offensichtlich, dass Ricœurs Grundgedanke einer weitgehenden Kongruenz zwischen der im Roman formulierten ars poetica und der Erzählweise Prousts von einem großen Teil der aktuellen Proustforschung in Frage gestellt wird. Ich werde im Folgenden den Aspekt der „surrealen Spiele mit der Zeit“ herausgreifen und dabei insbesondere auf das Verhältnis von dramatischer und narrativer Darstellung der Zeit und die nicht so leicht auflösbare Spannung zwischen beiden Darstellungsweisen eingehen. Mit anderen Worten: es geht um die Heterotopie und Chronotopie des Theaters im Roman, um die Spielformen des inneren Theaters in der Recherche (vgl. Warning 2000: 213ff). 2 Prousts surreale Spiele mit der Zeit Proust begreift die Zeit als eine allegorische Figur, als Künstlerin: „L’artiste, le Temps“ (Proust 1989: 513) als Regisseurin eines theatrum mundi, die in einem grotesken „bal costumé“ in Le Temps retrouvé wie in einen Totentanz die Menschen als Masken und Puppen vorführt „des poupées extériorisants le Temps“ (Proust 1989/ IV: 503). Dies wird bereits von Jauß (Jauß 1970: 154) und ähnlich bei Ricœur hervorgehoben, aber bei beiden auch relativiert. In dem Maße, so Jauß, wie Marcel die grotesken Figuren „als Schöpfungen des Artiste le Temps begreift, tritt zuletzt auch wieder die aufgehobene Antinomie der ‚beiden Seiten’ in das verklärende Licht der Poesie der Zeit ein“ (Jauß 1979: 186). Ähnlich Ricœur, der hier noch weiter geht: „Le Temps revèle son autre fac e mythique: l’identité profonde que conservent les êtres, en dépit de leur dégradation [...]“ (Ricœur 1984: 275). Prousts Spiele mit der Zeit sind aber, wie ich glaube, immer zugleich grotesk, unheimlich und gerade darin poetisch, Formen der Identitätssuche, aber auch des Identitätsverlusts, der Kontinuität und Diskontinuität, so dass die Spannung, das Gleichgewicht zwischen beiden Polen bis zum Schluss erhalten bleibt, d.h. beide Seiten sind überraschenderweise nicht unterscheidbar und nicht abgrenzbar. In dieser Hinsicht ist die Recherche, wie zu zeigen bleibt, auf dem Wege zu einer Ästhetik des Surrealen. Es ist die unsichtbar wirkende Zeit, die sehr langsam arbeitet: „Cet artiste-là, du reste, travaille fort lentement“ (Proust 1989: 513). Es ist die Zeit, die die Formen des Lebens schafft, aber auch auflöst und sie ist daher mit dem Verwandlungskünstler Proteus vergleichbar, aber auch mit dem „romancier“ selbst: „Durch ihn [den Romancier] sind wir der wahre Proteus, der nach und nach alle Formen des Lebens annimmt.“ „Wir spüren, dass diese nur ein Spiel sind, eine traurige oder heitere Maske, die keine wirkliche Realität hat“ (Proust 1978: 414). Proust betont die Poesie der „mémoire involontaire“, aber die Erinnerungserlebnisse sind gleichwohl ebenso unheimlich, grotesk und gespenstisch wie die Eindrücke des „bal de têtes“, des Maskenballs. Schon die Vorformen, die Initialszenen in Combray, sind als Spiele mit der Zeit konzipiert, die im <?page no="178"?> Volker Roloff 178 Zwischenzustand zwischen nächtlichem Wachen, Träumen und Phantasien die gewohnten Erfahrungen von Raum und Zeit, die Chronologie und Orientierung aufheben, verwandeln und zugleich alle Sinne beteiligen. Schon am Anfang der Recherche, wo von dem „magischen Stuhl“ die Rede ist, der den Träumer zu einer Reise „in der Zeit und im Raum“ (Proust 1987: 5) verführt, zu einer faszinierenden Zeitreise, die aber auch unheimlich ist, verwirrend in der Konfusion der Wünsche und Ängste, in dem Wechselspiel euphorischer und schrecklicher Träume und Erinnerungen. Auch der Traum („Rêve“) erscheint in der Recherche wie „Temps“, „Oubli“, „Habitude“, mit dem allegorischen Majuskel; er ist, indem er scheinbar abgesunkene Bilder der Vergangenheit mit magischer Schnelligkeit unwillkürlich hervorbringt, mit der Figur des „Temps“ vergleichbar: „[D]er Grund, weshalb mich der Traum so faszinierte, lag vielleicht an dem fantastischen Spiel, das der Traum mit der Zeit veranstaltet“ (Proust 1989: 490). Aber es sind bei Proust nicht die nächtlichen Träume, sondern die Tagträume, Halbschlafszenen, z.B. die Szenen der Lektüre, die als „Modus, die verlorene Zeit wiederzufinden“ den Vorzug erhalten, als „wesentlich deutlichere Träume als die, die wir im Schlaf haben“ (Proust 1987: 84). So sind die Schlüsselszenen der Recherche, die Einschlafsituation, die Szenen der Lektüre, der „mémoire involontaire“ - von der Madeleine bis zu den Szenen in Le Temps retrouvé und auch die Voyeurszenen - imaginäre Beispiele, die, wie kleine Theaterstücke vor allem als Rollenspiele, Metamorphosen und Vervielfältigungen des Ich inszeniert werden. Es sind zugleich Schauspiele des Begehrens, die die existentiellen, ästhetischen und erotischen Grunderfahrungen darstellen und reflektieren (Balke/ Roloff: 143ff). Man kann sie als Szenarien der Sinne definieren, Bruchstellen zwischen Körper und Geist, Eigenem und Anderen, Innen und Außen, welche die Bedingungen der Wahrnehmung und des Erkennens markieren (vgl. Hülk 1999: 1ff). Sie sind im Prinzip seriell, fragmentarisch, kontingent und diskontinuierlich, über weite Zeiträume verbunden und sind den gewohnten Ordnungen von Raum und Zeit entzogen; intermediale Szenarien insofern, als sie alle Sinne in Bewegung bringen, sprachliche und visuelle Imagination auslösen, den gesamten Körper, seine Wahrnehmung und Gefühle erfassen (Balke/ Roloff 2003: 147). Rainer Warning definiert im Anschluss an Bachtin und Castoriadis solche Chronotopoi als „variable Konkretisierungen der Zeit im Raum“ (Warning 2000: 215), um von daher Prousts Chronotopien als „Konkomitanz imaginärer Zeit mit einer Bühne, auf der sie sich zur Anschauung bringt“ zu definieren (Warning 2000: 219). So ist die Kirche von Combray, als „vierdimensionaler Raum - die vierte Dimension war die der Zeit“ (Proust 1987: 60), ein „chronotopisches Komprimat der sie umgebenden Landschaft und ihrer Geschichte, in der kollektive Erinnerung und kollektives Imaginäre sowie persönliche Impressionen einander untrennbar durchdringen“ (Warning 2000: 224). Auch die Fenster der Kirche von Combray sind Beispiel für die „Verwandlung von Zeit in Raum“, der „Verräumlichung der Zeit und der Verzeitlichung des Raums“ und veran- <?page no="179"?> Surreale Spiele mit der Zeit 179 schaulichen so das Prinzip des Schreibens selbst (Borsò 2005: 35). Sie erinnern an mythische Zeiten, sind aber, wie Warning zeigt, verbunden mit der Darstellung der Grabsteine der Krypta, die eine riesige Vulva sichtbar macht. „Was die Krypta ins Bild setzt, ist eine immer wiederkehrende und also diskontinuierlich-repetitive Manifestation atavistischer Grausamkeit“ (Warning 2000: 225). Solche Erfahrungen sind, wie auch das „drame du coucher“ oder die Szene von Montjouvain, für Marcel Initiationen, „rites de passage“ (Warning 2000: 224), die auf die dunkle Seite des Begehrens und der Sexualität hinweisen. Prousts Hetero- und Chronotopien, die Schlafzimmer, Lese- und Theaterräume, die Projektionen der Laterna magica sind Orte des Begehrens, die deutlich machen, wie das Imaginäre die Zeit verräumlicht und so weit wie möglich veranschaulicht und illuminiert - und auf diese Weise ästhetische, aber zugleich immer auch erotische Phantasien hervorbringt. Prousts Spiele mit der Zeit, seine Chronotopien führen jeweils an äußerste Grenzen von Raum und Zeit, sie schaffen eine extreme Ausdehnung der Zeiträume, die der Roman umfassen möchte - und es sind ebenso Szenen der extremen Konzentration der Zeit, Figuren der Kristallisation, der äußersten Intensität, der Verdichtung und Atomisierung der Zeit (vgl. Hülk 2008), magische Augenblicke, die die Sinne und Künste zusammenführen. „Une heure n’est pas qu’une heure, c’est un vase rempli de parfums, de sons, de projets et de climats. Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément […]“ (Proust 1989: 467f). Diese Stelle aus Le Temps retrouvé enthält Merkmale, die alle Schlüsselszenen der Recherche verbinden. Es handelt sich um dramatische Momente, Schauspiele und Szenarien der Sinne, aber zugleich auch um poetologische und ästhetische Überlegungen. Es sind Figuren der mise en abyme der Recherche selbst, Illustrationen der écriture der Recherche selbst, mit anderen Worten: metapoetische Erfahrungen und Reflexionen, die nicht nur dramatische Höhepunkte der erzählten Geschichte darstellen, wie man sie in den meisten narrativen Texten finden kann. Es handelt sich vielmehr um intermediale, imaginäre Schauspiele zwischen Bild, Text, Musik, die sich, um eine Formulierung von Borges heranzuziehen, im Inneren des Körpers abspielen (Borges 1976: 9). Sie ähneln dem Traum, in dem der Träumer zugleich auch als Mime und Proteus agiert, in dem er zugleich als Regisseur, Schauspieler und Publikum auftreten kann, sich ständig verwandelt und mit Zeit und Raum nach Belieben spielt (Borges 1976: 9). Es sind Traumerfahrungen, die bei Proust aber als „rêve plus clair“, als Tagtraum gleichsam ans Licht gebracht reflektiert und analysiert werden. Zur Traumform gehört die Mimesis, die Verwandlung der Figuren in den Szenarien der Erinnerungen: „plötzlich taucht ein Kind in mir auf“, betont der Erzähler, als er zufällig „François le Champi“ in der Bibliothek des Duc de Guermantes findet (Proust 1989: 464); und am Ende der Recherche erscheinen die Menschen mit Monstern und Riesen vergleichbar, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, weit auseinanderliegende Episoden verbinden (vgl. Proust 1989: 625). <?page no="180"?> Volker Roloff 180 Man kann daher, im Blick auf Prousts Schlüsselszenen, von einer Ästhetik des Surrealen sprechen, man könnte auch, wie z.B. Hans Holzkamp in seinem Essay Proust im Spiegel der Surrealisten (1999) spezielle Parallelen z.B. zu Breton, Soupault, Apollinaire, Borges, Cocteau und Buñuel notieren. Ich bevorzuge den Begriff der ‚Ästhetik des Surrealen’, um aber die Unterschiede zwischen der Gruppe um Breton und weiterreichenden Perspektiven einer Ästhetik des Surrealen hervorzuheben. Prousts Recherche gehört zu dieser Ästhetik des Surrealen, indem er die Distanz zum Realismus und Rationalismus des 19. Jahrhunderts betont, die Auflösung der narrativen Logik und Chronologie, und indem er - u.a. in den Schlüsselszenen - die Grenzen der Sprache abtastet, die Korrespondenz der Sinne verdeutlicht. Als gemeinsamer Ausgangspunkt erscheint vor allem das Konzept des Subjekts als variabler intermedialer Spielort, der durch eine Vielzahl von Inszenierungen, Hybridisierungen, Transgressionen, Verwandlungen und Superpositionen geprägt ist, als ein Ort der Passagen, der ständig neuen Mischungen und Überlagerungen von Figuren und Bildern des kollektiven und individuellen Imaginären: „Notre moi est fait de la superposition de nos états successifs“ (Proust 1989: 125). Es ist m.E. offensichtlich, dass Prousts Spiele mit der Zeit surrealistischen Verfahrensweisen entsprechen, insbesondere der ars combinatoria, die Raum und Zeit, Text und Bild, Sprache und Musik verbindet und von Hans Holländer als Modell der surrealistischen ars inveniendi et investigandi, als kombinatorisches Spiel, als „Modell mannigfaltiger Konstellationen von Figuren im Raum“ definiert wird (Holländer 1999: 275) - und mit Blick auf Breton, Duchamp, Max Ernst, Man Ray, Borges vor allem durch Schachspielvarianten, Traumgebilde, Traumszenen, Labyrinthe, Collagen, Bilderrätsel, Spiegelbilder veranschaulicht wird. Solche Figuren erinnern, so Hans Holländer und Gustav René Hocke, an barocke und manieristische Verfahrensweisen, an groteske und karnevaleske Figuren und Spielformen und inspirieren surrealistische Texte und Bilder. Es wäre ein leichtes, solche Figuren, die oft das Spiel mit der Zeit, die Umkehrung und Aufhebung der gewohnten Zeitabläufe miteinbeziehen, sowohl bei Proust als auch bei den Surrealisten nachzuweisen - und der Perspektive einer Ästhetik der Surrealen zuzuordnen, die vor allem in der lateinamerikanischen Literatur und Kunst wirksam ist (vgl. Felten/ Roloff 2004: 14ff). 3 Lateinamerikanische Romane Am Anfang der lateinamerikanischen Metamorphosen des Surrealismus steht Borges, dessen enge Beziehungen zum europäischen Surrealismus, und auch dessen Proust-Lektüre eine eigene Untersuchung lohnen, den Rahmen dieses Beitrages aber überschreiten würden. Insbesondere die Figuren der mise en abyme, des Labyrinths, des Palimpsests, der Metamorphosen, die Verfahren der Verrätselung, der Mehrdeutigkeit und des regressus ad <?page no="181"?> Surreale Spiele mit der Zeit 181 infinitum entsprechen der Traumästhetik der Surrealisten und bestimmen in den cuentos und ensayos von Borges die Struktur der literarischen Texte (vgl. Roloff 1997: 290ff). Borges und nach ihm Cortázar gehören zu den wichtigsten Vertretern dieser Ästhetik des Surrealen, die in Lateinamerika nicht nur rezipiert, sondern auch in einer besonderen Weise weiterentwickelt wird, u.a. in einer für viele lateinamerikanische Künstler kritischen Distanz zum europäischen Rationalismus. Ich möchte dies vor allem am Beispiel von Carpentier aufzeigen, der nicht nur auf den französischen und spanischen Surrealismus rekurriert, sondern dabei auch die Spuren seiner Proustlektüre mit einbezieht. Dass Carpentier in seinen Erzählungen und Essays sich immer wieder mit dem Surrealismus auseinandersetzt und, mit dem Begriff des real maravilloso, eine eigene, spezifisch lateinamerikanische Variante entwickelt, ist hinlänglich bekannt, weniger aber Carpentiers besonderes Interesse für Proust. In einem Vortrag von 1975 über die „Zeit und die Sprachproblematik im modernen lateinamerikanischen Roman“ verweist Carpentier auf Prousts Recherche als einen großen epischen Roman, als Vorbild für die zeitgenössische Epik. Er betont, dass es bei Proust um die Darstellung und Analyse einer ganzen Gesellschaft geht, die Geschichte eines bestimmten Bürgertums, an dessen Begräbnis der Leser teilnehme (Carpentier 1980: 87). Es geht darum, die „Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart“ zu verdeutlichen, „und zwar einer Gegenwart, in der schon deutliche Regungen der Zukunft zu spüren sind“; daher, so Carpentier, sollte der lateinamerikanische Romancier die Regeln der traditionellen Zeitlichkeit in der Erzählung durchbrechen und sich eine der Behandlung des Stoffes angemessene Zeitlichkeit erfinden [...]. Wie Proust kann er, ohne den Autor in Stil oder Machart nachzuahmen, gültige Augenblicke der Gegenwart zugunsten der Erinnerung extrem ausweiten; oder er kann, wie Virginia Woolf in Orlando, verschiedene Epochen und Zeiten im Verlauf ein und derselben Erzählung miteinander verknüpfen. (Carpentier 1980: 91) Es gibt, so Carpentier, vielfältige Möglichkeiten solcher Spiele mit der Zeit, er selbst habe auf seine Weise „mit der Zeit zu spekulieren versucht: kreisförmige, zum Ausgangspunkt zurückkehrende Zeit in Los pasos perdidos und in der Erzählung El camino de Santiago; die verkehrte oder rückwärts laufende Zeit in Viaje a la semilla, das Gestern im Heute in El siglo de las luces und Concierto barroco“ (1980: 91f). Carpentier verbindet, ähnlich wie Proust, die extreme Ausdehnung von Zeit und Raum und die Konzentration auf magische Augenblicke, auf plötzliche, zufällige Veränderungen der Wahrnehmung, der „manière de voir les choses“. In dem viel zitierten Vorwort von El reino de este mundo beschreibt Carpentier diese Momente der intensiven Wahrnehmung, der magischen Metamorphose und Transgression: [L]lo maravilloso comienza a serlo de manera inequívoca cuando surge de una inesperada alteracíon de la realidad (el milagro), de una revelación privilegiada de la realidad, de una illuminación inhabitual o singularmente favorecedora de las inadvertidas riquezas de la <?page no="182"?> Volker Roloff 182 realidad, de una amplicación de las escalas y categoriás de la realidad, percibidas con particular intensidad en virtud de una exaltación del espíritu que lo conduce a un modo de „estado límite“. Para empezar, la sensacíon de lo maravilloso presupone una fe. Los que no creen en santos ne pueden curarse con milagros de santos, ni los que no son Quijotes pueden meterse, en cuerpo, alma y bienes, en el mundo de Amadís de Gaula o Tirante el Blanco. (Carpentier 1978: 35; Hervorhebung wie im Original) Auffällig ist hier, dass Carpentier in der Formulierung seiner eigenen Ästhetik des Surrealen auf Proust’sche Kategorien wie „alteración de la realidad“, „revelación“, „iluminación“, „intensidad“ zurückgreift. Wie bei Proust sind Theatralität und Narration aufeinander bezogen, sind die Schlüsselszenen als mise en abyme des Romans selbst und zugleich auch als intermediale Schauspiele konzipiert, die, so weit wie möglich, die Grenzen der Wortsprache überschreiten, mit anderen Worten: Carpentier versucht, surrealistische Verfahrensweisen und eine prämoderne, vielleicht auch schon postmoderne Erzählweise und Schreibfreude zu verbinden (vgl. Wild 2004: 22ff). Besonders spektakulär und typisch für Carpentier sind die Szenen, die die Simultaneität, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen veranschaulichen, wie z.B. in jener Szene am Anfang von Los pasos perdidos, in der der Erzähler - in einem nordamerikanischen Museum für Studenten der Kunstgeschichte - bei seinem Rundgang in eine, wie es scheint, falsche Richtung läuft und auf diese Weise das Prinzip der Zeitreise, die Umkehrbarkeit der Zeit, verdeutlicht - und damit die Stationen seiner eigenen, noch künftigen Reise in Los pasos perdidos (Carpentier 1985: 101f) vorwegnimmt. Die Bilder, meist Reproduktionen und Objekte des Museums - von der Gegenwart, dem französischen Impressionismus über Goya bis hin zum Barock und Mittelalter und zu Fundsachen der Antike und Prähistorie, zu den Grenzen der menschlichen Zeitrechnung - schaffen, ähnlich wie die Kirche von Combray ein imaginäres Museum, in dem sich die Bilder der Vergangenheit, die Mythen mit den individuellen Bildern des Betrachters mischen und so in einen „circuit“ geraten, in eine Kreisbewegung, wie sie Deleuze beschreibt: „[…] l’image actuelle et l’image virtuelle coexistent et cristallisent. Elles entrent dans un circuit qui nous ramène constamment de l’une à l’autre, elles forment une seule et même scène où les personnages appartiennent au réel et pourtant jouent un rôle“ (Deleuze 1985: 112). Es läuft auf einen Akt der Metamorphosen hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln. Schon hier, in dieser Szene, bewegt sich der Erzähler und Protagonist in Los pasos perdidos auf den Spuren Prousts und gerade auch an dem Punkt seines Rundgangs, in dem er auf Goyas Chronos trifft und, so scheint es, in die Gegenwart zurückkehrt „El Cronos de Goya me devolió a la época [...]. Ante las conocidas imágenes me preguntaba si, en épocas pasadas, los hombres añorían las épocas pasadas, como yo, en esta mañana de estío, añorada - como por haberlos conocido - ciertos modos de vivir que el hombre había perdido para siempre“ (Carpentier 1985: 102). Der Gott der Melancholie, Chronos, der seine Kinder verzehrt, verweist auf die unheimliche, groteske und <?page no="183"?> Surreale Spiele mit der Zeit 183 dunkle Seite der Zeitreise, die, wie z.B. die Krypta der Kirche von Combray, auch Prousts Erinnerungserlebnisse begleitet. Über das Prado-Gemälde wird, so auch Gerhard Wild (Wild 2004: 170), das zentrale Thema der verlorenen Zeit eingespielt, auf das der Romantitel Los pasos perdidos anspielt. Hinter der eher ironischen Referenz auf André Bretons Les Pas perdus steckt Prousts Recherche (Wild 2004: 170). So ist der kurze museale Rundgang des Erzählers als mise en abyme der Zirkelstruktur des Romans durchschaubar, als ein Spiegel der künftigen Reise in den Urwald, die, ähnlich wie bei Proust, durch Lektüren, Bilder, Träume und Tagträume vermittelt und gesteuert wird. Die in die Baumrinde geritzten Zeichen, die den rechten Weg in den Urwald markieren, entsprechen dem Titel der Zeitschrift VVV, der ersten, von Breton 1942 in New York gegründeten surrealistischen Zeitschrift, die den Surrealismus in Amerika zu vermitteln sucht. Der Erzähler und mit ihm der Leser, gerät in Los pasos perdidos in eine immer schon literarisch geprägte, artifizielle Welt; der Urwald erscheint als ein Museum, in dem die Prinzipien der Aufhebung der Zeit, der Simultaneität, der Kontingenz, des Arbiträren und Grotesken re-präsentiert und reproduziert werden. Carpentiers surreale Spiele mit der Zeit folgen - meist spielerisch und ironisch - antiken Epen und Mythen: der Odyssee, Orpheus, Sisyphos, der Bibel, den Crónicas de Indias, den Paradies- und El Dorado-Mythen, sowie mittelalterlichen Epen und Mysterienspielen. Zu den surrealen Szenarien gehören die Wahrnehmung des Urwalds als einer Welt der Schauspiele, Täuschungen und Konfusionen; das Chaos der Natur erscheint als Labyrinth und zugleich als eine äußerst komplexe, artifizielle Welt der Illusionen, als ein Reich der Täuschungen der Sinne, der Simulationen, des desengaño und mimetismo. So entsteht eine Schein- und Theaterwelt, ein Universum der Mehrdeutigkeit, aber auch eine Stätte der von Carpentier sogenannten „Offenbarung der Formen“ (Carpentier 1980: 143). Paradoxerweise erscheint der Urwald als ein künstliche Welt, als Architektur und Inszenierung „La selva era el mundo de la mentira, de la trampa et del falso semblante; allí todo era disfraz, estratagema, juego de apariencias, meta-morfosis“ (Carpentier 1985: 228). Der Weg in den Urwald erscheint als Weg in ein Labyrinth und damit in eine zugleich verstrickende, täuschende, aber auch befreiende Welt der Literatur und des Theaters, sowie anderer Künste, der Musik, Oper, Architektur und Malerei. Die Natur des Urwalds entspricht der grotesken Polymorphie und Polymythie der Formen, von der phantastischen Malerei von Hieronymus Bosch bis hin zu den Surrealisten. Ich kann in diesem Zusammenhang nur andeuten, wie genau bei Carpentier in Los pasos perdidos die Themen der Aufhebung der Zeit, der Zeitlosigkeit, des Nebeneinander verschiedener Zeiten sowie die Suche nach einer neuen Dimension der Zeit mit der Musik, der Suche nach den Ursprüngen und Grenzen musikalischer Ausdruckformen verbunden ist (vgl. Vejvar 2004). Die Schlüsselszenen sind bei Carpentier in vielen Romanen, wie schon bei Cortázar, darauf angelegt, die Ästhetik des Surrealen zu veranschaulichen und Grenzsituationen zu markieren: Die Span- <?page no="184"?> Volker Roloff 184 nung zwischen äußerster Konzentration der Zeit und der Magie einzelner Augenblicke, bis hin zu einer äußersten Ausdehnung der Zeiträume. Die Theatralität der Schlüsselszenen korreliert mit narrativen Strukturen, die ihrerseits, mehr oder weniger experimentell, die traditionelle Logik und Linearität der Darstellung der Zeit auflösen und das Verhältnis von temps und récit neu bestimmen. Es ist bezeichnend für solche Schlüsselszenen, die zugleich als mise en abyme der Erzählweise und Makrostruktur des Romans durchschaubar sind, dass dabei die Grenzen der Sprache überschritten werden - synästhetisch, mit Vorliebe durch einen Medienwechsel, sei es durch Musik, Bilder, Malerei oder Film. Die unterschiedlichen Formen der Mimesis der Zeit in den verschiedenen Medien bieten die Chance für Vergleiche und Differenzierungen, insbesondere für Kombinationen zwischen Theater und Roman, zwischen Sprache und Bild. Die hier ausgewählten Beispiele haben gezeigt, dass Bilder - von Combray bis hin zum Museum in Los pasos perdidos - besonders gut geeignet sind, um verschiedene Dimensionen der Zeit und der Mimesis der Zeit darzustellen. In Carpentiers historischem Roman El siglo de las luces geht es um ein barockes Bild „Explosión en una catedral“, das die labyrinthische Struktur des Romans spiegelt und damit auch den Prozess des Entgleitens der Deutungen und Sinngebungen im Verlauf der Geschichte. Das Bild repräsentiert hier, als mise en abyme des Romans selbst, die unauflösbare Spannung zwischen einer linearen, fortschrittsorientierten und einer zirkulären, mythischen Geschichtskonzeption, die Dialektik von Chaos und Ordnung, Zeit und Zeitlosigkeit, und es zeigt auch die Metamorphosen der Protagonisten im Wandel der Zeit. Es wäre, wie bereits angedeutet, lohnend, in weiteren lateinamerikanischen Romanen die Darstellung der Zeit und das Verhältnis von Dramatik und Narration zu vergleichen. Es ist offensichtlich, dass dabei Prousts Modell der magischen Augenblicke und Erinnerungen, seine „Spiele mit der Zeit“ für viele Romanciers ein Vorbild sind, z.B. bei Cortázar, García Márquez, Rulfo, Lezama Lima oder Fuentes. Dabei kann man, wie auch bei Carpentier, zwei miteinander verwandte Tendenzen erkennen: die Auflösung des linearen, chronologischen Erzählens durch surreale Spielformen und die Suche nach neuen, intermedialen Kombinationen und Experimenten. Literaturverzeichnis Aristoteles, Poetik, Stuttgart 2006. Friedrich Balke/ Volker Roloff (Hrsg.), Erotische Recherchen. Zur Dekodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003. Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977. Wolfgang Bongers, Schrift/ Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 1999. <?page no="185"?> Surreale Spiele mit der Zeit 185 Vittoria Borsò, Proust und die Medien. Ecriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, in: Uta Felten/ Volker Roloff (Hrsg.), Proust und die Medien, München 2005, 31-60. Jorge Luis Borges, Libro de sueños, Madrid 1976. Monika Bosse/ André Stoll (Hrsg.), Theatrum Mundi. Figuren der Barockästhetik in Spanien und Lateinamerika. 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Friedrich Wolfzettel, „En torno a la dialéctica del desorden en algunas novelas de Alejo Carpentier“, in: Iberoromania 27/ 28/ 1988. <?page no="187"?> Walburga Hülk L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson Temps et récit, Paul Ricœurs gewaltige, ja einschüchternde Theorie der Erzählung von Zeit in drei Bänden, ist zweifelsohne eine summa narratologischer Entwürfe und Systeme, und der Bogen, den Ricoeur spannt, umfasst die Zeit- und Dichtungstheorie seit Aristoteles und Augustinus ebenso wie die unterschiedlichsten, in jeweilige Sprach- und Kulturtheorien eingebundenen, Fiktion, Geschichte und Geschichtsschreibung reflektierenden Ansätze von Northrop Frye über Michail Bachtin und Hayden White bis hin zu Reinhart Koselleck. Gleichwohl war ich enttäuscht von den Einzelanalysen der großen sogenannten ‚Zeitromane‘ des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Analysen von Virginia Woolf (Mrs. Dalloway), Thomas Mann (Der Zauberberg) und Marcel Proust (A la recherche du temps perdu), die sich in Temps et récit II: La configuration du temps dans le récit de fiction von 1984 finden: Sie sind, so mein Eindruck, nicht nur vergleichsweise kurz, sondern fallen auch deutlich hinter den Gesamtanspruch zurück, erläutern weitgehend bekannte Forschungsergebnisse und lösen den systematischen, nämlich philosophischen und ästhetischen Anspruch, das Verhältnis von Zeit und Erzählung zu erfassen, zumindest für die ‚Zeitromane‘ nicht ein. Man sollte sich fragen, warum das so ist. Es war Rainer Warning, der in seinem Buch Die Phantasie der Realiste n (Warning 1999) eine weitreichende Kritik an Ricœurs Narratologie geübt hat. Warning liest Temps et récit als eine klassizistische Theorie, welche die aristotelische Mimesislehre zwar ausdifferenziere, über den Begriff der Figur, der literarischen configuration oder Refiguration einer Zeitachse, jedoch nicht hinauskomme (Warning 1999: 269ff). Und in der Tat ist es ja so, dass die Mimesis-Theorie der Nachahmung von Handlung ebenso einen Anfang, eine Mitte und ein Ende der Geschichten (des Mythos) festlegt wie die physikalische Lehre der Zeit, die Aristoteles im vierten Buch seiner Physik konstituiert. Diese Zeit erschließt sich aus der Maßzahl von Bewegung (kinesis), hinsichtlich eines Davor und Danach, eines Früher und Später: Es ist eine Zeit als Phasenfolge, die immer ein quantitativ messbarer Wandel ist, der phänomenologisch erfasst wird und der sich semiotisch darstellen lässt. So wie es keine Leere im Raum gibt, gibt es hier nichts jenseits von Zeit, die kontinuierlich ist, wenngleich die Veränderungen einen unterschiedlichen Rhythmus besitzen können. Der Mensch begreift die Zeit als Abfolge von Zeitpunkten, sein Gedächtnis bezieht sich auf Vergangenes, die Wahrnehmung des Gegebenen erschließt das Gegenwärtige, das <?page no="188"?> Walburga Hülk 188 Zukünftige ist Gegenstand der Hoffnung oder Vorwegnahme des Erwarteten (vgl. Flasch 1993: 123). So umreißt Aristoteles in seiner Schrift Über das Gedächtnis (De memoria et reminiscentia) auch eine Form der inneren Zeit, die der Logik der äußeren folgt und auf einem homogenen, den Raum durchmessenden Zeitstrahl abgebildet werden kann. Augustinus widmet sich ganz dieser inneren Zeit (distentio animi), subjektiviert sie im Horizont von Erwartung, Aufmerken und Erinnerung als eine innere Gegenwart, die gerichtet ist auf die Unfassbarkeit der Ewigkeit, die er ganz im Sinne dieser homogenen Zeit denken musste. Wenn er aber sagt, wie schwierig es ist, Zeit zu beschreiben, so stößt er vor bis zu einer Grenze, die einerseits die Unvereinbarkeit äußerer und innerer Zeit verzeichnet, andererseits die sprachliche Not, letztere in Worte oder Figuren zu fassen, ihr eine Form zu geben: „Was ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht“ (Augustinus 1987: 629), heißt es im Buch XI seiner Confessiones. Es ist diese rhetorische Grenze, die auch Ricœur zugleich benennt und klassisch überwindet, indem er die Figur der Zeit, der äußeren und inneren, der kollektiven und individuellen, in ein System ausziselierter Zeiträumlichkeit fasst, welche unendlich teilbar ist und eine Form hat. Diese kann zersetzt werden von dem, was Ricœur bezeichnet als „érosion du sens du temps“, als „faille“ (Ricœur 1984: 179), wie sie sich intermittierend als Zeiterfahrung beispielsweise im Zauberberg ereignen. In der Einheitssuppe, im Schnee und im Krieg nämlich wird die Zeiträumlichkeit derealisiert und noch der heterotopische Zauberberg zurückgelassen als Schwelle in eine ganz andere, rein imaginäre Erfahrung, der eine radikal neue Zeitkonzeption zugrunde liegt: eine ungeformte Zeit, die von Ricœur nur schwach benannt wird als „fonds, même bas-fonds“ (Ricœur 1984: 179). Aber was heißt das schon? Diese ganz andere Zeiterfahrung nämlich ist nicht mehr mit dem klassischen Begriff zu fassen, der noch in Kants kategorialer Zeitrechnung Gültigkeit besitzt. Vielmehr scheint es mir, dass sie zu situieren ist in einem intellektuellen Zusammenhang um 1900, der vor allem geprägt ist durch die Zeitkonzeption Henri Bergsons, die sich, systematischer noch als bei Thomas Mann, bei Proust wiederfindet. Diese Zeit entzieht sich jener vektoriell organisierten Mimesis, die sich, wie Ricœur darlegt, in räumlichen Metaphern niederschlägt. Denn wenn diese die Fülle des Augenblicks, die Lücke in der Zeit noch paradoxal verdichten können, können sie doch die „faille“, die grundsätzliche Leere der Zeit, nicht vorstellbar machen. Wenn Ricœur also für die ‚Zeitromane‘ eine Raumzeithomogeneität postuliert, so unterschlägt er, dass diese als solche in dieser Zeit längst in Frage gestellt war (vgl. Link- Heer 2003). Hans Castorps Erleben kann er folglich nur als Scheitern begreifen, das noch in der ironischen Geste, wie der Erzähler selbst, die gebotene Syntheseleistung versäumt: Du moins le détachement ironique, grâce auquel Hans Castorp rejoint son narrateur, aura-t-il permis au héros de déployer un éventail de possibilités existentielles, même s’il n’a pas réussi à en faire une synthèse. En ce sens, la <?page no="189"?> L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson 189 discordance l’emporte finalement sur la concordance. Mais la conscience de la discordance a été élevée d’un degré. (Ricœur Ich möchte nun, ausgehend von einer Anregung des weitgehend ad acta gelegten, von Ricœur gar nicht erwähnten Georg Lukács, Flauberts L‘Education sentimentale von 1869 vor dem Hintergrund der Zeittheorie Henri Bergsons lesen, die ihrerseits von Ricœur so gut wie ausgespart wird. 1984: 192f) Mit diesem ornamentalen Urteil entgeht ihm die Pointe: Am Ende des Romans, 1914, verlässt Hans Castorp den Zauberberg und zieht in den Krieg, auf den Lippen Schuberts „Lindenbaum“, den deutschen Chronotopos oder lieu de mémoire. Das Verlangen nach Leben, die Lektion der Schneewanderung, des „weißen Nichts“ („Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“, Mann 1981: 694f) verliert sich nun ganz aus dem Homogen- Sinnhaften der Biographie ins Formlose des Lebens- und Todesstroms, in das offene Ende des Romans. Wie könnte auch hier, in der Zusammenfügung individuellen Schicksals und kollektiver Katastrophe, eine Synthese aussehen? 1 Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-Nicht-Bewahren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem träg-stetigen Ablauf nicht standhalten kann, daß sie von mühsam errungenen Gipfeln langsam aber unaufhaltsam herabgleiten muß, daß dieses unfaßbar, unsichtbar-bewegliche Wesen ihr allen Besitz allmählich entwindet und ihr - unbemerkt - fremde Inhalte aufzwingt. Darum ist es, daß nur die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit der Idee, der Roman, die wirkliche Zeit, Bergsons ‚durée‘, in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufnimmt. [...] Ein solches Zeiterlebnis liegt Flauberts Education sentimentale zugrunde, und sein Fehlen, das einseitig negative Fassen der Zeit ließ letzten Endes die anderen, großangelegten Desillusionsromane scheitern. (Lukács 1971: 107, 110) Dies ist umso eigentümlicher, als diese, so scheint mir, gerade für die von ihm dargestellten ‚Zeitromane‘ des frühen 20. Jahrhunderts, unhintergehbar ist - ebenso unhintergehbar wie der Blick auf eben diesen Flaubert-Roman, der seinerseits mit keinem Wort genannt wird. In Die Theorie des Romans, entworfen 1914, niedergeschrieben 1914/ 15, schreibt Lukács: 2 Flauberts Zeit, beginnend mit Madame Bovary, ist, wie Michail Bachtin dann in den 1930er Jahren schreiben wird, eine „zähe, klebrige Zeit, die im Raum langsam dahinkriecht“ (Bachtin 1989: 198). Die Zeit, die Alltagszeit - alle Zeit des Tages, die Zeit aller Tage - des so genannten realistischen Romans, so Bachtin, „ist hier ereignislos, so daß es scheint, als sei sie fast gänzlich stehengeblieben“ (Bachtin 1989: 198). Eine solche Zeit legt sich maßlos und 1 Bergson wird lediglich in drei Anmerkungen erwähnt (davon zwei mit falschen Seitenangaben); vgl. Index des noms, Temps et récit I-III (Ricoeur 1985: 526). 2 Vgl. auch das Nachwort (Lukács 1971). <?page no="190"?> Walburga Hülk 190 formlos auf das Gemüt, sie ist die äußerste Grenze einer noch im Raum abbildbaren, verdichteten Zeit, einer „chronotopisch“ fassbaren Zeiträumlichkeit, die, so scheint es mir, in Madame Bovary noch sichtbar, in der L‘Education sentimentale jedoch ganz aufgegeben ist. 3 Die unbestimmbare, unscharfe Zeit, welche den Lehrjahren des Herzens als Geschichte einer ganzen Generation unterlegt ist, 4 Der junge Frédéric Moreau steht am 15. September 1840 gegen 6 Uhr morgens auf dem Deck des Dampfers Ville-de-Montereau, wird Henri Bergson neunzehn Jahre später und dann immer wieder in seiner Zeitphilosophie systematisieren. Den Zusammenhang aber zwischen Flaubert und Bergson hat Bergsons Zeitgenosse Lukács wohl als erster erkannt und geltend gemacht für die einzigartige Qualität des von Flaubert geschriebenen Desillusionsroman als Zeitroman. Ich möchte diesen verschütteten Gedanken im Folgenden noch einmal aufnehmen und zu diesem Zweck - gleichsam mit und gegen Ricœur - an den Anfang der L‘Education sentimentale. Histoire d’un jeune homme erinnern. 5 der ihn nach einem Besuch bei seinem Erbonkel von Le Havre zurückbringen wird in sein Heimatdorf Nogent-sur-Seine südöstlich von Paris, dahin, wo die Schiffbarkeit der Seine endet. Dort erwartet ihn seine früh verwitwete Mutter. Stromaufwärts geht jetzt diese Rückreise, für den 18-Jährigen in der sicheren Erwartung, in eine neue Lebensphase einzutreten, denn mit der Erbschaft wird er wenige Wochen später in Paris ein Jurastudium aufnehmen. Der präzise Zeitpunkt und die Ortsbestimmung, hier eine Zwischenstation in Paris, künden eine klassische Exposition an, und die Einführung des Protagonisten auf der ersten Seite - „M. Frédéric Moreau, nouvellement reçu bachelier“ (Flaubert 1952: 33) - erinnert an die Geschichte der jungen Männer, die wir vor allem von Stendhal und Balzac kennen. Und doch wird diese Leseerwartung augenblicklich gestört, steht die Szene doch gleich mit dem ersten Satz im Zeichen eines (im Folgenden immer wieder einsetzenden) „tourbillon“ (33), 6 3 Aus meiner Sicht ist deshalb hier das Konzept des Chronotopos nicht mehr anwendbar, das Warning (1999) für beide geltend macht. 4 Vgl. hierzu die berühmte Briefstelle: „Je veux faire l’histoire morale des hommes de ma génération; ‚sentimentale‘ serait plus vrai. C’est un livre d’amour, de passion; mais de passion telle qu’elle peut exister maintenant, c'est-à-dire inactive. Le sujet, tel que je l’ai conçu, est, je crois, profondément vrai, mais, à cause de cela même, peu amusant probablement. Les faits, le drame manquent un peu; et puis l’action est étendue dans un laps de temps trop considérable. Enfin, j’ai beaucoup de mal et je suis plein d’inquiétudes“ (Flaubert 1991: 409). 5 Die konnotierten Anagramme (Montereau - Moreau - morose) unterstreichen die „zähe Zeit“. 6 Vgl. dazu Neumann 1998; Poulet 1979: 399; Warning 1999: 305. der eine identitätslogische (vgl. Castoriadis 1984: 433), raumzeitliche Konfiguration aus dem Gleichgewicht bringt, welche sonst die narrative Ordnung, Synthese oder Homogeneität ermöglicht. Am Anlegeplatz geht es turbulent zu: Eine ungezählte Menge von Passagieren, Matrosen, Lastenträgern („des gens“ Flaubert 1952: 33) <?page no="191"?> L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson 191 bewegt sich auf das Schiff, zahllose großvolumige Objekte - Frachtkisten, Wäschekörbe, Taue - versperren den Weg, man rempelt sich an, es ist laut, jeder schreit und kein Mensch antwortet, die Schlote dampfen, der Motor dröhnt, alles verschwimmt in einem weißen Nebel und Rauschen. Die Zirkulation der Energie, eigentlich der Effekt des Verhältnisses von Masse und Bewegung, gerät ins Stocken, im Krach („tapage“, „bruissement de la vapeur“ Flaubert 1952: 33), im Schleier einer „nuée blanchâtre“ (33), dann „fumée noire“ (34) und dem unausgesetzten Geläut der Schiffsglocke wird die ordnende Wahrnehmung aufgesogen („s’absorbait“ 33), während der zischende Dampf endlich aus Ventilen entströmt. In diese gleichsam physikalisch-mechanische Ouvertüre des Romans ist Frédéric Moreau hineinversetzt, „jeune homme (…) à longs cheveux et qui tenait un album“ (33) - der junge Mann als Künstler. 7 Bewegungslos steht er nahe am Steuerrad - kein Wort Flauberts, wir wissen es, ist unschuldig! Durch den Morgendunst hindurch („brouillard“ 33) umfasst er seufzend mit einem letzten Blick die Île-St-Louis, die Cité, Notre-Dame. Bedauern und Hoffnung sind in diesem „dernier coup d’œil“ (33) vereint - und damit der narrationslogische Horizont von Erinnerung, Anschauung und Erwartung, der hier freilich ganz Klischee ist (in der Manier Lamartines) und so diesen Roman sofort, weit radikaler noch als Madame Bovary, aus der klassischen Konfiguration ironisch herauslöst. Das nächste Klischee ist bekanntlich, durch Frédérics schwärmerische Phantasien vorbereitet, die erste Begegnung von Frédéric und Marie Arnoux, inszeniert als Verkündigungsszene, die ganz unter die Signatur jener devotionalen und exotischen Kitschbilder des art industriel gestellt ist, mit denen Monsieur Arnoux, der zuerst ins Bild tritt, in seinem gleichnamigen Unternehmen handelt. Die dann folgende Liebesgeschichte steht ganz unter der Diktatur des Klischees, eines zufällig verfehlten Treffpunkts „au détour de la rue Vivienne et du boulevard“ (Flaubert 1952: 291) 8 Die ersten zwei Seiten der Education sentimentale sind, über viele andere interessante und maliziöse Aspekte hinweg, vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie die Struktur des Romans bereits ganz enthalten, im Sinne einer musikalischen Ouvertüre. Ihr Thema nämlich ist die Defiguration der Zeit, der sich alles unterordnet und verdankt, namentlich die Auflösung der narrativen Form, die hier schon mit den ersten Sätzen beginnt, und damit weit fundamentaler als im Zauberberg. Denn während die physikalische Zeit abläuft, lesbar als Verhältnis von Masse, Bewegung und Energie, während also der Dampfer zuletzt ablegt und stromaufwärts Fahrt aufnimmt, während das Volk an Bord singt, trinkt und vom Wohlstand träumt, schaut Frédéric Moreau, eingehüllt in den frühherbstlichen Morgennebel, „en regagnant sa und eines unerwarteten Wiedersehens mit unbekanntem Datum, an unbestimmtem Ort. 7 Vgl. dazu Bourdieu 1992; Jurt 1983; Hülk 1999. 8 Es handelt sich dabei um den Boulevard Montmartre, dessen Name ungenannt bleibt (vgl. Warning 1999: 301). <?page no="192"?> Walburga Hülk 192 province par la route la plus longue“ (Flaubert 1952: 34), auf die Biegungen des Flusses, und während allmählich die Dunstschleier zerreißen und die Sonne erscheint, träumt er den Traum von Paris und von der Kunst - und erblickt zuerst Monsieur, dann Madame Arnoux. Alles, was folgt - die Zeit des Volkes und die Zeit Frédérics, die Revolution und die Liebe - steht im Zeichen des Klischees. Alles wird schon einmal gewesen sein, es gibt keinen Fortschritt, keine Geschichte und folglich auch keinen klassisch konfigurierten Roman. Der pessimistischen Anthropologie, dem geschichtsphilosophischen Fatalismus und zuletzt auch der Ironie Flauberts liegt, das hatte Lukács angeregt, die Bergson‘sche Zeitauffassung zugrunde, und das, obwohl Bergson diese erst zwei Jahrzehnte später ausformuliert und sich nicht auf Flaubert bezieht. 1889 erscheint seine Dissertation Sur les données immédiates de la conscience, 1911 als Zeit und Freiheit übersetzt. In diesem Buch formuliert er die Grundzüge einer Zeit- und Gedächtnistheorie, die er bis zu seinem letzten Buch Durée et simultaneité (1922), einer Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie, weiterverfolgen wird. Im Zentrum stehen die Figuren von temps und durée(s), die er wie folgt entwickelt, indem er beiden Vielheit, Komplexität („multiplicités“) zuspricht. Die eine wird vom Raum verkörpert (oder vielmehr, um präzise zu bleiben, vom unreinen Mixtum der homogenen Zeit), eine Vielheit der Äußerlichkeit, der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinanders, der Ordnung der quantitativen Differenzierung, des graduellen Unterschieds, eine mimetische Vielheit, die diskontinuierlich ist und aktuell. Die andere zeigt sich in der reinen Dauer; sie ist eine innere Vielheit, eine Vielheit des Nacheinanders, der Verschmelzung, der Organisation, der Heterogenität, der qualitativen oder Wesensunterscheidung, eine Vielheit, die virtuell und kontinuierlich ist und nicht auf das Numerische zurückgeführt werden kann (vgl. Deleuze 1997: 54). Mir will scheinen, dass sich, beginnend mit der ersten Seite, diese beiden Zeiten in der L‘Education sentimentale finden und ineinander verschränken. Le temps setzt ein als mechanische Zeit, wahrnehmbar in ihren Bewegungsmustern, ihrem zeitlichen Neben- und Nacheinander, ihren messbaren Veränderungen im Raume, wahrgenommen von Frédéric Moreau, der dem Roman als Beobachter noch in der größten Unübersichtlichkeit des Tumults und der Turbulenzen erhalten bleiben wird, ein Beobachter, der dort still steht, wo alles in Bewegung ist - nahe dem Steuerrad während der Dampferfahrt ebenso wie in der legendären Balkonszene beim Ausbruch der Februarrevolution: „hart, abgebrochen und isoliert stehen die einzelnen Bruchstücke der Wirklichkeit nebeneinander da“ (Lukács 1971: 111), so noch einmal Lukács über diese Szene. Aber der Beobachter, so standhaft, ja distanziert er auch zu sein scheint, ist hineingenommen ins Bild, 9 9 Es findet sich hier ein Konzept, das in den historischen Avantgarden zur ästhetischen Grundlage wird, zuerst und vor allem bei Umberto Boccioni (s. hier die Bilder La strada entra nella casa und Visioni simultanee). und so <?page no="193"?> L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson 193 vollzieht er selbst für die Betrachter am Ufer die gleichförmige, geradlinige Bewegung des Schiffes mit, während jene sich zugleich für ihn, der doch ruht in der Nähe des Steuerrades, bewegen - dieses übrigens ein Beispiel der speziellen Relativitätstheorie (vgl. Fischer 2005: 37). Und so gleitet „le temps“ unversehens hinüber in eine durée, deren dynamische, ineinander verschmelzende und relationale Vielheiten („multiplicités confuses“ Bergson 2003: 79), auch pluralisierte durées, Dauern, nicht mehr in einer räumlichen Metapher verdichtet oder geschichtet werden können. Bergson wird diesen Befund viel später, in Durée et simultanéité, ebenfalls in einem Flussbild ausdrücken: Sitzen wir am Ufer eines Flusses, sind für uns, ohne dass wir festgelegt wären, das Fließen des Wassers, das Vorbeiziehen eines Schiffes oder der Flug eines Vogels und das niemals abbrechende Gemurmel unseres inneren Seelenlebens, je nachdem, drei verschiedene Dinge oder aber eine einzige Sache. (Bergson in Deleuze 1997: 104). Dauer, das ist Bergsons Grundgedanke, ist eine Vielheit, die virtuell, stetig, qualitativ ist. Sie ist nicht zu denken als eine Form distinkter räumlichtemporaler Überlagerungen („juxtapositions“ Bergson 2003: 95), sondern als eine Dynamik kontinuierlich ineinander verschmelzender Intensitäten (vgl. Bergson 2003: 79, 95), wie sie am ehesten dem Traum zukommen, nicht jedoch der sozialen Existenz mit ihren Ordnungen, Formen, Rahmungen, durch die diese erst ermöglicht wird. Eine solche durée, als unteilbare Dauer einer ganz und gar autoreflexiven Organisation innerer Bildströme, stellt die sprachliche Repräsentation vor fast unüberwindbare Probleme und widersetzt sich, im Zeichen von Unbestimmtheit, Unschärfe und Relativität, der mimetischen Konfiguration. In dem Essai sur les données immédiates de la conscience heißt es: En d’autres termes, nos perceptions, sensations, émotions et idées se présentent sous un double aspect: l’un net, précis, mais impersonnel; l’autre confus, infiniment mobile, et inexprimable, parce que le langage ne saurait le saisir sans en fixer la mobilité, ni l’adapter à sa forme banale sans le faire tourner dans le domaine commun […] Le rêve nous place précisément dans ces conditions...nous ne mesurons plus alors la durée, mais nous la sentons. [...] les sensations [...], au lieu de se juxtaposer, s’étaient fondues les unes dans les autre de manière à douer l’ensemble d’un aspect propre, de manière à en faire une espèce de phrase musicale [...] L’imagination du rêveur, isolée du monde externe, reproduit sur de simples images et parodie à sa manière le travail qui se poursuit sans cesse, sur des idées, dans les régions plus profondes de la vie intellectuelle. […] Une vie intérieure aux moments bien distincts, aux états nettement caractérisés, répondra mieux aux exigences de la vie sociale [...]. (Bergson 2003, 94-109) Flauberts Education sentimentale ist, so scheint es mir, avant la lettre eine Durchführung dieser Bergson‘schen durée, die sich, beginnend mit der ersten Seite des Romans, in die quantitative, geformte Zeit einschleicht und alles absorbiert - als eine große imaginäre Operation, als ganz und gar unsozialer sentimentalisme einer Generation. Alles erklärt sich aus dieser Perspektive. <?page no="194"?> Walburga Hülk 194 Die ‚großen‘ Themen des Romans, Liebe, Kunst und Revolution: ein Traum; die Abspaltung, Dissoziation des Protagonisten von der Gesellschaft, deren blutige Revolution im Spaziergang von Fontainebleau noch einmal phantomatisch wiederkehrt, und dann, aufgeschichtet in Trümmern, derealisiert wird: der Alptraum zuletzt einer verhexten anorganischen, versteinerten Natur; die formlose, übersättigte Vielheit der Menge von Personen, Ereignissen, Zufällen: fast schon ein livre sur rien. Immer wieder wurde L’Education sentimentale, und das gerade auch in der neueren französischen Geschichtswissenschaft (vgl. Agulhon 1981 und 1995), als ein Roman gelesen, der namentlich über die Revolutionen von 1848 und den Staatsstreich von 1850 Qualitativeres erzähle als die Historiographie: Flaubert als Geschichtsschreiber. Während nun interessanterweise schon Schopenhauer den Unterschied von Historiographie und Dichtung aufhob - woran Hayden White in seiner Poetik der Geschichte nicht von ungefähr anknüpft -, möchte ich im Zusammenhang der Zeitphilosophie Flauberts erinnern an ein Modell Reinhart Kosellecks, das auch Ricœur reflektiert. Koselleck nämlich beobachtet für die Zeit nach 1800, dass sich, basierend auf der Akzeleration des Geschichtsverlauf in der „Sattelzeit“, ein Abgrund öffnet zwischen Erfahrung und Erwartung - dies Begriffe, die Ricœur aufmerken ließen -, und er postuliert, dass sich die Erwartung nicht mehr ableiten lasse aus Erfahrung. Damit löse sich der Fortschritt aus einer bis dahin teleologischen Beglaubigung, wie sie zuletzt in Napoleons mythischem Rückbezug auf Alexander sichtbar geworden sei, als „vergangene Zukunft“ gleichsam (vgl. Koselleck 1989 sowie Bohrer 1987). Ich bezweifle, dass dieser Gedanke auch für die Education sentimentale Gültigkeit hat, wird doch in ihr gerade erzählt, dass jede Erwartung und jeder Fortschritt immer nur und immer noch der Reflex des bereits Vergangenen gewesen sein werden, eben ein Klischee, eine imaginäre Konstruktion, die beginn- und endlos, komplex, ja konfus zirkuliert. Und weil die durée nicht die messbare Phasenfolge des Zeitstrahls ist und weil sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende nicht kennt, ist Frédérics Leben kein Entwicklungsroman, schreitet die Geschichte nicht voran im Takt des Fortschritts, sondern zirkuliert als blinde und depravierende Energie, ist die Revolution ein uranfänglicher Kataklysmus, wie es Flauberts Zeitgenosse Hauréau 1842 in seinem Artikel „Révolution“ des Dictionnaire politique. Encyclopédie du langage et de la science politique, 10 Als dann die große Geschichte stillzustehen scheint, leerläuft, alles verkauft und alles verloren ist, als nach dem legendären blanc von fünfzehn Jahren Marie Arnoux beim unverhofften Wiedersehen eine weiße Haarsträhne hinterlassen hat, da erscheint der Roman als Variation einer Dorfposse, als satirische Beglaubigung eines verfehlten Bordellbesuchs. Dieser rekurrierend auf den Wortsinn, formulierte: jeder Wandel eine naturale Vorgegebenheit, die, vergleichbar dem Rhythmus der Jahreszeiten, immer wieder umgewälzt wird. 10 Hrsg. von E. Duclerc und Paguerre, Paris 7 1868, 846, zit. in Koselleck (1989: 70). <?page no="195"?> L’Education sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson 195 lag, in einer großen Analepse entborgen, als das Beste, das Frédéric und sein Freund Deslauriers erlebt haben, noch vor der Romanzeit, und lange noch wurde und wird dieser Besuch, so heißt es, weitererzählt. Soviel zur Beginn- und Endlosigkeit auch dieses Romans (vgl. Warning 2007). Der ursprüngliche, eher satirische Titel der Education sentimentale lautete Les fruits secs. Er wurde bekanntlich von den Herausgebern abgelehnt, weil sie berechtigter Weise fürchteten, ein solcherart angekündigtes Buch würde sich schlecht verkaufen. Und tatsächlich gab er ja auch bereits die Programmatik des Textes vor, und das sehr viel krasser als der intrikate endgültige Titel, der über die Zeit hinweg Rätsel aufgab: Education? Sentimentale? Hayden White, der in Metahistory die Fiktionalität der Geschichtsschreibung über die Inszenierungen der Grundgattungen von Romanze, Tragödie, Komödie, Satire erläutert, schreibt über letztere folgendes: Die Satire freilich steht für eine andere Art der Qualifizierung von Hoffnungen, Möglichkeiten und Wahrheiten als jene, die in der Romanze, der Komödie und der Tragödie vorherrschen. Sie faßt diese Wahrheiten, Möglichkeiten und Hoffnungen ironisch, in einer Atmosphäre, die die Wahrnehmung der definitiven Unzulänglichkeit des Denkens, in der Welt das Glück zu schaffen oder sie völlig zu verstehen, erzwingt. Die Satire beharrt auf der endgültigen Unzulänglichkeit der Weltdeutungen [...]. Als Entwicklungsphase eines künstlerischen Stils oder einer literarischen Tradition signalisiert die satirische Darstellung die Überzeugung, daß die Welt alt geworden sei. Wie die Philosophie selbst ‚malt‘ auch die Satire ‚das Grau in Grau‘ (Hegel) im Bewußtsein der eigenen Unangemessenheit als Abbild der Wirklichkeit. Sie bereitet das Denken darauf vor, die ausgreifenden Vorstellungen von der Realität zu verwerfen, und nimmt die Rückkehr zu einer mythischen Wahrnehmung der Dinge und Geschehnisse vorweg. (White 1991: 24) Vorangestellt hat Hayden White seinem Buch eine Sentenz von Gaston Bachelard, aus der Psychanalyse du feu: „Man kann nur untersuchen, wovon man zuvor geträumt hat“. Mit Frédéric geht sicherlich Flaubert diesen Weg in der Education sentimentale. Histoire d’un jeune homme, die vorbereitet auf Bouvard et Pécuchet. Für diesen Weg aber bedurfte es eines neuen Zeitverständnisses, das sich im mythischen Substrat einer durée - avant la lettre - und über den Status der Unbestimmtheit, der multiplicités confuses, zuletzt der Ironie manifestiert. Das uralte Bild des Flusses der Zeit wird dann wieder aufgenommen in einem anderen Zeitroman, F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby, der 1925, ein Jahr nach dem Zauberberg erschien und wieder die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der aus der Provinz (hier dem Mittleren Westen) in die Metropole (New York City) kommt. Der letzte Satz erinnert an die ersten Sätze der Education sentimentale. So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past. (Fitzgerald 1998: 144) <?page no="196"?> Walburga Hülk 196 Literaturverzeichnis Maurice Agulhon, Histoire et langage dans L’Education sentimentale. Colloques de la Société des Études Romantiques, Paris 1981. Maurice Agulhon: Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung. Frankfurt/ M. 1995. Aristoteles, Physica/ 1, William David Ross (Hrsg.), Oxford 1950. Aurelius Augustinus, Confessiones, dt.-lat. Übersetzung von O. Bachmann, Frankfurt/ M. 1987. Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/ M. 1989. Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 2003 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/ M. 1987. Pierre Bourdieu, Les Règles d’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/ M. 1984. Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2 1997. Ernst Peter Fischer, Einstein für die Westentasche, München 5 2005. F. Scott Fitzgerald, The Great Gatsby, Oxford 1998. Kurt Flasch, Was ist Zeit? , Frankfurt/ M. 1993. Gustave Flaubert, L’Education sentimentale. Histoire d’un jeune homme, Paris 1952. Gustave Flaubert, Œuvres complètes. Correspondance Bd. 3, Paris 1991. Walburga Hülk, Gustave Flaubert, Madame Bovary (1857) und L’Education sentimentale (1869), in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), 19. Jahrhundert Roman, Tübingen 1999, 219-244. Joseph Jurt, Die Wertung der Geschichte in Flauberts Éducation sentimentale, in: RZLG VII, 1-2/ 1983, 141-168. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/ M. 1989. Ursula Link-Heers, George Poulet. Espace proustien - wiedergelesen, in: Angelika Corbineau-Hoffmann (Hrsg.), Marcel Proust. Orte und Räume, Köln 2003, 23-44. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied 1971. Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt/ M. 1981. Gerhard Neumann, Tourbillon. Wahrnehmungskrise und Poetologie bei Hofmannsthal und Valéry, in: Études Germaniques 53/ 1998, 397-424. Georges Poulet, Les Métamorphoses du cercle, Paris 1979. Paul Ricœur, Temps et récit, Paris 1984 (II), 1985 (III). Rainer Warning, Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten’, in: Ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999. Rainer Warning, Auf der Suche nach der Genesis. Beginnlosigkeit in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, in: Patricia Oster/ Karlheinz Stierle (Hrsg.): Marcel Proust. Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung. Frankfurt/ M./ Leipzig 2007, 9-24. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 1991. <?page no="197"?> Autorinnen und Autoren Jutta Fortin. Universitätslektorin an der Universität Wien und an der Universität Jean Monnet, Saint-Etienne. Nach einer Dissertation über die fantastische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt sie sich im Moment mit dem Thema der Spektralität in der zeitgenössischen französischen Literatur (z.B. François Bon, Marie Darrieussecq, Alain Fleischer, Sylvie Germain, Camille Laurens, Jean-Loup Trassard). Friedrich Frosch. Geb. 1959. Studium der Anglistik, Französistik, Lateinamerikanistik. Übersetzer literarisch-kulturwissenschaftlicher Texte. Seit 1994 an der Romanistik Wien, vorwiegend als Luso-Brasilianist, seit 2007 Universitätsdozent (Iberoromanistik, Französistik). Schriften: Die Fährnis des Raumes. Erinnern und Wahrnehmung bei Graciliano Ramos (1995), Bastille der Vernunft. Überschreibungen des Wahns in den Literaturen Frankreichs, Portugals und Brasiliens (2006), Mitherausgeber von Zwischen Aneignung und Bruch. Kulturkontakte und Kulturkonflikte in der Romania (2005). Anke Gladischefski. Lehrbeauftragte für französische Sprachwissenschaft an der Universität Wien. In ihrer Dissertation Gelungene Gespräche. Beispiele aus der französischen Literatur (1996) und mehreren Aufsätzen hat sie sich mit Themen der Sprach- und Kommunikationspsychologie sowie der linguistischen Genderforschung auseinandergesetzt. Ihr aktuelles Forschungsgebiet ist das Verhältnis von Sprache und Gedächtnis mit dem Schwerpunkt „traumatische Erinnerung“ (Zeugnisse der Shoah). Marina Ortrud M. Hertrampf. Studium der Romanistik, Anglistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten Regensburg und Pau. Dozentin für deutsche Sprache und Literatur an den Universitäten von Brno und Lyon ( ENS ). Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg. Publikationen: „ PHOTO - COMIC - ROMAN und COMIC - PHOTO - ROMAN “, in: Bilderwelten, Textwelten - Comicwelten, München 2007; „Literarisches Handeln mit Photos - Photos literarisch verhandeln: Frédéric H. Fajardies Roman-Photo (2002)“, in: Handeln und Verhandeln: Beiträge zum 22. Forum Junge Romanistik, Bonn 2007. Gesine Hindemith. Studium der Germanistik, Romanistik und Musikpädagogik an der Universität Siegen (bis 2006). Promotion mit dem Arbeitstitel „Auditive Spuren - Theorie des audiovisuellen Bildes“ an den Universitäten LMU München und EHESS (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales) Paris (cotutelle-Verfahren), Betreuer: Prof. Dr. Barbara Vinken und Prof. Jean-Marie Schaeffer. Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Walburga Hülk. Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit; Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu „Schrift-Spuren von Subjektivität“ im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, <?page no="198"?> Autorinnen und Autoren 198 Proust; DFG-Forschungsprojekt „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“. Jeremy Lawrance. Professor am Department of Spanish, Portuguese and Latin American Studies der Universität Nottingham. Forschungsschwerpunkte: Siglo de Oro und Renaissance-Studien. Publikationen zu spanischer Literatur und Mentalitätsgeschichte des Mittelalters und spanischer Rennaissance, von El Cantar de Mio Cid bis zu Lope de Vega, mit Schwerpunkten in den Bereichen Humanismus, Auswirkungen der Entdeckungen und barocker Kultur. Jochen Mecke. Lehrstuhl für Romanistik, Universität Regensburg. Arbeitsgebiete: Französische und spanische Literatur des 17. Jahrhunderts, der (Post-)Moderne, Schelmenroman, Zeitdarstellungen in Literatur und Film, Nouvelle Vague, Kulturen der Lüge. Publikationen: Roman-Zeit: Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart. Tübingen 1990; als Herausgeber (mit Ulrich Leinsle), Zeit - Zeitenwechsel - Endzeit: Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen. Regensburg 2000. Martina Meidl. Studium der Hispanistik und Italianistik in Wien und Madrid, Promotion mit einer Arbeit zum lyrischen Werk von Octavio Paz (Semiótica, metafísica y misticismo en la poesía de Octavio Paz, 2004). Lehrbeauftrage für Sprach- und Literaturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Wien und am Institut für Romanistik der Universität Klagenfurt. Christine Rath. Geb. 1977. Seit 2003 Promotionsstudium an der Universität Köln; Arbeitstitel des Dissertationsprojektes: „Historisches Erzählen und meta-historische Reflexion im Prosawerk von Jorge Luis Borges“; Betreuung durch Prof. Dr. Wolfram Nitsch. Seit April 2006 wissenschaftliche Hilfskraftstelle am Romanischen Seminar der Universität Köln. Mehrere Forschungsaufenthalte in Buenos Aires und am Borges Research Center (Universität Århus, Dänemark). Volker Roloff. Professor für Romanische Literaturwissenschaft, Universität Siegen; Forschungsinteressen: französische und spanische Literatur, romanische Kultur- und Medienwissenschaft, Intermedialität, Avantgarden in Frankreich und Spanien, Proust, französische Theater- und Filmgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Alte Mythen und Neue Medien, Heidelberg 2006 (Hrsg. mit Y. Hoffmann/ W. Hülk); Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Marcel Proust, München 2008 (Hrsg. mit U. Felten); Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008 (Hrsg. mit M. Lommel/ I. Maurer Queipo). Michael Solomon. Mitarbeiter am Department of Romance Languages und am Cinema Studies Program der Universität von Pennsylvania. Forschungsschwerpunkte: lateinamerikanisches und spanisches Kino, medieval media studies und Medizin der Frühen Neuzeit. Laufende Forschung zur Medialisierung mittelalterlicher Kultur im Film und in digitalen Medien sowie über die Entstehung und Entwicklung sozialer Bewegungen vom Mittelalter bis heute. Fernando Varela Iglesias. Geb. 1946 in Orense (Spanien). Studium an den Universitäten Valladolid und Madrid. Doktor der Philosophie (Madrid). Seit 1974 Lehrtätigkeit am Institut für Romanistik der Universität Wien. Ab 2008 Ao. Professor für <?page no="199"?> Autorinnen und Autoren 199 Spanische Literatur- und Sprachwissenschaft. Forschungsgebiete: spanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, spanische Lyrik, Phraseologie des Spanischen. Wichtigste Publikationen: Diccionario Fraseológico del Español Moderno, Madrid 1994; Poesía e imagen, Frankfurt 2003; Literatura y pensamiento, Wien 2004; La imagen de la sombra en Luis Cernuda, Wien 2005; Panorama de civilización española, Wien 2005; Baroja, epígono del romanticismo, Wien/ Münster 2007. Die Herausgeber Jörg Türschmann. Professor für Romanische Literaturwissenschaft, Universität Wien. Publikationen zur spanischen und französischen Literatur, zur Geschichte und Theorie von Film- und Fernsehen, unter anderem: Film - Musik - Filmbeschreibung, Münster 1994; Serialität. Eine Geschichte der Zäsurtechniken in Literatur und Film, Berlin 2009. Als Herausgeber: Eine Literatur für den Leser, Bonn 2003; Medienbilder, Hamburg 2001 (mit A. Paatz); Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio, Frankfurt/ M. 2007 (mit B. Pohl). Wolfram Aichinger. Geb. 1963, lehrt spanische und französische Literatur am Institut für Romanistik der Univ. Wien. Forschungsschwerpunkt: Anthropologie der Literatur. Monographien: Almendral. Zur popularen Kultur eines kastilischen Gebirgsdorfes, Wien 2001; Skriptum zur Literatur, Wien 2008; Das Feuer des heiligen Antonius. Kulturgeschichte einer Metapher, Wien 2008.